farrebiqUe oU les qUatre saisons (Georges Rouquier, F 1946) Farrebique oder das Paradox des Realismus* André Bazin Die erfreuliche Voreingenommenheit der Anhänger von Farrebique ou Les quatre saisons (Georges Rouquier, F 1946) sowie die Bös- willigkeit von Henri Janson und der wenigen ‹Antifarrebiquianer›, die sich in der Presse polemisch über den Film geäußert haben, verde- cken im Grunde ein ganzes Spektrum differenzierterer Äußerungen, die man privatim zu hören bekommt. Abgesehen von zwei oder drei törichten Bemerkungen, der Realismus in Farrebique sei banal, wird das außergewöhnliche Interesse dieses Films einstimmig anerkannt, die Unterschiede beginnen erst bei der Einschätzung, wie stark manche Schwächen dieses – nicht in jeder Hinsicht vollkommenen – Films ins Gewicht fallen. Beispielsweise kann man ihm vorhalten, seiner doku- mentarischen Absicht nicht treu geblieben zu sein, weil er sich nicht um die ökonomische Situation des Bauernhofs und des Dorfes kümmert. Auch der ‹poetische› Aspekt des Films mag unterschiedlich beurteilt werden. Meines Erachtens ist er der diskutabelste, obschon manches, zum Beispiel die Darstellung des Winters, wirklich sehr schön ist und das Begräbnis zu Recht in die Anthologie der großen Kino-Begräb- nisse gehört. Aber die persönlichen Interpretationen und poetischen Umsetzungen, an die sich Rouquier hier des Öfteren wagt, provozie- ren negative Urteile, die den Kern dieses Films allerdings nicht treffen. Man sollte bei Farrebique zwischen dem unterscheiden, was zur per- sönlichen Sensibilität des Poeten – seiner mehr oder weniger großen Geschmackssicherheit – gehört, und dem Wesen dieses Films, der ur- * Dieser Text wurde erstmals 1948 auf französisch in der Zeitschrift Ésprit (15,132, S. 76-80) veröffentlicht. Wir danken den Cahiers du cinéma für die freundliche Erlaubnis zur Übersetzung. 170 montage AV 18 /1 / 2009 sprünglichen, entscheidenden Entdeckung, die seine tiefe Originali- tät ausmacht. Ich beeile mich, sogleich zu erklären, dass ich Rouquier durchaus für einen Poeten halte, und die rein begriffliche Unterschei- dung, die ich hier vornehme, hat nicht zum Ziel, das herabzusetzen, was Farrebique der Sensibilität seines Autors verdankt. Es scheint mir nur wichtig, die relativen und diskutablen Vorzüge nicht mit einer ob- jektiv unbestreitbaren Entdeckung zu verwechseln, aus der das Kino aller Gattungen, nicht nur der bukolischen, Nutzen ziehen kann. Fast könnte man sagen, der Wert von Farrebique sei weniger ästhe- tisch als moralisch. Um dieses Abenteuer zu einem guten Ende zu brin- gen, brauchte es mehr als nur den Mut, sich darauf einzulassen, nämlich auch die Willenskraft, seiner ursprünglichen Absicht in jedem Augen- blick treu zu bleiben. Farrebique ist ein asketisches Unternehmen, das die Wirklichkeit von allem lösen will, was sie nicht ist, ganz besonders vom Schmarotzertum der Kunst. Das war der Mühe wert. Die Regeln dafür zu finden und sich unerschütterlich daran zu halten brauchte mehr Vorstellungskraft und Beharrlichkeit, als man vielleicht meint. Manche werden sagen (oder haben es leider schon geschrieben!), so viel Mühe lohne sich nicht, um doch nur wieder am Anfang an- zukommen. «Ich habe», schrieb Jean Fayard, «in anderthalb Stunden Kühe Kuhfladen produzieren, Bauern essen, Regen fallen, Dreck an Holzschuhen kleben sehen... ». Derart unbedeutende Vorgänge schei- nen dem Autor als solche nicht wert, in einem kinematografischen Werk vorzukommen. Fayard meint, es sei einfacher, aufs Land zu fah- ren, und allgemeiner, er müsse nicht ins Kino gehen, um die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Bevor ich darauf eingehe, will ich anmerken, dass das Kino immer den Anspruch erhebt, die Dinge so zu zeigen, wie sie sind. «Im Kino», sagt eine alte Bäuerin in einem der Tagebücher 1887–1910 von Jules Renard,* «glaubt man immer, es ist wahr». Abgesehen von ein paar Fil- men, in denen systematisch versucht wurde, dem Realismus des De- kors zu entkommen, gründet sich die Wirkung des Kinos, selbst in fan- tastischen oder in Märchenfilmen, im Wesentlichen auf die materielle Wahrscheinlichkeit. Die technische Objektivität der Fotografie zieht wie von selbst ästhetische Objektivität nach sich. Daher ist nach dem Irrweg des Expressionismus in der Geschichte des Dekors eine be- ständige Rückkehr zum Realismus zu beobachten. Marcel Carné hat * [Anm.d.Red.:] Jules Renard (1864-1910) war ein französischer Schriftsteller, der durch seine naturalistischen Romane und Erzählungen Bekanntheit erlangte; heute ist er vor allem als Verfasser genau beobachteter Aphorismen in Erinnerung. farrebiqUe oder das Paradox des Realismus 171 sich von Trauner keine Fantasie-Metrostation Barbès-Rochechouart für Les portes de la nuit (Pforten der Nacht, F 1946) bauen las- sen. Es fehlt kein einziger Gitterstab. Die Rolle des Szenenbildners im modernen Kino besteht darin, für ein bestimmtes Drehbuch das wahr- scheinlichste Dekor zu erfinden, das so viel als möglich zur dramati- schen Handlung beiträgt, vor allem aber den Plot in einen wahrschein- lichen Rahmen bettet. Jean Gabins Schlafzimmer in Le Jour se lève (Der Tag bricht an, Marcel Carné, F 1939) ist in der Darstellung der Wohnverhältnisse eines unverheirateten Arbeiters in der Pariser Banli- eue ein Meisterstück dokumentarischer Genauigkeit.* Man sollte also Farrebique seinen Realismus nicht vorwerfen, oder aber diesen Vorwurf kurzerhand dem Kino überhaupt machen. Falls der «Antifarrebiquianer» nun einwendet, der Realismus des Kinos sei im Allgemeinen nur dann Kunst, wenn er artifiziell, kal- kuliert, abgestimmt ist sowie eine Auswahl trifft, und zudem stehe er nicht für sich selbst, sondern sei ein Element des Werkes, dem er dient, will ich eine weitere Anmerkung machen: Ist er denn sicher, dass die- se Unterordnung unter den ästhetischen (dramatischen oder sonsti- gen) Plan unseren Sinn für die Realität im Kino nicht nach und nach verfälscht hat? Es fehlt ja nicht an so genannten realistischen Filmen über irgendwelche bedeutungslosen Ereignisse oder Lebensfragmente. Es fehlt auch nicht an Filmen über Bauern. Was also macht Farrebique zum Außenseiter? Das liegt, meine ich, an Rouquiers Geniestreich, daran, dass er sozusagen das Ei des Kolumbus gefunden hat: Er hat begriffen, dass die Wahrscheinlichkeit nach und nach an die Stelle der Wahrheit getreten ist und die Realität sich im Realismus aufgelöst hat, und er hat sie unter großen Mühen wiederentdeckt, ans Tageslicht ge- bracht, sie nackt und bloß aus dem Brunnen der Kunst geholt. Manche werfen Farrebique vor, er sei hässlich. In der Tat, weder die Männer noch die Frauen darin sehen besonders gut aus. Die Landschaft um Rouergue ist unbedeutend. Die Häuser sind schmutzig und ohne jeden Stil. Der Dorfplatz, den wir sonntagmorgens vor und nach der Messe sehen, ist bedrückend gewöhnlich. In Frankreich gibt es genug Dörfer, deren historisch gewachsene oder landschaftliche malerische Schönheit das dokumentarische Interesse von Rouquiers Film hätten rechtfertigen können. Henri Janson wirft sich zum Moralisten und Pa- trioten auf, um über das Bild zu jammern, das Farrebique im Ausland * [Anm.d.Red.:] Vgl. hierzu Bazins Analyse [1948/1951] zu Le jour se lève in: Ders.: Le cinéma français de la Libération à la Nouvelle Vague, Paris: Cahiers du cinéma 1998, S. 76-95. 172 montage AV 18 /1 / 2009 vom Leben französischer Bauern zeichnet: Sie leben wie die Tiere, kümmern sich um keinerlei Hygiene und sprechen ein verstümmeltes Französisch (womit Janson wohl den Dialekt meint). Doch es ist offen- sichtlich, dass Rouquier mit einem Material, dessen eigene Schönheit die Ergebnisse der Kamera verfälscht hätte, sein Projekt nicht erfolg- reich hätte durchführen können. Eine schöne Landschaft, ein romani- sches Kirchlein, irgendwelche unterhaltsame Folklore hätten uns von der Natur, dem Dorf und der Gruppe junger Männer abgelenkt, de- ren Spaß und Spiel sich darauf beschränkt, sich sonntagabends in einer Kneipe voller Fliegendreck halbwegs zu betrinken. Rouquiers Rea- lität, ohne Schrecken und ohne Lokalkolorit, liegt in einer neutralen Zone, die so wenig Bewunderung oder Mitleid erregt wie möglich. Diese Realität ist nichts als sie selbst, das Urbild von Realität, über die der Künstler nichts zu sagen hat. Und doch hat Rouquier seine Auf- merksamkeit auf sie gerichtet, auf sie allein: Die Kamera hat jene ge- heimnisvolle, paradoxe Operation ausgeführt, an deren Ende wir alle mit nichts anderem dastehen als mit dieser Realität selbst. Hier wende ich mich ans Publikum, das so gelangweilt sein sollte wie Janson. Ich gestehe, dass ich nach zwei Privatvorführungen von Farrebique trotz meiner Bewunderung für den Film große Befürch- tungen hatte, dass er das Publikum langweilen würde. Ja, ich glaube, selbst Rouquier war sich seiner Sache nicht sicher. Ich musste mir den Film unter Zuschauern anschauen, die Eintritt bezahlt hatten (und kei- ne Millionäre waren), um zu begreifen, dass er ohne Story und ohne Stars einen fast demagogischen Zauber ausübt, dass das Publikum zu- tiefst empfänglich war für die Freude, die Dinge einfach wiederzuerken- nen. Schon hundert Mal haben wir im Kino Landleben gesehen; aber da diente es als Szenerie für die Schauspieler oder als Möglichkeit für den Kameramann, sein Können zu beweisen. Sogar der Schnee, sofern er nicht aus Borsäure bestand, war ein Element des Bildes oder Dramas (wie in La symphonie pastorale [Und es ward Licht, Jean Delannoy, F 1946]), und die Schafe trugen die imaginären Bändchen der Hand- lung um den Hals.* In Farrebique hingegen ist die Realität nie ganz der Erzählung oder der Kunst untergeordnet, sie ist vor allem um ihrer selbst willen da. In seiner poetischen Wintersequenz erhebt Rouquiers Montage die Dinge nie zu abstrakten Symbolen (in der Frühlingsse- quenz ist er darin weniger erfolgreich, muss ich sagen). Die vereisten * [Anm.d.Red.:] Diese Metapher bezieht sich auf eine Tradition französischer Aristo- kraten im 17. und 18. Jahrhundert, die es liebten, ‹Bauer zu spielen›. Sie taten dies auf Miniaturbauernhöfen mit sauberen Tieren und Schafen, die Bändchen um den Hals trugen. farrebiqUe oder das Paradox des Realismus 173 Telegrafendrähte, der Hund, der durch den Schnee läuft, das Eis in der gezackten Spur der Holzschuhe des Mannes sind nur Fakten, die zwar alltäglich und häufig sind, aber dennoch besonders. Rouquier bewahrt ihnen ihre Einmaligkeit. Nehmen wir zum Beispiel das Holzfeuer. Es war schon oft im Kino zu sehen, und besser fotografiert als das von Rouquier. In Goupi mains rouges (Die fatale Familie, Jacques Becker, F 1943) schürt es der Kai- ser wie in Farrebique der Großvater. Nur ist das Feuer des Großvaters ein echtes Feuer, das nicht auf Kommando des Technikers aufflackert, und jeder kann das sehen, denn die noch grünen Scheite schwitzen, hauchen und ächzen all ihren Saft aus. Niemand, der als Kind öfter an einem solchen Feuer gesessen hat, wird leugnen, dass er in dieser Sze- ne zum ersten Mal auf der Leinwand der einzigartigen, ungeheuren Magie flammenden Holzes wiederbegegnet ist. Die Zuschauer jeden- falls täuschen sich nicht, sie erkennen die Schlammpfütze im Hohlweg wieder, in der die Schuhe des Schwagers aus der Stadt versinken, der auf dem Hof Ferien macht. Sie erkennen die Tante, Kurzwaren- oder Tabakhändlerin, die zu Besuch ist in dem kleinen Dorf, aus dem ihre Eltern stammen; sie erkennen das formlose Kirmesgelände mit sei- nen Linden und dem spärlichen gelben Gras wieder; sie erkennen all die Erfahrungen wieder, die sie vor ein, zwei Generationen gemacht hätten, wenn sie als Bauern geboren wären. Sie erkennen die etwas lächerliche, nostalgische Welt wieder, von der sie vage fühlen, sie ver- raten zu haben, diese Welt der Äcker, Menschen und Tiere, an die sie sich undeutlich aus Kindheit und Urlaub erinnern. Keine Story, oder fast keine, keine Stars, keine Schauspieler, nichts als eine Realität, die jeder im Stillen seines guten oder schlechten Ge- wissens persönlich wiedererkennt. «Schaut mal», riefen die ersten Zu- schauer von Lumières Kinematografen und zeigten auf die Blätter an den Bäumen, «sie bewegen sich!». Was für ein Weg, den das Kino seit den legendären Zeiten zurückgelegt hat, als das Publikum mit der un- gefähren Wiedergabe von im Wind zitternden Zweigen zufrieden war! Und doch, nach fünfzig Jahren Kino-Realismus und gewaltigen tech- nischen Fortschritten brauchte es nur ein wenig Genie, um dem Pu- blikum jene einfache, elementare Freude wiederzugeben, die das ro- manhafte und dramatische Kino nicht mehr zu bieten hat: die Freude des Wiedererkennens. Deshalb halte ich Farrebique, trotz seiner Mängel, trotz eines ge- wissen widersprüchlichen und etwas altmodischen Ästhetizismus, trotz kleiner Ungeschicklichkeiten in der Erzählung und eines schwanken- den (aber vorhandenen) Gespürs für Poesie, für ein großes Ereignis. 174 montage AV 18 /1 / 2009 Er ist neben Malraux’ L’espoir (Hoffnung, SP/F 1945) einer der sehr seltenen französischen Filme, die die Realismus-Revolution zumin- dest vorausahnen lassen, die das Kino so nötig hatte. Diese Revolution hat sich im italienischen Kino gerade vollzogen, und die italienischen Filmemacher jenseits der Alpen haben in weniger als zwei Jahren so vollkommene Lehren daraus gezogen, dass man Angst hat, sie könnten schon bald zu festen Regeln erstarren. Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer