Filmblatt 63 ∙ 20172 Porträtaufnahme von Oskar Kalbus (Deutsche Kinemathek) Filmblatt 63 ∙ 2017 3 Joel Westerdale Vielfalt als Verhängnis Oskar Kalbus’ Vom Werden deutscher Filmkunst (1935) und der vergessene dritte Band Der Film im Dritten Reich (1937) Keine andere Publikation zieht Siegfried Kracauer in seiner kanonischen Stu- die From Caligari to Hitler (1947) so oft als Referenz heran wie die beiden 1935 erschienenen Bände Vom Werden deutscher Filmkunst von Oskar Kalbus. Das lag erstens daran, dass es damals kaum vergleichbare Überblicksdarstellungen über jene filmhistorische Epoche gab, die Kracauer besonders interessierte: das Kino der Weimarer Republik. Der zweite Grund war das umfassende Detail- und In- siderwissen des promovierten Romanisten Kalbus (1890–1987), der ab 1920 in verschiedenen Funktionen bei der Ufa tätig war und ab 1933 dem Ufa-Direktori- um angehörte. Seine Bände stecken voll von Informationen. Auch heute noch sind die beiden in strahlendem Blau eingebundenen Teile von Vom Werden deutscher Filmkunst auf Flohmärkten, in Antiquariaten und Online- Börsen erhältlich. Und auch heute noch werden sie immer dann als Quelle zitiert, wenn andernorts nichts zu finden ist. Oft sind die Zitate daraus dann mit der Warnung versehen, Kalbus sei ein Nationalsozialist, ja ein „Nazi-Filmhistoriker“ gewesen.1 Hatte Kracauer das nicht gewusst oder war es ihm egal? Jedenfalls handelt es sich bei Vom Werden deutscher Filmkunst um ein Dokument, das – so auflagenstark verbreitet wie sonst keine Publikation zum Thema – eine große Be- deutung für die deutsche Filmgeschichtsschreibung erlangt hat. Das Auffinden des nie gedruckten dritten Bandes Der Film im Dritten Reich (1937) im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung ist Anlass genug, sich näher mit Vom Werden deutscher Filmkunst und dem Autor Kalbus zu befassen, dessen Nachlass in der Heidelberger Universitätsbibliothek liegt.2 1 So die Formulierung von Sabine Hake: The Cinema’s Third Machine. Writing on Film in Germany, 1907–1933. Lincoln 1993, S. 303. Hake spricht woanders von einer „gefährlichen Verbindung von Ideologie und Machtpolitik […] in der Karriere von Oskar Kalbus […], der bereits in der Lehr- und Kulturfilmbewegung aktiv war und in Vom Werden deutscher Filmkunst (1935) den Film einem neuen Politikbegri# unterordnete.“ Dies.: Filmpublizistik der Weimarer Jahre. In: Hans-Michael Bock, Wolfgang Jacobsen (Hg.): Recherche: Film. Quellen und Methoden der Filmforschung. München 1997, S. 25–36, hier S. 33. 2 Der vorliegende Aufsatz greift Ideen auf aus Joel Westerdale: An Accident of Resistance in Nazi Germany: Oskar Kalbus’s Three-Volume History of German Film (1935–37). In: Film History, Bd. 29, Nr. 2 (Sommer 2017), S. 165–191. Das Typoskript des dritten Bandes befindet sich im Bestand Philipp F. Reemtsma / Reemtsma Cigarettenfabriken im Archiv des Hambur- ger Instituts für Sozialforschung. Filmblatt 63 ∙ 20174 Zunächst ist das Erscheinungsjahr von Vom Werden deutscher Filmkunst wegen seiner filmgeschichtlichen Bedeutung bemerkenswert. 1935 eröffnete das Muse- um of Modern Art in New York das erste Filmarchiv Nordamerikas, das British Film Institute etablierte seine National Film Library, und in Deutschland wurde das Reichsfilmarchiv gegründet. Diese Gründung lieferte den Anlass für seine Publi- kation, wie Kalbus einleitend bemerkte: „Wie groß dieses Bedürfnis nach einem historischen Rückblick gerade in unseren Tagen ist, geht klar und deutlich aus den Richtlinien für das vom Reichsminister Dr. Goebbels angeregte und im Feb- ruar 1935 eröffnete Reichsfilmarchiv hervor“ (Bd. 1, S. 3). Kalbus richtete seine Aufgabe demnach an der Zielsetzung des Reichsfilmarchiv aus, die vom Präsiden- ten des Reichsfilmkammer, Fritz Scheuermann, so beschrieben wurde: Filmisches Material aller Art wird gesammelt zur „gegenseitigen Auseinandersetzung zwi- schen den am deutschen Film Schaffenden, um das Filmwerk von heute zum Film- kunstwerk von morgen zu erheben. An Hand von alten und neuen, inländischen und ausländischen, guten und schlechten, zugelassenen und verbotenen Filmen soll im Rahmen des Reichsfilmarchivs diejenige sachliche, rückhaltlose, offene gegenseitige Kritik des berufsständischen Lebens einsetzen in voller Gedan- kenfreiheit, die allein die Grundlage allen künstlerischen Schaffens sein kann“ (Bd. 1, S. 3). Kalbus überließ Goebbels die kritische Evaluierung der Filme; seine eigene Rolle sah er darin, den historischen Rückblick zu unternehmen. 1.000 Filme für 100.000 Leser. Im Rahmen einer Werbekampagne der Ziga- rettenfirma Reemtsma erschien Vom Werden deutscher Filmkunst 1935 in Form der Sammmelalben Der stumme Film (Sammelalbum Nr.  10) und Der Tonfilm (Nr. 11), die beim örtlichen Zigarettenhändler gekauft oder direkt beim Ciga- retten-Bilderdienst Altona-Bahrenfeld bestellt werden konnten – zum Preis von einer Reichsmark. Bei der Anscha"ung fehlten die 200 schwarzweißen Fotogra- fien pro Band, deren Bestellung der Werbekampagne zugrunde lag. Eine „Bil- dergruppe“ erhielt man erst gegen Einsendung einer in der Nummernfolge von 1 bis 50 lückenlosen Serie von „Bilderschecks“, die den Zigarettenpackungen der Reemtsma-Marken beigelegt waren. Jeder Band enthielt fünf Bildergrup- pen; man brauchte also insgesamt 500 Bilderschecks, um vollständig illustrier- te Ausgaben beider Bände zu bekommen. Nach einer internen Firmengeschich- te Reemtsmas aus dem Jahre 1952 lieferte der Bilderdienst zwischen April 1935 und April 1938 für den ersten Teil, Der stumme Film, 159.051 Bilderserien und 119.017 Alben aus. Die Zahlen für den zweiten Teil, Der Tonfilm, waren noch hö- her: 258.946 Bilderserien und 194.190 Alben wurden von Juli 1935 bis März 1938 ausgegeben.3 Die Marketing-Aktion könnte man nach diesen Zahlen als beachtlichen Erfolg beschreiben. 3 Philipp F. Reemtsma u. a.: Reemtsma. Beiträge zu einer Firmengeschichte. Hamburg 1952, S. 295; insgesamt soll der Bilderdienst vom Januar 1932 bis Mai 1943 4,13 Milliarden Bilder geliefert und 18,75 Millionen Bilderalben durch den Fachhandel verkauft haben, vgl. S. 294. Filmblatt 63 ∙ 2017 5 Was die Zahlen aber auch zeigen, ist die kurze Dauer dieses Erfolgs. Im Spät- sommer 1937 kamen die ersten polizeilichen Beschwerden, kurz darauf folgten Angriffe in der nationalsozialistischen Parteipresse. Obwohl die deutschnationa- len Neigungen des Verfassers Kalbus nicht zu verkennen sind, waren seine bei- den Bände kulturpolitisch angreifbar, weil sie auch Filmschaffende aufführten und würdigten, die längst im Exil waren und als Juden verfemt wurden. Kalbus behauptete zwar in der Einleitung bescheiden, sein Werk „soll am winterlichen Kamin oder in der Laube von Jasmin betrachtet werden, nicht aber etwa im All- tagskampf um den Film als Kunstprodukt oder Wirtschaftsfaktor“ (Bd. 1, S. 3). Aber Kalbus, der stets als Dr. Kalbus firmierte, hatte darüber hinaus einen wis- senschaftlichen, wenn auch populärwissenschaftlichen Anspruch. Er wollte eine „Lücke in der Filmfachliteratur“ ausfüllen, indem er im ersten Teil „die Meilen- steine stummer Filmkunst chronologisch […] zu einem historischen Rückblick auf das allmähliche Werden deutschen Filmschaffens von seinen Uranfängen an bis zum ersten Tonfilm“ aufbaute (Bd. 1, S. 3). Im zweiten Band sind es gleicher- maßen „Meilensteine der Tonfilmkunst“ (Bd. 2, S. 3), die vor dem 31. Dezember 1934 uraufgeführt wurden. Sein Ehrgeiz einer breitgefächerten Darstellung der Filmgeschichte Deutschlands lässt sich in der Vielfalt der besprochenen Filme und Filmemacher erkennen. Der deutsche Film in seinen Ursprüngen, seinen Produktionen und Schöpfern erscheint bei Kalbus erstaunlich heterogen. Er bespricht fast 1.000 Filme, die er in mehr als 25 Rubriken und Genres einteilt, zudem noch hunderte Schauspieler, Regisseure, Produzenten und Techniker, die in Deutschland tätig waren. Lubitsch, Oswald, Berger à la Kalbus. Kalbus stellte auch Personen vor, die den Nationalsozialisten als Persona non grata galten – mal mit einem Hauch Ver- achtung, mal mit Hochachtung. An Lubitsch moniert er dessen „uns wesensfrem- de Schnoddrigkeit“ (Bd. 1, S. 34), widmet ihm dann aber eigens das Kapitel „Neue Wege zur Filmkunst“ und übernimmt sogar die Wortwahl des bereits emigrierten Regisseurs, wenn er behauptet: „Er hat keine ‚deutschen‘ oder ‚amerikanischen‘ Filme gemacht, sondern ganz einfach Lubitsch-Filme“ (Bd. 1, S. 45). An anderer Stelle vereinnahmt er Lubitsch wiederum für das deutsche – also nationale – Film- wesen. Erst durch den internationalen Erfolg von Die Austernprinzessin (1919) „wußte man im Ausland, daß die Deutschen ebensogut Filmkomödien schreiben, spielen und drehen können wie Filmdramen“ (Bd. 1, S. 85). Ähnlich zwiespältig wird der von den Nazis gehasste und diffamierte Richard Oswald behandelt. Erst wird er als „Richard Ornstein, genannt Oswald“ vor- gestellt, aber danach konsequent Oswald genannt und gefeiert. Carlos und Elisabeth (1924) findet Kalbus „dramatisch spannend“ (Bd. 1, S. 70); Unheim- liche Geschichten (1919) preist er als Eroberung „filmischen Neulands“ (Bd. 1, S.  94); und sogar Lukrezia Borgia (1922) schätzt er, da das Manuskript „aus schöpferischer Vision geboren und mit einer Vollkommenheit gestaltet [ist], die auf die Höhen großer Bildkunst führt“ (Bd. 1, S. 53). Filmblatt 63 ∙ 20176 Begeistert schreibt Oskar Kalbus über Amphitryon von Reinhold Schünzel (der ab 1933 nur mit Sondergenehmigung arbeiten darf und im Juni 1937 emigriert): „Als einst der alte Homer die Götter und Helden besang und sie aus der Sphäre des Mythischen in die des Menschlichen und oft sogar Allzu-Menschlichen über- führte, hat er bestimmt nicht geahnt, dass ihm nach mehr als 2000 Jahren – im ersten Tonfilmjahrzehnt – in dem Lustspieldichter, Schauspieler und Regisseur Reinhold Schünzel ein würdiger Nachfolger erstehen würde. Schünzel lehnt sich in der parodistischen Film-O+enbachiade Amphitryon nicht etwas sklavisch an die Lustspiele oder Dramen des Römers Plautus oder von Molière oder Heinrich von Kleist an, sondern schenkt uns – auf eigenen Wegen und immer eingedenk, dass der Film eigene Gesetze hat – eine von Spott und Witz sprü- hende, ergötzliche moderne Filmparodie, eine glückliche Mischung zwischen Satyre, Märchenspiel und Komödie, die das Heutige tri+t. Alles ist aus reinstem Spieltrieb geboren, wobei dem Spielleiter ein Spritzer vom Geist Voltaires als Scheidewasser in seiner filmischen Alchemie gedient hat.“ (Bd. 3, S. 186) Esel (links) und Paul Kemp auf einem Aushangfoto zur Reprise in der Bundesrepub- lik (Deutsche Kinemathek) Filmblatt 63 ∙ 2017 7 Andere Filmschaffende, die ins Exil gehen mussten, preist Kalbus gleicherma- ßen: Friedrich Zelnik lobt er als einen „große[n] Meister in der Behandlung der Massen“ (Bd. 1, S. 73) und Ludwig Berger, „diesen Mann der Feder und der Büh- ne,“ als Regisseur, der „nicht nur visuelle Fähigkeiten, sondern vor allen Dingen Kultur und Geschmack“ hat (Bd. 1, S. 86). Letzterer wird im zweiten Band zusam- men mit anderen verfemten Persönlichkeiten ausgezeichnet, unter ihnen Erik Charell, Friedrich Hollaender, Anatol Litvak, Hanns Schwarz, Robert Siodmak und Jan Kiepura. Mit Bezug auf eben diese von Kalbus reflektierte Vielfalt schrieb der Emigrant und bekennende Anti-Nazi Wilhelm Dieterle 1945 in der allerersten Ausgabe vom Hollywood Quarterly: „These two volumes may well serve as record of the high standard the German films once held, and as a sorrowful reminder of those artists who contributed to that greatness.“4 Unerwünschte Vielfalt. Vom Werden deutscher Filmkunst beschränkt sich auf die Entwicklung des „rein deutschen“ Films, will diesen aber in seiner ganzen Vielfalt darstellen. 1935 schien Kalbus das noch möglich. Dabei scheute er sich keineswegs, sein Werk mit den Bestrebungen der Nationalsozialisten in Einklang zu bringen. Seine Sprache ist durchzogen von NS-Begri"en, etwa wenn er von der „Systemzeit“ oder dem „Gewaltfrieden“ von Versailles spricht. Mehrfach zi- tiert er Goebbels zustimmend, so im Kapitel „Film-Deutschland erwache!“ (Bd. 2, S. 101–103). Diese Begri"e und die damit verbundene Verbeugung vor dem Re- gime wirken sich in den ersten Bänden seiner Gesamtdarstellung jedoch allen- falls am Rande aus. Sie sind eher isoliert als integriert, zum Beispiel in den stark deutschnational gefärbten Kapiteln „Film muß Volkskunst sein“ (Bd. 2, S. 106– 118) und „Heroismus in Partei und Bewegung“ (Bd. 2, S. 119–123). Gelegentlich schreibt Kalbus verallgemeinernd über den deutschen Geschmack und vergleicht beispielsweise – was damals schon abgedroschen war – die „Gebärdensprache der Südeuropäer“ mit der von „nordischen Schauspielern“ (Bd. 1, S. 21–22). So sehr Kalbus hier sprachlich und teilweise gedanklich mit den Machthabern am glei- chen Strang zog, so wenig war er in diesem Bestreben konsequent und ideolo- gisch borniert, wie der Umgang mit den späteren Emigranten zeigt. Die Vielfalt der Darstellung wurde Vom Werden deutscher Filmkunst zum Ver- hängnis. Unter dem Druck des NS-Regimes wurden die Bände von Reemtsma im Frühjahr 1938 aus dem Programm genommen, weil die „Darstellungen jüdischer Filmschauspieler und die Erwähnung jüdischer Regisseure beanstandet“ wor- den sei, so Reemtsma 1952; deshalb „wurde die Herausgabe dieser Sammelwerke verboten“.5 Folgt man den Memoiren von Kalbus, die er nach dem Zweiten Welt- krieg verfasste, ging das auf die Intervention wichtiger Vertreter des Regimes zurück: „Hochrangige SS-Führer hatten Himmler darauf aufmerksam gemacht, 4 William Dieterle: Made in Germany. In: Hollywood Quarterly, Nr. 1 (Oktober 1945), S. 124– 126, hier S. 126. 5 Reemtsma u. a.: Reemtsma, S. 295. Filmblatt 63 ∙ 20178 daß in den Reemtsma-Filmbüchern eine große Anzahl jüdischer Regisseure und Schauspieler als ‚Filmkünstler‘ gewürdigt und sogar mit Fotos verewigt worden seien“.6 Himmler habe erfolglos versucht, die Exemplare zu beschlagnahmen, worüber Goebbels in Zorn geraten sei und die Initiative ergriffen habe. Er habe den Fall durch den Reichskulturwalter Hans Hinkel untersuchen lassen (als Son- derbeauftragter sorgte dieser für die „Überwachung der kulturtätigen Nichtarier“ und für die „Entjudung“ des Kulturbetriebs). Da Hitler und Göring von den Al- ben begeistert gewesen seien, habe Hinkel die Untersuchung abbrechen müssen. Dennoch habe Goebbels, wie Kalbus ohne Quellenangabe schreibt, „dem Autor der Bücher in unserer Presse einen Schlag versetzen wollen“.7 „So geht es nicht!“ Tatsächlich kam es zwei Jahre nach dem Erscheinen von Vom Werden deutscher Filmkunst zu Angri"en in der Parteipresse. 1935 waren die Bän- de noch so positiv aufgenommen worden, dass die Einleitung im Reichsfilmblatt, dem o6ziellen Organ des Reichsverbandes deutscher Lichtspiel-Theater-Besitzer, ausführlich wiedergegeben werden konnte.8 Aber im Oktober 1937 erschien in Der Mitteldeutsche eine verheerende Kritik des zweiten Bandes unter dem Titel „So geht es nicht!“9 Darin werden Kalbus und der Ross- bzw. Roß-Verlag, der die Bilder für die Alben druckte, scharf angegri"en: Im Text wimmele es „noch reich- lich von Juden und Jüdinnen, die Kalbus und ‚Roß‘ […] als Deutsche vorstellen“. Der Kritiker verhöhnt Kalbus als „Anbeter“ des „Juden Erik Charell“, weil er des- sen Der Kongress tanzt (1931) lobe. Dass er „den Juden Ludwig Berger“ an „die Spitze der deutschen Tonfilmregisseure“ stelle, sei unverzeihlich, ebenso wie der unkritische Umgang mit G. W. Pabsts Westfront 1918 (1930). Ganz zu schweigen davon, dass er es wage, den Namen des „bolschewistischen Literaten Bela Balasz [sic]“ neben den des Reichsfilmdramaturgen Willi Krause zu stellen. Kurz darauf folgte eine Kritik in der Parteizeitung Der SA-Mann mit der Über- schrift „Kunst-Konserven“, in der Vom Werden deutscher Filmkunst zusammen mit dem Sammelalbum Moderne Malerei von Reemtsma verurteilt wurde.10 Die Ankla- ge des „entarteten“ Inhalts des anderen Albums überrascht nicht. Im Fall von Vom Werden deutscher Filmkunst richtete sich die Kritik nicht primär gegen die besprochenen Filme, sondern gegen die Filmschaffenden selbst: Oskar Karlweis, Richard Tauber, Erik Charell, Fritz Kortner sowie auch Marlene Dietrich. Der Ver- stoß gegen die deutsche Kultur, den Kalbus begehe, liege nicht allein darin, dass er die Rolle von solchen „Kulturverderbern“ erwähne. Vielmehr würde ihr Beitrag 6 Oskar Kalbus: Die besten Jahre eines Lebens für den Film. Eine Rückblende auf sieben Jahrzehnte (1890–1960). Zusammengestellt von Maja Kalbus. Wiesbaden o. J. [1961], S. 64–65. 7 Kalbus: Die besten Jahre, S. 65. 8 Vom Werden deutscher Filmkunst. In: Reichsfilmblatt, Nr. 21, 25.5.1935. 9 So geht es nicht!. In: Der Mitteldeutsche, Nr. 43, 24.10.1937, Beilage „Unser Sonntag“, S. 1–2. 10 Kunst-Konserven. In: Der SA-Mann, Nr. 47, 20.11.1937, S. 5. Filmblatt 63 ∙ 2017 9 durch ihn verewigt: „Oskar Kalbus hat sie konserviert. In seinen Texten werden sie als Meister deutscher Filmkunst gefeiert“  – das hätte ihm „zu Systemzeiten einen Ehrenplatz in der Synagoge eingebracht“. Die Attacken in der Presse kamen nicht aus heiterem Himmel. Bereits im Sep- tember 1937 war der zweite Band von Vom Werden deutscher Filmkunst reichsweit konfisziert worden. Das Grenzpolizeikommissariat Lübeck meldete an die Ge- heime Staatspolizei, man „habe die in den hiesigen Cigarettengeschaeften zum Verkauf bereitliegenden Druckschriften beschlagnahmt“, weil Bilder jüdischer Schauspieler unter Bildern von Hitler und Goebbels hervorgehoben und verherr- licht würden.11 Einen Monat später wurde die Aktion aber zurückgenommen und die Lübecker Anweisung von der Geheimen Staatspolizei als eigenmächtig kriti- siert.12 Dennoch sollten in Neuauflagen „gewisse Abänderungen“ vorgenommen werden, die am Ende allerdings nicht verwirklicht wurden.13 In einem Schreiben vom persönlichen Referenten des Reichsministers für Volksaufklärung und Pro- paganda an das Geheime Staatspolizeiamt vom 13. Dezember 1937 liest man: „Die 11 Bundesarchiv [BA] RA 58/913 (71). Fernschreiben vom Grenzpolizeikommissariat Lübeck. Gez. John an Geheimes Staatspolizeiamt, 11.9.1937. Dank an Rolf Aurich für den Hinweis. 12 BA R 58/913 (86), Geh. Staatspolizei, Fernschreiben an alle Staatspolizeileit- und Staats- polizeistellen, „2.) Schreiben an die Stapo in Kiel“, 11.10.1937. 13 BA R 58/913 (88): Geh. Staatspolizei, Fernschreiben an alle Staatspolizeileit- und Staats- polizeistellen, 13.10.1937. Weiblicher Star in Die blonde Carmen (1935) ist Marta Eggerth (die als unga- rische Jüdin nur mit Sondergenehmi- gung arbeiten darf und später mit ihrem Ehemann, dem polnischen Tenor Jan Kiepura, emigriert). Kalbus zufolge ge- lingt es ihr, „in ihrem Spiel Natur und Zivilisation übereinander zu kopieren“: „Martha [!] Eggerth  – ‚schön wie der junge Frühling‘ – zeigt sich im Dreiklang ihrer stimmlichen, schauspielerischen und tänzerischen Begabung. Wir haben kaum eine zweite Filmsängerin, die eine so kristallklare Stimme einzusetzen hat, in der Höhe und im Pianissimo, wie Mar- tha Eggerth. Dazu ist sie von allen Film- Soubretten vielleicht die natürlichste, die mit Temperament und goldigem Humor durch die operettenhaften Geschehnis- se singt, spielt und tanzt.“ (Bd. 3, S. 178) (Foto: Deutsche Kinemathek) Filmblatt 63 ∙ 201710 Firma Reemtsma hat mitgeteilt, dass das Album ‚Vom Werden deutscher Film- kunst‘ nicht mehr neuaufgelegt werden wird, dass keine Sammelschecks mehr dafür ausgegeben werden und dass es von der Liste der Sammelalben gestrichen wird. Damit dürfte die Angelegenheit erledigt sein.“14 Reemtsma wurde allem An- schein nach unter Druck gesetzt, Vom Werden deutscher Filmkunst abzuändern oder aus dem Verkehr zu ziehen, aber alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die Alben nie offiziell verboten wurden. Widerstandskämpfer oder Mitläufer? Nach 1945 berief sich Kalbus in seinem Fragebogen zur Entnazifizierung auf die Angri"e gegen seine Bände in der NS- Presse. Er ordnete sich in die entlastete „Gruppe 5“ ein, wonach das Gesetz zur politischen Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus auf ihn keine Anwendung finden sollte. Als Erklärung für diese Einstufung führte er die oben erwähnte Episode an: „Meine Bücher 1937 wegen Judenverherrl[ichung] von Ge- stapo beschlagnahmt u[nd] von der Parteipresse bekämpft. Ein weiteres Buch von Min. Goebbels verb[oten].“15 Ohne Zweifel waren die Alben von Vom Werden deutscher Filmkunst beschlag- nahmt und bekämpft worden, wie die Korrespondenzen der Gestapo und die Kritiken in Der SA-Mann und Der Mitteldeutsche 1937 bestätigen. Aber trotz des historischen Sachverhalts übertreibt Kalbus, wenn er seine Werke als Beweis für eine oppositionelle Betätigung anführt. In seinen Memoiren behauptet er, die Heidelberger Spruchkammer habe ihn „einen Widerstandskämpfer in den ersten Jahren des Dritten Reichs“ genannt, obwohl dieser ohne Quellenangabe als Zitat angeführte Satz nicht aus dem Urteilsspruch selbst stammt.16 Der Urteilsspruch stellt fest, dass die Veröffentlichung der Bände als „ein Akt offenen Widerstands gegen die Grundtendenzen des Nationalsozialismus“ zu werten sei, betont je- doch, dass Kalbus „diesen Widerstand später aufgegeben“ habe und, um sich „beim Propaganda-Ministerium und bei Dr. Goebbels ein besseres Ansehen zu ge- ben, [1940] in die Partei aufnehmen liess.“17 Von der Heidelberger Spruchkammer wurde Kalbus daher am 22. Oktober 1947 als „Mitläufer“ eingestuft. Der unveröffentlichte dritte Band. Der geplante dritte Band von Vom Werden deutscher Filmkunst hätte das Urteil der Spruchkammer bestätigt und noch deut- licher gemacht, dass Kalbus publizistisch ein „Mitläufer“ war. Nach dem Erfolg der ersten Alben bestellte Reemtsma „einen weiteren Band mit dem Titel ‚Film- 14 BA R 58/913 (99). Der persönliche Referent des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda an das Geheime Staatspolizeiamt, 13.12.1937. 15 Meldebogen, 23.4.1946, Antwort auf Frage 13. Universitätsbibliothek Heidelberg, Heid. Hs. 4133, I, 1. 16 Kalbus: Die besten Jahre, S. 66. 17 Spruch der Heidelberger Spruchkammer (dat. 22.10.1947, gez. Th. Gunzert), UB Heidel- berg, Heid. Hs. 4133, I, 1. Filmblatt 63 ∙ 2017 11 kunst im Dritten Reich‘“, doch bevor das Manuskript in Druck gehen konnte, wur- de es wegen des „Wirbels“ um die ersten beiden Bände zurückgezogen, so Kalbus in seinen Memoiren.18 Das Manuskript galt danach als verloren. Erst im Sommer 2016 tauchte eine Ko- pie von Der Film im Dritten Reich im Archiv des Hamburger Instituts für Sozial- forschung auf: ein umfangreiches Typoskript, bestehend aus 446 gebundenen Schreib maschinenseiten. Dazu gehören ein Titelblatt, ein Inhaltsverzeichnis mit 66 Kapiteln, eine zweieinhalbseitige Einleitung datiert von Oktober 1937 und 439 18 Kalbus: Die besten Jahre, S. 64. Eine „Pioniertat“ ist für Kalbus Die ewige Maske (1935) von Werner Hochbaum (der im Juni 1939 aus der Reichsfilmkammer ausgeschlossen wird und nicht mehr im deutschen Film arbeiten darf ): „Der Hochbaum-Film stellt nach dem Urteil der einen Kritiker einen genialen Versuch dar, Seelenvorgänge zu fotografieren und damit dem Film neue Bezirke zu erschließen. Die anderen dagegen sprechen von einem großen Irrtum, einem ‚verspäteten Expressionismus‘, aufgepulvert durch eine ‚modernisierende pseudoklinische Zusatzkost‘ und denken dabei an die Stummfilme Das Kabinett des Dr. Caligari und Das Geheimnis einer Seele. Wie dem auch sei, dieser Film ist ein interessantes Experiment. Es ist ein Avant- garde-Film im schönen Sinne, im klugen Geiste, mit ernstem Willen.“ (Bd.  3, S. 275) (Deutsche Kinemathek) Filmblatt 63 ∙ 201712 nummerierte Seiten. Auf dem Titelblatt steht: „Vom Werden deutscher Filmkunst. 3. Teil: Der Film im Dritten Reich. Auswahl und Zusammenstellung der Bilder und Texte von Dr. Oskar Kalbus“. Die Bilder fehlen, und es lässt sich nicht feststellen, welche Bilder vorgesehen waren und wo sie plaziert werden sollten. Der Text dage- gen ist zusammenhängend und nahezu vollständig. Es fehlt nur die im Inhaltsver- zeichnis angekündigte Liste „benutzter Quellen“. Der Unterschied zwischen dem dritten Teil und seinen Vorgängern ist eklatant. Die Angriffe in der NS-Presse gegen die ersten beiden Bände waren ignorant und ziel- ten auf Diffamierung. Falsch im Sinne der herrschenden Ideologie waren sie nicht Über Frank Wysbar (der ab 1938 Arbeitsverbot hat und mit seiner jüdischen Frau emigriert) und seinen Film Fährmann Maria (1936) mit Sybille Schmitz: „Der geniale Legendengestalter Frank Wysbar zeichnet die epische Fabel mit knappen Strichen auf die Leinwand und versucht auch hier wieder, Vorgänge, die durchweg im Seelischen, also außerhalb des Visuellen liegen, optisch zu gestalten. Nur ein Beispiel für Wysbars filmische Leistung: Die Unbekannte steht am Fenster. Der Regen fällt in Strömen. Der geliebte Mann ist unten mit einem Taxi für immer davon gefahren, und die Frau sieht vom Fenster aus auf dem Straßenpflaster das helle Viereck, das der Wagen, so lange er darüber stand, vom Regen verschonte. Diesen trockenen Fleck hält die Kamera eine Weile fest. Aber allmählich regnet auch dieses Viereck zu. Kein Wort dabei, ein Bild von grausamer Unerbittlichkeit und endloser Verlassenheit.“ (Bd. 3, S. 135 f.) (Deutsche Kinemathek) Filmblatt 63 ∙ 2017 13 unbedingt, da Kalbus darin den Anteil jüdischer Filmemacher an der Entwicklung des deutschen Films von den Anfängen bis 1933 gewürdigt hatte. Wenn die Datie- rung der Einleitung – „Berlin, im Oktober 1937“ – stimmt, so waren Kalbus zu die- sem Zeitpunkt die Angriffe auf die ersten beiden Bände bereits bekannt – und er reagierte darauf. Er weicht von seinem früheren Ansatz nicht nur ab, indem er sich mit der aktuellen Lage der deutschen Filmindustrie beschäftigt, sondern auch da- rin, dass er Teil 1 und 2 von Vom Werden deutscher Filmkunst neu interpretiert und kritisch bewertet. Während die ersten Bände eine im weiteren Sinne chronologisch strukturierte Darstellung der deutschen Filmgeschichte mit Betonung von Genres, Kurt Skaldens Spielfilmdebüt Liebe geht – wohin sie will (1935) entstand in Ostpreußen an der Nehrung und am Kurischen Ha+. „Mit diesem Werk ist der ostpreußische Kurt Skalden ein Filmsonderling im guten Sinne des Wor- tes und vom Schlage Trenkers und der Riefenstahl geworden, ein Sonderling, der den Sto+ des Films selbst formte, selbst die Aufnahmen vornahm und die Kamera bediente, den Schnitt des fertigen Werkes selbst besorgte und zuvor als Hauptdarsteller und Spielleiter fungierte. Hier hat ein Mann die Arbeit von fünf Männern übernommen. Schon diese ‚totale‘ Leistung allein verdient unbedingtes Lob und zeugt von dem festen Willen, die Dinge des deutschen Films mitvorwärts treiben zu helfen.“ (Oskar Kalbus, Bd. 3, S. 362) Skalden schuf im „Dritten Reich“ nur noch einen weiteren Spielfilm als Regisseur und eigener Produzent. (Deutsche Kinemathek) Filmblatt 63 ∙ 201714 Personen und Techniken boten und ein kontinuierliches Fortschreiten erwarten ließen, scheint diese Entwicklung im dritten Band in der Gegenwart ihren Gipfel erreicht zu haben. „Saat und Ernte nationalsozialistischer Filmführung.“ Das Ergebnis ist eine unausgewogene Darstellung, die die Narben ihres Entstehungszeitraums  – 1935 bis 1937 – trägt. Der Film im Dritten Reich beginnt mit einer fast 40-seitigen Eloge unter der Überschrift „Saat und Ernte nationalsozialistischer Filmführung“ (Bd. 3, S. 1–38). Von den früheren Bänden hebt sich dieser Text durch seine ideologische Ausrichtung au"allend ab. Außerdem nennt Kalbus hier kaum einen Film mit Na- men; abgesehen von einem Zitat von Curt Belling führt er nur einen einzigen Film- titel auf: den „von dem Juden Carl Laemmle hergestellten Film Im Westen nichts Neues [All Quiet on the Western Front, USA 1930], der die Ehre der deutschen Frontkämpfer aufs Schwerste verletzte“ (Bd. 3, S. 5). Er situiert das filmische Schaf- fen in Deutschland in einem grob an Oswald Spengler orientierten Geschichtsbild, wofür Begri"e wie „Macht“ und „Rasse“ wichtiger sind als einzelne Filme. Während die ersten zwei Bände die Einzigartigkeit des Films als die siebte Kunst gefeiert hatten, ist Film in dieser Darstellung nur noch ein funktionaler Bestandteil des größeren nationalsozialistischen Programms. Kalbus schreibt, dass „das Erzie- hungswesen, Theater, Film, Literatur, Presse und Rundfunk sämtliche Mittel sind, die den Zweck zu verfolgen haben, der moralischen Gesundung des Volkskörpers und der Erhaltung der im Wesen unseres Volkstums lebenden Ewigkeitswerte zu die- nen“ (Bd. 3, S. 6). In dieser Paraphrase von Hitlers Aussage im Völkischen Beobachter vom 23. März 1933 wird der Film zwar erwähnt, aber seine besondere Position unter den Massenmedien nicht betont. Nicht so sehr Film und Geschichte, sondern Ideo- logie und nationalsozialistische Programmatik bilden die inhaltliche Klammer des Typoskripts.19 Der Einleitung folgt unter dem martialischen Titel „Durch Stosstrupps zur Film- kunst“ ein Kapitel über einen aktuellen Erfolg der deutschen Filmindustrie – den Propagandafilm Friesennot (1935), inszeniert vom Reichsfilmdramaturgen Willi Krause unter seinem Pseudonym Peter Hagen (Bd.  3, S.  39–43). Weitere Kapitel feiern die Filme von Leni Riefenstahl und – wie in den früheren Bänden – diverse Genres, darunter historische Filme, Kriegsfilme, Gesellschaftsfilme, Abenteurer-, Detektiv- und Komikerfilme, Problemfilme und Filmsatiren. Andere Themen sind neu und verraten die Sympathie des Verfassers für die neue staatliche Führung der Filmbranche. Das gilt für Kapitel wie „Das heldische Prinzip im Film“, „Die Aufer- stehung der Bauernkomödie“, „Landschaft und Brauchtum spielen mit“, „Die Film- achse Rom – Berlin“ und „Kampf dem politischen Verbrechen“. Wie im zweiten Band 19 Insgesamt führt der dritte Band deutlich weniger Titel als die früheren Bände auf: im ersten Band sind es mehr als 500 Filmtitel auf 136 Seiten, im dritten etwa 300 Filmtitel auf fast 450 Seiten. Filmblatt 63 ∙ 2017 15 Kalbus über Detlef Siercks Schlussakkord (1936) mit Lil Dagover, Willy Birgel und dem fünfjährigen Peter Bosse: „Es war gewiss gewagt, die kolportage- hafte Filmhandlung in Schlussakkord, die mit einem Selbstmord beginnt und über astrologischen Mummenschanz, Ehebruch, Erpressertum wieder zu einem Freitod führt, durch klassische Musik zu unterlegen. Der Versuch ist aber geglückt. Die Menschen der Handlung, die die Weisungen der Musik verstehen, werden zum Glück geführt, die aber ihre Sprache nicht begreifen, zerbrechen am Leben. […] Jeder Mensch in diesem Film trägt eine Melodie in sich, die sich mit der des gleichgestimmten anderen zu einer Harmonie der Seelen vereinigt. Deshalb kann die Musik hier souverän als eigener Schick- salsfaktor in Erscheinung treten. Zu diesem Zweck hat der Regisseur Detlef Sierck eine neue Form gefunden, einen psychologischen Erlebnisvorgang auf der Leinwand durch das Medium der Musik derart sehbar und hörbar zu machen, dass es keine Zwiespältigkeit mehr gibt zwischen Wort, Geste und Tönen.“ (Bd. 3, S. 167) Filmblatt 63 ∙ 201716 befassen sich mehrere Kapitel – etwa über Filmoperetten und Sängerfilme – mit den musikalischen Möglichkeiten des Tonfilms. Nach welchem Muster Kalbus im dritten Band mitteilenswerte Informationen aus- gesucht hat, bleibt oft unklar.20 Dass er etwa der Rückkehr von Lilian Harvey nach Deutschland und Paul Martins Schwarze Rosen (1935) vier Seiten widmet, mag man nachvollziehen, auch wenn sich in den ersten zwei Bänden keine ähnlich langen Diskussionen finden. Warum aber würdigt Kalbus Hans Steinhoffs Der Ammenkönig (1935), Frank Wysbars Die Werft zum grauen Hecht (1935) oder das Frühwerk von Kurt Skalden unverhältnismäßig ausführlich – letzteres auf fünf Seiten? Das strenge Format der ersten Bände, die jeweils 136 Seiten lang waren, fehlt hier. Die zusätz- lichen Inhalte sind aber stets mehr ideologischer als historischer Art. Der politische Wert des Films. In Der Film im Dritten Reich attackiert Kalbus die Filme, die er vorher gepriesen hatte, besonders jene aus der Weimarer Repu- blik. „Fünfzehn Jahre, von 1918 bis 1933“, schreibt er jetzt, „lag Deutschland in einer kulturellen Hypnose. Es war die Zeit ohne deutschen Stil, weil Deutschland ohne einheitliches Schönheits-Ideal war“ (Bd. 3, S. 5). Die noch 1935 geschätzte stilistische Vielfalt will Kalbus nun als Defizit verstanden wissen und verwirft sie als „undeutsch“: „Vor dem 30. Januar 1933 kam kaum ein Film auf die Leinwand, dessen Drehbuchschreiber oder Musikautor oder Regisseur oder Hauptdarsteller nicht artfremd war, oft waren alle Mitarbeiter Nichtarier“ (Bd. 3, S. 9). Mit Blick auf die von ihm selbst mittlerweile als Belastung empfundenen Bände sucht er nach Rechtfertigung und regt den Leser an, diese genauer und kritischer zu le- sen: „Wer die beiden ersten Filmbücher ‚Vom Werden deutscher Filmkunst‘ vom Zigaretten-Bilderdienst, Altona-Bahrenfeld in und zwischen den Zeilen zu lesen versteht, wird mit Schrecken die geistige Vorherrschaft der Juden im deutschen Film vor dem politischen Umbruch von 1933 erkannt haben“ (Bd. 3, Einleitung). Er deutet seine frühere Entscheidung zugunsten einer umfassenden und inklu- siven Darstellung um und erklärt das zu einer Not, um aus dieser Not dann eine Tugend machen. Anders als zuvor äußert sich Kalbus ausführlich zum politischen Wert der besprochenen Filme. Er kritisiert seine früheren Bände, weil in ihnen die „filmische Leistung […] nicht etwa nach ihrem Werte für das physische und geis- tige Wohl des Volkes beurteilt [wurde], sondern als ‚Wert an sich‘. Was Joe May, Karl Grune, Ludwig Berger, Hanns Schwarz, Fritz Lang, Reinhold Schünzel u. s. w. produzierten, wurde ohne Rücksicht auf den Inhalt und Gehalt als ‚gekonnt‘ ge- priesen und angebetet“ (Bd. 3, Einleitung). Im dritten Band kehrt Kalbus zu einer Auffassung zurück, die er bereits 1922 in einem dreiteiligen Artikel zu „Politik und Film“ in Der Kinematograph vertreten hatte. Langs Der müde Tod (1921) und Rochus Glieses Der verlorene Schatten (1921) dienen ihm als Beispiele: „Es wäre sehr zu begrüßen, wenn der deutsche 20 Sind beispielweise die Details von Benjamin Giglis Geburt (vgl. Bd. 3, S. 203) von filmhis- torischem Interesse? Filmblatt 63 ∙ 2017 17 Spielfilm über den typischen politischen Film hinaus ein ruhiges Bild deutschen Wesens bringen würde, um auf diese vornehme Weise für das Deutschtum zu werben“.21 Eine solche kulturpolitische Agenda fehlte in den ersten beiden Bän- den; im dritten Band wird sie umso redundanter gefordert. An den Herausgeber des Völkischen Beobachters, Wilhelm Weiß, gerichtet, erklärt Kalbus: „Es sei heute nicht entscheidend, ob ein Werk vom Kritiker für gut oder schlecht befunden wer- de, sondern entscheidend sei, für welche Sache auf der Bühne oder im Film ge- kämpft werde“ (Bd. 3, S. 25). Der ursprünglich sachliche Ansatz wird durch eine normative Haltung ersetzt, aufgrund derer die Filme nicht mehr nur beschrieben, sondern vor allem auf ihren Zweck hin überprüft werden: Dieser Zweck ist, „Aus- druck des Volkes“ zu sein. Um dieses Argument zu stärken, zitiert er andauernd Goebbels und seine auf dem internationalen Filmkongress in Berlin vorgetrage- nen „Sieben Grundsätze der Filmkunst“ (Bd. 3, S. 31–34). Die Partei über alles. Die langen Goebbels-Zitate unterscheiden den dritten Band grundlegend von seinen Vorgängern. Zwar prägten isolierte Zitate von Goebbels die Einleitungen der ersten Bände und einen großen Teil des Kapitels 21 Oskar Kalbus: Politik und Film. In: Der Kinematograph, Nr. 805, 23.7.1922, Nr. 810, 27.8.1922, Nr. 819, 29.10.1922; hier Nr. 819. Über Lída Baarová (die nach der Been- digung ihrer Affäre mit Joseph Goebbels ab 1938 Auftritts- und Ausreiseverbot hat) schreibt Kalbus: „Die tschechische Schauspielerin Lyda Baarova ist im deut- schen Film ein neues Gesicht. Sie geht mit einem Zauber über die Leinwand, der seinen Höhepunkt in der schauspieleri- schen Kunst erreicht, die unbedingte gren- zenlose Hingabe in scheuer Keuschheit zu spielen.“ (Bd.  3, S.  110) (Deutsche Kinemathek) Filmblatt 63 ∙ 201718 „Film-Deutschland erwache!“, doch nun zitiert Kalbus ihn noch viel öfter und ausführlicher (z. B. Bd. 3, S. 25–27, 31–34, 36–37). Auch andere wichtige Vertre- ter des NS-Regimes zitiert Kalbus, um seine Ausführungen zu untermauern, dar- unter Hans Hinkel, Oswald Lehnich (Präsident der Reichsfilmkammer) und Alfred Klütz (Leiter der Justizpressestelle). Klütz habe Werbematerialien für Jürgen von Altens Stärker als Paragraphen (1936) verfasst, einem Film, der der Justiz und Aus der Heimat verbannt: Zarah Leander kommt 1937 in Deutschland groß heraus mit Zu neuen Ufern, inszeniert von Detlef Sierck (der Ende 1937 mit seiner jüdischen Ehefrau emigriert). „Der Regisseur Detlef Sierck, dem wir Schlussakkord verdanken, lässt die schwedische Tragödin nicht mit realisti- schen Mitteln spielen, sondern in einer lyrisch-musikalischen Haltung. Ihr eige- nes Leben auf den Londoner Kabarett-Brettern und später am Fronwebstuhl im Frauengefängnis ist wie ein tiefgefühltes Chanson. Das haben wir eigentlich nur ein einziges Mal im Film erlebt: mit Marlene Dietrich im Blauen Engel. Auch Marlenes Bewegungen hatten Rhythmus, Zarah Leander aber verfügt über die größere frauliche Anmut und über die tiefere Musikalität. Bei der Dietrich brach immer wieder das Intellektuelle durch, bei der Schwedin spricht durchweg die Intuition des ausgeglichenen Gefühls. Mit ihrer dunklen Altstimme, die einmal den Klang einer Orgel, das andere Mal den Klang eines Cellos hat, werden die frechsten Tingeltangellieder und scharf pointierten Chansons zu schwermüti- gen Balladen.“ (Bd. 3, S. 405) (Deutsche Kinemathek) Filmblatt 63 ∙ 2017 19 ihren Organen huldige. Für Kalbus bildet er damit ein Gegenmodell zu den eng- lischen und amerikanischen Filmen, die den hellseherischen Privatdetektiv „im Gegensatz zu den vertrottelten Hütern des Gesetzes“ heroisieren (Bd. 3, S. 256). Durch das ausführliche Zitieren von Parteifunktionären und regimenahen Per- sönlichkeiten schützt sich Kalbus vor der Kritik, mit der die ersten beiden Bände konfrontiert waren und beweist die Unterordnung seines neuen Bandes unter die „Bewegung“ und den Nationalsozialismus. Damit will er sich offenbar auch bei den Entscheidungsträgern der Filmbranche und der Partei beliebt machen. Die schwülstige Beschreibung Lehnichs illustriert das: „Der einstige Universitätspro- fessor und württembergische Wirtschaftsminister – der Gelehrte, der Wirtschafts- führer, der Nationalsozialist – ist nach Berlin gekommen, um seine überreichen Erfahrungen und Kenntnisse in den Dienst der deutschen Filmwirtschaft zu stel- len. Ein mutiger, ehrlicher und glühender Nationalsozialist lenkt seit November 1935 die deutschen Filmgeschicke“ (Bd. 3, S. 14). Allem Anschein nach biederte sich Kalbus nach dem „Wirbel“ um Teil 1 und 2 von Vom Werden deutscher Film- kunst sprachlich und ideologisch bei den Machthabern an und wollte sich – wie die Spruchkammer 1947 konstatierte – auch durch den Eintritt in die NSDAP „ein besseres Ansehen“ in der Filmbranche verschaffen. Die Bedingungen, unter denen Kalbus 1937 über die deutsche Filmgeschich- te schreiben wollte, waren offenkundig andere als noch zwei Jahre zuvor. In München öffneten die berühmt-berüchtigten Ausstellungen „Entartete Kunst“ und „Der ewige Jude“ ihre Pforten, und in Berlin erschien die Hetzschrift Film- „Kunst“, Film-Kohn, Film-Korruption von Carl Neumann, Curt Belling und Hans- Walther Betz. Gleichzeitig gewann die verdeckte Verstaatlichung aller Bereiche der deutschen Filmproduktion an Fahrt. Und Kalbus lief mit. Aus dem frühen „Kämpfer für den Kulturfilm“ (Kay Hoffmann) wurde ein Opportunist; eine Ent- wicklung, die im dritten Teil von Vom Werden deutscher Filmkunst deutlich zu erkennen ist.22 Was einmal als Widerstand verstanden werden konnte, wird im unveröffentlichten Typoskript zum Kniefall vor der antisemitischen Weltanschau- ung der Nationalsozialisten. Warum Kalbus’ Der Film im Dritten Reich nie erschienen ist, bleibt ein Rätsel. Der Band verrät vielleicht mehr über den Ehrgeiz seines Verfassers als über die Geschichte des deutschen Films zwischen 1933 und 1937, aber auch das ver- spricht eine aufschlussreiche Lektüre. Worauf Wilhelm Dieterle hoffte und wovor Der SA-Mann sich fürchtete, ist dennoch eingetreten: Die von Juden wesentlich mitgestaltete Geschichte des deutschen Films wird in ihrer Vielfalt bewahrt und erinnert. Die beiden veröffentlichten Bände von Vom Werden deutscher Filmkunst haben dazu beigetragen. Der dritte Band hat daran nichts geändert. 22 Siehe Kay Ho#mann: Ein früher Kämpfer für den Kulturfilm: Oskar Kalbus und die Film- geschichte. In: Rolf Aurich, Ralf Forster (Hg.): Wie der Film unsterblich wurde. Vorakademische Filmwissenschaft in Deutschland. München 2015, S. 150–157.