500 MEDIENwissenschaft 4/2013 Ansgar Nünning, Jan Rupp, Rebecca Hagelmoser, Jonas Ivo Meyer (Hg.): Narrative Genres im Internet. Theoretische Bezugsrahmen, Mediengattungstypologie und Funktionen Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2012 (WVT-Handbücher und Studien zur Medienkulturwissenschaft, Bd. 7), 373 S., ISBN 978-3-86821-397-3, € 38,50 Unter den Bedingungen des Internets hat Blogs und zunehmend populäre journa- sich die Vorstellung davon, was „Narra- listische Langformen (long reads) das tivität“ ausmacht, aufgeweicht. Story- klassische romanhafte Erzählen in die telling, das Erzählen von Geschichten Gegenwart. bzw. die erzählerische Darstellung von Diesem Themenkomplex widmet Ereignissen, ist online nicht unbedingt sich der vorliegende Sammelband aus mit einer linearen Wiedergabe (verbal zahlreichen Perspektiven. Gleich im oder audiovisuell) verbunden. Stattdes- besonders lesenswerten Einleitungs- sen treten häufig collage-, mosaik- oder kapitel erörtern die Mitherausgeber schlaglichtartige Techniken in den Ansgar Nünning und Jan Rupp umfas- Vordergrund, so wie etwa in sozialen send und systematisch die Grundlagen. Netzwerken, bei Twitter oder in Dien- Sie lassen die neuere Forschungsdebatte sten wie Storify. Gleichzeitig überführen über Narrativität im Internet, insbeson- Neue Medien 501 dere mit Blick auf Blogs, Revue passie- sich „sogar als sozialer Übungsraum, ren und liefern hilfreiche Modelle für in dem man ausprobieren kann, wie die Kategorisierung der verschiedenen und unter welchen Bedingungen eine relevanten Gattungen, Genres und Identitätskonstruktion auf Anerken- Funktionen. Die Autoren positionie- nung stößt“ (ebd.). ren so verschiedene Phänomene wie Ein weiterer Schwerpunkt gilt wissenschaftliche Blogs, Marketing- Computerspielen. Axel Kuhn beleuch- Maßnahmen, Selbsthilfegruppen, tet das Online-Spiel World of Warcraft soziale Netzwerke und journalistische als komplexen narrativen Zusammen- Angebote innerhalb einer Matrix (S.31). hang, der sich aus der unmittelbaren Deren vier Dimensionen reichen auf der Spielumgebung heraus in verschiedene vertikalen Achse von einem Fokus auf andere Mediengattungen erstreckt, Sachthemen bis zu Subjektiv-Persön- darunter Romane, Filme und soziale lichem und auf der horizontalen Achse Medien. Erst alle gemeinsam machen von individuellen, eher der Selbstdar- die eigentliche Welt – die Subkultur – stellung dienenden Ansätzen bis zu sol- des Spiels aus. Sebastian Domsch wid- chen, die vorrangig der Pflege sozialer met sein Kapitel dem Verhältnis von Beziehungen dienen. Narration und Interaktivität in Compu- Die restlichen Beiträge des Bandes terspielen, indem er die verschiedenen beleuchten das Thema anhand von Fall- gängigen Varianten von Spieler-Agency studien und spezifischen Funktionen herausarbeitet, d.h. inwieweit Spieler von Online-Narration. So untersucht die Entwicklung der Handlung und Lore Knapp den Blog des verstorbenen der Spielwelt im Ganzen wirklich Künstlers Christoph Schlingensief, individuell und subjektiv beeinflussen in dem dieser die letzte Phase seines können. Das Computerspiel ist in sei- Lebens verarbeitet, während Alina nen Worten „ein technisch bedingter Bothe und Kirstin Schmidt sich in zwei medialer Ermöglichungsraum“ (S.199) Aufsätzen mit der Reflektion der Shoah und erscheint als das derzeit viel- durch erzählerische Techniken des Webs leicht spannendste Experimentierfeld befassen. In weiteren Beiträgen geht es für erzählerische Innovationen, dem unter anderem um Unternehmens-Blogs eigentlich nur wirtschaftliche Erwä- und den „medizinischen Internetdiskurs“ gungen der Spiele-Hersteller eine (S.261) betroffener Patienten. Grenze setzen. Andere Untersuchungen nehmen die Ungeachtet der durchaus gemischten großen Plattformen Facebook und Twit- Qualität der einzelnen Beiträge, ter unter die Lupe. So begreift Gerhard deren Bandbreite von systematischer Jens Lüdeker Facebook als Werkzeug, Theoriebildung bis hin zu Einzelfall- um die eigene Biographie durch Reme- betrachtungen mit teils eher magerer diation erzählerisch zu formen und in empirischer Basis reicht, gelingt diesem einen sozialen Kontext zu stellen; das Sammelband der Schritt von einer lite- Netzwerk gestatte „beliebige und flexi- raturwissenschaftlich und ethnologisch ble Selbstentwürfe“ (S.148) und eigne geprägten hin zur einer multimodalen 502 MEDIENwissenschaft 4/2013 Erzählforschung. Er macht auf die Viel- falt neuer und abgewandelter narrativer Erscheinungen aufmerksam und leistet in den theorieorientierten Aufsätzen (vor allem dem von Nünning und Rupp) zugleich wertvolle wissenschaftliche Grundlagenarbeit. Eric Karstens (Krefeld) Hinweise auf künftige Rezensionen Suzana Alpsancar: Das Ding namens Computer. Eine kritische Neulektüre von Vilém Flusser und Mark Weiser Bielefeld: transcript 2012 (Edition Moderne Postmoderne), 322 S., ISBN 978-3-8376-1951-5 Ramón Reichert. Die Macht der Vielen. Über den neuen Kult der digitalen Vernetzung Bielefeld: transcript (Reihe Kultur- und Medientheorie), 200 S., ISBN 978-3- 8376-2127-3 Alice E. Marwick: Status Update. Celebrity, Publicity, and Bran- ding in the Social Media Age New Haven: Yale University Press 2013, 320 S., ISBN 978-0300-17672-8 Dennis Eick: Digitales Erzählen. Die Dramaturgie der Neuen Medien Konstanz: UVK 2013 (Praxis Film, Bd. 81), 230 S., ISBN 978-3-86746-400-6 Gugerli, Hagner, Hirschi, Kilcher, Purt- schert, Sarasin, Tanner (Hg.): Nach Feierabend 2013. Digital Humanities Zürich, Berlin: Diaphanes 2013 (Züri- cher Jahrbuch für Wissensgeschichte, Bd. 9), 224 S., ISBN 978-3-03734- 421-7 Alexander Galloway: The Interface Effect Polity 2012, 200 S., ISBN 978-0745- 66253-4