Filmblatt 73/74 ∙ 2020/2118 Filmplakat von Josef Fenneker für Mit dem Auto ins Morgenland (Stadtmuseum Bocholt / Deutsche Kinemathek, Berlin) Filmblatt 73/74 ∙ 2020/21 19 Jeanpaul Goergen Abenteuer Morgenland Deutsche Reisefilme der 1920er Jahre nach Persien und in den Irak FilmDokument 205, 20. April 2018 „Reisen und Wandern“ war das Thema der 8. Jahresschau Deutscher Arbeit 1929 in Dresden, die das Reisen in Deutschland als Teil der Volkspädagogik empfahl und als Beitrag zur Stärkung des ‚Volkskörpers‘ anpries.1 Im Ausstellungsführer ging Franz Thierfelder von der Akademie zur Wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums auch auf die in den 1920er Jahren noch seltenen Fern- reisen ein, die er nationalistisch interpretierte: „Die Sehnsucht nach unbekann- ten, lockenden Fernen ist eine gemeingermanische Eigenschaft, aber bei keinem Volke wurde sie in allen seinen Teilen so mächtig wie beim deutschen.“2 Auslands- reisen sah er als Teil der auswärtigen Kulturpropaganda; die „soziale und natio- nale Bedeutung des Reisens“, so seine Schlussfolgerung, sei „noch längst nicht in vollem Umfange gewürdigt worden.“3 So wie hier Auslandsreisen eine staats- politische Bedeutung zugeschrieben wurde, so standen auch Reisefilme häufig im Dienst der Wirtschaftspropaganda und verhandelten nationale Anliegen.4 Er- klärtes Ziel von Clärenore Stinnes’ Film Im Auto durch zwei Welten von 1931 war es etwa, die Leistungsfähigkeit der deutschen Automobilindustrie, insbesondere der Wagen der Marke „Adler“, herauszustellen.5 Ebenso vielfältig wie die Reiseanlässe waren die genre-ähnlichen Erscheinun- gen des Reisefilms. Bereits 1919 erkannte das Fachblatt Der Kinematograph seine unerschöpflichen Möglichkeiten: „Da mag man uns Volksfeste, Aufzüge, Märkte und dergleichen zeigen. Dann soll uns das Leben und Treiben in Haus und Hof 1 Vgl. Jahresschau Dresden 1929. Reisen und Wandern. 8. Ausstellung Mai-Oktober. Dresden 1928. 2 Franz Thierfelder: Der deutsche Reisende im In- und Auslande. In: Achte Jahresschau Deut- scher Arbeit Dresden 1929, S. 73–76, hier S. 73. 3 Ebd., S. 76. 4 Vgl.  Jörg Schöning (Red.): Triviale Tropen. Exotische Reise- und Abenteuerfilme aus Deutsch- land 1919–1939. München 1997; Gerlinde Waz: Heia Safari! Träume von einer verlorenen Welt. Expeditions-, Kolonial- und ethnographische Filme. In: Klaus Kreimeier, Antje Ehmann, Jeanpaul Goergen (Hg.): Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland. Bd. 2. Weimarer Republik 1918–1933. Stuttgart 2005, S. 187–203. 5 Vgl. Jeanpaul Goergen: Dokumentarischer Idealbeweis. In: Filmblatt, Nr. 23, Herbst/Winter 2003, S. 10–14. Filmblatt 73/74 ∙ 2020/2120 fremder Völker vorgeführt werden. Wir wollen den Eskimo in seiner Hütte belau- schen; wir besuchen den Kaffern in seinem Kral. Wir verfolgen den wilden Pferde- hirten, der mit dem Lasso das dahinstürmende Roß einfängt; wir jagen mit den Beduinen durch den Sand der Wüste.“6 In einer der wenigen Begriffsbestimmungen bezeichnete 1927 Hermann Treuner Reisefilme ganz allgemein als „Naturaufnahmen aus fremden Ländern“.7 Doch erst 2004 beschäftigte sich eine Monografie umfassend mit Ästhetik und Geschichte des Genres: In ihrem grundlegenden Buch Reisefilme charakterisierte Annette Deeken den Reisefilm als „interpretative Kategorie […], die eher eine Zuschreibung als eine Sachbeschreibung“ darstelle. Reisefilme lebten „von der Annahme einer kulturellen Differenz und dem Eindruck der Zuschauer, einer Rei- se gefolgt zu sein.“8 Auch Hans Jürgen Wulff sprach 2014 von einer „Gattung zwi- schen subjektivem Erinnerungsfilm, Dokumentarfilm und Reportage“.9 Beiden Autoren ist eigen, dass sie das Fluide und Hybride des Reisefilms hervorheben. Angesichts der großen thematischen Breite und ästhetischen Vielfalt des Gen- res ist es daher hilfreich, Ausprägungen zu bestimmen und Zuschreibungen zu präzisieren. Die Konzentration auf Charakteristika, Zeiträume oder Reisedesti- nationen kann hier dazu beitragen, Eigenheiten und Merkmale genauer heraus- zuarbeiten. Ein breit gefächertes Genre. Eine wichtige Unterscheidung ist die zwischen fiktionalem und nichtfiktionalem Reisefilm. In den 1920er Jahren warben auch Spielfilme, die an exotischen Orten gedreht wurden, mit dem Etikett „Reisefilm“. Der erste dieser Art in Deutschland war wohl Georg Jacobys sechsteiliger Aben- teuer- und Detektivfilm Der Mann ohne Namen mit Harry Liedtke von 1921.10 Noch im gleichen Jahr folgte der dreiteilige Ellen Richter-Film Die Abenteuerin von Monte Carlo. Ersterer wurde in München sowie 24 ausländischen Städten unter anderem in Dänemark, Dalmatien, Italien, Spanien, Marokko und der Sahara gedreht; die Ufa hob die ausgedehnten Dreharbeiten in fremden Län- dern als production value in der Werbung besonders hervor.11 Der zweite Film entstand in den Schweizer Alpen, Italien, Frankreich – und ebenfalls in Spanien 6 Der Film auf Forschungsreisen. In: Der Kinematograph, Nr. 656, 30.7.1919. 7 Hermann Treuner: Chang. In: Illustrirte Zeitung, Nr. 4302, 25.8.1927, S. 296–298, hier S. 296. 8 Annette Deeken: Reisefilme. Ästhetik und Geschichte. Remscheid 2004, S. 26. 9 Hans Jürgen Wul': Reisefilm. In: Ders. (Hg.): Lexikon der Filmbegri"e, online einsehbar unter https://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=1260 (letzte Änderung: 9.3.2014; letzter Zugri': 29.9.2020). 10 Vgl. Ernst Ulitzsch: Expeditionsfilme und Filmexpeditionen. In: Der Kinematograph, Nr. 876, 2.12.1923, S. 3. 11 Vgl. die Anzeige für Der Mann ohne Namen: In: Der Kinematograph, Nr. 734, 13.3.1921. Vielen Dank an Philipp Stiasny für diesen und weitere Hinweise. Filmblatt 73/74 ∙ 2020/21 21 und Marokko.12 Hier wird bereits die große Schnittmenge zwischen Reisefilm und inszeniertem Abenteuer- und Detektivfilm deutlich. Amerikanische Spielfilme wie Moana (1926) von Robert Flaherty und Chang (1927) von Merian C. Cooper und Ernest B. Schoedsack, die an Originalschauplät- zen mit einheimischen Darstellern Geschichten aus deren Lebenswelt inszenier- ten, wurden ebenfalls als Expeditions- und Reisefilme sowie als Dokumente rezi- piert. Béla Balázs schrieb voller Begeisterung über sie: „Die große Lebenskunst des Reisens hat im Film ihre Objektivierung gefunden“; die Filme seien „eine Art Mosaikkunst der Wirklichkeitsmontage“.13 Später betonte er stärker den hybri- den Charakter filmischer Reisebeschreibungen; es handele sich um eine „eigen- artige Übergangsform künstlerischer Gestaltung“ zwischen dem Bericht des tat- sächlichen Geschehens und der Intention des Regisseurs.14 Auch die dokumentarischen Reisefilme der 1920er Jahre, die als kurze Kultur- filme im Vorprogramm der Kinos oder im abendfüllenden Format in Matinee- und Sonderveranstaltungen liefen, können weiter eingegrenzt werden, um das „wei- che“ Genre Reisefilm besser in den Griff zu bekommen. So bildeten beispielsweise die Filme der Hamburg Amerika-Linie (Hapag) über ihre organisierten Schiffsrei- sen durchs Mittelmeer und nach Nord- und Südamerika eine eng umrissene Grup- pe, indem sie Touristen und Auswanderungswilligen Informationen über Land und Leute, Sehenswürdigkeiten und Wirtschaftsstandorte lieferten.15 Eine weitere Gruppe mit eigenen Merkmalen bildeten lange Expeditionsfilme, die ein Forscher- team begleiteten, ob nun an den Amazonas, den Nordpol oder den Himalaya.16 Davon lassen sich Abenteuerreisefilme und exotische Reisefilme abgrenzen: Von Einzelreisenden oder einem Team unternommen, standen hier die Exotik der Su- jets und das Gefährliche und Wagemutige der Reise in ihnen unbekannte Räume im Mittelpunkt der Erzählung. Ihr zentrales Narrativ war die Fortbewegung ent- lang eines Reiseweges. Der „stereotype Reisefilm“ ist meist oberflächlich und ohne wahres Verständnis fremder Länder; es dominiert – so Deeken – eine „naive Heile- Welt-Optik des touristischen Blicks“.17 Die exotischen Reise- und Abenteuerfilme 12 Vgl. den Vorspann von Die Abenteuerin von Monte Carlo. Eine Kopie des Films liegt im Bundesarchiv. 13 Béla Balázs: Schriften zum Film. Hg. v. Helmut H. Diedrichs, Wolfgang Gersch. München 1984, Bd. 2: „Der Geist des Films“. Artikel und Aufsätze 1926–1931, S. 115f. 14 Béla Balázs: Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst. Wien 1949, S. 179. 15 Vgl. Michael Töteberg: Exotik und Tourismus: Die Reisefilme der Hapag. In: Hamburger Flimmern, Nr. 5, 1999, S. 2–6, einsehbar unter www.filmmuseum-hamburg.de/sammlungen/ flimmern/heft-05–1999/die-reisefilme-der-hapag.html (letzter Zugri': 29.9.2020); Jeanpaul Goergen: Filmreise und Reisefilm. Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. In: Filmblatt, Nr. 24, Frühjahr/Sommer 2004, S. 48–51. 16 Vgl. Jeanpaul Goergen: Abenteuerliche Reisen in fremde Räume. Expeditionsfilme der 1920er und 1950er Jahre (demnächst einsehbar im Repositorium mediarep.org). 17 Deeken: Reisefilme, S. 27. Filmblatt 73/74 ∙ 2020/2122 zeichneten sich Jörg Schöning zufolge auch durch „filmische Fantasmagorien bei der Wahrnehmung oder freien Konstruktion fremder Kulturen“ aus.18 Bis heute können sich in einer Nische Reise-Dia-Vorträge behaupten. Anzie- hungspunkt ist hier nicht nur die mit kunstvollen Überblendungen arbeitende Diashow, sondern auch der Vortrag des Reisenden, der seine in der Fremde ge- machten Aufnahmen live kommentiert und sie durch seine Persönlichkeit be- glaubigt. Dieses Moment der Zeugenschaft könnte auch die erneute Popularität der Reisedokumentarfilme erklären, die sich vor allem durch eine angeblich „un- verfälschte Authentizität“ ihrer Protagonisten auszeichnen.19 Die Inszenierung des Reisenden als Sympathieträger in den dokumentarischen Erzählungen aus jüngerer Zeit mit ihren Anleihen beim Familien- und Privatfilm unterscheidet sich nicht allzu sehr von bestimmten Reisefilmen der 1920er Jahre, die ebenfalls star- ke Elemente der Selbstinszenierung enthielten. Lange Kulturfilme, vor allem aber Reisefilme, wurden zudem häufig während der Vorführung live kommentiert, sei es von den Reisenden selbst oder von fachkundigen Vortragenden, die von Vor- tragsorganisationen gestellt wurden – eine bisher kaum erforschte Aufführungs- praxis der Stummfilmzeit. Ein häufiger Redner bei Marinefilmen war zum Beispiel Kapitän Gottfried Speckmann vom Norddeutschen Lloyd.20 In den vielfältigen dokumentarischen Reisefilmen der 1920er Jahre vermischte sich in unterschiedlicher Ausprägung der touristische Blick mit ethnografischer Neugierde, die Sensation des bisher nie Gezeigten mit einem echten Interesse an fremden Kulturen und das Privatfilmische mit dem Anspruch, einen spannen- den und kinotauglichen Kulturfilm vorzulegen. Im Mittelpunkt stand das kultu- rell „Andere“, das „Fremde“ mit all seinen Konnotationen zwischen Faszination und Unverständnis. Viele dieser Elemente finden sich in den beiden Kultur-Rei- sefilmen Mit dem Auto ins Morgenland (1926) und Inschallah. Im Reiche der Kalifen (1929), die nach Persien und in den Irak führen. Trotz deutlicher Unter- schiede in Konzeption und Stil sowie in der Art des dokumentarischen Erzählens sind sie exemplarisch für den abenteuerlichen und exotischen Reisefilm der Wei- marer Republik. Filmkonkurrenz. Für ihren Kulturfilm Mit dem Auto ins Morgenland ent- wickelte die Ufa 1926 eine aufwändige Rahmenhandlung: Die Direktion der fikti- ven Zeitschrift Ufa-Expreß lobt einen Preis von 20.000 Mark für den Filmreporter aus, der zu einem bestimmten Zeitpunkt einen druckfertigen Filmreisebericht 18 Jörg Schöning: Triviale Tropen. In: Ders. (Red.): Triviale Tropen, S. 7–8, hier S. 7. 19 Reisefaszination auf der Leinwand – Im Kinosessel die Welt entdecken. In: Über Gren- zen (Presseheft), auf https://www.magentacloud.de/share/r-haglhs4g#$/ (letzter Zugri': 28.11.2020). 20 Speckmann begleitete etwa Heinrich Hausers Die letzten Segelschiffe (1930) über eine Reise mit der Viermastbark „Pamir“. Vgl. Jeanpaul Goergen: Sinfonie der Segeln. In: Filmblatt, Nr. 10, Sommer 1999, S. 9–10. Filmblatt 73/74 ∙ 2020/21 23 einreicht. Zwei Filmreporter kämpfen um die Prämie; einer ist bereits aufgebro- chen. Die Verfolgungsjagd beginnt im Ufa-Haus am Potsdamer Platz und führt, je- weils mit Stadtansichten belegt, über Regensburg, Wien, Belgrad und Skutari in Albanien nach Konstantinopel, wo die Kamera etwas ausführlicher das Markttrei- ben sowie eine Bauchtänzerin beobachtet. Von Samsun geht die Reise weiter über Amasya nach Diyarbakir, zu den Felsenwohnungen von Hasankeyf nach Mossul im damals britischen Mandatsgebiet Mesopotamien und Isfahan in Persien, wo die beiden Konkurrenten aufeinandertre:en und ihren „Filmkampf“ beginnen. Während der eine, ein Tollpatsch, beschwerlich mit der Postkutsche nach Teheran weiterreist, nutzt der andere – der Held des Films – die einzige, nur zehn Kilometer lange Eisenbahnstrecke des Landes und fährt im Salonwagen in die Hauptstadt ein. Eine Aufnahme des Parlamentsgebäudes im westlichen Stil soll die Modernisierung des Landes belegen. Im Garten des Schah-Palastes wird der prachtvolle Thronsessel hergerichtet. Es folgen Aufnahmen eines Empfangs sowie Bilder von Reza Schah Pahlavi, der seit 1923 an der Macht war und Anfang 1926 gekrönt wurde; sie dürften wohl nur mit einer offiziellen Drehgenehmigung mög- lich gewesen sein. Der „tatkräftige und fortschrittlich gesinnte Herrscher“ – so ein Zwischentitel  – wird am Rande eines Polospiels prominent ins Bild gesetzt und seine Beliebtheit durch Bilder einer Massendemonstration beglaubigt. Nach einer längeren Sequenz über eine persische Hochzeit und eine Ziegelbrennerei unternehmen die beiden Reporter einen ausgedehnten Ausflug ins Elburs-Gebir- ge, ein beliebtes Ausflugsziel. Der Film endet mit der Siegerehrung im Ufa-Haus in Berlin: „Eine humoristische Versöhnungsszene mit der vielgefürchteten Kon- kurrenz beschließt den abwechslungsreichen Reisefilm.“21 Es ist typisch für die Ufa-Ästhetik, dass hier die Reiseeindrücke in eine Spiel- handlung einkleidet werden und nicht Teil eines rein dokumentarischen Reise- films sind. Nachdem die Deulig diese Art der Inszenierung um 1918/19 zunächst für Industriefilme entwickelt hatte, kam sie verstärkt ab Mitte der 1920er Jah- re in langen Kulturfilmen zum Einsatz.22 Im Juni 1930 machte der Ufa-Vorstand Fiktionalisierungen für Kulturfilme sogar obligatorisch, als er festhielt, „dass in Zukunft Rahmenhandlungen unter Mitwirkung der Spielfilmproduktion herzu- stellen sind.“23 Daher wundert es nicht, dass die beiden Filmreporter in Mit dem Auto ins Morgenland von Schauspielern verkörpert werden; in diesem Fall sind es Walter von Allwörden und Aruth Wartan, die allerdings nicht besonders promi- nent waren. Auch der für Buch und Regie verantwortlich zeichnende Willy Achsel war kein großer Name bei der Ufa. Nach einigen Spielfilmen landete er in ihrer 21 Presseheft zu Mit dem Auto ins Morgenland, Bundesarchiv (nachfolgend: BArch), FILMSG 1/11516. Zu diesem Film ist im Bundesarchiv umfangreiches Restmaterial vorhanden. 22 Vgl. für die Deulig etwa Fräulein Colibri. Aus dem Leben einer Modekönigin (1919), der mit einer Spielhandlung Werbung für die „Leistungsfähigkeit der heimischen Modeindustrie“ machte. Vgl. Moden-Vorführung im Film. In: Lichtbild-Bühne, Nr. 27, 5.7.1919, S. 37. 23 Niederschrift Nr. 644 über die Ufa-Vorstandssitzung vom 3.6.1930, BArch, R 109-I/1027 b. Filmblatt 73/74 ∙ 2020/2124 Kulturfilmabteilung und drehte ab 1927 auf Rechnung einer eigenen Firma Do- kumentarfilme sowie Kurzspielfilme. Achsel schrieb Bücher und Theater stücke und soll zudem mit Farbfilm und stereoskopischen Filmen experimentiert ha- ben.24 Dass ein Reisefilm längere Szenen mit professionellen Schauspielern ent- hielt, war dennoch ungewöhnlich; weitere Beispiele dafür bei der Ufa sind Auf den Spuren der Azteken (1926) von Adolf Trotz über Mexiko und Am Rande der Sahara (1930) von Martin Rikli und Rudolf Biebrach über Nordafrika. Einen et- was anderen Weg gingen Bernhard Kellermann und Lene Schneider-Kainer 1927 in ihrer Karawanenreise durch Persiens Wüste in Im Lande des silbernen Löwen (1927), indem sie den Film aus der Sicht eines persischen Jungen erzählten.25 Im Vergleich mit einem Spielfilm war der Kulturfilm Mit dem Auto ins Morgen- land eine kleine Produktion, wie auch die geringe Laufzeit von ungefähr 70 Minuten und der Verzicht auf Anzeigen in der Filmfachpresse verdeutlichen. Er wurde nicht in einem Uraufführungskino gestartet, sondern in einem Kultur- filmkontext zusammen mit dem Silhouettentrickfilm Die Abenteuer des Prinzen Achmed (1926) von Lotte Reiniger. In der Regel dürfte er wohl als erster, kürze- rer Film in den damals üblichen Doppelprogrammen gelaufen sein. Reisefilme wie Mit dem Auto ins Morgenland waren im Vergleich zu Spielfilmen preiswert her- zustellen, da die Reisekosten niedrig waren. In einem idealtypischen Kostenvor- anschlag für einen dokumentarischen Kultur-Reisefilm mit einer Länge von 1.500 Metern setzte Kurt Mühsam 1927 eine Summe von 68.970 RM an – für einen Spiel- film (2.270 m) dagegen 187.664 RM und für einen Kulturspielfilm (2.500 m) gar 232.749 RM.26 Bei letzterem dürfte er an Titel wie Aus eigener Kraft. Ein Film- spiel vom Auto (1924), Falsche Scham (1926) über die Gefahren der Geschlechts- krankheiten oder Geheimnisse einer Seele (1926) über die Psychoanalyse ge- dacht haben, die volkswirtschaftlich oder gesellschaftlich relevante Themen in einer fortlaufenden Spielhandlung inszenierten. Da die Reise des siegreichen Reporters mit mehreren Lastwagen der Nationalen Automobil-Gesellschaft N.A.G. aus Berlin-Oberschöneweide erfolgte, könnte es sich bei Mit dem Auto ins Morgenland um einen verkappten Werbefilm handeln. Wich- tiger ist aber wohl, dass die positive Darstellung von Land und Machthaber wirt- schaftspolitische Ziele verfolgte. Deutschland war in den 1920er Jahren Persiens wichtigster Handelspartner und unterstützte mittelbar die von Reza Schah Pahla- vi geförderte Entwicklung der einheimischen Industrie. Die Filmreise fiel in eine Phase wirtschaftlicher Expansion des Landes, „die in der Geschichte ihresgleichen 24 Vgl.  Katja Schmidt: Willy Achsel. In: Hans-Gert Rolo' (Hg.): Die Deutsche Literatur. Bio- graphisches und bibliographisches Lexikon. Reihe VI. Die Deutsche Literatur von 1890 bis 1990. Abteilung A, Autorenlexikon, Bd. 1, Lieferung 1–5. Bern u. a. 1991, S. 134'. 25 Zu Lene Schneider-Kainer vgl. Sabine Dahmen: Leben und Werk der jüdischen Künstlerin Lene Schneider-Kainer im Berlin der zwanziger Jahre. Dortmund 1999. Vgl. auch den illustrierten Reisebericht von Bernhard Kellermann: Auf Persiens Karawanenstraßen. Berlin 1928. 26 Kurt Mühsam: Film und Kino. Dessau 1927, S. 40'. Filmblatt 73/74 ∙ 2020/21 25 Das Auto als heimlicher Star. Der festgefahrene N.A.G.-Lastwagen auf unwegsa- mer Straße und Postkartenansicht der Königsmoschee in Isfahan in Mit dem Auto ins Morgenland (DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, Frankfurt) Filmblatt 73/74 ∙ 2020/2126 sucht“.27 Möglicherweise wurden im Rahmen der Expedition, die aus einer größe- ren Anzahl von Fahrzeugen bestand, Wirtschaftsgüter nach Persien transportiert und, wie bei vergleichbaren Reisen, deutsche Industriefilme vorgeführt oder vor Ort weitere Kulturfilme aufgenommen.28 Die schönsten Bilder aus Mit dem Auto ins Morgenland vermarktete die Ufa zusätzlich noch in von Olga B. Adamara montier- ten Beiprogrammfilmen wie etwa Reisebilder aus Persien (1929). Inschallah – Filmexpedition eines Einzelnen. Leiter der Kulturfilmabtei- lung der Berliner Hegewald-Film war Freiherr Fred von Bohlen oder auch Fred von Bohlen-Hegewald, der sich nach einem Studium der Tierheilkunde dem „For- scherberufe“ widmete und 1930 als „der jüngste deutsche Forscher und Expedi- tionsleiter“ vorstellte.29 Im Reiche der Kalifen bzw. Inschallah. Im Reiche der Kalifen von 1929 war sein erster Film, der aber, da die Hegewald-Film im Zuge der Tonfilmumstellung in finanzielle Schwierigkeiten geriet, erst 1933 in die Ki- nos kam. Er wurde als Vortragsfilm mit Begleitkommentar von Fred von Bohlen ausgewertet.30 1931 folgte der Balkan-Reisefilm „Kalabaka“. Die Geheimnisse des unbekannten Europas.31 Schleier, Fez und Turban führte 1935 wieder nach Persien; 1939 erschien von Bohlens gleichnamiges Buch mit dem Untertitel „Mit Auto, Kamera und mir allein 20.000 Kilometer durch den Balkan und quer durch den Iran“. Er sei kein Wissenschaftler, stellt er darin gleich zu Beginn klar und verkündet voller Stolz, dass er seine „Auto-Film-Expedition ohne jegliche Unter- stützung hoher und höchster Stellen“ und auch nicht „zu Reklamezwecken“ un- ternommen habe; allein die „reine Lust am Abenteuer“ habe ihn angetrieben.32 Für den hier erkennbaren Medienverbund aus Film, Vorträgen, Artikeln und Bü- chern stand besonders prominent der Autor und Reisefilmer Colin Ross.33 Andere 27 Vgl. Matthias Küntzel: Die Deutschen und der Iran. Berlin 2009, S. 40. 28 Vgl. Wirtschaftliche Filmexpeditionen. In: Der Kinematograph, Nr. 893, 30.3.1924, S. 16. 29 Robert Volz (Hg.): Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft. Das Handbuch der Persönlich- keiten in Wort und Bild. Berlin 1930, Bd. 1, S. 168. Vgl. auch Fred von Bohlens neuer Studienfilm. In: Film-Kurier, Nr. 133, 6.6.1930. In der Filmpresse wurde er mal als Baron, mal als Freiherr vorgestellt. Vgl. Baron von Bohlen-Hegewald: Inschallah – Wie Allah will. In: Film-Kurier, Nr. 48, 24.2.1929; Inschallah – Filmexpedition eines Einzelnen. In: Film-Kurier, Nr. 269, 12.11.1929. 30 Vgl. die Zensurkarte zum Vorspannfilm von Inschallah, Prüf-Nummer 25197 vom 26.2.1930, Deutsche Kinemathek, Schriftgutarchiv, F36943_OT. 31 Der im Eye Filmmuseum in Amsterdam überlieferte Film ist u. a. einsehbar unter www.youtube.com/watch?v=oAShU5C3aVM (letzter Zugri': 27.11.2020). 32 Fred von Bohlen-Hegewald: Schleier, Fez und Turban. Berlin 1939, S. 5. 33 Vgl. Joachim Schätz: Strategie der Streuung. Das multimediale Geschäftsmodell des Reise- filmers Colin Ross in den Protokollen des Brockhaus-Verlags. In: Filmblatt, Nr. 61/62, Frühjahr 2017, S. 105–109. Zu Ross vgl. auch die vom Ludwig Boltzmann Institute for Digital History betriebene Website „Mapping Colin Ross“ unter www.colinrossproject.net (letzter Zugri': 29.9.2020). Filmblatt 73/74 ∙ 2020/21 27 Ka/eehaus in Bagdad auf o/ener Straße in Inschallah. Im Reiche der Kalifen: Fred von Bohlen mokiert sich darüber, dass alle aus der gleichen Tasse trinken. Eine Be- duinenfrau wehrt sich vergeblich gegen die Filmaufnahme: „In die Kamera musste sie doch.“ (Lichtspiel / Kinemathek Bern) Filmblatt 73/74 ∙ 2020/2128 Reisefilmer wie Adolph von Dungern, Heinz Karl Heiland, Lola Kreutzberg, Paul Lieberenz und Martin Rikli vermarkteten ihre Erlebnisse ebenfalls in Artikeln und Büchern. Die Schweizer Verleihfassung von Inschallah. Im Reiche der Kalifen  – aus- weislich der deutschen Zulassungskarte identisch mit der in Deutschland ver- breiteten Fassung  – wurde von der Kinemathek Bern mit Unterstützung von Memoriav, dem Verein zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturgutes der Schweiz, digitalisiert.34 Von den sechs Akten fehlen der erste und der fünfte; die Kopie ist fast durchgehend sepia und blau viragiert. Der Film-Kurier kritisierte diese Virage 1933 als kitschig; offenkundig entsprach sie damals schon nicht mehr dem Zeit- geschmack.35 Fred von Bohlen gruppiert seine Reiseeindrücke in große thematische Blöcke. Die ersten beiden Akte zeigen Alltagsszenen aus Bagdad. Der dritte Akt konzen- triert sich auf zum Teil heimlich aufgenommene Bilder aus der Grabmoschee des Imams Scheich Mūsā al-Kāzim nahe Bagdad. Im vierten Akt schließt sich von Bohlen einer Kamelkarawane Richtung Persien an, porträtiert eine Beduinenfa- milie und zeigt die Felsreliefs von Taq-i-Bustan im Westen Persiens. Den Alltag in Hamdan dokumentiert er im fünften Akt, darunter das Ritual einer „Todeskara- wane“, die die Gebeine Verstorbener in heilige Orte bringt. Im Lieferwagen reist er weiter Richtung Kaspisches Meer. Der letzte Akt endet damit, dass er im Elburs- Gebirge in einem Schneesturm steckenbleibt. Lotte H. Eisner zufolge, die Inschallah bei der Pressevorführung 1929 für den Film-Kurier besprach, zeigte der Film die „Frische und Unmittelbarkeit der Arbeit eines Filmamateurs“; von Bohlen habe einen Film vorgelegt, „der glücklich un- programmmäßig gedreht ist, der nicht didaktisch sein will.“36 1933 lobte ihn das gleiche Blatt erneut als „gelungene[n] Reisebericht eines Filmamateurs“ und war begeistert von der reichen „Kamerabeute“, die „Neues, noch nie Gezeigtes“ eingefangen habe.37 Fred von Bohlen sah sich selbst als Filmamateur und Einzel- kämpfer. In einer biografischen Notiz von 1930 stilisierte er sich als „sein eigener Kameramann, Führer, Dolmetscher, Arzt und Koch“, der seine Reisen „ohne Vor- bereitungen, ohne große Mittel“ unternahm und „als Entdecker das drehte, was ihm gefiel.“38 Der europäische Blick. Sowohl bei Willy Achsel als auch bei Fred von Bohlen dominieren bereits zu Stereotypen geronnene Ansichten aus dem Alltag im Nahen 34 Vgl. Zulassungskarte der Film-Prüfstelle Berlin, Nr.  24113 vom 6.11.1929, BArch, R 9346/B.24113. Die digitalisierte Fassung aus der Schweiz ist einsehbar auf https://vimeo. com/435748002/1f7b387cc9 (letzter Zugri': 6.11.2020). 35 Vgl. hs.: Inschallah. In: Film-Kurier, Nr. 109, 10.5.1933. 36 -ner (Lotte H. Eisner): Inschallah. In: Film-Kurier, Nr. 270, 13.11.1929. 37 hs.: Inschallah. 38 Volz (Hg.): Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft, S. 168. Filmblatt 73/74 ∙ 2020/21 29 und Mittleren Osten, also dem ‚Orient‘, wie sie zuvor schon die illustrierte Presse verbreitet hatte, etwa durch die Fotografien von Alfred Heinicke.39 Auch reich illustrierte Reiseberichte wie Mit Auto und Kamel zum Pfauenthron des Amerika- ners Edward Alexander Powell und Reise durch Persien des Franzosen Pierre Loti, die 1924 und 1925 auch auf Deutsch erschienen, trugen zur Herausbildung be- stimmter visueller Klischees bei. Beide Filme präsentieren eine Wunderkammer des Fremden: Bazar- und Straßenszenen, Karawansereien, Händler und traditi- onelles Handwerk, Volkstypen, Märchenerzähler, Magier, Tänzer- und Tänzerin- nen; ferner Sehenswürdigkeiten wie Felsgräber, Moscheen und Naturschönhei- ten, landestypische Transportmittel wie Kelek-Boote und Daus, religiöse Riten, Feste und Gebräuche. Viele dieser Motive finden sich ebenfalls in dem Persien- Film Im Lande der silbernen Löwen (1927). Fred von Bohlen präsentiert außerdem Aufnahmen unverschleierter Frauen, nimmt sie zum Teil gegen ihren Willen auf. Trotz Film- und Fotoverbot filmt er heimlich und mit Fernauslöser mit einer Kinamo-Handkamera in einer schiiti- schen Grabmoschee. Von seinem Assistenten lässt er sich mit der Kinamo im An- schlag filmen und montiert diese Aufnahmen als Beweis seiner ,Leistung‘ ein. Stolz berichtete er, er sei der erste Andersgläubige gewesen, der diese Moschee betreten habe.40 Zwar bereute er diesen Bilderraub später, aber nicht, weil er da- mit religiöse Empfindungen verletzt hatte, sondern weil es falschverstandener Mut war, für diese Aufnahmen „den Kragen zu riskieren“. Das Filmverbot und die Tatsache, dass er nur versteckt filmen konnte, empfand er fast als „eines Europä- ers unwürdig“.41 Als letzte Aufnahme aus Persien zeigt Mit dem Auto ins Morgenland eine be- tende Perserin: „Das Beste zuletzt. Eine schöne persische Frau, die sich ent- schleiert zu stillem Gebet.“ Die aus fünf Einstellungen bestehende malerische Szene dürfte im Ufa-Studio entstanden sein, zumal die Perserin mit ihren dunk- len Augenhöhlen wie eine Schauspielerin geschminkt ist. Eine in Untersicht aufgenommene Nahaufnahme zeigt sie mit nach oben gerichtetem entrücktem Blick, einer christlichen Nonne ähnlicher als einer Muslima, die ganz andere Ge- betshaltungen einnehmen muss. Nach dem angeblichen Gebet lässt sie sich auf Kissen nieder, um in der Pose einer westlichen Filmdiva versonnen und mit einem leichten Lächeln in die Ferne zu blicken. Die Frau verkörpert das Geheimnisvolle des „Morgenlandes“, ihre Entschleierung entzaubert die Fremde, ein sinnlicher Fernblick erscheint als erotische Verheißung: So wird der ‚Orient‘ als eine Frau inszeniert, die es zu erobern gilt. 39 Vgl.  Alfred Heinicke: Persische Derwische und Teppichknüpfer. In: Das Illustrierte Blatt, Nr. 40, 1.10.1919, S. 6–8 und Nadine Schober: Iran um die Jahrhundertwende. In: Wulf Köp- ke, Bernd Schmelz (Hg.): Mit Kamel und Kamera. Historische Orient-Fotografie 1864–1970. Hamburg 2007, S. 187–213. 40 Volz (Hg.): Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft, S. 168. 41 von Bohlen-Hegewald: Schleier, Fez und Turban, S. 167f. Filmblatt 73/74 ∙ 2020/2130 Fred von Bohlen mit „versteckter“ Kamera in einer für Ausländer verbotenen Moschee nahe Bagdad in Inschallah. Im Reiche der Kalifen (Lichtspiel / Kinema- thek Bern). O/enbar inszenierte Szene einer betenden Frau in Mit dem Auto ins Morgenland (DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, Frankfurt) Filmblatt 73/74 ∙ 2020/21 31 Beide Filme stellen den Irak und Persien als rückständig und westlichen Ver- hältnissen und Normen unterlegen dar; an der Fremde interessiert sie vor allem das Malerische und Pittoreske. So bedienen sie tradierte westliche Vorstellungen des ,Orients‘ und verfestigen diese Stereotype. Lehrreich? In Mit dem Auto ins Morgenland steht die Reise selbst im Vordergrund, insbesondere die zu überwindenden Hindernisse wie schlechte Straßen, unsichere Brücken und riskante Flussfahrten. Bei von Bohlen spielt das Reisen dagegen selbst keine große Rolle. Neben einigen Aufnahmen der Karawane beim Durchqueren der Wüste zeigt er nur die chaotische, durch heftiges Schneetreiben und Motorschaden erschwerte Überquerung des Elburs-Gebirges, dafür in einer längeren Sequenz. In beiden Filmen setzen sich die Protagonisten gerne selbst in Szene. Fred von Bohlen lässt sich bei der Reinigung seiner Kamera, Fabrikat Debrie, und mit der Kinamo-Handkamera filmen.42 In Feldherrenpose dirigiert er den Aufbruch der Ka- rawane, zeigt sich selbst bei der Besichtigung einer Grabkammer. Auch die fiktiven Konkurrenten in Mit dem Auto ins Morgenland lassen sich mit ihren Kameras beim Wettkampf um die interessantesten Aufnahmen ablichten. Nicht alle Rezensenten goutierten dieses Stilmittel. So ging es Herbert Ihering „gegen den Strich“, wie sich Lola Kreutzberg in Wunderland Bali (1927) – einem ansonsten „herrlichen Expeditionsfilm“ – inszenierte; der Film verliere dadurch das Sachliche.43 Es ist heute nur schwer vorstellbar, wie selten noch in den 1920er Jahren Be- wegtbilder aus ferneren Ländern im Kino zu sehen waren. Das europäische Aus- land war filmisch gut erschlossen, obschon es auch hier zahlreiche Lücken gab.44 Nur gelegentlich verirrte sich ein Reisender mit einer Filmkamera in das außer- europäische Ausland. In diese Lücke sprangen die Filmfirmen: Die Ufa hatte Mitte der 1920er Jahre eine Reihe von abendfüllenden Filmen aus aller Welt im Pro- gramm, darunter Urwelt im Urwald (1925) von Adolph von Dungern über das Gebiet des Amazonas, die Jagd- und Tierfangfilme Zum Schneegipfel Afrikas (1925) von Carl Heinz Böse und Auf Tierfang in Abessinien (1926) von Ernst Garden sowie der Mexiko-Bericht Auf den Spuren der Azteken (1926) von Adolf Trotz.45 Wenn einer dieser seltenen Filme gezeigt wurde, überboten sich die Kri- tiker oft mit Begeisterung. Beispielhaft dafür mag das Urteil Siegfried Kracauers über Mit dem Auto ins Morgenland sein, dem viele Bilder wie „Illustrationen zu Tausendundeine Nacht“ erschienen und der die „wirklich gut gelungenen Bilder“ 42 Zum Kinamo vgl. Ralf Forster: Der Kinamo. Emanuel Goldbergs entfesselte Kamera. In: Filmblatt, Nr. 46/47, Winter 2011/12, S. 3–14. 43 Herbert Ihering: Der erste Eisensteinfilm. In: Berliner Börsen-Courier, Nr. 96, 26.2.1927, ab- gedruckt unter dem Titel „Lola Kreutzberg“ in Herbert Jhering: Von Reinhardt bis Brecht. Vier Jahrzehnte Theater und Film. Berlin (Ost) 1959, Bd. 2, S. 530. 44 Vgl. Patrick Vonderau: Kulturelle Landmarken. Reisen in den hohen Norden (1930–1939). In: Filmblatt, Nr. 24, Frühjahr/Sommer 2004, S. 52–55. 45 Vgl. die Anzeigen im Ufa-Verleihkatalog für die Saison 1925–26. Berlin 1925, S. 51–62. Filmblatt 73/74 ∙ 2020/2132 lobte.46 Dabei war die Qualität der Aufnahmen  – aus heutiger Sicht  – eher be- scheiden. Das betrifft deren technische Qualität, aber auch die ausgewählten Su- jets und die Zwischentitel. Der Film-Kurier wünschte sich deshalb von Mit dem Auto ins Morgenland etwas mehr Belehrung, also Informationen über die im Film vorgestellten Orte, Sehenswürdigkeiten, Sitten und Gebräuche. Die Bildstelle des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht gab sich dem- gegenüber mit dem geringen Informationsgehalt zufrieden und stufte Mit dem Auto ins Morgenland und Inschallah als Lehrfilme ein. Die Filme enthielten „viele interessante Stadt- und Landschaftsbilder, Szenen aus dem Volksleben, z. B. auch eine persische Hochzeit“ und bisher nie gesehene Aufnahmen.47 In der Oberflächlichkeit vieler abendfüllender Kulturfilme sah ein Beobachter 1923 eine wichtige Voraussetzung für ihren geschäftlichen Erfolg: „Ein solcher Film kann getrost über den Horizont des normalen Mitteleuropäers hinausragen, aber er darf nicht zu gelehrt sein.“ Wichtig sei nur, dass man über die Dinge mit- reden könne, die gerade aktuell sind, so als sei man dabei gewesen. Das sei vor al- lem jetzt bedeutsam, „wo die Nerven der Menschen so herunter sind und die Kraft zur Konzentration schwindet.“48 Auf diesen Aspekt der Ersatzhandlung machte 1927 auch der Publizist Hermann Treuner aufmerksam: Gerade Reisefilme ermög- lichten dem Publikum „die Erfüllung einer großen, unstillbaren Sehnsucht, der Sehnsucht nach der Ferne, des urewigen Wandertriebes aller Menschen.“49 An- lässlich der Ausstellung „Reisen und Wandern“ 1929 vermutete Franz Thierfelder gar, eine romantisch gefärbte Fernsehnsucht sei bei den Deutschen besonders ausgeprägt.50 Auffällig ist jedenfalls die große Zahl der in der Weimarer Republik entstandenen abendfüllenden Reisefilme; 1929 waren es um die 25.51 Hinzu ka- men noch unzählige im Beiprogramm eingesetzte kurze Kulturfilme. Obschon der Reisefilm in der deutschen Filmproduktion zahlenmäßig und in seinen ästheti- schen Ausdifferenzierungen ein bedeutendes dokumentarisches Genre darstell- te, ist er von der Forschung bislang nur wenig beachtet worden. Es wird Zeit, ihn aus seinem filmhistorischen Nischendasein zu befreien. Mit Dank an das Lichtspiel / Kinemathek Bern. 46 Siegfried Kracauer: Höfisches. In: Frankfurter Zeitung (Stadt-Blatt), 28.5.1927, hier zit. nach Ders.: Kleine Schriften zum Film. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a. M. 2004, Bd. 6.1: 1921– 1927, S. 348. 47 Mitteilungen der Bildstelle des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht, Nr. 11, 1926, S. 40. Vgl. auch ebd., Nr. 1/2, 1930, S. 7. 48 W. Kunde: Der Kulturfilm als Geschäft. In: Der Kinematograph, Nr. 854, 1.7.1923. 49 Treuner: Chang, S. 296. 50 Thierfelder: Der deutsche Reisende im In- und Auslande. 51 Vgl. Gero Gandert (Hg.): Der Film der Weimarer Republik. 1929. Berlin, New York 1993. Filmblatt 73/74 ∙ 2020/21 33 Mit dem Auto ins Morgenland. Eine Filmkonkurrenz mit Hindernissen in 4 Akten Deutschland 1926 / Produktion: Universum Film AG (Ufa), Berlin / Verleih: Universum-Film- Verleih GmbH / Regie, Buch: Willy Achsel / Zwischentitel: Armin Petersen / Kamera: Karl Puth / Darsteller: Aruth Wartan (Der siegreiche Filmreporter), Walter von Allwörden (Der andere Filmreporter), Heinrich Gotho (Redakteur), Dorit Leska (Sekretärin) / Zensur: Film- Prüfstelle Berlin, Nr. 13436 vom 12.8.1926, 35mm, 1.624 Meter, Jugendfrei / Uraufführung: Mitte November 1928, Berlin (Großes Schauspielhaus, in einem Doppelprogramm zusammen mit Die Abenteuer des Prinzen Achmed) Kopie: Bundesarchiv, Berlin, 35mm, 1.604 Meter, 70 Minuten (bei 20 Bilder/Sekunde) Inschallah. Im Reiche der Kalifen Deutschland 1929 / Produktion, Verleih: Hegewald-Film GmbH, Berlin / Produzentin: Liddy Hegewald / Verleih 16mm: I.G. Farbenindustrie AG „Agfa“, Berlin / Regie, Kamera: Fred von Bohlen / Anmerkung: „Augenblicke aus dem Leben der Orientalen, beobachtet und mit der Kamera festgehalten von Baron Fred von Bohlen.“ (Zensurkarte Nr. 25197) / Zensur: 1) Film-Prüfstelle Berlin, Nr. 21997 vom 18.3.1929, 35mm, 6 Akte, 1.223 Meter, allgemein zu- gelassen, Titel: Im Reiche der Kalifen; 2) Film-Prüfstelle Berlin, Nr. 24113 vom 6.11.1929, 35mm, 6 Akte, 1.639 m, allgemein zugelassen, Titel: Inschallah. Im Reiche der Kalifen; 3) Film-Prüf- stelle Berlin, Nr. 25197 vom 26.2.1930, 35mm, 1 Akt, 92 Meter [= Vorspannfilm], allgemein zugelassen; 4) Film-Prüfstelle Berlin, Nr. 28860 vom 28.4.1931, 16mm, 3 Akte, 323 Meter, all- gemein zugelassen, Titel: Im Reiche der Kalifen / Prädikate: Bildstelle des Zentralinstituts, L 2119/28 vom 15.10.1929 [bezieht sich auf 1. Zensur] sowie L 2375/29 vom 15.10.1929 [bezieht sich auf 2. Zensur]; jeweils Anerkennung als Lehrfilm / Pressevorführung: 12.11.1929, Berlin / Uraufführung: 16.6.1931, Berlin (Planetarium am Zoo)52; Kinostart vermutlich erst im Mai 1933. Kopien: Bundesarchiv, 35mm, s/w, 206 Meter, 9 Minuten (bei 20 Bilder/Sekunde) (= 2. Akt); Lichtspiel / Kinemathek Bern, File von 35mm, viragiert, 49 Minuten (1. und 5. Akt fehlen), 49 Minuten Anmerkungen: Der schwedische Verleihtitel war Inschallah: Genom Persiens sagoland. 52 Vgl. Inschallah im Planetarium. In: Kinematograph, Nr. 137, 16.6.1931.