Anne Pirwitz Potsdam Der Chronotopos der Remigration in Fatih Akins Solino Abstract: In diesem Beitrag wird ein Modell des Chronotopos der Remigration entwickelt. Hierzu werden Hamid Naficys Chronotopoi des accented cinema, welche Erfahrungen von Entwurzelung, Migration und Leben im Exil in filmisch konstruierten Räumen widerspiegeln, um den Aspekt der Remigration erweitert und zudem auf eine erzähltheoretische Ebene gehoben. Das Modell wird außerdem durch Rückgriff auf Michail Bachtins ursprüngliche Chronotopos-Theorie, Jurij Lotmans Theorie semantischer Räume und das Modell der Heldenreise nach Joseph Campbell erarbeitet. Damit soll es möglich sein, sowohl Aussagen über die Raumkonstruktion in filmischen Remigrati- onsnarrativen als auch über die Struktur des Handlungsverlaufs treffen zu können. Das entwickel- te Analyse-Modell wird anhand des Films Solino (2002) von Fatih Akin angewandt und illustriert. _______ Anne Pirwitz (M.A.), wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl Kulturen romanischer Länder am Institut für Romanistik der Universität Potsdam. Romanistik-Studium, Promotionsthema: Konstruk- tion transnationaler Räume der Migration im rumänischen Spielfilm. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Mig- ration, Film, Raumkonstruktion, Heimatbegriff. Anne Pirwitz | Der Chronotopos der Remigration in Fatih Akins Solino 1. Einleitung Der von Michail Bachtin geprägte Begriff des Chronotopos (griech. chrónos für Zeit und tópos für Ort) bezeichnet spezifische Raum-Zeit-Konfigurationen im Roman.1 Diese offenbaren sich als Mikro-Chronotopoi in einzelnen erzählten Räumen und als Makro-Chronotopos in der jeweiligen Narrationsstruktur des Werkes.2 Die Theo- rie des Chronotopos findet inzwischen nicht nur in der Literaturwissenschaft An- wendung, sondern wurde auch auf andere Textformen und sogar auf sozio- kulturelle Modelle übertragen.3 Für die vorliegende Untersuchung erweist sich Hamid Naficys Chronotopos-Theorie als fruchtbar: In seinem Werk An Accented Cinema4 untersucht er verschiedene Chronotopoi, die Erfahrungen von Entwurze- lung, Migration und Leben im Exil widerspiegeln. Dazu zählen der Chronotopos des Heimatlandes, derjenige des Exils und der thirdspace chronotope. In ihrem Artikel „No place like home? Or the impossible homecomings in the films of Fatih Akin“ zeigt Daniela Berghahn, dass sich Naficys Chronotopos des idylli- schen Heimatlandes dazu eignet, die Konstruktion der Heimat im Film Solino (2002), der vom Verlassen der Heimat und der Rückkehr zu dieser erzählt, zu ana- lysieren.5 Es handelt sich bei diesem Film des deutsch-türkischen Regisseurs Fatih Akin also um ein Remigrationsnarrativ. Der Aspekt der Remigration wird von Naficy allerdings nur am Rande thematisiert, da er sich auf Filme konzentriert, die das Leben der Figuren im Ausland oder den Moment der Migration fokussieren. Zudem lassen sich mit Naficys Auffassung des Chronotopos kaum Aussagen über 330 die – den gesamten Film überspannende – Narrationsstruktur treffen, welche bei Bachtins ursprünglicher Chronotopos-Theorie im Vordergrund steht. Ausgehend von der These, dass Naficys Chronotopoi des Heimatlandes, des Exils und des thirdspace als Mikro-Chronotopoi ebenso in Remigrationsnarrativen wirken und durch eine bestimmte Anordnung den Verlauf der Narrationsstruktur bestimmen, soll ein umspannendes Chronotopos-Modell entwickelt werden, das diese Lücken schließt. 1 Vgl. Bachtin 2008 [1975]: 7. 2 Unter Mikro-Chronotopoi können motiv-ähnliche Raum-Zeit-Konfigurationen verstanden werden. Makro-Chronotopoi hingegen betreffen die gesamte Narrationsstruktur und prä- gen jeweils ein bestimmtes Genre; vgl. Frank 2015: 165, siehe Abschnitt 2.2. 3 Beispielsweise durch Gilroy 1993. 4 Naficy 2001. Unter accented cinema versteht Naficy Filme, die unter der Bedingung von Migration entstanden sind und nach künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten suchen, das Leben im Ausland und das Verhältnis zum Heimatland darzustellen. Diese Filme werden als accented cinema bezeichnet, da sie sprachlich, formal und stilistisch gemischt sind und eine hybride Form aufweisen. 5 Berghahn 2006. ffk Journal | Dokumentation des 32. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 5 (2020) Anne Pirwitz | Der Chronotopos der Remigration in Fatih Akins Solino Im zweiten Abschnitt werden zunächst die theoretischen Grundlagen der Chro- notopos-Theorie präsentiert und durch die Einbeziehung literaturwissenschaftli- cher Theorien ergänzt. Im dritten Abschnitt folgt die Konzeption meines Modells des Chronotopos der Remigration, welches im vierten Abschnitt anhand des Films Solino, der als Prototyp dieser Raum-Zeit-Konfigurationen gesehen werden kann, illustriert wird. Im Fazit wird die Schlussfolgerung gezogen, inwiefern sich das Modell auch auf andere Remigrationsnarrative übertragen lässt. 2. Theoretische Grundlagen Im Folgenden wird Naficys Chronotopos-Theorie näher erläutert. Die bei ihm feh- lende Bedeutung der Chronotopoi für die Narrationsstruktur (im Sinne eines Mak- ro-Chronotopos) wird durch Rückgriff auf Bachtins Theorie des Chronotopos dargelegt, welche sich durch Jurij Lotmans Theorie semantischer Räume6 schärfen lässt. Dass Chronotopoi maßgeblich die Struktur der Erzählung prägen und als semantische Räume oder Übergänge zwischen diesen fungieren, lässt sich anhand des auf Joseph Campbell zurückgehenden und von Christopher Vogler für Dreh- buchautor_innen aufbereiteten Modells der Heldenreise7 illustrieren. 2.1 Mikro-Chronotopoi im accented cinema Naficy übernimmt den von Bachtin geprägten Begriff des Chronotopos und über- 331 trägt ihn in seine kulturtheoretische und produktionsästhetische Untersuchung. Die Erfahrungen der Migration der Filmemacher_innen schreiben sich in den Raum-Zeit-Konfigurationen des accented cinema ein. Diese manifestieren sich in of- fenen und geschlossenen kinematografischen Formen, die sich aber weniger auf den Aufbau der Handlung und die Narrationsstruktur, als vielmehr auf die Kon- struktion des im Film gezeigten Raumes beziehen. Beide Formen weisen eine räumliche und eine zeitliche Dimension auf. Die offene Form zeichnet sich aus durch Außenaufnahmen, offene Räume, helles Tageslicht, mobile Figuren, lange Einstellungen, Panoramabilder, zeitliche Kontinuität und nostalgische Retrospek- tiven.8 Im Kontrast dazu steht die geschlossene Form, die durch beengende Innen- räume, dunkles Licht, in ihrer Freiheit eingeschränkte Figuren, statische Kameraeinstellungen, enge Bildräume und zeitliche Diskontinuität geprägt ist.9 Bei der Mehrheit der von Naficy untersuchten Filme entspricht die Darstellung des Heimatlandes der offenen Form und diejenige des Exils der geschlossenen Form. 6 Lotman 1989. 7 Campbell 1999 [1949], Vogler 1997. 8 Vgl. Naficy 2001: 153. 9 Vgl. ebd. ffk Journal | Dokumentation des 32. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 5 (2020) Anne Pirwitz | Der Chronotopos der Remigration in Fatih Akins Solino Bei der Konstruktion des Chronotopos des Heimatlandes orientiert sich Naficy am bachtinschen Chronotopos der Idylle. Daraus ergibt sich ein „idyllic chronoto- pe[…] of homeland“10, welcher durch die Darstellung eines harmonischen, familiä- ren Zusammenlebens in pastoraler Landschaft zum Ausdruck kommt. Dieser Chronotopos taucht laut Naficy meist im Rahmen der Erinnerungen einer oder mehrerer Figuren auf, die, von Nostalgie und Heimweh geprägt, an ihre Vergan- genheit zurückdenken. Durch Verklärung wird also ein Heimatbild konstruiert, das dem einer Utopie gleicht: One typical initial media response to the rupture of displacement is to create a utopian prelapsarian chronotope of the homeland that is uncontaminated by con- temporary facts. This is primarily expressed in the homeland´s open chronotopes (its nature, landscape, landmarks, and ancient monuments) and in certain privi- leged renditions of house and home.11 Der verlassene Raum, der einer vergangenen Zeit angehört, wird in den aktuellen Raum und die aktuelle Zeit übertragen. Dadurch kommt eine besondere Form der Zeit- und Grenzlosigkeit zum Ausdruck. Dem idyllischen Chronotopos der Heimat steht im accented cinema der Chronoto- pos des Exils gegenüber. Er drückt sich durch geschlossene Formen aus, betont Klaustrophobie und Zeithaftigkeit und ist mit Panik, Verfolgung und Kontrolle ver- bunden: 332 The rendition of life in exile, too, initially tends to be just as cathected with dis- locatory affect, but it is manifested in dystopian and dysphoric imagining of the contemporary times. This is expressed chiefly in the closed chronotopos of im- prisonment and panic.12 Eine friedvolle Rückkehr in die idyllisch gebliebene Heimat ist im accented cinema allerdings in der Regel nicht beschrieben. Entweder verbleiben die Figuren im Exil oder werden im Falle einer Remigration enttäuscht, da das Bild der Heimat nur ei- ne Illusion ist, die nichts mit der wieder vorgefundenen Heimat gemeinsam hat. Weitere bedeutsame Chronotopoi im accented cinema sind thirdspace chronotopes, die sich in einer Mixtur aus offenen und geschlossenen Formen ausdrücken.13 Diese lassen sich in zwei Arten unterteilen: border chronotopes und hybride Räume. Zu den border chronotopes gehören Transit-Orte wie Grenzen, Flughäfen, Häfen, Bahn- höfe und Transportmittel.14 Sie sind meist mit starken Emotionen des Abschieds 10 Ebd.: 155. 11 Ebd.: 152. 12 Ebd.: 152–153. 13 Vgl. ebd.: 212. 14 Vgl. ebd.: 153–154. ffk Journal | Dokumentation des 32. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 5 (2020) Anne Pirwitz | Der Chronotopos der Remigration in Fatih Akins Solino oder der Ankunft aufgeladen und stellen Übergangsräume zwischen Heimat und Exil dar. Die zweite Art der thirdspace chronotopes sind im Exil lokalisierte hybride Räume. Sie bilden eine Raumzeit, die von Simultaneität und kultureller Vermi- schung gekennzeichnet ist. Hier überlagern sich die Räume der Heimat und des Exils sowie die Zeit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft.15 So kön- nen die eigentlich geschlossenen Räume des Exils durch Hybridität (z. B. durch von Figuren in sie gebrachte kulturelle oder sprachliche Einflüsse) offenen Charak- ter erlangen. 2.2 Der Makro-Chronotopos und seine Bedeutung für die Narrationsstruktur Auf die Narrationsstruktur selbst haben die Mikro-Chronotopoi bei Naficy weni- ger Einfluss, weshalb sich ein Blick auf Bachtins ursprüngliche Theorie als sinnvoll erweist. Bachtin beschreibt den Chronotopos als den „untrennbare[n] Zusammen- hang von Zeit und Raum“16 im Roman: Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Ge- schichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.17 333 Michael Frank, der sich intensiv mit Bachtins Theorie beschäftigt, kategorisiert des- sen Chronotopoi in Makro- und Mikro-Chronotopoi:18 Unter Makro-Chronotopoi, mit denen sich Bachtin vorwiegend auseinandersetzt, sind Chronotopoi zu verste- hen, die jeweils ein bestimmtes Romangenre prägen und durch die die Struktur der Texte bestimmt wird. Hierzu zählen zum Beispiel der Chronotopos des Aben- teuerromans (in dem der Raum unendlich weit gedehnt wird, während die biolo- gische Zeit kaum zu vergehen scheint, wodurch die Helden_innen am Ende noch immer jung und schön sind) oder der Chronotopos des Genres der Idylle (in der der Raum stets der gleiche bleibt und die Zeit sich zyklisch wiederholt). Mikro- Chronotopoi hingegen sind an konkrete Lokalitäten geknüpft und als Motive in dem jeweiligen Makro-Chronotopos eingebunden. Dazu zählen beispielsweise die Idylle (als pastoraler Raum, in dem die Zeit stillzustehen scheint), der Weg (der mit Vorankommen und Entwicklung verknüpft ist) oder die Schwelle (die Über- gänge markiert).19 Eben jene Mikro-Chronotopoi steuern durch eine bestimmte 15 Vgl. ebd.: 212–213. 16 Bachtin 2008 [1975]: 7. 17 Ebd. 18 Vgl. Frank 2015: 165. 19 Vgl. Bachtin 2008 [1975]. ffk Journal | Dokumentation des 32. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 5 (2020) Anne Pirwitz | Der Chronotopos der Remigration in Fatih Akins Solino Anordnung in der Handlung den Verlauf der Narration, wodurch sich der Makro- Chronotopos des jeweiligen Romangenres ergibt. Die bachtinschen Chronotopoi leiten die Struktur der Erzählung, sodass man sie auch als strukturgebende Chro- notopoi bezeichnen könnte. Um die strukturgebenden Fähigkeiten zu verdeutlichen, eignet sich die von Lot- man konstruierte Erzähltheorie der semantischen Räume und der Grenzüber- schreitung. Jener geht davon aus, dass sich die erzählte Welt in zwei Räume teilt, die von einer Grenze getrennt sind.20 Durch die Konstruktion oppositärer Räume können nicht-räumliche Sachverhalte mit räumlichen Modellen ausgedrückt wer- den.21 Ist diese Aufteilung gegeben und ist mindestens eine Figur in der Lage, ihre Raumbindung zu überwinden und die Grenze zu überschreiten (dieser Prozess wird nach Lotman Ereignis genannt), handelt es sich um ein Sujet.22 Ergänzt wurde Lotmans Theorie von Karl Renners Extrempunktregel: An den Extrempunkten der jeweiligen semantischen Räume, an denen eine besondere Intensität der Raumcha- rakteristik herrscht, kommt es meist zu einem End- oder Wendepunkt der Hand- lung.23 Dass die semantischen Räume und die Grenzüberschreitung die Struktur der meis- ten narrativen Erzählungen in direkter oder indirekter Weise steuern, lässt sich am Beispiel der Heldenreise illustrieren. Die auf den Mythenforscher Joseph Campbell zurückgehenden Erkenntnisse zum Verlauf einer klassischen Heldenerzählung24 wurden von Christopher Vogler in leicht abgewandelter Form in seinem Werk Die 334 Odyssee des Drehbuchschreibers als Storytelling-Tool für Drehbuchautor_innen fruchtbar gemacht.25 Zusammenfassend lässt sich der Verlauf der Heldenreise wie folgt beschreiben: Der_die Held_in verlässt seine_ihre Heimat (semantischer Raum A), übertritt die Schwelle (Grenzüberschreitung) von der gewohnten in die neue Welt (semantischer Raum B), in der er_sie Abenteuer überstehen, Rätsel lösen und Hindernisse überwinden muss (z. B. Erreichen des Extrempunktes). Anschließend kehrt der_die Held_in mit materiellem oder psychologischem Zugewinn wieder heim.26 Das Lineare des Vorankommens und der Entwicklung des_der Held_en_in vereint sich mit dem Zyklischen des Zurückkehrens zum Ursprung, wodurch sich eine geschlossene dramaturgische Struktur ergibt. Die einzelnen räumlichen Stati- onen können aufgrund ihrer Verknüpfung mit bestimmten zeitlichen Faktoren als Chronotopoi aufgefasst werden. 20 Vgl. Lotman 1989: 327. 21 Vgl. ebd.: 313 und 330. 22 Vgl. ebd.: 332. 23 Vgl. Renner 2004: 375–376 und 1987: 128. 24 Vgl. Campbell 1999 [1949]. 25 Vgl. Vogler 1997. 26 Vgl. ebd.: 49–77. ffk Journal | Dokumentation des 32. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 5 (2020) Anne Pirwitz | Der Chronotopos der Remigration in Fatih Akins Solino 3. Konzeption des Chronotopos der Remigration Wenn Naficys Chronotopoi des accented cinema als Mikro-Chronotopoi ähnlich wie die Stationen der Heldenreise angeordnet werden (wodurch sich wiederum Rück- griffe auf Bachtins strukturgebende Chronotopoi anbieten), lässt sich daraus ein Modell entwickeln, das dem eines Makro-Chronotopos nach Bachtin entspricht und im Folgenden als Chronotopos der Remigration bezeichnet werden soll (Abb. 1). Dieser Chronotopos beschreibt eine – die Struktur von Remigrationsnar- rativen bestimmende – Raum-Zeit-Konfiguration, die durch das Lineare des Weges und das Zyklische der Heimkehr geprägt ist. 335 Abb. 1: Modell des Makro-Chronotopos der Remigration Es gibt einen Raum A, den Chronotopos des Heimatlandes, der mit bestimmten Charakteristiken semantisch aufgeladen ist. Mindestens eine Figur verlässt diesen Raum der Heimat und begibt sich an einen Transit-Ort. Dieser liegt am Rande des Raumes A und weist noch entsprechende Charakteristiken dieses Raumes auf. Gleichzeitig bereitet er jedoch auf den Übertritt in einen neuen Raum vor. Er kann deshalb bereits als border chronotope bezeichnet werden. Im Zwischenraum kommt es schließlich zur Grenzüberschreitung. Hier überlagern sich Charakteristiken bei- der Räume oder es handelt sich um einen neutralen Raum, in dem sich die Figuren in einem liminalen Zustand befinden.27 Häufig manifestiert sich dieser Chronoto- pos in Grenzzonen oder Verkehrsmitteln. In diesem border chronotope, der dem 27 Zu Liminalität bzw. Schwellenzustand siehe Turner 1964. ffk Journal | Dokumentation des 32. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 5 (2020) Anne Pirwitz | Der Chronotopos der Remigration in Fatih Akins Solino strukturgebenden Chronotopos der Schwelle entspricht, kommt es zur Grenzüber- schreitung nach Lotman. An einem weiteren Transit-Ort erfolgt dann der Über- gang in den semantischen Raum B, den Chronotopos des Exils, welcher oppositäre Charakteristiken zum semantischen Raum A aufweist. Hier muss die Figur mit neuen Herausforderungen kämpfen. Thirdspace chronotopes in Form hybrider Räu- me, die im Chronotopos des Exils lokalisiert sind, aber mit Charakteristiken des Chronotopos des Heimatlandes aufgeladen sind, sorgen dafür, dass die Bindung an die Heimat nicht verloren geht. Bei der persönlichen Entwicklung der Figur be- kommt sie Hilfe von Mentor_innen, die ihr den Weg weisen. Auf strukturgebender Ebene entspricht das Exil dem Chronotopos des Weges, der durch das Lineare des Vorankommens gekennzeichnet ist. Hier werden wichtige Erfahrungen gesam- melt. Nach dem Erreichen eines Extrempunktes des semantischen Raumes B ist die Figur gezwungen, von ihrem bisherigen Weg abzulassen und ihre Bewegungsrich- tung zu ändern.28 Der Extrempunkt sorgt dafür, dass es zu einer Wende kommt. Die Figur tritt die Rückreise in die Heimat an. Gleich dem Chronotopos der Idylle hat sich diese kaum verändert, als wäre die Zeit stehen geblieben. Die zurückge- kehrte Figur selbst allerdings hat sich entwickelt und ist durch den Chronotopos des Weges gezeichnet. Eine Wiedereingliederung in den semantischen Raum A ge- staltet sich schwierig. Mit Hilfe weiterer Mentor_innen jedoch schafft es die Figur in einem weiteren hybriden Raum, der dieses Mal im Chronotopos des Heimat- landes lokalisiert ist und Charakteristiken des Chronotopos des Exils aufweist,29 einen Raum zu bilden, in dem Vervollständigung erreicht werden kann, bis die Fi- 336 gur schließlich ganz im semantischen Raum A aufgeht. Der Chronotopos der Remigration kann verschiedene Formen annehmen. Die Rückkehr in die Heimat kann auch in völliger Enttäuschung und gescheiterter Wiedereingliederung enden. Das Grundgerüst (Abb. 1) bleibt aber ähnlich. 4. Der Chronotopos der Remigration in Solino In Solino erzählt Akin die Geschichte der italienischen Familie Amato, die 1964 nach Duisburg zieht. Zunächst lassen sich die Räume im Film topografisch in zwei oppositäre semantische Räume – Solino (Raum A) und Duisburg (Raum B) – eintei- len, welche zudem als tragende Mikro-Chronotopoi des Films gesehen werden können (Abb. 2). Die Ereignishaftigkeit liegt durch die Grenzüberschreitung von Raum A in Raum B vor. 28 Bei mehreren Figuren können in unterschiedlichen Momenten der Narration verschiedene Extrempunkte erreicht werden. 29 Der hybride Raum im Chronotopos der Heimat, der bei Naficy nicht genannt wird, da dieser sich kaum mit der Remigration auseinandersetzt, kann als Äquivalent des hybriden Raumes im Chronotopos des Exils verstanden werden. ffk Journal | Dokumentation des 32. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 5 (2020) Anne Pirwitz | Der Chronotopos der Remigration in Fatih Akins Solino Abb. 2: Anwendung des Modells des Makro-Chronotopos der Remigration auf Solino Zu Beginn des Films erfolgt die Darstellung der idyllischen Heimat Solino, die dem Chronotopos des Heimatlandes entspricht, bevor der Protagonist Gigi, sein Bruder Giancarlo und seine Eltern Romano und Rosa nach Deutschland auswan- dern. Im border chronotope des Bahnhofs in Solino, der noch Charakteristiken des semantischen Raumes A aufweist, muss die Familie Abschied nehmen. Die Zug- 337 fahrt nach Deutschland verbildlicht das Überschreiten der Grenze. Der border chro- notope des Bahnhofs in Duisburg ist verknüpft mit der Ankunft in der Fremde und bereits durch Charakteristiken des semantischen Raumes B gekennzeichnet. Duis- burg, das dem Chronotopos des Exils entspricht, wird als Gegenbild zur idylli- schen Heimat dargestellt. Als Romano seinen Extrempunkt (zu harte Minenarbeit) erreicht, kommt es zu einer Wende und die Familie eröffnet die erste Pizzeria der Region, die zu einem wichtigen hybriden Raum wird. Gigi, der sich schnell inte- griert, hat seine italienische Freundin Ada bald vergessen und freundet sich mit der Deutschen Jo an. Nach und nach entdeckt er seine Leidenschaft für Fotografie und Film. Insbesondere Gigis Entwicklung im semantischen Raum B fließt zu- sammen mit dem Chronotopos des Weges. In Duisburg sammelt er wichtige Er- fahrungen und entwickelt seine Kompetenzen. Es ist für ihn der Raum des Heranwachsens, des Lernens, des Ausprobierens und des Reifens. Zehn Jahre spä- ter zerbricht die Familie aufgrund verschiedener Krisen immer mehr. Als Rosa ih- ren Extrempunkt (zu harte Arbeit in der Küche, Leukämie-Diagnose und Romanos Ehebruch) erreicht, kommt es zur nächsten Wende, da sie darauf besteht, nach So- lino zurückzukehren. Gigi, der inzwischen eine Liebesbeziehung mit Jo begonnen hat und für seinen ersten Filmpreis nominiert wurde, ist gezwungen, seinen linea- ren Weg zu verlassen und seine Mutter zu begleiten. Hier kommt der zyklische Verlauf zum Tragen, welcher sich in der Rückkehr Rosas und Gigis manifestiert. Die verlassene Heimat ist in ihren Merkmalen konstant geblieben (geschlossene ffk Journal | Dokumentation des 32. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 5 (2020) Anne Pirwitz | Der Chronotopos der Remigration in Fatih Akins Solino Mikrowelt, in der die Zeit stillzustehen scheint), während sich der Held jedoch weiterentwickelt und wichtige Erfahrungen im Ausland gesammelt hat, wodurch es ihm zunächst schwerfällt, sich in Solino wieder heimisch zu fühlen. In einem neuen hybriden Raum, dem Freiluftkino, gelingt es ihm jedoch, seine in Deutsch- land erworbenen Kompetenzen anzuwenden und sich am Ende wieder vollwertig in die Heimat einzugliedern: Weitere zehn Jahre später heiratet Gigi Ada und zeigt seine eigenen Filme im Freiluftkino Solinos. Der Makro-Chronotopos der Remigration ergibt sich also aus den in geschilderter Form angeordneten Mikro-Chronotopoi (Abb. 2), welche sich konkret kinemato- grafisch konstruieren lassen und im Folgenden genauer analysiert werden. 4.1 Solino als Chronotopos des Heimatlandes Solino (übersetzt „kleine Sonne“), die Heimat der Familie im südlichen Italien, wird als pastorales Dorf dargestellt und mit hellen und warmen Farben inszeniert. Auf auditiver Ebene werden bei den Solino betreffenden Szenen traditionelle Lie- der im apulischen Dialekt eingesetzt, die das nostalgische Gefühl für den darge- stellten Raum unterstreichen. Solino wird verknüpft mit einer glücklichen Kindheit, Glaube sowie einer tiefen Verwurzelung der Familie in diesem Raum. Durch die Darstellung des Pastoralen, Traditionellen und Familiären entspricht der semantische Raum Solino dem Chronotopos des idyllischen Heimatlandes. Als Gigi und Rosa nach Solino zurückkehren, hat sich dort nicht viel verändert. 338 Der Bahnhof sieht noch immer gleich aus. Vor dem kleinen Bistro treffen sich noch immer die Alten bei einem Kaffee. Ada hat noch immer Gefühle für Gigi, der sie zunächst sehr abweisend behandelt. Sie erinnert ihn an das von ihm gegebene Ver- sprechen, ihr Schnee aus Deutschland mitzubringen, und schenkt ihm die gleichen Kekse wie früher, als er als Kind Solino verließ. Deutlich wird hier das für den Chronotopos des Heimatlandes prägende Element der Zeitlosigkeit. Die Zeit scheint hier stillzustehen. Die Rückkehr nach Solino führt schließlich dazu, dass es Rosa unerwarteterweise wieder besser geht. Berghahn macht darauf aufmerksam, dass Rosas Krankheit e- her an Nostalgie und Heimweh erinnert.30 Heilung scheint nur durch die Rückkehr in die heile Welt Solinos möglich. Auch Gigi lebt sich immer besser in seiner alten Heimat ein und nähert sich Ada zunehmend an. Die idyllischen Verhältnisse, die nach der Auswanderung der Familie unterbrochen wurden, konstruieren sich am Ende des Films neu. Und wenngleich die Familienidylle durch die Trennung von Rosa und Romano sowie Konflikte zwischen den Brüdern zerstört wurde, erleben die nach Solino zurückgekehrten Figuren neues Glück durch Gesundheit, Hochzeit 30 Vgl. Berghahn 2006: 149. ffk Journal | Dokumentation des 32. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 5 (2020) Anne Pirwitz | Der Chronotopos der Remigration in Fatih Akins Solino und Familiengründung, während die in Deutschland gebliebenen Figuren, Roma- no und Giancarlo, als unglücklich präsentiert werden. Bei der Hochzeit von Gigi und Ada versammelt sich die Familie bei italienischem Essen um den Tisch (Abb. 3), feiert und tanzt gemeinsam zu traditioneller Musik. Um es mit Berghahns Worten zu sagen: „Gigi successfully reintegrates into the Apulian village commu- nity, suggesting that time, just like a film, can be rewound.“31 Solino wird somit in vielerlei Hinsicht mit dem Chronotopos der idyllischen Heimat dargestellt. Die Heimatidylle manifestiert sich anders als in den meisten Filmen des accented cinema nicht nur in einer nostalgisch verklärten Erinnerung der Figuren, sondern wird als tatsächlich erreichbar präsentiert. 339 Abb. 3: Heimat- und Familienidylle in Solino Screenshot aus Solino: 01:48:50 4.2 Duisburg als Chronotopos des Exils Dem Chronotopos des idyllischen Heimatlandes steht der Chronotopos des Exils gegenüber, der sich in verschiedenen Szenen manifestiert. Da Romano darauf be- steht, mit der ganzen Familie nach Deutschland zu ziehen, um dort besser bezahlte Arbeit zu finden, wird der semantische Raum B schon zu Beginn des Films mit dem Motiv der Arbeit und des Strebens nach Erfolg verknüpft. Ada bittet Gigi, ihr Schnee aus Deutschland mitzubringen. Das Erste, was die Kinder mit Deutschland assoziieren, ist der Schnee. Dadurch wird bereits der Kontrast zu Solino angedeu- tet und auf die Kälte in Deutschland verwiesen. 31 Ebd.: 150. ffk Journal | Dokumentation des 32. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 5 (2020) Anne Pirwitz | Der Chronotopos der Remigration in Fatih Akins Solino Das regnerische Wetter bei der Ankunft der Familie in Duisburg unterstreicht die Trostlosigkeit des dargestellten Raumes. Auch das Haus, in dem die Familie von nun an wohnt, wird mit düster wirkenden Farben dargestellt. Besonders Rosas Mimik, die durch die Nahaufnahmen ihres Gesichtes beim Betreten der Wohnung deutlich wird, zeigt ihren Unmut. Ihre erste Handlung in der neuen Wohnung ist es, ein Foto ihres verstorbenen Vaters aufzustellen. Dieses kann als Symbol für Familie und Heimat gesehen werden und steht stellvertretend für die Vergangen- heit, von der Rosa nicht ablassen möchte. Eine besondere Raumkonstruktion findet sich auch in der Szene, in der Giancarlo Gigi seinen Spielzeug-Diabetrachter, mit dem er Fotos aus Solino anschauen konn- te, wegnimmt und damit davonläuft.32 Gigi folgt ihm und sie laufen auf einen be- grünten Hügel hinauf. Klassische Musik setzt ein und für einen kurzen Augenblick sind nur zwei spielende Kinder in scheinbar landschaftlich schöner Umgebung zu sehen, deren Atmosphäre durch die ruhige Musik verstärkt wird. Kurz darauf je- doch tauchen die Industriegebäude im Hintergrund auf. Dadurch wird die idylli- sche Darstellung der spielenden Kinder unterbrochen, was auf narrativer Ebene parallel umgesetzt wird. Giancarlo wirft Gigis Spielzeug weg, wodurch es zer- bricht und somit eine zentrale Erinnerung an Solino zerstört wird. Gigi findet je- doch beim Kameraverkäufer Klasen Hilfe, der die Fotos aus dem Spielzeug für ihn entwickelt. Somit bleiben die Bilder von seinem Heimatdorf erhalten, wenn auch spiegelverkehrt. 340 Das eben erwähnte Industriegebiet wird zum Treffpunkt für Gigi, Giancarlo und Jo (Abb. 4) und steht im Kontrast zu dem am Anfang des Films gezeigten ländli- chen Spielorten der Kinder in Solino. Zudem steht es stellvertretend für das mit Deutschland assoziierte Motiv der Arbeit. Im Industriegebiet arbeitet zunächst auch Romano. Gezeigt wird in einer kurzen Szene, wie die Arbeiter ins Bergwerk hinabfahren.33 Das Klaustrophobische, das Naficy als charakteristisch für den Chronotopos des Exils herausstellt, wird hier durch den dunklen, beengenden Raum inszeniert. Durch Aufnahmen in der Halbnahen wird Romano eingeengt zwischen anderen Arbeitern im Schacht gezeigt, umgeben von Dreck und Ruß. Die Mine kann als Extrempunkt des semantischen Raumes B für Romano gesehen werden, da sie die harte Arbeit und Bedrängnis schlechthin symbolisiert. 32 Solino: 00:23:57–00:24:59. 33 Ebd.: 00:13:14–00:13:56. ffk Journal | Dokumentation des 32. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 5 (2020) Anne Pirwitz | Der Chronotopos der Remigration in Fatih Akins Solino Abb. 4: Jo und Gigi an ihrem Treffpunkt im Industriegebiet Screenshot aus Solino: 00:37:57 Da sich Romano nicht mehr „die Hände schmutzig machen“34 möchte, beschließt er, die Arbeit in der Mine aufzugeben. Seine aufgebrachte Frau beklagt sich nicht nur über diese Entscheidung, sondern auch darüber, dass es bestimmtes Gemüse in Deutschland nicht gibt. Hiermit wird ein kulinarischer Kontrast zwischen Raum 341 A und B aufgezeigt und das Essen als weiteres Symbol der Heimat konstruiert. Naficy bezeichnet die Sehnsucht nach bestimmten Elementen aus der Heimat als Vorgang der postmodernen Semiose: Only when the grand return to the homeland is found to be impossible, illusory, or undesirable does the postmodernist semiosis set in. Then the nostalgia for the referent and the pain of separation from it may be transformed into a nostalgia for its synecdoches, fetishes, and signifieds – the frozen sounds and images of the homeland.35 Die Sehnsucht nach der Heimat drückt sich in Form einer Sehnsucht nach italieni- schem Essen aus. Diese kann im Verlauf der Handlung zunächst gestillt werden, als Rosa und Romano die Pizzeria eröffnen, die einen wichtigen thirdspace chronot- ope darstellt (siehe unten). Wenngleich die Pizzeria zunächst Erfolg hat und die Familie harmonisch an die- sem Projekt zusammenarbeitet, wird Duisburg dennoch zu einem Raum des Schei- terns. Romano erlaubt es Gigi nicht, seine Leidenschaft für Fotografie und Film 34 Ebd.: 00:15:24. 35 Naficy 2001: 27–28. ffk Journal | Dokumentation des 32. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 5 (2020) Anne Pirwitz | Der Chronotopos der Remigration in Fatih Akins Solino auszuleben. Rosa schafft die Arbeit in der Küche nicht mehr allein und Romano weigert sich, eine Hilfskraft einzustellen. Der Raum, der ursprünglich ein Stück- chen Heimat in Rosas Leben brachte, wird mehr und mehr zum Gefängnis für sie. Man sieht sie fast nur in der Küche, im Keller des Restaurants, müde von der vie- len Arbeit. Die Küche kann als Extrempunkt für Rosa gesehen werden, da diese für sie größte Einengung und Gefangenheit in ihrer Rolle bedeutet. Als Rosa dort auch noch ihren Mann in flagranti mit einer Deutschen erwischt, verlässt sie ihn und damit auch den einengenden Raum der Küche. Es lässt sich festhalten, dass die semantischen Räume im Film Solino topografisch konstruiert werden. Heimatidylle, pastorale Landschaften, Gemeinschaft und Ge- selligkeit, Beständigkeit, Liebe, Gesundheit, Glaube, Religion, Tradition und nos- talgische Musik in Solino stehen dunklen gefängnis-ähnlichen Innenräumen, städtischen Landschaften, dem Streben nach Erfolg und Gewinn, dem Scheitern, Krankheit und der Auflösung von Beziehungen in Duisburg gegenüber. 4.3 Thirdspace chronotopes Die thirdspace chronotopes in Solino lassen sich in border chronotopes (Transit-Orte) und hybride Räume unterteilen. Die Bahnhöfe fungieren als Transit-Orte, da sie Übergänge markieren und mit der Zeit des Aufbruchs und der Ankunft verbunden sind. Am Bahnhof in Solino verabschiedet sich die Familie von den Freunden, als sie sich auf den Weg nach Deutschland macht. Der Bahnsteig wird als offener 342 Raum gezeigt. Der Eindruck der Offenheit wird verstärkt durch eine lange Auf- nahme, welche die Abfahrt des Zuges und die am Gleis winkenden Freunde zeigt (Abb. 5), während das Lied Leaving Solino spielt, in dem es um das Verlassen der Heimat geht. Auffällig ist zudem der Wind, der in allen am Bahnhof in Solino spielenden Szenen herrscht. Dieser kann als Zeichen für Bewegung, Mobilität und Veränderung stehen. Kurz nach der Abreise aus Solino wird die Ankunft in Duisburg illustriert, die als direkter Kontrast gesehen werden kann. Zunächst wird der Bahnsteig gezeigt, der mit dunklen und kalten Farben dargestellt wird. Mit einer Drehbewegung der Kamera um die spatiale Achse wird die Familie Amato im Bild erfasst, wie sie war- tend mit ihren Koffern vor einem Zug steht (Abb. 6). Während sie in Solino freund- lich verabschiedet wurde und Bewegung herrschte, steht die Familie starr in der anonymen Großstadt Deutschlands. Gegensätzlich ist auch die bauliche Darstel- lung des Bahnhofs. In Solino handelt es sich um einen offenen Raum, der in Pano- ramaeinstellung gezeigt wird und das Gefühl von Freiheit vermittelt, während der Bahnsteig in Duisburg ein überdachter Raum ist, der Enge und Anonymität ver- sinnbildlicht. Wie für den border chronotope typisch, herrscht hier besondere Intensität der Emoti- onen zwischen Euphorie, Angst, Hoffnung und Enttäuschung. Da die Bahnhöfe in ihrer farblichen und räumlichen Darstellung aber Merkmale der jeweiligen seman- tischen Räume aufweisen, haben sie weniger hybriden Charakter. Sie können als ffk Journal | Dokumentation des 32. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 5 (2020) Anne Pirwitz | Der Chronotopos der Remigration in Fatih Akins Solino Randpunkte der jeweiligen semantischen Räume gesehen werden, die allerdings bereits den Übergang in den oppositären semantischen Raum vorbereiten. Abb. 5: Abschied aus Solino Screenshot aus Solino: 00:10:00 343 Abb. 6: Ankunft in Duisburg Screenshot aus Solino: 00:11:33 Als Zwischenraum und damit als border chronotope im vollsten Sinne fungiert der Zug, mit dem die Familie nach Deutschland reist und der im Verlauf des Films immer wieder von verschiedenen Figuren benutzt wird. Als die Familie Solino zu ffk Journal | Dokumentation des 32. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 5 (2020) Anne Pirwitz | Der Chronotopos der Remigration in Fatih Akins Solino Beginn des Films verlässt, schaut sich Gigi Fotos seiner Heimat im Diabetrachter an. Er gibt ihn seiner Mutter, um sie aufzuheitern. Die Bilder im Spielzeug werden zu einem Symbol für die gerade verlassene Heimat, an die schon kurz nach der Abreise nostalgisch zurückgedacht wird. Die Bewegung Richtung Deutschland und das Zurückschauen auf die Heimat untermalen den liminalen Zustand wäh- rend der Grenzüberschreitung. Neben den border chronotopes in Form der Transit-Orte lassen sich zudem zwei hybride Räume als thirdspace chronotopes finden: die Pizzeria in Duisburg und das Freiluftkino in Solino. Mit der Pizzeria, der Rosa den Namen Solino gibt, schafft die Familie einen Raum, der zunächst Elemente der Heimat beinhaltet (Name des Restaurants, heimische Küche, Zusammenarbeit als Familie), aber topografisch mit Duisburg verbunden ist. Die Pizzeria lässt sich somit als hybrider Raum fassen. Wenngleich sie zu Be- ginn mit Elementen des semantischen Raumes A verknüpft ist, wandelt sie sich im Laufe des Films und verliert die Verbindungen zur Heimat. Durch die harte Arbeit und die zunehmenden familiären Konflikte wird die Pizzeria immer mehr zu ei- nem Raum des semantischen Raumes B, der mit den negativen Eigenschaften des Chronotopos des Exils verknüpft wird. Auch das Freiluftkino fungiert als hybrider Raum. Sowohl im Raum des Kinos als auch in Gigis Filmen überlagern sich die Räume Solino und Duisburg. Ohne seine in Deutschland erlernten Kompetenzen könnte Gigi keine Filme drehen. Das Be- 344 sondere des Freiluftkinos liegt auch in seiner sowohl offenen als auch geschlosse- nen Räumlichkeit. Der topografisch offene Raum ist zugleich ein geschlossener, da erst durch das Kaufen eines Tickets Einlass gewährt wird. Der abgeschlossene Raum der Leinwand hingegen, auf welche die Filme projiziert werden, ermöglicht durch die von den Filmen transportierten Impressionen eine unendliche Weite. Diese Offenheit trifft dann wiederum auf die Besucher_innen, welche im – in sich geschlossenen – Mikrokosmos Solinos leben. So gelingt es Gigi schließlich, Ada Schnee zu ‚bringen‘, wie er es als Kind versprochen hatte, indem er ihr einen Film über Schnee zeigt. Die Verbindung zwischen offenen und geschlossenen Formen wird auch in der letzten Szene deutlich, als Gigi zunächst seinen ersten Film, mit dem er damals einen Preis gewonnen hat, präsentiert. Der Film thematisiert das Schließen der Duisburger Mine. Damit wird der Aspekt der Vergänglichkeit be- tont, welcher letztlich auch auf das vergangene Glück der in Deutschland geblie- benen Familienmitglieder verweist. Anschließend zeigt Gigi seinen neuen, in Solino gedrehten, komödiantischen Film. Während nach dem ersten Film kaum Reaktionen beim Publikum sichtbar werden, reagiert es nach dem zweiten Film mit tosendem Applaus. Zu den sozialen Problemen, die im ersten Film thematisiert werden, haben die Zuschauer_innen keinen Bezug, da sie in einem Raum leben, der sich selbst genügt, und sie mit dem Fremden und seinen Problemen nicht viel anfangen können. Da Gigi die Inspiration für seine neuen Filme nun direkt in Soli- no findet, verliert auch dieser thirdspace chronotope allmählich seine Bezüge zum ffk Journal | Dokumentation des 32. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 5 (2020) Anne Pirwitz | Der Chronotopos der Remigration in Fatih Akins Solino semantischen Raum B und wird immer mehr zu einem Element des semantischen Raumes A. Die Pizzeria und das Kino weisen damit ähnliche Charakteristiken und Verände- rungen in der Hybridität auf, indem sie zunächst hybride Räume darstellen, die sich nach und nach an den jeweiligen semantischen Raum assimilieren. 5. Fazit Durch eine Kombination von Naficys Chronotopoi des accented cinema mit Bachtins ursprünglicher Theorie und unter Rückgriff auf Lotmans erzähltheoretische Er- kenntnisse zu semantischen Räumen konnte das Ziel erreicht werden, ein neues Chronotopos-Modell für Remigrationsnarrative zu entwickeln. Das Modell des Chronotopos der Remigration kann auf viele weitere Filme übertragen werden, wenngleich es gegebenenfalls angepasst werden muss. Die wenigsten Filme zeigen nämlich eine so erfolgreiche Wiedereingliederung in den Chronotopos der Heimat, wie es Gigi in Solino gelingt. Anwenden ließe sich das Modell beispielsweise auf den Film Brooklyn (2015) von John Crowley, auch wenn hier am Ende die idyllische Heimat wieder verlassen wird und sich die Protagonistin trotz erfolgreicher Rück- kehr in die Heimat für ein Leben im Ausland entscheidet. In leicht abgewandelter Form ließe sich das Modell auch auf Almanya – Willkommen in Deutschland (2011) von Yasemin Şamdereli oder die Verfilmungen von Heidi, beispielsweise die Versi- 345 on von Alain Gsponer (2015) übertragen. Das hier vorgestellte Modell lässt sich sowohl als Instrument zur Filmanalyse als auch als Tool für Drehbuchautor_innen einsetzen, die sich mit Migration und Re- migration beschäftigen. Literaturverzeichnis Bachtin, Michail M. (2008 [1975]): Chronotopos. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Berghahn, Daniela (2006): „No place like home? Or impossible homecomings in the films of Fatih Akin“. In: New Cinemas: Journal of Contemporary Film 4.3, S. 141–157. Campbell, Joseph (1999 [1949]): Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt a. M.: Insel. Frank, Michael C. (2015): „Chronotopoi“. In: Dünne, Jörg/Mahler, Andreas (Hrsg.): Handbuch Literatur & Raum. Berlin: de Gruyter, S. 160–169. Gilroy, Paul (1993): The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. London: Verso. Lotman, Jurij M. (1989): Die Struktur literarischer Texte. 3. Aufl., München: Wilhelm Fink. Naficy, Hamid (2001): An Accented Cinema. Exilic and Diasporic Filmmaking. Princeton: Princeton University Press. Renner, Karl N. (1987): „Zu den Brennpunkten des Geschehens. Erweiterung der Grenzüberschreitungstheorie: Die Extrempunktregel“. In: Bauer, Ludwig et al. (Hrsg.): Strategien der Filmanalyse. München: diskurs film, S. 115–130. ffk Journal | Dokumentation des 32. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 5 (2020) Anne Pirwitz | Der Chronotopos der Remigration in Fatih Akins Solino Renner, Karl N. (2004): „Grenze und Ereignis. Weiterführende Überlegungen zum Ereigniskonzept von Jurij M. Lotman“. In: Frank, Gustav/Lukas, Wolfgang (Hrsg.): Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft. Festschrift für Michael Titzmann zum 60. Geburtstag. Passau: Stutz, S. 357–381. Turner, Victor (1964): „Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites de Passage“. In: Helm, June (Hrsg.): Proceedings of the 1964 Annual Spring Meeting of the American Ethnological Society. Seattle: University of Washington Press, S. 4–20. Vogler, Christopher (1997): Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins. Medienverzeichnis Almanya – Willkommen in Deutschland. D 2011, Yasemin Şamdereli, 101 Min. Brooklyn. GB/CDN/IRL 2015, John Crowley, 112 Min. Heidi. D/CH 2015, Alain Gsponer, 100 Min. Solino. D 2002, Fatih Akin, 124 Min. Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Modell des Makro-Chronotopos der Remigration. Eigene Grafik. Abb. 2: Anwendung des Modells des Makro-Chronotopos der Remigration auf Solino. Eigene Grafik. 346 Abb. 3: Heimat- und Familienidylle in Solino. Screenshot aus Solino: 01:48:50. Abb. 4: Jo und Gigi an ihrem Treffpunkt im Industriegebiet. Screenshot aus Solino: 00:37:57. Abb. 5: Abschied aus Solino. Screenshot aus Solino: 00:10:00. Abb. 6: Ankunft in Duisburg. Screenshot aus Solino: 00:11:33. ffk Journal | Dokumentation des 32. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Nr. 5 (2020)