472 ill BUCH, PRESSE UND ANDERE DRUCKMEDIEN DAS BUCH ALS FORSCHUNGSGEGENSTAND Eine Sammelrezension Heinz Steinberg: Gutenbergs Zukunft. An- und Aussichten zu Buch und Lesen. Berlin: Spiess 1990, 128 S., DM 20,- Krzysztof Migon: Das Buch als Gegenstand wissenschaftlicher For- schung. Buchwissenschaft und ihre Problematik. Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1990 (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München, Bd.32), 340 S., DM 112,- Monika Estennann, Michael Knoche (Hrsg.): Von Göschen bis Rowohlt. Beiträge zur Geschichte des deutschen Verlagswesens. · Festschrift für Heinz Sarkowski zum 65. Geburtstag. Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1990 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, Bd. 30), 393 S., DM 148,- Die apokalyptischen Prophezeihungen über das 'Ende des Buchzeital- ters' haben sich als bewußt inszenierte wissenschaftliche Scharlatanerie erwiesen. Dies gilt für den Kanadier McLuhan ebenso wie für dessen deutsche Epigonen, die von Heinz Steinberg scharf kritisiert werden: Gutenbergs Zukueft ist eine Philippika gegen die deutsche Buchmarktfor- schung der letzten Jahrzehnte. Detailliert weist der Autor nach, daß der überwiegende Teil der vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels inaugurierten Forschung über die Buchnutzung in der Bundesrepublik Deutschland - zum großen Teil durchgeführt von Elisabeth Noelle-Neu- mann - methodisch fragwürdig und in den Ergebnissen falsch ist. Die 1986 erschienene großangelegte Studie "Jugend und Medien" (von der ARD/ZDF-Medienkommission und der Bertelsmann Stiftung in Auftrag gegeben), deren Ergebnisse als "Niedergang der Lesemedien" (S.61) interpretiert wurden, beruht nach Steinberg sogar auf "gefälschtem" [sie] Datenmaterial (vgl. ebd.). Solcherlei schweres Geschütz richtet der Au- tor nicht nur gegen die Medienforschung, sondern gegen nahezu alle in der Bundesrepublik mit dem Buch befaßten Institutionen: "Pervertierte Medienprophetie, Kassandras Kulturpessimismus, Unvernunft von Buchhändlern und Bibliothekaren sowie fehlende Einsicht von Stadt und Land haben es mit vereinten Kräften nicht geschafft, das Lesen insge- samt zu bremsen" (S.105). So penetrant Steinbergs polemische Kritik auch vorgetragen wird, seine Befunde sind zutreffend und gut belegt. Der Autor erweist sich einmal mehr als profunder Kenner der internatio- nalen Buchmarktforschung, die er dem deutschen Leser bereits 1979 473 durch seine annotierte Bibliographie Buch und Lesen gut erschlossen hat. So konfrontiert Steinberg die deutsche Forschung mit den Ergebnissen der (validen) amerikanischen Buchmarktforschung. Seine zentrale These: Die häufig konstatierte Medienkonkurrenz, z.B. zwischen Fernsehen und Buch (so bezeichnete Noelle-Neumann einmal das Fernsehen als "Freßfeind" des Buches), besteht nicht; mehr noch: "In Wahrheit bahnt jedes Medium den Weg zum Buch" (S.66). Steinbergs Kritik an einigen Buchmarktstudien ist allerdings so neu nicht, und die von ihm monierten Ergebnisse sind inzwischen von jüngeren deutschen Untersuchungen widerlegt. Das Interessante an Steinbergs Buch liegt vielmehr darin, daß hier die Instrumentalisierung der Buchmarkt- forschung für kulturpolitische Interessen schonungslos aufgezeigt und angeprangert wird. Die Etablierung einer autonomen Buchwissenschaft wird in Deutschland seit Jahrzehnten diskutiert. Hiervon zeugen zahlreiche Veröffentlichun- gen, zumeist Aufsätze, Essays und Entwürfe, über die Aufgaben und Forschungsfelder der Buchwissenschaft. Eine umfassende Monographie, in der die Buchwissenschaft, ihre Methoden und Forschungsaufgaben systematisch entfaltet werden, fehlte jedoch bisher. Seit langem wartet daher die deutsche Buchforschung auf die seit geraumer Zeit angekün- digte Übersetzung der Habilitationsschrift von Krzysztof Migon. Der Autor ist Ordinarius für Buch- und Bibliothekswissenschaft in Breslau und gilt als f'.i:ihrender Vertreter der sog. 'Polnischen bibliologischen Schule'. Die Ubersetzung dieses erstmals 1976 erschienen Buches, das für die Übersetzung auf dem Stand von 1987 überarbeit wurde, er- schließt die reichhaltige buchwissenschaftliche Literatur des slawischen Sprachraumes, ohne jedoch die westeuropäische Buchforschung unbe- rücksichtigt zu lassen. Ausführlich behandelt werden die Bereiche: "Das Buch als Forschungsgegenstand, Entstehung und Entwicklung der Buchwissenschaft, Theorieelemente moderner Buchwissenschaft, Pro- bleme der historischen Buchwissenschaft, Theorieprobleme des moder- nen Buchsystems (und) die Buchwissenschaft im Kreise der Gei- steswissenschaft". Migons außerordentlich kenntnisreiche und vor dem Hintergrund der europäischen buchwissenschaftlichen Literatur der letz- ten Jahrzehnte geschriebene Studie ist ein eindrucksvoller Beleg für die Berechtigung einer Ausdifferenzierung der Buchwissenschaft zu einer eigenständigen Disziplin. Migon analysiert eingehend die Interde- pendenzen zwischen der Buchwissenschaft und angrenzenden Diszipli- nen, wobei sich allerdings auch Schwächen der Untersuchung zeigen, die sich wohl aus der geisteswissenschaftlichen Orientierung und geo- graphischem Standort des Autors ergeben. Die Bezüge zwischen den hi- storischen Wissenschaften und der Buchwissenschaft werden ausführlich und treffend herausgearbeitet, diejenigen zwischen der Soziologie, 474 Kommunikationswissenschaft sowie Infonnatik und der Buchwissen- schaft jedoch nur unzulänglich . Hier fehlte dem Autor offenbar der Zu- gang zur entsprechenden westeuropäischen und amerikanischen Fachlite- ran.ir. Welch ein breites Spektrum allein die historische Buchforschung bietet, belegt die Festschrift anläßlich des 65. Geburtstages von Heinz Sar- kowski. Der Jubilar, ehemals Hersteller in bedeutenden deutschen Ver- lagshäusern, ist selbst durch zahlreiche Veröffentlichungen zum Buch- wesen hervorgetreten, die in der im Buch enthaltenen Bibliographie do- kumentiert sind. Der Sammelband enthält zudem 18 Beiträge zu verlagsgeschichtlichen Fragestellungen. Der zeitliche Bogen der Auf- sätze spannt sich, wie der Titel nahelegt, vom späten 18. Jahrhundert bis zur Nachkriegszeit. In dem Aufsatz mit dem ältesten Bezugspunkt unter- sucht Stefan Füssel den Briefwechsel zwischen Georg Joachim Göschen, der seinen Verlag 1785 gründete, und dessen Autor Carl Simon Morgen- stern. Edda Ziegler markiert mit ihrem Aufsatz über die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von Rowohlts Rotations Romanen die Zeit- grenze zur Gegenwart. Die thematische Vielfalt der Beiträge reicht von Typographie, Wissenschaftsgeschichte, Verleger- und Buchhändlerpor- träts, Autoren-Verlegerbriefe bis hin zu Problemen der Archivarbeit. Die Aufsätze sind allesamt Orginalbeiträge von hoher Qualität. Der Band weicht somit wohltuend ab von der leidigen Gepflogenheit, in Fest- schriften en passant entstandene Artikel zu plazieren. Hervorzuheben ist auch die typographisch ansprechende und insgesamt hervorragende Aus- stattung des Buches. Helmut Volpers (Göttingen)