«Ich will das Leben! Ich bin Dokumentarist!»1 Ethische Fragen dokumentarischer Praxis im DEFA-Spielfilm MoTIVSUCHE Anna luise Kiss Schaffenskrise eines Filmemachers: Nach der Realisierung etlicher historischer Filmporträts von «toten Männern»2 genügen beruflicher Erfolg und Festivalpreise nicht mehr zur Motivation und Selbstach- tung. Der Regisseur «will das Leben» und initiiert ein Dokumentar- filmprojekt mit «richtigen Menschen», einem jungen Paar aus prekären sozialen Verhältnissen. Doch die beiden lehren ihn schneller den Rea- lismus des Alltags, als sein Team die Kamera aufbauen kann: Das Leben weigert sich, dem Konzept des Dokumentaristen zu folgen. Aber statt darauf zu reagieren, beginnt er, die Wirklichkeit seiner Protagonisten zu inszenieren. Was wie eine Problembeschreibung aus der alltäglichen Praxis doku- mentarischer Arbeit klingt, ist der Plot eines Spielfilms. Im Vergleich zur Anzahl und Bedeutung von Filmen, die Schwierigkeiten des künstleri- schen Spielfilmschaffens teils in ausladend reflexiver Geste vorführen,3 sind offen fiktionale Filme über das dokumentarische Schaffen eine 1 So die Hauptfigur Rüdiger Stein in der ersten Treatment-Fassung zu dem Spielfilm «Nutzmeter Null» (Schneider 1986), Arbeitstitel der späteren DEFA-Produktion Motivsuche (Dietmar Hochmuth, D 1990). 2 Bei diesem Zitat und allen weiteren, die nicht anders ausgewiesen sind, handelt es sich um Textstellen aus dem Dialog von Motivsuche. 3 Als Beispiele lassen sich Otto e mezzo (Federico Fellini, I/F 1963), Le Mépris (Jean- Luc Godard, F/I 1963), La Nuit américaine (François Truffaut, F/I 1973) oder Stardust Memories (Woody Allen, USA 1980) nennen, aber auch ein Film wie Die Liebeswüste von Lothar Lambert (BRD 1986). 106 montage AV  25 /1 / 2016 Rarität.4 Innerhalb dieser Randgruppe ist der Film mit der oben skiz- zierten Handlung, Motivsuche (DDR 1990) von Dietmar Hochmuth, in gleich mehrfacher Hinsicht ein besonderer Fall: Zum einen ist sein selbstreferenzieller Plot in hohem Maße zeitgeschichtlich verankert, zum anderen ist der Film selbst ein historisches Zeugnis, denn es han- delt sich um eine der letzten vor dem 9. November 1989 abgedrehten DEFA-Produktionen.5 Motivsuche ist nicht im sicheren Wissen um den Mauerfall und dessen Folgen entstanden, sondern behandelt die- sen historischen Wendepunkt implizit – gleichsam den Lauf der Dinge vorausahnend. Der Film zeigt die DDR und die Arbeit eines DDR- Dokumentarfilmers nicht aus der historisch-retrospektiven Perspektive, sondern nimmt das – gerade noch existierende – Land und sein Doku- mentarfilmschaffen im damaligen Ist-Zustand in den fiktionalen Blick. Zugleich befasst sich Motivsuche ebenso beiläufig wie ausführlich mit einer grundlegenden ethischen Herausforderung der dokumentari- schen Praxis: der Verführung zu widerstehen, in vorgefundene Reali- täten einzugreifen, um sie für das Dokumentarfilmprojekt, aber auch zur Konsolidierung der eigenen Weltanschauung passend zu machen. Im Zentrum der Handlung steht die Figur Rüdiger Stein. Als Doku- mentarfilmregisseur Ende Dreißig möchte er sich endlich der Wirklich- keit stellen, statt weiterhin kulturhistorische Auftragsfilme zu realisieren (dies für DDR-Verhältnisse in durchaus privilegierter Position, gele- gentliche Westreisen inklusive). Seine ‹toten Helden› heißen Zwingli, Erasmus von Rotterdam, Melanchthon. Über sie hat er einfühlsame Porträts realisiert, die sich auch gut exportieren ließen. «Immer wenn ein Renaissance-Riese seinen Vierhundertsten hat, bin ich dran», beklagt sich Stein bei seinem Gruppenleiter. Seit seinem Di plomfilm über den Wörlitzer Park waren bisher alle selbst eingereichten Themen abge- lehnt worden, angeblich, weil sie «zu unausgegoren, thematisch abge- legen» oder «zu heiß» waren – «jetzt und in dieser ganzen Situation». Nun endlich sollen es lebende Protagonisten sein: ein minderjähriges Pärchen aus einfachen Ostberliner Verhältnissen. Rüdiger Stein findet 4 Den mittlerweile angestammten Platz, um die Realisierung eines Dokumentarfilms zu veranschaulichen, bieten Pseudo-Dokumentarfilme, die auf dem Prinzip des (Verwirr-)Spiels von fiktivisierendem und dokumentarisierendem Lektüremodus beruhen. Zu denken ist an David Holzman’s Diary (Jim McBride, USA 1967) und The Blair Witch Project (Daniel Myrick / Eduardo Sánchez, USA 1999), doch zumeist werden in diesem Zusammenhang Mockumentaries wie This Is Spinal Tap (Rob Reiner, GB 1984) genannt. 5 Die Dreharbeiten zu Motivsuche begannen am 13. Juni 1989 und endeten, abgese- hen von zwei Nachdrehterminen, am Freitag, den 13. Oktober 1989. Seine offizielle Premiere feierte der Film am 7. Juni 1990 im Kino International in Berlin. Kiss: Dokumentarische praxis in MOtiVSuCHE 107 Manuela und Klaus, die unter der Obhut der Jugendhilfe stehen, «inter- essant», und er versucht, an ihnen das eigene «Defizit an Realitätsbezug zu kompensieren», wie es Dietmar Hochmuth in seinen regiekonzepti- onellen Überlegungen zu Motivsuche formulierte (1989, 99).6 Steins ‹Opus magnum› soll den Titel «Familiengründung» tragen, denn Manu- ela ist schwanger. Mit ihrem 18. Geburtstag, so der Plan der Jugendhilfe, wird sie Klaus heiraten und das Ehepaar eine gemeinsame Wohnung zugewiesen bekommen. Der Dokumentarfilmer schwört sein Team darauf ein, dass die beiden das «packen, wenn wir sie dabei unterstüt- zen». Diesem Leitmotiv folgend, könnten sich später alle Mitglieder des Drehstabs als «Geburtshelfer» fühlen. Hier klingt bereits Steins (Miss-) Verständnis vom Wesen seines ersten ‹richtigen› Dokumentarfilms an. Fred Gehler beschreibt das in seiner Rezension wie folgt: Endlich die Selbstbestätigung, die Selbstverwirklichung, endlich die heh- re Synthese von Realitätsspiegel und -eingriff. Film als moralischer und sozialer Katalysator, der ewige Impetus. Alles zum Greifen nahe. (1990, 5) Doch als die Jugendlichen in ihrem Alltag nicht so agieren, also nicht funktionieren, wie es der Filmemacher für sich und seinen Film wünscht, sind die guten Vorsätze vergessen. Stein wird zum Regis- seur fremden Lebens und beginnt seine Protagonisten «nach (sehr) eigenen Modellvorstellungen zu formen» (Hochmuth 1989, 99), oder wie es der stoffführende Dramaturg des Films Andreas Scheinert aus- drückt: Rüdiger Stein «hört nicht zu, er redet, der Macher wird zum Manipulator» (1989). Larson Powell hat auf die darin liegende Ironie hingewiesen: Je mehr Rüdiger Stein in das Leben seiner Protagonisten eingreift, desto «weniger [ist er] Regisseur und wird immer mehr zu einem Sozialarbeiter» (2013, 38). Mit immer neuen Aktionen sucht er die kriselnde Beziehung des Paares zu retten. Diese reichen vom Wer- ben um Verständnis für den Partner über Kochtipps, die Unterstüt- zung beim Renovieren und das Beschenken mit Einrichtungsgegen- ständen, Schwangerschaftskleidung und Theaterkarten bis zur offenen 6 Der seiner Arbeiten müde gewordene Regisseur, welcher seine Krise durch einen sinnvollen realitätsbezogenen Film zu überwinden sucht, ist ein erprobter Topos: In Sullivan’s Travels (Preston Sturges, USA 1941) ist es der erfolgreiche Komö- dienregisseur John L. Sullivan, der endlich einen ernsthaften Film über das Leben der Armen realisieren möchte. Undercover, als Tramp verkleidet, verlässt er die Gla- mourwelt Hollywoods und begibt sich auf eine Recherchereise, auf der er echten «trouble» erleben möchte. Die Realität der Straße lässt sich nicht lange bitten, und so landet der Regisseur im Arbeitslager als Mitglied einer Chain-Gang. 108 montage AV  25 /1 / 2016 Einmischung in die innersten Angelegenheiten der jungen Leute. All diese Versuche scheitern jedoch grandios: Nach einigem Hin und Her trennen sich Manuela und Klaus endgültig; mehr als ein paar fragmen- tarische Szenen sind nicht gedreht worden. Nach einem letzten Wie- derbelebungsversuch wird das Projekt abgebrochen, Rüdiger Stein kündigt beim DEFA-Dokumentarfilmstudio und heuert als Kellner bei der Weißen Flotte an. Ein Abstieg mit Ansage.7 Der Film belässt es allerdings nicht bei einer einfachen Darstellung der allmählichen (Selbst-)Demontage eines Dokumentarfilmregisseurs mit «Wirklichkeitskoller» (Goldberg 1990, 11), sondern liefert auch die Antwort darauf, warum Rüdiger Steins ambitioniertes Projekt zum Scheitern verurteilt war. Damit unternimmt Motivsuche eine kritische Reflexion des dokumentarischen Blicks, über den der Filmemacher als basales Instrument verfügen sollte. Im Kern handelt die Geschichte von einem Menschen, der seinen (DDR-)Alltag so geformt hat (und sich selbst von diesem hat formen lassen), dass ihm seine Wirklichkeit nicht mehr wehtut und er und sein Schaffen auch niemandem mehr unange- nehm zu werden drohen. Rüdiger Steins Anpassung ist perfekt und all- umfassend, ohne dass er es selbst bisher bemerkt oder gar reflektiert hätte: Wir essen das Fleisch, das uns die Fleischersfrau zuschiebt, und wir lesen die Bücher, die uns die Buchhändlerin zurücklegt. Oder vielmehr, wir lesen sie nicht! Wir stellen sie alphabetisch ins Regal, und dann holen wir Handwerker heran, die uns die Wohnung verschönern. Wir bringen das Auto regelmäßig zur Durchsicht und die Kinder zum Zahnarzt. Wir kaufen Teeservices auf Vorrat! So konditioniert, greift Stein in der Konfrontation mit der Wirklichkeit seiner Protagonisten zur gleichen, doppelt wirksamen Strategie, nämlich dem Arrangement von Oberflächenerscheinungen und – gleichzeitig oder alternativ – dem Arrangement mit ihnen. Auf diese Weise bleiben ausgerechnet jene Wirklichkeitsbereiche und Sozialstrukturen uner- kannt und unbewältigt, die zu erfahren und zu dokumentieren er sich vorgenommen hatte: «Ich wollte ewig einen richtigen Film machen! Und als es so weit war, konnt’ ich’s nicht!» Während Rüdiger Stein 7 In der zuvor erwähnten Hollywood-Version des hier behandelten Topos kommen die Zuschauer natürlich in den Genuss eines Happy Ends: Der nach Hollywood zurückge- kehrte Sullivan wird sein sozialkritisches Projekt mit dem Titel «O Brother, Where Art Thou?» nicht realisieren (das übernahmen im Jahr 2000 Ethan und Joel Coen für ihn; vgl. Brody 2014), denn durch seine Odyssee ist er zu der Erkenntnis gelangt, dass die Armen keine moralinsauren Filme brauchen, sondern Komödien, die sie die Härte des Lebens wenigstens für Momente vergessen lassen und ihnen Gelegenheit zum Lachen geben. Kiss: Dokumentarische praxis in MOtiVSuCHE 109 auf diese Weise seine Situation kommentiert, hält er ein Kinderspiel- zeug in der Hand, das implizit auf das eigene Handeln anspielt, einen Reckturner-Clown. «Mit dem Druck im richtigen Moment macht der Clown am Reck eine Rolle nach der anderen» (Gollnest & Kiesel 2016), heißt es in einer Produktbeschreibung. Der Spielfilm vermittelt hier szenisch, dass für eine Dokumentarfilmregie, die dem Anspruch einer möglichst unverfälschten Darstellung der Wirklichkeit folgen möchte, die Reflexion und Anerkennung der eigenen Lebensrealität unabdingbar ist. Der dokumentarische Blick sollte immer auch auf die eigene Wirklichkeit gerichtet werden, wenn er im Drehprozess in der Auseinandersetzung mit dem Leben anderer Menschen erfolgreich sein will. Hier kann Laura G. McGees Beobachtung, dass Rüdiger Stein mit seinem Wahrheitsprojekt scheitere, weil er sich weigert, die Gesellschaft so zu sehen, wie sie wirklich ist (vgl. 2003, 324), dahingehend ergänzt werden, dass dieser Schritt erst dann erfolgen kann, wenn der Künstler sich selbst als Teil seiner Gesellschaft (an-)erkennt. «Film reagiert auf die Realität und wird doch von ihr bestimmt», so die Jurybegründung zur Vergabe des «Findlings» an die Macher von Motivsuche (Interessen- verband Filmkommunikation e.V. 1990, 5). Das gilt auch für Rüdiger Stein: Der Dokumentarist reagiert auf die Realität und wird zugleich von ihr bestimmt. Bezeichnenderweise ist es ausgerechnet der zweite maßgebliche Vertreter des dokumentarischen Blicks, Steins Kamera- mann, der als Erster das Dilemma seines Regisseurs in Worte fasst: Du willst, dass sie auch ja machen, was sie sich mal vorgenommen haben und was du zu deiner Filmidee erklärt hast. Jetzt läuft es anders, und du wirst nervös. Du kannst doch nur zeigen, wie sich Leute wirklich verhal- ten: Dass sie was anderes tun, als sie eigentlich wollten. Dafür leben sie eben. Oder du musst Spielfilme machen. Mit Motivsuche habe Dietmar Hochmuth versucht, «die real existie- rende Blockade und Problematik des [dokumentarischen] Filmema- chens in eine spezifische Erzählform zu überführen» (Powell 2013, 37). Diese zeichnet sich dadurch aus, dass Hochmuth das Szenarium von Henry Schneider zwar «nicht als eine Aufforderung zur dokumenta- rischen Erkundung bzw. Aneignung von Realität» (Hochmuth 1989, 99) verstand, aber dennoch seinen Spielfilm vielfach mit dokumentari- schem Material anreicherte. Einen Kritiker bewog diese Vorgehensweise dazu, von einer regelrechten «Wirklichkeitsbesessenheit» (Wolf 1990) des Regisseurs zu sprechen. Diese zeigt sich in der überproportionalen Besetzung mit Laiendarstellern: Neben ausgebildeten Schauspielern 110 montage AV  25 /1 / 2016 wie Peter Zimmermann, Arianne Borbach und Florian Martens agieren in den beiden Hauptrollen wie auch in zahlreichen weiteren Nebenrollen nichtprofessionelle Darstellerinnen und Darsteller. Der Film verzichtet zudem auf jegliche Studiobauten, statt dessen wurde ausschließlich an Berliner Originalschauplätzen gedreht: im DEFA- Dokumentarfilmstudio, in Wohnungen und Lokalen sowie auf Straßen und Plätzen in Friedrichshain, Mitte und Prenzlauer Berg – alles Orte, an denen die Hauptfigur Rüdiger nach einem Weg sucht, sich «aus der bisherigen artifiziell kaschierten Bedeutungslosigkeit seines Schaffens und damit seiner selbst» (Hochmuth 1989, 100) zu befreien. «Rekon- struktion des Lebens im bewohnten Zustand» nannte Hochmuth die- ses Verfahren (1990). Hier dominieren dann auch die «Laute […] des Lebens» (Hochmuth 1989, 100; Herv.i.O.) – Straßen- und Baustellen- lärm, Discomusik, eine Fernsehübertragung von den ‹Weltfestspielen der Jugend› im nordkoreanischen Pjöngjang –, während Rüdiger zu Beginn des Films bei seinem demonstrativ selbstbewussten Gang durch die Flure des Studios noch von den furiosen Klängen des «Menuet Pomposo» aus Händels «Wassermusik» begleitet wurde, die zur elabo- rierten Untermalung seiner bisherigen Werke diente. Dokumentarische Bezüge vermittelt auch die Kameraführung von Motivsuche: Der Film begnügt sich nicht allein damit, einen Ausschnitt aus einem bereits fertig gestellten Dokumentarfilm von Rüdiger Stein zu zeigen und das Dispositiv der aktuellen Dokumentarfilmproduk- tion inklusive «Vorzeigekamera» (Metz 1997, 71) zu präsentieren. Er nähert sich darüber hinaus dreimal einer «abyme-Konstruktion» (ibid., 87), indem die Spielfilmkamera eine Symbiose mit der innerszenischen Dokumentarfilmkamera eingeht. Dieses Stilmittel wird bereits am ers- ten Drehtag von «Familiengründung» exponiert: Manuela ist in einer Nahaufnahme zu sehen, die Hand eines Kameraassistenten kommt ins Bild und schließt das Kompendium, die Synchronklappe wird geschla- gen. Was wir sehen, «ist gefilmt», doch das Dispositiv, das hier vorgeführt wird, befindet sich «auf der Seite des ‹Filmenden›» (ibid., 89; Herv.i.O.). Langsam fährt die Kamera in eine Raumtotale, zeigt nach und nach das Dokumentarfilm-Team samt Kameramann und Technik, und erst jetzt wird die sich bewegende Kamera wieder zum Bestandteil des Disposi- tivs des aufnehmenden Films (vgl. ibid., 81). Ein weiteres Mittel der Bildgestaltung ist die durchgehende Ver- wendung einer einzigen festen Brennweite (25 mm) über die gesamte Filmzeit, die, verglichen mit der gängigen Spielfilmästhetik, eine sti- listische Differenz herstellt. Sie steht für Steins subjektive Perspektive, seinen distanzierten Blick auf die Wirklichkeit. Die wenigen Nah- und Kiss: Dokumentarische praxis in MOtiVSuCHE 111 1 Der Doku­ mentarfilmre­ gisseur rüdiger  Stein (gespielt  von peter zim­ mermann), sein  Kameramann  Andy (Florian  Martens) und  der Kameraas­ sistent (Dietrich  Fabienke) warten  vergeblich auf  ein «passendes»  Statement der  protagonistin.  Foto: ©DEFA­Stif­ tung/Wolfgang  Ebert, Dietram  Kleist Großaufnahmen, vor allem jene, die die Figur Rüdiger Stein selbst zeigen, betonen diesen Bildeindruck (Abb. 1). Der Versuch, so viele dokumentarische Momente wie möglich in den Spielfilm zu integrieren, hatte durchaus problematische Auswir- kungen auf die Produktion. Statt der 51 geplanten Drehtage wurden 76 benötigt. Hochmuth und sein Team wollten es zwar «zu mehr ‹Nutz- metern› bringen» (Hochmuth 1989, 100) als Rüdiger Stein – «Nutzme- ter Null» lautete der Arbeitstitel des Drehbuchs, ursprünglich gedacht als Anspielung auf den nicht gedrehten Dokumentarfilm –, gerieten jedoch bald in eine nennenswerte Überziehung der geplanten Metrage und des Drehverhältnisses (vgl. Hoffmann 1990). Dies ist dokumentiert in immer neuen Materialbestellungen, für die sich Regisseur, Kame- ramann und Produktionsleiterin gegenüber dem Studio zu rechtferti- gen hatten (vgl. Hochmuth/Chill/Hoffmann 1989). Kolleginnen und Kollegen des DEFA-Studios sollen sogar den Abbruch des Projekts gefordert haben (vgl. Bulgakowa 1990). Damit erscheint die Produk- tionsgeschichte von Motivsuche als ein lebendiger Kommentar zu der grundlegenden Schwierigkeit, die Erfordernisse einer Filmproduktion mit dokumentarischen Ansprüchen in Einklang zu bringen. Dietmar Hochmuth wollte Motivsuche als einen Film über die «generelle (nicht nur Künstler-)Nachwuchssituation» (Hochmuth 1989, 99) in der damaligen DDR verstanden wissen. Genau genom- men ging es um die Situation der (damals) Mitt- bis Enddreißiger, 112 montage AV  25 /1 / 2016 also Hochmuths Generation, der der «Zugang zur Wirklichkeit in ers- ter Linie von innen her verstellt ist» (ibid.). In gleicher Weise könne Motivsuche, so McGee, als ein «Metafilm» verstanden werden, der die Gründe für das Scheitern der DDR porträtiere (vgl. 2003, 316): «[I]t’s aging leadership expended a tremendous amount of energy trying to fit das Volk into an ideal socialist mold, while failing to respond to their needs» (ibid., 325; Herv.i.O.). Anders als bei Herrmann Zschoche, in dessen Film Feuer unter Deck (DDR 1976/79) immerhin noch ein stattlicher alter Raddampfer die DDR symbolisierte, ist es in Motivsu- che nur noch ein banales Ausflugsschiff, auf dem Rüdiger als Kellner in eine ungewisse Zukunft schippert (gemeinsam übrigens mit einem Teil der Teammitglieder der Spielfilmproduktion, die als Komparsen die Ausflügler auf dem Schiff spielen). Erneut erklingt– wie zu Beginn des Films – Händels «Wassermusik». Jetzt allerdings wird sie von der Bord- kapelle gespielt, schlagerhaft interpretiert und mit einem Text versehen: Bald schon wird alles anders, alles anders sein. Nur niemals gut, noch nie gut genug. Lass mich nun bitte bloß nicht allein, denn ich brauch den Mut. Halt mich fest, du weißt, ich brauch den Mut, den Mut zu einem Doch, das ist meine Chance, gib sie mir jetzt gleich, denn es ist der letzte Tanz. Nimmt man die von McGee entwickelte Analogie zwischen der Krise des Dokumentarfilmregisseurs und der seines Landes auf und entwickelt sie weiter, so erscheinen die verhandelten ethischen Fragen zur dokumenta- rischen Praxis nicht als exklusive Schwierigkeiten, die allein Dokumentar- filmschaffende betreffen, sondern als geradezu universelle Sinnfragen. Ein Film über das in Turbulenzen geratene dokumentarische Filmemachen erweist sich so als Seismograf einer Krise der Realitätswahrnehmung, wie sie immer wieder und in wechselnden systemischen Konstellationen von Künstlerinnen und Künstlern empfunden wird. Und so darf, vor dem Hintergrund der Annahme «alles ist anders, doch niemals gut», die immer wieder notwendige Auseinandersetzung mit Fragen dokumentarischer Praxis als eine Suche nach dem «Mut zu einem Doch» aufgefasst werden. Ein Mut, der innere und äußere Widerstände gleichermaßen positiv zu überwinden hilft und damit neue Zugänge zur Wirklichkeit eröffnet. Literatur Brody, Richard (2014) Movie of the Week: Sullivan’s Travels [http://www. newyorker.com/culture/richard-brody/movie-of-the-week-sullivans-tra- vels v. 17.6.2014 (letzter Zugriff am 7.2.2016)]. Kiss: Dokumentarische praxis in MOtiVSuCHE 113 Bulgakowa, Oksana (1990) Filmemachen wird nicht leichter. In: Lausitzer Rundschau v. 14.6.90. Gehler, Fred (1990) Ironischer Abschied. Motivsuche – DEFA Film von Dietmar Hochmuth und Henry Schneider. In: Sonntag, 26, S. 5. Goldberg, Henryk (1990) Der Wirklichkeitskoller. In: Filmspiegel, 14, S. 11. Gollnest & Kiesel (2016) Reckturner Clown Linoh [Produktbeschreibung] [http://shop.goki.eu/html/de/alles-in-bewegung/andere/reckturner- clown-linoh/item-1–53949–616.html (letzter Zugriff am 7.2.2016)]. Hochmuth, Dietmar (1989) Konzeptionelle Überlegungen zu dem Projekt «Nutzmeter Null». In: Drehbuch zu dem Film MoTivsuche. Unveröffentlich- te Schrift, BArch DR/117/14901, S. 99–100. Hochmuth, Dietmar (1990) Gegen unechte Atelier-«Realität». Gedanken von DEFA-Regisseur Dietmar Hochmuth über seinen Film Motivsuche, der in diesen Tagen in unseren Kinos anlief. In: Der Demokrat v. 26.6.90. Hochmuth, Dietmar/Chill, Dieter/Hoffmann, Andrea (1989) Bitte um eine zusätzliche Freigabe von Filmmaterial v. 18.9.1989. Unveröffentlichtes Do- kument, BArch DR/117/29079. Hoffmann, Andrea (1990) Produktionsstand am 31.3.1990. Ausgestellt von der Produktionsleiterin am 7.4.1990, unveröffentlichtes Dokument, BArch DDR117/29078. Interessenverband Filmkommunikation e.V. (1990) Entscheidung der Jury. In: Preisträger. 6. Spielfilmfestival der DDR, 27.-31. Mai 1990 Berlin Kino Inter- national, S. 5–6. McGee, Laura Green (2003) «Ich wollte ewig einen richtigen Film machen! Und als es soweit war, konnte ich’s nicht!» The End Phase of the GDR in Films by DEFA Nachwuchsregisseure. In: German Studies Review 26,2, S. 315–332. Metz, Christian (1997) Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films [frz. 1992]. Münster: Nodus. 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