montage 22/2/2013 Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation [Animationsfilm] Impressum montage AV 22/2/2013 Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation Herausgeber: Gesellschaft für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation e.V. ISSN 0942-4954 ISBN 978-3-89472-479-5 Redaktion: Christine N. Brinckmann (Berlin), Evelyn Echle (Zürich), Britta Hartmann (Bonn), Judith Keilbach (Utrecht), Frank Kessler (Utrecht), Guido Kirsten (Zürich), Kristina Köhler (Zürich), Stephen Lowry (Stuttgart), Jörg Schweinitz (Zürich), Patrick Vonderau (Stockholm), Hans J.Wulff (Kiel), Julia Zutavern (Zürich) Gastredakteure dieses Heftes: Erwin Feyersinger (Innsbruck), Maike S. Reinerth (Hamburg). Redaktionsanschrift: c/o Britta Hartmann, Körnerstr. 11, D-10785 Berlin, Tel.: 030 - 262 84 20, E-Mail: montage@snafu.de Die Redaktion freut sich über eingesandte Artikel. www.montage-av.de Preis: Einzelheft 14,90 Euro Abonnement: zwei Hefte im Jahr, 25,– Euro Studenten: 20,– Euro Verlag: Schüren Verlag GmbH, Universitätsstr. 55, D-35037 Marburg, Tel.: 06421 - 63084, Fax: 06421 - 681190, E-Mail: info@schueren-verlag.de Gestaltungskonzept: Ivy Kunze (Berlin) Satz & Umschlaggestaltung: Nadine Schrey Druck: Druckhaus Marburg Anzeigen: Katrin Ahnemann, E-Mail: ahnemann@schueren-verlag.de © Schüren Verlag 2014 Titel: Bild aus Winsor McCay, the Famous Cartoonist of the N.Y. Herald and His Moving Comics (Winsor McCay, USA 1911). Bildnachweise: Falls nicht anders angegeben aus Sammlungen der Autoren. S. 110: Abdruck mit freundlicher Genehmigung durch das Deutsche Institut für Animations- film, Dresden. Inhalt Editorial 5 Suzanne Buchan: Die Quay Brothers oder: «Die Produktivität des Fehlers» 17 Erwin Feyersinger: Von sich streckenden Strichen und hüpfenden Hühnern. Erkundungen des Kontinuums zwischen Abstraktion und Realismus 33 Jörg Schweinitz: Der Zeichenfilm als Bürge für den Kunstcharakter des Kinos. Kleine Einführung in Karol Irzykowskis Apologie aus dem Jahr 1924 45 Karol Irzykowski: Der Zeichenfilm 51 Franziska Bruckner: Hybrides Bild, hybride Montage 59 Anja Laukötter: Wissen als Animation. Zur Transformation der Anschaulichkeit im Gesundheitsaufklärungsfilm 79 Marie-Thérèse Poncet: Der Platz des Zeichentrickfilms im System der Schönen Künste 97 «Animationsforschung ist Kulturforschung»: André Eckardt im Gespräch mit Franziska Bruckner und Erwin Feyersinger 111 Ralf Forster: Von der Zeichentricksinfonie zum Mischfilm. Zäsuren des bundesdeutschen Werbeanimationsfilms um 1960 119 Ivo Ritzer: Transmedialität, Transgenerizität, Transkulturalität. Zur axiomatischen Hybridität von anime 133 Donald Crafton: Zeichentrick-Schauspieler 151 4 montage AV 22 /2 / 2013 175 Christine N. Brinckmann: Mickey Mouse in Vietnam 178 Maike Sarah Reinerth: Kleines Glossar 180 Zu den Autorinnen und Autoren Editorial Es gibt kaum einen Bereich unseres medialisierten Lebens, der nicht von animierten Bildern bestimmt ist. Deren Bandbreite ist enorm. Ani- mierte Langfilme sind seit einigen Jahren nicht nur künstlerisch, son- dern auch kommerziell höchst erfolgreich: So hielten sich 2013 mit Despicable Me 2 (Ich – Einfach unverbesserlich 2, Pierre Cof- fin/Chris Renaud, USA 2013), Monsters University (Die Monster Uni, Dan Scanlon, USA 2013) und Frozen (Die Eiskönigin – Völlig unverfroren, Chris Buck/Jennifer Lee, USA 2013) drei Animations- filme in den Top 10 der in den USA gestarteten Filme, in Deutschland zeigt sich mit Despicable Me 2 und The Smurfs 2 (Die Schlümpfe 2, Raja Gosnell, USA 2013) unter den erfolgreichsten Kinofilmen ein ähnliches Bild. Zudem verdeutlicht ein Blick auf die weiteren Plat- zierungen die rasante Zunahme digitaler Bearbeitungen und ande- rer sichtbarer und unsichtbarer Hybridisierungstechniken in populä- ren Produktionen verschiedenster Genres, wie in Iron Man 3 (Shane Black, USA 2013), Oz the Great and Powerful (Die fantastische Welt von Oz, Sam Raimi, USA 2013) oder World War Z (Marc Forster, USA/Malta 2013). Auch in künstlerischer Hinsicht werden Hybridfilme wie Ari Folmans The Congress (IL/D u.a. 2013) dis- kutiert. Dieser kombiniert nicht nur formal Live-Action- und Ani- mationstechniken innerhalb eines Werks, sondern verbindet sein ästhetisches Experiment auch mit drängenden Fragen nach der Zu- kunft realer und digitaler ‹Schauspieler› und dem Recht an den ani- mierten Auftritten. Und nicht nur in Spielfilmen, sondern auch in nicht-fiktionalen Formaten verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen Real- und Trickaufnahmen, wie die lebendige Diskussion um so genannte «Animadok»-Filme zeigt. Abseits des klassischen Unterhaltungsfilms und -fernsehens finden sich Animationen in den unterschiedlichsten Kontexten: Künstleri- 6 montage AV 22 /2 / 2013 sche Animation wird immer häufiger in Galerien und Museen ge- zeigt, wie beispielsweise die Retrospektiven der Werke von Stephen und Timothy Quay 2012 im Museum of Modern Art in New York. In Wissenschafts-, Lehr-, Industrie- und Werbefilmen gehören animier- te Visualisierungen schon lange zum Ausdrucksrepertoire; Computer- spiele wären heute ohne Animation hauptsächlich Textabenteuer; in Musikvideos, aber auch bei Konzerten und DJ-Sets, sind Animationen visuelle Begleiter der Musik geworden. Animationen erzeugen hybri- de Wahrnehmungen in augmented realities und machen als projiziertes architektonisches Element Fassaden und Innenräume veränderbar. In vielen Bereichen des Alltags, ob am Geldautomaten, in der Straßen- bahn und natürlich im Internet haben überdies animierte Grafiken längst schon statische Anzeigen ersetzt. Dieses Spektrum erfordert eine ebenso breite wissenschaftliche Aus- einandersetzung, und so befassen sich nicht nur Film- und Medien- wissenschaft, sondern auch Kunstgeschichte, Bildwissenschaft, Game Studies, Informatik, Pädagogik, Psychologie und weitere Disziplinen zunehmend mit animierten Formaten. Mit seinem Schwerpunkt auf filmischen Formen konzentriert sich das vorliegende Themenheft von Montage AV auf einen besonders relevanten Teilbereich von Anima- tion. Im ‹digitalen Zeitalter› ist die Beschäftigung mit dem Animati- onsfilm zu einer zentralen Aufgabe der Film- und Medienwissenschaft geworden, mehr noch: Es zeigt sich, dass die Auseinandersetzung mit Animation einen frischen Blick auf alte Probleme und grundsätzliche Fragen zum (Bewegt-)Bild ermöglicht. Aus der systematischen und historischen Betrachtung einiger Fallbeispiele werden in diesem Heft grundlegende Thesen zum Animationsfilm entwickelt. Uns geht es um Perspektiven einer film- und medienwissenschaftlich geprägten Anima- tionsforschung, die ihre Anschlussfähigkeit an Fragestellungen anderer Disziplinen betont, auf deren Mithilfe sie bei der Erforschung eines so heterogenen Gegenstands angewiesen ist. Obschon die Beschäftigung mit animierten Bildern aktuell besonders virulent erscheint, möchten wir mit ausgewählten historischen Texten auch auf einflussreiche An- sätze aus der Vergangenheit aufmerksam machen, die aus heutiger Per- spektive geradezu hellsichtig wirken und in Anbetracht gegenwärtiger Problemstellungen nach einer Wiederentdeckung verlangen. «Den Zeichenfilm gering zu schätzen, nur weil es bereits den photogra- phischen Film gibt, wäre ebenso absurd, wie es absurd wäre, die Malerei aufzugeben, nur weil man den Mechanismus der Photographie erfun- den hat» – davon war der polnische Filmtheoretiker Karol Irzykowski Editorial 7 bereits 1924 überzeugt (ein Kapitel aus seinem Buch Dziesiąta muza, dt.: Die zehnte Muse erscheint im vorliegenden Heft erstmals in deut- scher Sprache). Aber nichts anderes war lange Zeit der Fall: So wie der Animationsfilm für den größeren Teil des 20. Jahrhunderts innerhalb der Filmindustrie eine marginalisierte Rolle einnahm, blieb er auch im akademischen Diskurs lange nur eine Randnotiz, was schon Juri Lotman 1978 bemängelte (Lotman 2004). Noch vor wenigen Jahren waren Stimmen selten, die dem Animationsfilm theoretische Beach- tung schenkten. Es gibt eine überschaubare Zahl einschlägiger Aufsätze (neben dem erwähnten Text Lotmans zum Beispiel Kristin Thompsons «Implications of the Cel Animation Technique», 1980), einige weni- ge Sondernummern von Zeitschriften (zum Beispiel Film Comment Jg. 11, H. 1, 1975) und nur vereinzelte kurze Passagen in klassischen film- theoretischen Werken (so etwa in Erwin Panofskys Aufsatz «Style and Medium in the Motion Pictures», 1936 [Panofsky 1985]). Vor den späten 1980er Jahren finden sich kaum längere Studien, die sich auf den Animationsfilm konzentrieren und dabei nicht rein historisch oder praktisch ausgerichtet sind: Sergej Eisensteins Aufsatz- sammlung, von Jay Leyda auf Englisch als Eisenstein on Disney (1986) herausgegeben, 1988 von Oksana Bulgakowa und Dietmar Hochmuth erstmals auf Deutsch publiziert und kürzlich von ihnen als Sergej Ei- senstein: Disney (2011) neu übersetzt, ist hier ebenso als Ausnahme zu nennen wie Reinhold Johann Holtz’ Dissertation Die Phänomenolo- gie und Psychologie des Trickfilms (1940), Taihei Imamuras Manga eigaron (1948) und Marie-Thérèse Poncets L’Esthétique du dessin animé (1952), aus dem wir in diesem Heft ebenfalls erstmals ein Kapitel in deutscher Sprache zugänglich machen. Innerhalb des marginalisierten Feldes der Animation wird – neben der Beschäftigung mit dem klassischen Zeichentrickfilm Disney’scher Prägung – vor allem dem experimentellen Animationsfilm Aufmerk- samkeit zuteil. Zu diesem Randbereich der Filmpraxis entstehen in den 1970er Jahren einige Monografien. Einerseits heben sich experimen- telle Filme durch ihr besonderes künstlerisches und politisches Poten- zial entscheidend vom vermeintlich trivialen, an Kinder gerichteten Zeichentrickfilm ab – also von einem Bild der Animation, das die öf- fentliche und wissenschaftliche Auffassung lange Zeit geprägt hat. Zum anderen sind es die Animationskünstlerinnen und Animationskünstler selbst, die sich diesem Bereich theoretisch widmen, so etwa Malcolm Le Grice (Abstract Film and Beyond, 1977), Robert Russett und Ceci- le Starr (Experimental Animation. Origins of a New Art, 1976) oder Hans Scheugl und Ernst Schmidt (Eine Subgeschichte des Films, 1974). 8 montage AV 22 /2 / 2013 Seit den 1990er Jahren lässt sich schließlich, vorwiegend im Rah- men der Filmwissenschaft und der Animationsausbildung, ein zuneh- mendes theoretisches Interesse am Gegenstand beobachten. Eine ent- scheidende Initiative kommt aus dem angloamerikanischen Raum: 1987 gründete Harvey Deneroff die Society for Animation Studies (SAS), die mit etwa 250 Mitgliedern heute weltweit stärkste wissen- schaftliche Interessenvertretung der Animationsforschung. 1991 war das von Maureen Furniss herausgegebene Animation Journal das ers- te wissenschaftliche Periodikum zum Animationsfilm, seit 2006 be- reichern zudem die Zeitschrift animation: an interdisciplinary journal und die online erscheinenden Periodika Animation Studies, seit 2011 auch Animation Practice, Process & Production und Con A de Animación das Spektrum aktueller Forschungsdiskurse. In den 1990er Jahren leisteten zudem Paul Wells (Understanding Animation, 1998) und Maureen Fur- niss (Art in Motion. Animation Aesthetics, 1999) mit ihren Monografien wichtige Beiträge zu einer systematischen Animationswissenschaft. Auch in deutschsprachigen Ländern entwickelte sich in den 1990er Jahren ein verstärktes Interesse am Animationsfilm, das im neuen Jahr- tausend noch zunahm (vgl. die Bibliografie von Goergen 2002) und 2010 zur Gründung eines institutionalisierten Netzwerks deutschspra- chiger Animationsforscherinnen und Animationsforscher – der AG Animation unter dem Dach der Gesellschaft für Medienwissenschaft e.V. (GfM) – führte. In den letzten Jahren ist innerhalb und außerhalb des deutschen Sprachraums eine starke Zunahme an Monografien, Aufsätzen, Sondernummern und Abschlussarbeiten zu Animationsthe- men, ebenso wie ein Zuwachs an Tagungen, Festivals und Ausstellun- gen zu verzeichnen. Eine der spannendsten Herausforderungen der Animationsforschung ist, dass es noch viel zu entdecken, neu zu vermessen und theoretisch zu erschließen gibt. Im vorliegenden Heft können wir uns nur einigen Aspekten widmen (einen umfassenden Überblick über weitere The- men bietet zum Beispiel die Bibliografie von Bruckner et al. 2012). Die thematische Ausgabe versucht zudem, Verknüpfungen zwischen diesen scheinbar so unterschiedlichen Forschungsbereichen herzustel- len und dabei auch in der Animationsforschung bislang viel zu selten behandelte, aber wichtige Themen hervorzuheben. Eine der am häufigsten gestellten Fragen ist die nach einer allge- meinen Definition von «Animation» (vgl. die Diskussionen dazu etwa in Solomon 1987; Small/Levinson 1989; Denslow 1997; Greenberg 2011). Viele der hier versammelten Beiträge liefern indirekt Antworten Editorial 9 auf diese Frage. Ebenso häufig sind Abgrenzungsversuche von Real- und Animationsfilm. Die Vorstellung einer strikten Dichotomie bei- der Formen ist in den Animation Studies inzwischen stark umstritten. Stattdessen haben sich Ansätze etabliert, die Real- und Animations- film nicht mehr in ihrer Verschiedenheit, sondern als nahe Verwand- te betrachten: So schlägt Maureen Furniss (1999) vor, realfilmische und animierte Bilder innerhalb eines Kontinuums von «Abstraktion» und «Realismus» zu verorten – eine Idee, die auch von der neueren deutschsprachigen Forschung aufgegriffen wurde (Renoldner 2010; Reinerth 2013). Ein derartiges Kontinuum erscheint unter anderem deshalb besonders attraktiv, weil es ermöglicht, die große Bandbreite an Animationsstilen, die sich im Laufe der Filmgeschichte entwickelt haben, als Einheit mit nur graduellen Unterschieden zu betrachten. Erwin Feyersinger setzt sich in seinem Beitrag mit den Prämissen und Konsequenzen einer solchen Sichtweise auseinander. Er zeigt dabei, dass es begriffliche Unschärfen sind, die häufig zu einer problemati- schen Konzeptualisierung des Kontinuums zwischen den Polen Abs- traktion und Realismus führen, und dass die Nivellierung werkinterner Simultaneität realistischer und abstrakter Elemente die Besonderheit einzelner Filme vergessen lässt. Durch Differenzierungen lassen sich solche Probleme minimieren. Hierdurch, so Feyersinger, gewinne das Konzept des Kontinuums an Aussagekraft und Produktivität. Mit der Frage, ob Cartoon-Figuren wie Betty Boop oder Donald Duck als Darsteller bezeichnet werden können, beschäftigt sich Do- nald Crafton und berührt damit ein oft angesprochenes zentrales Un- terscheidungskriterium zwischen Real- und Animationsfilm. Neben ökonomischen und (persönlichkeits-)rechtlichen Problemen, die eng mit einer solchen Fragestellung verknüpft sind und zur Zeit auch die Medienindustrie beschäftigen – man denke nur an die Diskussion um den Status «synthespischer» Performer wie Andy Serkis, der in der The Lord of the Rings-Trilogie (Peter Jackson, USA/NZL 2001–2003) Gollum verkörperte –, ergeben sich daraus auch Konsequenzen für die Betrachtung von Animationsfilmen. Crafton plädiert nicht nur dafür, von «Zeichentrick-Schauspiel» zu sprechen, sondern setzt sich auch mit den Darstellungsstrategien fiktiver Akteure auseinander, die von amerikanischen Studios – zum Beispiel von Disney oder den Flei- scher-Brüdern – entwickelt wurden. Der narrative Animationsfilm, wie er im Kino und im Fernsehen, auf DVD und Blu-ray vertrieben wird, ist zudem oft mit Fragen nach Gattungs- und Genrezugehörigkeiten konfrontiert worden. Versuche allerdings, den Animationsfilm als Genre zu definieren oder sein nar- 10 montage AV 22 /2 / 2013 rativ-ästhetisches Formenspektrum auf eine begrenzte Anzahl nahe- liegender Genres reduzieren zu wollen, sind mit weitreichenden und oft problematischen Implikationen verbunden (vgl. Reinerth 2013). Sie erscheinen auch angesichts der tatsächlichen Vielfalt von Animati- on wenig vielversprechend. Eine Reihe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern macht dagegen die Genre-Frage produktiv, indem sie innerhalb der Gesamtheit des Animationsfilms typische Einzelgenres oder paradigmatische Stilepochen aufzeigen (vgl. Crafton 1982; Hu 2010) oder spezifische, die klassischen Genres und deren Konventio- nen transformierende Herangehensweisen in den Mittelpunkt stellen (vgl. Wells 2002). Der einleitende kurze Blick in die aktuellen Bestenlisten hat be- reits gezeigt, dass Fragen nach der Trans- und Intermedialität sowie nach der Rolle von Animation im Verweissystem unserer Medienkul- tur besonders virulent erscheinen: Ob es sich um filmische Adaptionen beliebter Comics wie der belgischen Schtroumpfs (Die Schlümpfe, Peyo u.a., 1958ff), um narrative Erweiterungen multimedial erschaffener sto- ryworlds wie im Fall des Matrix-Universums oder um das Zusammen- spiel verschiedener animierter Formate (vom Fernsehfilm über die Se- rie bis zum Computerspiel) beim transmedialen worldmaking handelt: Wo multimedial erzählt wird, spielt Animation oft eine hervorgehobe- ne Rolle. Mit Blick auf das medienübergreifende Afro-Samurai-Fran- chise, das eine Manga-Reihe, eine anime-TV-Serie, einen Fernsehfilm und ein digitales Videospiel umfasst, analysiert Ivo Ritzer solche trans- medialen Beziehungen. Er zeigt an diesem paradigmatischen Fall, in welchem Maße Bild- und Erzählmotive zwischen den Medien ‹rei- sen›, aus welchen Quellen (Filmgenres, medialen Formaten, nationalen Mythen) sich die visuellen Formen des im Franchise tonangebenden anime speisen, wie sie wechselseitig auf die jeweils anderen medialen Repräsentationen einwirken und sich auf hybride Weise verbinden. Werkintern sind Animationen häufig Teil multimodaler Textstruk- turen – zum Beispiel in Hybridfilmen, die längst zur medienkultu- rellen Normalität künstlerischer wie kommerzieller Produktionen geworden sind. Für diese bietet Franziska Bruckner eine umfassende Untersuchungsheuristik an. Sie betrachtet in ihrem Beitrag diese fil- mischen Mischformen anhand distinkter visueller Merkmale und er- stellt eine formale Typologie, die unterschiedliche Charakteristika hy- brider Bilder aus filmbildästhetischer Perspektive beleuchtet. Während die Beschäftigung mit kommerziellen Mainstream-Ani- mationen auch jenseits der Disney-Studios durch die Popularität di- gitaler Animationsfilme, -serien und Games gerade in der letzten De- Editorial 11 kade an Fahrt gewonnen hat, existiert bereits eine gut entwickelte Tradition der Beschäftigung mit künstlerischen Animationen und ih- rem Verhältnis zur bildenden Kunst. Mit der Publikation zweier his- torischer Beiträge möchten wir Schlaglichter auf diese Forschungs- richtung innerhalb der Animation Studies werfen. Aus dem 1924 in Krakau erschienenen Buch des polnischen Filmtheorie-Klassikers Ka- rol Irzykowski Dziesiąta muza (Die zehnte Muse) stammt ein Kapitel zum «Zeichenfilm». Da der Band, obschon er ein zentrales Dokument der europäischen Filmtheoriegeschichte ist, bislang nicht ins Deutsche und nur in einigen Bruchstücken ins Englische übertragen wurde, ist diese frühe Würdigung einer Trickfilmgattung außerhalb Polens eine große Unbekannte in der Animationsforschung. Nun steht Irzykows- kis kleine Apologie endlich in deutscher Sprache zur Verfügung, von Jörg Schweinitz eingeführt und im Kontext zeitgenössischer Filmthe- orien situiert. Auch das zweite Fundstück entstammt einem Buch aus der Früh- phase wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Animationsfilm; es handelt sich um ein Kapitel aus Marie-Thérèse Poncets L’Esthétique du dessin animé (1952), das auf ihrer Habilitationsschrift von 1951 basiert. Die Autorin legt darin dar, dass der Zeichentrickfilm auf sämtliche Bereiche der Kunst zurückgreift, die ihr Lehrer, der französische Phi- losoph und Filmologe Étienne Souriau, in seiner Monografie La Cor- respondance des arts (1947) systematisch differenziert hatte. Poncet will nicht nur nachweisen, dass der Zeichentrickfilm legitim den Schönen Künsten zuzurechnen sei, sondern dass es sich sogar um die einzige filmische Gattung handele, die das gesamte System der Kunst in sich aufzunehmen vermöge. In einem Beitrag über die Animatoren Stephen und Timothy Quay widmet sich Suzanne Buchan schließlich zeitgenössischen Vertretern einer künstlerisch-experimentellen Animationspraxis. Die Filme der Quay Brothers sind aus Lichteffekten, Puppen, rohem Fleisch, Ma- schinenteilen und anderen seltsamen Objekten animiert, und sie sind ebenso untergründig wie grotesk, ebenso poetisch wie verstörend. Ihre Projekte entwickeln sie nicht nur für Kino und Fernsehen, sondern auch für Ausstellungskontexte – verschiedene Museen haben bereits Werke der Quays gezeigt. Animationen treten heute als Vermittler komplexer Informationen und abstrakten Wissens in Erscheinung: Interaktive Grafiken in On- line-Publikationen übertragen live den aktuellen Trend der Börse oder erklären den Ausgang einer Wahl; im Fernsehen veranschaulichen sie die Wetterprognose oder ergänzen die Fußballübertragung um spiel- 12 montage AV 22 /2 / 2013 analytische Details; in den Natur- und Sozialwissenschaften können mit ihrer Hilfe für das menschliche Auge unsichtbare Vorgänge und Prozesse sicht- und nachvollziehbar gemacht werden. Diese Visualisie- rungen werden wiederum von populären Bewegtbildmedien aufge- griffen und verbreitet. Welche Funktionen Animationen in solchen fil- mischen Gebrauchskontexten übernehmen können, untersucht Anja Laukötter am Beispiel historischer Filme zur Gesundheitsaufklärung. Sie weist nicht nur darauf hin, wie früh sich die Medizin Techniken der Animation und technischer Bildnerei bediente, um medizinische Sachverhalte anschaulich mitzuteilen, sondern zeigt auch, dass dabei fast immer Ziele der Aufklärung verfolgt wurden und der Gebrauch der Mittel oft reflexiv erfolgte. Diese Praxis deutet sie als schrittweise Eroberung von Formen der visuellen Zugänglichkeit medizinischer Gegenstände, die erst durch die Filme ermöglicht wurde, wobei zu- gleich der Abstraktionscharakter der Visualisierungen hervortrat. Überhaupt bildet die animationsgeschichtliche Forschung nach wie vor eine zentrale Säule der Animation Studies. Der Arbeit von Film- historikern und Filmhistorikerinnen ist es zu verdanken, dass eine Vielzahl früher Animationsfilme heute überhaupt zugänglich und wissenschaftlich dokumentiert ist. Mit dem Deutschen Institut für Animationsfilm (DIAF) existiert seit 1993 in Dresden eine Institution, in der bislang vergessene Schätze der Animationsfilmgeschichte geho- ben, aufgearbeitet, archiviert und der Öffentlichkeit in Ausstellungen mit Begleitprogramm zugänglich gemacht werden. Franziska Bruck- ner und Erwin Feyersinger von der AG Animation unterhalten sich in einem Interviewbeitrag mit André Eckardt, dem Leiter des DIAF, über die gegenwärtigen Ziele und Herausforderungen animationswissen- schaftlicher Archiv- und Bildungsarbeit. Ebenfalls historisch arbeitet Ralf Forster, der in seinem Beitrag die Beschäftigung mit Werbeclips als transmedialem Vehikel der Animati- onsbranche mit Ansätzen einer nationalen Stilgeschichte verbindet. Er zeichnet nach, wie sich der bundesdeutsche Reklametrickfilm ab Mitte der 1950er Jahre zunehmend vom reinen Animations- zum Hybrid- film wandelt. Beeinflusst werde diese Entwicklung einerseits durch die «Amerikanisierung» der Werbewirtschaft und ihrer Diskurse, anderer- seits durch den Medienwechsel des Werbefilms vom Kino ins Fernse- hen, unter dessen spezifischen Anforderungen sich neue bildästhetische und narrative Formen herausbildeten. Zu den besonders bemerkenswerten und vielfach herausgestellten Möglichkeiten des Animationsfilms zählt auch die des politischen Kom- mentars – in satirischen Cartoons (zum Beispiel The Simpsons, Matt Editorial 13 Groening, USA 1989ff) ebenso wie in propagandistischen Produktio- nen (wie Walt Disney’s Der Fuehrer’s Face, USA 1942 oder den zahl- reichen animierten Versionen der japanischen Momotarô-Legende). Für die kulturell kommentierende und politisch-subversive Tradition von Animation steht im vorliegenden Heft die von Christine N. Brinck- mann kommentierte Dokumentation des wiederentdeckten Kurzfilms Mickey Mouse in Vietnam (Lee Savage/Milton Glaser, USA 1968). Abschließend soll das «Kleine Glossar» von Maike Sarah Reinerth ei- nen Überblick über die gängigsten Animationstechniken bereitstellen. Die Themen der im Heft versammelten Beiträge sind nur ein Aus- schnitt aus dem Spektrum der Animationsforschung. Das Heft versteht sich als Einladung, das vielfältige, in Teilen noch gänzlich unentdeckte Feld zu erschließen, sowie als Puzzleteil eines größeren und langfristi- gen Projekts: der Integration animationstheoretischer Perspektiven in die Film- und Medienwissenschaft. Erwin Feyersinger, Maike Sarah Reinerth Literatur Animation Journal (1991ff) [teilweise online zugänglich: www.animationjour- nal.com (letzter Zugriff am 18.11.2013)]. Animation Practice, Process & Production (2011ff) [www.intellectbooks.co.uk/ journals/view-Journal,id=199 (letzter Zugriff am 18.11.2013)]. Animation Studies (2006ff) [journal.animationstudies.org (letzter Zugriff am 18.11.2013)]. animation: an interdisciplinary journal (2006ff) [anm.sagepub.com (letzter Zugriff am 18.11.2013)]. Bruckner, Franziska/Feyersinger, Erwin/Fuxjäger, Anton/Kaczmarek, Ludger/ Reinerth, Maike Sarah/Schrey, Dominik/Wulff, Hans J. (2012) Monogra- phische Arbeiten zum Animationsfilm. Eine Bibliographie. In: Medienwissen- schaft Hamburg/Berichte und Papiere, 131 v. 02.02.12 [www1.uni-hamburg.de/ Medien/berichte/arbeiten/0131_12.pdf (letzter Zugriff am 18.11.2013)]. Con A de Animación (2011ff) [conadeanimacion.blogs.upv.es (letzter Zugriff am 18.11.13)]. Crafton, Donald (1982) Before Mickey. The Animated Film, 1908–1928. Cam- bridge, MA/London: The MIT Press. Denslow, Philip Kelly (1997) What Is Animation and Who Needs to Know? An Essay on Definitions. In: A Reader in Animation Studies. Hg. v. Jayne Pill- ing. London: John Libbey, S. 1–5. 14 montage AV 22 /2 / 2013 Eisenstein, Sergej (1986) Eisenstein on Disney. Hg. v. Jay Leyda. Calcutta: Seagull. – (1988) Disney [übersetzt v. Oksana Bulgakowa & Dietmar Hochmuth]. In: Kunst und Literatur 36,6 (Teil 1), S. 795– 815 und 37,1 (Teil 2), S. 77–93. – (2011) Sergej Eisenstein: Disney. Hg. v. Oksana Bulgakowa & Dietmar Hoch- muth. Berlin: Potemkin Press. Film Comment 11,1 (The Hollywood Cartoon), 1975. Furniss, Maureen (1999) Art in Motion. Animation Aesthetics. Sydney: John Libbey. Goergen, Jeanpaul (2002) Bibliografie zum deutschen Animationsfilm. Berlin: CineGraph Babelsberg. Greenberg, Raz (2011) The Animated Text: Definition. In: Journal of Film and Video 63,2, S. 3–12. Holtz, Reinhold Johann (1940) Die Phänomenologie und Psychologie des Trickfilms. Analytische Untersuchungen über die phänomenologischen, psychologischen und künstlerischen Strukturen der Trickfilmgruppe. Phil. Diss. Universität Hamburg. Hu, Tze-Yue G. (2010) Frames of Anime. Culture and Image Building. Hongkong: Hongkong University Press/London: Eurospan. Imamura, Taihei (1948) Manga eigaron. Tokyo: Shinzenbisha. Irzykowski, Karol (1924) Dziesiąta muza. Krakau: Krakowska Spółka Wydawn. Le Grice, Malcolm (1977) Abstract Film and Beyond. London: Studio Vista. Lotman, Juri (2004) Über die Sprache der Trickfilme [russ. 1978]. In: Montage AV 13,2, S. 122–125. Panofsky, Erwin (1985) Style and Medium in the Motion Pictures. In: Film Theory and Criticism. Hg. v. Gerald Mast & Marshall Cohen. New York: Ox- ford University Press, S. 215–233. [Zuerst als: On Movies. In: Bulletin of the Department of Art and Archaeology of Princeton University 6 (1936), S. 5–15.] Poncet, Marie-Thérèse (1952) L’Esthétique du dessin animé. Paris: Librairie Nizet. Reinerth, Maike Sarah (2013) Animationsfilm. In: Filmwissenschaftliche Genre- analyse. Eine Einführung. Hg. v. Markus Kuhn, Irina Scheidgen & Nicola Va- leska Weber. Berlin/Boston, MA: De Gruyter, S. 319–341. Renoldner, Thomas (2010) Was ist Animation? In: Die Kunst des Einzelbilds. Animation in Österreich. 1832 bis heute. Hg. v. Christian Dewald, Sabine Gro- schup, Mara Mattuschka & Thomas Renoldner. Wien: Verlag Filmarchiv Austria, S. 11–39. Russett, Robert/Starr, Cecile (1976) Experimental Animation. Origins of a New Art. New York: Da Capo. Scheugl, Hans/Schmidt, Ernst (1974) Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde, Experimental- und Undergroundfilms. Frankfurt a.M.: Edition Suhrkamp. Editorial 15 Small, Edward S./Levinson, Eugene (1989) Toward a Theory of Animation. In: The Velvet Light Trap, 24, S. 67–74. Solomon, Charles (1987) Animation: Notes on a Definition. In: The Art of the Animated Image. An Anthology. Hg. v. Charles Solomon. Los Angeles: AFI, S. 9–12. Souriau, Étienne (1947) La Correspondance des arts. Paris: Flammarion. Thompson, Kristin (1980) Implications of the Cel Animation Technique. In: The Cinematic Apparatus. Hg. v. Teresa de Lauretis & Stephen Heath. Lon- don/Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 106–123. Wells, Paul (1998) Understanding Animation. New York/London: Routledge. – (2002) Animation: Genre and Authorship. London: Wallflower. Set für Street of CroCodileS (The Quay Brothers, GB 1986) Die Quay Brothers oder: «Die Produktivität des Fehlers»* Suzanne Buchan Timothy und Stephen Quay sind eineiige Zwilinge, zwei amerikani- sche Künstler, die in London leben und stets zusammenarbeiten. Ihr Œuvre zählt zum Faszinierendsten, was der Film zu bieten hat. Es führt uns in eine Welt der verstohlenen Blicke, der Komplizenschaft, der choreografierten Schatten, eine seltsame Melange aus audiovisu- ellen Motiven und Tropen der besonderen Art. Der Stil der Quays ist so unverkennbar wie unnachahmlich – eine flexible, fluide Textur aus Schärfenverlagerung, Chiaroscuro-Effekten und der Assemblage bizar- rer Objekte, denen ein fragmentarisches Erzählgerüst unterlegt ist. Die Filme stehen der Musik näher als dem Dialog, der Poesie näher als der Literatur, dem Experimentalfilm näher als dem Spielfilm. Beim ersten Sehen mag man sich angesichts der inkohärenten Schauplätze überfor- dert fühlen, mag Überleitungen, einen fassbaren Plot, eine konsistente Narration vermissen und das Kino sprachlos und verstört verlassen. Doch der Bruch mit jenen Konventionen, denen (Animations-)Filme üblicherweise gehorchen, kann ebenso gut Heiterkeit auslösen; oder man ist bezaubert und versucht sich an einer mehr oder weniger kon- genialen Auslegung, um sich einen Reim auf das Gemenge aus forma- len und ästhetischen Elementen zu machen. * Der vorliegende Aufsatz enthält verschiedene, leicht überarbeitete Passagen aus Su- zanne Buchan, «The Quay Brothers: Choreographed Chiaroscuro, Enigmatic and Sublime», in: Film Quarterly 51,3, Frühjahr 1998, S. 2–15, und ebenso Konzepte aus Suzanne Buchan, The Quay Brothers. Into a Metaphysical Playroom, Minneapolis 2011: University of Minnesota Press. Auszüge mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber. 18 montage AV 22 /2 / 2013 Der vorliegende Beitrag hat das Ziel, der Provenienz und Natur der eigentümlichen Gestaltungselemente der Quays, ihrer filmischen Poesie, arkanen Recherche und idiosynkratischen Thematik nachzu- spüren. Damit einher geht das Anliegen, nicht bei ihrem bekanntesten, meistdiskutierten Kurzfilm Street of Crocodiles stehenzubleiben, sondern auch die neueren Arbeiten, die nicht fürs Kino geschaffen wurden, in den Blick zu nehmen. In den über sechzig Filmen der Quay Brothers, die seit 1979 entstan- den sind – neben Bühnenbildern und Filmprojektionen für Konzert, Theater, Ballett oder Oper –, wird ein dezidiertes, komplexes ästheti- sches Programm sichtbar.1 Ob animierte Kurzfilme, dokumentarische Arbeiten über optische Phänomene, über andere Künstler oder medi- zinische Sammlungen, ob Pop-Promos, Werbespots, Pausenfüller fürs Fernsehen oder Spielfilme, ihre Bildersprache kreiert ein eigengesetz- liches Universum, dessen Gesetze die Quays jedoch gern unterlaufen. Die Filme schürfen im Werk anderer Filmemacher und Künstler, um fremdartige synästhetische Welten zu entwerfen, in denen die Quays Bilder, Musik, Geräusch, Literatur, Tanz, Architektur und grafisches De- sign, das Heilige wie das Okkulte, das Pathologische wie das Erotische zu Rätseln verquicken. Meist sind die Filme über die Musik dynami- siert, in den Bildern überborden Anspielungen und Referenzen. Ver- einnahmtes, entlehntes Material und gefundene Objekte legen auf un- heimliche Weise Zeugnis ab von ihrem ehemaligen Dasein und Wesen, ihrer kulturellen Funktion. Unbelastet durch lineare Erzählstrukturen, einem musikalischen Spannungsbogen folgend, können sich die Zu- schauer auf Verwirrungen oder Verzauberungen aller Art einlassen. Der Einfluss der europäischen Kultur auf das Werk der Quay Brot- hers ist durchgängig spürbar. Ihre Lieblingsautoren sind dem Existen- zialismus, dem Fantastischen und Metaphysischen verpflichtet: Franz Kafka (Ein Brudermord, 1980; Kafka. La métamorphose, 2012); Bruno Schulz (Street of Crocodiles, 1986, und das abendfüllende Projekt Sanatorium Under the Sign of the Hourglass, das zur Zeit entsteht); Robert Walser (The Comb [From the Museums of Sleep], 1990; Institute Benjamenta, or, This Dream People Call Human Life, 1995); E.T.A. Hoffmann (The Sandman, 2000); sowie Robert Roussell und Adolfo Bioy Casares (The Piano Tuner of EarthQua- kes, 2005). 1 Für Details zu diesen Werken vgl. Buchan (2011), Kapitel 7: «The Animated Frame and Beyond». Die Quay Brothers 19 Bei den literarischen Bezügen geht es den Quays nicht darum, eine Story nachzuerzählen, sondern vielmehr um eine Hommage an die Biografie der Autoren. Wie einge- fangene Gespenster, die sich nirgends einfügen, führen sie ein ohnmächtiges Nachleben der Erleuchtung, Paranoia und Verzweiflung. Bei den ausgewählten Texten handelt es sich meist um Beschreibungen grotesker, erotischer oder vermeintlich irrelevanter Ereignisse, um Gegenstände und Figuren, welche vordergründig existenzielle und philoso- phische Fragen zum Sinn des Lebens aufwerfen, die je- doch unbeantwortet bleiben. Nach verschiedenen Frühwerken, die zumeist noch in den USA entstanden, gründeten die Quays 1979, zusam- men mit dem Produzenten Keith Griffith,2 die Koninck Studios in London. Im gleichen Jahr entstand ihr erster ausgereifter, vom British Film Institute geförderter und preisgekrönter Film Nocturna Artificialia: Those Who Desire Without End. Wie in den meisten ihrer Anima- tionsfilme ist die erzählte Geschichte unspektakulär, um nicht zu sagen inexistent. Eine Figur durchlebt Grenz- erfahrungen, halluziniert oder wird von Erleuchtun- gen heimgesucht, blickt einsam aus dem Fenster, betritt schlafwandlerisch eine nächtliche Straße, wird von einer Trambahn erfasst, um dann plötzlich, zurück in ihrem Zimmer, vom Stuhl zu fallen und zu erwachen. Im Film kommen eine Reihe von Techniken, Gestaltungsweisen, Motiven und Themen zum Tragen, wie sie auch die spä- teren Arbeiten der Quays prägen: Puppen und Objekte, die in verwirrenden Blickstrukturen verfangen sind, ge- heimnisvolle Kameraperspektiven, eine desorientierende Raumstruktur und vielfache Schärfeverlagerungen (wie später in Street of Crocodiles, 1986); hermetische Inte- rieurs, elaborierte grafische Gestaltung und eine komple- 1a–d xe Orchestrierung von Licht und Schatten (wie in Rehearsals for Ex- NoCturNa artifi- tinct Anatomies, 1987); intertextuelle Bezüge und eine Musik, welche Cialia: thoSe Who deSire Without die Bilder sowohl kontrapunktiert wie unterstützt (The Comb [From eNd (The Quay the Museums of Sleep], 1990, und In Absentia, 2000). Brothers, GB 1979) 2 Keith Griffith, der selbst Dokumentarfilme gedreht hat, hat sich als Produzent um viele Filmemacher verdient gemacht, unter anderen Jan Švankmajer und Steve Mc- Queen. Vgl. auch Le Fanu 1984. 20 montage AV 22 /2 / 2013 Im Dickens-Borough Londons liegt das Studio der Quays, das sie ihr «Wohnzimmer» nennen – eine Mischung aus barocker Uhrmacher- Werkstatt, Bibliothek, Schreinerei und Animationsstudio. Seine Atmo- sphäre verdankt es nicht zuletzt der verblichenen bayerischen Bauern- malerei an den Wänden, polnischer Plakatkunst, frommen Votivbildern und antikem Glas. Es wird von Junggesellenmaschinen, Automaten und Puppen bevölkert, dazu von Objekten, die den Quays von Verehrern auf die Schwelle gelegt wurden (ein mumifiziertes Mäusepaar in Hochzeits- kleidung, das in der halben Schale eines Straußeneis ruht; eine kegelför- mige Ratte, längst vertrocknet, die jemand aus einer Mauerspalte gezo- gen hat). An Schnüren aufgehängt oder in verstaubten Regalen scheinen zahllose Dinge darauf zu warten, im nächsten Film aufzutreten. Während die Quays sich mehr und mehr auf die digitale Technologie einlassen (ein zartblauer Schimmer dringt aus einer Ecke des Studios), arbeiten sie weiterhin fast ausschließlich mit Real-Animation – Puppen, Requisiten, Fundstücke werden in Einzelbildschaltung aufgenommen. Jeweils herrscht Arbeitsteilung: Einer der Brüder ist für die Puppen ver- antwortlich, richtet sie her, bewegt sie in kleinen akribischen Schritten für die Animation, während der andere die Kamera führt und Licht setzt. Die Rollen wechseln von Film zu Film, doch in den Credits sind im- mer beide Brüder als Kollektiv in zahlreichen Funktionen aufgeführt, von der Ausstattung und Animation bis zur Beleuchtung. Lediglich der Sound oder zusätzliche Bauten und Puppen liegen in fremder Hand. Die Quay Brothers hegen eine Vorliebe für Flohmarkt-Artikel und Weggeworfenes, Kaputtes, Ausrangiertes; eine Facette ihrer Kunst be- steht darin, aus den heterogenen, trivialen und seltsamen Fundstücken neue Gebilde zu konstruieren und mit Bedeutung zu erfüllen. So zum Beispiel ein Puppenkopf mit süßlichem Gesicht: Animiert von den Quays gewinnt das unschuldige Spielzeug (Alter Ego von Frauen und Kindern) eine dunkle, existenzielle, metaphorische Tiefe. Oder eine Zahl, die in Street of Crocodiles auf das durchscheinende Porzellan eines Hinterkopfs gedruckt ist (Abb. 3c): Sie spielt auf die eintätowier- ten Nummern der KZ-Häftlinge an und auf die brutale Ermordung von Bruno Schulz durch die Gestapo; und sie stempelt das Individuum als Serienprodukt ab, dem jede Persönlichkeit fehlt. Aus der unheimlichen Metamorphose animierter Puppen wird uns bewusst, was es heißt, in einer Physis aus Stoff und Sägemehl zu ste- cken. Die Quays erwecken totes Material auf zweierlei Weise zum Le- ben. Erstens und offensichtlich durch ihre Technik der Puppen- und Objektanimation, die Organischem wie Anorganischem die filmische Illusion der Bewegung verleiht. Und zweitens durch die Autonomie Die Quay Brothers 21 dieser Dinge, die sich wie natürliche Lebewesen verhalten. Dies ver- leiht ihnen eine Aura grotesker Schönheit, da sie parodistische Züge gewinnen und zugleich erotisch fetischisiert werden. Laura Marks schreibt, dass die haptische Visualität solcher Bilder den Zuschauer zwinge, sie mit zu konstituieren, «aus ihrer latenten Existenz zu über- führen. [...] Im aktiven Austausch liegt für den Zuschauer der Keim intersubjektiver Erotik» (2002, 13). Dies mag zum Teil die Faszinati- on erklären, die für viele Menschen von den Werken der Quays aus- geht: Die Filmemacher experimentieren mit einer visuellen Erotik, die «dem Zuschauer ihre Objekte anbietet, doch nur unter der Bedingung, dass deren Unauslotbarkeit intakt bleibt» (ibid., 193). Sobald die Quay Brothers die Materialität ihrer Gebilde ausstellen, ist diese Unauslotbarkeit allerdings gestört, ähnlich wie beim Verfrem- dungseffekt im Theater, der die Vierte Wand durchbricht. In solchen Fällen dürfen die Zuschauer die Objekte als «das Andere» des Men- schen begreifen – so wenn das innere Gerüst einer Puppe den mor- schen Stoff durchstößt, der sie als Haut umgibt, als handle es sich um gefolterte, gebrochene Knochen oder um die Reduktion eines Kör- perteils auf seinen bestürzenden Rest. Ein prägnantes Beispiel bildet eine der Puppen aus Rehearsals for Extinct Anatomies: Ein spit- zer, deformierter Kopf mit einem einzigen bösen Auge, das entgleist vor sich hin starrt, steckt auf einem Drahtknäuel; ein langes, derbes schwarzes Haar wächst aus einer teigigen, kränklichen Warze auf sei- ner Stirn. Großaufnahmen zeigen immer wieder, wie der Homunculus mit einem Stock darauf einsticht (Abb. 2a–b), was nach dem zweiten oder dritten Angriff nicht ohne Effekt auf die Zuschauer bleibt (jeden- falls auf die Autorin dieses Textes). Doch das Gefühl von Unbehagen und Ekel, das diese Selbstaggression erweckt, trägt durchaus zur Faszi- nation des Films bei: Während man sich von der Zwangsneurotik des Aktes nicht zu lösen vermag, ist man zugleich erleichtert, dass er sich auf der Leinwand vollzieht und nicht am eigenen Körper. Nach einiger Zeit setzt die Montage die fast unerträglichen Close- ups mit einem Puppenpaar in Beziehung – die eine Puppe blass und aufrecht, die andere in der vorgebeugten Haltung eines Patien- ten im Krankenbett (Abb. 2c–d). Die Spannung löst sich durch eine Beckett’sche Geste der vorgebeugten Puppe, die sich im gleichen Tem- po am Kopf kratzt, mit dem der Homunculus seine Warze malträtiert. In solcher mechanistischen Wiederholung erschöpft sich die ‹Hand- lung› vieler dieser elliptischen Filme. Manche der aufregendsten Quay-Geschöpfe kommen auch ohne anthropomorphe Referenz aus – es sind animierte Objekte, die ich als 22 montage AV 22 /2 / 2013 2a–d Rhearsals for extiNCt aNatomieS (The Quay Brot- hers, GB 1987) «metaphysische Maschinen» bezeichnen möchte: filmische Entspre- chungen zu Bruno Schulz’ generatio aequivoca, einem vitalistischen «Ge- schlecht nur halborganischer Wesen, einer Pseudovegetation und Pseu- dofauna, [...] Ergebnisse einer phantastischen Gärung der Materie» (Schulz 1992, 43).3 Bruno Schulz’ Kapitel «Die Krokodilgasse» aus seinem Buch Skle- py cynamonowe (Die Zimtläden), das 1934 in Warschau erschien, hat den bislang berühmtesten Animationsfilm der Quays inspiriert, den 21-mi- nütigen Farbfilm Street of Crocodiles (Abb. 3a–d). Es ist zugleich ihr erster 35mm-Film. Schulz’ surreale Texte haben die Brüder nach- haltig beeindruckt und ihr Objekt-Verständnis bei diesem und späte- ren Filmen geprägt, insbesondere auch das Zimtläden-Kapitel «Traktat über die Schneiderpuppen oder Das zweite Buch Genesis», aufgrund dessen sie «die Animation als eine Art Metaphysik begriffen» (Aita 2001, o.S.). Von nun an sind die Filme reich mit metaphysischen Ma- schinen und Automaten bestückt. Die Quays selbst beschreiben den Ursprung ihrer Idee: Technisch gesehen ist unser Automaten-Konzept bereits durchgängig in Street of Crocodiles entwickelt. In gewisser Weise befreit sich der Pro- tagonist ja selbst. Und dies ist in der Tat der Kern des Konzepts – denn ein wirklicher Automat bliebe in seine Fesseln verstrickt (Quay Brothers 1996). 3 Generatio aequivoca oder spontanea ist ein Begriff, der seit der Antike die «Urzeugung» bezeichnet, das plötzliche Entstehen von Leben aus anorganischer Materie. Schulz legt den Ausdruck einer verwirrten, aber großspurigen Figur in den Mund. Die Quay Brothers 23 3a–d Street of CroCodileS (The Quay Brothers, GB 1986) Die Puppen und Objekte werden zu Automaten, die lautlos die Rou- tinen des Alltags vollziehen, materielle Stellvertreter, die von den Hän- den ihrer Schöpfer manipuliert und animiert werden. Auch bei ei- nigen der Lieblingsautoren der Quays figurieren Automaten bereits prominent – in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann, in Schulz’ kurzen Texten oder bei Robert Walser. In dem Quay-Film The Piano Tuner of EarthQuakes dient ein Automat als zentrales Konstituens, sowohl für die animierten Sequenzen wie für die Hauptfigur Malvina (verkörpert durch Amira Casar). Musik durchzieht das Studio der Quays. Sie begleitet und umfließt jede Geste, jede Bewegung und jede Diskussion; jeder Balken des Raums ist von ihr durchtränkt. Auf die Frage, ob sie mit Storyboards arbeiten wie die meisten Animationsfilmer, antworten sie: «Nein. Nie- mals. Nur bei vorgehaltener Pistole» (Quay Brothers 1996). Sie gehen in erster Linie prozesshaft vor, folgen Assoziationen und musikalischen Strukturen, die sich wiederum erst bei Entstehung der Bilder verfesti- gen: «Meist haben wir eine allenfalls vage Vorstellung vom Verlauf der Filmmusik, und bei den Dreharbeiten horchen wir stets auf Unausge- gorenes, auf Fehler und Irrläufe, so als lauerten wir noch dem flüch- tigsten Zufall auf» (Quay Brothers 1986, 2). Ein gutes Beispiel dafür ist das Vorgehen, das in Street of Croco- diles den kreativen Prozess bestimmte. Als das Projekt beschlossen war, 24 montage AV 22 /2 / 2013 begann der polnische Komponist Leszek Jankowski (auch ein Vereh- rer von Bruno Schulz und in der Folge ein langjähriger Quay-Mitar- beiter) erste Fragmente einer Komposition nach London zu schicken. Wir hatten bereits einige Sequenzen animiert, als die Musik eintraf, und kürzten oder dehnten die Szenen, bis sie darauf passten. Mit Jankowski hat- ten wir verabredet, nicht Musik für bestimmte Passagen zu komponieren, sondern lediglich 30-Sekunden-Stücke ohne festgelegte Zugehörigkeit; al- les war zunächst äußerst vage (Quay Brothers 1992). Die Verbindung von konventionellem Filmschnitt mit komplexen Montage-Sequenzen scheint bei den Quays nach musikalischen Prin- zipien zu erfolgen und intermittierend durch das Reich der Animation zu führen. Sie ereignen sich im «flüssigen Raum», der, wie die Brüder erläutern, ihre Konstruktion bestimmt. Der Raum entsteht aus einer allmählich sich aufbauenden Schichtung, deren Ebenen einander konturieren und verstetigen. Für uns bot die Musik [von Jankowski] ein Klima der Verschwörung, wie es dem Schulz’schen Universum entspricht, das die Zeit wirksam aufhebt und es der Musik erlaubt, heimlich die Bil- der zu infiltrieren und – vice versa – den Bildern die Musik (Quay Brothers 1986, 3). Als Montage-Sequenzen oder «Hollywood-Montagen» werden Ein- lagen in Spielfilmen verstanden, die in anderer Gangart als die drama- tischen Szenen geballte Einzeleindrücke zu einer Collage zusammen- fassen. Bei den Montage-Sequenzen der Quays verhilft der «flüssige Raum» dazu, die Objekte im filmischen Feld zu ordnen (vgl. Buchan 2011,143). Dies geschieht durch eine Dialektik von Point-of-view- Strukturen und räumlicher Orientierung des Zuschauers, «unmoti- vierten Schnitt», wie ich diese Form nennen möchte, und wechselnde Schichtschärfe. Da Animation in Einzelbildschaltung entsteht, bleibt die Kamera normalerweise in einer fixen Position, um Bewegung zwischen den Kadern zu verhindern, die ein verwischtes, zitterndes Bild zur Folge hätte. Kamerabewegung während der Aufnahme kann jedoch die Bild- komposition verwandeln, kann Übergänge schaffen und differierende Blickpunkte suggerieren. Die Drehmethoden der Quay Brothers sind in dieser Hinsicht äußerst ungewöhnlich: Sie verwenden kalibrierte Fahrten, animierte Schwenks und eine Art Pseudobewegung – inno- vative Techniken, die in fast all ihren Filmen auftauchen. Die Perspek- Die Quay Brothers 25 tive in Street of Crocodiles ist oft jene der Kamera selbst, welche die Quays vielsagend «die dritte Puppe» nennen (Quay Brothers 1996). Vor allem bei den kalibrierten Einstellungen hat man häufig das Ge- fühl, es führe eine unsichtbare Präsenz durch das animierte Gelände. Eine weitere Perspektive ist impliziert: Der Blickpunkt der Kamera ist zugleich jener der Filmemacher, und zwar in einem direkten, aktiven Sinn. Denn die Animatoren bestimmen nicht nur die formalen Para- meter, sondern rücken auch die Puppen zwischen den Kadern zurecht, woraus ihre Bewegung, ihr Charakter und ihre performance resultieren. Ähnlich der provisorischen, lückenhaften Einrichtung, wie sie für Studiosets bei live-action-Aufnahmen gebräuchlich ist, verwenden die Quays bei ihren Miniaturen nur ein fragmentarisches Inventar, aber mit dem Unterschied, dass sie dabei keine illusionäre architektonische Kohärenz anstreben. Stattdessen setzen sie auf Verwirrung des Zu- schauers, «eine Konfusion, die uns unmittelbar gefiel. Um ein Gefühl des Sich-verirrt-Habens zu erzeugen, mussten die Bezüge verunklärt werden» (Quay Brothers 1996). Fehlende Raumkohärenz und «unmo- tivierter Schnitt» bewirken Desorientierung. Die Montage-Sequenzen bündeln beziehungslose Objekte in ei- nem gemeinsamen Ambiente, so dass weder das Vergehen der Zeit noch der Wechsel des Ortes noch Übergänge fassbar werden. Karel Reisz und Gavin Millar beschreiben die konventionelle Hollywood- Montage als «eine praktische Methode, um eine Reihe von Fakten zu präsentieren, die für die erzählte Geschichte notwendig sind, aber we- nig emotionalen Gehalt besitzen [...]. Nur um den Preis der Umständ- lichkeit könnten sie voll entwickelt werden; obwohl storyrelevant, ver- dienen sie keine ausführliche Behandlung» (1991, 113). Gegenläufig zur beschriebenen Motivation solcher Sequenzen sind es nun genau jene Elemente von geringer emotionaler Relevanz – die Maschinen, der Staub –, worum es den Quays geht. Der Raum verliert seine Kohärenz auch durch das Spiel mit Schär- fentiefe und Perspektive, durch Weichzeichner oder besondere Ob- jektive, vor allem Weitwinkel- und Makrolinsen, welche die Gegen- stände als näher beieinander liegend oder an den Rändern verzerrt darstellen oder die Abstände zwischen Vorder- und Hintergrund grö- ßer erscheinen lassen. Die Quay Brothers arbeiten mit Verlagerun- gen der Schichtschärfe durch Wechsel der Optik, um den reibungs- losen Eindruck zu unterminieren, der sich einstellt, wenn eine Szene durchgängig mit dem gleichen Objektiv gedreht wird. Diese visuelle Brüchigkeit kommt in fast all ihren Filmen mit und nach Street of Crocodiles zum Tragen, insbesondere bei Rehearsals for Extinct 26 montage AV 22 /2 / 2013 Anatomies, bei den Stille-Nacht-Filmen, bei The Comb und In Ab- sentia. In Street of Crocodiles schlüpft der Fokus unablässig hin und her, lenkt unsere Aufmerksamkeit und erzeugt eine Beziehung zwischen den Puppen und metaphysischen Maschinen. Christine N. Brinckmann spricht in diesem Zusammenhang von einer «anthropo- morphen Kamera», deren Fokuswechsel sich als subjektive Wahrneh- mung – und damit als Emotionalisierung, wie sie laut Reisz/Millar der Hollywood-Montage abgeht – lesen lässt: Der unscharfe filmische Vordergrund kann [...] zur Subjektivierung genutzt werden, als Hinweis darauf, dass eine fiktionale Figur ein Objekt jenseits dieser Zone ins Auge faßt [...]. Gerade die Abweichung von der üblichen, dem Auge entgegenkommenden Bildkomposition scharfer Vorder- und Mittelgründe dient hier als Signal dafür, das Bild anthropomorph aufzufas- sen. Noch extremer verhält es sich, wenn die Schärfe im Verlauf einer Ein- stellung verschoben wird (Brinckmann 1997, 280). Da die meisten Einstellungen der metaphysischen Maschinen ab- sichtlich unaufgelöst bleiben oder nicht konventionell verankert sind, wird durch die suggerierte Subjektivierung ein anderer, unmotivierter Blickpunkt spürbar, jener der «dritten Puppe». Bei der Arbeit der Quay Brothers macht sich häufig die bereits an- gesprochene Idee von der «Produktivität des Fehlers» geltend. Gele- gentliche formale Unregelmäßigkeiten scheinen sie nicht zu irritieren, und im Prozess des Drehens lassen sie sich von solchen Missgeschicken inspirieren. Sie kultivieren sie nachgerade, um sie als stilistische Signa- tur stehen zu lassen: so zum Beispiel in einer Einstellung, die zu lange auf einem Objekt oder einer Bewegung verharrt, was zunächst in- konsequent erscheint, aber allmählich zum zentralen Motiv einer Sze- ne aufrücken kann. Einer der verblüffendsten «Fehler», den die Quays produktiv gemacht haben, waren zufällig animierte Sonnenstrahlen, ein typischer Lichteffekt ihrer Filme, den ich an anderer Stelle aus- führlich beschrieben habe (vgl. Buchan 2011, 147–153). Beim Dreh ihres ersten Spielfilms hatten sie nicht bedacht, dass die Sonne durch die Fenster des Studios strömte. Dies begann auf der einen Seite des Gebäudes, wurde vom Dach abgeblockt und manifestierte sich er- neut durch ein gegenüberliegendes Fenster (Abb. 4). Im Raum glitt das Sonnenlicht über die Wände und über die Miniatursets, an denen die Quays arbeiteten. Beim Betrachten der Einzelbild-Animation, die im Verlauf dreier Tage entstanden war, wurde offenbar, dass die Kame- ra das ephemere Sonnenlicht eingefangen hatte, was sich stellenwei- Die Quay Brothers 27 4 Lichtflecken im Studio der Quays se in pulsierendem Gleißen niederschlug. Lichtmuster und Strahlen waren mit dem Lauf der Sonne quer über die Sets gewandert. Dieser «Fehler», eine veritable «Epiphanie» (Quay Brothers 1996), wurde zur preisgekrönten «Entdeckung des Lichts» von In Absentia. Die Quays verstärkten und lenkten die Sonnenstrahlen durch Spiegel und Re- flektoren, um sie den Erfordernissen der Szenen anzupassen (vgl. Aita 2001, o.S.). Andere frühe Missgeschicke führten zu ähnlich originel- len Lösungen: Bei den Dreharbeiten zu Street of Crocodiles hin- terließ ein Spotlight unerwünschte Effekte auf den Porzellanköpfen im Schneideratelier. Schließlich gelang es, diese Effekte mithilfe von Watte in sanft-glimmende Strahlenkränze zu verwandeln und Licht durch die leeren Augenhöhlen schimmern zu lassen (Abb. 3a–d). Die Wirkung ist schön und unheimlich zugleich, da sie die physische und geistige Leere der Puppen unterstreicht. Die Präsenz der seltsamen Gestalten, ihre Animation und Transfor- mation ins Irreale sowie ihre Verbindung mit Objekten und Gesetzen der natürlichen Welt lässt die Filme der Quays im Unaufgelösten, Be- unruhigenden, Unbegreiflichen vibrieren. Tzvetan Todorov hat Werke dieser Charakteristik als die eigentlichen, wenn auch sehr seltenen Ex- emplare einer genuinen Fantastik erklärt – geht allerdings von ansons- ten realistisch erzählten Romanen aus (Todorov 1970). Dennoch trifft seine Definition des Fantastischen und die Abgrenzung zu verwand- ten Phänomenen einen Kern der Quay-Animationen: Als «fantastisch» werde ein Werk empfunden, bei dem die Rezipienten nicht entschei- den können, ob das Geschehen als natürlich oder als übernatürlich zu veranschlagen sei. Im Gegensatz zum «Unheimlichen» oder «Wunder- baren», welche im Verlauf der Narration eine stichhaltige Auflösung erfahren, bleibt das Fantastische in der Schwebe. 28 montage AV 22 /2 / 2013 Neben ihrer fiktionalen Lieblingslektüre faszinieren die Quay Broth- ers auch kabbalistische Schriften sowie ältere naturwissenschaftliche Texte, etwa Athanasius Kirchers Theorie der Optik und Giambattistas Magiae Naturalis, oder sie vertiefen sich in Krafft-Ebings Psychopa- thologie. Sie interessieren sich für alle möglichen Forschungsgebie- te, die für ihren spezifischen Animationsstil Potenzial zeigen, und so sind auch eine Reihe außergewöhnlicher Auftragsarbeiten zu solchen Themen entstanden: De Artificiali Perspectiva or Anamorphosis (1990, gemeinsam mit Roger Cardinal) ist zum Beispiel eine partiell animierte filmhistorische Studie zum anamorphotischen Phänomen, und die gewonnenen Erkenntnisse sind später den Sets von Institu- te Benjamenta zugute gekommen. Der beunruhigende Eros, der von manchen der Puppen ausgeht, hat seine Entsprechung in privaten me- dizinischen Sammlungen, so etwa in dem Film The Phantom Mu- seum: Random Forays into the Vaults of Sir Henry Wellcome’s Medical Collection von 2003. Zwischen schwarzweißen Sequen- zen, in denen ein Archivar mit weißen Handschuhen (Stephen Quay) Lagerbestände sortiert, befindet sich ein animiertes Segment aus mehr oder weniger pornografischem Material: Schlüssel, die Keuschheits- gürtel öffnen, oder nackte kopulierende Paare, die in einer Schnitzerei aus Horn verborgen sind. 2011 entstand eine Arbeit, die vom medizinischen Mütter Museum in Philadelphia in Auftrag gegeben wurde: Through the Weeping Glass. On the Consolations of Life Everlasting. Limbos & Afterbreezes in the Mütter Museum. In einem Interview mit dem Museumsdi- rektor erklärt Stephen Quay, wie die Animationen eines anatomischen Pop-up-Buches zustande kamen, und Timothy Quay beschreibt das besondere Faszinosum der Exponate: «Manche der chirurgischen Ins- trumente sind von schauerlicher Schönheit. [...] Die Geschichten, die sich in einer Knochensäge verbergen, die vielen Amputationen, an de- nen sie mitgewirkt haben muss, sind ziemlich verstörend – und nun liegt sie hier scheinbar gutartig im verklärenden Licht» (Quay Brothers 2012). Damit beschäftigt die Quay Brothers in ihren animierten Meta- dokumentarfilmen auch das, was der Medienarchäologe und Varianto- loge Siegfried Zielinski als «Tiefenzeit der Medien» bezeichnet: die In- terventionen, wandelbaren oder auch stetigen Beziehungen zwischen den Naturwissenschaften und den Künsten. Auch bei den Auftragsfilmen betrachten die Quays ihre Montage als «eine Art Choreografie», und sie erläutern ihr Ziel, «Metadoku- mentarfilme zu schaffen, die zwischen den Gattungen schweben [...], indem wir regelrechte dokumentarische Elemente mit Elementen des Die Quay Brothers 29 Fantastischen und Wunderbaren verquicken, aber auch mit zutiefst menschlichem und zutiefst berührendem Material, das in die oszillie- rende Struktur mit eingeht» (ibid.). In ihrer eigentümlichen Passion für alles, was Naturwissenschaftler, Okkultisten und Philosophen ge- fangen zu nehmen pflegte – die Gesetze des Lichts, die magnetische Anziehung und Abstoßung, medizinische Homunculi und Kuriositä- ten, mechanische Apparaturen, Automaten, Alchemie –, materialisieren die Quays die Phänomene, animieren die Dinge und wenden sie ins Metaphysische, um das «Museum des Schlafes» im Sinne Robert Wal- sers zu vitalisieren. Da die gemeinsamen Arbeiten und Performances der Quays mehr und mehr außerhalb des Kinos zu sehen sind, steigt das Interesse für sie in der Kunstwelt quer durch die Disziplinen. Eine Form, diesem Inte- resse entgegen zu kommen, besteht darin, die profilmischen Artefakte auszustellen. In den letzten Jahren haben Museen und Galerien dem Publikum Gelegenheit gegeben, Einblick in die Beziehung zwischen der Welt des Films und dem mechanischen und technischen Aufwand zu nehmen, der mit Animation verbunden ist. 2007 hat das Rotter- damer Filmfestival eine Ausstellung bei den Quays bestellt. Ihr Bei- trag hieß Dormitorium (und war später international zu sehen), und er umfasste 18 Ausstellungskästen sowie Dioramen, die eine Auswahl ih- rer Puppen, Ausstattungsstücke und Fragmente enthielten. Besonders reizvoll ist, wie sich diese Elemente verwandeln, wenn sie außerhalb der Filme zu sehen sind. Für die Quays ist es zentral, dass kein Miss- verständnis über die Natur der Exponate aufkommt: Sie dürfen in keiner Weise als fertige Werke betrachtet werden, wenn sie isoliert, außerhalb des Kontexts der Filme, ausgestellt sind. Denn ihnen fehlt das Potenzial von Ton, Musik, Licht, die Choreografie des Rhythmus und die Bewegung der Puppen und Objekte; und schließlich die Mise en scène, die ihnen erst ihren Sinn verleiht (Quay Brothers 1996). 2012 folgte die viel beachtete Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art: Quay Brothers: On Deciphering the Pharmacist’s Prescription for Lip-Reading Puppets, die von Ron Magliozzi kuratiert wurde (Mag- liozzi 2012). In drei Vorführräumen und auf üppiger Ausstellungsfläche waren über 300 Exponate zu sehen, von Kinderzeichnungen bis zu Buchillustrationen, Radierungen, Werbespots und Drehbüchern. Ne- ben der hermetischen Welt der Quays, die seit vierzig Jahren praktisch Tag für Tag zusammenarbeiten, waren auch Werke ihrer Mitarbeiter zu sehen und daneben solche bekannter und unbekannter Künstler, 30 montage AV 22 /2 / 2013 welche die Quays im Lauf ihrer Karriere beeinflusst haben. So die Filme von Walerian Borowczyk und Jan Lenica, «Animationen», wie die Quays befinden, «der intensivsten, enigmatischsten und metapho- rischsten Art» (Quay Brothers 1986). Mit der MoMA-Ausstellung in all ihren Facetten ist das Universum der Quay Brothers auf umfassende und faszinierende Weise umrissen worden. Sie zeigte Quellen und Einflüsse auf, machte aber zugleich deutlich, dass hier eine eigenständige kreative Kraft am Werk ist, um eine Welt sichtbar zu machen, wie sie sich uns nur selten erschließt. Aus dem Englischen von Christine N. Brinckmann Literatur Aita, Roberto (2001) Brothers Quay: In Absentia [aus dem Ital. v. Donato Totaro]. In: Off-Screen [www.horschamp.qc.ca/new_offscreen/quay.html (letzter Zugriff am 05.08.2013)]. Brinckmann, Christine N. (1997) Die anthropomorphe Kamera [1994]. In: Die anthropomophe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration. Hg. v. Mariann Lewinsky und Alexandra Schneider, Zürich: Chronos, S. 276–301. Buchan, Suzanne (2011) The Quay Brothers. Into a Metaphysical Playroom. Min- neapolis: University of Minnesota Press. – (1998) The Quay Brothers: Choreographed Chiaroscuro, Enigmatic and Sublime. In: Film Quarterly 51,3, S. 2–15. Le Fanu, Mark (1984) Modernism, Eccentrism: The Austere Art of Atelier Ko- ninck. In: Sight and Sound 53, S. 135–138. Magliozzi, Ron (2012) The Manic Department Store. New Perspectives on the Quay Brothers. In: Quay Brothers. On Deciphering the Pharmacist’s Prescrip- tion for Lip-Reading Puppets [Ausstellungs-Katalog]. Hg. v. Ron Magliozzi mit Beiträgen von Edwin Carels und den Quay Brothers. New York: The Museum of Modern Art. Marks, Laura (2002) Touch: Sensuous Theory and Multisensory Media. Minneapo- lis: University of Minnesota Press. Quay Brothers (1984) In Deciphering the Pharmacist’s Prescription «On Lip- Reading Puppets». London. Unpubliziertes Manuskript. – (1986) Puppet Masters. Interview mit Julian Petley. In: The Guardian, 25. September. – (1992) und (1996) Gespräche mit der Autorin, unpubliziert. Die Quay Brothers 31 – (2012) «No Bones About It!». Video-Interview der Quay Brothers mit Ro- bert Hicks. [phillyinfocus.com/video/no-bones-about-it-interview-with- filmmakers-the-quay-brothers/ (letzter Zugriff am 9.1.2014)]. Reisz, Karel/Millar, Gavin (1991) The Technique of Film Editing [1968]. 2. Aufl., Oxford: Focal Press. Schulz, Bruno (1992) Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen. Hg. v. Mikolaj Dutsch. Aus dem Polnischen v. Josef Hahn. München: Hanser. Todorov, Tzvetan (1972) Einführung in die fantastische Literatur [frz. Paris 1970]. München: Hanser. Stills aus heN hop (Norman McLaren, CA 1942) Von sich streckenden Strichen und hüpfenden Hühnern Erkundungen des Kontinuums zwischen Abstraktion und Realismus1 Erwin Feyersinger Stellt man eine realfilmische Sequenz, die einen Schauspieler zeigt, ne- ben eine Sequenz mit einem animierten Strichmännchen, dann glauben die meisten Betrachterinnen und Betrachter spontan, dass die Aufnahme des Schauspielers realistischer und die Darstellung des Strichmännchens abstrakter ist. Diese Unterscheidung scheint nicht nur intuitiv richtig, sondern ist auch Ausgangspunkt für viele wissenschaftliche Texte zu sta- tischen und bewegten Bildern. Im folgenden Beitrag möchte ich jedoch zeigen, dass sie in mehrfacher Hinsicht problematisch ist. Hinter der Unterscheidung steckt die Vorstellung eines Kontinuums zwischen dem höchstmöglichen Grad an Abstraktion und dem höch- sten Grad an Realismus. Die Visualisierungsforscher Alan Blackwell und Yuri Engelhardt bringen diese weitverbreitete Vorstellung folgenderma- ßen auf den Punkt: «Concerning the depiction of physical objects or scenes, a continuum of pictorial abstraction can be observed, from the very realistic via the schematic to the completely abstract» (2002, 51, Herv. i. O.). Nach dieser Konzeption lassen sich einzelne Werke inner- halb des Kontinuums verorten und zueinander in Beziehung setzen. Für die Animationsforschung ist das Kontinuum von besonderem Interesse, da sich im Laufe der Animationsgeschichte eine große Band- 1 Ich möchte mich bei Bettina Prantl, Christian Quendler und Hilde Wolfmeyer für ihre hilfreichen Anmerkungen bedanken. 34 montage AV 22 /2 / 2013 breite an Stilen etabliert hat. Allerdings scheinen in Animationen vor allem jene Darstellungen besonders häufig zu sein, die entweder dem einen oder dem anderen Extrem des Kontinuums zustreben, die also entweder visuell stark abstrahiert sind – zum Beispiel in künstlerischen Filmen, in Mainstream-Cartoons oder bei schematischen Visualisie- rungen – oder aber versuchen, möglichst fotorealistisch zu sein – zum Beispiel in Computerspielen, in Architektursimulationen oder als Vi- sual Effects im Realfilm. Nimmt man aber vermeintliche Extrembeispiele genauer unter die Lupe, so erkennt man, dass eine präzise Verortung innerhalb des Kontinuums meist unmöglich ist. Problematisch sind dabei zum einen uneindeutige oder missverständliche Definitionen der Begriffe «abs- trakt» und «realistisch» – den beiden Extremen des Kontinuums also – und zum anderen der Versuch der globalen Verortung eines gesamten Werks, die außer Acht lässt, dass einzelne Aspekte als unterschiedlich abstrakt wahrgenommen werden und deshalb jeweils für sich verortet werden müssten. Ziel dieses Beitrags ist es zu zeigen, dass sich die bei- den Probleme durch Differenzierungen minimieren lassen, wodurch das Konzept des Kontinuums an Aussagekraft gewinnen kann. Ähnliche Beschreibungen und Definitionen wie jene von Blackwell und Engelhardt finden sich sowohl bei geistes- als auch sozial- und in- genieurswissenschaftlichen Autorinnen und Autoren. Dabei werden für die beiden Extreme des Kontinuums teilweise unterschiedliche Bezeich- nungen verwendet. Während das eine Extrem zumeist «abstrakt», aber auch «stilisiert», «schematisch», «idealisiert» und «konzeptuell» genannt wird, wird das andere Extrem als «imitativ», «mimetisch», «naturgetreu» und «naturalistisch», am häufigsten aber als «realistisch» bezeichnet. Oft wird das Kontinuum außerdem nicht explizit beschrieben, sondern im- plizit durch den Gebrauch von Komparativen und Vergleichen voraus- gesetzt. In der Prozesshaftigkeit der Begriffe «Abstraktion» und «Abstra- hierung» ist schon die Vorstellung einer graduellen Entwicklung von einer weniger abstrakten zu einer abstrakteren Form angelegt. Sieht man sich den expliziten wie impliziten Gebrauch des Kon- tinuums genauer an, zeigt sich, dass die damit verbundenen Vorstel- lungen, selbst wenn die gleichen Bezeichnungen verwendet werden, nicht deckungsgleich, manchmal sogar inkompatibel sind. Besonders problematisch ist die Gleichsetzung des Gegensatzpaars «abstrakt/rea- listisch» mit dem Paar «abstrakt/konkret». Im ersten Fall bezieht sich das Wort «abstrakt» auf «visuelle Abstraktion» – worunter ich hier so- wohl «nicht-gegenständliche» als auch «stilisierte Abstraktion» verstehe –, also auf Eigenschaften der darstellenden Ebene. Im zweiten Fall be- Von sich streckenden Strichen und hüpfenden Hühnern 35 zieht sich «abstrakt» auf «gedankliche Abstraktion», also auf die begriff- lich-konzeptuelle Ebene. Weder muss eine visuell-abstrakte Darstel- lung zwingend eine gedankliche Abstraktion repräsentieren, noch eine realistische Darstellung etwas Konkretes. Die beiden Gegensatzpaare sollten deshalb klar voneinander unterschieden werden. Auch das Paar «realistisch/fantastisch» ist vom Kontinuum «realistisch/abstrakt» zu unterscheiden, was sich etwa bei der fotorealistischen Darstellung ei- nes Fabelwesens klar zeigt (vgl. Grodal 2002, 70). Im Rahmen der Animation Studies wird das Abstraktions-Realis- mus-Kontinuum prominent von Maureen Furniss (1999, 5ff) dis- kutiert, wobei sie sehr vorsichtig vorgeht. In der deutschsprachigen Animationsforschung wurden ihre Vorstellungen unter anderem von Thomas Renoldner (2010, 23–38) und Maike Sarah Reinerth (2013, 333–341) aufgegriffen. Furniss schlägt das Kontinuum als Alternative zur häufig zu findenden strikten Trennung von Animation und Real- film vor: In constructing this continuum, it is probably best to use more neutral terms than «animation» and «live action» to constitute the ends of the spec- trum. Although the terms «mimesis» and «abstraction» are not ideal, they are useful in suggesting opposing tendencies under which live action and ani- mated imagery can be juxtaposed. The term «mimesis» represents the desire to reproduce natural reality (more like live-action work) while the term «abstraction» describes the use of pure form – a suggestion of a concept rather than an attempt to explicate it in real life terms (more like animati- on). There is no one film that represents the ideal example of «mimesis» or «abstraction» – everything is relative (Furniss 1999, 5). Exemplarisch platziert Furniss Andy Warhols Sleep (USA 1963, Abb. 1) in der Nähe des Mimesis-Extrems ihres Kontinuums. Als etwas we- niger mimetisch ordnet sie den CGI-lastigen Jurassic Park (Steven Spielberg, USA 1993, Abb. 2) ein, ungefähr in der Mitte des Kontinu- ums dann Disneys Hybridfilm The Three Caballeros (Drei Cabal- leros, Norman Ferguson, Clyde Geronimi, Jack Kinney, Bill Roberts, USA 1944, Abb. 3) und den auf Rotoskopie basierenden Snow White and the Seven Dwarfs (Schneewittchen und die sieben Zwerge, David Hand, USA 1937, Abb. 4 und Abb. 5). Schließlich sieht sie Nor- man McLarens stilistisch reduzierten Hen Hop (CA 1942, Abb. 6 und Abb. 7) und am stärksten Oskar Fischingers Kreise (D 1933, Abb. 8) in der Nähe des Abstraktions-Extrems. Furniss schränkt diese Verortung allerdings stark ein: 36 montage AV 22 /2 / 2013 Actually, the placements suggested by this description are somewhat arbit- rary. There is no exact spot where any one film should appear and it is com- pletely reasonable that various people might argue for different placements than the ones described here (Furniss 1999, 6). 1 Sleep 2 JuraSSiC park 3 the three CaballeroS 4 SNoW White aNd the SeveN dWarfS 5 SNoW White aNd the SeveN dWarfS 6 heN hop 7 heN hop 8 kreiSe Von sich streckenden Strichen und hüpfenden Hühnern 37 Angesichts dieser stark relativierenden Sicht stellt sich die Frage, in- wiefern das Kontinuum überhaupt nützlich ist. Und in der Tat steht es bei theoretischen Aufsätzen häufig nicht als exaktes Messinstrument im Zentrum der jeweiligen Untersuchung, sondern dient eher als Auf- hänger, um damit verwandte Themen, zum Beispiel Medienspezifika, zu diskutieren. Auch Furniss will ja nicht die von ihr genannten Filme genau verorten, sondern durch die Diskussion des Kontinuums das Verhältnis zwischen Realfilm und Animation thematisieren. In die- sem Fall ist die Einführung eines Kontinuums ein Fortschritt, weil die ebenfalls weitverbreitete Vorstellung einer Dichotomie von Realfilm und Animation unhaltbar ist. Bei empirischen Studien wird die von Furniss angedeutete Un- schärfe des Kontinuums allerdings problematisch, wenn nämlich die Wirkung vermeintlich eindeutig realistischer Darstellungen (also zum Beispiel Fotografien oder Realfilme) mit der Wirkung vermeintlich eindeutig abstrahierter Darstellungen (also zum Beispiel schematische Zeichnungen oder Animationen) verglichen wird. Wie eingangs schon erwähnt, scheinen die jeweiligen Zuschreibungen zwar intuitiv zutref- fend, erweisen sich aber bei genauerem Hinsehen als trügerisch, eben weil die dabei implizierte Vorstellung eines Kontinuums weniger ein- deutig und exakt ist als angenommen. Worin liegt nun diese Unschärfe begründet, und wie könnte man die Probleme umgehen? Die Gründe, weshalb Furniss die Verortung von Filmen innerhalb ihres Kontinuums als beinahe beliebig beschreibt, ent- springen denselben Problemen, die sich aus den zuvor erwähnten em- pirischen Studien ergeben: es besteht erstens die Gefahr eines globalen und dadurch stark verallgemeinernden Gebrauchs des Kontinuums, und zweitens eine begriffliche Unklarheit in Bezug auf dessen Extrempole. Auf diese beiden Probleme werde ich im Folgenden genauer eingehen. Unterschiedliche Bedeutungen von «realistisch» und «abstrakt» Ist im Rahmen des Abstraktions-Realismus-Kontinuums von Realis- mus die Rede, dann kann man zwar davon ausgehen, dass hauptsäch- lich fotorealistische Darstellungen gemeint sind, aber der Begriff «re- alistisch» ist keineswegs nur auf Fotorealismus zu reduzieren, wie die vielfältigen Diskussionen in der Film- und Animationsforschung zei- gen. Vielmehr gibt es eine Reihe unterschiedlicher Schemata, die man als realistisch auffassen kann und die, wie Torben Grodal festhält, alle- samt in einem einzigen Film vorkommen können: 38 montage AV 22 /2 / 2013 That our concepts of «reality» and «realism» are based on many different parameters (schemas) in a given audiovisual representation means that the viewer performs a series of different mental operations in order to assess the reality status of each parameter (2002, 68). Unter anderem können bewegte Bilder «perzeptuell-realistisch» sein. Im Gegensatz zum Fotorealismus, der sich an den optischen Effekten der Filmkamera oder des Fotoapparats orientiert, versuchen perzeptu- ell-realistische Animationen die menschliche Wahrnehmung nachzu- ahmen, beispielsweise bei der Darstellung von synästhetischen Erfah- rungen. Des Weiteren gibt es eine Reihe filmischer Konventionen, die als besonders realistisch kodiert sind, zum Beispiel verwackelte Video- kamera-Aufnahmen, die dokumentarische Unmittelbarkeit suggerie- ren. Viele dieser Konventionen lassen sich im Animationsfilm simulie- ren. Auch animationsspezifische Konventionen können als realistisch verstanden werden, wie zum Beispiel schematische Animationen im Rahmen von Nachrichtensendungen und Gebrauchsfilmen, die Er- eignisse und Zusammenhänge möglichst adäquat veranschaulichen sollen. «Realismus» kann sich außerdem auf den dargestellten Stoff be- ziehen. Die Charakterisierung der Figuren und der Verlauf der Hand- lung ähneln in diesem Fall alltäglichen Erfahrungen und tatsächlichen Ereignissen. Dies vermag ein Animationsfilm ebenso gut umzusetzen wie ein Realfilm. Häufig werden perzeptionsähnliche Darstellungen, optische Beson- derheiten der (virtuellen) Filmkamera, filmische und animationsspezi- fische Konventionen, inhaltliche Kriterien und weitere Vorstellungen von Realismus nicht voneinander getrennt, um ein Werk in Summe als realistisch zu beschreiben (vgl. Wells 1998, 24–28, bezogen auf den ‹hyperrealistischen› Stil der Disney-Filme). Dabei werden anti-realisti- sche Aspekte desselben Werks im Sinne einer einheitlichen globalen Zuschreibung oft stillschweigend übergangen. Warhols Sleep erscheint für Furniss wohl aufgrund der vermeintlich ungeschnittenen Echt- zeitaufnahme und der beobachtenden Darstellung eines alltäglichen Vorgangs als besonders mimetisch (vgl. Abb. 1). Allerdings ist Sleep keineswegs ein ungefiltertes Dokument der künstlerischen Überwa- chungskamera. Trotz der immer wieder kolportierten Behauptung, der Film bestehe aus einer einzigen Einstellung, ist er aus mehreren, deut- lich unterschiedlichen Aufnahmen zusammengeschnitten, die teilwei- se sogar geloopt und verlangsamt sind (vgl. Murphy 2012, 19). Man könnte sogar argumentieren, dass der Film gerade aufgrund seines re- duzierten Inhalts besonders abstrakt wirkt. Von sich streckenden Strichen und hüpfenden Hühnern 39 Um das Abstraktions-Realismus-Kontinuum aussagekräftiger und exakter zu machen, ist es also nötig, den überladenen Begriff «Realis- mus» näher zu fassen oder, besser noch, durch andere, weniger proble- matische Begriffe zu ersetzen. Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Begriff, der «Abstraktion». Wird davon gesprochen, dass eine Anima- tion abstrakt ist, dann können damit drei verschiedene Arten von Ab- straktion gemeint sein. Im engeren Sinn bezeichnet das Wort «abstrakt» in diesem Zusammenhang nicht-gegenständliche Filme, die keine re- alen Objekte zeigen, sondern reine Formen und Farben in Bewegung, so etwa Oskar Fischingers Kreise (vgl. Abb. 8) oder einige Stellen von Norman McLarens Hen Hop (vgl. Abb. 7). «Abstraktheit» ist in diesem Fall also im Sinne der bildenden Kunst zu verstehen (vgl. Poncet 2013, in diesem Heft). Man kann hier präzisierend von «nicht-gegenständli- cher Abstraktion» sprechen. Im zweiten Sinn bezeichnet man stark stilisierte figurative Darstel- lungen als «abstrahiert»; präzisierend kann man von «stilisierter Ab- straktion» sprechen. Der größere Teil von Hen Hop liefert hierfür gute Beispiele: In Abb. 6 (die im Film vor Abb. 7 kommt) sieht man sehr einfache, reduzierte Formen, die im Gegensatz zu einer nicht-gegen- ständlichen Abstraktion eindeutig etwas anderes als reine Form oder Bewegung darstellen. Was das aber ist, bleibt zu diesem Zeitpunkt des Films noch unklar. Die Formen erinnern an kindliche Kopffüßler, aber durch den Kontext wird suggeriert, dass es sich um Hühnerfüße und ein Ei (oder auch den Körper eines Huhns) handelt. Den Kontext bil- den in diesem Fall der Titel «Hen Hop», der das Tier und seine Aktivi- tät einführt, sowie die begleitende Barn-Dance-Musik, die einen Bau- ernhof evoziert. Weil die Formen in Abb. 6 direkt aus den Buchstaben «H» und «O» des Titels entstanden sind, ist die Bindung an den Text außerdem eng. Auch die Musik ist deutlich mit den Bewegungen im Bild verknüpft. Im Zusammenhang mit der stilisierten Abstraktion findet man die Vorstellung, dass sie das Ergebnis eines Prozesses ist, bei dem ausge- hend von der größtmöglichen ‹realistischen› Detailfülle schrittweise Details weglassen werden. Man reduziert, abstrahiert oder stilisiert et- was Realistisches, um zu einem abstrakteren Ergebnis zu kommen. Diese Vorstellung ist als gedankliches Konstrukt sehr nützlich und taucht auch in diesem Text an mehreren Stellen auf. Es muss aber fest- gehalten werden, dass diese Vorstellung nur wenig mit dem eigentli- chen Schaffensprozess gemein hat. Künstlerinnen und Künstler gehen nicht unbedingt von der größtmöglichen Detailfülle aus, um sie dann zu reduzieren. Vielmehr können sie immer auf alle prototypischen Ele- 40 montage AV 22 /2 / 2013 mente eines Schemas zugreifen – auf grundlegende Strukturen ebenso wie auf Details – und aus diesen die passenden auswählen. Aus dem Schema «Darstellung einer Henne» wählt Norman McLaren in Hen Hop weder die feinen Texturen der Federn noch die verschiedenen Rot-Töne des Kamms aus und nicht einmal, wie in Abb. 6, mögliche Darstellungen des Kopfes oder der Flügel. Er entscheidet sich für eine einfache runde Form (der Hühnerkörper als Ei) und gerade Winkel (die Hühnerfüße). Als signifikantes Detail verwendet er jeweils drei Striche für die Zehen. Im Laufe des Films werden die Darstellungen etwas detaillierter, aber McLaren behält den Stil der einfachen Striche bei, die er direkt auf den 35mm-Filmstreifen zeichnet. Anhand von Hen Hop sieht man auch, dass in einem Film und so- gar in der gleichen Einstellung sowohl nicht-gegenständliche als auch stilisiert-figurative Abstraktionen vorkommen können. Die Gestalt der Formen und das Interpretationsvermögen des Publikums, aber auch der Kontext spielen, wie oben gezeigt, eine entscheidende Rolle da- bei, ob in der Animation bewegte Linien oder eine tanzende Henne gesehen werden. Ein und dieselbe Form kann in einem Moment als nicht-gegenständlich und im nächsten als stilisiert-figurativ interpre- tiert werden. Das heißt auch, dass nicht-gegenständliche Abstraktion und stili- sierte Abstraktion viele gemeinsame Merkmale aufweisen. Aufgrund dieser Gemeinsamkeiten kann man sie unter dem Oberbegriff «visuel- le Abstraktion» zusammenfassen. Doch der entscheidende Aspekt, der sie voneinander trennt, ist die Frage der Signifikation: Mit «abstrakt» meint man im ersten Fall: «signifiziert nichts anderes als sich selbst», und im zweiten: «signifiziert etwas anderes durch wenig detaillierte visuelle Ähnlichkeit».2 Bei der nicht-gegenständlichen Abstraktion steht das ‹Was› der Signifikation im Vordergrund, bei der stilisierten Abstraktion das ‹Wie›. Es handelt sich also um zwei distinkte Arten visueller Abstraktion. Nicht-gegenständliche Abstraktion ist demnach weder, wie oft angenommen, eine Sonderform der stilisierten Abstrak- 2 Das steht im Übrigen nicht im Widerspruch zu folgender Feststellung Hans J. Wulffs: «Schon Filme aber, die in graphischen Displays realisiert sind, in denen einzelne ab- strakte Objekte in einem dreidimensionalen Raum angeordnet sind, repräsentieren, sind also von einem (und sei er noch so minimal) inhaltlich-stofflichem Bezug be- gleitet» (1999, 28, Herv. i. O.). Auch nach dem hier vertretenen Verständnis reprä- sentieren die Formen und Farben etwas: die Linie repräsentiert das Konzept «Linie», die Farbe Rot «Rotheit» usw. Unbestritten ist, dass eine nicht-gegenständliche Ab- straktion überdies für weitere Zuschreibungen als Projektionsfläche dienen kann; so lassen sich darin nicht nur zoo- oder anthropomorphe Agenten erkennen, sondern eine große Anzahl visueller Metaphern und Schemata. Von sich streckenden Strichen und hüpfenden Hühnern 41 tion noch das Extrem des Abstraktions-Realismus-Kontinuums, son- dern liegt komplett außerhalb des Kontinuums.3 Der Oberbegriff «visuelle Abstraktion» ist auch nützlich, um nicht- gegenständliche wie stilisierte Abstraktion gemeinsam vom dritten Gebrauch von «abstrakt» zu unterscheiden, nämlich der «gedankliche Abstraktion». Diese ist von der Darstellungsebene unabhängig und be- zeichnet einen Prozess der mentalen Verallgemeinerung und Redukti- on, bei dem abstrakte Begriffe, Konzepte und Kategorien von konkre- ten, sinnlich erfahrbaren Phänomenen abgeleitet werden. «Abstrakt» im gedanklichen Sinne steht also nicht im Gegensatz zu «realistisch», son- dern zu «konkret» (vgl. Grodal 2002, 70). Die Verbindungen zwischen visueller und gedanklicher Abstraktion sind dabei vielschichtig. Eine abstrahierte Darstellung kann sowohl Konkretes als auch gedanklich Abstraktes repräsentieren. Ebenso kann eine realistische Darstellung sowohl auf Konkretes als auch auf gedanklich Abstraktes verweisen. Multidimensionale Abstraktionsprofile Die eindimensionale, globale Zuschreibung eines Werks wird der Komplexität audiovisueller Darstellungen meist nicht gerecht. Ein Film besteht aus einer Vielzahl an Elementen, die jeweils auf unter- schiedliche Weise innerhalb des Kontinuums verortet werden können. Je differenzierter und detaillierter man ein Werk betrachtet, desto stär- ker zeigt sich diese Gleichzeitigkeit verschiedener Abstraktionsgrade, die in der Summe ein multidimensionales Abstraktionsprofil ergeben.4 Das wird offensichtlich, wenn in Hybridfilmen Cartoonfiguren mit Schauspielerinnen und Schauspielern kombiniert sind, zum Beispiel in The Three Caballeros (vgl. Abb. 3). Die Menge der Details von 3 Vgl. damit das zweidimensionale Kontinuum visueller Darstellungen Scott Mc- Clouds (1994, 28–59), das bei ihm eine Dreiecksform bildet. Die Basis des Dreiecks verläuft zwischen den Polen ‹reality› und meaning, und vermischt die beiden Kon- tinua «realistisch/stilisiert-abstrakt» und «konkret/gedanklich-abstrakt». Die Spitze des Dreiecks bildet die picture plane, das heißt nicht-gegenständliche Darstellungen. Ausgehend von der Basis entfaltet sich in Richtung dieser Spitze ein Kontinuum, das dem hier diskutierten Gegensatzpaar «figurativ/nicht-gegenständlich-abstrakt» entspricht. Allerdings schließt sich dieses Paar aus den obengenannten Gründen ge- genseitig aus und lässt somit eigentlich kein Kontinuum zu. Innerhalb seines Drei- ecks lassen sich laut McCloud einzelne Comics, aber besser noch einzelne Figuren verorten. McCloud ist sich dabei durchaus einiger Probleme seines Systems bewusst. 4 Vgl. die multiaspektuelle Analyse des Puppentheaters in Tillis 1992 und des Puppen- trickfilms in Feyersinger 2009; vgl. damit auch die modality configurations von Kress/ van Leeuwen 2006, 171ff. 42 montage AV 22 /2 / 2013 körperlichen Merkmalen ist in den gezeichneten Darstellungen deut- lich geringer als in den realfilmischen; die animierten Figuren sind also in dieser Hinsicht abstrakter als ihre Partner aus Fleisch und Blut. Bei Farbton und Sättigung liegen aber gezeichnete und realfilmische Dar- stellungen sehr nahe beieinander – sie sind jeweils auffällig bunt und stark gesättigt und in dieser Hinsicht insgesamt abstrakter als die meis- ten Darstellungen in Snow White (vgl. Abb. 4) oder Jurassic Park (vgl. Abb. 2), in denen Farben stärker naturalistisch verwendet werden (hier kaum wiederzugeben).5 Allerdings betrifft eine differenzierende Betrachtung nicht nur die distinkten Elemente offensichtlicher Hybridfilme, sondern alle von- einander unterscheidbaren Elemente und Eigenschaften eines Films. So lassen sich etwa Bewegungen unterschiedlicher Figuren mitein- ander vergleichen – Schneewittchens Bewegungen ähneln stärker der Physik unserer Welt und wirken dadurch realistischer als die Bewe- gungen der Zwerge, die für uns vielfach nicht möglich wären. Ebenso können in einer einzelnen Bewegung durchaus realistische und we- niger realistische Anteile verbunden sein – ein physikalisch korrekter Gang kann gleichzeitig den Bauch übertrieben hüpfen lassen. Die Differenzierung betrifft auch einzelne zeitliche Segmente ei- nes Werks, die sich deutlich hinsichtlich ihres Abstraktionsprofils un- terscheiden können. Das Verwandlungssegment in Snow White ist beispielsweise stärker abstrahiert als die meisten anderen Szenen des Films (vgl. Abb. 5). Ein Wechsel von Abstraktionsgraden ist häufig auch auf der Ebene der Einstellungen zu beobachten und dabei oft bedeu- tungstragend, etwa wenn Figuren durch minimalistische Hintergrün- de, durch Großaufnahmen oder geringe Schärfentiefe in einen unde- finierten, mithin abstrakten Raum versetzt werden. Es lässt sich zwar argumentieren, dass sowohl auf Mikro- als auch Makroebene gewisse Aspekte und deren Abstraktionsgrade dominan- ter sind als andere, wonach man das Werk in seiner Gesamtheit über die dominantesten Aspekte definieren und so mit anderen Werken ver- gleichen könnte. Allerdings ist diese Dominantensetzung sehr subjektiv, und meist sind auch andere Aspekte als Dominanten plausibel. Durch eine Dominantensetzung werden außerdem häufig inkompatible As- pekte miteinander verglichen. Ein Animationsfilm, bei dem sich stark stilisierte Strichmännchen besonders naturgetreu bewegen, ist auf eine andere Art abstrakt oder realistisch als ein Film, bei dem fotorealistische 5 Für eine genauere Beschreibung der einzelnen Elemente eines Hybridfilms erweist sich Franziska Bruckners in diesem Heft vorgestellte Heuristik als sehr nützlich (2013). Von sich streckenden Strichen und hüpfenden Hühnern 43 Darstellungen mit besonders unnatürlichen Bewegungen ins Auge ste- chen. Soll man diese beiden Filme hinsichtlich ihrer Zeichnungen oder ihrer Bewegungen vergleichen? Darf man die Stilisierung der Zeich- nungen des erstens Films mit der Stilisierung der Bewegungen im zweiten vergleichen? Diese Fragen stellen sich nicht, wenn man sowohl Zeichnungen als auch Bewegungen vergleicht, nur kann man so nicht festlegen, welcher der beiden Filme abstrakter oder realistischer ist. Fazit Es zeigt sich also, dass drei Arten von Abstraktion voneinander zu un- terscheiden sind, diese Unterscheidung aber im einzelnen Fall nicht immer leicht fällt. Die Unterscheidung ist wichtig, weil sich das Abs- traktions-Realismus-Kontinuum ausschließlich auf stilisierte Abstrak- tion bezieht. Nicht-gegenständliche und gedankliche Abstraktion sind unabhänging von diesem Kontinuum. Durch die Entwirrung der Be- griffe lässt sich vermeiden, dass inkompatible Eigenschaften miteinan- der verglichen werden. Es ergeben sich folgende drei Gegensatzpaare: «nicht-gegenständlich-abstrakt/figurativ», «gedanklich-abstrakt/kon- kret» und «stilisiert-abstrakt/realistisch». Ausgehend von der Differenzierung des Realismus-Extrems lässt sich das Paar «stilisiert-abstrakt/realistisch» genauer definieren, je nach- dem, welche Art oder welche Arten von Realismus gemeint sind. Je nach Definition ergeben sich unterschiedliche Varianten des Konti- nuums, wobei bei einem Vergleich jeweils auf dieselbe Variante zu- rückgegriffen werden sollte. Rekurriert man anstelle einer globalen Zuschreibung auf ein ausdifferenziertes multidimensionales Beschrei- bungsprofil, ergibt sich fast zwangsläufig eine genauere Definition der verwendeten Varianten. Um den einzelnen Aspekten des Werks ge- recht zu werden, sollte bei jedem Aspekt entschieden werden, welche Variante des Kontinuums am besten passt. Letztlich dürfte es nicht möglich sein, das Kontinuum in ein ex- aktes, objektives Messinstrument zu verwandeln. Die Definition der Extreme kann zwar präzisiert werden, aber eine gewisse interpretato- rische Unschärfe bleibt bestehen. Eine allzu ungenaue eindimensiona- le Zuschreibung kann zwar durch ein multidimensionales Beschrei- bungsprofil vermieden werden, aber es ist unmöglich, alle Elemente und Eigenschaften eines Werks voneinander zu trennen und einzeln zu beschreiben. Und dennoch: Je präziser die Definitionen und je de- taillierter die Analyse, desto aussagekräftiger kann das Kontinuum ein- gesetzt werden. 44 montage AV 22 /2 / 2013 Literatur Blackwell, Alan/Engelhardt, Yuri (2002) A Meta-Taxonomy for Diagram Re- search. In: Diagrammatic Representation and Reasoning. Hg. v. Michael Ander- son, Bernd Meyer & Patrick Olivier. London: Springer, S. 47–64. Bruckner, Franziska (2013) Hybrides Bild, hybride Montage. In: Montage AV 22,2, S. 59–78 (in diesem Heft). Feyersinger, Erwin (2009) Bringing Life to Everyday Objects. Ambige Zei- chengeflechte in Jan Švankmajers Objektanimation. In: Poetica 41, 3–4, S. 427–454. Furniss, Maureen (1999) Art in Motion. Animation Aesthetics. London: John Libbey. Grodal, Torben (2002) The Experience of Realism in Audiovisual Represen- tation. In: Realism and “Reality” in Film and Media. Hg. v. Anne Jerslev. Ko- penhagen: Museum Tusculanum Press, S. 67–91. Kress, Gunther/van Leeuwen, Theo (2006) Reading Images. The Grammar of Vi- sual Design. London: Routledge. McCloud, Scott (1994) Understanding Comics. The Invisible Art. New York: HarperPerennial. Murphy, J. J. (2012) The Black Hole of the Camera. The Films of Andy Warhol. Ber- keley: University of California Press. Poncet, Marie-Thérèse (2013) Der Platz des Zeichentrickfilms im System der Schönen Künste [frz. 1956]. In: Montage AV 22,2, S. 97–109 (in diesem Heft). Reinerth, Maike Sarah (2013) Animationsfilm. In: Filmwissenschaftliche Genre- analyse. Hg. v. Markus Kuhn, Irina Scheidgen & Nicola Valeska Weber. Ber- lin/Boston: de Gruyter, S. 319–341. Renoldner, Thomas (2010) Was ist Animation? In: Die Kunst des Einzelbilds. Animation in Österreich. 1832 bis heute. Hg. v. Christian Dewald, Sabine Gro- schup, Mara Mattuschka & Thomas Renoldner. Wien: Verlag Filmarchiv Austria, S. 11–39. Tillis, Steve (1992) Toward an Aesthetics of the Puppet. Puppetry as a Theatrical Art. New York: Greenwood Publishing Group. Wells, Paul (1998) Understanding Animation. London: Routledge. Wulff, Hans J. (1999) Darstellen und Mitteilen. Elemente der Pragmasemiotik des Films. Tübingen: Gunter Narr. Der Zeichenfilm als Bürge für den Kunstcharakter des Kinos Kleine Einführung in Karol Irzykowskis Apologie aus dem Jahr 1924 Jörg Schweinitz Dass sich ein Filmtheoretiker bereits in der ersten Hälfte der 1920er Jah- re ernsthaft mit dem gezeichneten Animationsfilm befasst, so wie Karol Irzykowski dies tat, ist mehr als eine Seltenheit. Ging es doch zu jener Zeit den Theoretikern, die sich für das Kino engagierten und davon fasziniert waren, vor allem darum, die Kunstfähigkeit des Mediums zu unterstreichen und, in Verbindung damit, dessen ästhetische oder ma- teriale Spezifik theoretisch auszuarbeiten. Zu einem solchen Interesse lag Zeichenanimation eher quer. Denn einerseits spielte für die meisten theoretischen Konstruktionen des spezifisch filmischen Ausdrucksver- mögens die photographische Qualität des Mediums eine Schlüsselrolle, sollte sie doch für eine neue Sichtweise von Phänomenen der Realität nutzbar gemacht werden. Andererseits haftete dem Zeichentrickfilm, der vor allem Werbung oder komische Szenen und Sketche präsentier- te, doch bei aller Kunstfertigkeit jene Aura des Kindlichen und Trivia- len an, die die Filmkunsttheorie gerade abzustreifen suchte. Der polnische Schriftsteller und Literaturkritiker Karol Irzykowski widmete dem «Zeichenfilm» (film rysunkowy), wie man das Genre damals auch im Deutschen meist nannte,1 nun nicht allein ein ganzes Kapitel in seinem 1924 in Krakau erschienenen Buch Dziesiąta muza. Zagadni- 1 Noch die 1941 gegründete Deutsche Zeichenfilm GmbH stützt sich auf diese Bezeichnung. 46 montage AV 22 /2 / 2013 enia estetyczne kina (Die Zehnte Muse. Ästhetische Probleme des Films), Irzykowski äußerte hier sogar die Ansicht, dass gerade im gezeichneten Film die Zukunft der künstlerischen Kinematographie liege. Denn «ei- gentlich bürgen für den Kunst-Charakter des Kinos nur die Möglichkeiten eben dieser Filmgattung.» Der «herkömmliche Film» sei mithin «nur ein vorü- bergehender Ersatz für den Zeichenfilm.»2 Diese Apologie des gezeichne- ten Animationsfilms ist theoriehistorisch äußerst interessant und vermag noch heute zu erstaunen. Aus diesen Gründen macht Montage AV Irzy- kowskis frühes Dokument zur Theorie des Animationsfilms erstmals in deutscher Sprache zugänglich. Vorab soll kurz in einige biografische wie theoretische Kontexte des kleinen Kapitels eingeführt werden. In der polnischen Filmszene ist Karol Irzykowski ein prominenter Name; er gilt als der klassische Filmtheoretiker des Landes. Wie bedeut- sam er hier erscheint, wird allein schon daran deutlich, dass ein 1981 in Warschau von Absolventen der Filmhochschule Łódź gegründetes Filmstudio seinen Namen bekam und über die politische Wende hin- weg auch behielt. Unter Filmtheoretikern im Westen kaum bekannt,3 ist er für die Polen ein Mann, dessen Leben eng mit ihrer Geschichte, ihren Kämpfen und ihrer Kultur verbunden ist. Der 1873 geborene Irzykowski hatte nach einem Germanistikstu- dium an der Universität in Lemberg (das damals noch zum polnischen Teil Österreich-Ungarns gehörte, heute zur Ukraine) und einer ersten theoretischen Schrift zu Hebbels Dramentheorie im Jahr 1904 seinen Roman Pałuba vorgelegt, der für die psychologische Durchdringung der Figuren und für seine selbstreflexive Dimension berühmt wurde. Zunächst in Krakau und nach dem Ersten Weltkrieg in Warschau zu Hause, war er zunächst in einem Korrespondenzbüro tätig und später als Chef des stenografischen Büros des Sejm, des polnischen Parla- ments, während er sich durch die Mitarbeit an wichtigen literarischen und politischen Zeitschriften der Zwischenkriegszeit, vor allem auch als pointierter Literaturkritiker, einen Namen machte. Seine Bekannt- heit steigerte sich noch dadurch, dass er auch eine Theaterrubrik im jungen Rundfunk gestaltete. Der zum Mitglied der polnischen Litera- 2 Diese Zitate entstammen dem nebenstehend abgedruckten Text Irzykowskis. 3 Bislang existiert außerhalb Polens kaum filmtheoriehistorische Literatur zu Irzy- kowski. 1987 hat Paul Coates einige kurze, fragmentarische Auszüge aus drei Kapi- teln von Dziesiąta muza (Krakau 1924) in englischer Übersetzung präsentiert und kurz eingeleitet (vgl. Coates 1987; Irzykowski 1987). In jüngerer Zeit erschien (als print on demand an fragwürdigem Ort) allein Elizabeth Nazarians The Tenth Muse: Ka- rol Irzykowski and Early Film Theory (2011). Der Zeichenfilm als Bürge für den Kunstcharakter des Kinos 47 turakademie Gewählte schlug sich während der deutschen Besatzung Polens im Zweiten Weltkrieg als Stenografie-Lehrer durch. Aktiv im polnischen Untergrund, starb er 1944 kurz nach der Befreiung von der NS-Okkupation an Verwundungen, die er sich während des War- schauer Aufstandes zugezogen hatte. All dies ließ ihn zu einer – im besten Sinne – nationalen Gestalt wer- den, eine Qualität, die bei Irzykowski in keinerlei Konflikt mit dem außerordentlich wachen Interesse an der westeuropäischen künstle- rischen Kultur geriet. Das belegt auch sein Filmtheoriebuch. In ihm artikuliert sich nicht nur Faszination für das innovative Medium und für avancierte Filme, sondern auch genaue Kenntnis dessen, was zur gleichen Zeit vor allem in Frankreich und in Deutschland zum Kino geschrieben wurde und worüber man dort stritt. In Die Zehnte Muse (übrigens eine Metapher für den Film, die in Polen noch heute gebräuchlich ist) entfaltet er einen weiten Horizont filmtheoretischer Probleme – etwa die Entwicklung filmischer Hand- lungen, der Szenarien, des Schauspiels und vor allem der visuellen Form der bewegten Bilder, wobei das Malerische und das Ornamentale des Filmbilds ebenso thematisiert werden wie der Film als ‹visuelle Mu- sik› oder ‹reine Gebärde›. All dies diskutiert Irzykowski unter Bezug- nahme auf führende europäische Philosophen wie Bergson oder Nietz- sche und vor allem auf die wichtigsten zeitgenössischen europäischen Filmtheoretiker, aber auch auf das internationale und polnische Reper- toire an Filmen seiner Zeit. So spürt man den Einfluss von Louis Del- luc und Jean Epstein. Beide kommen wiederholt ins Spiel, insbeson- dere wenn Irzykowski sich ihre Überlegungen zur photogénie kritisch zu eigen macht. Zwei ganze Kapitel sind dem Thema gewidmet. Und man bemerkt allenthalben die Kenntnis deutscher Theoretiker, die er durchweg rezipiert (ebenso wie Filme, von Wegeners Golem über den Caligari bis zu Ruttmanns Opus-Filmen, um nur wenige Beispiele zu nennen). Allerdings spielt Béla Balázs’ Filmtheorie noch keine Rolle; das kann aber kaum anders sein, denn dessen Buch Der sichtbare Mensch er- schien 1924 nahezu zeitgleich mit der Zehnten Muse. Dennoch themati- siert auch Irzykowski die Affinität des Films zur sichtbaren Gebärde und zur Mimik, und auch er untersucht den filmischen Anthropozentrismus. Bedenkt man die beeindruckende Breite der Bestandsaufnahme sowie der kritischen Würdigung der Kinematographie und der filmtheore- tischen Diskurse seiner Zeit, so kann man Irzykowskis Werk mit Fug und Recht als – wie Paul Coates formulierte – «one of the key books 48 montage AV 22 /2 / 2013 of cinematic theory of the 1920s» bezeichnen (1987, 114). Dies we- niger, weil stringent eine These entwickelt würde, sondern vor allem deshalb, weil – wie zu jener Zeit bei kaum einem anderen Autoren – ein Spektrum der Filmkultur und der zeitgenössischen Denkfiguren zur Filmtheorie entfaltet wird. Gleichzeitig erscheint Irzykowskis Buch nicht einfach eklektisch, sondern von Grundüberzeugungen getragen. Dazu gehörte insbesondere ein Kunstbegriff, der die partielle Diffe- renz von einfacher Wirklichkeitsreproduktion und künstlerischer Wie- dergabe hervorhebt – ganz ähnlich wie Hugo Münsterberg dies schon 1916 in seinem Buch The Photoplay formuliert hatte, das Irzykowski wie die meisten Europäer nicht kannte, und wie es Rudolf Arnheim später, 1932 in Film als Kunst, noch tun sollte. In diesem Sinne hatte sich der polnische Theoretiker schon 1913 angesichts von Vorführun- gen einer Version des Kinetophones strikt gegen Sehnsüchte nach dem Tonfilm gewandt.4 Diese Komplettierung der mimetischen Kapazität des Mediums erschien ihm höchst unwillkommen. Sie laufe auf eine umfassendere Abbildung der Realität hinaus und zerstöre die besondere ästhetische Herausforderung des Films, die im Visuellen liege, beschädi- ge mithin die Magie des Bildes. Der Zauber beruhe, wie die ästhetische Wirkung des Films überhaupt, auf dem Eindruck und der Lyrik von Bewegung, die sich im zweidimensionalen Filmbild von der eigentli- chen Stofflichkeit des bewegten Gegenstands löse, da sie sich nur noch auf der «optischen Oberfläche der Welt» vollziehe (Irzykowski 1977, 56). Zu Irzykowskis Grundideen gehören in diesem Zusammenhang zwei Aussagen: Der Film verwandle als ein «Filter der Wirklichkeit [...] alle Dinge in Phantome» (ibid., 55), und «im Menschen steckt ein Verlangen, die Dinge und Ereignisse in Abstraktion von der Realität zu sehen» (ibid., 54). Hinter diesen Thesen steht eine Konzeption von Kunst, die sich aus der deutschen idealistischen Ästhetik herleitet und die Irzykowski – wie im Kapitel zum «Zeichenfilm» expressis verbis formuliert – mit dem deutschen Ästhetiker (und Kinoreformer) Konrad Lange teilte: die Idee der partiellen Illusion, der «bewussten Selbsttäuschung» (Lange 1907, 380f ). Es ging dabei um die Vorstellung eines Oszillierens zwi- schen dem illusionistischen Eintritt in die Welt des Kunstwerks und dem Blick von außen auf dessen ästhetische Qualitäten. So traditionell dieses Kunstkonzept anmuten mag, so fruchtbar scheint es sich bei Ir- zykowski mit sehr modernen Überlegungen zum Film zu verbinden. 4 Auf Irzykowskis Aufsatz «Der Tod des Kinematographen», der 1913 in der Zeitschrift świat erschienen war, basiert (unter verändertem Titel) das erste Kapitel seines Buch Dziesiąta muza. Eine englische Übersetzung des Aufsatzes erschien 1998 in der Zeit- schrift Film History, vgl. Irzykowski 1998. Der Zeichenfilm als Bürge für den Kunstcharakter des Kinos 49 Erwähnt seien hier sein entwickelter Sinn für die haptischen Qualitä- ten visuell gut strukturierter Bildoberflächen, aber auch seine Über- legungen zur «optischen Beziehung zwischen den Dingen im Film» (Irzykowski 1977, 65) sowie zur «metaphysischen Korrespondenz zwi- schen Mensch und Ding» (ibid.). Letztere münde in ein «kontinu- ierliches Hin- und Hergleiten zwischen sichtbarer Realität und dem Unsichtbaren» (ibid., 68). Und schließlich sei auf seine Gedanken zur filmischen Mitteilung durch die Gebärde aufmerksam gemacht. Die Gebärde schätzt Irzykowski vor allem wegen ihres Bewegungscharak- ters und lehnt sie ab, sobald sich ihr konventioneller Zeichencharakter aufdrängt. Hier ist er Balázs sogar voraus, der in Der sichtbare Mensch noch die Überwindung der sprachlichen Konventionalität durch die seelische Unmittelbarkeit der Gebärde im Film proklamierte: Er sieht den konventionellen Charakter vieler Schauspielstile und der damit verbundenen Gesten, das «Stereotype» daran, ganz klar, insbesondere bei jenem Stil, den er als «psychomimisch» bezeichnet. Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Prämissen wird evident, dass Irzykowski im «Zeichenfilm», der sich von der photographischen Qualität ablöst, gegenüber dem üblichen Film einen nur umso konse- quenteren Filter der Wirklichkeit, einen weiteren Schritt der Ablösung von der Nachbildung hin zu neuen und freien gestalterischen Mög- lichkeiten sieht. Aus dieser Perspektive erklärt sich seine frühe Begeis- terung für die Animation. Literatur Coates, Paul (1987) Karol Irzykowski. Apologist of the Inauthentic Art. In: New German Critique 42, S. 113–115. Irzykowski, Karol (1977) Dziesiąta muza. Zagadnienia estetyczne kina (Die Zehn- te Muse. Ästhetische Probleme des Films) [1924]. Warschau: Wydawnictwa Artystyczne i Filmowe. (Übers. sämtlicher Zitate aus dieser Ausgabe v. J.S.) – (1987) The Tenth Muse (Excerpts) [1924]. In: New German Critique 42, S. 116–127. – (1998) Death of the Cinematograph [1913]. In: Film History 10,4 (1998), S. 453–458. Lange, Konrad (1907) Das Wesen der Kunst. Grundzüge einer illusionistischen Kunstlehre. Berlin: G. Grote. Nazarian, Elizabeth (2011) The Tenth Muse. Karol Izykowski and Early Film The- ory. Saarbrücken: Lambert Academic Publishing. leS douze travaux d’ herCule (Émile Cohl, F 1910) Der Zeichenfilm* Karol Irzykowski Ein Pole macht Kino – Aus einem Lexikon! – Flugzeug ohne Motor, Film ohne Photographie. – Liebenswertes Aschenputtel. – Brillant oder Knopf? – Lob des Snobismus. – Die Himmelsleiter. – Wie ein Huhn ein Kind legte. – Die Kentaurenfrau. – Bitte um Revision der Kostenrechnung. – Der Zeichen- film als Bürge für den Kunst-Charakter des Kinos. Die künstlichen Dekorationen des Caligari (Das Kabinett des Dr. Caligari, Robert Wiene, D 1919) gehören schon zum Bereich des Zeichenfilms, dieses Embryos, aus dem sich irgendwann der große, wahre Film der Zukunft entwickeln wird. Eigentlich ist der Zeichen- film auch der erste Film der Vergangenheit, denn, wie man aus der Geschichte des Kinos weiß, begann alles um das Jahr 1830 mit dem ‹Lebensrad› und den ‹Wundertrommeln›, die sich drehten und dabei jeweils sieben, oder mehr, entsprechend gewählte Bilder pro Sekunde zeigten und so den Eindruck einer halbwegs einheitlichen Bewegung erweckten. Diese Bilder wurden selbstverständlich von Hand ange- fertigt. Der Maler Kobierski** erzählte mir einmal, dass er als Kind bei seinen Zeichenspielen auf die Idee kam, auf die Ecken der Seiten eines dicken Lexikons verschiedene Bewegungsphasen eines auf die Erde fallenden Menschen zu zeichnen: das schnelle Durchblättern des * [Anm.d.Hg.:] Bei diesem Text (poln. Originaltitel: «Film rysunkowy») handelt es sich um das 23. Kapitel des filmtheoretischen Hauptwerks von Karol Irzykowski Dziesiąta muza: zagadnienia estetyczne kina (Krakau: Krakowska Spółka Wydawnicza, 1924). Die Übersetzung versucht, das Original so behutsam wie möglich in all sei- nen historischen Besonderheiten wie der noch schwankenden Filmterminologie ins Deutsche zu übertragen. ** [Anm.d.Hg.:] Vermutlich ist der aus Galizien stammende Maler Carl von Kobierski (1846–1907) gemeint. 52 montage AV 22 /2 / 2013 Lexikons mit dem Daumen1 ergab eine vollkommene Illusion der Be- wegung. Die historische Entwicklung des Kinos verlief also ähnlich wie die der Aeronautik: Zuerst versuchte man es mit Gleitflugzeugen ohne Motor (Lilienthal), diese Versuche scheiterten jedoch. Erst die Über- tragung eines Automobilmotors auf das Flugzeug ermöglichte diesem die Eroberung der Lüfte. Heute fliegen wieder Flugzeuge ohne Mo- tor gen Himmel und stellen so ihre Daseinsberechtigung unter Beweis. Und doch hatte der Zeichenfilm zunächst keine Glanz-Auftritte in der Kinogeschichte zu verzeichnen, nur Historiker können sich an ihn er- innern. Erst die Photographie, die einem auf photographischer Repro- duktion der Wirklichkeit basierenden Kino den Weg bahnte,2 erweckte auch den Zeichenfilm wieder zum Leben, wies ihm aber sogleich eine untergeordnete Rolle zu. Auf den Plakaten der Kino-Theater werden Zeichenfilme nicht einmal erwähnt, sie sind höchstens Vorspeisen vor der eigentlichen Mahlzeit, die aus Dramen oder Komödien, mittels photographischer Reproduktion hergestellt, besteht. Die Filmindustrie unterschätzt den Zeichenfilm heute immer noch genauso wie im Jahr 1915, als ich zum ersten Mal einen solchen gesehen habe – zu mei- ner größten Freude und zu meinem Erstaunen. Der Zeichenfilm ist noch immer lediglich ein Spielzeug, er wird für lustige, satirische Ge- schichten oder für witzige Reklamen eingesetzt. (Reklame für Schuh- creme: Der Storch fängt einen Frosch, lässt sich von ihm großzügig die Schuhe mit dieser Creme polieren und setzt dem Frosch zum Dank dafür mit dem Schnabel eine Krone auf den Kopf.)* Der Zeichen- film durchlebt im Moment dasselbe Schicksal wie frühere Erfindun- gen, zum Beispiel das Schießpulver oder der Druck. Und doch führt bereits dieses Spielzeug jedem, der vorausdenken kann, die gewaltigen Möglichkeiten vor Augen, die in dieser Filmgattung stecken. Das ge- wöhnliche Publikum kann das nicht richtig einschätzen, es schaut sich 1 Dies ist ein interessantes Überbleibsel des mechanischen Kinos, das wir in verbes- serter Form in den sogenannten Mutoskopen finden, die in Polen nicht bekannt, in Deutschland aber sehr populär sind. Das Mutoskop ist eine kleine Kiste, die auf einer Walze aneinandergereihte Blätter mit Photographien enthält. Der Besucher wirft ei- nen Groschen in den Automaten, dreht die Kurbel und schaut sich durch eine ste- reoskopische Optik in beliebigem Tempo eine Miniatur-Kinoszene an (in der Regel etwas Pikantes). 2 In technischer Hinsicht verlangt auch der Zeichenfilm eine photographische Re- produktion sobald man ihn für das Kino adaptieren will – doch sein Gegenstand sind Zeichnungen und nicht die rohe Wirklichkeit. * [Anm.d.Hg.:] Offenbar ein Werbetrickfilm für die Marke Erdal, die seit 1903 bis heute den Froschkönig als Markenlogo hat. Der Zeichenfilm 53 den Zeichenfilm mit Vergnügen an, und doch sieht es in ihm etwas Selbstverständliches. Setzt man nämlich dem Publikum einen Brillan- ten als Knopf vor, dann ist er für das Publikum natürlich nur ein Knopf. Vergegenwärtigt man sich indes, dass dasselbe Publikum auf Kunstaus- stellungen oder im Theater – mehr oder weniger gut – über subtile Unterschiede in der Maltechnik oder im Schauspiel fachsimpelt, weil es Mode ist und weil es das gelernt hat, so beginnt man sich danach zu sehnen, ein solcher Snobismus würde auch für das Kino heranerzogen. Denn der Snobismus bildet stets die erste Phase des Kunstempfindens, und jedem Künstler sollte daran gelegen sein, dass dieser so stark wie möglich wuchert – allerdings nur beim Publikum, nicht bei den Kri- tikern. Bisher richtet sich der Kino-Snobismus, wenn überhaupt, nur auf die Leistung der Schauspieler, auf die Aufnahmen, schwatzt über Landschaften, manchmal über das Licht; man muss ihn erziehen, be- lehren, ihm mehr Themen zuwerfen, ein neues Vokabular anbieten. Zu Recht schreibt Delluc* über den Snobismus: «Ohne Snobismus ist es schwer, mit Kunst umzugehen, man hätte weder etwas, womit man sympathisieren, noch etwas, das man bekämpfen könnte.»** Der Zeichenfilm gewährleistet nicht nur die Unabhängigkeit des Zeichners von Regisseur, Schauspielern und Lichtbedingungen und ermöglicht ihm damit nicht nur den unmittelbaren Ausdruck seiner Persönlichkeit, sondern erlaubt es ihm zudem, sich in der Wahl der Inhalte durch nichts einengen zu lassen. Während es in einem norma- len Film zum Beispiel verschiedener Tricks bedarf, um phantastische Bilder zu erzeugen, und dies am Widerstand der Materie oft gänz- lich scheitert, so macht der Zeichenfilm – zumindest theoretisch, nicht unbedingt praktisch – alle Streiche der Phantasie möglich; denn Pa- pier und Bleistift sind geduldig und gehorsam. Ich kann mich noch an den Film Sen Zaplatila*** aus früheren Zeiten erinnern: Zaplatil kommt betrunken nach Hause, legt sich schlafen, neben seinem Bett erscheinen verschiedene überaus komische Quälgeister. Dann schwebt er über der Erde und steigt auf einer Leiter zu den Sternen, die primi- tiv wie Brezeln sind, hält sich an einem davon fest und fällt herunter ... Ein anderer Film zeigt Abenteuer in der Wüste: Ein Löwe rennt, und die Art, wie er rennt, ist an sich schon komisch, denn während er in * [Anm.d.Hg.:] Louis Delluc (1890–1924), französischer Filmregisseur und Publi- zist, dessen Schrift Photogénie (Paris: de Brunoff 1920) diesen Begriff in den Dis- kurs von Filmpraktikern und -theoretikern als eine Schlüsselkategorie einbrachte. ** [Anm.d.Hg.:] Die von Irzykowski nicht angegebene Quelle des Zitats ließ sich nicht aufklären. *** [Anm.d.Hg.:] Auf Deutsch: «Zaplatils Traum». 54 montage AV 22 /2 / 2013 der Luft schwebt und die Pfoten vorwärts bewegt, schluckt der Löwe einen Wilden scheinbar im Flug. Dann wird der Löwe von einer Boa verschlungen, aus deren Bauch ein Retter schließlich all diese Delika- tessen wieder herausholt. – Oder kurze Späße: Aus einem Hühnerei schlüpft ein Kind. Oder: Auf der Leinwand taucht eine Hand auf, die Frauenbrüste zeichnet, die Linien beginnen sich zu bewegen, die Stel- lung zu wechseln, und bitte schön, schon verwandelt sich eine Brust in eine Ente, die wackelnd davon trottet, die andere in eine Kuh, die dritte in eine Gans usw. – Es gibt auch Kombinationen des Zeichen- films mit den Tricks des herkömmlichen Films: Ein Zukunftsvehikel erhebt sich von einer serpentinenartigen Plattform in die Lüfte und kreist über der Erde, dann unter den Sternen, die sich um andere Ster- ne drehen usw. Es gibt einen guten Grund, warum solche Filme so komisch und so kurz sind: der Zeichner muss derart viele Zeichnungen liefern, dass das aufwändige Anfertigen jeder Zeichnung allzu zeitraubend und kost- spielig wäre. Andererseits ergäbe eine allzu kleine Anzahl an Kadern in einem bestimmten Zeitabschnitt eine unnatürliche, abgehackte oder zu schnelle Bewegung (so wie sie zum Beispiel Chaplin bewusst ge- staltet). Die Bewegung selbst würde mithin von Anfang an zur Kari- katur werden. Diese stockende Bewegung ließe sich zwar durch ein sehr schnelles Tempo der Vorführung vermeiden – doch dann wür- den sich nicht nur die Bewegungen, sondern auch die Handlungen zu schnell vollziehen. Dies sollte indes kein Hindernis dafür sein, im Zeichenfilm auch ernste Sachen darzustellen. In einer Filmzeitschrift habe ich gelesen, dass eine französische Firma (Gaumont) mit dieser Technik den Kurzfilm Dwanaście prac Herkulesa (Les douze tra- vaux d’Hercule, Émile Cohl, F 1910) gefertigt hat: Als Beifilm gedacht, stellt er das eigentliche Programm in den Schatten. Wir sehen, wie Herkules die vielköpfige Hydra tötet, wie er den Fluss Al- pheios durch den Stall leitet, wie er den kretischen Stier bändigt, den riesi- gen Eber besiegt, einen Kampf mit den Amazonen ausficht und ihre Köni- gin Hyppolyte überwältigt, wie er darauf den dreiköpfigen Kerberos erlegt, um Hyppolyte aus der Hölle zu holen und dann, mit ihr auf dem Rücken, auf den Parnass eilt, um dort Hochzeit zu feiern.* * [Anm.d.Hg.:] Die Quellenangaben zu diesem Zitat – wahrscheinlich aus der zuvor erwähnten Filmzeitschrift –, sind bei Irzykowski nicht nachgewiesen und ließen sich nicht mehr ermitteln. Der Zeichenfilm 55 Das Geschehen erscheint nicht als kontinuierliches Drama darge- stellt, sondern als eine Aneinanderreihung bewegter Buchillustratio- nen. Der Zeichner befriedigte hier offenbar vor allem seine malerische Ader. Doch stellen wir uns eine der herrlichen Visionen aus Edwin Jędrkiewiczs Novellenzyklus świątki i centaury (Heiligenfiguren und Ken- tauren)* auf diese Weise dargestellt vor: Die Kentaurenfrau Ohe jagt mit wehendem Haar durch ein Kornfeld, die Arme im Nacken ... Oder eine andere Idee, von Kley,** aus demselben Gebiet, aber komischer Art: Zwei Kentauren, an den Schwänzen verflochten, werden von einem Witzbold mit einer Peitsche auseinandergetrieben. Oder die Wiedererweckung der Welt Böcklins:*** Ein alter Kentaur geht zum Schmied und lässt sich beschlagen ... Wenn ich hier phantastische Werke und Themen anführe, dann nicht, weil sich der Zeichenfilm auf diese beschränken sollte oder für die Darstellung übernatürlicher Welten reserviert wäre. Der Zeichen- film kann durchaus auch das normale Leben zeigen, also dasselbe tun, was bislang der herkömmliche, in der Natur arrangierte Film getan hat, der sich realer Gegenstände und Menschen bedient. Und doch werden im Zeichenfilm eine besondere Auswahl von Themen und eine bestimmte Art ihrer Darstellung vorherrschen; vielleicht bildet sich irgendwann eine Teilung in ein Zeichenkino und ein normales Kino heraus, jeweils nach ihrem charakteristischen Stil, der sich erst noch zeigen und auffächern wird. Die Entwicklung des Zeichenfilms wird momentan noch durch die überkommene Haltung des Kapitals eingeengt, das in der Filmin- dustrie sitzt. Betrachtet man die Sache von der ökonomischen Seite, so muss man sich allerdings fragen, was sich am Ende als teurer er- weist: einige Zeichner einzustellen, die sich miteinander abstimmen und nach einem gemeinsamen Plan einen wirklich monumentalen Film schaffen, vielleicht sogar einen farbigen (auf irgendeinem spezi- ellen Filmstreifen), oder eine ganze Armee von Regisseuren, Kamera- männern, Schauspielern, Maschinisten einzustellen, sowie altertümli- che Städte, Schiffe (für Historienfilme) und dergleichen zu erbauen. Doch die Maschine wurde längst in Gang gesetzt, die Stars sind schon * [Anm.d.Hg.:] Edwin Jędrkiewicz (1889–1971), polnischer Schriftsteller. ** [Anm.d.Hg.:] Vermutlich ist Heinrich Kley (1863–1945) gemeint. Kley war ein in München prominenter Zeichner, Karikaturist (Mitarbeit an der Zeitschrift Simplicissimus) und Maler, der unter anderem mit vergleichenden Mensch-Tier- Darstellungen sowie mit Motiven der Krupp-Stahlwerke bekannt wurde. *** [Anm.d.Hg.:] Arnold Böcklin (1827–1901), Schweizer Maler, war ein Hauptver- treter des Symbolismus. 56 montage AV 22 /2 / 2013 engagiert, manche von ihnen wurden zur Geliebten des Regisseurs; Reklame, Zeitschriften und die ganze Filmliteratur nahmen ihre Ar- beit auf, um diese Stars und Filme zu vergöttern. Das Ausland greift inzwischen nach ihnen, wozu also noch Experimente machen, und – das ist ein rührendes Detail – Tausenden von Menschen ihr Brot nehmen! Der Philosoph Stanisław Brzozowski* hätte im Kino wohl ein ausgezeichnetes Beispiel dafür gefunden, wie sich das Kapital auf die Kunst auswirkt, nämlich ganz direkt – während die gekauften oder naiven Theoretiker noch nachzuweisen suchen, dass dieses oder jenes, das eigentlich nur mit der Rücksichtnahme auf Gewinn oder Kosten zu erklären ist, zum Wesen des Kinos gehöre. Während die Zukunft des herkömmlichen Films den Ingenieuren der Materie (des menschlichen Körpers und der Natur) gehört, so ge- hört die Zukunft des Zeichenfilms dem Zeichner und Dichter. Und eigentlich bürgen für den Kunst-Charakter des Kinos nur die Möglichkeiten eben dieser Filmgattung. Einen verbitterten Prozess gegen das Kino hat der deutsche Äs- thetiker Konrad Lange, Professor der Kunstgeschichte in Tübingen,** geführt.3 Lange ist Schöpfer einer sehr interessanten ästhetischen The- orie, des so genannten Illusionismus. Er behauptet, dass das Hauptmo- ment des künstlerischen Eindrucks die bewusste Selbsttäuschung sei.4 Obwohl diese Theorie von vielen in Frage gestellt wird, hat sie mich, wenn ich ehrlich sein soll, in mancherlei Hinsicht besser in ästhetische Fragen eingeführt als die Ausdrucksästhetik des italienischen Philo- sophen B. Croce.*** Vom Standpunkt seiner Theorie aus musste Lange das Kino bekämpfen, da es reine Natur bietet und die künstlerische Individualität ausschließt. Geschickt entschärft Lange verschiedene Scheinargumente gegen seinen Kampf und zeichnet dem Kino enge Grenzen vor: Pantomime, Groteske, phantastische Märchen. Doch ich * [Anm.d.Hg.:] Stanisław Brzozowski (1878–1911), polnischer Philosoph, der in Anschluss an Marx, Nietzsche und Bergson eine Philosophie der Arbeit entwickelte. ** [Anm.d.Hg.:] Der Tübinger Kunstwissenschaftler Konrad Lange (1855–1921) galt als akademische Stimme der konservativen Kinoreformbewegung in Deutschland. 3 Konrad Lange: Das Kino in Gegenwart und Zukunft, Stuttgart[: Enke] 1920. 4 Denen, die heute die alte Kunst zertrümmern, die Festung von Naturalismus und Realismus in Schutt und Asche legen wollen und meinen, damit etwas unerhört Neues zu leisten, muss ich mit Bedauern mitteilen, dass das einschlägige Werk von Lange, Das Wesen der Kunst [Berlin: Grote 1901], bereits vor zwanzig Jahren er- schienen ist. *** [Anm.d.Hg.:] Benedetto Croce (1866–1952), italienischer Philosoph und Ästhetiker. Der Zeichenfilm 57 kann hier nicht im Detail auf seine Ausführungen eingehen. Unter manchen Gesichtspunkten sind sie immer noch aktuell, gerade da es Autoren gibt, die ohne die Kenntnis ästhetischer Probleme über das Kino schreiben (wie Pordes oder Gad)* und es eben deshalb rühmen, weil es die Natur, die rohe Wirklichkeit in ihrer ganzen Pracht und Vielfalt nutze. (Pordes rät zum Beispiel dazu, nach Möglichkeit ech- te Handwerker, Verbrecher, Prostituierte, Soldaten, zufällige Passanten statt Schauspieler im Film einzusetzen). Nach Langes Tod führt W. Blo- em** dessen Ideen weiter, doch ist er weniger radikal. In der Rückkehr zu künstlichen Dekorationen – die in Deutschland zum Teil durch den schlechten Geldkurs bedingt ist, so etwa im Fall der Firma Decla (Caligari) oder bei Lubitsch – sieht Bloem die Möglichkeit, Langes ästhetische Postulate zu verwirklichen. Und doch wäre diese ganze Polemik gar nicht nötig, wenn Lange etwas genauer über den Zeichenfilm nachgedacht hätte, über den er nirgends ein Wort verliert. Denn der herkömmliche Film ist nur ein vorü- bergehender Ersatz für den Zeichenfilm. Den Zeichenfilm gering zu schät- zen, nur weil es bereits den photographischen Film gibt, wäre ebenso absurd, wie es absurd wäre, die Malerei aufzugeben, nur weil man den Mechanismus der Photographie erfunden hat. Im Kino war die Rei- henfolge indes eine andere: der Mechanismus eilte dem freien Schaffen voraus – oder bahnte er diesem überhaupt erst den Weg? Aus dem Polnischen von Brigitta Helbig-Mischewski * [Anm.d.Hg.:] Urban Gad (1879–1947), dänischer Filmregisseur, verfasste das Buch Der Film. Seine Mittel – seine Ziele (Berlin: Schuster & Loeffler 1920); Victor E[manuel]. Pordes (1881–1963), polnisch-jüdischer Publizist und Jurist, der ab 1919 in Wien lebte, wo er auch ein Buch zum Kino publizierte: Das Lichtspiel. Wesen, Dra- maturgie, Regie (Wien: Lechner 1919). ** [Anm.d.Hg.:] Siehe Walter Bloem d.J.: Seele des Lichtspiels. Ein Bekenntnis zum Film (Leipzig: Grethlein 1922). pixelS (Patrick Jean, F 2010): Eine Videospiel- Bombe im real- filmischen New York Hybrides Bild, hybride Montage Franziska Bruckner 1. Einleitung Parameter für die Zuordnung von Hybriden des Animations- und Realfilms sollten die Untersuchungsgegenstände exakt fassen kön- nen, ohne die Unterschiede der auf formaler, narrativer oder stilis- tischer Ebene divergierenden Filmformen zu nivellieren: Wirft man den Blick auf längere Formate, findet man sowohl in Blockbuster- Produktionen wie Avatar (James Cameron, USA/GB 2009), als auch in Serien wie Out of the Inkwell (Max Fleischer/Dave Fleischer, USA 1915–1924) und Dokumentarfilmen wie Walking with Dino- saurs (Tim Haines/Jasper James, GB 1999) Beispiele für Hybridfil- me. Noch vielfältiger gestalten sich die Variationen im hybriden Kurz- film, in dem visuelle und freie Arbeiten wie Trade Tattoo (Len Lye, GB 1937) auf Musikvideos wie Take on Me der Band Aha (Stevon Barron, GB 1985) und bemerkenswerte Werbungen wie Rock the Road für Suzuki (Lino Russel/Daniel Fraas, D 2007) treffen. Bei- nahe unzählig sind schließlich die Beispiele, in denen Animationen in Form von Titelgestaltungen, kleineren und größeren Spezialeffek- ten oder trickreichen Blenden mit realfilmischen Elementen verbun- den werden. In der bis dato dazu veröffentlichten Literatur liegt der Fokus häufig auf einer historischen Aufarbeitung markanter Hybrid- Spielfilme.1 Ebenfalls anzutreffen sind Untersuchungen über das Zu- sammenspiel des Realfilms mit einer bestimmten Animationstechnik oder narrativ motivierte Parameter. So beschäftigt sich Nicola Glau- bitz mit Zeichenfilmhybriden (vgl. 2007, 42), während sich Sebastian Richter vorwiegend auf das Zusammenspiel von Computeranimation 1 Vgl. etwa Schwebel; Telotte 2010. 60 montage AV 22 /2 / 2013 und Live-Action konzentriert (vgl. 2008, 67ff). Erwin Feyersinger legt für seine Untersuchungen zur Metalepse im Animationsfilm schließ- lich Parameter fest, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten hybrider Formen auf narrativer Ebene bestimmen zu können (vgl. 2007, 124). Eine Mischung aus inhaltlichen und ästhetischen Kriterien bilden die von Frederick S. Litten getroffenen Typisierungen, in denen ent- weder rein animierte Bilder und Live-Action durch Montage mitei- nander verbunden werden (Type 1), gezeichnete Charaktere sich in einer Realfilm-Umgebung bewegen (Type 2) oder umgekehrt Real- film-Figuren sich in einer gezeichneten, animierten Umgebung be- finden (Type 3). In den so genannten package features (Type 4) werden schließlich Type 2 und Type 3 und/oder Type 1 kombiniert. Immer dann, wenn zwei oder mehr unterschiedliche Animationstechniken mit Live-Action zusammentreffen, spricht Litten von Type 0. Eine zu- sätzliche inhaltliche Ebene bildet die Frage, ob animierte oder realfil- mische Figuren mit jeweils der anderen Filmgattung zugehörigen Ele- menten interagieren (vgl. 2011, 5). Littens Systematik, die für den Zeichenfilm der 1960er bis 1980er Jahre konzipiert wurde, kann mit geringen Modifikationen auf weite- re (digitale) Animationstechniken übertragen werden. In anderen Be- reichen zeigt sie aber Unschärfen, die eine Ausweitung auf weitere Hybridformate nicht ohne weiteres zulässt.2 So sollen laut Litten in erster Linie komplette Filme oder TV-Episoden und nur gegebenen- falls auch einzelne Sequenzen als hybrid definiert werden (vgl. ibid, 2). Da – auf einer Mikroebene betrachtet – in vielen Filmen aber eine Kombination aus Type 1, Type 2 und Type 3 festzustellen ist, müss- te ein Großteil der analysierten Filme als package features kategorisiert werden, ohne eine genauere Differenzierung treffen zu können. Ähn- 2 Frederick S. Littens Text wurde in meiner Lehrveranstaltung Medienübergänge: Hybri- de des Animations- und Realfilms im Sommersemester 2011 und Wintersemester 2012 am Institut für Theater- Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien vorge- stellt. Im Zuge der Verwendung des Textes für die Analyse von Hybridfilmen in den Abschlussarbeiten wird ersichtlich, dass die Kategorien auch für einige Filmbeispiele, die nicht mit analogem Zeichenfilm hergestellt wurden, greifen. Elisabeth Scharrer analysiert damit beispielsweise die Online-Serie De Monsters (Volstok Telefunken, NL 2009) (vgl. 2012, 4f), Anna Lukasser-Weitlaner verwendet das System für einzel- ne Sequenzen von The Green Wave (Ali Samadi Ahadi, D 2010) (vgl. 2012, 9f) und Ines Bind modifiziert für Avatar die gezeichneten Ebenen zu einem «synthetisch hergestellten Material» (2012, 8). Auf die Grenzen von Littens Systematik machen dagegen – auf inhaltlicher Ebene – Stefan Schweigler in seiner Bearbeitung von Les Triplettes de Belleville (Sylvain Chomet F/BE/CA/UK/LT 2003) (vgl. 2012, 5f) und – auf ästhetischer Ebene – Christian Lieb in Bezug auf den Rotoskopiefilm A Scanner Darkly (Richard Linklater, USA 2006) aufmerksam (vgl. 2012, 5f). Hybrides Bild, hybride Montage 61 liches gilt für die Verwendung mehrerer Animationstechniken inner- halb eines Films und damit für Type 0. Die Koppelung der diegetisch inszenierten Interaktion zwischen Animation- und Live-Action mit der Vermischung beider Filmgattungen im Bild und Schnitt erschwert zudem eine Anwendung auf experimentelle Hybridfilme. 2. Parameter hybrider Formen Die im folgenden Text entwickelten Parameter sollen daher an Lit- tens Vorhaben anschließend unterschiedliche Charakteristiken hyb- rider Formen beleuchten, ohne zwangsläufig auf technische Details oder Making-ofs zurückzugreifen (vgl. 2011, 3). Der Fokus liegt aber auf rein visuellen Merkmalen, schließlich bildet das Zusammenspiel von Animations- und Realfilm auf der Bildebene den gemeinsamen Nenner der eingangs erwähnten unterschiedlichen Hybridformate.3 Unabhängig davon soll diese formale Typologie sowohl auf komplette Filme als auch längere Sequenzen, kurze Szenen und selbst auf eini- ge wenige Einzelbilder anwendbar sein und alle Animationstechniken umfassen. Ein weiteres Ziel ist dabei die bis dato mitunter gezogene Trennung von analogen Mischfilmen und digitalen Hybridfilmen auf- zulösen.4 Diese Erweiterung folgt quasi als Umkehrschluss einer gän- gigen Argumentation innerhalb der Animation Studies, in der digitale Techniken, obwohl die Bewegungen oftmals nicht mittels Einzelbild- aufnahme generiert wurden, ebenfalls als Animationen gelten.5 Wenn man also CGI (computer generated imagery) in den Kanon der Anima- tionstechniken integriert, sollten umgekehrt analoge Verquickungen von Real- und Animationsfilm als Hybride betrachtet werden. Auch filmhistorisch gesehen bilden computergenierte Hybridfilme oftmals die Nachfolge analoger Praktiken, sei es innerhalb der Special- Effects-Tradition, sei es als intendierte Spielart in Mainstream- bzw. als Experiment bei Kurzfilmen. Diese historischen Verbindungslinien 3 Mein Dank gilt an dieser Stelle Erwin Feyersinger, der mir bei der Entwicklung der Parameter wichtiges Feedback und Hinweise gegeben hat. 4 Vgl. etwa Richter 2008; Giesen 2003. 5 Die Definition des analogen Animationsfilms bezieht sich auf den Prozess der Ein- zelbildaufnahme: «Animation is the art of creating movement, generally employing inanimate objects, but sometimes through the use of live figures whose movements are posed on frame-by-frame basis» (Furniss 1998, 76). Für die Eingliederung digi- taler Techniken als Animationen wurde diese Definition erweitert: «The art of ani- mation is the creation of moving images through the manipulation of all varieties of techniques apart from live action methods» (Statuten der ASIFA [asifa.net/asifa-wp/ about/asifa-statutes (letzter Zugriff am 25.11.2013)]). 62 montage AV 22 /2 / 2013 nachzuvollziehen, soll an dieser Stelle aber nicht im Fokus stehen. Bei den herangezogenen Filmbeispielen wurde vielmehr versucht, eine möglichst breite Streuung in Bezug auf Technik, Länge, Format und Produktionsjahr zu erzielen, um die Verwendbarkeit dieses Vademe- cums für ästhetische Analysen zu veranschaulichen. Als einzige Vor- rausetzung für die Parameter gilt, dass der Bruch zwischen Anima- tions- und Realfilm in irgendeiner Weise erfassbar sein muss, wobei die «Sichtbarkeit der animationsfilmischen Intervention [...] eng an die Sehgewohnheiten des Rezipienten gekoppelt» (Schrey 2009, 10) ist.6 A Animationstechnik(en) Welche und wie viele Animationstechniken werden verwendet? Die Definition der jeweiligen Animationstechnik7 – auch bei der Ana- lyse von reinen Animationsfilmen oftmals ein erster Schritt – weist darauf hin, welche Art der Hybridisierung mit realfilmischen Elemen- ten grundsätzlich möglich ist. Abseits technischer Details sind den un- terschiedlichen Animationsarten schließlich bestimmte visuelle Merk- male inhärent. In hybriden Filmen, in denen flächige Zeichnungen mit Realfilm8 interagieren – in erster Linie Zeichenanimationen, Cut- Out-Techniken, Direct Film, Modified-Base oder Sandanimationen –, differieren die animierten Bilder oder Bildteile per se von den foto- grafischen Bildern des Realfilms. So schreibt etwa Nicola Glaubitz: [D]em Detailreichtum fotografischer Bilder steht die Reduktion auf nicht oder kaum schattierte (Farb-)Flächen und starke Konturen in der Zeich- nung gegenüber. Zeichnungen bringen die Wahrnehmung nicht allein mit der Gleichzeitigkeit von gesehenem Bildobjekt und gesehenem Stil zum Oszillieren, sondern auch mit der gleichzeitigen Sichtbarkeit von Bildob- jekt und Bildmaterial, der ikonischen Differenz (Glaubitz 2007, 42). 6 Schrey bezieht sich dabei unter anderem auf historisch bedingte Sehgewohnheiten: «Die Bewegungen des Riesengorillas im Abenteuerfilm KING KONG (USA 1933) von Merian C. Cooper und Ernest B. Schoedsack wirken aus heutiger Perspektive unbeholfen und schwerfällig, die einzelnen Bilder der Stop-Motion-Sequenzen sind für das von nahezu perfekten Computeranimationen verwöhnte Auge deutlich als solche zu erkennen, dennoch empfand das Publikum der 1930er Jahre den Film als äußerst überzeugend» (ibid.). 7 Auf eine detaillierte Erklärung der einzelnen Animationstechniken wird hier ver- zichtet, vgl. dazu Furniss 2008, Giesen 2003 oder das kleine Glossar am Ende dieses Hefts. 8 Realfilm oder Live-Action wird an dieser Stelle als konstante Größe angenommen, wohl wissend, dass auch hier unterschiedlichste Filmstile zum Einsatz kommen. Hybrides Bild, hybride Montage 63 A1 Zeichenanimation Cool World (Ralph Bakshi, USA 1992) A2 Cut-Out-Techniken (Legeanima- tion/Silhouettenanimation) While aWake (Reut Pardo, IL 2009) A3 3D Stop-Motion-Techniken (Sachanimation, Pixilation, Puppenanimation, Claymation) vyNález zkázy (die erfiNduNg deS verderbeNS, Karel Zeman, CSSR 1957) 1 vyNález zkázy A4 3D Computeranimation (CGI) aliCe iN WoNderlaNd (Tim Burton, USA 2010) A5 Direct Film moviemeNto (Jurislav Tscharyiski AT 1987) trade tattoo (Len Lye, GB 1937) A6 weitere Techniken (Sandanimation, Modified-Base, Pinscreen, Stradacut etc.) paSCal gödel (Mara Mattuschka, AT 1986) 2 moviemeNto Bei einigen Stop-Motion-Techniken wie der Sachanimation oder der Pixilation, die ebenfalls mit fotografischen Bildern arbeiten, entsteht der ästhetische Bruch von Animation und Live-Action aber in ers- ter Linie durch eine sichtbare Differenz in der jeweiligen Bewegung von Objekt und Mensch. Puppenanimation und Claymation arbeiten dagegen mit einer Stilisierung innerhalb der Mise-en-Scène, sodass Unterschiede zwischen realfilmischen und animierten Settings oder Bildelementen auszumachen sind. Anschaulich zu beobachten ist dies beispielsweise an den kunstvoll zusammengefügten Unterwassersze- nen in Karel Zemans Vynález Zkázy (CSSR 1957), deren absicht- lich naive Gestaltung sowohl von den ursprünglichen Illustrationen in Jules Vernes Romanvorlage, als auch von den frühen Trickaufnah- men Georges Méliès’ inspiriert wurde. Die größte ästhetische Band- breite beinhaltet schließlich die dreidimensionale Computeranimation (CGI), die – wie in Tim Burtons Alice in Wonderland-Verfilmung (USA 2010) – mit einer Kombination aus Keyframe-Animation, Per- formance-Capture und in der Postproduktion veränderten Realfilm- aufnahmen realisiert wird und von gewollt visuellen Brüchen bis hin zu nahtlosen, nicht sichtbaren Übergängen alle graduellen Abstufun- gen bedient. Andere digitale Techniken – vor allem der computerun- 64 montage AV 22 /2 / 2013 terstützte Zeichenfilm und die digitale Legeanimation – entwickel- ten sich Schritt für Schritt aus ihren analogen Pendants und arbeiten dementsprechend mit einer ähnlichen Ästhetik. Als Fokus in den hier getroffenen Kategorien gelten daher ausschließlich stilistische Kriteri- en, egal ob einzelne Animationstechniken mit analogen oder digitalen Mitteln umgesetzt wurden. Falls in einem Film mehrere (visuell unterscheidbare) Animations- techniken zum Einsatz kommen, wie im Science-Fiction-Film Tron (Steven Lisberger, USA 1989), in dem CGI, analog produzierte Back- lit-Animationen, gezeichnete Effektanimationen und Realfilm aufei- nander treffen, sollte dies ebenfalls an dieser Stelle berücksichtigt wer- den (vgl. Litten 2011, 6). B Hybride Bilder: Bildebenen Auf welchen Bildebenen treffen Animations- und Realfilm aufeinander? Grundsätzlich können alle bisher genannten Animationstechniken9 mittels Hybridisierung durch Montage mit realfilmischen Sequenzen verbunden werden: In diesem Fall bestehen die Einzelbilder selbst aus reiner Animation oder Live-Action und die Verquickung findet erst im Schnitt statt. Betrachtet man aber das Verhältnis von Animations- und Realfilm im einzelnen Bild,10 ist ein weiteres Kriterium, auf welcher Bildebene sich die animierten Elemente befinden: In einigen Filmen sind diese – egal ob es sich um Objekte, Figuren oder Zeichen handelt – klar im Vorder- oder Mittelgrund des Bildes vor einem realfilmischen Hintergrund auszumachen. Ähnliches ist bei realfilmischen Elementen vor animierten Hintergründen zu beobachten, beide Formen findet man in den mittels Stop-Motion inszenierten Special-Effects von Jason and the Argonauts (Don Chaffey, GB/IT 1963). So agieren zwei ani- mierte geflügelte Harpyien, die den blinden Wahrsager Phineas tyran- nisieren, in erster Linie vor einem realfilmischen Setting. Umgekehrt wird im Kampf gegen den riesenhaften Telos die animierte Statue im filmischen Hintergrund in Szene gesetzt, während die realfilmischen Menschen vorwiegend im Vordergrund des Bildes agieren. In vielen Werken findet die Hybridisierung aber gleichzeitig auf allen Bildebenen statt, wie im experimentellen Musikvideo der Band 9 Die unter weitere Techniken subsumierten Animationsarten sind nur in den seltens- ten Fällen im selben Bild mit Live-Action verbunden. 10 Auch hier soll nicht weiter auf die Machart eingegangen werden. Für weitere Infos über technische Details vgl. etwa Flückiger 2008; Richter 2008. Hybrides Bild, hybride Montage 65 B1 animierte Elemente (Objekte/ Figuren/Zeichen) im Vorder- und/ oder Mittelgrund vor realfilmischem Hintergrund meiSter eder uNd SeiN pumuCkl (Ulrich König, BRD/HU/AT 1982/89) 3 JaSoN aNd B2 realfilmische Elemente (Objekte/ the argoNautS Figuren/Zeichen) im Vorder- und/ oder Mittelgrund vor animiertem Hintergrund JaSoN aNd the argoNautS (Don Chaffey, GB/IT 1963) B3 Animations- und Realfilm- elemente auf allen Bildebenen (Vorder-, Mittel- und Hintergrund) miteinander verbunden We got more (Cyriak, GB 2010) 4 We got more B4 Einstellung/Kader wirkt animiert, Bewegungen aber mittels Rotoskopie, Motion- oder Performance-Capture erzeugt WakiNg life (Richard Linklater, USA 2001) beoWulf (Robert Zemeckis, USA 2007) B5 rein animiertes bzw. realfilmisches Bild the hardeSt buttoN to buttoN (Michel Gondry, USA 2003) 5 WakiNg life Eskmo We Got More (Cyriak, GB 2010), in dem eine realfilmisch aufgenommene Straßenszene immer stärker geloopt, gespiegelt und digital bearbeitet wird. Eine Sonderstellung nehmen schließlich Fil- me oder Sequenzen ein, die oberflächlich betrachtet komplett ani- miert wirken, deren Bewegungen aber mittels Rotoskopie, Motion- oder Performance-Capture visualisiert werden. Da diese Verfahren auf mehrere Animationstechniken übertragbar sind, können sie nicht als eigenständiger Animationsstil gewertet werden,11 sehr wohl aber – wie Schrey argumentiert – als spezifische Verquickung von animierten und realfilmischen Elementen: 11 Litten sieht beispielsweise die Rotoskopie als eine Art «special effect for drawn ani- mation, not as an animation type itself» (Litten 2011, 2) und klammert diese daher komplett aus seiner Systematik aus. 66 montage AV 22 /2 / 2013 Auf diese Weise wird also weniger der Film selbst zum Hybriden, sondern vielmehr nur der rotoskopierte Körper der Protagonistin, in dem sich eine fließende Grenze zwischen den beiden Medien konstituiert. Auch hier ist wieder ein Bruch bzw. eine strukturelle Inkongruenz bemerkbar, in der sich das mediale Differential von Animations- und Realfilm verorten lässt (Schrey 2009, 18). Animationstechnisch gesehen wird die Animation also über das realfilmische Bild gelegt und befindet sich daher im Vordergrund, bild- analytisch betrachtet betrifft sie aber alle Bildebenen. Neben dem Zusammenspiel der beiden Filmgattungen auf unter- schiedlichen Bildebenen kann prinzipiell auch eruiert werden, ob Ani- mations- oder Realfilm-Techniken in den jeweiligen Einstellungen dominieren oder ob beide zu gleichen Teilen im Bild präsent sind. Da die Verteilung im Bild je nach Einstellungsgröße oder auch Be- wegung stark variiert, wird dies hier allerdings nicht als stabiler Para- meter etabliert. Als sinnvoll erweist sich dieser Aspekt aber dann, wenn eine zunehmende Vereinnahmung des realfilmischen Bildes die diege- tische Welt bestimmt. So verwandelt sich im Kurzfilm Pixels (Patrick Jean, F 2010) das real gefilmte New York durch Angriffe von Figuren oder Objekten aus Donkey Kong, Space Invaders, Tetris und Co. in animierte Pixel, bis schließlich die komplette Erde zu einem schwar- zen Kubus mutiert. Sollte ein Beispiel mehrere Animationstechniken beinhalten, ist eventuell eine zusätzliche Analyse notwendig, ob eine Animationstechnik im Bild überwiegt oder alle Animationstechniken annähernd gleichwertig zum Einsatz kommen. C Hybride Bilder: Brüche/Übergänge im Bild Wie sichtbar ist die Hybridisierung im Einzelbild? Wie bereits eingangs erwähnt, muss für die Wirksamkeit der hier etab- lierten Typologie der Bruch von Animations- und Realfilm in irgend- einer Weise für die Betrachter erfassbar bleiben. Während bei einigen Animationsarten bereits durch Bestimmung der jeweiligen Technik die (Un-)Sichtbarkeit des visuellen Bruchs festgelegt wurde, sollte man beispielsweise bei Stop-Motion oder CGI zusätzlich bestimmen, wie nahtlos die Übergänge zwischen den einzelnen Bildelementen vonstat- ten gehen. Sebastian Richter stellt hier optische Kombinationsbilder und Mischfilme, in denen sich die Animationsebene sichtbar von der Live- Action-Ebene abhebt, dem Digital Compositing gegenüber (vgl. 2008, 67ff), in welchem «sowohl computergenerierte als auch gefilmte Bild- Hybrides Bild, hybride Montage 67 C1 klar sichtbare Brüche/Übergänge der animations- und realfilmischen Elemente de moNSterS (Volstok Telefunken, NL 2009) C2 Brüche/Übergänge nicht klar er- sichtlich, Unterscheidung von anima- 6 de moNSterS tions- und realfilmischen Elementen immer noch möglich madame tutli-putli (Chris Lavis/Maciek Szczerbowski, CA 2007) C3 (fotorealistische) animierte Elemente fusionieren nahtlos mit realfilmischen, Wissen der Betrach- terinnen um Unmöglichkeit einer realfilmischen Darstellung der Objekte/Figuren/Zeichen/Hintergrün- de weist auf Animation oder Bildma- nipulation hin eNter the void (Gaspar Noé, F 2009) 7 madame tutli-putli anteile ununterscheidbar in hybriden Bewegungsbildern miteinander verschmolzen» (ibid., 80) werden. Er berücksichtigt aber nicht die Tat- sache, dass ein visueller Bruch – trotz aller technischer Möglichkeiten digitaler Animation – in vielen Fällen von den Filmemacherinnen forciert wird. Synthetisiert man aus Erwin Feyersingers narrativ mo- tivierten Abstufungen die visuellen Komponenten, sind intendierte «ästhetisch/aufnahmetechnisch stark unterschiedene Figuren [...] in einer gemeinsamen Welt», bei denen der «Unterschied [...] deutlich sichtbar» ist, zu trennen von Filmen, bei denen der «Hybridcharakter [...] durch unterschiedliche Darstellungs- und Aufnahmeverfahren [...] verschleiert» wird (Feyersinger 2007, 124).12 Die daraus resultierenden Abstufungen beinhalten einerseits klar im Bild sichtbare Grenzen ani- mations- und realfilmischer Elemente, wie in der Kurzfilmreihe De Monsters von Volstok Telefunken (NL 2009), in der zweidimensio- nale digitale Zeichenfiguren mit Menschen in alltäglichen Situationen 12 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Oliver Schmidt, wenn er sich mit der In- szenierung von hybriden und multiplen Bildwelten in Hollywoodblockbustern der Jahrtausendwende beschäftigt. Als spezielles Beispiel für die Betonung der Künst- lichkeit einer (digitalen) artifiziellen Bildwelt nennt er unterschiedliche Formen der Augmented Reality, in denen die reale oder realfilmische Ebene mit zusätzlichen Bildinformationen versehen wird (vgl. 2013, 293ff). 68 montage AV 22 /2 / 2013 agieren. Andererseits trifft man auf kaschierte bzw. fließende Übergän- ge von animierten und realfilmischen Elementen im Bild,wobei die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Animation und Live-Action immer noch gut ersichtlich ist.13 Ein anschauliches Beispiel dazu bil- det der Kurzfilm Madame Tutli-Putli (CA 2007): Hier wird eine surrealistische Bahnreise mittels Puppenanimation inszeniert, die Pro- tagonisten sind aber mit realfilmisch aufgenommenen Augen ausge- stattet. Und schließlich existieren hybride Bewegungsbilder im Sinne Richters, in denen die visuellen Effekte aufgrund des perfekt insze- nierten digitalen Realismus nicht erkennbar sind, die Bildmanipulatio- nen aber von den Zuschauerinnen aus dem Wissen heraus identifiziert werden, dass diese physikalisch nicht realisierbar sind. Unter anderem ist dies zu beobachten in Gaspar Noés enter the void (F 2009), wo unglaubwürdige Kamerafahrten durch Zimmer, Wände und in atem- beraubende Höhen auf die Verschmelzung von Live-Action und CGI hinweisen.14 D Hybride Montage: Kombination von Bildtypen In welcher Kombination treffen real- und animationsfilmische bzw. hybride Bilder mittels Schnitt/Montage aufeinander? Sobald das Verhältnis von Animations- und Realfilm im Einzelbild eruiert wurde, kann das Zusammenspiel der unterschiedlichen Bild- formen innerhalb einer hybriden Montage diskutiert werden. Einen ersten Schritt bildet dabei die Frage, welche zuvor definierten Bild- typen im Schnitt aufeinandertreffen. Nicola Glaubitz unterscheidet hierbei «Zeichentrickelemente (also einzelne Figuren, Gegenstände), die synchron in Realfilmkontexten erscheinen (bzw. Realfilmelemen- te in Zeichentrickkontexten), von Zeichentricksequenzen, die mit Re- alfilmabschnitten alternieren» (Glaubitz 2007, 42). Sie äußert sich aber nicht weiter über die Möglichkeit, dass neben animationsfilmischen und realfilmischen auch hybride Bilder zusammentreffen können. Frederick S. Litten subsumiert vor allem in den package features (Type 4) die Verbindung mehrerer hybrider Bilder, differenziert allerdings nicht die unterschiedlichen Arten des Zusammenspiels. Grundsätzli- 13 Bei Rotoskopiefilmen können dies auch animierte Bilder sein, bei denen realfilmi- sche Spuren transparent durchscheinen. 14 Sowohl die Titelsequenz als auch der zu Beginn des Films dargestellte Drogenrausch sind allerdings deutlich als 2D- bzw. 3D-Computernanimation zu erkennen (vgl. Rebernig 2011, 19). Hybrides Bild, hybride Montage 69 D1 (unterschiedliche) hybride Bilder und Realfilm Noteboek (Evelien Lohbeck, NL 2008) D2 (unterschiedliche) hybride Bilder und Animationsfilm the three CaballeroS (Norman Ferguson, USA 1945) D3 (unterschiedliche) hybride Bilder, Animations- und Realfilm 8 Noteboek eNChaNted (Kevin Lima USA/GB 2007) D4 (unterschiedliche) hybride Bilder während der kompletten Filmdauer faSt film (Virgil Widrich, AT 2003) D5 Animations- und Realfilm NeCo z aleNky (Alice, Jan Švankmajer, CS 1988) 9 faSt film che Möglichkeiten hybrider Montage sollen daher folgende Anhalts- punkte markieren: Einerseits alternieren (unterschiedliche) hybride Bildtypen mit Live-Action oder mit Animationsfilm, andererseits wer- den reine Animations- und Realfilmbilder in der Montage verbunden. Ebenfalls denkbar ist das Zusammenspiel von allen drei Bildtypen, wie beim Märchenfilm Enchanted (Kevin Lima, USA/GB 2007), in dem Zeichenfilmsequenzen eines klassischen Disney-Universums auf real- filmisch inszenierte und teilweise mit CGI verbundene Szenen treffen, die im zeitgenössischem New York spielen. In manchen Werken füllen hybride Bilder auch die komplette Dauer eines Films, wie in Virgil Widrichs filmhistorisch motiviertem Stop-Motion-Hybrid Fast Film (AT 2003), in dem Sequenzen ausgewählter Realfilme, Bild für Bild ausgedruckt, zu Figuren und Hintergründen gefaltet und anschließend zu einer «Verfolgungsjagd durch Filmverfolgungsjagden» (Tscherkass- ky 2003, o.S.) animiert wurden. Da die Typisierung der hybriden Bil- der zuvor bereits stattgefunden hat, können sie zudem noch genauer unterteilt werden. So ist es möglich, dass nur ein Hybridtyp mit ani- mations- und/oder realfilmischen Bildern zusammentrifft oder auch zur Gänze einen Film bestimmt oder mehrere unterschiedliche hybri- de Bildtypen interagieren, die entweder in der Technik, in der Vertei- lung auf der Bildebene oder der Sichtbarkeit variieren. 70 montage AV 22 /2 / 2013 E Hybride Montage: Dauer und Frequenz In welcher Länge und Frequenz wechseln real- und animationsfilmische Elemente oder auch hybride Bilder innerhalb des Films? Nach Bestimmung der Bildarten für die hybride Montage ist in ei- nem nächsten Schritt die Länge der einzelnen Abschnitte zu bestim- men oder festzustellen, in welcher Frequenz sie alternieren. Zudem kann festgelegt werden, ob man eine Makro- oder Mikroanalyse be- treiben will. Lange, gänzlich separat gehaltene und stilistisch abgeho- bene Sequenzen sind in allen unter Punkt D formulierten Variationen möglich und treten häufig als Titelsequenzen, als innerhalb der Die- gese angezeigter Traum oder als Erzählung sowie als virtuelle und pa- rallele Welten und metaphysische Wirklichkeiten in Erscheinung (vgl. Schmidt 2013, 122). Bei der Analyse dieser längeren Sequenzen ist außerdem festzulegen, in welchem zeitlichen Verhältnis innerhalb des Films die einzelnen Bildtypen stehen. Schließlich ist es ein wesentli- cher Unterschied, ob kürzere Sequenzen eines Animationsfilms und/ oder hybride Bilder in einen Realfilm eingebettet werden oder kur- ze Live-Action-Sequenzen einen Zeichenfilm rahmen. Der Wechsel unterschiedlicher Bildtypen kann aber auch innerhalb einer Sequenz oder Szene im Sinne einer Découpage stattfinden: entweder über die komplette Dauer eines Films oder innerhalb einer – in der Makro- analyse definierten – hybriden Szene, wie beispielsweise bei Termi- nator ii: Judgment Day (James Cameron, USA/F 1991). In besagter E1 lange separate Sequenzen moNty pythoN aNd the holy grail (Terry Gilliam/Terry Jones, GB 1974) faNtaSia (James Algar/Samuel 10 termiNator ii: Armstrong, USA 1940) JudgmeNt day E2 Wechsel einer Szene/Sequenz durch verschiedene Einstellungen termiNator ii: JudgmeNt day (James Cameron, USA/F 1991) E3 Wechsel innerhalb einer einzigen Einstellung (ohne sichtbaren Schnitt) NeighbourS (Norman McLaren, CA 1952) E4 Wechsel wiederholt innerhalb weniger Kader CoNStaNt ChaNge (David Fincher, USA 2004) 11 NeighbourS Hybrides Bild, hybride Montage 71 Sequenz dupliziert der aus flüssigem Metall bestehende T-1000 in ei- ner Nervenheilanstalt zuerst einen Polizisten und ermordet ihn an- schließend. Hybride Bilder, CGI und Live-Action alternieren bei bei- nahe jedem Einstellungswechsel. Mehrmals innerhalb einer einzigen Einstellung15 und oftmals ohne sichtbaren Schnitt, erfolgt der Wechsel bei CGI oder Stop-Motion, wie zum Beispiel in Norman McLarens Neighbours (CA 1952), wo sich realfilmisch gedrehte und mittels Pi- xilation animierte Sequenzen im nachbarschaftlichen Kampf um eine begehrenswerte Blume wiederholt ablösen. In der häufigsten Frequenz alternieren die unterschiedlichen Bildtypen schließlich, wenn sich der Wechsel innerhalb weniger Kader wiederholt vollzieht. F Hybride Übergänge Wie gestalten sich die Übergänge zwischen den einzelnen Bildtypen? Als letzter Punkt dieser formalen Nomenklatur sollen die Übergänge zwischen den einzelnen Bildtypen unter die Lupe genommen werden. Wie bei der realfilmischen (und animationsfilmischen) Montage ist die häufigste Form des Zusammentreffens der harte Schnitt, gefolgt von einfachen Auf-, Ab- und Überblendungen. Im Sinne einer hybriden Betrachtungsweise sind Letztere vor allem deshalb von Interesse, weil für die Zeitspanne einer Überblendung – beispielsweise von rein ani- mierten und realfilmischen Bildern – sich theoretisch gesehen stetig verändernde hybride Bilder ergeben, «da gleichzeitig animations- und F1 harter Schnitt F2 Auf-, Ab- und Überblendung Star WarS (George Lucas, USA 1977) F3 Trickblende/animierte Blende batmaN (William Dozier, USA 1966–1968) blaCk or White (John Landis, USA 1991) F4 Übergänge im Schnitt nicht er- kennbar fight Club (David Fincher, USA 1999) 12 batmaN 15 Hierbei ist immer von perzeptiven Einstellungen die Rede, also der kontinuier- lich-visuellen Darstellung eines Ausschnitts aus einem Raum-Zeit-Kontinuum und nicht von einem Filmabschnitt, der in einem einzelnen Aufnahmevorgang belichtete wurde. 72 montage AV 22 /2 / 2013 realfilmische Elemente ‹im selben Bild› vorhanden sind» (Schrey 2009, 18). Besonderes Augenmerk sollte außerdem auf animierte Blenden gerichtet werden, wie die für die Serie Batman (William Dozier, USA 1966–68) extra angefertigte, aus einem farbigen Batmanzeichen beste- hende Trickblende. Sie ergeben zusammen mit realfilmischem Footage ebenso kurze hybride Bilder wie viele – heutzutage bereits in einfa- chen Schnittprogrammen enthaltene – digitale Überblendungseffek- te. Eine spezielle Form der digitalen, animierten Montage bietet der Morphing-Effekt, der – unter anderem in Michael Jacksons Musikvi- deo Black or White (John Landis, USA 1991) – realfilmisch aufge- nommene Personen unsichtbar miteinander verschmelzen lässt und laut Barbara Flückiger grundsätzlich eine in die fotografische Domäne übertragene Keyframe-Animation darstellt (vgl. 2010, 24). Weitere im Schnitt nicht sichtbare Übergänge decken sich in ihrer Definition teil- weise mit der bereits vorgestellten Kategorie E3: Während unter Punkt E aber die Frequenz innerhalb einer Einstellung im Vordergrund steht, werden nun hierunter alle unsichtbaren Übergänge subsumiert, sei es zwischen zwei Einstellungen, Szenen oder kompletten Sequen- zen, wie der Beginn von Fight Club (David Fincher, USA 1999), der eine «computergenerierte Fahrt durch Hirnstrukturen ohne sichtba- ren Schnitt mit gefilmtem Bildmaterial, das ein menschliches Gesicht zeigt» (Richter 2008, 14), kombiniert. 3. Hybride Analysen Die hier vorgeschlagene Systematik soll die einzelnen Beispiele keines- falls in ein starres Raster bzw. ‹Schubladensystem› zwängen, sondern den inhärenten Merkmalen der einzelnen Filme flexibel angepasst werden. Einzelne Parameter können daher je nach Bedarf ausgeklam- mert, fokussiert oder unterschiedlich kombiniert werden. Um eine mögliche Anwendung anschaulich zu illustrieren, werden nun drei ausgewählte – stilistisch möglichst heterogene Kurzfilme – unter den eben skizzierten Kategorien einer kurzen Analyse unterzogen: A Hybrider Spuk Vormittagsspuk (Hans Richter, D 1928) gilt als Klassiker des dadais- tischen Avantgardefilms und ist nach Richters abstrakten Animationen die erste Arbeit, in der narrative Elemente Eingang finden. Im Film rebellieren Gegenstände gegen Menschen, treiben Unfug in Haus und Garten, während die menschlichen Protagonisten verblüfft und mit- Hybrides Bild, hybride Montage 73 13–14 vormittagSSpuk unter hilflos auf den Spuk reagieren. Ein Großteil des Films sowie ei- nige Spezialeffekte werden mit realfilmischen Mitteln umgesetzt, ein geringerer Part mittels Sachanimation, Pixilation, analoger Cut-Out- und Silhouettenanimation: Man kann also im Sinne einer Makroana- lyse von animierten Sequenzen sprechen, die in einen experimentellen Realfilm eingebettet sind. Die Animationen selbst bestechen trotz der einfachen Ausformun- gen durch ihre vielfältige Stilistik. So weisen einige mit Stop-Motion umgesetzte Szenen – wie am Tisch tanzende Pistolen, eine Blätter auf- bauende Pflanze oder sich selbst mit Kaffee füllende Tassen – aufgrund der deutlich veränderten Bewegungsform bzw. der Unmöglichkeit einer realfilmischen Darstellung auf ihren animierten Charakter hin. Weitere animierte Bilder differieren deutlicher von den realfilmischen Bildern: Dies ist vor allem im Zusammenhang mit einer mehrmals ge- zeigten Zielscheibe, auf der mittels Legeanimation animierte Körper- teile von Menschen rotieren oder Kreise der Scheibe selbstständig als abstrakte Zeichen vor unterschiedlichen Fotografien agieren, zu be- obachten. Zu keinem Zeitpunkt findet aber eine Hybridisierung von Animations- und Realfilm innerhalb eines Bildes statt. In der hybriden Montage treffen die eben definierten Bildtypen in der Regel in unterschiedlichen Einstellungen mittels hartem Schnitt aufeinander, wobei eine Anhäufung animierter Bilder zu Beginn und am Ende der Arbeit ins Auge sticht. Während die Animationen in den Anfangs- und Endsequenzen aber regelmäßig mit Live-Action-Ein- stellungen alternieren, werden in der Mitte des Films die Effekte – bis auf eine Ausnahme – mit realfilmischen Mitteln wie langen Blenden, gekippter Kamera oder duplizierten Bewegungsabläufen umgesetzt. Ein übergreifender, also sowohl für realfilmische als auch animierte Sequenzen angewandter Spezialeffekt ist die wiederholte Verwendung von Negativkopien des jeweiligen Filmmaterials. Ein interessanter As- pekt im Sinne hybrider Übergänge ist gleich zu Beginn des Films zu 74 montage AV 22 /2 / 2013 beobachten: Kragen und Fliege am Hals eines Protagonisten machen sich selbstständig. Hier erfolgt nicht nur ein wiederholter Wechsel zwi- schen Animations- und Realfilm innerhalb einer Einstellung, die flie- ßenden Übergänge sind zudem in der Montage kaum erkennbar. B Hybride Liebe In Jonas Odells Aldrig Som Första Gången! (Never Like the First Time!, S 2006) erzählen vier Personen unterschiedlichen Alters und Geschlechts von ihren ersten sexuellen Erfahrungen. Die 2002 aufge- nommenen Interviews des 14 Minuten und 30 Sekunden dauernden Kurzfilms sind in ebenso vielen – etwa gleich langen – Episoden visu- alisiert, wobei jeder Abschnitt mit unterschiedlichen Animationsstilen und Techniken arbeitet. Im ersten Teil verbindet Odell mittels digitalem Cut-Out gezeich- nete und fotografische Elemente, bei denen die unterschiedliche Materialstruktur deutlich hervorgehoben wird. Kapitel vier arbeitet 15–16 Never like the firSt ebenfalls mit digitalem Cut-Out, die Ästhetik des Bildmaterials wird, time! entsprechend der vom Erzähler heraufbeschworenen 1920er Jahre, aber der alter Postkarten, Modeillustrationen und Papier-Anziehpup- pen angeglichen und mit 3D-Kamerafahrten kombiniert. In Teil zwei und drei sind dagegen hybride Bilder festzustellen, vor allem weil in beiden Kapiteln die Bewegungen der Protagonisten mittels Rotosko- pie-Verfahren generiert sind. Belässt man es in Bezug auf Never Like the First Time! bei einer Makroanalyse, lässt sich feststellen, dass un- terschiedliche hybride und animationsfilmische Bilder in Form von langen, separaten Sequenzen miteinander kombiniert werden. Für eine Mikroanalyse bietet sich nun an, einen der beiden als hyb- rid kategorisierten Abschnitte nochmals genauer zu betrachten: In Ka- pitel zwei berichtet eine junge Frau, wie sie und ihr damaliger Freund Hybrides Bild, hybride Montage 75 sich während wöchentlicher Besuche über einen längeren Zeitraum langsam an ‹das erste Mal› herantasteten. Auf der Bildebene wird dies mittels umrisshaft-digitaler Zeichenanimationen vor bunten fotogra- fischen Hintergründen wie einer U-Bahn-Station, einer tristen Vor- stadtsiedlung und einem kargen Jugendzimmer dargestellt. In einigen Hybrid-Beispielen wäre nun davon auszugehen, dass der Vordergrund animiert und der Hintergrund realfilmischen Ursprungs ist. Nicht so hier: Während die Hintergründe entweder statisch bleiben oder von eindeutig digital erzeugten Kamerabewegungen erschlossen wer- den, erzeugt Odell die Bewegungen der umrisshaften Protagonistin- nen eindeutig mittels Rotoskopie bzw. Motion-Capture. Zusätzlich können in diesem Fall realfilmische Figuren im Vordergrund vor ei- nem animierten Hintergrund eruiert werden, wobei die Übergänge innerhalb des hybriden Bildes klar sichtbar sind. Betrachtet man die Montage, kann man von einem hybriden Bildtyp sprechen, der bei- nahe durchgehend die Sequenz bestimmt und nur an wenigen Stel- len mit rein animationsfilmischen Bildern alterniert. Die Montage erfolgt durch Einstellungswechsel innerhalb der Sequenz, die Über- gänge meist durch harte Schnitte, in zwei Fällen in Form von kurzen Schwarzblenden. Beginn und Ende des Abschnitts markieren jeweils animierte Übergänge, welche die Sicht durch die Fenster einer vorbei- fahrenden U-Bahn auf das gegenüberliegende Bahngleis simulieren. C Hybrides Experiment Im filmnostalgisch angehauchten Kurzfilm camera obscura (Matthi- eu Buchalski/Jean-Michel Drechsler/Thierry Onillon, F 2007) über- trägt eine neuartige, äußerlich an analoge Filmprojektoren erinnernde Erfindung die Filmbilder direkt in den Kopf eines Blinden. Animierte Gestalten entsteigen der Leinwand, bevölkern den leeren klinischen Raum der Versuchsanordnung und erschrecken den blinden Proban- den. Dabei treffen animierte und realfilmische Bilder in unterschied- lichsten Bildtypen aufeinander. So besteht beispielsweise der Beginn des Films, als der Protagonist auf einem Stuhl in der Mitte des lee- ren Raumes Platz nimmt, aus realfilmisch gedrehtem Material. Ebenso gänzlich mit Live-Action-Footage realisiert sind Erinnerungssequen- zen, die dem Protagonisten schließlich die Furcht vor den projizierten Wesen nehmen. Sobald die Übertragung beginnt, erobern einfache, mittels CGI realisierte, gesichtslose Holzpuppen, Musikinstrumen- te und ein Elefant den Zuschauerraum. Animierte und realfilmische Elemente treffen aber auch in hybriden Bildern aufeinander: Zwar ist 76 montage AV 22 /2 / 2013 17–18 Camera obSCura aufgrund des leeren Raumes kein Hintergrund zu identifizieren, der sich als realfilmisch oder animiert benennen ließe. Da aber die Einstel- lungsgrößen und Blickwinkel stark variieren, befinden sich in man- chen hybriden Bildern die animierten Wesen im Vordergrund, dann wieder die realfilmische Figur und in einigen Einstellungen bewegen sich sowohl Animation als auch Live-Action im Mittelgrund des Bil- des. Als klar sichtbar erweisen sich dagegen die Grenzen zwischen den animations- und realfilmischen Elementen in den einzelnen Bildern. In der Montage treffen nun alle eben beschriebenen Bildformen aufeinander, wobei sich die unterschiedlichen hybriden Bilder sowie Animations- und Realfilm während der gesamten Dauer des Films in Form einer klassischen Découpage abwechseln. Die Übergänge be- stehen auch hier meist aus einfachen Schnitten und Überblendungen, einzig am Ende des Films überdecken die animierten Figuren, nun kurz als Silhouetten dargestellt, nach und nach das Bild und bewirken damit eine animierte Abblende. 4. Fazit Die hier skizzierte, streng auf visuelle Merkmale ausgerichtete Typo- logie soll einen Fokus auf formale Aspekte der jeweiligen Beispiele werfen und als erster Schritt verstanden werden, um Hybriden des Animations- und Realfilms auf die Spur zu kommen. Im Vergleich zu Frederik S. Littens Systematik, die den Anstoß zu den Parametern gegeben hat, kann hier aufgrund der Trennung von formalen und inhaltlichen Belangen der Diversität unterschiedlichster Hybridfilme besser entsprochen werden. Anstatt den zu untersuchen- den Filmkorpus wie bei Litten in vorgefertigte Kategorien zu pressen, ermöglicht die hier vorgenommene Entkopplung der einzelnen hyb- riden Blickwinkel innerhalb des Bildes bzw. der Montage zudem eine flexible Anpassung, wobei die Kategorien selbst Richtlinien bilden Hybrides Bild, hybride Montage 77 und bei Bedarf modifiziert werden können. Manche Parameter wer- den dabei in den einzelnen Beispielen öfter vorzufinden sein als ande- re, grundsätzliches Ziel ist schließlich die Erfassbarkeit aller Hybridfil- me, egal welche Form sie in Bezug auf analoge oder digitale Technik, Länge, Format und Entstehungszeitpunkt annehmen. Die unter ande- rem von Feyersinger und Litten gestellten Fragen – aus welcher Inten- tion heraus die beiden Filmgattungen jeweils miteinander verbunden werden, wie eine Interaktion innerhalb der Diegese festzumachen ist und ob Hybridisierungstenzenden auch abseits der filmtechnischen Umsetzung, beispielsweise in Bezug auf Filmgenres oder interkulturel- le Aspekte, erfolgen – können selbstverständlich zusätzlich in den Blick genommen werden, spielten hier aber kaum eine Rolle. Ein weiterer Vorteil ist die unkomplizierte Anwendbarkeit der Pa- rameter sowohl auf einer Makroebene – also zur schnellen Einglie- derung in einen hybriden Filmkorpus – als auch auf einer an den Beispielen exemplifizierten Mikroebene: Noch präzisere Ergebnis- se wären beispielsweise zu erzielen, wenn die die ausgewählten Fil- me mit Hilfe eines nach hybriden Parametern modifizierten Einstel- lungsprotokolls untersucht würden. In beiden Fällen könnte nach erfolgter Typologisierung eine – eingangs skizzierte – neue histori- sche Verortung in Bezug auf hybride Tendenzen innerhalb der Film- geschichte vorgenommen werden. Im Idealfall würden schließlich durch die Anwendung der hier vorgestellten Parameter auch Filme berücksichtigt, die bisher noch nicht als hybrid klassifiziert wurden, sehr wohl aber mit unterschiedlichen Techniken des Animations- und Realfilms arbeiten. Literatur Bind, Ines (WS 2011/12) Hybridfilm – Hybridität im Film. Verhandlungen von Hybridität an James Camerons Avatar. Bac. Universität Wien. Feyersinger, Erwin (2007) Diegetische Kurzschlüsse wandelbarer Welten. Die Metalepse im Animationsfilm. In: Montage AV 16,2, S. 113–130. Flückiger, Barbara (2008) Visual Effects. Filmbilder aus dem Computer. Marburg: Schüren. – (2010) «Liquid Selves». Zur Transformation von Körpern. In: Techniken der Metamorphose. Positionen zum Animationsfilm, Maske und Kothurn 56,4, S. 23–39. Furniss, Maureen (2008) The Animation Bible. A Practical Guide to the Art of Ani- mating from Flipbooks to Flash. New York: Abrams. 78 montage AV 22 /2 / 2013 – (1998) Art in Motion. Animation Aesthetics. London: John Libbley. Giesen, Rolf (2003) Lexikon des Trick- und Animationsfilms. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf. Glaubitz Nicola (2007) Reanimation des Spielfilms. In: Spielformen im Spielfilm. Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne. Hg. v. Rainer Leschke & Jochen Venus. Bielefeld: Transcript. S. 41–66. Lieb, Christian (WS 2011/12) Hybridität als permanente Symbiose. Am Beispiel von A Scanner Darkly. Proseminar-Arbeit, Universität Wien. Litten, Frederik S. (2011) A Mixed Picture. Drawn Animation/Live Action Hybrids Worldwide from the 1960s to the 1980s [litten.de/fulltext/mixedpix.pdf (letz- ter Zugriff am 24.04.2011)]. Lukasser-Weitlaner, Anna (WS 2011/12) The Green Wave. Fiktion und Reali- tät werden eins! Proseminar-Arbeit, Universität Wien. Rebernig, Cornelia (WS 2011/12) Das Wesen des Raumes in Hybrid und Anima- tionsfilmen. Das Zusammenspiel von Raum und Diegese. Bac. Universität Wien. Richter, Sebastian (2008) Digitaler Realismus. Zwischen Computeranimation und Live-Action. Die Neue Bildästhetik in Spielfilmen. Bielefeld: Transcript. Scharrer, Vanessa (WS 2011/12) Das Hybride an Volstoks de monsters. Prosemi- nar-Arbeit, Universität Wien. Schmidt, Oliver (2013) Hybride Räume. Filmwelten im Hollywoodkino der Jahrtau- sendwende. Marburg: Schüren. Schneider, Irmela (1997) Von der Vielsprachigkeit zur ‹Kunst der Hybridation›. Diskurse des Hybriden. In: Hybridkultur. Medien, Netze, Künste. Hg. v. Irmela Schneider & Christian W. Thomsen. Köln: Wienand 1997. S. 13–67. Schrey, Dominik (2009) Zwischen den Welten. Intermediale Grenzüberschrei- tungen zwischen Animation und Realfilm. In: Filmblatt 41,10, S. 5–19. Schwebel, Florian (2010) Von Fritz the Cat zu Waltz with Bashir. Der Ani- mationsfilm für Erwachsene. Marburg: Schüren. Schweigler Stefan (WS 2011/12) Nostalgisch-transmediale Hybridsequenzen in Les Triplettes de Belleville. Proseminar-Arbeit, Universität Wien. Telotte, J.P. (2010) Animating Space. From Mickey to Wall–E. Kentucky: Univer- sity Press. Tscherkassky, Peter (2003) Fast Film. Synopsis [www.amourfoufilm.com/film/ fast-film (letzter Zugriff am 11.08.2013)]. Wissen als Animation Zur Transformation der Anschaulichkeit im Gesundheitsaufklärungsfilm Anja Laukötter Noch vor der Wende zum 20. Jahrhundert wurde das Medium des Films von zahlreichen Medizinern in den USA und vielen europäischen Län- dern in ihre Arbeit einbezogen. So erstellte der Radiologe John Macin- tyre in Glasgow im Jahr 1897 erste Röntgenfilme von Gliedmaßen und aktiven Organen, Ludwig Braun machte in Wien Aufnahmen von sich bewegenden Bakterien und einem schlagenden Hundeherzen und der rumänische Wissenschaftler Gheorge Marinesco führte 1898 in Paris Bilder von Bewegungsabfolgen bei Menschen mit motorischen Stö- rungen vor. Der Neurologe Paul Schuster zeigte in Berlin Filme von Patienten mit Bewegungsdysfunktionen und der französische Medizi- ner Eugène Louis Doyen wurde zu Beginn des Jahrhunderts für sei- ne Operations-Aufnahmen bekannt.1 Mit dem Film wurden visionäre Vorstellungen verbunden – er schien neue Sichtbarkeiten zu ermögli- chen und wurde so attraktiv für Forschung wie Lehre.2 Damit avan- cierte die Kamera zur einer apparativen Erweiterung des klinischen Blicks als einem zentralen medizinischen Erkenntnissinn. 1 Für eine ausführliche Darstellung zur internationalen Entwicklung vgl. Bonah/Lau- kötter 2009. 2 Um die Jahrhundertwende hatte die Medizin das Medium nicht nur in ihre Arbeit integriert, sondern war zugleich auch an der technischen Weiterentwicklung betei- ligt wie zum Beispiel der Berliner Chirurg Alexander von Rothe, der die Aufnah- men von Operationen mit einem neukonstruierten Apparat («Rothesche Apparat») revolutionierte: die Kamera war zugleich Scheinwerfer und direkt über dem OP- Tisch positioniert. Damit war das zentrale Problem der Antisepsis gelöst und zu- gleich die Perspektive der Aufsicht standardisiert; vgl. Keitz 2005, 125. 80 montage AV 22 /2 / 2013 Während die Integration des Films in die medizinische Forschung schnell voranschritt, war dessen Etablierung als Vermittler medizini- schen Wissens durchaus mit Widerständen verbunden. Denn die Frage, welche Form Gesundheitsaufklärungsfilme haben sollten, um die not- wendige Anschaulichkeit medizinischen Wissens zu garantieren, war zwischen Filmproduzenten, -regisseuren, Medizinern, Politikern und dem Publikum umstritten. So wurde durch Veränderungen der Nar- ration, Montage, Dramaturgie etc. immer wieder neu versucht, diese Filme ‹effektiv› zu machen, also eine eindringliche emotionalisieren- de Wirkung für die Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte zu erzielen. Entsprechend bediente man sich insbesondere im Bereich der Bild- ästhetik verschiedenster Visualisierungen von Krankheiten und ihren Folgen. Bezeichnend war dabei, dass zwar überwiegend ‹Realfilme› gedreht wurde, aber zugleich zahlreiche andere Modi der Darstellung wie mikroskopische Aufnahmen, aufwendige Moulagen, Karten, Dia- gramme, Statistiken, grafische Darstellungen, Vorher-Nachher-Bilder und auch und vor allem Animationen integriert wurden. Diese ver- schiedenen Modi der Repräsentation sind relational: Sie stehen in Ab- hängigkeit zueinander, um in ihrem Wechselspiel das Argument des Films plausibel zu machen (vgl. Curtis 2013, 6). Mittels einer genaue- ren Betrachtung der jeweiligen Relevanz der Animationen kann aller- dings, unter Bezugnahme auf die institutionellen Kontexte, verdeut- licht werden, wie mit der zunehmenden Bedeutung der filmischen Dokumentation in der Medizin auch eine Veränderung des Sehens und des Wissens über den Körper und seine (Dys-)Funktionen einherging. Institutionelle Kontexte In den beginnenden 1910er Jahren entstanden im Deutschen Kaiser- reich und anderen Ländern wie Frankreich oder den USA zunehmend Filme, die im Rahmen von umfassenden Gesundheitsaufklärungskam- pagnen eingesetzt wurden, um zur Prävention und zur Bekämpfung von Krankheiten beizutragen. Diese unterschieden sich im Hinblick auf die Narration, das adressierte Publikum und die Aufführungsorte wesentlich von den bisherigen Unterrichts- und Wissenschaftsfilmen. Einhergehend mit erheblichen filmtechnischen Neuerungen wurden sie im kommerziellen Kino oder auch in Sondervorführungen in Ver- einen, Schulen oder anderen Einrichtungen in Städten wie auf dem Land angepriesen.3 Damit war der Beginn der bis heute andauernden 3 Vgl. hierzu für Frankreich: Vignaux 2007, 35; für die Weimarer Zeit vgl. Schmidt 2000, 59. Wissen als Animation 81 Produktion von sogenannten medizinischen Aufklärungsfilmen mar- kiert, also von nicht- oder teilfiktionalen Filme über medizinisches Wissen mit belehrendem Charakter.4 Explizites Ziel war es, durch die Filme neueste wissenschaftliche Erkenntnisse über die Ansteckungswe- ge von bestimmten Krankheiten (vor allem Tuberkulose, Pocken und Syphilis) bzw. über deren Nicht-Übertragbarkeit (wie bei Krebs), des Weiteren über die Erkennung von Krankheitssymptomen, über Hei- lungsansätze sowie über die Prävention von Krankheiten zu vermit- teln. Der Zuschauer sollte künftig gesundheitsgefährdende Handlun- gen nicht nur erkennen, sondern auch verhindern können.5 In diesem Sinne waren die Filme als eine Form der Erziehung zur Selbstsorge gedacht (vgl. Foucault 1989 [1984]). Vor diesem Hintergrund können sie auch als Instrument zur Analyse, Regulierung und Rekonfigurati- on eines unkontrollierbar erscheinenden Körpers betrachtet werden (vgl. Cartwright 1995). Die Zeit von der Jahrhundertwende bis unmittelbar nach dem Zwei- ten Weltkrieg lässt sich trotz gewisser national-spezifischer Entwicklun- gen insgesamt als eine intensive, stark expandierende Phase dieser Filme bezeichnen, die vor allem durch enge Kooperation von staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen wie der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, dem Deutschen Zentralko- mitee zur Bekämpfung der Tuberkulose oder der US-American Social Hygiene Assosiation (ASHA) geprägt war. Oftmals waren in die Her- stellung der Filme größere Produktionsfirmen involviert wie Pathé und Gaumont in Frankreich.6 Für den deutschen Raum wurde die Pro- duktion und Verbreitung dieser Filme durch die Gründung des Me- 4 Trotz seiner weiten Verbreitung in zahlreichen Industrienationen haben diese Filme bisher wenig Aufmerksamkeit in der deutschen (film)historischen und filmwissen- schaftlichen Forschung gefunden. Ausnahmen hierzu sind selbstverständlich: Jung/ Loiperdinger 2005; Kreimeier/Ehmann/Goergen 2005. Für andere europäische Länder und für die USA liegen hingegen einige Monografien oder Sammelbän- de zum Thema vor: Bonah/Cantor/Laukötter 2013/2014; Boon 2008; Orgeron/ Orgeron/Streible 2011; Acland/Wasson 2011; Zimmermann 2011; Reagan/Tomes/ Treichler 2007; Ostherr 2005. 5 Beispiele hierfür sind Filme wie Geschlechtskrankheiten und ihre Folgen (Curt Thomalla/Nicholas Kaufmann, D 1919), Die Pocken. Ihre Gefahren und ihre Be- kämpfung (Curt Thomalla, D 1920), Personal Hygiene for Young Men (Public Health Service, USA 1924), La contagion par les crachats (Jean Benoît-Lévy, F 1925–1930), Le baiser qui tue (Jean Choux, F 1927), Malaria (Walter Ruttmann, D 1938), Choose to Live (W. Allen Luey, USA 1940) und Fight Syphilis (Owen Murphy, USA 1942). 6 Vgl. insgesamt hierfür u.a.: Eberwein 1999, 21f; Brandt 1985; Vignaux 2007; Lefebvre 1996; Loubatières 1932. 82 montage AV 22 /2 / 2013 dizinischen Filmarchivs, das der Kulturabteilung der Universum Film AG (UFA) zugeordnet war, stark mobilisiert. Aber auch einzelne Ak- teure wie die Mediziner Curt Thomalla und Nicholas Kaufmann in Deutschland oder Jean Benoît-Lévy und Jean Painlevé in Frankreich schufen als Regisseure, Drehbuchautoren und wissenschaftliche Bera- ter mannigfache Verbindungen zwischen den verschiedenen Einrich- tungen und Interessenlagen (vgl. Keitz 2005, 124; Millet 1994, 86–94). Ästhetische Horizonte In diesem Kontext spielte die Animation als eine über die fotografi- sche Darstellung des Körpers und seiner Krankheiten hinausgehen- de Technik eine wichtige Rolle. Dabei war natürlich die Sichtbarkeit dieser Intervention eng an Sehgewohnheiten der Zeit gekoppelt (vgl. Crary 1992; Schrey 2009). Zugleich sind ihre vielfältigen Applikatio- nen und Funktionen ein Hinweis auf ihre zentrale Bedeutung für die grundlegende Modellhaftigkeit unseres Wissens vom Körper. Die Bedeutung von Trickfilmen für Lehr- und Kulturfilme wurde in den 1920er Jahren umfassend diskutiert. Ähnlich wie in Russland gab es zahlreiche Versuche, das Animationskino von seinem unterhal- tenden, werbenden Charakter (im Sinne eines Julius Pinschewer) zu einem wissenschaftlichen, informativen und aufklärerischen Wert zu verschieben (vgl. Wurm 2009, 224). Der animierte Zeichentrickfilm Kampf dem Hunger (Julius Pinschewer, D 1941), in dem zum Selbst- anbau von Getreide geraten wird, um dem auf einem Pferd reitenden Tod den Garaus zu machen, ist ein gutes Beispiel für die fortlaufen- de Nähe von Werbe- und Aufklärungsfilm. Hans Ewald, der 1924 im Kulturfilmbuch über den Trickfilm schrieb, unterstrich hingegen den visuellen Mehrwert durch Animationen und betonte dabei, dass der Trickfilm «eng mit dem Kulturfilm verknüpft» sei (1924, 201). So seien komplexe Phänomene leichter darstellbar: Die Verwendung des Trickfilms als Lehrfilm für Technik, Industrie und Wissenschaft hat sich in den letzten Jahren immer mehr verbreitet, denn keine Lehrmethode vermag in kurzer Zeit dem zu Belehrenden eine derart anschauliche Darstellung des Lehrstoffes zu bieten wie der Trickfilm. Die politischen und geographischen Veränderungen auf der Landkarte, die in- neren Teile einer Maschine in ihren Funktionen, die organischen Vorgänge im menschlichen Körper, die schematischen Darstellung wissenschaftlicher und statistischer Berechnungen werden mit Hilfe des Trickfilms leicht und faßlich veranschaulicht (Ewald 1924, 198). Wissen als Animation 83 Die von Ewald betonte besondere Qualität der Anschaulichkeit durch die Mittel der Animation fand beim Gesundheitsaufklärungsfilm ver- schiedenen Ausdruck: von Trickfilm-Einschüben in Realfilmen bis zu vollständigen Zeichenfilmen; von animierten Lettern, Diagrammen etc. bis hin zu bewegten Puppen oder Silhouetten.7 Dabei kristallisie- ren sich mehrere zum Teil miteinander verbundene, zum Teil vonein- ander unabhängige Applikationen und Funktionen der Animationen heraus, die für die Rezeption der Filme und für die kulturelle Wis- sensgeschichte von zentraler Bedeutung sind und im Folgenden an- hand von Filmbeispielen diskutiert werden sollen: (1.) Die Appellati- vität von Animationen, (2.) die Reflexivität von Animationen und (3.) die neue Visualität durch Animationen. 1. Die Appellativität von Animationen Eine zentrale Verwendungsweise von Animationen im Aufklärungsfilm lässt sich unter dem Begriff des besonderen Appells subsumieren. So werden diese in Filmen, denen bereits aufgrund ihrer Intention ein di- daktischer Gestus eingeschrieben ist, in einer expliziten, instruierenden Zeige-Funktion eingesetzt. Hierfür ist u.a. der Film Krebs (D 1930), produziert durch das Hygiene Museum Dresden, ein gutes Beispiel. Im Aufbau und in der Dramaturgie ist dieser Film ein klassischer Repräsen- tant des Aufklärungsfilms: Nach statistischen Angaben über medizinische, ökonomische und bevölkerungspolitische Gefahren durch die Krankheit Krebs folgen Realaufnahmen von Krebserkrankten. Anschließend wird die Wissenschaft mit ihren neuesten Techniken der Krebsbehandlung und verschiedenen Krebsfrüherkennungs-Praktiken als Lösung des Pro- blems vorgestellt. Dabei zeigt der Film eine spezifische Verwendung von Animationen: Indem Schrift/Lettern (wie auch Diagramme) zwischen Lesbarkeit und Sichtbarkeit, zwischen Semiotizität und Visualität oszillie- ren, wird auf die mediale Gemachtheit des Films verwiesen (vgl. Wurm 2009, 236f ).8 Darüber hinaus übernimmt die Schrift bzw. die Tech- nik der sogenannten ‹Tricktitel›, d.h. weiße Buchstaben auf schwarzem Grund, eine besondere Zeigefunktion. Tricktitel, die in der Weimarer Zeit häufig in Werbefilmen verwendet wurden (vgl. Schoemann 2003, 33), unterstreichen in diesem Krebs-Film dessen Kernaussagen (Abb. 1). 7 Für letzteres ist allerdings nur ein Filmbeispiel bekannt: der französische Film On doit le lire (F 1918?). 8 Zur Geschichte der Schrift insbesondere im Avantgarde- und Experimentalfilm vgl. Stenzer 2010. 84 montage AV 22 /2 / 2013 1 krebS In schnellen Sequenzen wechseln sich Bilder, die «KREBS» als ge- schriebenes Wort skandieren, mit Bildern ab, die die Entwicklung der Krankheit von der Wahrnehmung der ersten Symptome bis zur kli- nischen Behandlung aufzeigen. Die hohe Schnittfrequenz zu Beginn wirkt wie ein mahnender Appell an die Zuschauer, eine wahrgenom- mene körperliche Veränderung nicht zu ignorieren – oder wie Ferdi- nand Blumenthal, der Leiter des Instituts für experimentelle Krebs- forschung, schrieb: «Es fehlt an Atempausen» (Blumenthal 1931, 38). So erscheint die verbale Ebene als Slogan oder Signet mit stark ap- pellativem Charakter und werbendem Effekt. Knüpft die Verwendung verkürzter Sätze an die Ästhetik damaliger Plakatkampagnen an, so widerspricht die spielerische Schreibweise deutlich den ästhetischen Vorgaben der Zeit, die sich an der «Neuen Sachlichkeit» orientierte und eine nüchterne Formensprache forderte. Die eindringliche Anre- de des Zuschauers wird durch den repetitiven Gebrauch der Slogans unterstützt. Insbesondere am Ende des Films werden nur kurze Sätze oder einzelne Schlagworte benutzt. Die medizinischen Anweisungen und Beschreibungen unterscheiden sich davon deutlich; sie erschei- nen durchgängig in Standard-Schreibweise und in vollständigen Sät- zen. Dadurch existiert eine auffällige Zweistimmigkeit: Die populären emotionalen «Ausrufe» mit schlagwortartigen Reduktionen stehen im Kontrast zu den seriös-wissenschaftlichen «Hinweisen». Einen ähnlich appellativen Charakter haben auch die Animatio- nen in dem US-Film Fight Syphilis, der die Geschlechtskrankheit mit dem Gefahrenpotential des Ersten Weltkriegs vergleicht. Dieser ansonsten ausschließlich in Realbildern gedrehte Film nutzt Anima- tionen, um auf unterschiedliche Weise auf zwei besondere syphilisver- ursachte Risiken hinzuweisen. Dabei wird erstens die Animation eines Diagramms genutzt, um deutlich auf die quantitativen Ansteckungs- möglichkeiten der Syphiliserkrankung eines einzelnen Mannes hinzu- weisen. Der gezeichnete Repräsentant kann bei nachlässigem Verhalten Wissen als Animation 85 2–3 fight SyphiliS innerhalb kürzester Zeit eine explosionsartige Verbreitung der Krank- heit verursachen. In der Folge sind zahlreiche Menschen, repräsentiert durch Strichmännchen, zu sehen, wobei die Verbindung zu dem verur- sachenden Individuum mit animierten Pfeilen unterstrichen ist (Abb. 2). In semiotischer Hinsicht schließt dieses Bild an die Darstellung von Ahnentafeln an, wobei hier die zahlenmäßige Verbreitung negativ kon- notiert ist – geht es doch um die Verbreitung der Ansteckung. Doch Animationen werden noch in einer weiteren Hinsicht verwen- det. Diesmal ist ein an Syphilis erkrankter Mann zu sehen, auf den An- zeigen von «Pfuschern» zuströmen, scheinbar Zeitungen entlehnt (Abb. 3). Das Gefahrenpotential der «Pfuscher» wird filmisch unterstrichen, in- dem sich die animierte Anzeigenanzahl zunehmend steigert, sie aus allen Richtungen zu kommen scheinen und im Tempo beschleunigt werden. Wie in Krebs bedient sich Fight Syphilis einer Animation von Schrift, wobei es hier nicht um die Animation von einzelnen Buchstaben, Wör- tern oder Sätzen geht, sondern um die Texte ganzer Anzeigen. Im didaktischen Gestus, der den Filmen inhärent ist, übernehmen diese Animationen die Funktion einer zusätzlichen Dramatisierung. Sie weisen nicht nur auf die Gefahren der Ansteckung und der Falsch- Behandlung der Krankheit hin, sondern sie unterstreichen vor allem die Intensität und Größe der Bedrohung. Eine andere Facette der appellativen Funktion von Animationen im Aufklärungsfilm wird beispielhaft in dem Zeichentrickfilm Les deux méthodes (Jean Benoît-Lévy, F 1928) deutlich. Hier dienen Animatio- nen zur Erklärung der richtigen Ernährung von Säuglingen und Kin- dern. Während in Filmen wie Säuglingspflege (D 1920) oder auch Hygiene der Ehe (Erwin Junger, D 1922) diese Thematik komplex erläutert wurde, sind in dem Kurzfilm Les deux méthodes vor allem die durchgehend volkstümliche Erzählweise, eine reduzierte Bildspra- che sowie einfache und kurze Text-Erläuterungen (teils animiert) sig- nifikant. Auch die Einzelbildaufnahmen sind so nacheinander fotogra- 86 montage AV 22 /2 / 2013 4–5 leS deux méthodeS fiert, dass die Bewegungen der Figuren verzögert erscheinen, also die Bewegungsillusion nicht vollständig entsteht. Diese Form der limited animation unterstreicht den Lehrcharakter (vgl. Meyer/Schlichter 2012). Zwei Mütter und deren unterschiedliche Ernährungsweisen ihrer Babys werden einander gegenübergestellt (Abb. 4). Die eine Mutter folgt dem rationalen Rat des Arztes und ernährt ihr Baby nur mit Milch mit etwas Wasser und Zucker. Die andere Mutter folgt dem schlechten Rat ihrer eigenen Mutter: Sie gibt dem sieben Monaten alten Baby Suppe, Eier und Brot zu essen. Während das eine Baby gedeiht, wächst das an- dere zwar anfänglich schnell, stirbt jedoch dann an den Folgen der Feh- lernährung. Der «schlechte» Rat wird mit Tier-Vergleichen unterstri- chen: mit dem Strauß, der alles isst, was er für essbar hält (auch Steine), oder der Gans, die sich überisst, weil sie dazu gezwungen wird (Abb. 5).9 Animationen dienten also dazu, die Botschaft des Films in verein- fachter Form darzustellen – und dies nicht ohne Grund. In dem Diskurs über die Gestaltung der Aufklärungsfilme wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die medizinischen Sachverhalte auch für ein jugend- liches und ein ungebildetes Publikum verständlich sein sollten. Letz- teres wurde vor allem in ländlichen Regionen vermutet, die zugleich als kinounerfahren galten. Entsprechend wurden u.a. in Deutschland, 9 Zwar wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder eine ausdiffe- renzierte Publikumsorientierung der Filme gefordert, doch eine weite Verbreitung, die sich quantitativ in den entsprechenden Filmen niederschlägt, lässt sich erst für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts feststellen. Hier sei mit zwei Beispielen nur in die Richtung gewiesen. Mittels der Kundi-Animationsfilme (Jörg d’Bomba, DDR ab 1964) belehrt die gleichnamige Hauptfigur über 20 Jahre hinweg einen wichti- gen Adressatenkreis der DDR-Gesundheitspolitik: Kinder. Ein weiteres Beispiel sind die Animationsfilme der World Health Organization (WHO), deren Adressatenkreis weniger Kinder im Speziellen als die Erwachsenwelt im globalen Zusammenhang war. Vgl. hierzu insbesondere Ostherr 2005; Ostherr 2013/14. Wissen als Animation 87 Frankreich, England und den USA sogenannte Filmwagen oder «Hy- gieneautos» eingesetzt, Autos oder kleinere Lastwagen, die mit Equip- ment für die Vorführung und mit mehreren Filmen ausgestattet, länd- liche Regionen ansteuerten und in Dörfern oder kleineren Städten die Filme präsentierten. In derartigen Vorführungskontexten lässt sich sicherlich auch Les deux méthodes verorten. Darüber hinaus ist der Film, thematisch bedingt und an den zeitgenössischen Genderkonzep- ten orientiert, vornehmlich an Frauen adressiert, was die Tendenz zur Simplifizierung des Themas sicher weitergehend motiviert hat. 2. Die Reflexivität von Animationen Durch die Etablierung des kommerziellen Kinos waren die Aufklä- rungsfilme bereits in den 1920er Jahren dazu gezwungen, ihre Inhalte nicht nur an der Wissensvermittlung zu orientieren, sondern publi- kumsgerecht zu erzählen (vgl. Müller 2005). In der Geschichte der Aufklärungsfilme lassen sich zwar einige Publikumserfolge nennen, wie Falsche Scham 4. Episoden aus dem Tagebuch eines Arztes (Rudolf Biebrach, D 1925/26), Feind im Blut (Walter Ruttmann, D 1930), Let My People Live (Edgar G. Ulmer, USA 1938) oder Sex Hygiene (John Ford, USA 1941). Es gibt aber auch zahlreiche Gegen- beispiele: Filme, über die sich das Publikum beschwerte oder die es mit Nicht-Besuch oder dem vorzeitigen Verlassen der Vorführung strafte. War der belehrende Charakter genuin mit diesen Filmen verbunden, wirkte er nicht selten ermüdend auf die Zuschauer. In zahlreichen Filmbesprechungen wurden offensichtliche und wiederkehrende Inst- ruktionen kritisiert, die auch beim Publikum auf explizite Ablehnung stießen.10 Um diesem Problem zu begegnen, wurden, wie bereits er- wähnt, nicht selten mehrere mediale Techniken der Präsentation von Wissen in Realfilmbildersequenzen integriert, wodurch die Hybridität dieser Filme unterstrichen und eine formale Aufwertung angestrebt wurde. Darüber hinaus inkludierte der Aufklärungsfilm auch selbst- reflexive Elemente, z.B. indem das Kino als Erfahrungsraum in den Film selbst einbezogen wurde: In Falsche Scham sind Menschen zu sehen, die in ein Kino gehen, um einen Aufklärungsfilm zu schauen; in Feind im Blut wird ein Lehrfilm im Hörsaal gezeigt; und in dem amerikanischen Film Sex Hygiene sind junge Männer sogar beim Be- 10 Wie zum Beispiel für den Film Die Pocken, bei dem die Besucher aufgrund der ermüdenden Erzählung fortblieben, siehe hierzu Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz: I HA Rep. 76 VIII B 3930. 88 montage AV 22 /2 / 2013 trachten des Films zu sehen.11 Auch Animationen wurden als kurze selbstreflexive Zwischenspiele einer längeren, mitunter anstrengenden Vorführung verwendet (vgl. Wurm 2009, 224). So kamen neben Er- zähltechniken wie Flashbacks auch andere Strategien der Darstellung und Vermittlung in Anwendung. Animationstechniken dienten hier als eine Art Moduswechsel innerhalb des Mediums, um das erlebte Zu- schauen des Films (fiktiv) zu verkürzen und die Aufmerksamkeit des Zuschauers aufrecht zu halten. Als prägnantes Beispiel hierfür kann der US-Aufklärungsfilm About Faces (Public Health Service, USA 1941) herangezogen werden, der vom Department of Health, Education and Welfare und dem Public Health Service in Kooperation mit der American Dental Association produziert wurde und bis auf drei Animationsszenen ausschließlich in Realaufnahmen gedreht ist. Wie in zahlreichen vergleichbaren Filmen wird auch in diesem mit einem negativen Beispiel begonnen: Bei der Einberufung in die Armee kontrolliert ein Zahnarzt alle Anwärter. Ein junger Mann mit erheblichen Zahnproblemen und -lücken wird auf- grund dessen nicht in die Armee aufgenommen. Doch er wird nicht nur in der Armee abgelehnt, sondern auch bei der Bewerbung um eine Stelle; und auch von einer Frau wird er zurückgewiesen: «Failure in the army, in business, in romance» konstatiert der Sprecher des Films. An- ders ist die Situation bei Daddy Smith, dessen Geschichte im Folgenden den Film strukturiert. Er passiert die Zahnkontrolle ohne Probleme und wird dementsprechend in die Armee aufgenommen. In diese Realauf- nahme ist nun eine Sequenz des Zeichentrickfilms montiert: Eine Figur, die mit geschulterter Kamera von rechts nach links durchs Bild läuft, um einen zeitlichen Sprung in die Vergangenheit zu markieren (Abb. 6). 6–7 about faCeS 11 Siehe hierzu auch Lowy 2013/2014. Wissen als Animation 89 Daddy Smith ist jetzt (wieder in Realaufnahmen) als zweijähriger Junge mit seinen Eltern zu sehen. Trotz Widerspruch des Vaters, der die Sinnhaftigkeit eines Zahnarztbesuchs im Kindesalter in Frage stellt, sucht die Mutter mit dem Jungen einen Zahnarzt auf und legt damit die Grundlage für eine kindheitsbegleitende medizinische Kontrolle. Der kleine Daddy Smith hat dementsprechend gute Zähne. Erneut ist die Trickfilmfigur in die Realbilder montiert und läuft diesmal von links nach rechts, um den zeitlichen Sprung in die Zukunft zu mar- kieren (Abb. 7). Daddy Smith wird nun als kleiner Junge mit Süßigkeiten gezeigt, die – in Maßen gegessen – auch kein Problem darstellen. Erneut tritt die Trickfilmfigur ins Bild, um den zeitlichen Sprung in die Erwachsenen- welt zu veranschaulichen und Daddy Smith mit seiner jungen Frau zu präsentieren. Dieser Logik folgend ist er nicht nur erfolgreich im Pri- vatleben, sondern erhält auch einen guten Beruf und wird in die Armee aufgenommen. Die Animationen dienen hier also einerseits der Sym- bolisierung von zeitlichen Sprüngen und markieren so eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, andererseits gestalten sie den Film abwechslungsreich und dynamisch. Durch die Animationen wird also in doppelter Hinsicht in die Temporalität des Films eingegriffen. Zugleich verweisen sie in selbstreflexiver Weise auf diese in seiner Ge- samtheit. So lässt sich argumentieren, dass Animations- und Simulati- onstricks der Stop-Motion-Technik den Film in seiner Verfasstheit ins- gesamt als zeitmanipulativ enttarnen (vgl. Wurm 2009, 231). In Filmen wie About Faces scheint sich diese Funktion zu potenzieren. Als in anderer Weise selbstreflexiv lassen sich die zehn Filme aus der Kurzfilmreihe Lustige Hygiene (Excentric Film, D 1927–1930/31) interpretieren, die vom Reichsausschuss für hygienische Volksbildung herausgegeben wurden (vgl. Schmidt 2000; Goergen 2007). In den einzelnen Folgen der 8–10-minütigen Filme werden verschiedene Themen behandelt, die von Hygienemaßnahmen, Prävention von In- fektionskrankheiten und Impfungen bis hin zur Säuglingspflege rei- chen. Das Spezifische dieser Filme ist dabei die Kombination von Re- alaufnahmen mit Tricktechniken. In diesen Kurzfilmen wurden nicht Tricktechniken integriert, indem Tricksequenzen nach Realfilmauf- nahmen eingeschoben wurden. Vielmehr ist die Trickfigur mit dem programmatischen Namen «Leberecht Klug» direkt in die Realfilm- aufnahmen eingebaut. Zwar variiert die Gestaltung der einzelnen die- ser Mischfilme in der Serie, doch im Mittelpunkt steht immer die- se Figur, die in einigen Folgen einem Arzt, dem Sanitätsrat Weise, an die Seite gestellt wird. So eröffnet der Sanitätsrat in einigen Folgen 90 montage AV 22 /2 / 2013 die Geschichte, indem er, an einem Schreibtisch sitzend, das Buch Le- berecht Klug aufschlägt, dem die namensgleiche Trickfigur entspringt (und am Ende der Folge auch wieder dorthin verschwindet). Damit verweist der Film nicht nur auf ein weiteres Medium des Wissens, sondern markiert deutlich die Herkunft des vermittelten Wissens: das Lehrbuch. Im weiteren Verlauf erläutern der Sanitätsrat und Leberecht Klug zusammen, wie z.B. (in Folge 2, 1927) Ansteckungen bei Erkäl- tungen verlaufen und wie sie kuriert werden können oder (in Folge 5, 1929) welchen Sinn eine Impfung gegen Pocken hat und wie sie praktiziert wird. In einigen Filmen (Folge 5; Folge 8, 1930) ist Lebe- recht Klug kurzzeitig eine zweite Trickfigur (wie die einer «Trickkuh» oder eines kleinen gezeichneten Rabens) für weitere Erklärungen an die Seite gestellt. Insgesamt verweist das zeitgleiche Nebeneinander von Real- und Trickaufnahmen auf das Medium des Films und seinen konstruierten Charakter. Dieser wird noch unterstrichen, wenn es zu Dialogen zwischen dem Sanitätsrat und der Figur kommt. Auch hier lassen die reflexiven Formen die Gemachtheit des Films nicht verges- sen, sondern im Gegenteil seine Gestaltung und damit vor allem sei- nen Belehrungscharakter immer wieder explizit werden. 3. Die neue Visualität durch Animationen Im Gesundheitsaufklärungsfilm geht es selbstredend um Krankheiten und deren Heilung bzw. deren Prävention. Insbesondere übertragbare Krankheiten wie Geschlechtskrankheiten waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, forciert durch den Ersten und später den Zwei- ten Weltkrieg, in einigen europäischen Ländern und auch in den USA ein akutes medizinisches Problem. Trotz Gesetzen über Meldepflichten und Verhaltensmaßnahmen im Krankheitsfall sowie Aufklärungskam- pagnen mit Medien wie Ausstellungen und Broschüren war die Ver- breitung der Erkrankungen nicht zu stoppen. Vom Film erhoffte man sich daher einerseits eine weitreichende Wirkung durch die massenhaft verbreitbare filmspezifische Visualität, von der man sich eine besondere Eindringlichkeit und Vielzahl der Belehrungen erhoffte. Andererseits stellte die öffentliche Visualisierung von erkrankten weiblichen oder männlichen Genitalien, Sexual- und Körperpraktiken durchaus ein Problem dar. Während es im medizinischen Lehrfilm aufgrund des ad- ressierten Publikums (der Wissenschaft) von Anfang an gängig war, zum Beispiel erkrankte Geschlechtsteile in Realfilm-Aufnahmen zu zeigen, war dies im Gesundheitsaufklärungsfilm durchaus problematisch. In diesem Sinne intervenierten die Zensurbehörden als die zentralen Ins- Wissen als Animation 91 8–9 falSChe SCham titutionen, die über die ‹Sittlichkeit› des Filmischen wachten, auch nicht selten. Entsprechend häufig wurden, um den Normen der Sichtbarma- chung gerecht zu werden oder um der Filmzensur zu entgehen, Trick- verfahren eingesetzt. Mittels zumeist Stop-Motion-Technik konnten durch Animationen z.B. Syphilis-Symptome und -Krankheitsverläufe wie auch Geburtsvorgänge gezeigt werden. Als Erklärungsmodi eines medizinischen Sachverhalts waren sie damit auch ein Beleg der Sach- lichkeit und Wissenschaftlichkeit. In diesem Sinne hatten Animationen eine Substitutions-Funktion für moralisch/sittlich Nichtzeigbares. Un- ter einigen anderen ist hierfür der sehr populäre Film Falsche Scham ein gutes Beispiel. Dieser Film wurde erstmals 1925 auf der Reichsge- sundheitswoche präsentiert, um in der Folge auch international, wie in Frankreich, der Schweiz und in den USA gezeigt zu werden. In fünf, teils sehr dramatischen Geschichten, in deren Zentrum ein Mediziner steht, werden die Ursachen, Wirkungen, und modernsten Behandlun- gen sowie die Prävention der Syphilis erläutert. Hierbei werden Trick- aufnahmen unter anderem eingesetzt, um Krankheitsverläufe an männ- lichen und weiblichen Geschlechtsteilen zu zeigen (Abb. 8). Welche (‹falsche›) Scham, die ja im Titel des Film selbst angespro- chen wird, mit einer derartigen Sichtbarmachung verbunden war, zeigt die Szene unmittelbar vor der Trickszene: Als der Arzt in seinem Vortrag ankündigt: «Betrachten wir zunächst die Ansteckung beim Manne», schaut eine Zuhörerin in freudiger Erwartung, doch zugleich schamhaft ihren Partner an, um dann ihren Blick abzuwenden (Abb. 9). Doch, so der Film, ist die Abwendung von einer Erkrankung eine «falsche Scham», die dramatische Konsequenzen birgt. In diesem Sin- ne sind die Animationen auch ein wichtiger Darstellungsmodus, um Schamgrenzen zu überwinden.12 12 Die umfassende Verwendung von Animationen ist in diesem Film mit ihrer nament- lichen Nennung «Noldan und Büchel» im Vorspann gewürdigt, was in dieser Zeit 92 montage AV 22 /2 / 2013 Neben der Visualisierung von Nichtzeigbarem gab es in diesem medizinisch-didaktischen Teil der Filme häufig noch eine damit eng verbundene Verwendungsweise: Animationen (wieder zumeist in Stop-Motion) zeigten physisch Nichtsichtbares. Ein zentrales Anlie- gen des Gesundheitsaufklärungsfilms war es, nicht nur die Vorgänge am, sondern auch die Prozesse im Körper darzustellen. Man folgte also dem Prinzip, dass ein genaues Verständnis der Krankheit Voraussetzung für eine gesunde Lebensführung sei. Doch wie lassen sich Wanderun- gen und Übertragungswege von mikroskopisch kleinen Bakterien und Viren darstellen? Wie lässt sich die Degeneration eines Körperteils fil- misch festhalten? Der wissenschaftliche Lehrfilm hatte hierfür bereits sehr früh Animationen als eine effektive Darstellungsform entdeckt. Ein bekanntes Beispiel ist hierfür der biologische Lehrfilm Befruch- tung und Entwicklung des Seeigels von Louise Chevreton und Frederic Vlès (1909).13 Auch der an der Berliner Charité 1919/1920 gedrehte Lehrfilm Transperitonealer Kaiserschnitt steht in dieser Tradition. Letzterer wurde auf dem Berliner Gynäkologen-Kongress im Juni 1920 gezeigt und erhielt gerade wegen seiner besonderen Zei- chenanimationen eine große positive Resonanz (vgl. Keitz 2005, 124). Für den populären Aufklärungsfilm sind hierfür Filme wie Hygiene der Ehe und Feind im Blut gute Beispiele (Abb. 10 und 11). Während sich Feind im Blut ausschließlich mit Geschlechtskrankheiten be- schäftigt, wurden in Hygiene der Ehe ebenso Themen wie Schwan- gerschaft und Geburt besprochen. Auch diese beiden Filme wurden über die deutschen Grenzen hinaus gezeigt. Hygiene der Ehe kam u.a. noch in Österreich, Feind im Blut mindestens noch in Frank- reich, in den USA und in Ungarn zur Aufführung. Wie in Falsche Scham wird auch in Feind im Blut in Episoden über die Gefahren der Geschlechtskrankheiten erzählt, die in Szenen aus der medizini- schen Forschung und Praxis eingebettet sind. Bemerkenswert ist hier, dass der Regisseur Walter Ruttmann zwar schon umfassende Erfah- rungen im Bereich der Animationen gesammelt hatte, diese jedoch hier nicht entsprechend zum Tragen kommen (vgl. Cavalier 2011, 80) eher die Ausnahme ist. Svend Noldan war der Leiter der Trickfilmabteilung der UFA, gründete 1922 sein eigenes Atelier und war bekannt für seine Landkartenzei- chentricks (vgl. Hoffmann 2012, 181). Beide sind auch für die Animationen in Des Menschen Zähne und ihre Pflege (Deutsches Zentralkomitee für Zahnpflege in den Schulen e.V., D 1926) verantwortlich. 13 In dem die Entwicklung eines Seeigels vom Ei bis zur Larve von einem vierzehn- stündigen Entwicklungsverlauf auf 9 Minuten verkürzt zu sehen ist; vgl. Landecker/ Kelty 2004. Wissen als Animation 93 10 hygieNe der eehe 11 feiNd im blut und er sich insgesamt an bereits gängige Formen der Darstellung hält. In beiden Filmen werden Animationen zwar vielfältig eingesetzt, z.B. in animierten Koordinatensystemen (repräsentiert durch Zahlen, die in die Graphen eingefügt werden und wandern) oder aber um Bewe- gungen eines Eies im weiblichen Körper, Bewegungen von Spermien oder den Prozess der Zellteilung zu veranschaulichen. Vor allem aber dienen Animationen der Darstellung der Wanderung von Bakterien im Körper (repräsentiert durch Punkte, die sich in Dia- grammen von Körperausschnitten bewegen). Auf die wissenschaftshistorische Bedeutung der Sichtbarmachung von Bakterien für die Bakteriologie sowie ihre politischen Implika- tionen ist bereits hingewiesen worden (vgl. Berger 2009). Vor diesem Hintergrund betont gerade die Animation von Bakterien nicht nur die Abstraktionsleistung des Films, sondern ist in deren Darstellbarkeit und insbesondere ihrer Bewegung im Körper auch eine machtvolle Perfor- manz der Beherrschbarkeit dieser «unsichtbaren Feinde». In beiden Funktionen, zur Repräsentation des Nichtzeigbaren und des Nichtsichtbaren, sind die eingesetzten Animationen an die Beleh- rung durch einen Mediziner gekoppelt. Hierdurch wird zugleich die Wissenschaftlichkeit der Ratschläge und der wissenschaftliche Impetus des ganzen Films unterstrichen. Vor allem aber wird durch Animatio- nen, indem sie Realaufnahmen von Nichtzeigbarem oder Nichtsicht- barem durch Modelle (von Genitalien, Bakterien etc.) substituieren, eine wichtige Transformation erst möglich: Das individuelle Beispiel (wie von einem kranken Körperteil) wird in ein generelles Prinzip transformiert (vgl. Curtis 2013, 2). Unterstützt wird dieser Prozess durch das Verfahren der Stop-Motion. Damit entsteht eine neue Visu- alität als Ausdrucksform eines modellhaften Wissens vom Körper, das gerade durch seinen Abstraktionsgrad eine besondere Eindringlichkeit erhält. Zugleich wird durch die Animationen ein Bezugsrahmen wie- derholt, den diese Filme insgesamt zu generieren versuchen – von der 94 montage AV 22 /2 / 2013 individuellen Gesundheit/Krankheit zur Gesundheit/Krankheit der gesamten Gesellschaft. Die Ausführungen zu den appellativen, reflexiven und visuellen As- pekten der Animationen im Gesundheitsaufklärungsfilm haben trotz aller Differenzen in der Ausgestaltung und Anwendung einen gemein- samen Nenner: Von den Animationen von Lettern, die ein Oszillieren zwischen Semiotizität und Visualität unterstreichen, und der Einfügung von Animationen in Realfilmaufnahmen, die die Gemachtheit des Fil- mes entlarven, oder der Animationen, die Körper(teile) oder Krank- heitserreger in ein modellhaftes Wissen transformieren – alle diese Animationen betonen die jeweilige Abstraktionsleistung. Anders for- muliert: Während andere filmische Darstellungstechniken von Operati- onsszenen, mikroskopische Aufnahmen oder auch Röntgenbilder sug- gerieren, das ‹Reale› abzubilden, so unterstreichen Animationen gerade die Abstraktivität des Sichtbaren, indem sie bewusst eine neue Anschau- lichkeit präsentieren. Sie haben erheblich dazu beigetragen, dass der in- dividuell-reale und der modellhaft-animierte Körper in Referenz zuei- nander gedacht werden konnten, als zwei Repräsentanten des gleichen Gegenstandes. Wurden die ersten filmischen Aufnahmen in der Medi- zin als eine Erweiterung des klinischen Blicks empfunden, so könnten die Animationen im Gesundheitsaufklärungsfilm als eine Transformati- on des Sehens und des Wissens charakterisiert werden. Literatur Acland, Charles R./Wasson, Haidee (Hg.) (2011) Useful Cinema. Durham: Duke UP. Berger, Silvia (2009) Bakterien in Krieg und Frieden. Eine Geschichte der medizini- schen Bakteriologie in Deutschland 1890–1933. Göttingen: Wallstein. Bonah, Christian/Laukötter, Anja (2009) Moving Pictures and Medicine in the First Half of the 20th Century. Some Notes on International Histori- cal Developments and the Potential of Medical Film Research. In: Gesnerus 66,1, S. 121–146. Bonah, Christian/Cantor, David/Laukötter, Anja (Hg.) (2013/2014) Commu- nicating Good Health. Movies, Medicine and the Culture of Risk. Rochester: Rochester UP [i.Vorb.]. Boon, Timothy (2008) Films of Fact. A History of Science in Documentary Films and Television. London/New York: Wallflower Press. Brandt, Allan M. (1985) No Magic Bullet. A Social History of Venereal Disease in The United States Since 1880. New York/Oxford: Oxford UP. Wissen als Animation 95 Blumenthal, Ferdinand (1931) Krebsfilm, Krebsaufklärung, Krebsbekämpfung. In: Medizinische Klinik 1, S. 38–42. Cartwright, Lisa (1995) Screening the Body. Tracing Medicine’s Visual Culture. Min- neapolis/Londons: University of Minnesota Press. Cavalier, Stephen (2011) The World History of Animation. Berkeley/Los Angeles: University of California Press. Crary, Jonathan (1996) Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahr- hundert [amerik. 1992]. Dresden/Basel: Verlag der Kunst. Curtis, Scott (2013) Rough and Smooth: The Rhetoric of Animated Images in Scientific and Education Film. Kracauer Lecture in Film & Media Studies, Goethe-Universität, Frankfurt am Main (unveröffentlichter Aufsatz). Eberwein, Robert (1999) Sex Ed. Film, Video, and the Framework of Desire. New Brunswick, NJ/London: Rutgers UP. Ewald, Hans (1924) Der Trickfilm. In: Das Kulturfilmbuch. Hg. v. Edgar Beyfuss & Alex Kossowsky. Berlin: Chryselius & Schulz, S. 198–201. Foucault, Michel (1989) Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit, Band 3 [frz. 1984]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz: I HA Rep. 76 VIII B 3930. Goergen, Jeanpaul (2007) Ein Husarenstück. Richard Oswalds Tonfilmdebüt. Exkurs: Hygienische Aufklärung im Beiprogramm. In: Filmblatt 12,34, S. 39–51. Hoffmann, Kay (2012) Gezeichnete Wirklichkeiten. Dokumentarfilm und Wirklichkeit. In: Spiel mit der Wirklichkeit. Zur Entwicklung doku-fiktionaler Formate in Film und Fernsehen. Hg. v. Kay Hoffmann, Richard Kilborn & Werner C. Barg. Konstanz: UVK, S. 177–193. Jung, Uli/Loiperdinger, Martin (2005) Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland. Band 1. Kaiserreich 1895–1918. Stuttgart: Reclam. Keitz, Ursula von (2005) Wissen als Film. Zur Entwicklung des Lehr- und Un- terrichtsfilms. In: Kreimeier/Ehmann/Goergen 2005, S. 120–150. Kreimeier, Klaus/Ehmann, Antje/Goergen, Jeanpaul (2005) Geschichte des do- kumentarischen Films in Deutschland. Band 2. Weimarer Republik 1918–1933. Stuttgart: Reclam. Landecker, Hannah/Kelty, Christopher M. (2004) A Theory of Animation. Cells, Film and L-Systems. In: Grey Room 17, S. 30–63. Lefebvre, Thierry (1996) Cinéma et discours hygiéniste (1890–1930). Thèse de doctorat, Université Sorbonne Nouvelle Paris III. Loubatières, Paul-Jean Georges (1932) Cinematographie et sciences médicales (Thèse). Bordeaux: Faculté de Médecine. Lowy, Vincent (2013/2014) Trois professionnels d’Hollywood face au film médi- co-sanitaire: Ulmer-Ford-Huston. In: Bonah/Cantor/Laukötter 2013/2014 [i.Vorb.]. 96 montage AV 22 /2 / 2013 Meyer, Heinz-Hermann/Schlichter, Ansgar (2012) Limited Animation. In: Lexikon der Filmbegriffe [filmlexikon.unikiel.de/index.php?action=lexikon &tag= det&id=6548 (letzter Zugriff am 5.8.2013)]. Millet, Richard (1994) Jean Painlevé cinéaste. In: Le Cinéma et la science. Hg. v. Alexis Martinet. Paris: CNRS Editions, S. 86–94. Müller, Dorit (2005) «Gegen die Überwucherung des abstrakten Denkens». Wissen und Unterhaltung im Kulturfilm der 1920er Jahre. In: Zeitschrift für Germanistik 1, S. 76–95. Orgeron, Devin/Orgeron, Marsha/Streible, Dan (Hg.) (2011) Learning with the Lights Off. Educational Film in the United States. New York: Oxford Uni- versity Press. Ostherr, Kirsten (2005) Cinematic Prophylaxis: Globalization and Contagion in the Discourse of World Health. Durham: Duke University Press. – (2013/2014) The Biopolitics of Animation. Global Health and Sponsored Films in the Postwar Era. In: Bonah/Cantor/Laukötter 2013/2014 [i.Vorb.]. Reagan, Leslie J./Tomes, Nancy/Treichler, Paula A. (Hg.) (2007) Medicine’s Moving Pictures: Medicine, Health, and Bodies in American Film and Television. Rochester: University of Rochester Press. Schmidt, Ulf (2000) Sozialhygienische Filme und Propaganda in der Weimarer Republik. In: Gesundheitskommunikation. Hg. v. Dietmar Jazbinsek. Wiesba- den: Westdeutscher Verlag, S. 53–82. Schoemann, Annika (2003) Der deutsche Animationsfilm. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 1909–2001. St Augustin: Gardez!. Schrey, Dominik (2009/2010) Zwischen den Welten. Intermediale Grenzüberschrei- tungen zwischen Real- und Animationsfilm. In: Filmblatt 14,41, S. 4–21. Stenzer, Christine (2010) Hauptdarsteller Schrift. Ein Überblick über Schrift in Film und Video von 1985–2009. Würzburg: Königshausen & Neumann. Vignaux, Valérie (2005) Eine Encyclopédie der Leinwand. Der institutionel- le Diskurs des Kinos im Frankreich der Zwischenkriegszeit und die Filme von Jean Benoit-Lévy (1922–1939). In: Montage AV 15,1, S. 26–42. – (2007) Jean Benoit-Lévy ou le corps comme utopie. Une histoire du cinema éduca- teur dans l’entre-deux-guerres en France. Paris: AFHRS. Wurm, Barbara (2009) Heuschrecken & Buchstabentänze, Fieberkurven & Mikrobenwelten. Animiertes Wissen im frühen sowjetischen Kulturfilm. In: Populäres Wissen im medialen Wandel seit 1850. Hg. v. Petra Boden & Dorit Müller. Berlin: Kadmos, S. 223–242. Zimmermann, Yvonne (Hg.) (2011) Schaufenster Schweiz. Dokumentarische Ge- brauchsfilme 1896–1964. Zürich: Limmat-Verlag. Der Platz des Zeichentrickfilms im System der Schönen Künste* Marie-Thérèse Poncet Das Wort ‹Kunst› hat zwei recht verschiedene Bedeutungen: Zunächst ist die Kunst eine Aktivität, die (vermittelt über Talent oder Genie des Künstlers) die Produktion eines Werks leitet. Maler, Bildhauer, Archi- tekten, Musiker und Poeten gibt es in allen Völkern. Sie alle besitzen eine besondere Kraft, eine ‹Gabe›, die sich über ihr Werk auf das ästhe- tische Bedürfnis der Menschheit bezieht. Es gibt also die schöpferische Kunst. Daneben gibt es die Kunst, die bleibt, das heißt das Ensemble der sogenannten Schönen Künste. Wie im Film mit Darstellern tragen auch im Zeichentrickfilm ver- schiedene Künstler und Künste zur Fusion und Synthese eines einzi- gen Werks, des Films, bei. Mithilfe der wissenschaftlichen Überlegun- gen eines Ästhetikers, Étienne Souriau, werden wir versuchen, den Zeichentrickfilm in das System der Schönen Künste zu integrieren. Für Souriau ist die «Kunst gleichzeitig eine schöpferische Aktivität» und «ein Ensemble von zielgerichteten und motivierten Verfahren, die ausdrücklich dazu beitragen, ein Wesen [...] vom Nichts oder vom an- fänglichen Chaos zur vollständigen, singulären, konkreten Existenz mit unzweifelhafter Präsenz zu führen».1 * Es handelt sich um das vierte Kapitel aus Marie-Thérèse Poncets Buch L’Esthétique du dessin animé (Paris: Librairie Nizet 1952, S. 69–81; Vorwort von Étienne Souriau) und damit um das erste Kapitel des zweiten Teils dieser Veröffentlichung, der den Ti- tel «Esthéthique du dessin animé. Fait filmique» («Ästhetik des Zeichentrickfilms als filmische Tatsache») trägt. 1 «Es geht jedoch weniger um die Verfahren im ausführenden und praktischen Sinn als um den Geist, der sie belebt, also genau um die Gründe all der Ausführungen, die diese Anapher, dieses progressive Entstehen eines Wesens aus dem Nichts zur vollen Existenz bewirken. Bei der Kunst handelt es sich um das, was die zu erzielenden Wir- kungen und die Mittel zu deren Produktion beurteilt; um die ausgewogene Anord- 98 montage AV 22 /2 / 2013 Es läge uns fern, den Zeichentrickfilm als einfache gefilmte Anek- dote zu betrachten, deren einziger Zweck darin bestünde, kleine Kin- der zu unterhalten. Noch der geringste Zeichentrickfilm verdankt sich einem zeitaufwendigen Schaffensprozess, dessen künstlerische Ziele leider nicht immer erreicht werden. Dennoch ist in unseren Augen jeder Zeichentrickfilm von Walt Disney und von anderen Produzenten, der einen kleineren oder grö- ßeren ästhetischen Wert hat, ein Kunstwerk; wieso werden wir gleich sehen. Um diese Untersuchung, die sich insbesondere Disney widmen wird, durchführen zu können, bedienen wir uns des «Schemas des Sys- tems der Schönen Künste» aus dem 21. Kapitel von Souriaus Corre- spondance des arts (1947, 97), das wir hier wiedergeben, um die neue Anwendung zu verdeutlichen, die wir damit vorhaben.2 Um die Abbildung zu verstehen, reicht es aus, sie in ihre einzelnen Komponenten zu zerlegen: Nehmen wir zum Beispiel Nr. 1: Lini- en/Striche. Wir erkennen, dass jede Kunst zweiter Ordnung (hier die Zeichnung) «keine hierarchische Höherstellung impliziert, sondern eine Beziehung der Inklusion und der Verkomplizierung und dass jedes Werk zweiter Ordnung (hier immer noch die Zeichnung) ein Werk erster Ordnung enthält (hier die Arabeske), dessen Isolierung/ Analyse es zu der Kunst in Beziehung setzt, die ihm in dieser ersten Ordnung entspricht» (die Linie) (ibid., 97). Wir tragen in einem Kreis die Künste erster Ordnung ein: Arabes- ken, Architektur, reine Malerei, Beleuchtung, Tanz, reine Prosodie und Musik, die den sieben Gruppen der Wahrnehmungsqualitäten zuge- ordnet sind: Linien, Volumen, Farben, Helligkeiten, Bewegung, arti- kulierte sowie musikalische Klänge. Im zweiten konzentrischen Kreis finden sich: «Zeichnung», «Skulptur», «darstellende Malerei», «Tusche- zeichnung-Foto-Kino», «Pantomime», «Poesie», «Literatur» und «dra- matische/beschreibende Musik». So ergibt sich die organische Konsti- tution des Systems der Schönen Künste (vgl. ibid.). Wenn wir dieses Schema genau betrachten, erleben wir eine ange- nehme Überraschung: Wir finden darin alles, was wir brauchen. Wir werden auch versuchen, jedem der sieben Teile einen Filmtyp zuzu- nung der Qualitäten, die im Werk nach und nach zum Ausdruck kommen; die Ent- wicklung des objekthaften Wesens [de ces soins] hin zum finalen Punkt der Kulmi- nation, der Schwelle seiner vollen Existenz: der Vollendung» (Souriau 1947, 27). Eine bessere Definition ließe sich für den Zeichentrickfilm nicht finden. 2 Wir haben dieses System und die 24 ästhetischen Werte ausgewählt, weil es sich dabei um die ästhetischen Untersuchungen handelt, die sich am besten auf den Zeichen- trickfilm beziehen lassen. Wir möchten uns hier bei Étienne Souriau für seine Erlaub- nis bedanken und dafür, dass er uns eine völlige Interpretationsfreiheit zugestanden hat. Der Platz des Zeichentrickfilms im System der Schönen Künste 99 1 Der Zeichen- trickfilm im System der Schönen Künste. Nach der Ori- ginalgrafik gezeichnet von Johannes Mahlknecht 1 – Linien 2 – Volumen 3 – Farben 4 – Helligkeiten 5 – Bewegungen 6 – artikulierte Klänge 7 – musikalische Klänge ordnen, je nach dessen dominantem Gestaltungsmerkmal. Für das ers- te Siebtel ist dies unmöglich, denn es stellt das dominante Merkmal aller Zeichentrickfilme dar. Wir lesen: die Arabeske als Kunst erster Ordnung, Zeichnung als Kunst zweiter Ordnung (besondere Wahr- nehmungselemente: Linien). Aus der Linie entsteht auf wundersame Weise die Arabeske, aber es ist die Arabeske, diese Linie, die aus Kur- ven, Gegenkurven und Verflechtungen besteht, die die essentielle Basis und die Leitlinie ist, die der Zeichentrickfilm nutzt: Linien, die darauf angelegt sind, dem Betrachterauge ein synkretistisches und typisches Ensemble darzubieten. Aus dieser Kunst erster Ordnung, der Arabeske, entsteht die Zeich- nung; die Zeichnung einer Person oder eines Objektes, die karikatur- haft, humoristisch, anmutig oder hässlich sein kann. Aus ihr kann auch der Stil eines Künstlers hervorgehen (im 8. Kapitel werden wir sehen, dass es u.a. einen Disney-, einen Grimault-, einen Fleischer-Stil gibt). Es ist also in diesem ersten Siebtel, dass die für den Zeichentrickfilm notwendigen Figuren das Licht der Welt erblicken. Hier sind Ko-Ko, Popeye, Mickey, Donald oder Pluto entstanden – die Diven des Zei- 100 montage AV 22 /2 / 2013 chentrickfilms. Es gibt nämlich Diven im Zeichentrickfilm wie es die Diven der großen Filme gibt und es gibt Stars, die sich nicht darauf be- schränken zu scheinen und zu glitzern, sondern die intelligenterweise die Rolle ihres Lebens spielen und dabei ein Feuerwerk an spritzigen und schallenden Gags entzünden. Was aber wird aus diesen Objekten, von denen Lamartine sagte: «Un- bewegte Objekte habt ihr denn eine Seele?» Sie brauchen das zweite Siebtel. In diesem zweiten Siebtel, das aus den Volumen besteht, hebt sich die Architektur als Kunst erster Ordnung ab. Der Dekorateur/Ar- chitekt zieht die Linien eines Dekors, das für die Handlung benötigt wird und in dem die Figuren sich bewegen und ihre Gefühle ausdrü- cken. Manchmal handelt es sich um echte Kopien echter Monumente, in anderen Fällen ähnelt das Dekor dem des Theaters oder Puppenthe- aters. Am häufigsten imitieren die Dekors aber die Architektur der Na- tur: gotische Gewölbe aus Baumkronen, die seitlich von den jahrhun- dertealten Stämmen eines prachtvollen Waldes eingefasst sind, elegante und harmonische oder auch bizarr geformte Felsklippen, Moscheen mit tausend Säulen aus weißer Rinde von Birken oder Pappeln, Ge- mäuer aus Zypressen oder hufeisenförmige Wasserfälle. Wenn es eine ganze Architektur rund um ein Vogelnest oder in den formenreichen Gebilden auf dem Meeresgrund geben kann (wie der Pinocchio-Film bezeugt), darf doch auch die Bildhauerei nicht verges- sen werden. Denken wir nur an die entzückenden kleinen Uhren im Atelier von Meister Geppetto, Pinocchios Vater. Wie bezaubernd diese Reihe kleiner farbiger Objekte ist! Aber es handelt sich auch um Bild- hauerei, wenn etwa die typischen Gesichtszüge eines Joe Carioca oder eines Panchito herausgemeißelt werden. Als wir neulich die Ausstel- lung der Tierbildhauer und -maler besuchten,3 haben wir mit Staunen vor dem Paar des Bildhauers Sandoz innegehalten, das aus einem ro- ten und einem grünen Papagei bestand, die keck auf dem Zweig eines exotischen Baums posierten, dessen Sockel aus zwei großen Blättern bestand. Wieviel Zeit muss der eine, Sandoz, aufgewandt haben, um die Vögel zu beobachten, um sie schließlich so detailgetreu und schön darzustellen, und mit welch genauem Auge muss der andere, W. Dis- ney, die gleichen Vögel betrachtet haben, um ihre architekturale und skulpturale Form wiederzugeben? Indem er sie mit einem traditionel- len Sombrero ausstattete, machte er aus ihnen zwei der drei Caballeros 3 «Exposition des animaliers», vom 3. bis 30. Mai 1949 im Cercle Volney (Paris). Der Platz des Zeichentrickfilms im System der Schönen Künste 101 des gleichnamigen Films, deren onomapoetischen Laute es leicht mit denen des verschmitzten Donald aufnehmen können. Skulpturale Dominante: The Three Caballeros (Drei Caballeros, Disney, USA 1944) und Pinocchio (Disney, USA 1940). Die Nutzung des dritten Siebtels erweist sich selbstverständlich als ein- fach. Reine Malerei? Ohne Frage! Handelt es sich bei den Linien, die in der Fantasia-Umsetzung der Toccata und Fuge von Bach die Lein- wand überziehen, denn nicht um reine Malerei? Selbst die zitternden Schraffierungen der Tonspur desselben Films lassen sich noch als sol- che bezeichnen. Bei zusammengefügten Farben handelt es sich um reine, bei verei- nigten oder vermischten Farben um darstellende Malerei. Der Ausdruck «darstellende» Malerei ist hier durchaus wörtlich ge- meint. Ihn neu zu definieren wäre nahezu unnötig; es ist jedoch mög- lich, ihm hier die besondere Bedeutung «suggestive Malerei» zu geben. Die Farben sind nicht immer unbedingt jene, die man aus der Wirk- lichkeit kennt; und dies mit voller Absicht. Es scheint, als bestehe die Farbpalette des Zeichentrickzeichners vor allem aus den kräftigsten, wärmsten Farbtönen, wie eine evozierende Musik, doch aufgelockert von einer Skala von Farbschattierungen, die in der Lage sind, gleich- sam im Duett verschiedene Gefühlsregungen hervorzurufen: Zärtlich- keit, Freude, Anmut, Größe, Schönheit. Das gelingt nicht immer ganz, aber man würde sich sehr anstellen und wäre ziemlich ungerecht, wür- de man die Aquarell- oder Pastellfarben vergessen, die da und dort Szenen aus Saludos Amigos (Drei Caballeros im Sambafieber, Dis- ney, USA 1942) oder, besser noch, aus Three Caballeros schmücken. Dominante reiner Malerei: Die «Toccata und Fuge von Bach» in Fantasia (Disney, USA 1940). Dominante darstellender Malerei: die Aquarelle von Brasilien aus den Saludos Amigos und die Aquarelle und Pastellbilder von Mexiko aus The Three Caballeros. Die Zeichnung gehört der intellektuellen Ebene an; die Arabeske er- fasst zuerst den Geist; wenn man aber die Linien um Farben ergänzt, betritt man das Gebiet des Sinnlichen (und sogar des pornografischen, wie in einigen sehr speziellen Zeichnungen). Das vierte Siebtel markiert eine Etappe. Wir lesen hier: Helligkeiten. Für diesen Abschnitt müssen wir eine Klammer aufmachen. Es han- delt sich um den Dreh- und Angelpunkt des Zeichentrickfilms. Die 102 montage AV 22 /2 / 2013 Nummern 1 bis 3 sind Teil dessen, was wir im Vorwort als «kinemato- grafische Tatsache» bezeichnet haben; das heißt all die vorbereitende Arbeit, die für die Aufnahmen nötig ist. Die Zeichnung ist fertig, die Dekors wurden gebaut, die Gouache oder die Malerei ist vollendet. Dann kommen wir zum vierten Sieb- tel, wo die Kunst erster und zweiter Ordnung zu einer einzigen ver- schmelzen: Die Beleuchtung wird eingesetzt, um die Zeichnungen zu fotografieren, die zuvor mit Tusche oder Gouache angefertigt wurden; in beiden Fällen werden die pikturalen Werte respektiert. Tusche wird beim Zeichentrickfilm weniger geschätzt als die reinen Farben. W. Disney hat uns an eine solche Strahlkraft gewöhnt, dass uns Schwarz- Weiß öde und unerträglich erscheint, obwohl es uns bei Filmen mit Realaufnahmen durchaus gefällt. Während bei der Projektion nur während einiger Minuten oder Stunden Licht in einem Vorführapparat oder einer Kamera durch das Objektiv strahlt, wie viele Lampen, Spotlights, oder sogar Glühlicht- Scheinwerfer4 werden nicht bei den Aufnahmen benötigt? Der Platz des vierten Siebtels ist also nicht nur gerechtfertigt; es ist sogar unabdingbar und dominiert in allen Filmen. Kommen wir zum fünften, zur Bewegung. Dieses Wort wirkt fast magisch. Tanz wird vielfach eingesetzt im Zeichentrickfilm. Wir kennen kei- nen Film, in dem nicht zumindest ein kleiner Tanzschritt angedeutet wäre. Der Tanz ist ja gewissermaßen der Höhepunkt der Bewegung; er ist die Summe der organisierten und stilisierten Bewegungen und versinnbildlicht somit die Ästhetik der Bewegung. Im Tanz gibt es An- mut, Schönheit, Ausdruck, Auflösung und Freude. Eine Überlegung aus Paul Souriaus L’Esthétique du mouvement (1889, 212f) genügt, um die Idee zu konkretisieren, das fünfte Siebtel ins auf den Zeichentrick- film angewandte System der Schönen Künste zu integrieren: Bei den Bewegungen an sich gibt es solche, die die nervliche und muskuläre Aktivität stimulieren, andere, die sie vermindern, solche, die sie verstärken, andere, die sie abdämpfen. Wir können sagen, dass sich die ersteren durch Gesten ausdrücken, die zweiten durch Attitüden. Nehmen wir als Beispiel zunächst die Bewegungen, die sich durch Gesten zum Ausdruck bringen. In beschwingter Stimmung, einem an- geregten Gefühlszustand, bleibt der Mensch nicht an einem Ort, er ist in Bewegung, redet mit Begeisterung; ein wütender Mensch gestiku- 4 Es handelt sich um große Bogenlampen, in denen das Licht mithilfe von glühenden Kohlestiften erzeugt wird, wodurch eine hohe Lichtintensität erreicht werden kann. Der Platz des Zeichentrickfilms im System der Schönen Künste 103 liert, macht ruckartige Bewegungen und spricht erregt und drohend. Der Ehrgeizige bewegt sich mit sicherem Schritt, sein Gemütszustand kennzeichnet sich dadurch, dass er immer wieder aufs Neue ansetzt, um nicht zu sagen, er erscheint als eine Folge von «Sprüngen» etc. ... Bewegungen, die sich durch Attitüden ausdrücken: Der traurige Mensch bleibt still sitzen, ist schweigsam. Menschen in Angst haben eine nachdenkliche Haltung, ein gequältes Gesicht. Der Furchtsame ist zaghaft, der Träumer langsam, er irrt eher herum als dass er geht; der Empfindsame verliert sich in der Ekstase; hier erkennen wir die Atti- tüde, nicht die Geste etc. ... Ob vom Vergnügen oder von der Notwendigkeit diktiert, vom physischen Bedürfnis oder von physiologischen Reaktionen oder auch von moralischen Gründen, alle diese Gesichtspunkte bestimmen die Bewegung noch bevor wir das reale Gefühl erkennen, das sie zum Ausdruck bringt. Das läuft auf die Feststellung hinaus, dass Tanz und Pantomime im Zeichentrickfilm verschmelzen, weil sie so eng miteinander verbunden sind. Man kann sagen, dass jeder Tanz von «Herrn Donald Duck» auch eine richtige Pantomime ist. Erinnern Sie sich nur an das Spiel seiner Physiognomie und an das von Mickey Mouse! Überhaupt ist, im All- gemeinen gesprochen, die Pantomime die logische Folge des Tanzes. Bei einem choreografierten Tanz bringt die Tänzerin oder der Tän- zer mithilfe von Gesten, Schritten, Sprüngen und Pirouetten Worte zum Ausdruck, die nicht ausgesprochen werden dürfen, und äußert auf diese Weise Empfindungen und Gefühle, die sie oder er dem Publi- kum mitteilen will. Wenn die Vorstellung gelungen ist, ‹kommuniziert› der Zuschauer mit dem Tänzer und schwingt bei dessen Bewegungen mit. Diese Interpretation des Tänzers, die Simulation der Gedanken, ist nichts anderes als Pantomime. Klassischer Tanz und Charaktertanz fin- den eine Entsprechung in der Pantomime, während Tänze bei Bällen, wie Tango oder Samba, eher in den Bereich des reinen Tanzes gehören, wo die Pantomime nicht notwendig ist, um das Thema einer Schritt- folge zu erkennen. Hier hat die ‹Attitüde› einen wichtigeren Platz. Die Pantomime ist also grundlegend für alle Tänze im Zeichentrickfilm, im Ballett oder anderen komponierten Charakterchoreografien. Die Basis des gestalterischen Werts des Tanzes im Zeichentrick bildet die in den Dienst der kreativen Imagination gestellte Intelligenz: Der Vogel braucht Intelligenz, um zu jeder Zeit die Bewegung seiner Flü- gel zu kontrollieren. Die Sprünge eines Eichhörnchens in einem Pinien- wald sind permanente Improvisationen (Souriau 1889, 73). 104 montage AV 22 /2 / 2013 Die Bewegungen müssen sich in spontaner Arbeit zerlegen und neu kom- binieren, ähnlich wie bei Bildern, die herausgelöst und zu neuen Formen gruppiert werden. Sicher darf nicht vergessen werden, dass nicht jedes Bild die ganze Bewegung zur notwendigen Folge hat, die es hervorzurufen ten- diert. Oft bleibt die Erschütterung, die es ausdrückt, gering oder zeigt sich nur an einer neuen Reihe von Bildern. Aber trotz dieser Vorbehalte kön- nen wir feststellen, dass der Organisation von Bildern eine parallele Orga- nisation von Bewegungen entspricht, welche, wenn sie ausgeführt werden, die ersteren hervorrufen. Es gibt so eine wirklich schöpferische Vorstel- lungskraft der ‹choreografischen› Bewegung (Seailles 1883, 134). Wollen wir noch klarer die Natur und die Rolle des Genies erfassen, das den Körper ergreift, ihn geschmeidig werden lässt und ihm eine besondere geistige Leichtigkeit verleiht? Was ist die Geschicklichkeit, was die Anmut, wenn nicht die Freiheit der Fantasie in der Bewegung? Zunächst bedarf es der Anstrengung und der Aufmerksamkeit, um nach den Gesetzen des Taktes die Figuren eines relativ einfachen Tanzes zu entwerfen. Wenn sich aber das Bewegungsgedächtnis mit Erfahrungen und Erinnerungen ange- reichert hat, dann ist der Körper nicht mehr schwer und plump. Er wirkt, als werde er von einem harmonischen und leichten Geiste wie der Musik erhoben und geführt. Der Tanz kann so zur Kunst werden, zu einer seltsa- men Poesie. Es gibt körperliche Genies, die allen Improvisationen mit einer Fantasie folgen, die sie bis zur Erschöpfung antreibt (ibid., 138). Folglich können wir hier schreiben: Es gibt geniale Zeichnungen, die al- len Improvisationen mit einer Fantasie folgen, die sie bis zur Erschöp- fung antreibt. Dominante des Tanzes: Pantomime: The Three Caballeros. Sechstes Siebtel: sinnliche Qualia: artikulierte Klänge. Der Ausdruck könnte nicht treffender sein. Der von der Stimme der Tiere übertragene Text hat nicht den gleichen Klang und zielt nicht auf die gleiche Wirkung ab wie der von Menschen gesprochene. Die Bewegung des Mundes muss ungefähr mit den zur Aussprache der Wörter nötigen Bewegungen übereinstimmen und auch der Klang ist ausgesucht: Eine Bulldogge wird die tiefe Stimme eines Bauchredners übernehmen, zum Beispiel die von Edgar Bergen in Fun and Fancy Free (Fröhlich, Frei, Spass dabei, Disney, USA 1947). Mit anderen Worten: Alle Tonbereiche sind bestimmten Gruppen vorbehalten; die Töne werden unterschiedlich verteilt, in Beziehung zur Silhouette der Zeichnung und vor allem zum Charakter der Figuren. Generell zieht Der Platz des Zeichentrickfilms im System der Schönen Künste 105 man den Wörtern aber die Klänge vor.5 Die erstaunlichste der Kombi- nationen, der sogenannten ‹dubbings› (wenn man als ‹dubbing› die Tat- sache bezeichnet, durch einen englischen Schauspieler einen franzö- sischen Monolog sprechen zu lassen, oder umgekehrt, handelt es sich genau darum auch bei Donald Duck, wenn er seine Eindrücke in seine eigentümliche ‹Sprache› übersetzt), bleibt für uns die Stimme von Do- nald, die immer noch neu und unerwartet erscheint und gleichzeitig relativ verständlich bleibt. Donald spricht in Entensprache, seine arti- kulierten Klänge bestehen lediglich aus mit Bedeutung aufgeladenem Gequake. Aber in Wirklichkeit handelt es sich um reine Prosodie: arti- kulierte Klänge des Zeichentrickfilms.6 Zweitens, Literatur und Poesie: Im Zeichentrickfilm tritt die Lite- ratur sowohl vor als auch nach der Produktion auf. Um das Drehbuch auszuarbeiten, bedient sich der Autor einer stark bearbeiteten literari- schen Vorlage. Dieser literarische Text ist aber auch in den Alben prä- sent, die zeitgleich mit dem Film publiziert werden und deren illust- rierte Ausgaben offenbar eng mit der Filmproduktion korrespondieren. Die Literatur kommt also vor dem Film, durch den Text des Drehbuchs zum Einsatz, sowie danach, durch die Veröffentlichung der Alben. Aber wo ist der Platz der Poesie? Zunächst im Inneren des Tex- tes, aber auch und vor allem in den Leinwand-Kompositionen der Zeichner, Maler und Dekorateure. Die Empfindungsgabe eines Äs- theten genießt die Poesie, die beim Aufblühen einer Orchidee auf- scheint oder im grazilen Windhauch bei jedem Tanzschritt in einem Ballett exotischer Pflanzen sich entfaltet oder bei der Darstellung der ‹sposada› zu Weihnachten* oder dem Dahingleiten der Schwanenfa- milie auf dem Wasser in The Ugly Ducking (Das hässliche Entlein, Disney, USA 1939). Reine Prosodie als Dominante: die Schreie des Arapapa in The Three Caballeros. Literatur: Fun and Fancy Free (die Geschichte der Singenden Harfe). Poesie als Dominante: Bambi (Disney, USA 1942). 5 Oder aber den erklärenden Monolog des Sprechers, der mit den Bildern synchroni- siert wird. 6 Man wird einwenden, dass es im Zeichentrickfilm einen Dialog gibt, wenn auch zu dreiviertel der Zeit gewolltermaßen unverständlich, da das Sprechen ja als Tierstim- me zu interpretieren ist. Nein, es gibt stets reine Prosodie. Davon nehmen wir die Sprecher, die Erzählungen oder Gesänge in ‹Play-back› aus. * [Anm. d. Übers.:] Die Autorin meint «Las Posadas», ein weihnachtliches Fest, das in Mexiko gefeiert wird und von dem in The Three Caballeros erzählt wird. 106 montage AV 22 /2 / 2013 Wir kommen jetzt zum letzten Siebtel, das die musikalischen Klän- ge aufführt: harmonische, dissonante, hohe, tiefe, nachahmende oder klagende, beschwingte oder langsame, die zur ersten Ordnung gehö- ren. Dramatische oder beschreibende Musik spielt im Zeichentrick- film eine herausragende und unverzichtbare Rolle. Sie ist die Seele, die eine Atmosphäre erzeugt, welche dem Entstehen von auf die Figuren bezogenen Gefühlen zuträglich ist. Dank ihr werden die Zuschauer fast immer empfänglich. Während der gesamten Dauer eines Zeichen- trickfilms nimmt die Musik sie mit, regt sie an oder ergreift sie, wenn es sich um dramatische Musik handelt. Oder sie beruhigt, begeistert, bezaubert sie im Fall beschreibender Musik, wie bei jener, die die bra- silianischen oder die argentinischen Landschaften in Saludos amigos oder The Three Caballeros begleitet. Es gibt auch Musik, die ent- täuscht (aber von dieser wollen wir an dieser Stelle nicht sprechen). Musikalische Dominante: Fantasia. Dramatische Musik: «Une nuit sur le mont chauve» («Die Nacht auf dem kahlen Berge») von Modest Mussorgsky. Deskriptive Musik: «L’Apprenti sorcier» («Der Zauberlehrling») von Paul Dukas. Nun sind wir am Ende unserer Rundreise durch das System der Schö- nen Künste angelangt, die angetreten wurde, um zu zeigen, dass der Zeichentrickfilm die einzige filmische Gattung ist, die sowohl die klei- neren wie die größeren Künste in sich aufzunehmen vermag. Das Sys- tem der Schönen Künste von Étienne Souriau wird damit vervollstän- digt und es entspricht unserer Vorstellung vom Zeichentrickfilm, der in manchen Fällen zur reinen Kunst führen kann und soll. Das System der Schönen Künste stellt eine Ordnung der Sinneswahrneh- mung dar, die von Linien der schöpferischen Kraft durchzogen wird. Die Darstellung als universelle Gegebenheit greift lärmend in die Tasten. Die Künste, die keuscher, subtiler, engelhafter und vielleicht schwächer sind, gleichen dies durch die Genauigkeit der Gestaltung aus, indem sie eben ge- rade das erreichen, was nötig ist etc. ... (Souriau 1947, 112). «Was sie in jedem ihrer Werke darstellen, ist vielleicht nur das Modell einer Welt; aber gleichzeitig ist jedes der Modelle, wenn auch viel- leicht in Miniatur, nicht weniger als ein Universum» (ibid., 113), aber ein Universum, das im Ganzen wie auch im Detail eingefasst ist in das System der Schönen Künste, das für uns das System des Zeichentrick- films geworden ist. Der Platz des Zeichentrickfilms im System der Schönen Künste 107 In La Correspondance des arts stellt Souriau in seiner existentiellen Ana- lyse des Kunstwerks für dieses a) eine physische, b) eine phänomenale, c) eine verdinglichte oder dinghafte, und d) eine transzendentale Exis- tenz fest. Wir wollen hier nicht wiederholen, was in dem Werk für die Kunst insgesamt hinlänglich definiert wurde. Wir möchten nur jeder Rubrik ihre kinematografische Entsprechung geben. a) Die physische Existenz des Zeichentrickfilms. Niemand wird deren Wahrhaftigkeit bezweifeln. Natürlich muss der Komponist (der Drehbuchautor), bevor das Werk auf dem Papier und dann auf Film existiert, das Sujet in sich reifen lassen; jede der Komponenten (Fi- guren oder Entitäten), die zunächst nur im embryonalen Zustand existieren, nehmen Form an bis plötzlich ihre Existenz mit einer physischen Körperlichkeit offensichtlich wird. Beispiel: Pablo, der Pinguin.* b) Phänomenale Existenz. Phänomen, nach dem Griechischen phai- nomenon: das, was erscheint; alles, was sich über die Sinneswahr- nehmung manifestiert. Diese Mischung aus Realem, Imaginärem, Kunst, Sensationellem, Emotionalem, Rationalem und Irrationa- lem, wofür das Nebeneinander des Tänzers Donald Duck (der ge- zeichneten Ente) und der schönen Tänzerin Aurora Miranda (der wirklich gefilmten Darstellerin) in The Three Caballeros beispiel- haft steht oder auch das von Edgar Bergen und Luana Patten mit den beiden Puppen Charlie McCarthy und Mortimer Snerd in der Happy Valley-Episode (in Fun and Fancy Free). Gibt es da nicht eine phänomenale Präsenz? c) Verdinglichte oder dinghafte Existenz. Wenn wir jene Passage aus der Correspondance des arts wieder lesen, können wir nicht um- hin, automatisch eine Verbindung zur Fuge von Bach in Fantasia herzustellen: Hören wir (im Kino erlaubt Walt Disney uns zu sagen: hören und sehen wir) diese Fuge von Bach. Es gibt hier keine Darstellung von Ereignissen oder Dingen der wirklichen Welt. Dennoch belassen wir sie, wenn wir zu- hören, nicht im Zustand eines reinen Spiels qualitativer Kombinationen. Wir unterziehen sie einer Reihe von mehr oder weniger fabulierenden Interpretationen, die Formen ins Spiel bringen, die unserem normalen Sys- tem der Wahrnehmung realer Gegenstände entstammen. Das Auftreten des * [Anm. d. Übers.:] Über Pablo, den Pinguin, gibt es in The Three Caballeros einen siebeneinhalb-minütigen Film (im Film), den Donald sich ansieht. 108 montage AV 22 /2 / 2013 ersten Motivs des ‹Sujets›, und kurze Zeit später des ‹Gegen-Sujets› sowie ihr Wechsel (es scheint als spielten sie Verstecken), ihre Abfolge, ihre im Stretto gebremste Verfolgungsjagd; ihr Anhalten und ihre finale Versöhnung im Schluss. Dieses kleine Drama, das sie in Dinge oder Figuren verwan- delt, gehört durchaus zu einer Art darstellender Fabulierung. Ihr Schlüssel findet sich in einer Art interpretativer Korrespondenz der musikalischen Tatsache mit der Struktur der gewöhnlichen Welt praktischer Darstellung (Souriau 1947, 64). d) Transzendentale Existenz. Kathedralen oder Kirchen sind nicht nur ein architektonisches Ensemble; Plotin sagte: «Die Architektur ist das, was vom Gebäude bleibt, wenn man die Steine wegnimmt». Ist es nicht genau diese mystische Ausstrahlung, die einem Gebäude seine transzendentale Existenz gibt, die sich in einer ganz religiösen Atmosphäre entwickelt? Auch andere Kunstwerke erzeugen diesen Effekt des Überschreitens. Es wäre sicher schwierig, die Ausstrahlung einer Kathedrale mit der eines Zeichentrickfilms zu vergleichen. Aber dennoch: Die letzte Sequenz von Fantasia ist aus zwei musikalischen Partituren komponiert, die so vollkommen unterschiedlich aufgebaut sind, dass sie sich in ihrem Geist perfekt ergänzen.7 Bei der ersten handelt es sich um «Die Nacht auf dem kahlen Berge» von Modest Mussorgsky, einem der größten russischen Komponisten. Die zweite ist das berühmte «Ave Maria» von Franz Schubert. Wir haben hier, transponiert auf die musikalische und die dramatische Ebene, den Kampf zwischen dem Profanen und dem Heiligen. Wieviele Zuschauer konnten die beiden Partituren klar auseinander- halten, die so innig vereint sind in der gleichen Idee? Lesen wir eher: Night on bald Mountain and Ave Maria. It is night. A sleeping village nes- tles peacefully at the foot of a majestic mountain. But the mountain top, silhouetted against the sky, seems to posses some mysterious life. At first, the impression is only vaguely perceptible. Then it gradually becomes apparent that the outline of the peak is actually changing form, until it resembles the unfolding wings of some huge, bat like creature ... 7 Zitiert nach Dokumenten, die uns von M. Feignous, dem Direktor der Walt-Disney- Produktion in Paris zur Verfügung gestellt wurden. Der Platz des Zeichentrickfilms im System der Schönen Künste 109 In a gesture of defiant power wings outspread, the Devil reveals himself on the mountain top. He looks towards the village below. He stretches one arm above it and wherever the shadow of that clawed hand falls, weird many spectres rise. Ghouls and imps, phantoms of wickedness, skeletons, evil apparitions, ghosts of vultures ... all rise from their resting places and fly to their master. He scoops them up. They do a mad, macabre dance amidst flames springing from the Devil’s hand. He laughs gloatingly at the saturnalis. Suddenly the unholy revelry stops. The first faint warning if the approach- ing dawn becomes noticeable. It marks the end of the Devil’s power and although he tries to prevent them, the spirits slink away to their hiding places. Frustrated, the Devil slinks back into the mountain and as the sky bright- ens, the mountain top again presents its normal and majestic aspect. To the thrilling contrast of the Ave Maria a pilgrimage, lighted by the glow of myriad candles, went its way through the forest. The forest itself seems like some vast cathedral. The very branches of the trees take on gothic forms as the light of the dawn filters through. As the music rises to its triumphant finish, the sunrise defends the terrors of the night. Erleben nicht diejenigen, die sich an diese wunderbare letzte Szene von Fantasia erinnern, hier ein Kunstwerk, bei dem man «Ausstrah- lung und Überschreitung» empfindet? Aus dem Französischen von Guido Kirsten Literatur Seailles, Gabriel (1883) Essai sur le génie dans l’art. Paris: Félix Alcan. Souriau, Étienne (1947) La Correspondance des arts. Éléments d’esthétique compa- rée. Paris: Flammarion. Souriau, Paul (1889) L’Esthétique du mouvement. Paris: Félix Alcan. SeNSatioN deS JahrhuNdertS (Otto Sacher, DDR 1959) – Ein Film des DEFA-Studios für Trickfilme in Dresden «Animationsforschung ist Kulturforschung» André Eckardt, Leiter des Deutschen Instituts für Animationsfilm, im Gespräch mit Franziska Bruckner und Erwin Feyersinger Das Interview mit André Eckardt, dem Leiter des Deutschen Instituts für Ani- mationsfilm (DIAF), wurde am 13.8.2013 im Schamoni-Archiv in München geführt, wo in den Tagen zuvor gemeinsam das Archiv-Material des Anima- tionsfilm-Produzenten Boris von Borresholm gesichtet worden war. Franziska Bruckner und Erwin Feyersinger sind Co-Koordinatoren der AG Animation, einem deutschsprachigen Zusammenschluss film- und medienwissenschaftlicher Animationsforscherinnen und -forscher. Franziska Bruckner: Wir freuen uns sehr, dass wir den spannenden Kontext des Borresholm-Archivs für ein Interview nutzen können. Wir wollen im Folgenden über die Arbeit des DIAF und die deutsch- sprachige Animationsforschung reden. Erwin Feyersinger: Zunächst würden wir gern ein paar Eckdaten zum DIAF erfahren. Was kannst du uns zu seiner Entstehungsge- schichte sagen? André Eckardt: Das Deutsche Institut für Animationsfilm ist vor zwan- zig Jahren, am 16. November 1993, gegründet worden. Der traurige Anlass war die Schließung des DEFA-Studios für Trickfilme in Dres- den Anfang der 1990er Jahre. Aus dem neuen Filmverband Sachsen ist 112 montage AV 22 /2 / 2013 damals die Idee gekommen, ein eigenes Institut zu gründen, um den Studionachlass in Dresden aufzubewahren. Mit dieser Idee war auch das Bundesarchiv glücklich, das ja für den Nachlass zuständig war. Wir haben damals nicht nur die Filme gesammelt und gesichert, sondern auch alle Materialien, also Puppenfiguren, Zeichenphasen, Entwür- fe und Presseartikel. Das DIAF kommt also aus der DEFA-Tradition. Nach ein paar Jahren sind wir schließlich in den Technischen Samm- lungen Dresden untergekommen, wo wir Archivräume und eine Kli- mazelle für anfällige Materialien besitzen. Wir organisieren dort auch regelmäßig Ausstellungen. Mit der Kooperation ist beiden Seiten ge- dient. Wir fühlen uns in diesem Haus der Kino- und Filmgeschichte, wo Ernemann früher gearbeitet hat und wo Zeiss Ikon und später Pentacon beheimatet waren, an einem guten Platz. Für die Technische Sammlung ist es ein Bonus, wenn wir zum Beispiel mit einer Jan- Švankmajer-Ausstellung ein ganz andersgeartetes internationales Pu- blikum ins Haus bringen. Bruckner: Wie sieht es heutzutage mit dem Animationsstandort Dres- den aus? Eckardt: Das Trickfilmwesen in Dresden hat sich nicht in der Größe erhalten können, wie damals gedacht. Es gibt nur noch Balance Film und Hylas Trickfilm, die sich in der Zeit nach der Wende entwickelt haben. Die anderen kleinen Studios in Dresden konzentrieren sich auf angewandte Animation für Computerspiele oder Werbefilme und ha- ben mit dieser Tradition nichts mehr zu tun. Feyersinger: Was sind die zentralen Aufgaben des DIAF? Eckardt: Es gibt drei Hauptsäulen: das Archivieren, das Recherchieren und das Publizieren. Momentan bekommen wir viel Material aus hun- dert Jahren Animationsfilmgeschichte, teilweise auch Sachen, von de- nen niemand mehr glaubte, dass sie noch überliefert sind. Weil mit der digitalen Umstellung Filmemacher und Produzenten ihre 35mm-Ko- pien abstoßen wollen, landen auch diese oft bei uns. Was wir gern stär- ker ausbauen würden, ist die medienpädagogische Bildung, um mehr Leute an den Animationsfilm heranzuführen, zumal Mitteldeutschland keine Filmhochschule hat. Momentan arbeiten wir eher mit einzelnen Personen zusammen, zum Beispiel mit Jerzy Kucia bei einem Work- shop an der Kunstakademie Krakau. «Animationsforschung ist Kulturforschung» 113 Bruckner: Welche Bereiche deckt die Sammlung des DIAF ab? Eckardt: Nach der vorläufigen Aufarbeitung des DEFA-Stocks haben wir uns bemüht, unserem Namen stärker gerecht zu werden und das DIAF gesamtdeutsch zu verorten. Als wir vor zehn Jahren mit die- ser neuen Perspektive angefangen haben, war das Feedback erfreulich positiv. Aber gleichzeitig waren damit auch viele Erwartungen ver- bunden. Es kamen dann Fragen wie: «Könnt ihr euch mehr um die Forschung kümmern? Könnt ihr euch darum kümmern, warum es den Animationsfilmproduzenten in Deutschland so schlecht geht?» Das war schwierig für uns, weil alles irgendwo zusammengehört, aber schon die Grundaufgaben des DIAF mit der derzeitigen Personaldecke schwer zu stemmen sind. Deshalb sind wir glücklich, dass es jetzt die AG Animation als wissenschaftliches Netzwerk und die AG Animati- onsfilm als Fachverband der Animationsfilmer gibt. Wir haben ja nicht den Anspruch, alles selber zu bearbeiten. Das DIAF kann gut in der Mitte zwischen Forschung, Produzenten und dem musealen Bereich stehen. Wir sehen eine große Chance in der Vermittlung zwischen ein- zelnen Institutionen und Netzwerken. Feyersinger: Diese Mittlerrolle des DIAF ist für die AG Animation sehr interessant. Wir sehen uns ja selbst als koordinierende Plattform für die bisher doch recht verstreut zu Animation arbeitenden Wissen- schaftler, um gemeinsame Projekte zu forcieren. Bruckner: Was erwartest du oder das DIAF von der Animationsfor- schung, wo siehst du gravierende Lücken? Eckardt: Momentan sind wir in einer Phase, in der man erst ein- mal Interesse wecken muss, weil die Animationskultur in Deutsch- land nicht so großartig gewachsen ist wie in Großbritanni- en oder Frankreich, wo ein ganz anderes Bewusstsein besteht. Ich sehe es im Moment als wichtige Grundlagenarbeit an, wieder- holt herauszustellen: Animationsforschung ist Kulturforschung! Eine konkrete Forschungslücke ist die Zusammenführung der punktu- ellen Aufarbeitung zu einzelnen Produktionsstandorten. Das wäre eine Großtat, damit man sieht, wer in diesem Feld in bestimmten Perioden agiert hat, wie die Verbindungen zwischen den Leuten waren und wo man weiterführende Informationen bekommen kann. Wir fangen zum Beispiel gerade an aufzuarbeiten, wie in den 1980er Jahren im DEFA- 114 montage AV 22 /2 / 2013 Studio für westdeutsche Sender produziert wurde. Das ist ein total spannendes Thema, aber es wurde seltsamerweise kaum ausgearbeitet. Auf unserer Website bieten wir mit der Chronologie zum deutschen Animationsfilm einen Grundansatz für eine vergleichende Aufarbei- tung.1 Diese reicht momentan bis zum Ende der 1940er Jahre, aber es gibt gemeinsam mit Jeanpaul Goergen und Ralf Forster Vorarbeiten bis in die 1990er. Weil die Chronologie wie ein Blog aufgebaut ist, können wir auch laufend aktuelle Ereignisse veröffentlichen. Bruckner: Ihr habt aber nicht nur die Chronologie, sondern auch schon Bücher publiziert. Eckardt: Ja, wir haben zur DEFA-Geschichte viel gemacht. Es gab kleine Publikationen, aber auch die Trickfimfabrik2 ... Feyersinger: Die gar nicht so klein ist und außerdem den Norman- McLaren/Evelyn-Lambert-Award der SAS (Society of Animation Studies) gewonnen hat. Eckardt: Nein, die ist nicht so klein, sie ist sogar 500 Seiten stark und 3½ kg schwer. Obwohl sie den Preis gewonnen hat, liegt die Trick- Fabrik bislang leider nur auf Deutsch vor. Es ist sehr schwierig, Geld aufzutreiben, um das Buch noch einmal auf Englisch zu publizieren. Außerdem wäre eine überarbeitete Fassung sinnvoll, weil die DEFA- Geschichte noch nicht abgeschlossen ist. Wir bekommen ja immer wieder neue Materialien und damit neue Erkenntnisse. Bruckner: Dass die deutschsprachige Forschung zu wenig ins Engli- sche übersetzt wird, ist ein generelles Problem. Eckardt: Deswegen haben wir zum Beispiel den Ausstellungskatalog zu Raimund Krumme zweisprachig gemacht. Wir haben drei Leute gesucht, die Krummes Arbeit aus ganz unterschiedlichen Perspektiven dokumentieren sollten. Für so etwas müssen wir aber immer zusätzli- che Projektmittel einwerben. 1 Homepage des DIAF: http://www.diaf.de/ (letzter Zugriff am 14.11.2013); Chro- nologie zum deutschen Animationsfilm: http://diaf.tyclipso.de/de/home/rubriken/ Deutsche-Animation/Chronologie.html (letzter Zugriff am 14.11.2013). 2 Alle im Interview angesprochenen Publikationen sind im angehängten Literaturver- zeichnis aufgeführt, das zudem die vom DIAF selbst herausgegebenen Veröffentli- chungen enthält. «Animationsforschung ist Kulturforschung» 115 Feyersinger: Für die Internationalisierung der Forschung sind auch Tagungen wichtig. Mit der SAS-Konferenz habt ihr einen wichtigen Schritt gemacht. Eckardt: Die SAS-Konferenz 2005 wurde gemeinsam mit Cine- Graph Babelsberg realisiert. Damals haben sich Jeanpaul Goer- gen und Ton Crone vielfach bemüht, in der sehr angloameri- kanisch geprägten SAS den europäischen Blickwinkel zu stär- ken. Deswegen lautete auch das Thema «Europäische Animation». Das DIAF hatte schon Anfang der 1990er Jahre in Dresden zu- sammen mit dem Filmverband Sachsen drei Symposien zum Ani- mationsfilm organisiert. Wenn man heutzutage liest, wer damals in Dresden war, ist das echt erstaunlich, Jayne Pilling zum Beispiel. Die SAS-Konferenz in Dresden hat einiges für uns bewirkt, weil viele Leute das DIAF außerhalb des DEFA-Kontexts wahrgenommen ha- ben. Durch eine Tagung bekommt man zwar viele neue Impulse, aber in letzter Zeit konnten wir keine mehr organisieren. Für das DIAF sehe ich im Moment wichtigere Aufgaben, denn Tagungen können auch andere gut veranstalten. Da wir keine wirklich weiterführende Forschung betreiben, würden wir zwar den Rahmen liefern, er müsste aber von außen gefüllt werden. Feyersinger: Es ist nicht zu übersehen, dass die Anzahl an Animations- konferenzen und -symposien in letzter Zeit stark gestiegen ist. Eckardt: Wobei eine Regelmäßigkeit schon sehr wichtig ist. Wenn man zum Beispiel weiß, dass die AG Animation alle zwei Jahre im Herbst etwas veranstaltet, kann man als Wissenschaftler oder als Insti- tution gut darauf hinarbeiten und planen. Feyersinger: Kannst du ein paar der Schlüsselfiguren oder Institutio- nen der deutschen Animationsforschung nennen? Eckardt: Ich finde das Umfeld von CineGraph Babelsberg sehr wich- tig. Dort sind Kontinuität und viele Perspektiven vorhanden, obwohl CineGraph Babelsberg sich natürlich in einem bestimmten Zeitrah- men bewegt. Was fehlt, ist die Forschung zum aktuellen deutschen Animationsfilm, vor allem zu dessen ästhetischer Entwicklung, wobei es immer schwierig ist, einen laufenden Prozess zu erforschen. Aller- dings laufen einzelne vielversprechende Projekte in Filmmuseen oder Hochschulen wie Tübingen. 116 montage AV 22 /2 / 2013 Bruckner: In Österreich gibt es zum Beispiel die ASIFA Austria, ei- nen Zusammenschluss von Animationsfilmemachern, die Anfang der 1990er eine Produktionsstätte brauchten, nachdem sie an der Univer- sität für angewandte Kunst abgeschlossen hatten. Diese Filmemacher haben die österreichische Animationsfilmgeschichte in einem Buch aufgearbeitet, weil sich aus akademischen Kreisen niemand dafür inter- essierte. Jetzt kommen jüngere Leute nach, die dieses Thema fasziniert, aber ganz lange war da eine gravierende Lücke. Eckardt: In Deutschland gibt es keine ASIFA in dem Sinne. Vor 1990 hatte Ostdeutschland eine starke ASIFA-Bewegung. In Westdeutsch- land gab es den Trickfilmverband, der irgendwann aufgegeben wurde, und ASIFA Deutschland, wo meines Wissens der Generationswechsel nicht funktioniert hat. Bruckner: Hast du die Animationsforschung in der Schweiz ebenfalls im Blick? Eckardt: Nicht im Detail, aber was ich in den letzten Jahren erstaun- lich fand, ist die Entwicklung in Luzern. Man hat an dieser Hochschu- le im Umfeld der künstlerischen Animationsfilmausbildung viel auf- gebaut, sich also nicht nur auf die Praxis konzentriert, sondern auch auf die Reflexion und Erforschung der eigenen Geschichte. Weiterhin haben Leute wie André Amsler wichtige Grundlagenarbeit geleistet. Außerdem existieren das Buch zum Schweizer Animationsfilm und das Fantoche-Festival. Von außen betrachtet scheint es, dass es in der Schweiz und in Österreich eine enge Kopplung zwischen Forschung, Festivals und Machern gibt. Vielleicht auch, weil die Kreise kleiner sind als in Deutschland mit seinen vielen Animationsfilmzentren. Feyersinger: In der Schweiz scheint tatsächlich alles gut verknüpft: Otto Alder von der Hochschule Luzern und Suzanne Buchan, die am Filmseminar der Universität in Zürich war, sind ja auch Mitbegründer von Fantoche. Wenn wir schon bei den Animationsfilmfestivals sind: Welchen Stellenwert haben sie für euch und allgemein für die Vermitt- lung von Animation? Eckardt: Für uns sind Festivals sehr wichtig, weil sie die Möglichkeit bieten, nicht nur einem Fachpublikum zu begegnen, sondern auch ein breites Publikum zu erreichen. Natürlich ist das sehr punktuell, weil meistens nur eine, maximal zwei Vorführungen stattfinden. Aber «Animationsforschung ist Kulturforschung» 117 bei der Boris-von-Borresholm-Retrospektive auf dem Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm, DOK Leip- zig, war ich überrascht, wie viele Leute bei diesem kaum bekannten Namen nachmittags gekommen sind, trotz guter Konkurrenzveran- staltungen. Bruckner: Und mit welchen Festivals arbeitet ihr konkret zusammen? Eckardt: Wir machen regelmäßig Programme in Leipzig und Stutt- gart: DOK Leipzig ist durch die Kombination aus Dokumentar- film und Animationsfilm für uns interessant. Mit dem Internatio- nalen Trickfilm-Festival Stuttgart (ITFS) zu kooperieren ist für uns sehr wichtig, um gewisse Ost-West-Grenzen in der Aufarbeitung der deutschen Animationsgeschichte abzubauen. Wenn du dich jah- relang nur mit der DEFA selbst beschäftigst, verschachtelst du dich auch darin. Das ITFS bietet wiederum ein eigenes Bild der deut- schen Animationslandschaft. Gemeinsame Projekte sind also für bei- de Seiten gut. Im internationalen Kontext konnten wir mit Anima- ted Dreams, Fantoche, Monstra, Animateka u.a. zusammenarbeiten. Unser Haus- und Heimatfestival ist jedoch das Filmfest Dresden. Dort kommen Kurzspielfilm und Animationsfilm zusammen und bilden eine interessante Schnittstelle. Wir haben in den letzten Jahren wäh- rend des Filmfests zudem unsere Ausstellungseröffnungen und die SAS-Konferenz veranstaltet. Außerdem gibt es dort das internationale Austauschforum für junge Animationsfilmer, das sich zu einer wichti- gen Plattform entwickelt hat. Feyersinger: Du hast schon mehrmals euren Standort in Dresden und eure dortigen Ausstellungen erwähnt, die ja auch eine Art der Vermitt- lung und eine Publikationsform sind. Wie oft und zu welchen Themen finden die Ausstellungen statt? Eckardt: Wir führen kontinuierlich circa sechsmonatige Ausstellungen durch, mal unter einem Technikaspekt, mal steht ein Künstler oder ein Studio im Vordergrund. Aktuell läuft eine Ausstellung zum deutschen Zeichenanimationsfilm der 1930/40er Jahre, in der es um eine Epoche und deren Vor- und Nachläufer geht. Unser Ziel war es, Namen und Künstler, die in Vergessenheit geraten sind, bekannt zu machen, und bekannte Leute wie Gerhard Fieber oder Hans Fischerkoesen und ihre Arbeiten zu relativieren. Wir haben dafür zum Beispiel mit dem Nie- derländischen Institut für Animationsfilm, dem NIAF, zusammengear- 118 montage AV 22 /2 / 2013 beitet, um die niederländisch-deutsche Beziehung zu dokumentieren. Die Ausstellungsvorbereitungen bedeuten für uns meist knappe, inten- sive Arbeitsphasen, in denen wir zum aktuellen Projekt recherchieren. Wenn dann die Ausstellung eröffnet ist, sind wir mit dem Kopf schon beim nächsten Projekt. Wir sehen uns gern als anschiebende Kraft und hoffen, dass Leute Interesse am Thema finden und dazu weiterfor- schen. Dann stehen wir natürlich gerne mit unserem Wissen und un- serer Vermittlung zur Verfügung. Feyersinger: Wir danken dir sehr herzlich für dieses Gespräch. Literatur Barlet, Barbara (Hg.) (1995) Schwarz/Weiß. Der Silhouettenfilm des DEFA-Stu- dios für Trickfilme Dresden. Dresden: DIAF. Deutsches Institut für Animationsfilm (Hg.) (2000) Zeichen & Tricks. Der Zei- chentrickfilm des DEFA-Studios für Trickfilme. Dresden: DIAF. Dewald, Christian/Groschup, Sabine/Mattuschka, Mara/Renoldner, Thomas (Hg.) (2010) Die Kunst des Einzelbilds. Animationsfilm in Österreich von 1832 bis heute. Wien: Verlag Filmarchiv Austria. Eckardt, André/Barlet, Barbara (Hg.) (2006) In Memoriam Horst Tappert (1939– 2006). Dresden: DIAF. Filmverband Sachsen e.V. (Hg.) (1993) 1. Internationales Dresdner Symposium zum Deutschen Animationsfilm vom 6.–9. Mai 1993. Protokoll. Dresden. Gasser, Christian (2011) animation.ch. Vielfalt und Visionen im Schweizer Animati- onsfilm/Vision and Versatility in Swiss Animated Film. Hg. v. Hochschule Lu- zern – Design & Kunst. Sulgen: Benteli. Goergen, Jeanpaul/Schmidt, André/Scholz, Sabine (Hg.) (2002) Animation in Deutschland. Dresden: DIAF. Petzold, Volker (2006) Grenzgänger des Trickfilms. Dresden: DIAF. Schenk, Ralf/Scholze, Sabine (Red.) (2003) Die Trick-Fabrik. DEFA-Animati- onsfilme 1955–1990. Hg. v. DIAF & DEFA-Stiftung. Berlin: Bertz. Scholze, Sabine (1997) Puppen im Film. Der Puppenfilm des DEFA-Studios für Trickfilme Dresden. Dresden: DIAF. Seifert, Ines/Morsbach, Helmut/Haase, Juliane (Hg.) (2006) Puppen im DEFA- Animationsfilm/Puppets in DEFA Animation Films. Berlin: DEFA-Stiftung. Seifert, Ines/Eckardt, André (Hg.) (2009) Raimund Krumme. Spiel für Linien und Figuren. Dresden: DIAF. Von der Zeichentricksinfonie zum Mischfilm Zäsuren des bundesdeutschen Werbeanimationsfilms um 1960 Ralf Forster Am 3. November 1956 eröffnete der Bayerische Rundfunk das bun- desdeutsche Werbefernsehen. In einer humoristischen Etüde führten Liesl Karstadt und Beppo Brem das Benehmen im Restaurant vor und warben zugleich für das Waschmittel Persil. Nur etwa drei Monate zuvor hatte Der Spiegel (1956, Heft 35) den Altmeister des deutschen Zeichenanimationsfilms Hans Fischerkoesen prominent auf seiner Ti- telseite geführt und ihm in dem siebenseitigen Artikel «Minnesang auf Markenartikel» einen Ehrenplatz in der westdeutschen Werbe- und Filmlandschaft eingeräumt. So nah diese Ereignisse – zeitlich wie the- matisch – auch beieinander liegen, repräsentierten sie doch zwei gänz- lich verschiedene Auffassungen und Ausprägungen des Werbefilms: hier der Traditionalist und Zeichenfilmkünstler Fischerkoesen, dort ein hochmodernes Medium, das nach effektiven Mitteln verlangte, um wirksame Botschaften zur Steigerung des Warenabsatzes auf die Bild- schirme zu bringen. Während Fischerkoesens Unternehmen in den folgenden Jahren stagnierte, entwickelte sich der TV-Werbespot zum Trendsetter der Branche. In dieser Gegenüberstellung deutet sich bereits an, dass die bundes- deutsche Werbefilmwirtschaft zwischen 1956 und 1963 eine ein- schneidende Zäsur und Wandlung erlebte, welche die Ästhetik des deutschen Werbefilms über eine Zeitspanne von etwa zehn Jahren ra- 120 montage AV 22 /2 / 2013 dikal veränderte. Der ‹klassische›, neben Fischerkoesen mit Namen wie Werner Kruse und Curt Schumann verbundene narrative Reklame- trickfilm verschwand und wurde durch ökonomischere Darstellungs- formen ersetzt, die sich der Länge eines Werbespots und dem Medium des schwarzweißen Fernsehens anpassten. Darin spielten Animationen zwar weiterhin eine Rolle, kamen jedoch zumeist im Verbund mit an- deren ästhetischen Verfahren und in sogenannte «Mischfilme» einge- bettet zum Einsatz. Vom Animations- zum Mischfilm Noch bis Mitte der 1950er Jahre war der bundesdeutsche Werbefilm fürs Kino maßgeblich von figürlich animierten und oft im Tierreich angesiedelten Erzählformen geprägt, die aus der Zeit des National- sozialismus tradiert und zumeist mit farbigen Produktionen der Ufa- Werbefilm von Hans Fischerkoesen, Wolfgang Kaskeline, Werner Kru- se, Curt Schumann und Egon von Tresckow verbunden waren. Zu den gemeinsamen visuellen Kennzeichen dieser oft im Zeichentrick ausgeführten Farbfilme gehörten detailreich ausgeführte Vorder- und Hintergründe mit starken Tiefenwirkungen, während auf der akus- tischen Ebene der Reimvers – nicht selten durch Gesang vorgetra- gen – und sinfonische Musik überwogen. Die Filmlängen schwankten zwischen zwei und vier Minuten. Dramaturgisch gliederten sich die Streifen in den erzählenden Start- und Mittelteil sowie die auf den Werbegegenstand zentrierte Schlusspassage (Allonge). Beispielhaft für diese Werbefilme steht der dreiminütige Trias-Film Die weisse Weste (D 1954). Das «Polarmärchen von Werner Kru- se» (Vorspann) führt in ein schneebedecktes Land, in dem alle Tiere die weiße Farbe ihrer Umgebung angenommen haben. Doch dann schmilzt der Schnee und das dunkle Erdreich tritt hervor, so dass sich die Tiere beschmutzen und Bär, Fuchs und Hase ihr braunes Fell be- kommen. Selbst die Pinguine werden schwarz und bleiben es auch, als das Land wieder in Eis und Schnee versinkt. Wie in einem ‹Wunder› legt ein Schiff am Eisrand an; ein Matrose hat gerade die Hemden der Mannschaft mit Persil gewaschen. Die Pinguine betreten das Schiff und fordern, der Matrose möge sie ebenfalls weiß waschen, doch da es so viele Tiere sind, reicht das Waschmittel nur für die Westen. Da sin- gen alle im Chor: «Ja, unsere weiße Weste, verdanken wir Persil, es ist für uns das beste, Persil bleibt doch Persil.» In der Schlusseinstellung marschieren Pinguine mit hoch gehaltenen Produktpackungen aus der Von der Zeichentricksinfonie zum Mischfilm 121 1a–b Abbildungen aus die WeiSSe WeSte (D 1954), im Original farbig Tiefe des Raumes auf die Kamera zu, ehe zu einem Persil-Transparent überblendet wird. Während der Film inhaltlich bemerkenswerte Par- allelen zur zeitgleich in der Bundesrepublik ‹von leichter Hand› be- triebenen Entnazifizierung bei fehlender Vergangenheitsbewältigung aufweist, knüpft er ästhetisch an Formen und Gestaltungsmittel an, die bereits für den animierten Werbefilm im Deutschland der 1920er Jahre etabliert waren. Nur zwei Jahre später begann mit dem Persil-Film Benehmen im Restaurant die Erfolgsgeschichte der bundesdeutschen TV-Werbung – und damit zugleich die nachhaltige ästhetische Wandlung des Werbe- films vom Animations- zum «Mischfilm». Nachdem die ARD am 18. Oktober 1957 die Ausstrahlung von Werbesendungen in der Hoheit der Landessender, also in Werbeblöcken im Regionalprogramm bis 20 Uhr, beschlossen hatte, starteten 1958 der Süddeutsche Rundfunk (SDR), der Westdeutsche Rundfunk (WDR) und der Norddeutsche Rundfunk (NDR) mit den entsprechenden Formaten; die anderen ARD-Anstalten folgten bis 1960. Als das ZDF am 1. April 1963 seinen Betrieb aufnahm, orientierte es sich an diesen Modalitäten und plat- zierte Werbung nur bis 19:30 Uhr. Trotz der Ausstrahlungseinschrän- kungen wurden 1963 in der Bundesrepublik bereits rund 3.000 ver- schiedene Fernsehwerbespots hergestellt. TV-Werbung machte 1962 7,1 % des Bruttowerbeaufkommens aus. Der klassische Werbefilm im Kino hingegen stagnierte; sein Anteil war auf 2 % gegenüber 1952 noch 7,8 % gefallen (Eckert/Niehus 1963, 14). 122 montage AV 22 /2 / 2013 Zur Amerikanisierung der deutschen Werbewirtschaft Die Startphase der Fernsehwerbung in der Bundesrepublik wurde von einer rasanten wirtschaftlichen Entwicklung begünstigt und durch sie beeinflusst. Mit dem ökonomischen Aufschwung erhöhten sich die Freizeitanteile und die flüssigen Geldmittel in den Haushalten, 1959 wurde die Vollbeschäftigung erreicht. Die Lohnsteigerungen pro Fami- lie waren zum Teil so hoch, dass Grundbedürfnisse leicht befriedigt wer- den konnten und die Industrie durch Werbung neue ‹künstliche› Kon- sum-Wünsche zu wecken suchte. Die Erzeugung solcher individuellen Begehrlichkeiten wurde zum Werbemotor schlechthin. Sie funktionier- te nicht selten über die Übertragung des amerikanischen Lebensstils auf bundesdeutsche Gesellschaftsschichten und ihre schnell veränder- lichen Moden. Die Bevölkerung gab auch mehr für Unterhaltung aus; schnell erreichte die Bundesrepublik eine relativ hohe Fernsehdichte. 1959 besaß bereits ein Viertel der Haushalte einen eigenen Fernseh- apparat. Parallel dazu neigte sich der Kinoboom dem Ende zu. Nach der Rekordsaison 1956 mit rund 800 Millionen Besuchern in den Licht- spielhäusern pendelte sich die Zahl an Kinogängern in den Folgejahren bei rund 200 Millionen ein (Hickethier/Hoff 1998, 112; 186). Die Öffentlichkeit nahm Werbung oder Marketing – im Sinne ei- ner nüchtern-materialistischen Lebenshaltung – überwiegend positiv als Symptom des modernen Zeitgeists wahr. Reklame musste sich nicht mehr verbergen (etwa in einem verbrämten Tiermärchen wie in Die weisse Weste). Sie konnte klar und deutlich auftreten, ihre Ziele und ihren werbenden Charakter offener mitteilen. Eine Untersuchung zur Akzeptanz der TV-Werbung im ZDF von August 1969 kam zu dem Er- gebnis, dass 59 % der Erwachsenen und 65 % der Jugendlichen tenden- ziell werbefreundlich gestimmt waren. In der Beliebtheit der Werbeme- dien rangierte TV-Werbung ganz oben; so heißt es 1970 in einer Studie des ZDF: «Auf die Fernsehwerbung wurden offensichtlich Sympathien übertragen, die man allgemein gegenüber dem Fernsehen hat.»1 Die Amerikanisierung der bundesdeutschen Konsumgesellschaft hin- terließ auch Spuren im Werbesektor selbst und griff auf die Werbung für den Konsum über. Demonstrative Formen des Direkt-Marketings hatten Konjunktur und verdrängten auch die kaschierten, märchenhaft- poetischen Werbeformen. «Die nun immer kürzer werdenden Spots 1 Zweites Deutsches Fernsehen (1970): Sonderuntersuchungen zum Programm des ZDF von 1963 bis 1969. Mainz: Zweites Deutsches Fernsehen, S. 74. Von der Zeichentricksinfonie zum Mischfilm 123 mit ihren schnellen plakativ inszenierten Produktauftritten standen der Entfaltung jeder erzählerischen Fabel, wie sie Fischerkoesen so liebte und zu seinem Markenzeichen gemacht hatte, entgegen. [...] Ein nüch- tern gewordener, aufgewachter Verbraucher konnte und wollte nicht mehr durch Verse überzeugt werden» (Schindelbeck 2011, 187). Im Kontext der Popularität des ‹American Way of Life› erlangten US- amerikanische Werberatgeber als Lehrmittel zeitgemäßer Werbung in Deutschland große Aufmerksamkeit. Für die TV-Werbung avancierte Harry Wayne McMahans Büchlein The Television Commercial (1954), das 1957 in Düsseldorf unter dem Titel Fernsehwerbung erschien, zur Fibel für die TV-Werber. Wie der deutsche Untertitel «Gestaltung und Produktion wirksamer Werbesendungen» betont, legte der Band mit Ja-Nein-Beispielen und abschließenden Kontrollfragen einen Schwer- punkt auf die ökonomische Effizienz in Produktion und Distribution – nach der Devise: Wie erreiche ich wen mit den geringsten Kosten bei höchster Wirksamkeit? Die Übertragung amerikanischer Erfahrungen auf Deutschland wird im Vorwort zur deutschen Ausgabe mit dem Umstand gerechtfertigt, dass die Fernsehwerbung sich in den USA seit zehn Jahren etabliert und einen beispiellosen Siegeszug hinter sich habe. Darauf folgt eine Liste von Regeln, die sich in der Summe als scharfe Kritik der bis da- hin in der Bundesrepublik praktizierten werbefilmischen Prinzipien lesen: «Erzähle mir nichts, sondern zeige es mir.» (McMahan 1957, 17) Verzichte auf «Auftakt-Zaubereien [...] [,] die Unzahl optischer Tricks [...], den Werbesingsang um des Werbesingsangs willen.» Achte auf: «Ehrliche Argumentation [...] und Glaubwürdigkeit bei der De- monstration des Erzeugnisses, auf klare und nützliche Information [...] sowie auf größere Rationalisierung bei der Filmproduktion» (ibid., 18). Allgemein favorisiert McMahan die Realfilmserie, insbesondere die im Studio mit reduzierten und stilisierten Kulissen gebaute und durch wieder erkennbare Schauspieler belebte Realfilmszene als nach- haltigste und zugleich finanzgünstigste TV-Werbemethode. Großauf- nahmen des Produktes oder Trägers der Werbebotschaft wurden als besonders erfolgreiche Einstellungsvariante ausgelobt, da sie bei den Zuschauern überaus beliebt seien. Ferner empfiehlt McMahan den Fototrick als «Retter des Etats» (1957, 151), um etwa Pack Shots op- tisch attraktiv in Bewegung zu zeigen. Wenn die Zeichenanimation als traditionelle Form gewünscht ist, sei eine Kostensenkung durch Flach- oder Schablonentrickaufnahmen anzustreben. Der Fokus müs- 124 montage AV 22 /2 / 2013 2a–b Beispiele für Fototrick und se dann auf handlungstragenden Elementen und Figuren liegen, denn Mischfilm aus differenzierte Hintergründe blieben im TV-Werbespot wirkungslos. In McMahans Fern- Text und Bild ruft das Lehrbuch schließlich Beispiele auf, die der in sehwerbung (1957, 154; 156) der Bundesrepublik immer noch verehrten Disney-Schule diametral entgegenstanden: Werbespots der UPA (United Productions of Ameri- ca) sowie die daran angelehnten, teils ‹halbabstrakten›, teils mit starken Verfremdungen operierenden Filme der Storyboard Inc. und der Ray Patin Productions. Hilmar Hoffmann hat diesen Stil als «bloß partiku- läre Ausführung von Bewegungsphasen» beschrieben, als eine «Art von Animation, die Dekor und nebensächliche Details ausspart» (1987, 19). Wie McMahan betont, sollte der grafisch aufgefasste, reduzierte und damit weniger arbeitsintensive Zeichentrick mit einem Realfilmteil kombiniert werden, um «ernsthaft zu überzeugen» (1957, 93). In der Bundesrepublik setzte sich die Debatte über die effektive Ge- staltung von Fernsehwerbung vor allem in der Zeitschrift Film-Tech- nikum fort. Dabei zeigte sich, dass die von McMahan vorgetragenen Lehrsätze überwiegend auf fruchtbaren Boden fielen. So heißt es 1959, Von der Zeichentricksinfonie zum Mischfilm 125 der «Zeichenfilm» müsse vor allem die Mittel «der Vereinfachung, Verkürzung und Verdichtung» nutzen, um den Zu- schauer in kürzester Zeit zum «Schalten» – also zu einer positiven Einstellung zum Produkt – zu bringen.2 Dabei sei die li- neare Zeichnung zu bevorzugen, weil sie einem weiteren Manko entgegenarbei- te: der Überfrachtung. Für den Bildauf- bau der Werbespots wurde von der Totale abgeraten, Halbtotale und Nahaufnahme (und entsprechend große Trickmotive) seien die einzigen Einstellungsgrößen, die die gewünschte Wirkung erzielen könn- ten. Vor dem Hintergrund der erhöhten Einschalttarife für das Jahr 1960 wur- den zudem Rufe nach prägnanter Kür- ze und «Synthese der Werbestory» laut.3 Nur selten hingegen regte sich Kritik am Vorbildcharakter der amerikanischen 3 Werbe- Standards. Appelle zur stärkeren Berücksichtigung der kulturellen Un- montage Franz terschiede und des unterschiedlichen Lebensniveaus, wie sie beispiels- Thiess auf dem weise der Beitrag «Der Werbefilm darf nicht amerikanisiert werden» Titelblatt der Zeitschrift formuliert, blieben eher die Ausnahme und weitgehend ungehört.4 Film-Technikum, Auch die betriebswirtschaftlichen Veränderungen der bundesdeut- November 1959; schen Werbeindustrie folgten US-amerikanischen Standards: Der Trend im Original verlagerte sich vom Self-Made-Unternehmer zur Werbeagentur, die farbig ein ganzes Portfolio von Dienstleistungen anbot. Full-Service-Agen- turen aus den USA, die sich in den 1940er Jahren etabliert hatten, er- öffneten Filialen in der Bundesrepublik: Young & Rubicam, McCann und Doyle Dane Bernbach. Zudem trat eine neue Generation von Werbefachleuten an, die auf eine professionelle Ausbildung und Be- rufserfahrungen – nicht selten in den USA – verweisen konnten und sich daher weniger in der Traditionslinie des deutschen Werbefilms der 2 Gedanken zum «Fernseh-Spot» als Zeichenfilm. In: Film-Technikum 1, 1959, S. 25–26, S. 25. 3 Synthese der Werbestory. Gedanken über den Werbefilm im Rahmen der Gesamt- werbung von H. O. Schulze INFA-Film, Berlin. In: Film-Technikum 7, 1959, S. 202– 203, S. 203. 4 Der Werbefilm darf nicht amerikanisiert werden. In: Film-Technikum 7, 1960, S. 208–209. 126 montage AV 22 /2 / 2013 1920er oder 1930er Jahren positionierten. Otl Ai- cher, Hello Weber und Charles Wilp eröffneten Werbe(film)studios oder Agenturen. Der Ameri- kaner Hal Clay, der sein Handwerk vor 1945 bei Disney erlernt hatte, wurde 1961 zum Leiter der Trickabteilung der Münchner Insel-Film berufen, einem der prominentesten Werbefilmanbieter der Bundesrepublik. Hinzu kam, dass mit der TV-Ein- schaltung von Werbespots die Gewinnaussichten kleiner Produzenten schwanden. Hatte das Fi- scherkoesen-Studio in Bad Godesberg die Distri- bution seiner Filme stets selbst vorgenommen und rund 80 % seiner Umsätze mit dem Kopienab- satz erzielt, wurde der Werbemarkt nun von Zwi- schenhändlern (den Agenturen) diktiert, die im Rahmen einer Unternehmenskampagne Unter- aufträge an Filmproduzenten zur Herstellung von Werbespots zum Festpreis erteilten. Die Streuung eines Werbespots, so beispielsweise die mehrmali- ge Ausstrahlung im TV-Werbeblock, wurde vom Filmhersteller und seinen Interessen abgekoppelt; er konnte keine zusätzlichen Gewinne mehr ab- schöpfen. Erste Indizien für diesen Trend birgt be- reits der Bericht von einem Lehrgang für Filmpro- duzenten im Juni 1959, in dem dazu aufgerufen wurde, den «Werbeleiter zu einem vollwertigen Partner des Filmproduzenten auszubilden», ihn im Drehbuch-Studium, in der Filmdramaturgie und in der Filmtechnik zu schulen.5 4 Stubs Bier – Insel-Film auf dem Venedig Anforderungen und Ästhetiken der TV-Werbespots Werbefilm- Festival (Quelle: Die begrenzten Werbezeiten vor 20 Uhr in den bundesdeutschen Re- Film-Technikum 7, gionalprogrammen der Landesrundfunkanstalten machten eine exak- 1962, 193) te Planung und Strukturierung der möglichen, jeweils kaum 5-mi- nütigen Werbeblöcke erforderlich. In einem abgestuften Preissystem wurden Spotlängen von 15 Sekunden bis maximal 1 Minute offeriert. Damit waren stringente Warenpräsentationen vorgegeben und Spots 5 Film- und Fernseh-Werbung als Thema eines Spezial-Lehrgangs. In: Film-Technikum 7, 1959, S. 193–195. Von der Zeichentricksinfonie zum Mischfilm 127 gefragt, die sehr kurze Erzählsituationen und plakative Produktauftrit- te enthielten. Zudem musste die Bildgestaltung auf das – gegenüber der Kinoleinwand deutlich kleinere – Bildschirmformat, auf die Hell- Dunkel-Kontraste des Schwarzweiß-Fernsehens und die Rezeption im kleinen Kreis (der Familie) ausgerichtet werden. Zwar ließ sich die Schaltung der Werbespots genau takten und die Menge potenti- eller Rezipienten relativ zuverlässig ermitteln, die konkrete Wahrneh- mungseffizienz blieb jedoch ungenau. Deshalb wurde geraten, Spots oder «Kurzeinblendungen» von 10 oder 20 Sekunden Länge oft wie- derholt und modifiziert auszustrahlen, um deren Sichtbarkeit zu si- chern (McMahan, 181). Breit gestreute Werbefilmserien boten Mög- lichkeiten, den Wiedererkennungseffekt einer Kampagne oder eines Produktes zu erhöhen. TV-Spots reagierten zudem auf allgemeine äs- thetische Trends der Werbe- wie Medienkultur, etwa die Popularität der Fotografie in Lifestyle-Magazinen oder im Anzeigenbereich. Dies betraf Filme, aber auch andere Bausteine des multimedialen Werbe- feldzuges. Doch trug insbesondere das moderne Massenmedium Fern- sehen den Gestaltern die Aufgabe auf, die dort platzierten Werbemittel inhaltlich wie formal ‹zeitgemäß› aussehen zu lassen. Zusammen mit der Präsenz der US-amerikanischen Vorbilder verän- derten diese Bedingungen die TV-Werbefilme deutlich. Ihre Länge be- lief sich nun in der Regel auf 15 bis 40 Sekunden. Titel und Credits fielen weg, der Hersteller blieb zumeist anonym. Es dominierte eine dynamische, gebrochene oder auch episodische Montagestruktur, die erzählerische Momente zugunsten der Produktabbildung verknappte. Parallel dazu wurde der (über 40 Jahre konkurrenzlos präsente und mit dem figürlichen Trickfilm verwachsene) Reimvers von kurzen und direkten Werbetexten oder Dialogen abgelöst. Direktansprachen an das Publikum und die Abbildung der Protagonisten in Großaufnahme wurden immer häufiger zur ästhetisch ‹angemessenen› Lösung. Dies ist auch als Reaktion auf die neue Rezeptionssituation zu verstehen, denn der Zuschauer saß vor seinem TV-Gerät in der Regel auf glei- cher Höhe mit dem Fernsehprotagonisten, der als naher Kommunika- tionspartner in Erscheinung trat. Die Adressierung des Zuschauers als ‹Partner›, der direkt angesprochen werden konnte, wurde zudem noch verstärkt durch die Tatsache, dass der Werbekonsum im Privatbereich stattfand. ‹Werbepersönlichkeiten› wie Maggi-Fridolin, Frau Antje, der Tchibo-Mann, Tante Klementine oder der OMO-Reporter suggerier- ten eine besondere Nähe, einen engen Dialog mit dem Publikum und die Möglichkeit einer gleichberechtigten Kommunikation zwischen 128 montage AV 22 /2 / 2013 Zuschauer und Werbefigur: ‹Ich› kann Frau Antje schreiben, ‹ich› kann Maggi-Fridolin im Supermarkt am Maggi-Stand treffen. Selbstver- ständlich liefen diese Spots abgestimmt mit multimedialen Kampagnen, sie ergänzten Plakate, Live-Auftritte und Rundfunkansagen. Im Kontext der medienimmanenten Bewertung des Fernsehens als dem zeitgemäßesten Nachrichtenübermittler suchte die Werbebran- che nach adäquaten Techniken, die die Produkte im Hier und Heu- te verorten und in den «Handlungszusammenhang des täglichen Le- bens versetzen» sollten (Schmidt/Spieß 1994, 208). So integrierte die Werbung verstärkt dokumentarisch anmutende Einstellungen, weil in der Rezeption die Steigerung von Authentizitätseffekten zu erwarten war. Auch andere populäre TV-Formate fanden ihren Niederschlag im Werbefilm, die Rate- und Gewinnshow, die dokumentarische Repor- tage mit Direktton-Befragung. Eingebettet waren solche Adaptionen in Werbeserien, in denen stets die gleichen Hauptfiguren agierten. In diesem neuen ästhetischen Programm des Werbefilms blieben Ani- mationen – zumeist als Bestandteil der Mischfilme – integraler Be- standteil der bundesdeutschen Fernsehwerbung. Rein figürliche Zei- chen- oder Puppentrickfilme verschwanden indes fast vollständig – so wurde das HB-Männchen nicht nur zum Reklame-, sondern auch zum Erinnerungsträger an die ‹gute alte Zeit› der Kinowerbung. Ani- mationen wurden nun vor allem eingesetzt, um das Produkt zu bewe- gen, es zu öffnen, seine Wirkung vorzuführen (Sachtrick, Fototrick), oder auch um Texte, Grafiken, Embleme und Logos zu präsentieren. Spezielle Anwendungsformen bildeten Szenen und Sujetübergän- ge oder Kombinationen aus Realfilm und Animation innerhalb einer Szene, wie dies etwa bei der Esso-Tiger-Kampagne ab 1959 in den USA und 1965 in Deutschland der Fall war. Kamen US-amerikani- sche Produkte in den Handel, wurden häufig auch Leitmotive der ent- sprechenden Kampagnen importiert. Animierte Werbefiguren lebten so im bundesdeutschen Werbefernsehen fort, wie beispielsweise «Mr. Clean» von Procter & Gamble, der seit 1958 in den USA als Zeichen- trick-Charakter verwendet wurde und 1967 in Deutschland als «Meis- ter Proper» zu sehen war. Der künstliche, stilisierende, abstrahierende oder sogar karikierende Zeichentrick – in den USA vor allem mit den UPA-Produktionen assoziiert – fand hierzulande jedoch kaum Nach- ahmer oder kreative Nachfolger. Vor dem Hintergrund dieser veränderten Werbefilmlandschaft spe- zialisierten sich die Traditionalisten des deutschen Zeichentrickfilms Von der Zeichentricksinfonie zum Mischfilm 129 5 Mr. Clean von der 1950er Jahre auf eine Nische innerhalb der TV-Werbung. Sie schu- Procter & Gamb- fen Trennspots (Inserts) für die Werbeblöcke, die einerseits notwen- le, 1958 (Quelle: Lincoln Diamant dig waren, um die gesetzlich vorgeschriebene Trennung von Werbung (1971) Television’s und redaktionellem Programm zu markieren und andererseits die Un- Classic Commer- terscheidbarkeit der einzelnen Werbeauftritte sicherstellen sollten: So cials. The Golden entwarf Wolfgang Gerlach die Mainzel-Männchen für das ZDF, Ernst Years, 1948–1958. New York: J. Schienke die Tele-Bärchen für den SFB und Hans Fischerkoesen den Hastings, S. 142) Onkel Otto für den Hessischen Rundfunk. Die reinen Animations- sequenzen dieser Trenner standen nun also geradezu im ästhetischen 6 UPA-Beispiele Kontrast zu den Werbespots, die zumeist Realfilm und animierte Ele- aus McMahans Fernsehwerbung mente miteinander verbanden. (1957, 154; 156) Ein schwarzweißer 20-Sekunden-Spot aus der 1965 hergestellten TV-Werbeserie für Hansaplast-Wundpflaster der Beiersdorf AG ver- deutlicht die neue hybride Ästhetik der Fernsehwerbung. Ein Mann in Realaufnahme steht neben seinem VW-Käfer und will ein Rad wech- seln, er rutscht mit dem Radmutternschlüssel ab, eine Fanfare ertönt. Nach einer Wischblende ist die Hand des Fahrers zu sehen, sie nimmt die Pflasterverpackung aus dem Handschuhfach, hält die Packung in 130 montage AV 22 /2 / 2013 7a–b Hybride Ästhetik in einem Hansa- plast-Spot (D 1965) die Kamera; Off-Kommentar: «Immer zur Hand: Hansaplast». Groß- aufnahme: Ein Stück Pflaster wird auf einer kleinen Wunde am Arm angedrückt. Off-Kommentar: «Wirkt blutstillend und antiseptisch, schließt die Wunde und hilft besser heilen.» Die Hand des Fahrers legt die Packung zurück ins Handschuhfach, sie wird aufgerichtet und frei- gestellt, schließlich per Textanimation mit dem Beiersdorf-Firmenlogo signiert. Fanfare und Off-Kommentar: «Immer zur Hand. Hansaplast». Insbesondere durch die zahlreichen Großaufnahmen der Hand, die die Produktverpackung bewegt, mit ihr hantiert, das Pflaster auf die Wun- de klebt, wird hier ein sanfter, unmerklicher Übergang zur animierten Schlusssequenz hergestellt, die sich dadurch bruchlos in das Spotdesign einfügt und als solche unerkannt bleibt. Die Werbezeile erhält eine starke visuelle Entsprechung. Unter dem wachsenden Einfluss des Fernsehens und US-ameri- kanischer Vorbilder verlor der Animationsfilm seine dominante Rol- le im deutschen Werbefilm. Animationen wurden nun deutlicher in Gesamtkonzepte von Werbung integriert und in filmische Konzepti- onen eingebettet, die nicht mehr auf einer einzigen Technik basierten. Für die Zuschauer schien dabei die Grenze zwischen Trick und Real- aufnahme immer mehr zu verschwimmen, weil Foto- und Sachani- mationen in Verbindung mit Realfilm gegenüber narrativ-figürlichen und traditionell mit Zeichentrick assoziierten Sequenzen der Vorzug gegeben wurde. Die Auftraggeber favorisierten die finanziell je güns- tigste formale Lösung, mit der sich das Werbeziel prägnant artikulieren ließ. Das Verschwinden aufwendiger Animationen in der Fernsehwer- bung erklärt sich also auch über die Rationalisierung der Filmherstel- lung. Real- oder Mischfilme (mit Flach- oder Fototricksequenzen) für Procter & Gamble reflektierten die veränderten Produktionsbedin- gungen ebenso wie eine werbefreundliche Grundhaltung, angesichts derer sich die Werbung nicht mehr hinter einer märchenhaften Ge- Von der Zeichentricksinfonie zum Mischfilm 131 schichte verstecken musste. So wurde das HB-Männchen schon bald zum Exoten im deutschen Fernsehalltag. Literatur Eckert, Gerhard/Niehus, Fritz (Hg.) (1963) Zehn Jahre Fernsehen in Deutsch- land. Dokumentation – Analyse – Kritik. Frankfurt am Main: Niehus. Hickethier, Knut/Hoff, Peter (1998) Geschichte des deutschen Fernsehens. Stutt- gart/Weimar: Metzler. Hoffmann, Hilmar (1987) An nichts weiter gebunden als an die Grenzen der Fantasie. Entwicklungen und Tendenzen des internationalen Trickfilms. In: Von «A» bis «ZIP/ZIP». Trickfilme aus München 1918–1987. Hg. v. Klaus Sigl. München: Münchner Stadtbibliothek, S. 13–22. Schindelbeck, Dirk (2001) Hans Fischerkösen, der Erfinder des Werbezei- chenfilms. In: Trödler und Sammler Journal, 11, S. 180–187. Schmidt, Siegfried J./Spieß, Brigitte (1994) Geschichte der Fernsehwerbung in Deutschland: Eine Skizze. In: Geschichte des Fernsehens der Bundesrepublik Deutschland Band 4. Unterhaltung, Werbung und Zielgruppenprogramme. Hg. v. Hans Dieter Erlinger und Hans-Friedrich Foltin. München: Wilhelm Fink, S. 187–242. McMahan, Harry Wayne (1957) Fernsehwerbung: Gestaltung und Produktion wirksamer Werbesendungen [amerik. 1954]. Düsseldorf: Econ Verlag. Typischer anime-Look: afro Samurai: reSurreCtioN (Japan 2009) Transmedialität, Transgenerizität, Transkulturalität Zur axiomatischen Hybridität von anime Ivo Ritzer Limited animation also shaped a new kind of viewing and consu- ming, one that entails scanning, re-reading, searching information, discerning technical innovation and so forth. In other words, one might say that anime generated a viewer experience that was very much like an experience of informatization itself. (Thomas LaMarre 2002, 337; Herv. i. O.) Es ist einer Kultur eigen, daß sie nicht mit sich selber identisch ist. Nicht, daß sie keine Identität haben kann, sondern daß sie sich nur insoweit identifizieren, ‹ich›, ‹wir› oder ‹uns› sagen und die Gestalt des Subjekts annehmen kann, als sie mit sich selber identisch ist, als sie, wenn Sie so wollen mit sich differiert. (Jacques Derrida 1992, 56; Herv. i. O.) Anime und Animation Anime ist noch immer eine Herausforderung für die Medientheo- rie der Animation. Insbesondere filmwissenschaftliche Bemühungen sehen sich schnell mit zahlreichen Problemen konfrontiert, die ver- meintliche Gewissheiten in Frage stellen. Zunächst handelt es sich bei anime keineswegs um den japanischen Animationsfilm per se. Zwar lei- tet sich der Terminus etymologisch vom englischen animation ab und 134 montage AV 22 /2 / 2013 hat als solcher Einzug ins japanische Vokabular gefunden, jedoch erfasst er längst nicht das gesamte Panorama des Animationsfilms in Japan. Vielmehr meint anime eine sehr spezifische Praxis des – nicht nur – ja- panischen Animationsfilms (vgl. Berndt 2008b). Diese Praxis zeichnet sich durch die Serialität ihrer Narrative und eine stark konventiona- lisierte Stilistik aus und ist primär dem medialen Dispositiv des Fern- sehens verpflichtet: Anime zeigt den selektiven Rekurs auf ‹limitierte› Techniken der Animation, in deren Rahmen die Repräsentation von Mobilität weniger durch direkte Darstellung als durch ton- und mon- tageinduzierte Suggestionen definiert wird (vgl. LaMarre 2009). Die- se für anime konstitutive stilistische Reduktion hat ihre Ursprünge in ökonomischen Imperativen der Kostenminimierung, markiert inzwi- schen jedoch ein zentrales Distinktionskriterium, auf dessen Grundla- ge einem Animationsfilm das Label anime zugeschrieben werden kann. Doch ist anime überhaupt als Animationsfilm zu fassen? Auch diese An- nahme filmwissenschaftlicher Reflexion ist in den letzten Jahren vehe- ment in Zweifel gezogen worden. Autorinnen und Autoren wie Tho- mas LaMarre (2009), Caroline Ruddell (2008), Philip Brophy (2005), Carl Silvio (2006) oder Thomas Looser (2002) kontrastieren das ‹Ki- nematische› mit einem ‹Animetischen› und wollen so auf basale Diffe- renzen zwischen anime und Film in traditionellem Verständnis verwei- sen. Sie apostrophieren bestimmte stilistische Verfahren, die anime vor allem von Paradigmen des ‹klassischen› Hollywood-Kinos unterschei- den, denen auch der traditionelle Animationsfilm etwa Disney’scher Provenienz weitgehend folge. So stünden dem Primat von Kausalität, Kohärenz und Kontinuität des ‹klassischen› Hollywood-Animations- films gestalterische Prinzipien entgegen, deren Signifikat mitnichten eine klare Hegemonie von narrativem Progress, homogener raumzeit- licher Diegese und figurenzentrierter Erzählung darstelle. Auch wenn der ‹klassische› Hollywood-Animationsfilm in vielen Einzelmomenten deutlich selbstreflexiver als sein Spielfilm-Pendant auftrete, sei in ihm doch ein Impetus dominant, der zugunsten einer Konzentration auf Story und Figuren die Materialität des Mediums weithin verbergen wolle. Durch inszenatorische Parameter wie fluide Relationen von Bildvordergrund und Bildhintergrund, physikalisch korrekte ‹lebens- echte› Bewegungen oder Synchronität von Bild und Ton, durch die «suppression of the perception of movement between layers» (LaMar- re 2009, xxiv) werde ein gewisser Realismuseffekt evoziert. Demge- genüber sei das ästhetische Spezifikum von anime gerade die Negati- on solch ‹klassischer› Kontinuitätsprinzipien durch heterogenisierende Transmedialität, Transgenerizität, Transkulturalität 135 Darstellungspraktiken. Multiplanare Bildräume, die Manipulation von temporaler Linearität durch das Einfrieren von Bewegungen oder das Auseinandertreiben von Bild und Ton durch Sprecherstimmen kons- tituierten eine Ästhetik der Diskontinuität, die dem postulierten Re- alismuseffekt amerikanischer Tradition radikal zuwiderlaufe und sich stattdessen stärker auf ornamentale Signifikanten der eigenen Media- lität konzentriere. Trotz der Gefahr essentialistischer, tendenziell gar orientalisieren- der Zuschreibungen und einer pauschalisierenden Monolithisierung ästhetischer Regimes wie anime und Animationsfilm lenken sol- che antinomischen Konstruktionen gleichwohl den Blick auf signi- fikante Unterschiede in stilistischen Ausprägungen der Animation. In der Tat unterscheidet sich das für anime charakteristische Moment des «movement on and between surfaces» (ibid., 7) deutlich von den eher ‹realistischen› Tiefeninszenierungen, die den klassischen Holly- wood-Animationsfilm kennzeichnen. Letzteren aber zu einer pejora- tiv konnotierten Negativfolie zu erheben, um dessen vermeintlichen ästhetisch-ideologischen Konservatismus dann mit einem progressiven Modell aus dem ‹fernen Osten› zu kontrastieren, kann dem Streben nach einer treffenden Analyse von anime nur einen Bärendienst erwei- sen. Statt einer dichotomischen Zuschreibung von Eigenschaften, die sich entlang der Polarität von Identitäten und Alteritäten bewegt, ist es sinnvoller, anime als mediales Phänomen in seinen konkreten ästheti- schen wie kulturellen Eigenheiten ernst zu nehmen. Daher möchte ich mich in den folgenden Ausführungen anime jenseits bipolaren Argumentierens nähern. Ausgangspunkt ist die These, dass anime keinen vorgeschalteten Objektbereich markiert, auf den die The- orie nur nach Belieben zuzugreifen bräuchte; vielmehr erscheinen mir die gewählte Perspektive auf den Gegenstand und der damit verbun- dene begriffliche Rahmen konstitutiv für die sich daraus ableitenden diskursiven Zuschreibungen. Das bedeutet, aus meiner Sicht ist anime sowohl als Animationsfilm wie auch als animetisches Spezifikum der Te- levision lesbar. Besonders deutlich wird die Notwendigkeit einer solch multiperspektivischen Betrachtung, wenn man auf aktuelle anime-Fran- chises transmedialer Reichweite blickt. Die hohe Komplexität eines Ti- tels wie Afro Samurai liegt einerseits im Produktions-, Distributions- und Präsentationsmodus von anime begründet, andererseits zeitigt das Franchise zusätzlich auch zahlreiche Formen generischer Hybridität, die einer Medientheorie der Animation wichtige heuristische Impulse zur Reflexion kultureller Kontexte verleihen können. Am Beispiel von 136 montage AV 22 /2 / 2013 Afro Samurai sollen im Folgenden daher die für anime kennzeichnen- den Phänomene der Transmedialität, Transgenerizität und Transkultu- ralität herausgearbeitet werden. Dazu wird zunächst die Distribution und Serialisierung des Titels (‹Franchising›) auf differenten medialen Plattformen analysiert, um im Anschluss auf die generische Grenzen überschreitende Qualität des Franchise einzugehen. Abschließend sei ein Blick auf seine globale Ausrichtung geworfen, wobei abermals das transgressive Potenzial in den Fokus tritt. Anime soll so als ein auf mul- tiplen Ebenen hybrides Medienphänomen konturiert werden, dessen markante ‹Unreinheit› durchweg als axiomatisch zu verstehen ist. Transmedialität und Serialität Das Afro Samurai-Franchise umfasst bislang die Manga-Reihe von Takashi Okazaki (erschienen in: Nou Nou Hau, 1999–2000), eine fünf- teilige TV-Serie (Gonzo, Japan 2007), einen neunzigminütigen Fern- sehfilm (Gonzo, Japan 2009) sowie ein digitales Videospiel für Xbox 360 und PlayStation 3 (Namco Bandai Games, Japan 2009). Es ist damit durch einen hohen Grad an transmedialer Hybridität gekennzeichnet, also auf verschiedenen medialen Plattformen präsent, von denen kei- ne eine hegemoniale Position besitzt. Wo bereits Okazakis Avantgar- de-Manga die für das Comic konstitutive plurimediale Verfasstheit des Miteinanders von Bild und Schrift zeigt, besitzen Fernsehserie, TV- Film und Konsolenspiel nicht nur die ihnen jeweils eigene mehrfache «Medienkombination» von bewegtem Bild und Auditivität, sondern bilden im «Medienwechsel» auch komplexe «intermediale Bezüge» aus (Rajewski 2002, 19), die Erwähnung verdienen. So rekurriert die TV- Serie auf Okazakis Manga, indem sie das Comic als anime adaptiert. Es handelt sich bei ihr also um eine spezielle Form der Literaturver- filmung – produziert nicht für das Kinodispositiv, sondern für die Te- levision, mit der Besonderheit eines Primärtextes, dessen Qualität als grafische Literatur (und dem damit verbundenen visuellen Zeichen- system) ihn dem adaptiven Sekundärtext annähert. Der Fernsehfilm Afro Samurai: Resurrection wiederum bezieht sich auf die TV-Se- rie als medienspezifischem Prätext und bleibt dabei demselben Dis- positiv verpflichtet, wählt aber eine Form des Mediums, welche dieses einem anderen Medium respektive dessen dominanter Form entlehnt hat: dem Spielfilm des Kinos. Das Videospiel zu Afro Samurai schließ- lich bezieht sich ebenfalls auf die gleichnamige Fernsehserie, vollzieht indes aber einen radikaleren Medienwechsel hin zur interaktiven di- gitalen Audiovisualität. Transmedialität, Transgenerizität, Transkulturalität 137 In allen Fällen handelt es sich jeweils um Prozesse der «remediati- on» als «the representation of one medium in another» (Bolter/Grusin 1999, 45) – um Prozesse, die differente Medien aneinander vermit- teln. Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit hier überhaupt noch von medialen Grenzen gesprochen werden kann. Denn vor der Ma- trix einer voranschreitenden Medienkonvergenz lässt sich eine ästhe- tische Annäherung der Medien – Television, Kino, Comic – durch di- gitale Animation konstatieren. Diese hebt nicht nur Mediengrenzen auf technologischer Ebene auf (vgl. Freyermuth 2007), sondern macht das audiovisuelle Bewegtbild auch zu potenziellem «painting in time» (Manovich 2001, 308). Sie lässt also aus voneinander abweichenden Einzelbildern über logarithmische Vektordaten den Eindruck von Be- wegung der Bildobjekte entstehen. Mit dieser technologischen Seite der digitalen Animation ist aller- dings erst an der Oberfläche ihrer Signifikanz gekratzt. Nicht zuletzt vor der ökonomischen Dimension einer Integration von Comic-, TV- und Videospielproduktion in globalisierten Medienkonzernen, die ei- nen ebenso globalen Zugriff auf Angebote erlauben, liegt es nahe, von einer gegenseitigen Beeinflussung der Medien auszugehen. Es ließe sich argumentieren, dass Medienprodukte mit Blick auf ein transme- diales «worldmaking» (Bordwell 2006, 58), das heißt die Transposition existenter möglicher Welten in neue fiktionale Kontexte, zusehends so gestaltet werden, dass sie sich für ein Franchising durch andere Medien anbieten. Dabei spielt die Serialisierung der Narrative und ihrer Di- egesen eine entscheidende Rolle. Schon Takashi Okazakis zuerst irregulär im unabhängigen Avantgar- de-Magazin Nou Nou Hau publizierter Manga ist durch eine serielle Struktur gekennzeichnet, die von der für das anime-Studio Gonzo pro- duzierten TV-Serie aufgegriffen wird. Afro Samurai handelt von den Abenteuern des titelgebenden Protagonisten, der in einem postapoka- lyptischen Japan als Schwertkämpfer durch das Land zieht, um Rache für den Tod seines Vaters zu nehmen. Dieses pikareske Narrativ besitzt einen hohen Grad an Serialität: Es ist definiert durch dramaturgische Konflikte, die sich nicht auf eine Episode beschränken, sondern die einzelnen Folgen aufeinander aufbauen lassen und zu makrostruktu- rellen Handlungsbögen (story archs) verflechten. Jede Einzelepisode en- det mit einem Cliffhanger, der zur nächsten Folge überleitet. Dadurch werden diverse Erzählstränge über mehrere Episoden hinweg fortge- führt, mit der Konsequenz, dass eine Verknüpfung der einzelnen Folgen chronologisch nach dem Prinzip der Fortsetzungsserie (serial) erfolgt 138 montage AV 22 /2 / 2013 1 TV-Serie afro Samurai (Japan 2007) und das Ganze auch auf diese Weise rezipiert werden will. Anders als in der Episodenserie (series) mit in sich abgeschlossenen Folgegeschichten wird hier nicht eine ähnliche Geschichte immer wieder erzählt, son- dern eine Geschichte auf ähnliche Weise immer weiter erzählt. Dies geschieht allerdings nicht notwendig linear: Afro Samurai ist von einer verschachtelten Erzählstruktur geprägt, die insbesondere in zahlreichen Rückblenden und intern fokalisierten Traumsequenzen sowohl Kind- heit als auch Ausbildung des Protagonisten schildert. Ferner schließt die Serie in der fünften und finalen Episode nicht mit einer konventionel- len Konfliktlösung, sondern endet abrupt, wenn Afro zwar den Tod des Vaters gerächt hat, nun aber seinerseits von einem alten Widersacher aus Jugendtagen zum Kampf herausgefordert wird. Die Narration des TV-Films Afro Samurai: Resurrection figu- riert als Sequel zur Fernsehserie. Sie setzt allerdings nicht unmittelbar mit deren Handlungsende ein, sondern füllt zunächst auf analeptische Weise eine ihrer Ellipsen. Gezeigt wird Afros friedfertiges Leben nach der Rache für den Tod des Vaters, bis der Film jenen Punkt erreicht, an dem der Protagonist mit seinem alten Feind konfrontiert wird. Von da an wird die Story der Serie fortgesetzt, wenn auch mit leichten Abwei- chungen: Der Kampf ist einer Reimagination unterzogen, das heißt noch einmal gänzlich neu – und in Details durchaus unterschiedlich – animiert. Er dient als eine Art Prolog für den Film, mit dem der Bezug zur Serie hergestellt, zugleich aber auch eine Fortsetzungser- zählung installiert wird. Erst danach beginnt der dominante Diskurs von Afro Samurai: Resurrection. Als die sterblichen Überreste sei- nes Vaters gestohlen werden, macht Afro sich auf die Suche nach den Transmedialität, Transgenerizität, Transkulturalität 139 Dieben und gerät auf seiner Reise erneut an zahlreiche Gegner, die er in ebenso virtuosen wie blutigen Kämpfen besiegt. Afro Samurai: Resurrection zeigt hier mehr noch als die TV-Serie eine Gliederung der Geschichte in set pieces. Vom eröffnenden Duell auf einer buko- lischen Brücke über die Auseinandersetzung mit drei finsteren An- droidenkriegern bis hin zum finalen Showdown zwischen Afro und seinem reanimierten Vater wird der Film von einer Dramaturgie der Eskalation beherrscht, die durch additiv verkettete Animationen von Schwertkämpfen definiert ist. Die Serialität des anime-Franchise kenn- zeichnet damit nicht nur die Beziehung zwischen seinen unterschied- lichen Titeln und die Relation differenter Episoden, sie prägt bereits das Mikronarrativ eines jeden Einzeltexts, also dessen episodische set piece-Struktur. Jene spektakulären Momente des anime, die man in An- lehnung an Tom Gunning als ‹Audiovisualität der Attraktionen› be- schreiben könnte, initiieren und begleiten in traditionelleren Titeln das Geschehen lediglich. Afro Samurai nimmt sie hingegen als struk- turierendes Prinzip, dessen Gerüst vom Fortgang der Erzählung ge- füllt wird. Diese hybride Dramaturgie mit ihrem Oszillieren zwischen Nummer und Narration, Spektakel und Storytelling wiederum bietet sich in besonderem Maße für Adaptionen durch digitale Videospiele an. Deren ludische Qualität entfaltet sich nicht selten entlang standar- disierter Situationen aus aktionszentrierten filmischen Vorbildern. Mit dem Videospiel Afro Samurai entfernt sich das Franchise zum einen von der seriellen Narration, da der Medienwechsel den Fokus vom Erzählen einer Geschichte hin zu performativen, regelbestimm- ten Handlungsanweisungen verschiebt, die dem Spielersubjekt eine besondere Leistung – einen «nontrivial effort […] to traverse the text» (Aarseth 1997, 1) – abverlangen. Das Konsolenspiel Afro Samurai aber knüpft dennoch – auch in narrativer Hinsicht – an die diegetische Welt des Franchise an. So situiert es sein Setting nicht nur im bekann- ten Universum, die Handlung verläuft auch parallel zu den Ereignis- sen aus der TV-Serie. Als Afro steuert die Spielerin ihren Avatar durch das postapokalyptische Japan, um den Tod des Vaters zu rächen. Dabei begegnen ihr allerlei Gegner, die im Schwertkampf nach dem Prinzip von hack and slay besiegt werden wollen. Die das Narrativ steuernden cut scenes sind in der engine des Spiels animiert und werden traditionell zwischen den unterschiedlichen zu absolvierenden Levels abgespielt. Sie folgen der Plotentwicklung der Fernsehserie und lassen das Vi- deospiel auf diese Weise zu einer transmedialen Adaption werden, die ebenfalls als Remake der TV-Serie in einem differenten medialen Dis- 140 montage AV 22 /2 / 2013 2 Videospiel zu afro Samurai (Japan 2009) positiv und damit als Teil eines «transmedia storytelling» (Jenkins 2006) gelten könnte. Transmediales Erzählen ist dadurch charakterisiert, dass Teile einer Geschichte auf unterschiedliche Medienplattformen ver- teilt werden, wobei jedes Medium im Idealfall seine spezifische Stärke ausspielen kann: «Stories unfold across multiple media platforms, with each new text making a distinctive and valuable contribution to the whole» (ibid., 95f). In diesem Sinne ergänzt das Konsolenspiel Afro Samurai sein Franchise einerseits um narrative Details, insbesondere durch Flashbacks in die Adoleszenz des Protagonisten; andererseits tes- tet es durch die interaktive Anlage auch die Geschicklichkeit der Spie- lerin und synchronisiert diese auf besonders intensive Weise mit dem Avatar. Afros Exzellenz im Schwertkampf wird zur Frage des Beherr- schens der Spielmechanik. Genre und Globalisierung Anime wird in der Filmwissenschaft bislang kaum als eigenes Gen- re betrachtet (vgl. etwa Zahlten 2008). Selbst da, wo dem Animati- onsfilm der Status eines Genres zuerkannt wird, gilt anime bestenfalls als nationalspezifische Ausprägung, mithin als Subgenre des Animati- onsfilms (vgl. Friedrich 2007, 14). In Japan selbst hingegen fasst man anime durchaus als ein «medium-genre» (Hu 2010, 2), das als autono- me Kunstform neben Malerei oder darstellenden Künsten steht. Dabei werden anime-Produktionen weniger nach semantischen oder syntak- tischen Parametern klassifiziert, wie dies etwa Rick Altman mit den bekannten Hollywood-Genres tat. Überhaupt geht es zunächst we- Transmedialität, Transgenerizität, Transkulturalität 141 niger um eine ästhetische oder narrative Bestimmung, ausschlagge- bend für die Kategorisierung ist primär die jeweilige Zielgruppen- ausrichtung: Kodomo (jap.: «Kind») sind Produktionen für Kinder, shojo (jap.: «Mädchen») für weibliche Jugendliche, shonen (jap.: «Junge») für männliche Jugendliche, josei (jap.: «junge Frau») für Frauen von fünf- zehn bis vierzig, seinen (jap.: «junger Mann») für Männer zwischen achtzehn und dreißig Jahren. Freilich sind mit diesen demografischen Perspektiven dann aber auch textuelle, semantisch-syntaktische Fakto- ren verbunden. So basiert etwa kodomo auf Geschichten aus dem Tier- reich oder von Kinderfreundschaften, shojo handelt oft von Liebesge- schichten unter Adoleszenten, shonen konzentriert sich auf fantastische Erzählungen um Superhelden, und seinen zeichnet sich häufig durch Narrative mit starkem Sex-and-Crime-Schwerpunkt, aber auch be- tont experimentellen Zugängen, aus. Afro Samurai wird in Japan als seinen bezeichnet, besitzt durch die vielfachen Verweise auf Traditionen des Kinofilms jenseits von anime aber auch zahlreiche Bezugspunkte zu Filmgenres. Dominant ist si- cherlich der Einfluss von chanbara (jap.: onomatopoetisch für das Ge- räusch von klirrendem Stahl), dem japanischen Schwertkampffilm.1 Dieser jedoch wird durch multiple Hybridisierung deutlich modifi- ziert: Verdichtet chanbara als Subgenre des japanischen Historienfilms jidai-geki (jap. jidai: «Zeitalter», geki: «Drama») japanische Geschichte zwischen Mittelalter und frühem 20. Jahrhundert, so entwirft Afro Samurai ein postapokalyptisches Setting, das dem Science-Fiction- Genre entspricht. Aber auch die Science-Fiction-Elemente variiert Afro Samurai entscheidend. So wird die postapokalyptische Welt des anime-Franchise retrofuturistisch gestaltet, in der Diegese kollidieren moderne und mittelalterliche Technologie, und das postapokalyptische Szenario wird mit den Mitteln des Historienfilms entworfen. Einem solchen Prinzip zeitlicher Mischung folgt nicht nur eine zwischen Schwertkämpfen und Lasergefechten angesiedelte Ikonografie, auch die Mythologie des Franchise trägt dem Rechnung. ‹Japan› hat in des- 1 Chanbara wird im Folgenden als Substitut für den in okzidentalen Diskursen ge- bräuchlichen, aber höchst problematischen Begriff des Samuraifilms benutzt, der ers- tens in Japan nicht existiert und zweitens am Gegenstand vorbeigeht: «If the use of swords is the only crucial factor in determining the identity and coherence of the samurai film as a genre, then why not call it, for instance, a sword film?» (Yoshimoto 2001, 213). In der Tat ist äußerst auffällig, dass spätestens seit den 1960er Jahren im sogenannten Samuraifilm kaum noch Samurai auftreten, sondern Schwertkämpfe- rinnen und -kämpfer unterschiedlicher Couleur. 142 montage AV 22 /2 / 2013 sen Imagination eine neofeudale Gesellschaftsordnung ausgebildet, so dass die Zukunft wie eine Variante der Vergangenheit wirkt. Damit scheint sich zunächst der Titel des anime zu rechtfertigen: Der historische Samurai steht im Dienst regionaler Fürsten, die vom Shogunat der Tokugawa (1603–1868) zunächst bestätigt respektive ins Amt gesetzt, dann jedoch sukzessive ihrer Macht enthoben werden. Als Sinnbild des japanischen Adels unter vorindustriellen Bedingun- gen ist der Samurai ein Mitglied des Kriegerstandes, das nach einem ungeschriebenen moralischen Imperativ agiert, dem bushido (jap. bushi: «Krieger», do: «Weg»). Dieses Gesetz verpflichtet den Samurai gegen- über seinem Lehnsherrn und seinem Stand bis hin zur Selbstaufgabe des eigenen Lebens. Mit der Etablierung einer Zentralregierung und der Befriedung der verfeindeten Fürsten wurden die Kriegsdienste des Samurai schließlich realhistorisch obsolet. In der medialen Imagina- tion kehrt dieser aber als edelmütige, tapfere und tugendhafte Figur wieder: «[S]amurais […] are figures grounded in historical fact but elevated through repeated representations in art to the level of myth» (Silver 2005, 11). Filme über Samurai überhöhen ihre Protagonisten, um das Bild einer vergangenen Zeit, einer obsoleten Epoche traditio- neller Werte, zu zeichnen. Sie sind nationale Allegorien des erinnern- den Eingedenkens, die in Filmen wie The 47 Ronin (Mizoguchi Kenji, Japan 1941), Gate of Hell (Kinugasa Teinosuke, Japan 1953) oder Mi- yamoto Musashi (Inagaki Hiroshi, Japan 1954) stereotype Bilder des japanischen Mittelalters produzieren und den Samurai dabei als weit- hin imaginäre Figuration japanischer Tugenden feiern. Das anime Afro Samurai hingegen bezieht sich weniger auf diese ‹Klassiker› des jidai-geki, es stellt sich vielmehr in die Tradition des post- klassischen chanbara, die spätestens mit Yojimbo (Kurosawa Akira, Japan 1961) einsetzt und mit der Kozure-Okami-Reihe (Misumi Kenji/ Kuroda Yoshiyuki, Japan 1972–1974), einer sechsteiligen Manga-Ad- aption, ihren wohl paradigmatischen, weil für spätere Manga beson- ders prägenden Ausdruck findet (vgl. dazu Desser 1992). Dort bleibt von der mythischen Dimension des Genres lediglich noch das kenjutsu (jap. ken: «Schwert», jutsu: «Kunst») erhalten, die von den Figuren aufs vollkommenste beherrschten Techniken des Schwertkampfes. Im post- klassischen chanbara stehen herrenlose Schwertkämpfer im Zentrum. Sie wandern über das Land und stellen ihre besonderen Fähigkeiten gegen Bezahlung zur Verfügung. Auch Afro ist eine solche Figur, für die weder Fragen der Standeszugehörigkeit oder der Feudaltreue noch der Nation und der ‹Japanizität› eine Rolle spielen. Sie erscheint eben- so geschichtslos wie jene hochgradig hybride Posthistoire, durch die Transmedialität, Transgenerizität, Transkulturalität 143 3 Western- Elemente im Showdown der TV-Serie sie streift. In der Diegese von Afro Samurai trifft Hochtechnologie wie Cyborg-Wesen, Mobiltelefone und Raketenwerfer auf ein japani- sches Mittelalter, das durch seine Repräsentation in chanbara bekannt ist. Hinzu kommen ikonografische, aber auch motivische Elemente aus zahlreichen weiteren Genres: Der finale Gegner des Protagonisten ist wie eine Western-Figur gekleidet, mit Stetson-Hut und langem Staub- mantel, unter dem er sechsschüssige Revolver trägt;2 der Topos um den Hegemoniestreit unter den Schwertkämpfen stammt aus der Tra- dition von chinesischen Martial-Arts-Narrativen und wuxia-Mythen (vgl. Teo 2009); und Afro selbst wird stets begleitet von einem ima- ginären Alter Ego, das aber dennoch eine irritierende materielle Prä- senz besitzt, immer wieder mit der Umwelt interagiert und daher dem Fantasy-Genre zuzurechnen wäre. Afro Samurai lanciert mithin ein offenes Genrespiel, das seine syn- kretische Disparität niemals verbirgt oder leugnet, sondern sie osten- tativ ausstellt. So wird, wie Jörg Schweinitz es für den postklassischen Hollywood-Film der 1990er Jahre herausgearbeitet hat, «eine betont ‹künstliche› Diegese geschaffen, zusammengefügt aus narrativen resp. visuellen Stereotypen, welche unverhohlen als Bruchstücke unterschiedli- cher Genrewelten angeordnet werden» (Schweinitz 2006, 91; Herv. i.O.). Auch Afro Samurai «vertuscht das Fragmentarische [...] nicht, son- dern betont die Inkohärenz seiner Elemente mit allem Nachdruck», versucht «nicht in eine homogene ‹mögliche Welt› der Imagination einzutauchen, sondern führt uns eine entblößte Konstruktion aus he- 2 Zur komplexen Relation von Western und chanbara vgl. Ritzer 2011; 2012. 144 montage AV 22 /2 / 2013 terogenen Zeichen vor» (ibid, 92). Das anime-Franchise «schafft eine absichtsvoll unmögliche Welt» (ibid.; Herv. i.O.). Die so verstandene Hybridisierung ließe sich als dekonstruktivisti- sche Strategie charakterisieren. Statt die disparaten generischen Codes miteinander zu verschmelzen, exponiert Afro Samurai sie in ihrer je spezifischen ästhetischen Qualität. Das anime-Franchise arbeitet betont eklektisch, sein grundlegendes Gestaltungsprinzip lässt sich auch als ‹Bricolage› fassen. Diese ‹Bastelei› ist ein Vorgang, der etablierte Codes aus ihrem Sinnzusammenhang reißt und in einen anderen Kontext hineinzitiert, so dass ein neuer Sinnzusammenhang entsteht. «Der Bastler», so die entsprechende Passage bei Claude Lévi-Strauss, «ist in der Lage, eine große Anzahl verschiedenartigster Arbeiten auszufüh- ren: [...] [D]ie Regel seines Spiels besteht immer darin, […] den Vorrat zu erneuern oder zu bereichern oder ihn mit den Überbleibseln von früheren Konstruktionen oder Destruktionen zu versorgen» (1968, 30). Die Bastelei von Afro Samurai artikuliert eine Abkehr von der modernen «Metaerzählung» (Lyotard 1990, 51), ohne aber auf post- moderne Ironie zu setzen. Das heißt, das anime versieht seine Anlei- hen und Zitate zwar mit Anführungszeichen, verzichtet aber auf ein Augenzwinkern. In Kontrast zu einfachen Genremischungen, wie sie auch schon im ‹klassischen› Hollywood-Kino an der Tagesordnung waren (vgl. etwa Altman 1999, 140ff), die ihr Material funktional für die Erzählung zu- rechtlegten und die gemischten Elemente synthetisierten, wird durch die Hybridisierung, wie sie in Afro Samurai erfolgt, konträr zur ‹klas- sischen› Praxis der Genremischung, keine Kohärenz der Diegese mehr hergestellt. Stattdessen resultiert der Reiz der animierten Welt gerade aus ihrer Artifizialität: Das offen fragmentarische Nebeneinander dis- parater, scheinbar inkompatibler generischer Elemente sorgt für die Attraktivität der Diegese. In dieser Hinsicht treibt dieses Franchise eine vielfach auch im postmodernen Kino zu beobachtende Tendenz vor- an, beteiligt und befeuert also einen transgenerischen, ja transmedialen Trend. Afro Samurai spielt in einem schwer definierbaren Kosmos zwi- schen Mittelalter und Mythos, in einer Nicht-Zeit und an einem Nicht- Ort. So ungezwungen das anime generische Strukturen von chanbara, Western, wuxia und Science-Fiction hybridisiert, so frei geht es auch mit den Dimensionen von Raum und Zeit um. Einen physischen Re- ferenzraum der Bilder gibt es nicht, die Ontologie der Diegese bleibt in einem permanenten Schwebezustand. Damit korreliert die atemporale Lokalisierung der Aktion. Afro Samurai verzichtet auf historische Re- Transmedialität, Transgenerizität, Transkulturalität 145 4 Anspielungen auf das Science- Fiction-Genre in afro Samurai (TV-Serie) ferenten, ja überhaupt auf Bezüge zur japanischen Geschichte. Es ope- riert lediglich mit bekannten generischen Versatzstücken und spielt so mit dem medienkulturellen Wissenshorizont des Publikums. Noch ein weiterer Prozess der Hybridisierung ist zentral für Afro Samurai. Das Franchise figuriert als Produkt einer zweifachen transkul- turellen Appropriation. Denn es bezieht sich nicht direkt auf die Tradi- tion von chanbara, sondern über den Umweg multipler «global cultural flows» (Appadurai 1990, 6), also transnational wirkmächtiger Diskurse und Praktiken kultureller Felder. Es nimmt eine Neu-Aneignung der in afroamerikanischen Subkulturen zirkulierenden Bilder japanischer Mythen vor – darunter insbesondere die im Zuge des Blaxploitati- on-Zyklus der 1970er Jahre hergestellten Konnexe zwischen asiatischer Martial Arts und ihrer afroamerikanischen Appropriation. Produkti- onen wie That Man Bolt (David Lowell Rich/Henry Levin, USA 1973), Black Belt Jones (Robert Clouse, USA 1974) oder The Tattoo Connection (Tso Nam Lee, Hongkong/USA 1978)3 hatten bereits afroamerikanische Protagonisten mit Martial Arts-Fähigkeiten gezeigt, bevor mit Black Samurai (Al Adamson, USA 1977) und Death Force (Cirio H. Santiago, USA/Philippinen 1978) schließlich zwei Filme in die Kinos kamen, in denen explizit afroamerikanische Schwertkämpfer 3 Weitere Beispiele wären Bamboo Gods and Iron Men (Cesar Gallardo, USA/Phi- lippinen 1974), T.N.T. Jackson (Cirio H. Santiago, USA/Philippinen 1975), Cleo- patra Jones and the Casino of Gold (Charles Bail, USA/Hongkong 1975), Hot Potato (Oscar Williams, USA 1976) und Ebony, Ivory & Jade (Cirio H. Santiago, USA/Philippinen 1976). 146 montage AV 22 /2 / 2013 nach Prinzipien des bushido agierten. Jim Kelly, der Hauptdarsteller aus Black Samurai, diente als Vorbild für die Figur des Afro. Sowohl TV-Serie als auch Fernsehfilm und Videospiel besitzen da- rüber hinaus einen Hip-Hop-Soundtrack von The RZA, der nicht nur Mitglied des Rapper-Kollektivs Wu-Tang Clan ist, sondern auch den Soundtrack von Hybrid-Filmen wie Ghost Dog: The Way of the Sa- murai (Jim Jarmusch, USA 1999) oder Kill Bill (Quentin Tarantino, USA 2003–2004) schrieb.4 Afro Samurai reiht sich also in ein asiaphi- les Projekt ein, das afroamerikanische Subkulturen seit den 1970er Jah- ren perpetuieren und Potenziale der Identifikation zwischen differen- ten marginalisierten Ethnien offeriert (vgl. etwa Desser 2000; Prashad 2001; Kato 2007; Cha-Jua 2008; Wilkins 2008). Das anime reimaginiert chanbara für eine globale Gemeinschaft, macht aus dem japanischen Schwertkampffilm einen transkulturellen Text, einen Signifikanten kultureller Differenz, der einen infiniten Zwischenraum transnationa- ler Kultur markiert, in dem lokale Identität und globale Alterität neu verhandelt werden. Damit gelingt Afro Samurai im Sinne von Homi Bhabha die «Konzeptualisierung einer internationalen Kultur [...], die nicht auf der Exotik des Multikulturalismus oder der Diversität der Kulturen, son- dern auf der Einschreibung und Artikulation der Hybridität von Kultur beruht» (2002, 58; Herv. i.O.). Die reziproke Durchdringung ‹reisen- der› Bilder und Töne, allegorisiert in der Ikone des afroamerikanischen Schwertkämpfers und dem Hip-Hop-Beat als Soundtrack zu chanbara, macht eine klare Unterscheidung von Fremdem und Eigenem, ‹Osten› und ‹Westen› unmöglich. Hier artikuliert sich eine generische wie kul- turelle Grenzen durchbrechende Öffnung, deren hybrider Charakter ebenso liminale wie polyphone Qualität besitzt. Die ‹Vielstimmigkeit› des Franchise liegt darin begründet, dass im transnationalen kulturellen Dialog unterschiedliche Elemente von Blaxploitation und Schwert- kampffilm ineinandergreifen, ohne aber in dieser Verbindung aufzu- gehen. Vielmehr ist ein dynamischer Prozess der Begegnung initi- iert, an dem bipolare Strukturen zerbrechen müssen. Statt kulturelle Essentialismen zu postulieren, konstituiert Afro Samurai ein Patch- 4 Mit der Tarantino-Produktion The Man with the Iron Fists (USA 2012) hat RZA kürzlich auch sein Debüt als Regisseur gegeben und eine Hommage an den hong- kong-chinesischen Martial-Arts-Film der 1970er Jahre inszeniert. Er fungiert hier nicht nur als Soundtrack-Schreiber, sondern auch als Hauptdarsteller. Zu RZA, dem Wu-Tang Clan und ihrer Appropriation asiatischer Populärkultur vgl. einführend Wilkins 2008. Transmedialität, Transgenerizität, Transkulturalität 147 work verschiedenster Einflüsse, das gera- de durch seine axiomatische Heterogeni- tät besticht. Dass die transmediale Figur des Afro in Fernsehserie, TV-Film und Konsolen- spiel von Samuel L. Jackson gesprochen wird, verdeutlicht noch einmal die Hy- bridität des anime zwischen asiatischer und afroamerikanischer Kultur und zeugt – wie auch RZAs Soundtrack – von der Transnationalität der Co-Produktion. Die japanische Medienkultur von ani- me figuriert heute als ästhetischer Kno- tenpunkt in einem globalen Netzwerk ökonomischen wie kulturellen Aus- tauschs. Sie ist ein Symptom dessen ge- worden, was Globalisierungstheoretiker wie Michael Hardt und Antonio Negri die «post-postmoderne Kondition» nen- nen: infinite Zirkulation von Kapital, In- formation und Bildern (Hardt/Negri 2002, 150). Herrschaft erfährt im Sinne 5 Blaxploi- dieses politischen Theoriemodells eine permanente Durchmischung tation-Referenz: von Macht und Kultur, die «Grenzen nationaler Souveränität sind Jim Kelly als blaCk Samurai durchlässig wie ein Sieb, und jeder Versuch, die Migrationsbewegun- (Al Adamson, gen […] zu regulieren, scheitert» (ibid., 255). Die Entwicklung geht USA 1977) weg von imaginierter Gemeinschaft, wie sie noch Benedict Anderson als «imagined political community» definierte (1991, 6). An die Stelle des Nationalstaates ist eine neue transnationale Ordnung getreten, wo- bei nach Negri und Hardt dem Imaginären, das heißt dem Raum der Fantasien und Fiktionen, entscheidende Bedeutung zukommt. Wäh- rend alte Herrschaftsformen, verkörpert durch Nation und europä- ische Kolonialmacht, stets Grenzen markiert haben, gedeiht die Hege- monie des Empire in permanenter Bewegung. Herrschaft wird in ein dynamisches Modell von Kommunikation transponiert, das kulturelle Praktiken durch Produktion immanenter transnationaler Systeme neu definiert. Anime reagiert auf die ökonomischen Entwicklungen der Transna- tionalisierung, indem es den globalisierten medienkulturellen Flüssen folgt. Aus ästhetischer Sicht sind Medientexte globaler Hybridität ein Effekt, oszillierend zwischen Eigenheit und Exteriorität, Autoaffirma- 148 montage AV 22 /2 / 2013 tion und Fremdbezug, Identität und Alterität. Afro Samurai ist mit- nichten das einzige anime, das diese hybride Konfiguration herstellt, es steht vielmehr beispielhaft für entsprechende Tendenzen einer trans- nationalen Medienkultur, die heute auch – und gerade – das Feld der Animation prägen. Analog zur Transgression von medialen Plattfor- men und analog zur Überschreitung generischer Grenzen artikuliert auch die Inklusion von kreativem Personal aus differenten kulturellen Kontexten eine als axiomatisch zu charakterisierende Hybridität, die anime zum sowohl transmedialen, transgenerischen als auch transkul- turellen Phänomen werden lässt. Anime bildet auf multiplen Ebenen ‹unreine› Qualitäten aus, deren radikale Durchmischung von Medien, Genres und Kulturen noch immer eine Herausforderung für die wis- senschaftliche Analyse und Theoriebildung bedeutet. Literatur Aarseth, Espen (1997) Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature. Baltimore: Johns Hopkins University Press. Altman, Rick (1999) Film/Genre. London: BFI. Anderson, Benedict (1991) Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. Revised Edition. London/New York: Verso. Appadurai, Arjun (1990) Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy. In: Public Culture 2,2, S. 1–24. Berndt, Jaqueline (2008a): 7 Samurai/Samurai 7. Anime’s hybride Zwischenräume [www.uni-leipzig.de/~japan/cms/fileadmin/downloads/cool_japan/ani- me_berndt.pdf (letzter Zugriff am 05.11.2013)]. – (2008b) Zeichentrick-Japanisch. «Japanimation» und Anime. In: J-culture. Hg. v. Steffi Richter & Jaqueline Berndt. Tübingen: Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke 2008, S. 62–65. Bhaba, Homi K. (2000) Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg. Bolter, Jay David/Grusin, Richard (1999) Remediation. Understanding New Me- dia. Cambridge, MA: The MIT Press. Bordwell, David (2006) The Way Hollywood Tells It. Story and Style in Modern Movies. London/Berkeley: University of California Press. Brophy, Philip (2005) 100 Anime. BFI Screen Guides. London: BFI. Cha-Jua, Sundiata Keita (2008) Black Audiences, Blaxploitation and Kung Fu Films, and Challenges to White Celluloid Masculinity. In: China Forever: The Shaw Brothers and Diasporic Cinema. Hg. v. Poshek Fu. Urbana: University of Illinois Press, S. 199–223. Transmedialität, Transgenerizität, Transkulturalität 149 Derrida, Jacques (1992) Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Desser, David (1992) Toward a Structural Analysis of the Post War Samurai Film: In: Reframing Japanese Cinema. Authorship, Genre, History. Hg. v. Arthur Nolletti Jr. & David Desser. Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press, S. 145–164. – (2000) The Kung Fu Craze. Hong Kong Cinema’s First American Recep- tion. In: The Cinema of Hong Kong. History, Arts, Identity. Hg. v. Poshek Fu & David Desser. Cambridge: Cambridge University Press, S. 19–43. Freyermuth, Gundolf S. (2007) Cinema Revisited. Vor und nach dem Kino: Audiovisualität in der Neuzeit. In: Zukunft Kino – The End of the Reel World. Hg. v. Daniela Kloock. Marburg: Schüren, S. 15–40. Friedrich, Andreas (Hg.) (2007) Filmgenres: Animationsfilm. Stuttgart: Reclam. Guerrero, Ed (2003) Framing Blackness. The African American Image in Film. Phi- ladelphia: Temple University Press. Hardt, Michael/Negri, Antonio (2002): Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt a.M.: Campus. Hu, Tze-Yue G. (2010) Frames of Anime: Culture and Image-building. Hong Kong: Hong Kong University Press. Jenkins, Henry (2006) Searching for the Origami Unicorn – The Matrix and Transmedia Storytelling. In: Convergence Culture – Where Old and New Media Collide. New York: New York University Press, S. 93–130. Kato, M.T. (2007) From Kung Fu to Hip Hop. Globalization, Revolution, and Po- pular Culture. Albany: State University of New York Press. LaMarre, Thomas (2002) From Animation to anime. Drawing Movements and Moving Drawings. In: Japan Forum 14,2, S. 329–367. – (2009) The Anime Machine. A Media Theory of Animation. Minneapolis: Uni- versity of Minnesota Press. Lévi-Strauss, Claude (1968) Das wilde Denken. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Looser, Thomas (2002) From Edogawa to Miyazaki: Cinematic and Anime-ic Architectures of Early and Late Twentieth Century Japan. In: Japan Forum 14,2, S. 297–327. Lyotard, Jean-François (1990) Randbemerkungen zu den Erzählungen. In: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Hg. v. Peter Engelmann. Stuttgart: Reclam, S. 49–53. Manovich, Lev (2001) The Language of New Media. Cambridge, MA: The MIT Press. Prashad, Vijay (2001) Everybody Was Kung Fu Fighting. Afro-Asian Connections and the Myth of Cultural Purity. New York: Beacon Press. Rajewsky, Irina O. (2002) Intermedialität. Tübingen/Basel: Francke. 150 montage AV 22 /2 / 2013 Reid, Mark A. (1993) Redefining Black Film. Berkeley: University of California Press. Ritzer, Ivo (2011): ‹Weiße› Samurai – Japanische Kulturtransfers im Holly- wood-Kino zwischen Neo- und Postklassik. In: Die Zukunft des Wissens. Hg. v. Konrad Meisig. Wiesbaden: Harrassowitz 2011, S. 115–142. – (2012): When the West(ern) meets the East(ern). The Western all’italiana and its Asian Connections. In: Crossing Frontiers. Intercultural Perspectives on the Wes- tern. Hg. v. Thomas Klein, Ivo Ritzer & Peter W. Schulze. Marburg: Schüren 2012, S. 25–57. Ruddell, Caroline (2008): From the ‹Cinematic› to the ‹Anime-ic›. Issues of Movement in Anime. In: animation: an interdisciplinary journal 3,2, S. 113–128. Schweinitz, Jörg (2006) Film und Stereotyp. Eine Herausforderung für das Kino und die Filmtheorie. Zur Geschichte eines Mediendiskurses. Berlin: Akademie-Verlag. Silver, Alan (2005) The Samurai Film. Woodstock/New York: Overlook. Silvio, Carl (2006) Animated Bodies and Cybernetic Selves. The Animatrix and the Question of Posthumanity. In: Cinema Anime: Critical Engagements with Japanese Animation. Hg. v. Stephen T. Brown. New York: Palgrave Macmillan, S. 113–137. Teo, Stephen (2009) Chinese Martial Arts Cinema. The Wuxia Tradition. Edin- burgh: Edinburgh University Press. Wilkins, Fanon Che (2008) Shaw Brothers Cinema and the Hip-Hop Imagina- tion. In: China Forever: The Shaw Brothers and Diasporic Cinema. Hg. v. Poshek Fu. Urbana: University of Illinois Press, S. 224–245. Yoshimoto, Mitsuhiro (2001) Kurosawa. Film Studies and Japanese Cinema. Dur- ham: Duke University Press. Zahlten, Alexander (2008): Something for Everyone. Anime und Politik. In: Ganetchū! Das Manga Anime Syndrom. Hg. v. Hans-Peter Reichmann & Ste- phan von der Schulenburg. Frankfurt a.M.: Deutsches Filmmuseum/Deut- sches Filminstitut, S. 76–85. Zeichentrick-Schauspieler* Donald Crafton Ich möchte mich in diesem Aufsatz mit einer Frage auseinandersetzen, die manchen Lesern trivial oder gar unsinnig erscheinen mag: Gibt es in Zeichentrickfilmen schauspielerische Darbietungen? Und hieran anschließend: Sind solche Trickfiguren Schauspieler? Skeptikern, die beide Fragen ohne zu zögern und ihrer Intuition folgend mit «nein» beantworten, sei dies verziehen. Ich hoffe jedoch, sie nicht nur davon überzeugen zu können, dass der Animationsfilm zu den darstellenden Künsten gehört, sondern auch davon, dass seine dramatis personae Dar- steller sind. Eine der erfolgreichsten Zeichentrickfiguren aller Zeiten war Betty Boop, ein Geschöpf des Fleischer-Studios aus den 1930er Jahren. Ob man sie mag oder nicht, man wird kaum bestreiten können, dass Betty eine ausgeprägte Persönlichkeit hat. Ihre Filme üben einen unwider- stehlichen Reiz aus, ganz besonders die der Jahre vor 1934, bevor der Production Code in Kraft trat. Es ist schwer, auf diese gezeichnete Fi- gur nicht wie auf ein quicklebendiges weibliches Wesen zu reagieren, trotz ihres übergroßen Kopfes, ihrer Pausbacken und des absurd klei- nen Kussmündchens. Wenn sie spielt, ist sie geschmeidig und redselig, und sie weiß, wie es in der Welt zugeht. Und doch verkörpert sie die Unschuld der «kleinen Ladenmädchen». Man würde sie gerne besser kennenlernen, mit ihr befreundet sein, vielleicht sogar mehr. Eine klei- ne Olympia. * Der vorliegende Artikel basiert auf dem ersten Kapitel von Donald Craftons Buch Shadow of a Mouse: Performance, Belief, and World-Making in Animation [(c) 2013, by the Regents of the University of California. Eine Veröffentlichung der University of California Press]. Die Redaktion dankt dem Verlag für die freundliche Genehmi- gung zur Übersetzung. 152 montage AV 22 /2 / 2013 Für den Animator, Drehbuchautor und Regisseur Brad Bird (The Incredibles [Die Unglaublichen], USA 2004; Ratatouille, USA 2007) ist es eine ausgemachte Sache, dass Zeichentrickfiguren Rollen verkörpern. «Was typischerweise in Diskussionen über das Animati- onskino übersehen wird, ist die Tatsache, dass man dort schauspieleri- sche Auftritte zu sehen bekommt, die einem der Animator darbietet», so schreibt er (Bird 2000, vi). Trickfiguren (ob Betty oder Mr. Incre- dible) sind Darsteller, die starke Gefühle ausdrücken können, und die Zuschauer reagieren auf ihr Spiel. Wenn eine Trickfigur uns zum Lachen oder Weinen bringt, wenn wir Angst, Ärger, Mitgefühl oder eine Million anderer Emotionen empfinden, so ist dies zum größten Teil Resultat der Arbeit der Animatoren, dieser oft vergessenen Künstler, die viel von sich selbst in die Gestaltung jener unver- gesslichen Momente legen (ibid.). Diese Überlegungen sind leicht zu verstehen, doch die Auftritte der Animationsfiguren sind alles andere als einfach. Die Stars des Trick- films rivalisieren mit menschlichen Stars hinsichtlich ihrer Berühmt- heit und der Begeisterung ihrer Fans. Wie die menschlichen Lein- wandgrößen evozieren auch sie ein Gefühl lebendiger Präsenz, sowohl während als auch nach dem Filmerlebnis. Die Kulissen, Landschaften und Bühnen, die sie bevölkern, sind fiktionale Welten, an deren Exis- tenz wir gerne glauben, auch wenn wir wissen, dass es sich um Fanta- siegebilde handelt. Zugegeben, dass wir Trickfilmgestalten wie Betty, Mickey Mouse, Popeye oder Homer Simpson so umstandslos als Darsteller anerkennen sollen, ist kontraintuitiv. Doch obwohl für sie nichts zu abwegig oder zu unnatürlich ist, erscheinen sie genauso plausibel und normal wie andere Schauspieler. Nur sind sie eben Animationsfiguren. Sobald ich sie sehe, erfasst mich die Freude des Wiedererkennens und ich spüre ihre Präsenz. Sie sind einerseits Zeichnungen, andrerseits jedoch Film- und Fernsehstars, und diese Dissonanz ist grundlegend. Doch wie ist es überhaupt möglich, dass unbelebte Zeichnungen und Objekte zu handeln vermögen und etwas vorführen können? Zunächst ist festzuhalten, dass Brad Birds Bemerkungen sich auf zwei verschiedene Aspekte des Darstellens beziehen. Das Verhalten, das Tun, die Expressivität der Darsteller sowie das dramatische Geschehen, der Erzählfluss, die Intrige und das Ambiente konstituieren die Darstellung innerhalb der Animation. Es handelt sich dabei um all das, was wir bei der Zeichentrick-Schauspieler 153 Vorführung zu sehen bekommen. Betty tritt innerhalb der Animation auf, wenn sie sich bewegt, handelt und Hula-Hoop tanzt. Diese Darstel- lung ist hauptsächlich audiovisuell, die Aufführung eines Ereignisses in einer in sich geschlossenen diegetischen Welt. Im Animationsfilm be- ginnt die Performanz, sobald sich die Zeichnungen, Knetfiguren oder was auch immer bewegen. Bird verweist auf die emotionalen Reaktionen der Zuschauer, wel- che die Performanz der Figuren gewissermaßen in Echtzeit erleben, während sie den Film sehen. Doch er nennt auch die Arbeit der Anima- toren selbst, also das Darstellen der Animation. Es handelt sich um einen sich kontinuierlich entfaltenden Prozess, der schon beginnt, bevor der Film aufgenommen wird, und auch nach der ersten Vorstellung noch anhält. Was nämlich auf der Leinwand geschieht, ist noch nicht alles. Ich möchte daher Birds Definition präzisieren, indem ich von einem kondi- tionalen Darstellen spreche, das nur unter der Bedingung wirksam wird, dass der Film vollendet und den Zuschauern gezeigt wird. Hinsichtlich der Trickfilm-Stars bemerkte Alexander Sesonske zu Recht: [...] [W]eder diese lebhaften Figuren noch ihre Handlungen hat es jemals gegeben, bevor sie auf die Leinwand projiziert wurden. Ihre Welt existiert nur im Jetzt, im Moment der Vorführung, und wenn wir fragen, ob diese Welt sich in irgendeiner Hinsicht von unserer Wirklichkeit unterscheidet, so ist die Antwort: «Ja, in jeder.» [...] Hier gibt es keine Vergangenheit, in der die Ereignisse tatsächlich oder auch nur angeblich stattgefunden haben – auch nicht zu der Zeit, als die Zeichnungen hergestellt und fotografiert wurden. Die Welt, die ich [...] auf der Leinwand sehe, gab es damals noch gar nicht. Sie existiert nur jetzt, während ich sie sehe. Aber ich kann sie nicht betreten, nicht zu den animierten Wesen gelangen, denn die Wahrnehmung ist unser einziger Zugang zu ihrem Raum (Sesonske zit. in Cavell 1979, 167f). In Birds Konzept des Darstellens ist eine grundlegende Ironie, ein doppeltes Verständnis enthalten, und für die traditionelle Schauspie- lertheorie des Theaters ist ja in der Tat die dramatische Ironie Basis jeder Darstellung. Im Spiel sind die Schauspieler nicht sie selbst, sondern Figuren, an deren Existenz man glaubt. Doch der Bühnen-Hamlet ei- ner studentischen Aufführung ist ja zugleich der Schauspielschüler von nebenan. In einem zeitweiligen ästhetischen Vergessen stellen sich die Zuschauer vor, dass sie die Charaktere sehen und nicht die Schauspie- ler, deren Körper hinter ihrer Rolle verschwinden. Das ist zwar wider- sprüchlich, aber weder verwirrend noch beängstigend. Die Zuschauer sind gewissermaßen an zwei Orten zugleich, innerhalb und außerhalb 154 montage AV 22 /2 / 2013 der Fiktion. Wir sehen, dass Betty Boop sich verhält wie ein reales menschliches Wesen und uns verzaubert. Wir wissen aber auch, dass sie anders ist als eine reale Schauspielerin, obwohl ihr selbst nicht bewusst zu sein scheint, dass sie kein Mensch ist. Disneys Animatoren haben Mickey Mouse und andere Figuren oft wie wirkliche Lebewesen beschrieben. Ein Memo aus dem Jahr 1935 stellt eine Frage, die das Studio damals beschäftigte: «Was macht ei- gentlich eine Persönlichkeit aus?» Ein Abteilungsleiter, dessen Name nicht überliefert ist, kam zu dem Schluss, dass Tiere und Gegenstände vermenschlicht werden müssen, um zu Persönlichkeiten zu werden, und zwar nicht nur in physischer, sondern auch in mentaler Hinsicht. Er klingt fast wie der sowjetische Regisseur Sergej Eisenstein, der das Studio damals besucht hatte, wenn er bemerkt: «Ein unvergesslicher Schock entsteht aus der Verbindung des Fantastischen und Unmöglichen mit dem Glaubhaften.»1 Offensichtlich rang man mit dem Problem, den Figuren Glaubwürdigkeit zu verleihen, ohne dass sie ihren Zeichen- trick-Charme verloren. Der vielleicht erstaunlichste Aspekt der Beobachtungen Birds be- trifft die persönliche Anteilnahme der Zuschauer, also ihr sowohl psy- chisches als auch ethisches Sich-Einlassen auf die Darstellung. Auf wel- che Weise fließen die Gefühle der Animatoren in die Gestaltung ein, so dass man sie später nachvollziehen und ihrerseits empfinden kann? Was Bird beschreibt, scheint auf den ersten Blick in den Bereich des Darstellens zu fallen – aber ist dem tatsächlich so? Ein Handbuch der Performance Studies bietet die folgende Definiti- on an: «Ein dargestelltes Ereignis bedarf eines Darstellers, eines Texts, eines Publikums und eines Kontexts. Die Grundlage einer jeden Defi- nition des Darstellers ist der menschliche Darsteller, dessen Werkzeug sein Körper ist» (Stern/Henderson 1993, 16). Einer anderen Defini- tion zufolge ist die Darstellung «eine Tätigkeit, die von einem Indivi- duum oder einer Gruppe von und für ein anderes Individuum oder eine Gruppe ausgeübt wird» (Schechner 2006, 22). Ein weiterer Perfor- mance-Experte überlegt, was das Wesen der darstellenden Künste aus- macht: «Eine Antwort würde wohl beinhalten, dass diese Kunstformen die physische Anwesenheit von entsprechend ausgebildeten oder er- fahrenen Menschen erfordern und die Darstellung darin besteht, dass sie ihre Fähigkeiten vorführen» (Carlson 2004, 2f). Verflixt! 1 «What Makes and Breaks Personality: Measured by the Impression of a Spectator», Walt Disney Studios Memorandum, 13. September 1935 (Herv. i. O.). Zeichentrick-Schauspieler 155 Eine Festlegung darauf, dass das Darstellen einen menschlichen Kör- per voraussetzt, der sich im selben Raum befindet wie das Publikum, erstickt schon im Keim die Möglichkeit, dass Trickcharaktere, die aus Zeichnungen, Objekten, Knete oder Pixeln bestehen, wie Schauspieler auftreten. Und doch präsentiert sich Betty Boop wie eine menschliche Schauspielerin. Ganz gewiss führt sie uns, dem Publikum, «Texte» vor, und dies in einem spezifischen Raum und einer spezifischen Zeit, in einem Kontext. Niemand kann leugnen, dass sie über darstellerische Fähigkeiten verfügt und ihren Körper als Werkzeug einsetzt. Schade nur, dass sie ein Toon ist, um die treffende Bezeichnung für die Zei- chentrick-Figuren in Who Framed Roger Rabbit? (Falsches Spiel mit Roger Rabbit, Robert Zemeckis, USA 1988) zu verwenden.2 Sind Toons Menschen? Nein, denn sie haben keinen biologischen Körper, sind nicht von unserer Welt, wir können sie weder anfassen noch mit ihnen interagieren; und in vielen Fällen haben sie gar keine menschliche Gestalt. Sie sind fiktional, wie Kapitän Ahab, der Protago- nist von Herman Melvilles klassischem Roman Moby Dick von 1891. Ja, wenn ‹menschlich› eine Metapher, eine Haltung, eine Vorstellung oder eine kognitive Kategorie meint, deren Abgrenzung von Defini- tionen abhängt sowie von den Funktionen, die wir als ‹menschlich› anerkennen. Natürlich ist Ahab ein Mensch und der Wal nicht. Doch im Roman wird Moby Dick, als Ahabs Gegenspieler, so wahrgenom- men, als habe er menschliche Empfindungen und Verhaltensweisen. Als Leser rechnen wir den fiktionalen Ahab ohne weiteres zu den Men- schen, anthropomorphisieren aber auch den rachsüchtigen Wal, wenn wir ihm Attribute wie Boshaftigkeit oder Blutdurst zuschreiben, oder auch schon, wenn wir akzeptieren, dass er einen Namen trägt. Hieraus können wir schließen, dass die Gleichsetzung von ‹Kör- per› und ‹physischem Menschsein› zu eng gefasst ist. Toons wie Do- nald Duck, der mehr Mensch ist als Ente, oder auch unsere Haustie- re, die vielen von uns eher wie Personen vorkommen, verfügen über eine ausgemachte Persönlichkeit und das Potenzial, etwas vorzuführen, auch wenn sie biologisch keine Menschen sind. Wenn wir bewegte Li- nien, farbige Formen, Knetklumpen, Sandhaufen, mit Fell überzoge- ne Puppen und sogar simple geometrische Figuren auf der Leinwand als Trickfilm-Körper sehen, die etwas schauspielerisch darstellen, dann 2 Der Begriff Toon als Bezeichnung der im Zeichentrickfilm Auftretenden entstammt der Vorlage für den Film Who Censored Roger Rabbit von Gary K. Wolf (New York: St. Martin’s Press 1981). Die Darstellung dieser marginalisierten und abgesondert lebenden Wesen in Roman wie Film spielt auch auf die Rassentrennung an. Vgl. Ohmer 1988. 156 montage AV 22 /2 / 2013 wissen wir, dass sie keine Lebewesen sind und keine menschliche Ge- stalt besitzen. Und dennoch sind sie Teil unserer Lebenswelt.3 Der Auftritt im Animationsfilm entspricht dem Auftritt im Real- film. Die Trickfilmdarstellung ereignet sich im tatsächlichen Raum/ Zeit-Gefüge der Vorführung, doch das konditionale Darstellen der Ani- mation ist ein mehrschichtiges Phänomen, in dem Imagination und Material in einem gemeinsamen Raum zusammentreffen, der von den Animatoren sozusagen geschrieben und von den Zuschauern gelesen wird. Ich möchte diese Zone der Fantasie und Faszination das Tooniver- sum nennen. Paradoxerweise werden wir hineingesogen und gleichzei- tig daraus ausgeschlossen, weil es seine Konstruiertheit so nachdrück- lich zur Schau stellt und damit seine Existenz sowohl manifestiert als auch verleugnet. Kein einzelner Bestandteil des Systems (Trickfilm- studios, Vertrieb und Publikum) hat die alleinige Kontrolle über diese Leinwandwelt, die anderen ephemeren Bereichen in Kunst und Kultur ähnelt, so dem Theater, der Literatur und anderen auditiven oder visu- ellen Erfahrungen. Das Tooniversum ist eine kollaborative Konstruktion, da es von den Filmemachern, den Toons und den Zuschauern gemein- sam zum Leben erweckt und bewohnt wird. Obwohl jeder Form der Animation dramatische Ironie zugrunde liegt, gibt es doch unterschiedliche künstlerische Herangehensweisen. Bird ist ein Vertreter der Richtung, die ich verkörperndes Spiel [embodied acting] nennen möchte.* Diesen Ansatz, der rasch ältere Stilformen ver- drängte, soll Disney erfunden haben. Dabei übte auch die Lehre Sta- nislawskis großen Einfluss aus, die in den 1950er Jahren auf der Bühne und im Film als the Method bekannt wurde. Das verkörpernde Spiel 3 David Surman betont, dass derartige theoretische Welten auf grundlegenden Wirk- lichkeiten aufbauen: «In der ‹Welt› eines Romans, eines Films oder einer Aufführung zu sein verweist auf eine Erfahrung, die starke Ähnlichkeit mit der Erfahrung unserer wirklichen Welt aufweist; eine Erfahrung, die immersiv und allumfassend ist, ohne re- flexive Brechungen, die den ganzheitlichen Effekt zerstören würden. Eine fiktionale Welt ist somit einerseits ein realistischer Diskurs, denn es geht um die Konstruktion eines natürlich scheinenden Raums, welche die Voraussetzung darstellt für all die be- merkenswerten Dinge, die dort geschehen, dessen Konstruiertheit aber vom Rezipi- enten verleugnet wird. Gleichzeitig jedoch kann man über die Ränder dieser Welt hinausschauen und feststellen, dass sich auch außerhalb der verkapselten, eigentlichen Erzählung etwas im noch umfassenderen ‹Handlungsraum› ereignet» (2006, 154). * [Anm.d.Ü.:] «Embodied acting» lässt sich schwer übersetzen. Da «embodied» in der deutschen Stanislawski-Ausgabe mit «verkörpernd» wiedergegeben wird, ist es sinn- voll, bei diesem Ausdruck zu bleiben, auch wenn er nicht hinreichend auf den Un- terschied zum «schematischen Spiel» verweist. Bei Stanislawski geht es darum, dass die Schauspieler die Gefühle, die ihre Rolle erfordert, in sich selbst hervorrufen, so dass die inneren Vorgänge sich im Äußeren spiegeln. Es ist kein mimetisches oder Zeichentrick-Schauspieler 157 ist bis heute im Animationsfilm dominant. Birds eigene Werke sind ein wichtiges Beispiel dafür. Einen anderen Ansatz bildet das schema- tische Spiel [figurative acting], dessen Repräsentanten zum Beispiel Felix the Cat, die MGM-Figuren Tom und Jerry oder die Charaktere der Ice-Age-Filme (Denis Leary/John Leguizamo u.a., USA 2002–2012) sind. Heute findet man das schematische Spiel in japanischen anime, in Trickfilm-Serien im Fernsehen wie Beavis and Butthead, The Sim- psons oder South Park sowie in zahlreichen Online-Produktionen. Das schematische Spiel: Lustige Zeichnungen Schematisches Darstellen ist extrovertiert. Die Figuren sind erkennbar Typen, die ein beschränktes Repertoire an leicht verständlichen mi- misch-gestischen Ausdrucksformen vorführen. Von einem Film zum nächsten bieten sie immer wieder ihre charakteristischen Bewegungen und Gags dar. Sie lösen bisweilen Überraschungen und Schockeffek- te, meist jedoch Gelächter aus, während sie die von witzigen Situati- onen geprägte Handlung vorantreiben. Wir freuen uns an ihnen wie an Clowns oder Slapstick-Figuren mit ihrem je eigenen und zugleich vertrauten Stil. James Naremore (1988, 17) würde wohl zustimmen, dass das schematisches Spiel «ostensiv» ist – die Darsteller präsentieren Charaktere, indem sie sich zur Schau stellen. Auch in formaler Hin- sicht handelt es sich um regelrechte Darbietungen, denn die Figuren wenden sich oft frontal zum Publikum hin und führen ihr Können vor, gerade so, als gäben sie eine Nummer zum Besten oder tanzten in einer Revue. Zeichentrickfiguren drücken Gedanken und Emotio- nen durch konventionelle Gesten oder Verformungen des Körpers aus, zum Beispiel durch Strecken oder Stauchen. Manchmal tun sie so, als befänden sie sich tatsächlich vor einem Publikum, indem sie zur ‹Ka- mera› hin Zeichen geben, sprechen oder singen. Diese Darstellungs- weise erinnert die Zuschauer an die Konstruiertheit der Toons und arbeitet somit gegen Identifikation und Empathie mit ihnen an, dem erklärten Ziel des verkörpernden Spiels. Die Dynamik der schemati- schen Darstellung resultiert geradezu aus dieser Anti-Identifikations- ästhetik. Von Brecht beeinflusste Schauspieltheoretiker oder Filmtheo- auf Konvention beruhendes Verhalten, sondern eine tatsächliche Entwicklung von Gefühl, indem die Schauspieler sich an eigene Lebenssituationen erinnern oder sich vorstellen, ähnliche Situationen selbst zu erleben. Im Animationsfilm liegen die Din- ge natürlich anders, weil die Zeichentrickfiguren nichts aus sich selbst entwickeln, sondern aus der Erfahrung ihrer Animatoren gespeist sind. Vgl. auch die Fußnote 5 weiter unten. 158 montage AV 22 /2 / 2013 retiker, die sich an Eisenstein und Bresson orientieren, plädieren für ei- nen Darstellungsstil, der in dieser Weise extrovertiert ist. Insbesondere Eisenstein war begeistert von der reflexiven und beweglichen Darstel- lungsweise in den Trickfilmen und schwärmte von dem «protoplasma- tischen» Schwarzweiß-Mickey, der immer in Bewegung ist und sein Aussehen verändert wie eine Amöbe: [H]ier bewegt sich ein gezeichnetes Wesen, das eine bestimmte Form und ein bestimmtes Antlitz erlangt hat, wie Protoplasma, das noch keine stabi- le Form besitzt und jede, ja alle Formen der animalischen Existenz auf der Stufenleiter der Entwicklung annehmen kann (Eisenstein 2011, 15). In den 1930er Jahren waren Mickey Mouse, Betty Boop, Popeye, und Farmer Al Falfa die bekanntesten Animationsdarsteller. Bosko, von Hugh Harman und Rudolf Ising für Schlesinger erschaffen, und der von Rudolf Lantz für Universal entworfene Oswald vervollständigten das Feld. Alle wurden durch ihr schematisches Spiel zu Trickfilmstars. Auch Disney pflegte diese Tradition, bevor er sich dann dagegen wand- te. Die meisten Darbietungen in solchen Filmen ähneln Gags, wie man sie auch in Comic Strips, Slapstickfilmen oder live auf der Vaudeville- Bühne sehen konnte. Bei dieser Form der Darstellung sind Empathie und Emotion weniger wichtig als Direktheit, Überraschung, visuelle Gags und schlagfertige Antworten. Während es gerade um die Kör- perlichkeit der Darsteller ging, hielten es wohl weder die Animatoren noch das Publikum für nötig, dabei ins Innere der Toons vorzudringen. Nicht, dass das Spiel im schematischen Modus bar aller Emotio- nalität wäre – doch die Ausdrucksmittel, die hier eingesetzt werden, sind schlicht andere. Betty Boop bietet zum Beispiel eine interessan- te Mischung von schematischem und verkörperndem Stil. Sie besitzt zwar keinen ausgearbeiteten Charakter, hat jedoch Individualität, ei- nen persönlichen Hintergrund und durchaus auch Handlungsmacht. Selbst sehr konventionelle Darstellungen können ja noch Gefüh- le durch maskenhafte Mimik oder Gestik vermitteln. Als Zuschauer kann ich Betty ohne weiteres dem Typus der koketten jungen Frau zuordnen, wie ihn etwa Colleen Moore, Clara Bow, Marilyn Monroe, Cameron Diaz und Reese Witherspoon repräsentieren, oder dem Ty- pus des Showgirls wie Lady Gaga. Bettys Spiel enthält allerdings nur wenige Züge des verkörpernden Stils: Ihre Bewegungen, ihre Gestik und Mimik sind vielmehr formelhaft, sie besitzt keine Innerlichkeit, und wir fühlen uns nicht in ihr Denken ein. Vielleicht sind wir uns auch bewusst, dass sie ein Markenprodukt ist. Doch ihre Auftritte ver- Zeichentrick-Schauspieler 159 mitteln uns das Gefühl, es mit einem außergewöhnlichen Individuum zu tun zu haben. Bettys Status als Star ergibt sich zum Teil daraus, dass sie zusammen mit Hollywood-Größen wie Maurice Chevalier auftritt. Sie wird zu einer ‹Star-Erscheinung›, indem sie das Charisma des Berühmtseins in ihr Tooniversum importiert. Ihre Persönlichkeit ist eine Mischung aus verschiedenen Details, die sie sich angeeignet hat: eher eine Ansamm- lung erborgter Charakterzüge als der komplexe Ausdruck innerer An- triebskräfte und Motive. Als Figur fehlt ihr ein innerer Kern von Emo- tion und Ausdruckskraft. Sie ist das Produkt der Ausbildung innerhalb des Studios, in dem erfahrene Animatoren die Neulinge in die Stan- dardpraktiken einführten und so Darstellungsformeln weitergaben, die vermittels pantomimischer Gesten, wie sie schon seit hundert Jahren auf der Bühne und in der Malerei verwendet wurden, Charakterzüge zum Ausdruck brachten. Wie im Bühnenmelodram wechseln die Dar- steller von einer Pose zur nächsten und kommunizieren ihre Gedan- ken durch bewährte Mimik und Gestik. Die Zuschauer erfassen die Bedeutung teils intuitiv, teils weil sie die Konventionen kennen. Der Name, der im Zusammenhang dieser formelhaften Herange- hensweise am häufigsten fällt, ist der von François Delsarte (1811– 1871). Es gab viele Versionen seines so genannten Ausdruckssystems in Form von Anleitungen für Sänger, Schauspieler oder Redner.4 Die Illustrationen in diesen Büchern verbanden konventionelle Posen und Gesten mit festen Bedeutungen und stellten ein leicht verfügbares Repertoire an Körper- und Gesichtsausdrücken zur Verfügung. Für Künstler jeglicher Provenienz, aber auch für Stummfilmregisseure wie D.W. Griffith waren Delsartes Posen normativ. Im Zuge der Indust- rialisierung der Trickfilmstudios sorgten «mouth charts» der Toon-Fi- guren sowie Modellblätter, auf denen charakteristische Körperhaltun- gen und Minenspiele katalogisiert waren, für Klarheit und Konsistenz der Darstellung, auch wenn verschiedene Animatoren am Werk waren (vgl. Langer 1991, 9). Statt Zugang zur Psyche der Figur zu geben oder ihre moralische Haltung anzudeuten, arbeitet der schematische Stil mit Wiederho- lung und Bildsymbolik auf der Ebene der Erzählung. Die Zuschauer erwarteten und schätzten die wiederkehrenden, vertrauten Elemen- te und hatten ihren Spaß daran. Die Wiederholungen illustrieren auf reflexive Weise den in diesem Zusammenhang zentralen Begriff der Wieder-Darstellung [re-performance]. Zu diesem Begriff hat mich eine 4 Vgl. die Illustrationen in Stebbins 1887 sowie Brewster/Jacobs 1997, 81f. 160 montage AV 22 /2 / 2013 Bemerkung Richard Schechners inspiriert, der jede Darstellung als «wiedererwecktes Verhalten» [restored behavior] versteht. In seiner Un- tersuchung sozialer Praktiken und Rituale, zu denen auch öffentliche Aufführungen wie Theaterstücke, Performance-Kunst und Filme ge- hören, zieht er eine filmische Analogie heran: Wiedererwecktes Verhalten ist lebendiges Verhalten, mit dem man ähnlich umgeht wie ein Filmregisseur, wenn er seine Aufnahmen montiert. Die Verhaltenselemente können immer wieder neu angeordnet und neu zu- sammengestellt werden. Sie haben sich von den (sozialen, psychologischen, technischen) Systemen gelöst, denen sie entstammen, und führen nun ein Eigenleben. Die ursprüngliche «Wahrheit» oder «Quelle» solcher Verhal- tensmuster mag unbekannt oder verloren gegangen sein, sie mag nicht be- rücksichtigt oder gar dementiert werden – selbst wenn man sie in anderen Zusammenhängen beachtet und respektiert (Schechner 1987, 35). Schechners Beobachtung, dass die Verhaltensmuster sich verselbstän- digt haben und willkürlich geworden sind, ist für die schematische Darstellungsweise von großem Belang. Die ständige Wiederkehr be- stimmter Muster hat im Trickfilm eine eigene Relevanz als Wieder- holung in und für sich selbst, unabhängig davon, ob sie die Erzählung vorantreiben. Es sind «Arrangements», also Materialien, die aus ihrem normalen Zusammenhang herausgelöst sind und nun ein früheres Ver- halten oder eine frühere Darstellung zu neuen Zwecken wieder aufle- gen. Dabei betont man ihr Arrangiertsein durch die Kadrierung, durch Markierungen oder auf andere Weise, so dass sie eine spezifische Be- deutung gewinnen (vgl. Schechner 1987, 52). Die Wieder-Darstellung ist bereits in den technischen Grundlagen des Zeichentrickfilms verankert. Die Verwendung der Rotoskopie, ei- ner von den Fleischer-Brüdern patentierten Technik, Realfilmaufnah- men auf cels für Animationsfilme zu übertragen, ist ein anderes Beispiel für ‹wieder-dargestelltes Verhalten› im Sinne Schechners. Eine Form der Darstellung wird in eine andere übertragen, wie Betty Boop’s Rise to Fame (Dave Fleischer, USA 1934) illustriert (Abb. 1): Bet- ty stellt hier erneut die Hula-Szene dar/her, die sie bereits in Betty Boop’s Bamboo Isle (Dave Fleischer, USA 1932) dargeboten hatte. Der Film von 1932 beginnt mit Filmaufnahmen der Tänzerin Miri bei einem Auftritt der Royal-Samoans-Truppe. In einem per Rotoskopie- Verfahren hergestellten Segment übernimmt Betty die Bewegungen der Tänzerin. Die Filmszenen mit Miri und dann Betty sind also medi- ale Wiederauflagen von Miris Bühnennummer, die ihrerseits einen ri- Zeichentrick-Schauspieler 161 1 betty boop’S riSe to fame (Dave Fleischer, USA 1934) tuellen Tanz als Spektakel (und damit als eine Art Enteignung) wieder- darstellt, der für die Ureinwohner Hawaiis religiöse Bedeutung hatte. Gleichzeitig schminkt sich Betty dunkel, um Miri zu ähneln, die- se also wieder-darzustellen, wodurch ihr Tanz auch zu einer Rassen- Maskerade wird. Diese Form der Körperdarstellung nennt David Gra- ver Gruppen-Repräsentanz, und sie ist eindeutig schematisch. Es handelt sich dabei um Körperidentitäten, die von Faktoren abhängen, welche dem Schauspieler äußerlich sind, zum Beispiel mit «Rasse, Klasse oder Geschlecht» zu tun haben, und durch sozio-historische kulturelle Dis- kurse konstruiert werden» (Graver 1997, 226). Bei den vielen Auftrit- ten schwarzgeschminkter Figuren im klassischen Trickfilm wird der Schauspieler-Toon zu einer Rassen-Hieroglyphe, wenn er sich, sei es als Schwarzer oder als Nicht-Schwarzer, als ein ‹Anderer› verkleidet. Bettys Typisierung als Repräsentantin verschiedener weiblicher Aus- prägungen wurde bereits erwähnt. Dabei, so Graver, «ersetzt der sozio- historische Körper die Figur, und solche Aufführungen sind wiederum maßgeblich daran beteiligt, die sozio-historischen Körper zu definie- ren, die sie zur Schau stellen» (ibid., 229). Der Körper, um den es hier geht, ist sogar aus Schichten rotoskopisch wiedererweckten Verhaltens gebildet (vgl. Bouldin 2000, 50ff). Auch die Genreeigenschaften des klassischen Zeichentrickfilms las- sen sich aus dem Konzept der Wieder-Darstellung ableiten. Schechner 162 montage AV 22 /2 / 2013 schreibt, wiedererwecktes Verhalten könne, analog dem unaufhörli- chen Wiederkäuen von Geschichten, Quellen und Aktionen von ei- nem Trickfilm zum anderen [...] bearbeitet, gespeichert und wieder aufgerufen werden, man kann da- mit spielen, es umwandeln, übermitteln und transformieren. [...] Darstel- lung im Sinne wiedererweckten Verhaltens bedeutet, dass es sich niemals zum ersten, sondern immer schon zum zweiten bis x-ten Mal ereignet: Es ist ein Verhalten zweiter Ordnung (Schechner 2006, 28f). Die ineinander verschachtelten Darstellungen in Betty Boop’s Rise to Fame belegen, dass es sich nicht um beliebige Szenen handelt, son- dern um rekursive Ereignisse, die nachgestellt werden, um etwas Neu- es entstehen zu lassen. Weil die Wieder-Darstellung per Definition die Wiederaufnahme zweiter Ordnung von vorgängigen Darstellungen ist, gehört sie in den Bereich des Schematischen, wobei sich die einzelnen Komponenten der Konstruktion mehr oder weniger deutlich unterscheiden lassen. Darum schließt das wieder-dargestellte Verhalten das konditionale Darstellen der Animatoren und das den Film betrachtende Publikum immer schon mit ein. Der schematische Stil legt eine Lektüre der Filme nahe, die aufzeigt, wie der Unterbau des industriellen Systems konstitutiv ist für ihre Ma- terialität. Ähnliches gilt für das Wiederaufgreifen sozialer Strukturen und Haltungen wie Patriarchat, Familie und Geschlechteridentität. Der klassische Trickfilm im schematischen Modus behandelte Frau- en als, nun ja, Figuren. Offensichtlich versuchte Disney diesem Sche- matismus zu entrinnen, indem er für Snow White and the Seven Dwarfs (David Hand et al., USA 1937) eine individuelle, expressi- ve Heldin schuf (ironischerweise stammte der ursprüngliche Entwurf von Grim Netwick, dem Schöpfer von Betty Boop). Die spätere Wie- deraufnahme dieses Typus jugendlicher Protagonistinnen ließen dann aber durch Umgestaltung, Überzeichnung und aggressives Marketing gerade das ultimative schematische Weiblichkeitsstereotyp entstehen: die «Disney-Prinzessin». Zeichentrick-Schauspieler 163 Verkörperndes Spiel: Geschichten mit Herz Verkörpernde Animation ist nach innen gerichtet. Es geht dabei um die Philosophie und Praxis der Erschaffung fantasievoll gestalteter Wesen, die über Individualität, Tiefe und innere Komplexität verfü- gen.5 Don Graham, der Gründer der Animationsschule im Disney- Studio, berichtet, dass es ursprünglich, also während der Periode des schematischen Stils im Stummfilm und frühen Tonfilm, darum ging, beim Publikum durch Handlungs- und Toneffekte Lacher auszulösen. Graham zufolge war Minnie in The Barn Dance (Walt Disney, USA 1929) die erste Figur, die so etwas wie Persönlichkeit besaß: «Wie so viele Mädchen war Minnie früh entwickelt und schon weiter als Mi- ckey. In The Barn Dance begann sie bereits zu flirten» (Graham 1955, 34ff). Mickey zog bald darauf in The Plowboy (Ub Iwerks/Walt Dis- ney, USA 1929) nach, dem ersten Film, in dem er «keine Maus mehr war, sondern zu einer Person wurde» (ibid., 44ff). Die Geschichte, wie man in den Silly Symphonies mit dem ver- körpernden Stil herumexperimentierte, wird immer wieder erzählt. Sie beginnt mit den individualisierten Figuren in The Three Little Pigs (Die drei kleinen Schweinchen, Burt Gillett/Walt Disney, USA 1933). «Walt wollte, dass die Trickfiguren für das Publikum glaubhaft sind», berichtet der Zeichner Wilfred Jackson. «Die Zuschauer sollten vom Schicksal der Figuren berührt werden und an sie glauben wie an wirkliche Wesen, statt sie nur als lustige Zeichnungen zu betrachten».6 Um 1934 begannen Disneys Mitarbeiter damit, das neue Konzept umzusetzen. Die damaligen Supervising Animators Frank Thomas und Ollie Johnston erinnern sich: «Manche Mitarbeiter des Studios nah- men Schauspielunterricht, um sich Einblick in die Arbeitsweise auf dem Theater zu verschaffen» (Thomas/Johnston 1984, 324f). Dieser Unterricht dürfte meistens traditionell an Delsarte ausgerichtet ge- wesen sein. Doch gibt es auch eine Vielzahl von Zeugnissen, die den wachsenden Einfluss der Vorträge und Schriften Konstantin Sergeje- 5 Ich verwende den Begriff «Verkörperung» [embodiment] in dem eher unspezifischen Sinn, in dem er von Stanislawski und seinen Schülern, auch jenen bei Disney, ge- braucht wurde. Eine damit verbundene Verwendungsweise leitet sich von der Phi- losophie Maurice Merleau-Pontys ab, insbesondere von dem Entwurf eines Kör- per-Subjekts in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung (1966 [1945]). Kritische Theoretiker wie Vivian Sobchak, Steven Shaviro, Pierre Bourdieu oder Mark B.N. Hansen analysieren mit diesem Konzept sozial geprägte oder mediale Gesten, jedoch ohne den Animationsfilm speziell in den Blick zu nehmen. 6 So Jackson in einem Interview mit Steve Hulett in Ghez 2008, 63. 164 montage AV 22 /2 / 2013 witsch Stanislawskis (1863–1938) belegen. Als sein Ansatz unter den Trendsettern in Hollywood Fuß fasste, ließen sich auch einige Anima- toren davon inspirieren und nutzten seine Lehre als Leitfaden für den verkörpernden Stil.7 Stanislawskis Methode, die zur Ausbildung von Bühnenschauspielern entwickelt worden war, legt den Nachdruck da- rauf, die Rolle zu ‹leben›; die Figur wird verkörpert, indem man sie von innen heraus aufbaut. «Ein Schauspieler muss seine Rolle im Innern erleben und seine Erfahrung nach außen hin verkörpern» (Stanislaw- ski 1989, 17). Heraufbeschworen vermittels Techniken, die er mit Be- griffen wie «Verkörperung», «Einfühlung», «Übergang», «Aneignung», «Verschmelzung» bezeichnet, wird die Figur zu einem Epiphänomen, zu einem transzendenten, phantasmagorischen Wesen (vgl. Stanislaws- ki 1948, 210). Für den Zuschauer verschiebt sich die Aufmerksamkeit vom Schauspieler als physischer Person auf der Bühne oder Leinwand hin zur ‹zum Leben erweckten› Figur, was sich dann in griffigen For- mulierungen wie «Meryl Streep ist Margaret Thatcher» niederschlägt. Der Animator Vlad «Bill» Tytla beschäftigte sich zum Beispiel mit dem 1933 veröffentlichten Buch von Richard Boleslavsky, Acting: The First Six Lessons. Boleslawsky hatte bei Stanislawski an der Moskauer Kunsthochschule studiert und unterrichtete «das System» in der von ihm 1923 in New York gegründeten Schule. Die berühmtesten Ab- solventen waren Lee Strasberg und Stella Adler, die später ihrerseits Schauspielschulen in New York eröffneten und dort die von ihnen so genannte Method lehrten. Boleslavsky wiederum arbeitete in den 1930er Jahren als Regisseur in Hollywood. Dies fällt genau in die Zeit, zu der Walt Disney wöchentliche Abendseminare einführte (1936), um die Entwicklung der Snow White-Figuren vorzubereiten. Michael Barrier beschreibt diese Sit- zungen wie folgt: «Die Arbeit [...] ähnelte einer Stanislawski-Probe. Disney und seinen Autoren ging es zunächst darum, dass die Kör- persprache stimmte; die Ausarbeitung der Dialoge kam später» (Bar- rier 2003, 205). Liest man die Sitzungsprotokolle zu Snow White, so gleicht die Arbeit am Drehbuch eher der Inszenierung eines Theater- stücks als seiner Formulierung. Barrier kommentiert Tytlas Animation der Figur Grumpy so: 7 Die Spezialisten sind über einige Nuancen in Stanislawskis Theorie uneinig. Die Herausgeber eines kürzlich erschienenen Sammelbands erklären: «Einige der inte- ressantesten Unstimmigkeiten zwischen den Beiträgen ergeben sich aus dem un- terschiedlichen Verständnis [der Theorien] Stanislawskis, Kuleschows und Brechts» (Baron/Carson/Tomasulo 2004, 10). Baron und Carnicke (2008, 25f) zeigen, dass Stanislawskis «System» für vielerlei Interpretationen offen war. Zeichentrick-Schauspieler 165 Das Spiel war das einer Trickfilmfigur, und Tytla zeigte, dass man noch weit über das hinausgehen konnte, was Boleslavsky und Stanislawski im Sinn hatten, und zwar nicht nur aufgrund der Herstellungsbedingungen von Animation. Ein Method-Schauspieler sollte Gedanken und Gefühlsregungen der Figur durch Körper und Gesicht ausdrücken; er durfte sich nicht auf den Dialog beschränken (ibid., 223). Animator Marc Davis erinnert sich: «Wir haben zusammen das Spiel von [Charles] Laughton [in dem von Boleslavsky inszenierten Film Les Misérables von 1935] analysiert. Wir lasen alle Stanislawski» (zit. in Barrier 2008, 154). In den Memoiren von Frank Thomas und Ol- lie Johnston (1984) wird in den zahlreichen Bezugnahmen auf das Spiel der Trickfilmfiguren immer wieder auf Stanislawskis Verkörpe- rungskonzept von innen nach außen rekurriert, auch wenn sein Name unerwähnt bleibt. Diese Herangehensweise steht in deutlichem Ge- gensatz zum bisherigen schematischen Stil. So berichten Thomas und Johnston von der Entwurfsarbeit für die Schneewittchen-Zwerge: Es schien noch gar nicht lange her, dass man leichtgewichtige Mickeys und Minnies auf spindeldürren Beinchen zeichnete, wie sie ihre harmlosen Be- ziehungen austrugen. Hin und wieder gab es erste Anzeichen dessen, was bald folgen sollte, so in Elmer Elephant [Wilfred Jackson, USA 1936] und The Country Cousin [Der Vetter vom Lande, Wilfred Jackson, USA 1936], in denen es eine ungewöhnliche Figur gab, die auf das Geschehen mit starken Gefühlsregungen reagierte. Doch ansonsten war nun alles neu, und es schien, als habe sich der Wandel über Nacht vollzogen. Wir saßen gebannt da, wenn Walt von den sieben kleinen Männchen erzählte, so dass sie zu Fleisch und Blut wurden, als wären sie Menschen wie wir; und ob- wohl sie in ihrer Fantasiewelt mit sehr seltsamen Problemen konfrontiert waren, konnten wir sie begreifen und ihre Gefühle nachempfinden (Tho- mas/Johnston 1984, 245). Die Protokolle dieser Drehbuch-Konferenzen aus den 1930er Jahren dokumentieren, dass sich die Zeichner die Techniken des verkörpern- den Spiels zueigen machten, indem sie ihre eigenen Gedanken, Ge- fühle und Emotionen in die Gestaltung der Figuren einbrachten, statt einfach die vertrauten grafischen Schablonen zu verwenden (wie in den frühen Mickey-Mouse-Filmen). So wissen wir, dass geplant war, die Donald-Duck-Figur mit individualisierten Verhaltensweisen à la Stanislawski zu versehen, die sich dann von Film zu Film weiterent- wickeln sollten. Das Memo zur Persönlichkeit der Figuren unterstrich, 166 montage AV 22 /2 / 2013 dass Donald in Orphan’s Benefit (Die Kindervorstellung, Burt Gillett, USA 1934) und The Band Concert (Mickys Platzkonzert, Wilfred Jackson, USA 1935) eine «unvergessliche Mischung physischer (Gang, Haltung, Kampfstellung, Stimme) und charakterlicher Eigen- schaften (Dünkel, Arroganz, Hartnäckigkeit, Rachsucht) aufweisen sollte, mit allgemeinen und individuellen, menschlichen und tierischen Zügen». «Alle Phasen von Ducks Konflikt mit den Waisenkindern und Mickeys Orchester sind sorgfältig motiviert; alle physischen Verhal- tensweisen und Gesten offenbaren Zug um Zug Ducks Charakter mit in jedem Film neuen Nuancen und individuellen Noten.»8 Diese No- tizen richteten sich an eine neue Gattung von Zeichnern, die character animators, deren Aufgabe nicht nur im Zeichnen bestand, sondern auch darin, die schauspielerische Grundlage für die Darstellung im Rahmen eines immer stärker industrialisierten Produktionsprozesses zu liefern. Die ein Inneres verkörpernden Wesen sind den extrovertiert-schema- tischen, deren Äußeres einem bekannten Typus oder einem Attribut entspricht, jedoch nicht diametral entgegengesetzt. Auch sind sie ih- nen weder überlegen, noch stellen sie eine höhere Entwicklungsstufe dar, ungeachtet aller Behauptungen der Disney-Animatoren. Es han- delte sich schlicht um eine andere Herangehensweise. Die Disney-Mitarbeiter versuchten sich vom schematischen Stil ih- rer früheren Arbeiten und denen ihrer Konkurrenten zu lösen. David Hand erklärte den jungen Animatoren: In der Vergangenheit haben wir uns sehr an Standardlösungen orientiert. Das Gehen wurde immer auf die gleiche Weise dargestellt. Hier haben die Handlungsanalyse-Klassen von Don [Graham] etwas verändert, jedenfalls für mich. Vor ein paar Jahren gab es nur zwei Arten des Gehens, den nor- malen Gang und den von [Kater] Felix. Dann haben wir neu nachgedacht, und jetzt erfinden wir für jede Figur einen eigenen Gang.9 Der frühere Stil wurde in Pinocchio (Ben Sharpsteen/Hamilton Luske, USA 1940) parodiert als der Fuchs, der «ehrenwerte John», eine Reihe von übertriebenen Gebärden à la Delsarte produziert, um den naiven Pinocchio davon zu überzeugen, dass er Schauspieler werden sollte. Graham beharrte darauf, dass ein Animator eine Figur verstehen muss, bevor er sie zeichnen kann. Das Verstehen der Gefühle, Motive 8 Beide Zitate aus dem Memo «What Makes and Breaks Personality», 1. 9 David Hand, «Action Analysis: Director’s Relationship to the Picture and to the Ani- mator», Walt Disney Studios Protokoll, 26. Februar 1936, 1. Zeichentrick-Schauspieler 167 und Emotionen löst wiederum Empathie aus. Wenn dies erfolgreich umgesetzt wurde, konnten die Animatoren den paradoxen Eindruck von Realismus in Kombination mit Fantasiewesen vermitteln. In Be- zug auf The Flying Mouse (Die fliegende Maus, David Hand, USA 1934) schrieb er: Die Figuren waren immer noch gezeichnet, ihre Proportionen weit ent- fernt von wirklichen, gewachsenen Formen, doch ihr Verhalten wirkte sehr echt. [...] Ein brillanter Pantomime kann überzeugend suggerieren, er sei ein fliegender Vogel oder ein schwimmender Fisch. Physisch ähnelt er we- der einem Vogel noch einem Fisch, doch was er tut, ist überzeugend und scheint authentisch. Dasselbe gilt für alle Zeichentrickfiguren: Ihr Tun und ihre physischen Proportionen entsprechen zwar nicht der Wirklichkeit, doch man kann sie so darstellen, dass sie real wirken.10 Verkörpernde Darsteller verfügen sowohl über ein individuelles In- nenleben wie über ein eigenes Äußeres. Nach dieser vollständigen Fi- gur, wie David Graver sie beschreibt, hält das westliche Publikum vor allem Ausschau und wendet sich ihr mit der größten Aufmerksamkeit zu. Da die Figur sowohl ihr Inneres wie ihr Äußeres bereitwillig zur Schau stellt, sieht man ihr sehr gerne zu. Ein sol- cher Körper kann in Gemälden ebenso gut wie in Filmen, Romanen oder auf der Bühne auftreten (Graver 1997, 223). Als The Flying Mouse entstand, hatte sich Disney unübersehbar zum verkörpernden Stil bekehrt. Die gezeichnete Maus, der Protagonist, ähnelt im Gegensatz zu Mickey tatsächlich einer Maus, wirkt dreidi- mensional und weniger wie eine Comic-Figur. (Mickeys berühmte Ohren sind zweidimensional und bleiben immer gleich, auch wenn er den Kopf bewegt.) Die kleine Maus sehnt sich danach zu fliegen. Eine (zynische) Fee erfüllt ihr den Wunsch, doch gibt sie ihr Fledermausflü- gel. Der faustische Pakt führt dazu, dass die Maus nicht nur aus der Ge- meinschaft der Fledermäuse und Vögel ausgeschlossen wird, sondern auch aus der eigenen Mäusefamilie. Die vom Studio erarbeitete Ana- lyse zeigt, dass die Dynamik der Erzählung hier der Figur entspringt: Flying Mouse entwickelt die Ausgangssituation und ihre Konsequenzen aus der primären Charaktereigenschaft [der Maus], dem blinden und un- 10 Zitiert ibid., 16f. 168 montage AV 22 /2 / 2013 bedingten Wunsch, wie ein Vogel zu fliegen. Die katastrophale Folge der schließlich erworbenen Flügel [bewirkt] die totale Isolation, und die üble Gesellschaft der Fledermäuse ist das logische und unvermeidliche Resultat der Haupteigenschaft der Maus.11 Im Tooniversum hat sich die Trickfilmfigur mit ihren Freunden und Feinden eingerichtet. Impliziert ist, dass die fiktionale Welt sich auch ins Off erstreckt. Außerdem werfen die Figuren glaubhafte Schatten, die sie in ihrer physischen Umgebung verankern. In The Flying Mouse sprechen sie Dialoge, die ganz natürlich klingen, sie schauen einander an, aber wenden sich oder den Blick nie hin zum Publikum. Durch sei- ne menschlich wirkende Mimik, seinen Körperausdruck und die Mög- lichkeit, seine Gedanken zu belauschen, wissen die Zuschauer um die Gefühle, Motive und Reaktionen des Protagonisten. Wenn die Maus ihre aus Blättern gefertigten Flügel ausprobiert, in einer Pfütze landet und von den Geschwistern ausgelacht wird, fühlen wir den Schmerz, die Blamage, die aufkeimende Idee, den Entschluss – alles innerhalb weniger Sekunden. Graham lehrt, dass Timing und Deutlichkeit solcher kommunikativen Momente unbedingt zur Konzeption des Animati- onsfilm gehören: «Gesten im Trickfilm ereignen sich nicht von selbst, sie werden gezielt gezeichnet». Auch Begriffe wie «Bühne» und «Insze- nierung», die einen dreidimensionalen Raum implizieren, prägen die Diskussionen im Studio. Graham fährt fort: «Zuerst muss jede [Geste] deutlich inszeniert und dem Publikum präsentiert werden. Wenn eine Geste, wie raffiniert sie auch sein mag, nicht verständlich ist, so kann die gesamte Szene, ja vielleicht gar der ganze Film scheitern» (1955, 27). So hat sich im Animationsfilm eine affektive, aus dem Innern kommende, transzendente Körpertechnik des Schauspiels herausgebildet. Mit der Zeit verschmolz für Walt Disney das verkörpernde Spiel mit der Erzählweise: «Ich suche nach Geschichten mit Herz», sagte er Bob Thomas: Die Geschichte muss einfach sein, mit Figuren, für die das Publikum et- was empfindet, die von Grund auf interessant sind. [...] Alles muss beim Erzählen mit menschlicher Erfahrung zu tun haben (Disney zit. in Thomas 1958, 22). Betrachtet man die Disney-Kurzfilme aus den 1930er Jahren, so wird deutlich, dass der oft gerühmte allseitige Durchbruch des Studios hin 11 «What Makes and Breaks Personality», 4. Zeichentrick-Schauspieler 169 zur Natürlichkeit unter anderem darauf beruhte, dass die Animato- ren sich bemühten, die zu entwickelnden Figuren von innen heraus zu präsentieren, die passenden Bewegungen und den geeigneten Aus- druck zu finden und schließlich diese Innerlichkeit in den Zeichnun- gen hervortreten zu lassen. Der gedankliche Prozess, so Graham (1955, 12), ist die wichtigste Motivationskraft; die Handlungen der Figuren müssen ihrem Denken und Fühlen entspringen. Man kennt die vielen Anekdoten und lustigen Fotos von Animatoren, die auf übertriebene Weise füreinander Rollen mimen oder sich selbst im Spiegel studieren, um die Eigenheiten ihrer Mimik auf ihre Toons zu übertragen. Gra- ham berichtet, dass Walt Disney den Zeichnern jeden einzelnen Part in Snow White vorspielte (ibid., 58). Das verkörpernde Spiel innerhalb einer kohärenten fiktionalen Welt ist entscheidend für das Verständnis der Trickfilmarbeit bei Dis- ney. Die Motivation dafür liegt auf der Hand: Produktdifferenzierung gegenüber den Konkurrenten, insbesondere dem Fleischer-Studio, und die Übernahme der Produktionsprinzipien Hollywoods in den 1930er Jahren, von den Erzählstrukturen über das Starsystem bis zum Schauspielstil. Und nebenbei natürlich: mehr Profit. In der heutigen Ausbildung zum Animator ist der verkörpernde Stil, das Verständnis der Figuren als eine Art Stanislawski-Schauspieler, zur Routine geworden. Man zeichnet Bewegungen, die Gefühle zum Ausdruck bringen. Ed Hooks erklärt seinen Studierenden: Menschen können Emotionen nachempfinden. Schauspieler spielen in ers- ter Linie für das Publikum, und auch ihr werdet Animationsfilme für ein Publikum machen. Ziel des Animators ist es, Gefühle durch die Illusion von Bewegung auf die Leinwand zu bringen. Alles, was die Figur von Au- genblick zu Augenblick tut, ist von höchster Bedeutung. Für die empathi- sche Verbindung mit dem Publikum bedarf es der Emotion: Es geht darum, was die Figur fühlt, wenn sie etwas tut. Empathie ist für ein dynamisches Spiel so wesentlich wie Sauerstoff für Wasser (Hooks 2000, 16). Und bei Bird heißt es: Wenn das Publikum die Gesichter unserer besten Animatoren sehen könn- te, während sie eine gefühlsgeladene Szene zeichnen, würden sie bei ih- nen das gleiche konzentrierte Engagement erkennen wie bei den besten Schauspielern. Der Unterschied besteht darin, dass ein Animator in diesem Zustand verharrt und oft wochenlang an einem Gefühlsausdruck arbeitet, 170 montage AV 22 /2 / 2013 den die Figur dann in ein paar Sekunden auf der Leinwand vermittelt (Bird 2000, vi–vii). Die Disney-Animatoren folgten Stanislawskis Ideen und versuchten, den vormals schematischen Hieroglyphen menschliche Gedanken, Be- wegungen und Gefühle zu verleihen. Sie betrachteten, vereinfacht ge- sagt, die aus dem Innern entwickelte Verkörperungsmethode als Dogma. Die filmischen, kinästhetischen Körper sind zwar immateriell, aber dennoch real. Wir glauben an diese Wesen, auch wenn unser Glau- be weder dauerhaft noch besonders stark ist. Sie sind wie imaginäre Spielkameraden, die wir für wirklich halten, auch wenn wir im In- nersten wissen, dass das nicht stimmt. So ähnlich existieren auch der Weihnachtsmann, der Osterhase, Mickey Mouse oder Bugs Bunny. Das ist auch der entscheidende Punkt der Anekdote von Chuck Jones im Gespräch mit einem Kind: «Der Sechsjährige protestierte, als ich ihm als Schöpfer von Bugs Bunny vorgestellt wurde. ‹Das ist nicht wahr! Er zeichnet nur Bilder von Bugs Bunny›». Jones bestätigt diese Auffassung vom Toon als einem wieder-dargestellten Körper, an den man glaubt: «Der Junge hatte völlig Recht, und ich kann mir keinen schöneren Be- ruf denken als den, Bilder einer so wunderbaren Figur zu zeichnen».12 Die meisten von uns verlassen sich allerdings auf den sogenannten ‹ge- sunden Menschenverstand›, den man befragen kann, ob etwas wirklich ist oder nicht. Dabei gibt es einen Näherungswert: Etwas kann sehr, sehr nahe an der Wirklichkeit sein, jedoch ohne dass man absolut sicher sein könnte. Es ist wirklich, steht aber im Schatten des Zweifels. Die tiefe Ironie bei Disneys Streben nach emotionaler Tiefe und Kraft besteht nun darin, dass die Figuren zwar von Generationen von Kinobesuchern geliebt wurden, kommerziell erfolgreich und für die Industrie prägend waren; dass aber trotzdem seine Kampagne für den verkörpernden Stil in ästhetischer Hinsicht eher als nobler Fehlschlag erscheint. Disney scheint nicht erkannt zu haben, dass Figuren nicht nur dann lebendig werden, wenn man die verkörpernde Animation perfektioniert, oder dass Persönlichkeit auf der Leinwand nicht nur durch präzises Zeichnen entsteht. Es ist nämlich unerheblich, ob die Trickfilmfigur ein knuddeliges Säugetier, ein Reptil oder eine Amphi- bie ist, die Zuschauer können sich auch ungeachtet des Kuschelfaktors in eine Figur einfühlen oder ungeachtet dessen, ob es sich um eine Zeichnung, die fotografische Wiedergabe einer Aufführung oder ein verzerrtes Video handelt. 12 Chuck Jones in einem Interview mit Jo Jürgens, zit. n. Furniss 2005, 184. Zeichentrick-Schauspieler 171 Der schematische Stil gedieh und gedeiht weiterhin, und er kon- kurriert und übertrifft bisweilen den verkörpernden Stil. Letztlich ist es das Erleben des Zuschauers, das darüber entscheidet, ob es zu einer Identifikation oder Verbundenheit mit der Figur kommt oder nicht. Natürlich erleichtern die genau aufeinander abgestimmten Bewegun- gen von beispielsweise Geppetto, wenn er die Holzpuppe des Jun- gen schnitzt, oder die Beziehung zwischen der großen und der klei- nen Schreibtischlampe in Luxo jr. (Die kleine Lampe, John Lasseter, USA 1986) den Zugang des Zuschauers zu diesen Animationswelten. Doch andererseits konnten Filmfans auch die frühe schematische Mik- key Mouse, Betty Boop, den einfach gezeichneten Mr. Magoo und viel später auch die South-Park-Kids und heutige Flash-Animatio- nen von Amateuren anthropomorphisieren, sich mit ihnen anfreunden und mental in ihre Welt eintreten. Der Grund hierfür liegt in unserer Fähigkeit, alles und jedes zu beseelen: Man denke an Kinder, die mit Stöckchen als Puppen spielen, oder an die Tom-Hanks-Figur in Cast Away (Verschollen, Robert Zemeckis, USA 2000), die sich mit ei- nem Volleyball namens Wilson anfreundet. Abendfüllende Animationsfilme im schematischen Stil gibt es nach wie vor. Les Triplettes de Belleville (Das grosse Rennen von Belleville, Sylvain Chomet, F/B u.a. 2003) basiert beispielsweise ebenso auf dem Wiedererkennen von Karikaturen und Stereotypen (fette Amerikaner, obsessive Mütter, Sportverrückte) wie auf verkör- pernden Darstellungen. Zirkuläres und eingeübtes Verhalten machen die Individualität des Hundes der Familie aus, der nach Eisenbahnfahr- plan bellt und geradezu ein Emblem schematischer Darstellung sein könnte. Doch niemand würde behaupten, dass es solchen Figuren an einer spezifischen und einnehmenden Persönlichkeit fehlt. Selbst die Bewegungen in abstrakten Animationsfilmen wie Bego- ne Dull Care (Evelyn Lambart/Norman McLaren, CAN 1949), der aus direkt auf den Filmstreifen aufgetragenen Linien und Farben be- steht, lösen Gefühle aus und fordern zu einer empathischen Betrach- tungsweise auf. Es ist begreiflich, dass am Vorrang des menschlichen Körpers festgehalten wird, wenn «Performanz» definiert werden soll; doch gilt es auch zu verstehen, dass es sich dabei um eine kulturell er- worbene, anthropozentrische Praxis handelt, eine Haltung, die vom Animationsfilm untergraben und ständig widerlegt wird. Aus dem Amerikanischen von Frank Kessler 172 montage AV 22 /2 / 2013 Literatur Baron, Cynthia/Carnicke, Sharon Marie (2008) Reframing Screen Performance. Ann Arbor: University of Michigan Press. Baron, Cynthia/Carson, Diane/Tomasulo, Frank P. (Hg.) (2004) More Than a Method. Detroit: Wayne State UP. Barrier, Michael (2003) Hollywood Cartoons. American Animation in Its Golden Age. New York: Oxford UP. – (2008) The Animated Man. A Life of Walt Disney. Berkeley: University of California Press. Bird, Brad (2000) Foreword. In: Ed Hooks (Hg.) Acting for Animators. A Com- plete Guide to Performance Animation. Portsmouth, NH: Heinemann, x–xi. Bouldin, Joanna (2000) The Body, Animation and The Real. Race, Reality and the Rotoscope in Betty Boop. In: Conference Proceedings for Affective Encoun- ters. Rethinking Embodiment in Feminist Media Studies, Hg. v. Anu Koivunen & Susanna Paasonen. Turku: University of Turku, S. 48–54. Brewster, Ben/Jacobs, Lea (1997) Theatre to Cinema. Stage Pictorialism and the Early Feature Film. New York: Oxford UP. Carlson, Marvin (2004) Performance. A Critical Introduction (2. Aufl.). London: Routledge. Cavell, Stanley (1979) The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film. Er- weiterte Ausgabe. Cambridge, MA: Harvard UP. Eisenstein, Sergej (2011) Sergej Eisenstein: Disney. Hg. v. Oksana Bulgakowa & Dietmar Hochmuth. Berlin: Potemkin Press. Furniss, Maureen (Hg.) (2005) Chuck Jones. Conversations. Jackson, MS: Univer- sity Press of Mississippi. Ghez, Didier (Hg.) (2008) Walt’s People, Volume 6. Talking Disney with the Artists Who Knew Him. Bloomington: Xlibris. Graham, Donald (1955) The Art of Animation. Unveröffentl. Manuskript, datiert 20. Juli 1955, im Besitz des Walt-Disney-Studios. Graver, David (1997) The Actor’s Bodies. In: Text and Performance Quarterly 17,3, S. 221–235. Langer, Mark (1991) Institutional Power and the Fleischer Studios. The «Stan- dard Production Reference». In: Cinema Journal 30,2, S. 3–22. Hooks, Ed (2000) Acting for Animators. A Complete Guide to Performance Anima- tion. Portsmouth, NH: Heinemann. Merleau-Ponty, Maurice (1966) Phänomenologie der Wahrnehmung [frz. 1945]. Berlin: De Gruyter. Naremore, James (1988) Acting in the Cinema. Berkeley: University of Califor- nia Press. Zeichentrick-Schauspieler 173 Ohmer, Susan (1988) Who Framed Roger Rabbit? The Presence of the Past. In: Storytelling in Animation. The Art of the Animated Image. Hg. v. John Canema- ker. Los Angeles: AFI, S. 97–104. Schechner, Richard (1987) Between Theater and Anthropology. 3. Aufl. Philadel- phia: University of Pennsylvania Press. – (2006) Performance Studies. An Introduction. New York: Routledge. Stanislawski, Konstantin (1948) My Life in Art. New York: Taylor & Francis. – (1989) An Actor Prepares. New York: Taylor & Francis. Stebbins, Genevieve (1887) Delsarte System of Expression. New York: Edgar S. Werner. Stern, Carol Simpson/Henderson, Bruce (1993) Performance: Texts and Con- texts. New York: Longman. Surman, David (2006) Style, Consistency and Plausibility in the Fable Game- world. In: Animated «Worlds». Hg. v. Suzanne Buchan. London: John Lib- bey, S. 153–171. Thomas, Bob (1958) Walt Disney, the Art of Animation. The Story of the Disney Studio Contribution to a New Art. New York: Simon & Schuster. Thomas, Frank/Johnston, Ollie (1984) Disney Animation. The Illusion of Life. New York: Abbeville. Mickey Mouse in Vietnam Christine N. Brinckmann Der einminütige, lakonische, stumme, schwarzweiße Zeichentrick- film entstand 1968, ursprünglich unter dem unverfänglichen Titel «Short Subject» (Kurzfilm). Er wurde anonym auf 16mm produziert und subversiv in der Antikriegsbewegung verbreitet. Der Disney-Kon- zern zeigte sich wenig begeistert über diesen Einsatz seiner Mickey- Mouse-Figur und versuchte die Verbreitung zu behindern, ging aber nicht gerichtlich dagegen vor. Die beiden Filmemacher – Lee Savage und Milton Glaser – waren junge Designkünstler. Savage fungierte als Regisseur, Glaser als Haupt- zeichner und Produzent. Milton Glaser, inzwischen weit über achtzig, führt eines der berühmtesten Designer-Ateliers in New York, ist mit seiner Plakatkunst in den großen Museen vertreten und wurde kürz- lich von Barack Obama mit der National Medal of Arts dekoriert. Lee Savage ist bereits verstorben. Der Film galt lange Zeit als verschollen. Auch seine Schöpfer besa- ßen keine Kopie mehr – sie wussten offenbar nicht, dass ihr Werk in den Archiven der Kurzfilmtage Oberhausen und des Festivals von Sa- rajewo liegt sowie in der Film-Makers’ Coop von New York (versteckt in einer Rolle von Anti-Vietnamkriegs-Material). Inzwischen tauchte Mickey Mouse in Vietnam – jetzt unter dem neuen Titel – im Inter- net auf, erregt wiederum einiges Aufsehen und ist dabei, aus der le- gendären Erinnerung zu neuem Leben in der politischen Gegenwart aufzusteigen. Milton Glaser wurde kürzlich im Internet (BuzzFeed Rewind) befragt und erklärte: «Mickey Mouse is a symbol of innocence [...], and to have him killed, as a soldier, is such a contradiction of your expectations.» Auf den beiden folgenden Seiten repräsentieren wir die einzelnen Phasen des Films in Standbildern. Als Bewegtbild, in seiner vollen Dy- namik, ist Mickey Mouse in Vietnam mehrfach auf YouTube abrufbar. 176 montage AV 22 /2 / 2013 Mickey Mouse in Vietnam 177 Kleines Glossar* Maike Sarah Reinerth 2D-Animation 3D-Animation Computeranimation Animationstechniken, Animationstechniken, Animationstechniken, die deren Ausgangsmaterial deren Ausgangsmaterial mithilfe spezieller Soft- zweidimensional ist, also dreidimensional ist, also ware aus virtuellen Daten Höhe und Breite, aber Höhe, Breite und Tiefe am Computer Bewegtbil- keine Tiefe aufweist (z.B. aufweist (z.B. Puppen der errechnen; computer- Papier oder Glasplatten). oder Legobausteine). generierte Animations- techniken können prinzi- piell jede Form der 2D- oder 3D-Animation si- mulieren oder mit diesen traditionelleren Anima- tionstechniken kombi- niert werden, z.B. aus arbeitsökonomischen Gründen. Zeichentrick: Puppentrick: 2D-Computer- Gezeichnete oder gemalte Dreidimensionale Pup- animation: Einzelbilder werden mit pen (oder auch Objekte) Bei der so genannten 2D- kleinen Veränderungen werden zwischen den Computeranimation wird aufgenommen und nach- einzelnen fotografischen in der Regel ein Anfangs- einander geschaltet, sodass Aufnahmen minimal in und ein gewünschtes sich ein kontinuierlicher ihrer Position verändert, Endbild, die so genannten Bewegungsablauf ergibt. so dass sich ein kontinu- key frames, angegeben – 1 Prototypische Als Basis können u.a. Pa- ierlicher Bewegungs- der Computer errechnet Animations- techniken, z.T. pier oder Glas verwendet ablauf ergibt. Professio- dann anhand bestimmter nach Furniss, werden. Eine Sonderform nelle Trickpuppen Parameter die entspre- Maureen (1999) des Zeichentrick ist die haben in der Regel chenden Zwischen- Art in Motion: Ani- cel-Animation, bei der Holz- oder Metallske- schritte, z.B. eine meta- mation Aesthetics. verschiedene Folien (cels lette mit hochgradig be- morphotische Verwand- Sydney: John von engl.: celluloid) mit weglichen Gelenken, um lung (morphing) oder ei- Libbey einzelnen Bildbestand- natürliche Bewegungs- nen Bewegungsablauf. * Diese Übersicht stammt aus: Reinerth, Maike Sarah (2013) Animationsfilm. In: Film- wissenschaftliche Genreanalyse. Eine Einführung. Hg. v. Markus Kuhn, Irina Scheidgen & Nicola Valeska Weber. Berlin/Boston: De Gruyter. S. 319–337, hier: S. 337. Die Redaktion dankt dem Verlag für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck. Kleines Glossar 179 teilen übereinander gelegt abläufe möglichst rea- werden – auf diese Weise listisch nachahmen zu kann z.B. eine Figur ver- können. Bestandteile des ändert werden, während Gesichts oder der ganze der Hintergrund gleich Kopf der Puppe lassen bleibt. sich häufig austauschen, um eine wirkungsvolle Mimik zu realisieren. Legetrick oder cut out: Knetanimation oder 3D-Computer- Zweidimensionale Aus- claymation: animation: schnitte, z.B. aus Pappe, Objekte oder Figuren Verfahren zur 3D-Com- werden zwischen jeder aus Lehm (engl.: clay) puteranimation nutzen Aufnahme verschoben, oder Knetmasse werden Drahtgittermodelle, um sodass sich ein kontinu- zwischen den einzel- einen virtuellen dreidi- ierlicher Bewegungsablauf nen fotografischen mensionalen Raum zu ergibt. Eine Sonderform Aufnahmen modelliert, simulieren, innerhalb ist der von hinten be- sodass sich eine konti- dessen dann Objekte und leuchtete Scherenschnitt- nuierliche Veränderung Figuren bewegt oder oder Silhouettenfilm, der ergibt. Auch diese Pup- Kamerabewegungen imi- ähnlich einem Schatten- pen können zur besseren tiert werden können. theater funktioniert. Stabilität ein Drahtske- lett haben. Kameralose Pixilation: Animation: In Einzelbildschaltung Das Filmmaterial wird di- werden Menschen oder rekt bearbeitet, z.B. durch Objekte der vorfilmi- Kratzen, Bemalen, Bekle- schen Realität aufge- ben oder das Auftragen nommen, die sich bzw. von Chemikalien. Bei die- ihre Position zwischen ser Animationstechnik ist den einzelnen Aufnah- keine Aufnahme notwen- men leicht verändern. dig, der Bewegungsablauf Es entsteht eine leicht ergibt sich durch die kon- unruhige, unnatürliche tinuierliche Veränderung Bewegung, auf die der jedes einzelnen frames des englische Begriff pixila- Films. ted (dt.: seltsam, verrückt) anspielt. Rotoskopie: motion capturing: Bei diesem Verfahren werden reale, Beim motion oder performance capturing dreidimensionale Bewegungen foto- werden reale Bewegungen mit speziel- grafisch aufgezeichnet und anschlie- len Sensoren registriert und deren ßend in zweidimensionale Bilder über- Daten anschließend zur Weiterbear- tragen, z.B. durch die Projektion auf beitung in ein Computermodell eine Leinwand oder cels. übertragen. Zu den Autorinnen und Autoren Franziska Bruckner (*1981), Stipendiatin und Lehrbeauftragte der Uni- versität Wien, Koordinatorin der AG Animation (GfM), Vorstandsmit- glied von ASIFA-Austria. 2009–2013 am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft Universität Wien sowie in der Redaktion von rezens.tfm tätig. Promoviert über Hybride des Animations- und Real- films im deutschsprachigen Experimentalfilm. Publikationen u.a. Male- rei in Bewegung. Studio für experimentellen Animationsfilm an der Universität für angewandte Kunst Wien (2011), Techniken der Metamorphose. Positionen zum Animationsfilm (Hg. mit Melanie Letschnig & Georg Vogt, 2010). Suzanne Buchan, Dr., Prof. für Animationsästhetik an der Londoner Middlesex University. 1994–2003 Co-Direktorin des Schweizer Ani- mationsfestivals Fantoche, 2000–2012 Direktorin des Animation Re- search Center for the Creative Arts, UK. Herausgabe von Animated ‹Worlds› (2006) und Pervasive Animation: An AFI Reader (2013), 2011 erschien The Quay Brothers: Into a Metaphysical Playroom, Herausgeberin von animation: an interdisciplinary journal. Zur Zeit Vorbereitung einer Ausstellung am Museum für Gestaltung in Zürich. Christine N. Brinckmann, Dr., em. Prof. für Filmwissenschaft der Uni- versität Zürich, ab 1979 eigene Filmarbeit im experimentellen Bereich. Veröffentlichungen zu Filmgeschichte, Stilkonzepten und Erzählthe- orie, insbesondere des Hollywoodfilms, zum Dokumentarismus, zur Ästhetik des Experimentalfilms und zu feministischen Fragestellun- gen. 1997 erschien Die anthropomorphe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration, 2008 das DVD-Booklet Die Urszene mit Filmen und Texten, 2014 erscheint die Aufsatzsammlung Farbe, Licht, Empa- thie. Schriften zum Film 2. Herausgeberin der Reihe Zürcher Filmstudien, Mitherausgeberin der Montage AV. Donald Crafton, Dr., Prof. am Department of Film, Television, and Thea- tre der University of Notre Dame (USA). Autor von Shadow of a Mouse: Performance, Belief and World-Making in Animation (2013) sowie von The Talkies: American Cinema’s Transition to Sound, 1926–1931 (1999), Emile Cohl, Caricature, and Film (1990) und Before Mickey: The Animated Film, 1898–1928 (1982, Neuausg. 1993). Neben dem Animationsfilm arbeitet er vor allem über frühes Kino, Slapstick und die Anfänge des Tonfilms. Zu den Autorinnen und Autoren 181 André Eckardt (*1973), studierte Anglistische Literaturwissenschaft. Seit 2005 am Deutschen Institut für Animationsfilm (DIAF) in Dresden tätig, erst als wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 2008 als Geschäftsführender Leiter. Veröffentlichungen zum deutschen Werbe-, Lehr- und Industrie- film, u.a. Im Dienst der Werbung: Die Boehner-Film 1926–1967 (2004), Rai- mund Krumme – Spiel für Linien und Figuren (Hg. mit Ines Seifert, 2009). Erwin Feyersinger, Dr. (*1977), Universitätsassistent am Institut für Amerikastudien der Universität Innsbruck. Promovierte zur parado- xen Erzählfigur der Metalepse im Animationsfilm. Mitglied des Edi- torial Boards von animation: an interdisciplinary journal. Gründer und Sprecher der AG Animation (GfM). Veröffentlichungen u.a. zu narra- tologischen und kognitivistischen Problemen des Films, zu Fernseh- serien und zu Jan Švankmajer. Ralf Forster, Dr. (*1966), Filmtechnikhistoriker am Filmmuseum Pots- dam und wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt «Regionale Filmkultur in Brandenburg» an der Hochschule für Film und Fernse- hen «Konrad Wolf», Autor filmwissenschaftlicher Aufsätze und Film- programme, spezialisiert auf Werbe-, Animations- und Dokumentar- film, Promotion zum Werbefilm im Nationalsozialismus. Vorstand im DIAF, Zelluloid-Kollektion zum Amateur-, Privat- und Heimfilm. Veröffentlichungen u.a. zu privaten Filmproduzenten in der DDR (Im Schatten der DEFA, mit Volker Petzold, 2010) und über die Animati- onsfilme der Meschrabpom (in: Die rote Traumfabrik, 2012). Karol Irzykowski (1873–1944), polnischer Filmtheoretiker, Literatur-, Theater- und Filmkritiker, Dichter und Dramatiker. Nach dem Studi- um an der Universität Lemberg (poln.: Lwow, heute ukr.: Lwiw) legte er seinen Roman Pałuba (1903) vor. In Krakau und Warschau lebend, war er in einem Korrespondenzbüro und später als Chef des steno- grafischen Büros des polnischen Parlaments tätig und wirkte zugleich als Kritiker an wichtigen literarischen und politischen Zeitschriften sowie dem Radio der Zwischenkriegszeit mit. Schlug sich während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg als Stenografie-Lehrer durch. Aktiv im polnischen Untergrund starb er kurz nach der Befrei- ung. Sein Werk Dziesiąta Muza (Die zehnte Muse) erschien 1924. Anja Laukötter, Dr., Studium der Neueren und Neuesten Geschich- te, Europäischen Ethnologie und Politikwissenschaften in Köln, New York und Berlin. 2001 Magister, 2006 Promotion, ab 2006 wissen- 182 montage AV 22 /2 / 2013 schaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin, Charité Berlin. Seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin im For- schungsbereich «Geschichte der Gefühle» am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin mit einem transnationalen Projekt zum Thema «Emotionen und Wissen im Aufklärungsfilm, 1910–1990». Marie-Thérèse Poncet, Pionierin der Animationsfilmforschung. Habi- litierte 1951 nach dem Studium der Kunstgeschichte bei Étienne Sou- riau und Louis Réau mit einer Arbeit zur Esthétique du dessin animé, die 1952 als Buch veröffentlicht wurde. Zeitgleich entstand eine ver- gleichende Studie zu Zeichentrickfilmen und Buchillustrationen im Mittelalter (Étude comparative des illustrations du moyen-âge et des dessins animés, 1952). Schrieb ein Kapitel zu Funktion und Wirkung von Filmkostümen und Dekors für L’Univers filmique, das 1953 von Souri- au herausgegeben wurde. 1956 erschien Dessin animé, art mondial, 1967 eine Ausgabe der Anthologie du cinéma über Walt Disney, 1968 der Ti- tel L’Univers du dessin animé und schließlich, nach der Veröffentlichung zweier historischer Werke in den 1970er und 1980er Jahren, 1995 Le Génie de Walt Disney. Starb 2009 im Alter von 97 Jahren. Maike Sarah Reinerth (*1982), wissenschaftliche Mitarbeiterin am In- stitut für Medien und Kommunikation der Universität Hamburg, zu- vor an der Mainzer Filmwissenschaft, Promotion zur filmischen Re- präsentation von Subjektivität und Bewusstsein. Weitere Interessen: kognitive Filmtheorien, (europäisches) Autorenkino, Animationsfilm. Sprecherin der AG Animation (GfM). Zuletzt erschienen: Medialität und Menschenbild (Hg. mit Jens Eder & Joseph Imorde, 2013) mit einem Beitrag zu Michel Gondry sowie ein Aufsatz zum Animationsfilm (in: Filmwissenschaftliche Genreanalyse, 2013). Ivo Ritzer, Dr. (*1981), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Mediendramaturgie/Filmwissenschaft der Johannes Gutenberg-Uni- versität Mainz, wurde 2009 promoviert zur Dialektik von Genre- und Autorentheorie des Films. Aktuelle Forschungsinteressen: Genretheo- rie und Intermedialität, Globalisierung als medienkultureller Prozess, Serialität der Medien. Gründer und Sprecher der AG Genre Studies (GfM). Demnächst erscheint: Genre Hybridisation: Global Cinematic Flows. (Hg. mit Peter W. Schulze, 2014). Zu den Autorinnen und Autoren 183 Jörg Schweinitz, Dr. (*1953), Prof. für Filmwissenschaft an der Univer- sität Zürich. 1981 an der Universität Leipzig mit einer Studie zur Äs- thetik des populären Films promoviert, 2002 an der Universität Kon- stanz habilitiert. Gast- und Vertretungsprofessuren an den Universitäten Berlin (FU), Chicago, Marburg und Bochum, dann Ruf an die Hoch- schule für Film und Fernsehen «Konrad Wolf», von wo er 2007 nach Zürich wechselte. Publikationen u.a. Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909–1914 (Hg., 1992), Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel (Hg., 1995), Film and Stereotype: A Challenge for Cinema and Theory (2006, amerik. Ausg. 2011), Mitherausgeber der Montage AV.