Katharina Sykora Play Time – Play Gender Subversive Unmännlichkeit und ihr schönstes Spielzeug: das Kino Play Time von Jacques Tati spielt mit der Zeit – der Realzeit und der kinemato- graphischen Zeit. Da die Zeit als vierte Dimension alle drei anderen Dimensio- nen in sich birgt, geht es in diesem Film auch um Linie, Fläche und Raum. Dies geschieht ganz im Koordinatensystem der »Modern Times«, operiert aber völ- lig anders als der gleichnamige Film von Charlie Chaplin.¯1 Ort des Geschehens ist ein konstruktivistisches Paris, das Ende der 60er Jahre noch Zukunft war, heute – nach der Postmoderne – in seinem Purismus aber schon Archäologie unserer eigenen Gegenwart ist. In diesem ganz aus Glasarchitekturen gebau- ten Paris, das auch Chicago oder Tokio heißen könnte, herrscht die Diktatur der Linearität, der Flächen im rechten Winkel und der kubischen Gegenstände und Räume. Die Menschen sollen hier in die Funktionale der Moderne einge- passt werden. Dass bei einigen der Prozess noch unabgeschlossen ist, andere schon völlig überangepasst sind und einzelne bereits mit den Funktionen der Moderne spielen und sie damit ad absurdum führen, davon handelt Tatis Play Time. Er durchkreuzt gelebte, in den Körpern und deren Motorik mitgebrach- te Gewohnheiten der Vergangenheit mit der vorweggenommenen utopischen Verkörperung absoluter Konformität. Aus dieser Reibung zieht er seine komi- schen Funken. Die Gegenwart, in der Tati seinen Film ansiedelt, ist dabei eine Durchgangssta- tion mit Wartehalle wie alle seine Architekturen: der Flughafen, das Büro, das Kaufhaus. Der Aplomb, mit dem die Moderne in der Epoche zwischen erstem und zweitem Weltkrieg als neues Zeitalter, als radikaler zeitlicher Umschlag, auftrat, wird in den kommerzialisierten Modernismen der Fünfziger und Sech- ziger – in denen sich der Film Tatis mit seinem ultramodernen Dekor situiert – als Passage sichtbar, die von einem Anachronismus zum anderen führt. Un- zeitgemäß ist alles in diesem Film, weil er den Zeitgeist demonstrativ zeigt, ihn aber nicht als Direktive anerkennt, ihn vielmehr spöttisch vorführt wie eine Zirkusnummer. Der Zeitgeist ist bei Tati nicht perfekte Erfüllung des Al- lerneuesten, sondern raumzeitliche Zone der Übergangs, Bühne von Missver- ständnissen und Fehlleistungen, Stein des Anstoßes für die Menschen, die sich mit ihm konfrontiert sehen. Die modernistische Studiostadt Tativille ist das Play Gender 25 gebaute Pendant dieser Zone, in der Voreiliges und Antiquiertes sich austau- schen wie in einer gläsernen Drehtür, bis man bald nicht mehr weiß, was vorher und nachher, altmodisches Relikt oder zukunftsweisendes Fanal ist. Play Time spielt aber nicht nur mit Raum und Zeit. Der Film spielt auch mit Fi- guren von Männlichkeit und Weiblichkeit. Diese werden nicht zuletzt durch ihr Verhältnis zu den Räumen der Moderne charakterisiert, in der Art und Weise, wie sie sich in ihnen bewegen, welchen Interessen sie in ihnen nachgehen und wie sie sich in diese einpassen, diese uminterpretieren oder zerstören. Auf der Seite der Weiblichkeit sehen wir uns einem Kollektiv gegenüber, genau- er gesagt einer Gruppe amerikanischer Touristinnen, die im hypermodernen Flughafen von Paris ankommt und von dort im Bus in ihr modernes Hotel ge- bracht wird. Es schließt sich der Besuch einer Ausstellung neuester Haushalts- technik und am Abend eines neu eröffneten Restaurants The Royal Garden an. Die Damen sind als Vertreterinnen des Landes der unbegrenzten Möglichkei- ten Trägerinnen des Zeitgeistes schlechthin. Ihnen kann man nichts wirklich Neues vormachen. Sie bringen das Neueste vielmehr als Monokultur immer schon mit und sehen die Welt lediglich als deren Verlängerung. Sie merken da- her – mit einer Ausnahme – nicht, dass ihre Bildungsreise im hermetischen Ge- häuse bleibt, in einer Stadt mit unsichtbaren, weil gläsernen Wänden, auf de- nen die Referenzen auf das »alte Paris« nur noch als Plakat eines Reisebüros und in den Spiegelungen der gläsernen Türen aufscheinen. Auch die Statio- nen ihrer Bildungsreise sind modern, das Museum ist durch das Kaufhaus, das Theater durch den Nightclub ersetzt. Und dennoch passen sie sich nicht ganz ein in das neue Ambiente, haben sie ein winziges Potenzial der Irritation. Als »Herde« sind sie potenziell unübersichtlich für ihren Reiseleiter. Er muss ihren Bewegungsfluss kanalisieren, sie ständig durchzählen, sie zum Anschluss an die restliche Gruppe ermahnen. Denn sie schauen sich ihre Umgebung offensiv an, sind auf Sightseeingtour. Obwohl sie nur das sehen, was sie schon kennen, hoffen sie auf die Überraschung, die den Parisbesuch einzigartig machen soll. Dass dies die Entdeckung eines Staubsaugers mit aufmontierter Beleuchtung für die dunklen Zimmerecken ihres amerikanischen Heims sein wird, ist dabei gleich. Er wird ihr Souvenir von Paris sein. Der schweifende Blick der Amerika- nerinnen ist also neben ihrer Bewegung ebenfalls etwas, das kanalisiert wer- den muss: und zwar in den Konsum. Darüber hinaus aber sind die Touristinnen diejenigen, die Farbe in die Mono- chromie von Tativille bringen. Der Regisseur hat seine moderne Stadt nämlich zunächst in ein anämisches Schwarz-Weiß-Beige getaucht, in die blassen Töne von Glas, Chrom und Beton. Nur ein Fleurope-Blumenstand am Flughafen oder der durchs Bild getragene Dahlien- und Gladiolenstrauß geben dem sterilen 26 Katharina Sykora Ambiente einen farbigen Akzent. Sie können sich aber gegenüber ihrem Um- feld nicht durchsetzen. Als hätte die modernistische Umgebung alle Lebendig- keit vampiristisch aus ihnen gezogen, sehen sogar die f lammendroten Blumen aus wie die Plastik- oder Keramikgebinde auf mediterranen Friedhöfen. An- ders bei den Amerikanerinnen. Sie brechen massiv in die Dezenz der farbl ichen Grauwerte ein wie bunte Knaller. Sind sie bei ihrer Ankunft noch in relativ ge- deckten Farben gekleidet – mit Ausnahme einer Leading Lady und zwei weib- lichen »Schlusslichtern« der Gruppe, die eine rote Blume am Hut tragen – , so rücken sie zum Restaurantbesuch mit abenteuerlichen Kostümen und Hüten an. Ihren Kopfputz bekrönen Kunstblumengebinde, die ein französischer Kell- ner fürsorglich mit Champagner zu gießen scheint, als er den angeheiterten Damen nachschenkt: eine wirklich Pariserische Erfahrung für die Amerikane- rinnen. Gegenüber der Weiblichkeit im Pulk dominiert auf der Seite der Männlichkeit die Einzelfigur. Sie geht immer einem Geschäft nach, hat selbst eine Funkti- on innerhalb des funktionalen Raums. Neben dem Schwall Touristinnen be- tritt ein prominenter Politiker oder Industrieller, »Monsieur le Président«, den Flughafen und strebt, ohne rechts und links zu schauen, unter Blitzlichtgewit- ter seinem Wagen zu. Oder ein Militär bewegt sich auf dem Flughafen ohne Not im rechten Winkel, als sei er auf dem Exerzierplatz, bis endlich sein Adjutant auftaucht und er ihm in zackigen Bewegungen Befehl erteilen kann. Und der leitende Angestellte eines Bürohauskomplexes durchmisst zielgerichtet, mit einem akustischem Stakkato seiner genagelten Sohlen, die gewienerten End- losflure des Gebäudes. Die männlichen Figuren sind zudem durchgehend im Anzug. Deren Chromatik und Passform fügt sich nahtlos in diejenige ihrer Um- gebung ein. Wie Schachfiguren bewegen sie sich daher auf den rektangulä- ren Spielfeldern der Architektur. Perfektion heißt hier Unterwerfung unter die Funktion. Sie wird sichtbar durch die körperliche Einpassung in das Lineament, die Flächigkeit, den Kubus des Raumes. Tati hat die männlichen Figuren des- halb an einigen Stellen sogar zu Schablonen werden lassen, die sich – erstarrt und vollends identitätslos – im Hintergrund mit den Kulissen von Tativille ein beiläufiges Stelldichein geben. Mehr männliche als weibliche Figuren in sei- nem Film sind daher Stereotypen. Bestenfalls sind die aktiven Spielfiguren – ob männlich oder weiblich – Typen, die in vielsagenden Kostümen und eigenwilli- gen Körpermotoriken die Vorstellung vom modernen Menschen variieren. Wie aber passt Jacques Tatis filmisches Alter Ego, Monsieur Hulot, in dieses Ge- füge der Geschlechter? Gar nicht, oder nur bedingt. Er ist zwar ein Monsieur, und aus den früheren Filmen, aus denen er zu Play Time hinübergewechselt hat, bringt er den Hang zu angedeuteten, zarten Romanzen mit weiblichen Play Gender 27 Figuren mit. Zu einem »richtigen« Mann macht ihn das jedoch keineswegs, schon gar nicht im Zeitalter des Modernismus und im Raumschiff von Tativil- le. Seine Gestalt und seine Motorik widerstreben der Funktionshörigkeit, mit der sich die männlich sozialisierten Körper in die realen und imaginären Archi- tekturen einpassen. Überschlank und überlang, mit Hochwasserhosen und zu kurzem Mantel und den charakteristischen Attributen von Rautensocke, Pfei- fe und leicht verdrücktem Hut, ist er von Kopf bis Fuß ein Misfit im normier- ten Alltag der agilen Angestellten im korrekten Anzug und der adretten Damen mit Hochfrisur und Etuikleid. Seine Körperbewegungen wirken alles andere als beherrscht. Mit schlaksigem Schlendern und zugleich federndem, wippendem Schritt, mit abrupten Kehrtwendungen und vogelartigem Vorstoß des Kop- fes erkundet er f lanierend seine gläserne, technizistische Umwelt. Staunen im Blick, lässt er sich überraschen – was oftmals gelingt, ihn aber keineswegs be- unruhigt. Der Flaneur jedoch hat in der Stadt der Funktionalen nichts zu su- chen, wohl aber viel zu finden: all die Absurditäten nämlich, die sie hervor- bringt, einschließlich merkwürdiger Verhaltensweisen der Menschen. Das Zusammentreffen von Hulot und den anderen Besuchern und Bewohnern Tativilles steht deshalb unter dem Stern der Verfehlung: Entweder verpassen sie sich oder es kommt zum Zusammenstoß. Das macht Hulot singulär, er sitzt zwischen allen Stühlen. Dadurch eröffnet er im hermetischen Kosmos der Mo- derne jedoch einen neuen Raum, so klein er auch sein mag. Diesen Zwischen- raum markiert er durch seinen Körper. Der sperrt sich nicht nur gegenüber der Funktionsarchitektur, sondern lässt diese ihrerseits aus den Fugen geraten. So gewinnt Hulot nie Übersicht über die labyrinthischen Bürogehäuse, verliert sich in Aufzügen und zwischen Glaswänden, rutscht aus, wenn immer ihm eine Situation unangenehm wird, auch ohne physische Ursache. Gleichzeitig aber lässt er Glastüren zu Bruch gehen und ganze Innendekorationen von der De- cke purzeln, wenn er sie nur vorsichtig zu berühren scheint. Dabei rennt er kei- neswegs gegen seine Umgebung an, vielmehr sind sein berühmtes seitliches Knie-Einknicken, das die Schwebe zwischen elegantem Slalom und körperli- chem Zusammenbruch hält, und der brüske Ausfallschritt, mit dem er Situ- ationen zu retten sucht, zumeist aber eine Kettenreaktion von Katastrophen auslöst, spontane Motoriken des Ausweichens oder der Wiedergutmachung. Die S-Kurve oder der Mäander sind Hulots Fortbewegungsmuster, nicht jedoch die gerade Linie oder der rechte Winkel. Und nicht Zielgerichtetheit und phy- sische Selbstbeherrschung bestimmen seine Motorik, sondern ein ungerichte- tes Suchen, dessen Gegenstand diffus bleibt, und ein schlafwandlerischer Um- gang mit allem, was ihm dabei zustößt. Während der Pulk der amerikanischen Touristinnen außengelenkt und programmatisch von Ereignis zu Ereignis, von 28 Katharina Sykora »Site« zu »Site«, eilt, tut Hulot dies aus einem inneren Antrieb heraus und un- systematisch. Und während die Geschäftsmänner ein Ziel vor Augen haben und ihre Körper bereits der Logik der Funktion unterworfen haben, bewegt sich Hulot explorativ in seiner Umgebung und interpretiert sie dabei um. Zwei männliche Antipoden gibt es zur unmännlichen Figur Hulots. Der eine ist Monsieur Giffard, der leitende Angestellte, den er im Bürohochhaus zu treffen versucht. Dies gelingt jedoch nur kurz und ergebnislos, weil sich beide sogleich wieder verlieren. Sie verlieren sich zwar nicht unbedingt aus den Augen, weil sie durch die vielen Glasscheiben und die einsehbaren Büroeinheiten einander immer wieder ansichtig werden und aufeinander zustreben, wohl aber als phy- sisches Gegenüber, weil sie im letzten Moment immer wieder von einer Glas- scheibe getrennt oder durch eine Spiegelung des anderen getäuscht werden. Der zweite Antipode ist ein amerikanischer Geschäftsmann, der im gläsernen Vorzimmer ebenfalls auf Monsieur Giffard wartet und größeres Glück beim Meeting hat. Die Art und Weise, wie sie sich ein und denselben Raum zueigen machen, sich in ihm platzieren und mit sich, den Dingen und miteinander um- gehen, spielt besonders schön den Gegensatz von moderner Männlichkeit und sperriger Unmännlichkeit in Play Time aus (Abb. 6). Das Aufeinandertreffen der beiden Figuren ist wie in einem überdimensio- nierten Reagenzglas inszeniert. Anfangs von außen gesehen, lässt uns der oh- renbetäubende Straßenlärm diesen Inkubationsraum wie ein stilles Terrarium erscheinen, wie eine gänzlich andere, stumme Welt. Befinden wir uns innen, dringt wiederum kein Laut von außen herein, so dass sich die Geräusche wie durch einen Verstärker vor dem Hintergrund absoluter klanglicher Leere ent- falten. Die Töne werden so zu bedeutsamen Mitspielern, da die beiden Prot- agonisten – wie bei Tati oftmals üblich – keine Worte wechseln. Hulot betritt als erster den gläsernen Kubus, dessen Wände mit monumentalen Porträts der »Konzerngründer« bestückt sind und in dem, im rechten Winkel verteilt, schwarze quadratische Ledersessel stehen. Hulot erobert sich das Terrain vor- sichtig durch den Tastsinn, drückt die Polster der Möbel und beobachtet er- staunt, wie sich die Dellen und Kanten mit einer Art Seufzton oder »Plopp« wieder von selbst in Form bringen: Sie erscheinen wie müde Verkörperungen eines allgegenwärtigen Diktats des »Haltung bewahren«. Hulot lässt sich erst auf dem einen, dann auf dem anderen Sessel nieder und wird dabei vom Eintre- ten Monsieur Giffards überrascht, während er in einer akrobatischen Körper- verrenkung den unteren Teil seines Sitzmöbels genauer zu inspizieren scheint. Der amerikanische Geschäftsmann setzt sich ebenfalls auf einen der Sessel, ohne ihm jedoch eines Blicks zu würdigen, kennt er doch exakt dessen Funkti- on und Komfort. Play Gender 29 Beim Niedersetzen macht der Lederstuhl das Geräusch eines Furzes. Im sel- ben Moment erhebt sich Hulot, um den Nachbarn zu grüßen, produziert da- bei dasselbe Geräusch, und beide Männer lassen sich befriedigt über die ge- lungene Kommunikation wieder nieder. Der Geschäftsmann legt routinemäßig seine Aktentasche auf die Knie, öffnet den Reißverschluss, holt Kugelschrei- ber und Papier heraus, beginnt nachzudenken, macht dann ein, zwei Notizen und packt alles wieder ein. Die Handlung ist banal, der Effekt jedoch groß. Wir bekommen eine Einkörpersymphonie in einem Akt zu sehen und zu hören, und das auf kleinstem Raum: im Carrée eines quadratischen Bürovorzimmer- stuhls. Der Akteur hat Rumpf und Extremitäten so in rechte Winkel zueinan- der gebracht, dass er wie eine Doppelung des Stuhls, bloß noch steifer als die- ser, fungiert: zwei Dinge – ein Sitzgerät und ein Mensch – scheinen hier wie Passepartout und Bild ineinandergefügt. Die Motorik des Geschäftsmannes ist entsprechend kantig: wie ein Roboter hebt und senkt er den Arm, fährt sich in einer Geste des Nachdenkens an die Schläfe, klopft sich imaginären Staub aus dem Hosenbein, schreibt einen Satz und attackiert dann das Geschriebene mit drei Punkten, als durchstoße er das Papier, bevor das Blatt ins planimetrische Format der Aktentasche zurückwandert. Die Mechanik seiner Gesten gewinnt aber erst durch den Ton die Qualität eines vollkommen verselbständigten Han- delns: Das Geräusch des Reißverschlusses, das Knallen der Hand auf dem Ho- senstoff, das Kratzen des Stifts und die Punktierung des Blattes schneiden wie scharfe akustische Messer in die Stille des Glashauses. Die gleichförmige Kör- perbewegung diktiert den Rhythmus dazu und so entsteht ein raffiniertes bru- itistisches Tonstück (vgl. Glasmeier 1994, 34f.). Der Körper spricht so mithilfe der Dinge, die ihm zugleich Prothese und Prokrustesbett sind. Er spricht aber nicht in Worten, sondern in Lauten. Auf dieser Ebene gelingt der Übertrag zwi- schen Hulot und dem Geschäftsmann, obwohl Hulot mit seiner gefläzten, aus- gestreckten, verqueren Motorik die Grenzen des ihm zugestandenen Raums, des Sessels, weit und ungeordnet überragt und seine Attribute wie der Re- genschirm keinerlei Funktion haben, sondern eher wie eine zusätzliche Extre- mität im Wirrwarr der Körperglieder als weitere Störfaktoren mitspielen. Die Verständigung ohne Worte ist aber keine im eigentlichen Sinn. Denn der Laut ist semantisch leer: ein Seufzer, ein Furz. Zudem ist ununterscheidbar, ob das Ding oder der Mensch hier den Ton angeben. Es ist außerdem ein körperme- chanisch produzierter Laut, der im Nachbarstuhl lediglich sein eigenes Echo hervorbringt, indem er dort dieselbe taylorisierte Begrüßungsmotorik auslöst. Gerät und Körper, Mensch und Mitmensch, sind zu einer Kommunikationsma- schine auf niedrigstem semantischem Niveau zusammengeschweißt. 30 Katharina Sykora Und doch gibt es eine Botschaft. Sie unterliegt nicht nur dem »Dialog« der zwei vermeintlichen Geschäftsleute im Glaskubus, sondern auch allen übrigen Ka- kophonien, von denen Play Time so überreich ist. Diese Botschaft lautet: Ge- räusch und Echo produzieren ein Verhältnis von Gleich zu Gleich. Tati bietet uns hier ein witziges Paradebeispiel dessen, was man modernen Minimalkon- sens nennt. Dieser Minimalkonsens ist in einem absolut reduzierten Raum, für eine kurze Zeit, versöhnlich, weil er ein Gleichgewicht und eine Verbindung schafft.¯2 Er findet jedoch seine Grenze mit jeder Schachfigur, die von außen hinzutritt, den Raum durchlässig macht für die Hierarchisierungen der äuße- ren Makrostruktur. Als der ersehnte Monsieur Giffard erscheint, übersieht er Hulot, da dieser nicht die richtigen Gesten parat hat, und wendet sich ausschließlich dem smarten Geschäftsmann zu. So verlieren sich Giffard und Hulot erneut und finden ein- ander erst zufällig, des Nachts, in der Nähe des Appartmenthauses von Mon- sieur Giffard, wieder, als dieser seinen kleinen Hund auf einem schmalen, aku- rat geschnittenen Rasenstreifen zwischen Hochhaus und Straße Gassi führt und zufällig der Eröffnung des Royal Garden-Restaurants zusieht. In Hemdsär- meln und Hosenträgern hat er alles abgelegt, was ihn zuvor so geschäftsmä- ßig männlich machte. Ein Pantoffelheld führt hier sein domestiziertes Alter Ego spazieren, einmal am Tag und im Dunkeln. Die herzliche Umarmung von Hulot und Giffard zeigt, dass auch hier zwei Gleiche einander getroffen haben. Dies- mal ist es jedoch nicht der Minimalkonsens einer technizistischen Prothesen- welt, der sie verbindet, sondern derjenige abgelegter Männlichkeit. Das ist un- gleich herzerwärmender als die erste Begegnung und bildet nach einem kurzen Intermezzo den Übergang zum zweiten Teil des Films. Der spielt im Royal Garden-Restaurant, in das nicht nur Hulot hineingespült wird, sondern in das es auch die Schickeria der gläsernen Trabantenstadt und den Pulk der amerikanischen Touristinnen zieht. Das Restaurant gibt sich ganz auf dem modernistischen Niveau, das seine Klientel erwartet, einzig: es ist noch nicht ganz fertig gebaut. Die Besucher sind zu früh da, oder man könn- te auch sagen, die Architekten und Bauleute sind zu spät dran. Jedenfalls ist es ein Ort, an dem sich wie im Makrokosmos von Tativille die zeitlichen Schienen durchkreuzen. Das Royal Garden möchte zwar mit der Perfektion der Moderne aufwarten, ist selbst jedoch imprägniert mit dem Signum des noch Unzuläng- lichen. Die Farbe an den Wänden ist noch frisch, der Fliesenboden der Tanzflä- che noch nicht vollständig verlegt, die Durchreiche von der Küche zu klein für die ausladenden Speisenplatten. Die Unfertigkeit des Restaurants bringt zwei Handlungs- und Verhaltensweisen seiner Besucher und Sachwalter hervor: Ge- lungene Improvisation und menschliches Versagen. Play Gender 31 Während die Kellner die Fassade wahren und den Gästen vorgaukeln, sie befän- den sich in einem gut geölten, hochmodernen Betrieb, arbeiten die Hilfskell- ner und Arbeiter weiter an den letzten Details: Rasch wird das Packpapier vom Eingangsteppich gerollt, geduckt hinter den Blumenkästen werden noch letzte Kabel verlegt, heimlich – aber mit sichtbarem Effekt – wird die Heißluftanlage auf Kühlung umgepolt. Doch die Fassade kann nicht halten, was sie verspricht: nämlich moderne Funktionalität. Die Unzulänglichkeit der Dinge und die Im- provisation der Kellner kippt bald in den Aufstand der Dinge und die Anarchie des Personals. Die lockere Fliese klebt sich an die Ferse des Oberkellners. Als kleinstes Planquadrat entzieht sie sich ihrer funktionalen Nachbarschaft ne- ben anderen Planquadraten und schlüpft in eine komische Rolle: Als neue Sohle macht die Fliese den lackierten Schuh des Obers zum tollpatschigen Entenfuß. Derselbe Oberkellner, der sich gerne zwischen seinen Auftritten hinter den Ku- lissen einen Schluck Hauswein genehmigt, wird als Täter entlarvt, als der Chef – misstrauisch geworden – den Flaschenhals mit Ruß bedeckt und sein erster Mann am Ort mit einem schwarzen Kreis um die Lippen, einem geschminkten Schmollmund gleich, durch die Gegend läuft. Auch das Mobiliar erweist seinem Namen alle Ehre: es macht sich selbständig. Die metallenen Stuhllehnen in Krönchenform drücken ihre frische Farbe tief in die Jacketts und Rückendekolletés der Gäste und hinterlassen dort unbe- merkt blutrote Spuren. Die Glastür zerbricht nach einem Hin und Her zwischen Hulot und seinem Freund, dem Portier, in tausend Stücke. Und die Deckende- koration aus Holz und Kunstblumen stürzt wie eine Ziehharmonika herunter, als Hulot eine künstliche Apfelsine vom paradiesischen Gebinde pflücken will. Dinge und Menschen werden so aus ihrer engen Funktion befreit und anderen, improvisierten, anarchischen Möglichkeiten zugeführt: Der übriggebliebene Handgriff der zerschellten Glastür dient dem Portier nun als Schale für‘s Trink- geld, die Jalousie der herunterhängenden Dekoration wird zum Paravent, hin- ter den sich ein exklusives Grüppchen – geführt von einem lauten, freigebigen Amerikaner – ausgelassen zurückzieht, und die Brandzeichen der Stuhllehnen werden zu krönenden Eintrittsbillets, die allein Zutritt zu dieser Urhütte in- mitten des demontierten Restaurants gewähren. Das Dysfunktionale bringt so die geheimen Zeichen des Funktionalitätswahns und die darin unaufgehobenen geheimen Wünsche der Menschen an die Ober- f läche: Ein immer dichter werdendes Szenario der architektonischen Unord- nung und der überbordenden Körpermotorik bricht sich in dieser langen Se- quenz Bahn: Am Ende tanzen alle ekstatisch in konvulsivischen Bewegungen zunächst zu harten Jazzrhythmen, dann zu Swingmusik und schließlich zum Gesang einer Chanteuse. 32 Katharina Sykora Mit der Anarchie der Dinge und Menschen haben sich so Aspekte einer gänzlich anderen Zeit und eines gänzlich anderen Ortes eingeschlichen. Das Paris jen- seits der Glasstadt mit seiner Volkskultur der Markthallen und Vaudevilles, für das nicht zuletzt das Chanson à la Edith Piaf einstand, hat sich als Humus der gläsernen Stadt Durchbruch verschafft; ein Ort also, der geografisch in Wirk- lichkeit nur einen Steinwurf von Tativille entfernt ist, in den Köpfen der Besu- cher des Royal Garden aber auf dem Mars liegt. Und zwei Begegnungsformen der Menschen drücken sich in diesem Chaos aus, die gar nichts mehr mit den Ordnungsprinzipien des rechten Winkels und der Berechenbarkeit zu tun ha- ben: die der möglichen Orgie und die der möglichen Liebe. Denn inmitten des Tumultes finden sich Monsieur Hulot und Barbara, eine jun- ge Amerikanerin, die in der Touristinnengruppe von Beginn an aus dem Rah- men fällt. Die junge Frau sticht als freundlich-schüchterne Besucherin heraus, sie beteiligt sich nicht am Geschnatter, trägt keine Plastikblumen auf dem Hut und schaut nicht mit blindem Modernismus in die Welt, sondern sucht nach dem »alten« Paris, das – wie wir wissen – natürlich auch nur eine Postkar- tenimagination ist. Sie sieht daher auf der Straße vor den Glashäusern den Blumenstand mit der alten Frau im Kopftuch, sie wünscht sich richtige Blu- men und möchte den Eiffelturm und Sacré Coeur leibhaftig sehen. Und weil ihre Aufmerksamkeit nicht auf die Fertigpackungen des Modernismus gerich- tet sind, fällt ihr auch Monsieur Hulot ins Auge, denn er ist Vertreter jener an- deren Zeit und jenes anderen Körpergedächtnisses, dessen Motorik altmodisch ist und nicht ins Gesamtbild von Tativille passt.¯3 Beide scheren so aus der Blick- und Bewegungsstruktur ihrer Geschlechtsge- nossInnen aus. Das stattet sie weniger mit den Insignien des Individuellen aus, sondern macht sie eher zu Antitypen. Als solche gewinnen sie im Lauf des Films gemeinsames Terrain. Es ist jene erwähnte raumzeitliche Zone der Dysfunkti- onalität, die sich wie ein Spalt in der Hermetik des Modernismus auftut. Dort – am anachronistischen Blumenstand oder im demontierten Royal Garden, wo die Gesetze des rechten Winkels und der Funktionalität für eine gewisse Zeit ausgesetzt sind – kreuzen sich ihre Blicke, finden sie zusammen und gehen ein Stück gemeinsam weiter, um sich dann wieder zu verlieren. Im Royal Gar- den treffen sie auf dem Gang zur Tanzfläche, dann im Separée des zusammen- gekrachten Dekors aufeinander. Von dort aus wird Barbara ans Piano auf der Bühne gebeten, wo sie gemeinsam mit Hulot das musikalische Blatt ins Ro- mantische des Pariser Chansons wendet. Dann verlassen sie gemeinsam das Restaurant und f lanieren in der Morgendämmerung durch die Straßen, bis der Tag anbricht. Play Gender 33 Bevor die junge Frau wieder abreisen muss, will Hulot ihr etwas schenken und eilt mit ihr in ein Kaufhaus. Wir wissen jedoch, dass er dieser Großmaschine nicht gewachsen ist. Er bleibt zunächst zwischen Kochtopfstielen, die er für ein Drehkreuz hält, stecken, wird dann hinter zwei robusten Damen an der Kasse aufgehalten und kann seiner Angebeteten das Präsent nur noch indirekt zu- kommen lassen – durch einen Boten, der sein jüngeres Double sein könnte. Bei der Fahrt zum Flughafen sehen wir, dass die junge Frau einen Strauß Mai- glöckchen in Händen hält und ein Kopftuch, auf dem die Sehenswürdigkeiten des alten Paris aufgedruckt sind. Sie wird Erinnerungen mitnehmen von Din- gen, die sie nie gesehen hat, und von jetzt an auch die Straßenlaternen im Licht einer romantischen Naturwahrnehmung sehen: als überdimensionierte Mai- glöckchen. Die Verlustanzeige, die Tati hier in Bezug auf das romantische Verhältnis von Mann und Frau macht, ist eine lakonische. Sie ist zweischneidig wie der ganze Film, weil sie allegorisch vorgeht. Die junge Frau ist Verkörperung eines Liebes- objekts, das es nicht mehr gibt oder bald nicht mehr geben wird, und Monsieur Hulot ist der Nachhall des romantisch Liebenden, dem sein Gegenstand vom Vehikel der modernen Zeit entführt wird. Wenn ihre Bildungsreise der jungen Frau daher einen Blumenstrauß in den Schoß legt, hat sie zwar mehr erlebt als ihre Mitbesucherinnen. Tati zeigt uns ihre neue Sicht auf die technisierte Welt zugleich aber auch als allegorische Falle. Ihre romantisierende Wahrnehmung der Laternen von Tativille als Maiglöckchen kann sich schnell ins Gegenteil ver- kehren und sie in jedem Maiglöckchen eine kleine Laterne sehen lassen. Auch optisch werden wir dieser Entzauberung gewahr, wenn wir merken, dass sie lediglich einen Kunstblumenstrauß in Händen hält. Die Naturalisierung und Vermenschlichung des Funktionalismus wird bei Tati so zugleich als humanes Versprechen und Gefahr der Verkennung deutlich. Das macht die Klugheit von Play Time aus. Der Film verspricht nicht, dass Utopie oder Nostalgie einzulösen sind. Aber er zeigt beide gleichwohl als Prozesse von großer Wirkungsmacht, und über dieses Potenzial spricht Tatis Film nicht nur allegorisch, sondern auch selbstreferenziell. Denn Play Time spielt nicht nur mit Männlichkeit, Unmännlichkeit und Weib- lichkeit, sondern auch mit sich selbst als Kino. Der Film zeigt seine eigene Macht, utopische und nostalgische Welten zu entfalten. Zum einen hält er durch die offensive Dissoziation von Ton und Bild, von Farbe und Gegenstand, von Licht und Raum oder Objekt die filmische Konstruktionsebene von Play Time für uns stets präsent.¯4 Zum anderen thematisiert Tati seinen eigenen filmischen Pro- zess auch auf der narrativen Ebene, etwa wenn der fotografische Apparat, der Fernseher oder die Kinoleinwand als Mitakteure ins Bild treten. Beide Formen 34 Katharina Sykora der Selbstreferenzialität setzt er dabei zu den männlichen und weiblichen Pro- tagonisten sowie zu Monsieur Hulot in ein sehr genaues Verhältnis. Die weibli- chen Figuren treten in diesem Kontext immer in der Rolle der Zuschauerinnen oder der Bildobjekte auf – mit Ausnahme von Barbara. Die Männer bedienen hingegen die Aufnahmeapparaturen, sie bestimmen das Bild, seine Kadrie- rung, seinen Ausschnitt und entziehen sich dem Status als Bild – mit Ausnah- me von Monsieur Hulot. So versucht die junge Frau auch als Bildproduzentin aus der Reihe der anderen Amerikanerinnen zu tanzen. Einmal bleibt sie zurück, um jene Blumenfrau und ihren Stand zu fotografieren, die sonst niemandem auffallen (Abb. 8). Ihr Fo- toapparat verstärkt die Konnotation der bewusst Blickenden und markiert den Unterschied zu ihren Gefährtinnen. Ihre Kamera ist von der Größe her beschei- den, und sie benutzt sie sehr unauffällig oder beiläufig, als wolle sie ihre Um- gebung damit nicht stören. Das Fotografieren führt sie auch zur Unterhaltung mit der alten Dame, sie bittet diese, sich zu positionieren, muss die Sprach- barriere mit Gesten und einem liebenswürdigen Lächeln überbrücken. Das ist eine andere, komplexere Konversation als diejenige zwischen Hulot und dem Geschäftsmann im Glaskasten. Dennoch oder gerade deshalb muss sie schei- tern oder besser: sich ihres Scheiterns bewusst werden. Immer wieder drängt sich das Straßenleben ins Bild: ein Geschäftsmann, ein höflicher Japaner, zwei Jugendliche im Elvis-Look. Der technische Apparat entpuppt sich als zu trä- ge, er kann das erwartete und zugleich nostalgische Idealbild nicht festhal- ten und er vermag nicht, das Störende der modernen Gegenwart aus dem Ka- der zu lassen. Die Unvereinbarkeit des Blicks der jungen Frau und der Maschine wird dadurch deutlich. Da kommt ihr junger Landsmann in Gestalt eines amerikanischen Sol- daten in Ausgehuniform und zeigt ihr, wie man’s richtig macht. Mit lautem, be- stimmtem Ton nötigt er die junge Frau, sich neben die Blumenverkäuferin zu stellen und die Kamera hinter dem Rücken zu verstecken. Dann bittet er bei- de um ein Keep Smiling. Mit raschen präzisen Bewegungen tritt er zurück und hat sein Bild im Kasten.¯5 Seine Motorik ist skandiert wie das Auf und Zu des Kameraverschlusses, seine Stimme klingt verknappt wie das Klick des Aufnah- meapparats, und alles geht blitzschnell. Ehe sie sich’s versieht, ist die junge Frau nun selbst Teil des Bildes geworden, das sie ursprünglich machen wollte. Dass es wenig authentisch ist, weiß sie und fühlt sich geniert. In diesem Au- genblick hat sie etwas über sich und die Fotografie begriffen, und wir haben als Zuschauer und Zuschauerinnen teil an diesem Innewerden. Dem amerika- nischen Fotografen hingegen ist das Gestellte egal. Der Effekt wirkt »authen- Play Gender 35 tisch«, und für Effekte hat er einen ebenso sicheren Blick wie für die traditio- nelle Geschlechterordnung: Die Frau gehört ins Bild, er hinter die Kamera. Wie seine männlichen Kollegen mit ihren Lieblingsspielzeugen, den neuesten visuellen Techniken, umgehen, dazu entwickelt Tati in einer weiteren Szene ei- nen komplexen Kommentar. Dort geht es um den neuen Fetisch des Heimkinos unter männlicher »Regie«, der für seine Zeit von verblüffender Hellsicht und Radikalität ist. Schauplatz ist jenes moderne Appartmenthaus, in dessen Nähe Monsieur Hulot später Monsieur Giffard mit seinem Hündchen treffen wird. Zunächst ist er dort jedoch zu Gast bei dessen Kollegen aus dem Nachbarap- partement, der ihn zu einem Fernsehabend bei sich zu Hause eingeladen hat. Die Kamera nimmt die Häuserfront immer wieder frontal auf und lässt sie uns in voller Breite sehen, manchmal erweitert durch eine langsame Parallelfahrt nach links oder rechts. Sie wird dadurch vor unseren Augen zu einer sekundä- ren Leinwand, die in einem Realtrick den Effekt eines Splitscreen evoziert: Wir schauen durch die großen viereckigen Fenster, die die gesamte Außenwand der Appartements einnehmen, in vier verschiedene Wohnzimmer wie in eine Pup- penstube oder wie auf vier Leinwände in einer. Das Augenmerk konzentriert sich dabei zunehmend auf die beiden unteren Appartements, in denen sich spiegelbildlich fast dieselben Szenen abspielen (Abb. 19). Ein Fernseher, der als praktisches Einbaumöbel in die Wand integriert ist, wird angeschaltet, eine elegante Frau stellt Snacks und Drinks auf den Coffeetab- le, man schaut TV. Während in der Wohnung Giffards der Hausherr jedoch noch fehlt – er hatte sich an einer Glaswand seines Bürohauses die Nase blu- tig geschlagen –, ist die Kleinfamilie von Mutter, Vater und Tochter nebenan komplett. Vor allem aber ist dort Tati als Gast willkommener Anlass von Vor- führgesten, denen wir in unserer voyeuristischen Außenposition vor dem Ap- partementhaus in ihrer komischen Pantomimik folgen. Der Pater familias stellt dabei mit übertriebenem Besitzerstolz Tati weniger seine Familie als sein Ap- partment und seinen Fernseher vor. Mit großer Geste schaltet er ihn an, bittet den Gast neben sich in den Fernsehstuhl und zwingt ihn so in dieselbe Blick- richtung: auf das Loch in der Wand, an deren Stelle das TV-Gerät installiert ist. Hulot – nehmen wir seine Miene ernst – kann dem allerdings nichts, aber auch gar nichts abgewinnen. Im Fernsehen findet nämlich offensichtlich ein Box- kampf statt, den der Hausherr in unwillkürlichen Körperreflexen wiederholt, eine Übung, die Hulot eher unheimlich zu sein scheint. Im Nachbara ppartment ist inzwischen Monsieur Giffard – mit großem Pflaster auf der Nase – nach Hause gekommen und hat sich zu Frau und Schwiegermutter vor dem Fern- seher gesellt. Wie beim Simultanschwimmen beginnen sich nun die Szenen links und rechts immer mehr zu ähneln, und wie beim psychologischen Ror- 36 Katharina Sykora schachtest falten sich die Klischees am Grat der gemeinsamen Membran der Fernsehwand auseinander. Doch die Figur Hulots bringt Unruhe in die linke Wohnung und damit in die Balance der gleichgeschalteten Blicke und Gesten. Der Hausherr will dem Gast noch mehr bieten und lässt die Tochter einen Super-8-Projektor und die da- zugehörige Leinwand bringen. Während die Technik von dem mürrischen Teenager aufgebaut wird, nimmt der Gastgeber euphorisch schon einmal das vorweg, was dann im Heimkino zu sehen sein wird: der letzte Skiurlaub der Fa- milie. Parallelschwung, Pf lug und Wedeln sehen wir den beleibten Hausherrn als Trockenübung vollführen, was Hulot vollends aus der Fassung bringt. Ohne irgendeinen äußeren Anlass zieht es ihm den Boden unter den Füßen weg, er rutscht aus und schlägt der Länge nach hin. Soweit zu Tatis Kommentar über die Suggestionskraft des Kinos, mit oder ohne Projektion. Jedenfalls reicht schon die bloße Vorstellung von so viel Schnee und Eis im Heimkino, um Hulot real in die Gefahr des Hals- und Beinbruches zu bringen. Das begreift auch die robuste Kleinfamilie und akzeptiert erschrocken, dass sich Monsieur Hulot für den restlichen Abend empfiehlt. Der Gang der Dinge wird in den zwei Appartements wieder alltäglich, Mon- sieur Giffard auf der anderen Seite hat es sich in Hemdsärmeln bequem ge- macht und nimmt dann den Hund an die Leine, um ein letztes Mal vor die Tür zu gehen. Sein Nachbar entledigt sich ebenfalls des Jacketts. Madame Giffard stiert weiter in den Fernseher, als müsse sie ihn mit ihren Blicken durchboh- ren, sieht aber nicht wie wir den beginnenden Striptease des Nachbarn jenseits der Wand. Fernsehen als Scheuklappe für das Allernächste, Film als Produkti- on von Phantasievorstellungen, die einen wortwörtlich aufs Glatteis führen: Tati beschreibt die damals neuen visuellen Medien in den funktionalen Archi- tekturen und in den Händen ihrer angepassten Männer als ärmlich und pom- pös zugleich. Dass es schwer ist, ihnen zu entgehen, zeigt er jedoch gleich mit: Monsieur Hulot hat sich beim Verlassen der Kleinfamilie im Hausflur verirrt, der ihn aus der Klaustrophobie des Appartements herausführen sollte. Statt- dessen holt ihn wieder die Tücke der Vollautomatisierung ein: Er hat den Knopf nicht gefunden, mit dem sich die Glastür ins Freie wie von alleine öffnet. Zum Glück ist da aber der Hausherr, der ihn in seiner misslichen Lage entdeckt und stolz den Fingerzeig gibt, wie’s funktioniert. Selbstreferenzialität heißt bei Jacques Tati nie Distanzierung des Filmema- chers von dem, was er zeigt. Dazu ist er seinerseits zu sehr Liebhaber moderner Technik und Verfechter eines absoluten kinematographischen Perfektionis- mus – von den ausgedehnten Vorbereitungen seiner Filme inklusive der Pla- nung und Erbauung der Filmstadt Tativille, über die skrupulöse Personen- und Play Gender 37 Bildregie und die aufwendige Postproduktion mit dem komplizierten Schnitt und dem Fünfkanalstereoton, bis hin zu seinem Insistieren auf einer Projekti- on im 70mm-Breitwand-Format. Und Tati ist immer auch zugleich Monsieur Hulot, der romantische Verweigerer all dieser Technik, der diese auf der Lein- wand einem anderen, witzigeren, anarchischeren Leben zuführt. In der vorletzten Einstellung von Play Time hat Tati diese »zwei Seelen in ei- ner Brust« sehr schön zusammengeführt. Dort verfängt sich der Bus der jun- gen Frau im Stau innerhalb eines Kreisverkehrs. Der gerät erst wieder in Fluss, als jemand eine Münze in einen Parkautomaten wirft. Diese Geste und das, was folgt, stehen in keinem realen oder technisch bedingten kausalen Verhält- nis zueinander und dennoch funktionieren sie auf der visuellen, allegorischen und selbstreferenziellen Ebene des Kinos von Jacques Tati. Der Kreisverkehr wird zum alten Kinderkarussell aus Tatis erstem langen Spielfilm Jour de Fête (1949) und zugleich zum Autochaos aus seinem vorletzten großen Film Trafic (1971). Der Kreisel ist aber vor allem auch die Filmspule, deren Bilder der Pro- jektionist mit einem Knopfdruck zum Laufen bringt und uns damit zur nächs- ten Kinovorstellung einlädt. 01˘ Chaplins Modern Times (USA 1936) hat die industriellen Mechanisierung zum Thema. Er zeigt in einer seiner Schlüsselszenen eine taylorisierte Motorik seines Hauptdarstellers, die nicht mehr zu unterscheiden weiß zwischen den zu fertigenden Produkten auf dem Fließband und den Menschen und Dingen in der Alltagswelt. Er dreht daher wie am Band auch an allen anderen Schrauben, etwa den Knöpfen am Kostüm einer eleganten Dame. Eine Verallgemeinerung, die durchaus strukturell richtig ist, wird hier sichtbar gemacht. Tatis Film exerziert diese Motorik jedoch nicht an seinem Protagonisten Hulot, sondern an vielen Einzelfiguren durch und interpretiert deren taylorisierte Motorik als eine bereits in- ternalisierte und hochgradig ausdifferenzierte. Er macht weniger den Mechanismus als die Architektur sichtbar, die den Menschen zu dieser Verinnerlichung bringt. Der Lapsus ist bei ihm daher nicht gegen die Maschine, sondern gegen die gebaute Umwelt gerichtet. Sie gibt nicht die Übertreibung oder Überbietung des Montageprinzips als anarchisches Prinzip und lachenden Ausweg, sondern die Demontage als Einspruch. 38 Katharina Sykora 02˘ Jonathan Rosenbaum hat sehr gut die demokratisierenden Aspekte in Tatis Filmen und besonders in Play Time herausgearbeitet, die ihn gegenüber der Gleichmacherei des Modernismus eher in eine lakonische als eine verbitterte Haltung bringen: Vgl. Rosenbaum 1973. 03˘ Bereits seit dem ersten langen Spielfilm, in dem Tati die Figur seines Alter Ego etablier- te, Jour de Fête (1949), lässt er den Briefträger François am amerikanischen Prinzip der be- schleunigten Postzustellung komisch scheitern. In Mon Oncle (1958) thematisiert er dann die fehlgeschlagene Einpassung eines Kleinstädters in die hypermoderne Architektur des Einfamilienfamilienhauses seines Schwagers. In Trafic (1971), obwohl nach Play Time ge- dreht, exploriert Tati schließlich die Tücken avancierter Technik in der Welt der Automobile, die weniger vorwärts führt als ständig im Kreis. Er hat daher alle seine Langfilme in bezug auf Play Time als Vor- und Zuarbeit begriffen und Play Time als Höhepunkt und Kumulation seines Schaffens. Zu Lebzeiten bestand er darauf, dass bei Filmreihen Play Time immer am Ende programmiert wurde. Vgl. Maddock 1977, 78. 04˘Zu diesem produktiven Auseinandertreten von Ton, Licht, Farbe und Raum, Gegenstand, Person vgl. Dondey 1989, 197f., sowie Harding 1984. 05˘ In genau jenem Moment, in dem der Amerikaner sein Bild gemacht hat, bereitet auch Tati der Sequenz mit einem harten Schnitt ein abruptes Ende. Der Film tritt mit diesem »Zuschnappen« seiner Kamera in Analogie zum fotografischen Apparat und kommt eine Sekunde lang selbstreferentiell zu sich. Literatur Dondey, Marc en collaboration de Sophie Tatischeff (1989) Tativille. In: dies.: Tati. Paris: Éditions Ramsay, S. 197-198. Harding, James (1984) Play Time. In : Ders.: Jacques Tati. Frame by Frame. London: Secker & Warburg, S. 117-138. Glasmeier, Michael (1994) Play Time: Soundtime. Bemerkungen zu Jacques Tati. In: Posi- tionen. Beiträge zur Neuen Musik Nr. 2, S. 34f. Maddock, Brent (1977) Play Time. In: Ders.: The Films of Jacques Tati. London: Scarecrow Press. Rosenbaum, Jonathan (1973) Tati’s Democracy. In: Film Comment Nr. 3, S. 36-44. Play Gender 39