· · · STRUKTURENTSTEHUNGW Fink CONRADI DERWANZ MUHLE HRSG. DURCH VERFLECHTUNG SCHRIFTENREIHE »AUTOMATISMEN« · UNIVERSITÄT PADERBORN neuer band:Bublitz_neu.qxd 27.10.11 13:08 Seite 1 Die Akteur-Netzwerk-Theorie stellt mit ihrem Anliegen, die Verflech- tungen zwischen Natur, Kultur, Gesellschaft und Technik strikt em- pirisch zu erforschen, eine Herausforderung für die Sozial- und Kult urwissenschaften dar. Dieser Herausforderung widmet sich der Band aus einer interdisziplinären Perspektive. Ein Hauptinteresse gilt der Frage, wie mit der Akteur-Netzwerk-Theorie die Entstehung ungeplanter Strukturen untersucht werden kann. Nach einem einleitenden Text von John Law wird eine kritische Dis- kussion über die überraschende Handlungsfähigkeit nicht-mensch- licher Akteure, die Verteilung von Macht in Netzwerken sowie mögliche Akzentverschiebungen und theoretische Anschlüsse an die ANT entfaltet. Die Beiträge gehen dabei der Handlungsmäch- tigkeit von Viren, Problemen des Regierens nach Hurrikan Katrina oder der Frage einer nicht-modernen Geschichte moderner Me- dien nach. TOBIAS CONRADI GISELA ECKER NORBERT OTTO EKE FLORIAN MUHLE · HRSG. SCHEMATA UND PRAKTIKEN ISBN 978-3-7705-5220-7 WILHELM FINK Tobias Conradi, Gisela Ecker, Norbert Otto Eke, Florian Muhle (Hrsg.) SCHEMATA UND PRAKTIKEN SCHRIFTENREIHE DES GRADUIERTENKOLLEGS „AUTOMATISMEN“ Herausgegeben von Hannelore Bublitz, Gisela Ecker, Norbert Otto Eke, Reinhard Keil und Hartmut Winkler Tobias Conradi, Gisela Ecker, Norbert Otto Eke, Florian Muhle (Hrsg.) SCHEMATA UND PRAKTIKEN Wilhelm Fink Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Umschlagabbildung: Jürgen Gebhard (picturepress) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2012 Wilhelm Fink Verlag, München (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Lektorat und Satz: Margret Westerwinter, Düsseldorf Einband: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5351-8 INHALT TOBIAS CONRADI, GISELA ECKER, NORBERT OTTO EKE, FLORIAN MUHLE Einleitung ..................................................................................... 9 HARTMUT WINKLER Schemabildung ‒ eine Maschine zur Umarbeitung von Inhalt in Form ................... 15 ROLF F. NOHR Sprudelnde Ölquellen, denkende Gehirne und siegreiche Spermien – die Produktion von Evidenz (und deren Theorien) .................................................................... 37 JÜRGEN LINK Normalisierung zwischen Spontaneität und Adjustierung. Mit einem Blick auf die „demografische Krise“ .......................... 65 STEPHAN MÜLLER Zauber der Zwangsläufigkeit. Erzählschemata und die kulturellen Automatismen des Mittelalters – eine Problemskizze .......................................... 83 MIRNA ZEMAN Volkscharaktere und Nationalitätenschemata: Stereotype und Automatismen ..................................................... 97 ROLF PARR Zwischen Innovation und Automatismus. Nationalstereotype in der Berichterstattung zur Fußball-WM 2010 .................................................................. 117 6 INHALT FRANZ J. RAMMIG Biologically Inspired Information Technology: Towards a Cyber Biosphere ......................................................... 141 WERNER HOLLY Transkriptiv kontrollgemindert. Automatismen und Sprach-Bild-Überschreibungen in Polit-Talkshows ...................................................................... 161 CHRISTIAN KASSUNG animal machines. Eine Falle ist kein Ge-Stell ......................................................... 191 ALBERTO DE CAMPO Sonifikation – Darstellung, Wahrnehmung, Emergenz .............. 213 ABBILDUNGSNACHWEISE ............................................................. 235 ÜBER DIE AUTORINNEN UND AUTOREN ....................................... 237 TOBIAS CONRADI, GISELA ECKER, NORBERT OTTO EKE, FLORIAN MUHLE EINLEITUNG Ausgangspunkt der in diesem Band versammelten Beiträge ist die Frage der Verschränkung von Schemata und Praktiken einerseits und des Verhältnisses beider zu Automatismen in Medien, Kultur und Technik andererseits. Sie wur- den zunächst vorgetragen im Rahmen von zwei Ringvorlesungsreihen, die im Wintersemester 2009/10 (Schemabildung: Konvention, Stereotypie, Normali- tät) und im Sommersemester 2010 (Praktiken) durch das Graduiertenkolleg Automatismen. Strukturentstehung außerhalb geplanter Prozesse in Informa- tionstechnik, Medien und Kultur an der Universität Paderborn durchgeführt worden waren. Für den Druck wurden sie überarbeitet und erweitert. Schemata und Praktiken sind prima vista gegenläufige Modi der Modellbil- dung, der Kategorisierung und der Performanz. Während die Schematheorien vornehmlich auf handlungsleitende und -steuernde Aspekte kognitiver Art (Wahrnehmungen, Beobachtungen) abheben, betonen die praxeologischen Theorieansätze gerade die spezifische Funktion routinisierter, durch Wieder- holungen und ‚Einschleifungen‘ verfestigter Handlungsformen im Hinblick auf die Konstitution und Modifikation gesellschaftlicher Strukturen.1 Aller- dings stehen Schemata und Praktiken nicht zwangsläufig konträr zueinander.2 So entziehen sich Schemata – betrachtet als Strukturen der Wissensrepräsenta- tion und Informationsverarbeitung – (weitestgehend) bewusster Planbarkeit; sie entstehen in der Beobachtung regelhafter, repetitiver und rekursiver ‚Ereig- nisse‘ bzw. ‚Ereignisfolgen‘, die durch Abstraktion zu Wissensstrukturen or- ganisiert und in komplexe Handlungsmodelle überführt werden. Gleichzeitig entwickeln sich Schemata aber auch selbst aus stetig wiederholten Handlungs- abläufen und erfahren diesbezüglich eine Prozessualisierung in Praktiken, de- ren strukturgebende und -stabilisierende Bedeutung sich in der wiederholten Aufführung erweist. Schemata und Praktiken stehen solcherart in einem komplementären Ver- hältnis, sind miteinander verzahnt, insoweit beiden eine auf instrumentales und systemisches Orientierungswissen ausgerichtete handlungsbestimmende, zugleich aber auch handlungsermöglichende Bedeutung zukommt. Schemata und Praktiken allein im Sinne der Beschränkung von Handlungsalternativen durch Auswahl, Filterung und Verengung zu betrachten, wäre zu kurz gegrif- 1 Vgl. Andreas Reckwitz, „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheore- tische Perspektive“, in: Zeitschrift für Soziologie 32, 4 (2003), S. 282-301: 289. 2 Vgl. James Hollan/Edwin Hutchins/David Kirsh, „Distributed Cognition: Toward a New Foundation for Human-Computer Interaction Research“, in: ACM Transactions on Computer- Human Interaction 7, 2 (2000), S. 174-196. 10 TOBIAS CONRADI, GISELA ECKER, NORBERT OTTO EKE, FLORIAN MUHLE fen, denn routinisierte Formen der Wahrnehmung und routinisierte, verkör- perte Handlungsabläufe eröffnen ihrerseits auch Handlungsoptionen, indem sie es erlauben, neue Situationen im Rückgriff auf bestehendes praktisches und kognitives Wissen zu bewältigen. Für den Bereich der Schemata hat Nik- las Luhmann dies 1996 in seiner Untersuchung der „Realität der Massenme- dien“ aus systemtheoretischer Sicht beschrieben: Schemata zwingen nicht zu Wiederholungen, sie legen auch das Handeln nicht fest; ihre Funktion liegt ja gerade darin, Spielraum für frei gewähltes Verhalten zu generieren […]. Dazu dient die (nicht notwendig begriffliche) Abstraktion, das Absehen von … , die Repression der zahllosen Details, die Situationen als einmalig und unwiederholbar markieren. […] Das Schema ermöglicht Ergänzun- gen und Ausfüllungen, es lässt sich nicht „schematisch“ anwenden.3 Ähnliches lässt sich auch für Praktiken festhalten. Neben der reinen Wieder- holung ergibt sich auch in konkreten Praktiken immer wieder „eine interpreta- tive und methodische Unbestimmtheit, Ungewissheit und Agonalität [...], die kontextspezifische Umdeutungen von Praktiken erfordert und eine ‚Anwen- dung‘ erzwingt und ermöglicht, die in ihrer partiellen Innovativität mehr als reine Reproduktion darstellt“.4 Mit der Bedeutung von Rekursionen, Routinisierungen, Prozessualisierun- gen und Modellbildungen im Bereich von Schemabildungen und sozialen Praktiken stellt sich die Frage nach der Rolle von Automatismen in diesem Zusammenhang. So sind Wiederholung und Vereinfachung zunächst einmal auch diejenigen Mechanismen, die zur Entstehung von Automatismen beitra- gen und gleichzeitig ihre Routinisierung ermöglichen. Sie bewirken, dass sich Wahrnehmungen nach Prinzipien stereotyper Fixierung ausformen, sich damit vereinfachen, dem Subjekt Denk- und Sortierarbeit ersparen und dem Kollek- tiv identitätsstiftende Sinngehalte bieten. Gleichzeitig führen sie zur Heraus- bildung verkörperter Praktiken und materialisieren sich im praktischen Tun im Wechselspiel von Komplexitätsreduzierung und Komplexitätssteigerung. Erst wenn etwas routinisiert, beherrscht oder eingeordnet wird, kann die Aufmerk- samkeit auf anderes gelenkt werden, was dann wiederum (nach einiger Wie- derholung) in Routine übergehen kann usf. Die Reduktion von Komplexität wirkt damit immer in zwei Richtungen. Einerseits ist sie produktiv und not- wendig, indem sie überhaupt erst Handlungsfähigkeit herstellt. Andererseits eröffnet sie die Flexibilität, die notwendig ist zur Erzeugung von Handlungs- möglichkeiten unter veränderten Ausgangsbedingungen. Eben hier verdichtet sich das Zusammenspiel von Automatismen, Schemata und Praktiken zu ei- nem Modell ungeplanter Strukturemergenz. Vor diesem Hintergrund liegt ein besonderes Gewicht der in diesem Band gesammelten Beiträge auf dem Zusammenspiel von Beharrung und Innova- tion. Auf welche Weise kann es geschehen, so die Frage, dass Automatismen, 3 Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 4. Aufl.,Wiesbaden, 2009, S. 132. 4 Reckwitz (2003), Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, S. 282-301: 294. EINLEITUNG 11 die ja zunächst einmal auf Iteration, Vereinfachung basieren und Strukturen aushärten, dennoch Veränderungen zulassen? Christian Kassung und Werner Holly gehen dieser Frage in praxeologischer Perspektive nach. Während Christian Kassung unter der Perspektive einer longue durée am Beispiel des Gebrauchs von Waffen und Fallen die Entwicklung und Veränderung mensch- licher Kulturtechniken betrachtet, zeigt Werner Holly in einer detaillierten Analyse der Kameraführung einer Polit-Talkshow, wie diese als Teil der visu- ellen Inszenierung trotz (oder gerade: wegen) ihrer hohen Professionalität sys- tematisch Zufallsergebnisse und damit Unvorhergesehenes und Neues produ- ziert. Rolf Parr, Mirna Zeman, Jürgen Link und Rolf F. Nohr folgen dieser Fragestellung in schematheoretischer Perspektive am Beispiel der Bedeutung von Nationalstereotypen in den Bereichen Fußballberichterstattung (Parr) und stereotypisierenden Artefakten (Zeman), von demografischen Präsentationen in den Massenmedien (Link) und evidenzbildenden ikonografischen Praktiken (Nohr). Sie betrachten Schemata und Stereotypen nicht als statische Struktu- ren, sondern sehen sie in ambivalente Prozesse zwischen Fixierung und Ver- härtung einerseits und Veränderung andererseits eingebunden. Aktuelle Wahr- nehmungen zum Beispiel werden durch Schemata präfiguriert, wobei diese wiederum auf subtile Weise umgeformt und angepasst werden (vgl. dazu auch den Beitrag von Hartmut Winkler). Dass Automatismen keinesfalls primär rückwärtsgewandt sind, eröffnet die Perspektive auf mittelalterliche Erzähl- schemata (Stephan Müller), die nahelegen, dass sich dem Subjekt über Auto- matismen ein Zugang zu verbürgten Schemata der Weltbewältigung und Posi- tionssicherung eröffnet. Auf eine zeitliche Achse positioniert, erweisen sich Automatismen, die in Schemata und Praktiken zur Geltung kommen, hier in beiden Richtungen als produktiv. Sie verweisen auf eine Geschichte, die durch Gewohnheit geprägt ist, stehen dabei in Prozessen, die dem Zufall und dem Ungeplanten Raum geben, und wirken auf Gewohnheiten zurück. Einmal gewonnene Ordnungen allerdings tendieren zu ihrer Verfestigung unter Ausblendung des Heterogenen und Fremden. In diesem Zusammenhang ist der Vorgang einer ‚Naturalisierung‘ von Strukturen und semantischen Komplexen durch Automatisierungen von Interesse. „Nützliche Bilder“ (Nohr) in den Massenmedien produzieren eine Art von Evidenz, die unwider- sprochen bleibt, weil sie schon längst von anderen „nützlichen Bildern“ ge- stützt und durch diskursive Praktiken stabilisiert werden, somit auch vorder- hand keiner Plausibilisierung bedürfen. Mit solchen Gewöhnungsroutinen durch die Evidenz bildhafter Darstellungen setzt sich Alberto de Campo in sei- nem Beitrag auseinander. Er hinterfragt die Selbstverständlichkeit der bildge- stützten, zugleich automatisierten und nicht mehr widersprochenen Wirklich- keitsproduktion und setzt dieser den Versuch einer Veranschaulichung durch Sonifikation entgegen, womit sich die Frage nach den Planungsinstanzen sol- cher Produktionsprozesse bzw. den Aktanten der diskursiven Visualisierungs- und Sonifikationspolitiken und somit der Kontrollierbarkeit (Planbarkeit) von Prozessen der Wirklichkeitsproduktion bzw. des Verlustes solcher Planbarkei- 12 TOBIAS CONRADI, GISELA ECKER, NORBERT OTTO EKE, FLORIAN MUHLE ten und Kontrollmöglichkeiten (Handlungsfreiheit) von anderer Seite noch einmal stellt. Holly hatte diese am Beispiel der Kamerainszenierung in Fern- seh-Talkshows am Einzelfall durchgespielt. Er zeigt, wie das Endprodukt eines live produzierten Talkformats immer ein Zusammenspiel aus Planbar- keiten und einem unvermeidbaren Kontrollverlust darstellt. Hier lässt sich die Emergenz einer Struktur beobachten, die auf die impliziten und expliziten Handlungen von Einzelakteuren zurückzuführen und doch in gleichem Maße abhängig von Zufallseffekten ist. Umgekehrt führt Zeman am Beispiel der Modellierung eines symbolischen Raums des Nationalen durch Stereotype, Konventionalisierungen und ‚Einschleifungen‘ ein Beispiel für „kontrollierba- re Automatismen“ vor Augen. Aus einer anderen Perspektive stellt sich das Problem des hier in der Fluchtlinie kulturwissenschaftlicher Fragestellungen diskutierten Wechselver- hältnisses von Kontrolle (Einschränkung von Handlungsmöglichkeiten) und Flexibilität (Eröffnung bzw. Steuerung von Handlungsoptionen) nun, wenn der Fokus auf die Rolle von Schematisierungen im Rahmen technikorientierter Forschung gerichtet wird. Denn die Arbeit in diesem Bereich zielt auf die Ent- deckung bisher unbekannter Regelhaftigkeiten und Muster in beobachteten Phänomenen und damit auf die Entdeckung von Neuem, bisher nicht Bekann- tem. In diesem Kontext dienen vor allem grafische aber eben auch auditive Schematisierungen und Modellbildungen der gezielten Erkenntnisgewinnung. Daten werden auf diese Weise unter Kontrolle gebracht und als Ausdruck von Ordnung interpretiert. Dies kann jedoch nicht in der Form der An- und Einpas- sung der Daten an bzw. in ein bestehendes Modell geschehen, sondern nur im Rahmen eines flexiblen Prozesses, in dem Daten und Modelle schrittweise in ein Passungsverhältnis gebracht werden. So besteht die Aufgabe von Inge- nieuren bei der Entwicklung technischer Artefakte darin, diese möglichst ro- bust, stabil und fehlertolerant zu konzipieren. Gleichzeitig können diese tech- nischen Artefakte aber meist nur unter vollständig kontrollierbaren Bedingun- gen getestet werden und sind nicht auf sprunghafte Veränderungen der sie um- gebenden Variablen eingestellt. Anders ausgedrückt: Technikentwicklung ba- siert auf einer Reduktion von Komplexität – und ist somit angewiesen auf Mo- dellbildung und Schematisierung. Ziel dieser Form der Schematisierung sind Kontrolle und Stabilität, die meist aber nur unter gleichbleibenden Umweltbe- dingungen gewährleistet werden können – unintendierte Nebenfolge ist eine durch die Schematisierung bedingte Unflexibilität hinsichtlich langfristiger Veränderungen, die aber im praktischen Einsatz der Gegenstände zu erwarten sind. Auch die hier erkennbare Problematik steht im Zusammenhang mit der Fra- ge nach Automatismen.5 Eine mögliche Lösung erkennt Franz J. Rammig da- rin, Inspirationen aus der Bottom-up-Systematik biologischer Systeme für die 5 Vgl. auch Hannelore Bublitz/Roman Marek/Christina L. Steinmann/Hartmut Winkler, „Ein- leitung“, in: dies. (Hg), Automatismen, München, 2010, S. 9-17: 12. EINLEITUNG 13 Entwicklung technischer Artefakte zu beziehen. Eine Analyse der funktionel- len Schemata der Biosphäre kann demnach – trotz offensichtlicher Grenzen – Hinweise für die Implementierung einer flexibel-spontanen Allokation von Ressourcen in technischen verteilten Systemen liefern. Grundlage für eine sol- che praktische Nutzbarmachung von Schemata ist die Fähigkeit, Muster – als wahrnehmbare Regelmäßigkeiten – auch dort erkennen und rekonstruieren zu können, wo auf kein oder nur wenig analytisches Vorwissen aufgebaut werden kann. Und wiederum sind es Mechanismen der Wiederholung, an denen sich Regelmäßigkeiten, Muster und somit Schemata erkennen und (re-)konstruie- ren lassen. Bedingung hierfür sind aber zugleich die epistemischen Praktiken, anhand derer die Daten für eine Analyse von Musterbildungen gewonnen und aufbereitet werden. Auch dieser Aspekt macht somit auf die Verschränkung von Schemata und Praktiken aufmerksam, indem hier die epistemologische Frage aufscheint, ob emergente Phänomene aus gewonnenen Daten herausge- lesen werden, nur in der Wahrnehmung der BeobachterInnen entstehen oder letztlich Artefakte der spezifischen Repräsentationssysteme darstellen. Die Herausgeber HARTMUT WINKLER SCHEMABILDUNG ‒ EINE MASCHINE ZUR UMARBEITUNG VON INHALT IN FORM 1. Warum Schema? Wer von Schemata spricht, benutzt einen Begriff, der in viele Richtungen schillert. Der Schemabegriff wird in so vielen Kontexten und auf so unter- schiedliche Weise verwendet, dass es ihn fast zerreißt.1 Begriffe, die schillern, aber verlieren keineswegs ihren Sinn; ihr Schillern vielmehr kann gerade An- zeichen einer besonderen Leistungsfähigkeit sein, einer besonderen Vitalität, die sie amphibisch von Kontext zu Kontext fruchtbar macht. Dies gilt, wie zu zeigen sein wird, auch für den Schemabegriff. Es handelt sich um ein Kon- zept, das viele Aspekte und Vorstellungen abstrahierend zusammenzieht und in dieser synthetischen Leistung, für die eine gewisse Unschärfe möglicher- weise Bedingung ist, seine besondere Pointe hat. Mein zweites Projekt ist zu belegen, dass der Schemabegriff gerade für die Medienwissenschaften von großer Bedeutung ist. Wenn nur relativ wenige Theorien Gebrauch von ihm machen, oder besser: nur relativ wenige einen theoretischen Gebrauch, so liegt dies nicht am Begriff. Das Schemakonzept scheint mir in seiner Reichweite noch keineswegs aus- geschöpft. Ich werde zeigen, dass ein sinnvoller Begriff des Zeichens nur im Rahmen einer ausgebauten Schematheorie überhaupt gefasst werden kann, in- sofern das Zeichen eine Art Sonderfall im Reich der Schemata bildet. Und weiter, dass auch die unterschiedlichen Medien sich vor allem im Hinblick auf die Schemabildung überhaupt unterscheiden. Im Schemakonzept, dies ist meine These, liegt der Schlüssel, warum es überhaupt unterschiedliche Medien gibt. 2. Begriffsfeld Geht man vom alltäglichen Sprachgebrauch aus, spaltet sich der Schema- begriff bereits auf. 1 „Eine einheitliche Schematheorie gibt es derzeit nicht. Es handelt sich vielmehr um eine Gruppe von Theorien, deren Gemeinsamkeit darin besteht, daß sie das Schemakonstrukt ver- wenden, aber je nach konkretem Gegenstand durchaus unterschiedlich sein können.“ Heinz Mandl/Felix Friedrich/Aemilian Hron, „Theoretische Ansätze zum Wissenserwerb“, in: Heinz Mandl/Hans Spada (Hg.), Wissenspsychologie, München,Weinheim, 1988, S. 123-160. 16 HARTMUT WINKLER So nennt Wikipedia ‒ viel gescholten, aber in diesem Punkt brauchbar ‒ 10 Aspekte: Der Begriff Schema (von griech. σχήμα, Plural: Schemata, Schemen) bezeichnet: – allgemein eine auf das Wesentliche beschränkte Formvorgabe oder ein Muster, siehe Schablone – eine vereinfachende Zeichnung wie ein Diagramm – in der Informatik ein formales Modell der Struktur von Daten, siehe Schema (Informatik) – in der Ethologie eine Gruppe von Merkmalen, die ein angeborenes Verhalten auslösen, siehe angeborener Auslösemechanismus – in der Psychologie eine durch Vereinfachung gekennzeichnete Struktur von Gedächtnisinhalten, siehe Schema (Psychologie) – die handlungsbezogenen Aspekte des Denkens und der Intelligenz – in der Mathematik ein zentrales Konzept der algebraischen Geometrie, siehe Schema (algebraische Geometrie) – einen Bibelvers (von Hebräisch Schma), siehe Schma Jisroel. – ein RI-Fließbild in der Verfahrenstechnik [??] – eine standardisierte Vorgehensweise, vgl. Schema F2 Formvorgabe und Muster verweisen nach vorne: Häufig wird impliziert, dass Schemata eine bestimmte Prägekraft haben. Schemata scheinen vorgefasst und von dort aus in die Zukunft zu wirken. Und weiter klingt Schema nach Pla- nung, Routine und Ökonomie. Immer ist impliziert, dass es sich um eine Ver- einfachung handelt, die knapper und sparsamer als das zu Beschreibende oder zu Gestaltende ist. Der Verweis auf das ‚Schema F‘ allerdings zeigt eine deutlich pejorative Konnotation; der Begriff des Schemas und des Schematismus wird häufig kri- tisch verwendet, etwa in dem Sinn, dass das Schema in seiner Vereinfachung zu weit geht, und die Komplexität der tatsächlichen Welt allzu sehr reduziert. Ebenso erscheint das Schema ‒ ‚Schema F‘ ‒ als unflexibel und starr; wo- durch es in einen Gegensatz zur Dynamik und den Wechselfällen der jeweili- gen Kontexte tritt. In beiden Fällen wird das Schema entweder als unrealis- tisch oder als gewaltförmig erfahren. Diese negative Konnotation ist wichtig, gerade weil die im engeren Sinne wissenschaftlichen Verwendungen des Schemakonzepts sie hinter sich lassen und versuchen, einen möglichst wert- frei-neutralen Schemabegriff zu gewinnen. 3. Bartlett Was die Wissenschaft angeht, so ist der Schemabegriff am geläufigsten wahr- scheinlich in der Psychologie. Die psychologische Schematheorie hat ihre Basis in der Gestalttheorie Wertheimers, Köhlers und Koffkas und der Ent- 2 Wikipedia Deutschland, „Eintrag: Schema“, online unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Schema, zuletzt aufgerufen am 20.05.2011 (im zitierten Text fälschlich: Schma Israel; Erg. H. W.). SCHEMABILDUNG 17 wicklungspsychologie vor allem bei Piaget. Der Begriff selbst allerdings geht auf die sozialpsychologische Gedächtnistheorie F. C. Bartletts in den 1930er Jahren zurück.3 „Bartlett“, schreibt das Metzler-Lexikon Literatur- und Kultur- theorie, kritisiert am bisherigen Schema-Begriff, daß er zu statisch sei, und stellt seinen Schema-Begriff unter drei Prämissen: (a) Schemata sind bewußte und aktive Prozesse; sie reduzieren Komplexität und konstituieren Sinn. (b) Schemata be- stehen nicht aus einzelnen Elementen, sondern bilden ganzheitliche Strukturen, die komplexes Wissen repräsentieren. (c) In den Schemata sind nicht nur kogni- tive Wissensbestandteile integriert, sondern auch soziale und affektive.4 Bartlett wendet sich gegen die mechanischen ‚Storehouse‘-Modelle des Ge- dächtnisses: [In the processes of memory] the past operates as an organised mass rather than as a group of elements each of which retains its specific character. […] For this combined standard, against which all subsequent changes of posture [Bartletts Beispiel sind Positionsänderungen des Körpers] are measured before they enter consciousness, we propose the word „schema“.5 Such schemata modify the impressions produced by incoming sensory impulses in such a way that the final sensations […] rise into consciousness charged with a relation to something that has gone before. […] It would probably be best to speak of „active, developing patterns“.6 Und weil Bartlett die Schemata von vornherein in ihrer Dynamik betrachtet, geht er sofort zu einem Entwicklungsmodell über: „[S]chemata“ are build up chronologically. Every incoming change contributes its part to the total „schema“ of the moment in the order in which it occurs. […] All of us, in reference to some of our „schemata“, have probably completed the model and now merely maintain it by repetition.7 Und schließlich zum Problem der intersubjektiven Geltung, eng verbunden mit der Rolle der Medien: With this, […] as my experiments repeatedly show, goes a great growth of social life, and the development of means of communication. Then the „schema“ de- termined reactions of one organism are repeatedly checked, as well as constantly facilitated, by those of others.8 3 Frederic C. Bartlett, Remembering. A Study in Experimental and Social Psychology, Cam- bridge, New York, NY, 1995. [1932] 4 Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. v. Ansgar Nünning, Stuttgart, Weimar, 1998, S. 478. 5 Bartlett (1995), Remembering, S. 197 und S. 199. 6 Ebd., S. 200 f., Bartlett zit. Henry Head. 7 Ebd., S. 203. 8 Ebd., S. 206; zur intersubjektiven Geltung und zum kollektiven Unbewussten siehe auch S. 281 ff. 18 HARTMUT WINKLER Bereits in den 1930er Jahren, bei Bartlett, also liegen wichtige Bestimmungen des Schemabegriffs vor. Als ein zweiter Zeuge wäre z. B. Halbwachs zu nen- nen9, der den Begriff des Schemas explizit zwar nicht benutzt, mit seiner The- orie der ‚Rahmen‘ aber sehr ähnlich argumentiert; der Begriff des Rahmens wurde, alternativ zum Schemabegriff, in der KI verwendet, um Situationen zu typisieren.10 Verursacht durch den Behaviorismus trat die Schematheorie dann für einige Jahrzehnte zurück; in den 70er Jahren allerdings wurde sie auf breiter Front wieder aufgegriffen. [N]ahezu gleichzeitig erschiene[n] Publikationen der kognitiven Psychologie (D. E. Rumelhart), KI-Forschung (M. Minsky), Linguistik (Ch. Fillmore) [und der] Theorie der Motorik (R. A. Schmidt), die alle auf der Schematheorie aufbauen. Sie ist seither ein fester Bestandteil dieser Forschungsgebiete.11 4. Kognitivismus, Matthes Die genannten Gebiete standen, allen Verschiedenheiten zum Trotz, in den Siebzigern in engem Rapport; und Drehscheibe für diese enge Wechselwir- kung war vor allem die Suggestion des Computers. Mühelos stellte dieser die Metaphern bereit, in denen auch filigrane Wissenschaften wie die Linguistik und die Psychologie ihren Gegenstandsbereich Schritt für Schritt reformulier- ten; der Entwicklungsschub der IT und die ingenieurmäßige Härte der Hard- ware schienen den traditionell ‚weichen‘ Fächern den ersehnten Anschluss an die Naturwissenschaften zu liefern. Vor allem die Kognitionstheorie griff das Schemakonzept auf; und fast alle Definitionen der Gegenwart sind von Vorstellungen und Begrifflichkeit der Kognitionswissenschaften bestimmt. Dass diese alles andere als unproblema- tisch sind, wird noch zu zeigen sein. Der Neid allerdings muss der Kognitions- theorie lassen, dass sie zum Schemakonzept wesentliche Bestimmungen bei- getragen hat. Gestützt auf Matthes12, der fokussiert auf die Medienwirkungs- forschung eine zusammenfassende Darstellung versucht, möchte ich einige dieser Bestimmungen kurz andiskutieren; die erste allerdings steuert, auch hier besser als ihr Ruf, Wikipedia bei: Schemata sind Inhalte des impliziten Gedächtnisses, werden also in die jeweilige Situation „mitgebracht“, und bestimmen durch Wiedererkennen (top down) über 9 Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt/M., 1985 [1925], S. 144 ff.; ders., Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt/M., 1991. [1950] 10 Marvin Minsky, Mentopolis, Stuttgart, 1990 [1985], S. 244 ff. 11 Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (1998), S. 478. 12 Jörg Matthes, „Die Schema-Theorie in der Medienwirkungsforschung: Ein unscharfer Blick in die ‚Black Box‘?“, in: Medien und Kommunikationswissenschaft 52, 4 (2004), S. 545-568. SCHEMABILDUNG 19 Auswahl/Filterung der eingehenden Information, deren Bedeutung und im weiteren über Speicherung und Einordnung des neuen Wissens.13 Immer wenn der Begriff des ‚Wissens‘, der ‚Information‘ usf. undiskutiert in Anspruch genommen wird, ist der kognitionspsychologische Eintrag bereits deutlich. Dennoch erscheint mir die Definition tauglich, insofern sie die Sche- mata als Gegenüber der jeweils aktuellen Wahrnehmungen fasst; die aktuelle Wahrnehmung trifft auf eine im Gedächtnis bereits bestehende Struktur; die dort vorhandenen Schemata entscheiden darüber, wie die aktuelle Wahrneh- mung eingeordnet und ‒ wieder eine technische Metapher ‒ ‚gefiltert‘ und ‚verarbeitet‘ wird. Wahrnehmen ist insofern immer Wiedererkennen. Und die im Gedächtnis bereits bestehenden Schemata haben eine gewisse Macht über die aktuelle Wahrnehmung. Die zweite Bestimmung entnehme ich Matthes: „A schema is a structured cluster of concepts; usually, it involves generic knowledge and may be used to represent events, sequences of events, percepts, situations, relations, and even objects.“14 Schemata also sind in sich pluralisch und konstellativ. Diese Bestimmung ist schwierig genug; ist doch selbst die Semantiktheorie kaum in der Lage, in sich pluralische, konstellative Repräsentationen tatsächlich zu denken. Ent- sprechend schnell rettet sich Matthes auf sicheres Terrain: Vereinfacht ausgedrückt ist menschliches Wissen gemäß der Schema-Theorie ähnlich wie in einem Schubladensystem [!] organisiert: Prinzipiell gibt es unend- lich viele Schubladen, da es ja für jede Situation, jedes Objekt etc. ein Schema gibt.15 Was aber würde dies heißen? Gäbe es tatsächlich eine einzelne Schublade für jede Situation, verlöre der Begriff des Schemas jeden Sinn. Augenfällig ‒ und im Begriff des Wiedererkennens bereits impliziert ‒ ist doch, dass ein Schema eine Vielzahl differenter Situationen, Objekte oder Wahrnehmungen unter sich fasst; unter der Voraussetzung eben, dass diese als in irgendeiner Weise ähn- lich erkannt werden. Es ist insofern davon auszugehen, dass es zwar sehr viele, keineswegs aber ‚unendlich‘ viele Schemata und ‚Schubladen‘ gibt. Ihre Zahl vielmehr muss signifikant kleiner sein als die der jeweils aktuellen Wahr- nehmungen/Situationen, und diese spezifische Knappheit/Ökonomie macht sicherlich eine der Pointen im Funktionieren der Schemata aus. Schemata, so könnte man weiter denken, gehorchen einer Logik der Subsumtion, wie man sie z. B. von sprachlichen Begriffen kennt. 13 Wikipedia Deutschland, „Stichwort: Schema (Psychologie)“, online unter: http://de.wikipedia. org/wiki/Schema_(Psychologie), zuletzt aufgerufen am 20.05.2011. 14 Matthes (2004), Die Schema-Theorie, S. 546. [Herv. H. W.] Matthes zit. Michael W. Ey- senck/Mark T. Keane, Cognitive Psychology – A Student’s Handbook, 4. Aufl., Hove, 2002. 15 Ebd. [Erg. H. W.] 20 HARTMUT WINKLER 5. Abstraktion, Rumelhart/Norman Dass Schemata abstrakter sind als das jeweils Schematisierte, ist der kogniti- vistischen Gemeinde durchaus bewusst. „Memory“, schreiben etwa Rumel- hart/Norman, contains a record of our experiences. Some of the information is particular to the situation that it represents. Other information is more general, representing ab- straction of the knowledge of particular situations to a class of situations. […] A psychological theory of memory must be capable of representing both general and particular information. We believe that general information is best repre- sented through organized information units that we call schemata.16 Und Rumelhart/Norman bieten ein Modell an, wie man sich die Abstraktion bzw. Generalisierung, die in den Schemata steckt, abstrahiert und schematisch vorstellen kann: It is possible that our early experiences with some class of events give rise to a set of particular representations of those events. Then we generalize from these experiences by substituting variables for the aspects of the events that seem to vary with situations, leaving constants (particular concepts) in those parts of the representation that are constant across the different events in the class. The result is a general schema for a class of events.17 Die skizzierte Vorstellung, wie gesagt, ist selbst rüde schematisch, und in der Rede von Variablen und Konstanten sucht sie die tröstliche Nähe der Mathe- matik. Akzeptiert man dies aber für den Moment, ist das Modell durchaus er- hellend: Eigentlich nämlich wird nur unterschieden zwischen solchen Fakto- ren, die bei jeder Instantiierung des Schemas konstant sind, und solchen, die, ohne dass das Schema beschädigt würde, von Situation zu Situation variieren. Das Schema ist Struktur, insofern es sich nur auf die ersteren stützt. Und aus dem gleichen Grund ist es ‚abstrakt‘: Indem es von den jeweiligen Situationen nur bestimmte Merkmale verlangt, andere aber offen lässt, nimmt es Abstand von der konkreten Situation und kann viele, variierende Situationen unter sich fassen. Auf Basis dieser Vorstellung können Rumelhart/Norman plausibel etwa Fälle von Übergeneralisierung beschreiben ‒ „a young child learns that not all animals are ‚doggies‘“18 ‒, und allgemeiner, dass es im Abgleich zwischen Schema und konkreter Situation immer um ‚applicability‘ und um die ‚Ad- äquatheit‘ des Schemas geht.19 16 David E. Rumelhart/Donald A. Norman, Accretion, Tuning, and Restructuring: Three Modes of Learning, in: John W. Cotton/Roberta L. Klatzky (Hg.), Semantic Factors in Cognition, Hillsdale, NJ, 1978, S. 37-53: 40 f. 17 Ebd., S. 41. 18 Ebd., S. 39. 19 Ebd., S. 48 und S. 43. SCHEMABILDUNG 21 Interessant ist, dass die ‚Variablen‘ in den meisten Fällen nicht einfach offen bleiben, sondern durch Vorannahmen, die Rumelhart/Norman ‚default values‘ nennen, provisorisch ausgefüllt werden: The different variables in a schema are often constrained: We do not expect to find all possible plants or animals on a farm. Tigers, eels, and poison ivy are animals and plants but not within the normal range of possible crops or live- stock. Many of the variables in schemata have default values associated with them. […] Variables (and their constraints) serve two important functions: 1.) They specify what the range of objects is that can fill the positions of the various variables. 2.) When specific information about the variables is not available, it is possible to make good guesses about the possible values.20 Überall schimmert der Computer durch, und man wird etwas höhnisch fest- halten müssen, dass es keineswegs gelungen ist, auf Basis der Schematheorie plausible KI-Programme zu schreiben; die modellhafte Vorstellung, die ent- steht, aber beschädigt dies zunächst nicht. 6. Schemata und aktuelle Wahrnehmung Den Zusammenprall zwischen aktueller Wahrnehmung und den im Gedächt- nis bestehenden Schemata beschreibt Matthes wie folgt: Trifft eine Information auf das Informationsverarbeitungssystem [!], wird zu- nächst das Schema identifiziert, welches am besten auf die einströmende Infor- mation passt. Diese Phase der Schema-Identifikation kann als datengeleitet (bottom up) bezeichnet werden. Welches Schema identifiziert wird, bestimmt, ob und wie diese Information verstanden und eingeordnet wird.21 Interessant nun ist, was passiert, wenn eine eingehende Wahrnehmung Diffe- renzen zum aufgerufenen Schema aufweist. „,When a stimulus configuration“, zitiert Matthes, „,is matched against a schema, elements in the configuration come to be ordered in a manner that reflects the structure of the schema.‘“ Und er setzt fort: „Diese strukturierende Funktion ist die Basis für schema-in- duzierte Erinnerungsleistungen, denn schema-relevante Informationen werden einfacher und schneller erinnert als schema-irrelevante Informationen.“22 Kern der sogenannten ‚Strukturierungsfunktion‘ ist, dass der Abgleich mit den Schemata die aktuellen Wahrnehmungen nicht unberührt lässt. Diese vielmehr werden umgeformt und angepasst; was zum aufgerufenen Schema nicht passt, 20 Ebd., S. 43 f. 21 Matthes (2004), Die Schema-Theorie, S. 547. [Herv. H. W.] 22 Ebd., S. 547. Matthes zit. Shelley E. Taylor/Jennifer Crocker, „Schematic Bases of Social In- formation Processing“, in: Edward Tory Higgins/C. Peter Herman/Mark P. Zanna (Hg), So- cial Cognition: The Ontario Symposium on Personality and Social Psychology, Bd. 1, Hills- dale, NJ, 1981, S. 89-134; in der Rede vom ‚Stimulus‘ regt sich das behavioristische Erbe. 22 HARTMUT WINKLER droht herausgefiltert zu werden. Dies zeigt sich insbesondere dann, wenn un- tersucht wird, wie die Wahrnehmungen wiederum erinnert werden. Ebenso aber scheint auch das Gegenteil möglich zu sein, denn Autoren der 90er Jahre zeigen, dass in bestimmten Fällen „entgegen der ursprünglichen Annahme […] schema-inkonsistente Informationen zu einer höheren Erinne- rungsleistung führen als schema-konsistente Informationen.“23 Auch dies ist plausibel, insofern man sich sicher eher an das erinnert, was der Erwartung widerspricht, was außergewöhnlich oder verblüffend ist. Sieht man vom Sonderproblem der Erinnerung ab, also scheinen zwei Wege mög- lich zu sein: eine Angleichung der Wahrnehmung an die Schemata ebenso wie eine Irritation der Schemata selbst. Dies führt auf die Frage, auf welche Weise sich Schemata ändern. 7. Veränderung von Schemata Sind Schemata einerseits „relativ stabile“ kognitive Strukturen24, findet Mat- thes bei Rumelhart dennoch drei Weisen ihrer Modifikation: Accretion, tunig und restructuring. Accretion bezeichnet das sukzessive Ansam- meln von Faktenwissen, z. B. beim Lernen von Telefonnummern oder Namen. Neue Informationen werden zu einem bereits bestehenden Schema hinzugefügt, ohne dass es zu strukturellen Veränderungen in der Wissensorganisation kommt. Wenn allerdings kein Schema für die neue Information herangezogen werden kann, dann ist Lernen durch accretion nicht mehr effektiv. In diesem Fall muss entweder ein bereits bestehendes Schema modifiziert werden (tuning) oder es wird ein neues Schema gebildet (restructuring).25 Schemata also werden, abhängig von den aktuellen Wahrnehmungen, auch modifiziert; es ist also keineswegs so, dass die Schemata, wie oben gesagt, einfach ‚Macht‘ über die aktuellen Wahrnehmungen haben; sie sind diesen als einer verändernden Kraft auch unterworfen. Zwei weitere Bestimmungen seien nur kurz berührt: Einig ist sich die Kog- nitionstheorie darin, dass Schemata eine Funktion der Entlastung haben. Sche- mata gelten als ökonomisch, gerade mit Blick auf die knappen, mentalen Res- sourcen. Und weiter nennt Matthes als Konsens die erwähnte Strukturierungs- funktion. Schemata strukturieren Erfahrungen und weisen ‚eintreffenden In- formationen‘ eine Bedeutung zu.26 23 Ebd., S. 551. [Herv. H. W.] 24 Ebd. S. 545 und S. 547; „Die Versuchspersonen zeigten wenig Neigung, ihre Schemata um- zustrukturieren, auch dann, wenn die in den Texten [aktuell] vermittelten Informationen in deutlichem Gegensatz zu ihren Alltagstheorien über die betreffenden Gegenstände standen.“ Mandl/Friedrich/Hron (1988), Theoretische Ansätze zum Wissenserwerb, S. 128. 25 Matthes (2004), Die Schema-Theorie, S. 548. 26 Ebd., S. 547. SCHEMABILDUNG 23 8. In den falschen Händen All diese Bestimmungen erscheinen, wie gesagt, durchaus plausibel. Und gleichzeitig ist die Rhetorik der Kognitionstheorie ‒ ‚speichern‘, ‚menschli- cher Informationsverarbeitung‘, ‚Schubladen‘, ‚Stimuli‘ oder ‚Wissen‘ ‒ mehr als fragwürdig. Etwas polemisch kann man sagen, dass die Schematheorie ‒ bei allem vordergründigen Erfolg ‒ bei den Kognitionswissenschaften in die falschen Hände geraten ist. Umso netter zu sehen, dass die Protagonisten am Begriff des Schemas letzt- lich verzweifeln. Auf der Suche nach einer Exaktheit und Operationalisierbar- keit, die der Begriff weder hergibt noch vielleicht hergeben will, scheinen ihre Anhänger in nahezu alle denkbaren Richtungen auseinander zu laufen. Mat- thes’ letzter Teil, der eine Kritik am Schemabegriff versucht, und plausible Punkte mit Kontrollphantasien und der etwas nassforschen Entscheidung, nun doch lieber auf Konnektionismus und/oder Einstellungsforschung zu setzen27, bildet dies exakt ab. Ernst zu nehmen ist sicherlich, dass es ausgesprochen schwierig ist, Schematheorien zur Basis konkreter materialer Analysen zu machen. Wenn Schemata tatsächlich Teil des impliziten Wissens sind, kann es kaum verwundern, dass sie mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung aus ihren Schlupfwinkeln kaum herauszuholen sind. Sieht sich die Kognitions- theorie doch erst in den letzten Jahren und unter dem Druck der Neurowissen- schaften gezwungen, so etwas wie ein Unbewusstes oder Vorbewusstes über- haupt in Erwägung zu ziehen. Weiter tief enttäuschend scheint, dass Schematheorien konkrete Prognosen offensichtlich nicht erlauben. Es sei praktisch unmöglich, die Abstraktions- ebene zu fixieren, auf der Schemata zu vermuten seien (was immerhin daran liegen könnte, dass diese gestuft, also auf unterschiedlichen Ebenen der Ab- straktion operieren); weil es sich um etwas Dynamisches, und eben nicht um etwas Statisches handele, sei mit Iran-Nejad der Langzeit-‚Speicher‘-Charak- ter aufzugeben28 und zu einem vollständig dynamisierten Konzept überzu- gehen: „,[A]ll types of cognitive representations will be found to be flexibly reconstructed in a context-sensitive way rather than retrieved from memory as they were stored – like items buried in a time capsule.‘“29 Entsprechend sei „vom strukturellen [d. h. statischen, H. W.] Aspekt der Informationsverarbei- tung Abstand [zu] nehmen.“30 Das Terrain jeder sinnvollen Schematheorie ist damit verlassen. Wenn Ru- melhart aber fragt, wie ein Schema eine abstrakte Struktur bzw. Wissensreprä- sentation sein kann, „und gleichzeitig ausreichend formbar, um für die ver- 27 Ebd., S. 552 ff., S. 559 und S. 560. 28 Ebd., S. 559. 29 Ebd., Matthes zit. E. R. Smith, „Information Processing on Dynamical Systems. Fondations of Harmony Theory“, in: Journal of Personality and Social Psychology 5, 70 (1996), S. 893- 912. 30 Ebd. 24 HARTMUT WINKLER schiedenen Situationen zuzutreffen“31, so erscheint diese Frage zumindest auf theoretischer Ebene lösbar. Vielleicht ist der Schemabegriff keineswegs ein „begriffliches Monstrum“, das „den Leser mit seinem Wissen über die nicht explizierten Begriffe allein lässt“.32 Und vielleicht eben ist es, wie ich anfangs vermutet habe, kein Defekt, wenn der Schemabegriff eine gewisse Unschärfe braucht, um seine Arbeit zu tun. In meinen Augen handelt es sich beim Schemabegriff um ein Modell, das wie alle Modelle bestimmte Aussagen zulässt und andere durchaus nicht. Meine Behauptung aber ist, dass man mit und über dieses Modell mehr sagen kann, als der referierte Rahmen vermuten lässt. Das Terrain der Kognitionstheorie allerdings wird man dafür verlassen müssen. 9. Essentials In einem ersten Schritt wären einige Linien zu verlängern, die sich im Refe- rierten bereits angedeutet haben. So erscheint zunächst wichtig, dass das Sche- ma Vergangenheit (Erfahrung), Gegenwart (Umgang mit aktuellen Wahrneh- mungen, eingehender ‚Information‘) und Zukunft (Erwartung) auf regelhafte Weise verknüpft. Der Schemabegriff also hat eine notwendig zeitliche Achse. Dies macht es nötig, sich Gedanken zu machen, wie ein Schemabegriff gebaut sein muss, der diese spezifische Zeitstruktur plausibel fasst. Es geht um eine Vorstellung, wie Schemata, die Resultat von Erfahrungen sind, neue Erfahrun- gen gleichzeitig formatieren;33 und die Tücke liegt sicherlich darin, Zyklus und Voranschreiten, Veränderung und relative Stabilität, Diskurs- und Speicher- aspekt zusammenzudenken. Wichtig ist zweitens ein Entstehungsmodell. Hier, denke ich, kann das Schemakonzept von einem nahen Verwandten, dem Stereotypenbegriff, lernen. Während Schemata nämlich leicht als vorgefasst/vorgängig/vorhanden erscheinen, ist klar, dass Stereotypen in einer Kette diskursiver Ereignisse al- lererst ihre Form, ihre Identität und ihre Grenzen gewinnen. Für die Schemata, 31 Ebd., Matthes paraphrasiert David E. Rumelhart/Paul Smolensky/James L. McClelland/Geoffrey Hinton, „Schemata and Sequential Thought Processes in PDP Models, in: James L. McClelland/ David E. Rumelhart and the PDP Research Group (Hg.), Parallel Distributed Processing. Explo- rations in the Microstructure of Cognition, Volume 2: Psychological and Biological Models, Cambridge, MA, 1986, S. 7-57. 32 Ebd., S. 552, Matthes zit. T. Herrmann, „Über begriffliche Schwächen kognitivistischer Kog- nitionstheorien. Begriffsinflation und Akteur-System-Kontamination“, in: Sprache und Kog- nition, 1 (1982), S. 3-14. 33 „Im Zusammenhang mit Wissenserwerb kann man Schemata unter zweifachem Aspekt sehen: als Ergebnis und als Voraussetzung des Wissenserwerbs. Der erste Aspekt ‒ Schemata als Ergebnis des Wissenserwerbs ‒ wurde in der schematheoretischen Forschung bislang sel- ten aufgegriffen.“ Mandl/Friedrich/Hron (1988), Theoretische Ansätze zum Wissenserwerb, S. 124. SCHEMABILDUNG 25 um die es hier geht – für instinktiv festgelegte Wahrnehmungsschemata mag dies anders sein –, gilt wahrscheinlich das Gleiche: Stereotypen und Schemata schichten sich auf; sie sind Verhärtungen im Diskurs, die in der Wiederholung und allein durch die Wiederholung entstehen; und witzig wird das Konzept erst, wenn man es ganz und vollständig von der Erfahrung (und der Wiederho- lung) abhängig macht. Die innere Zeitstruktur (Erfahrung/Wahrnehmung/Erwartung) und die Frage der Geschichtlichkeit der Schemata hängen damit zusammen. Der dritte Punkt, den ich hervorheben möchte, ist noch einmal die Rolle der Abstraktion. Schemata sind immer und notwendig abstrakter als die Wahrneh- mungen, Phänomene oder Ereignisse, die sie ordnen und repräsentieren. Ein Schema kann nur Schema sein, wenn es ein Wiedererkennen erlaubt, also eine Vielzahl von Fällen unter sich fasst. Die Wiederholung selbst, dies habe ich an anderer Stelle herausgearbeitet, ist eine Maschine der Abstraktion. Denn wiederholbar ist nur, was sich von seinem einzelnen Kontext losreißt und emanzipiert. Oder genauer: Die Wie- derholung ist eine Art mechanischer Filter. An jedem konkreten Ereignis trennt sie, was Wiederholung und was nicht Wiederholung ‒ und in letzter Instanz: eben einzigartig ‒ ist. Schemata fallen voll und ganz auf die Seite der Wiederholung. 10. Medien Ich möchte nun in einem nächsten Schritt etwas näher an mein Fach, die Me- dienwissenschaften wechseln. Die Frage nach den Schemata ist innerhalb der Medienwissenschaften ebenso augenfällig wie relevant; so ist vor allem den Massenmedien der Vorwurf des Schematismus gemacht worden, meist vortheo- retisch, oder aber elaboriert bei Horkheimer/Adorno oder bei Prokop im Rah- men einer umfassenden Medienkritik. Augenfällig stellt sich sofort das Problem, dass der Schemabegriff, wie die Psychologie oder die Sozialpsychologie ihn fassen, für die Medien zunächst nicht geeignet erscheint. Geht es doch keineswegs nur um diejenigen ‚Sche- mata‘, die auf Seiten der Subjekte, der Rezipienten in Arbeit sind. Schemata, Schematisierung und Schematismen vielmehr scheinen auch die Produkte zu kennzeichnen; wieder eng am Begriff des Stereotyps, der im Kern meint, dass die Produkte auch anders, auch weniger schematisiert ausfallen könnten. Wenn es also Schemata auf Rezipienten- wie auf Produktseite gibt, stellt sich die Frage, in welcher Relation beide stehen. Schließt man eine schlichte Manipulationstheorie aus, wäre die erste Antwort diejenige Horkheimers/ Adornos einer wechselseitig-zirkulären Bedingtheit oder Entsprechung.34 34 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften. Band 3: Dialektik der Aufklä- rung. Philosophische Fragmente, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M., 1981. [1947] Die zen- 26 HARTMUT WINKLER Polemisch sagen Horkheimer/Adorno, die Kulturindustrie nehme die schema- tisierten Massenbedürfnisse auf, überbiete im Schematismus ihrer Produkte aber die Synthesis, die Kant noch dem transzendentalen Subjekt überantwortet hatte.35 So weitreichend und nach wie vor aktuell diese Polemik ist, es er- scheint sicherlich lohnenswert, den Schemabegriff auch innerhalb der Medienwissenschaften von seinen pejorativen Konnotationen zu lösen, und ich möchte im Folgenden einen Versuch u. a. in diesem Sinn machen. In meinen Augen, und der Untertitel meines Textes kündigt es an, sind Me- dien allgemein, und zwar jenseits von allen Inhalten und jenseits eben einer mehr oder weniger ‚schematisierten‘ Darstellung, Maschinen, die Schemata generieren. Medien haben die Aufgabe, aus Inhalten, d. h. aus dem jeweils Einzelnen, ein auf unterschiedlichen Stufen Allgemeines zu extrahieren. Me- dien, sagt mein Untertitel, sind Maschinen zur Umarbeitung von Inhalt in Form. Allerdings sehe ich ein, dass dies eine Erläuterung braucht. Augenfällig ist zunächst, dass der Mechanismus der Subsumtion, der oben als ein Kern des Schemabegriffs exponiert wurde, für alle symbolisch-medialen Prozesse kenn- zeichnend ist. Medien sind nur insofern Medien, als sie das jeweils zu Begrei- fende unter Schemata fassen. Im Feld der Sprache ist dies evident; Begriffe sind Schemata, die das jeweils zu Begreifende rastern, abstrahieren und auf ein Netz allgemeiner Bestimmungen beziehen. Niemand würde erwarten, dass der Begriff ‚Zebra‘ einem einzelnen Exemplar besonders gerecht würde; der Begriff vielmehr adressiert die Gattung, und schneidet ab, was das einzelne Exemplar von seinen Artgenossen durchaus unterscheidet. Dass Sprache sub- sumiert und dem jeweils Einzelnen Unrecht antut, haben Nietzsche und Ador- no in ihren brillanten Sprachkritiken gezeigt.36 Aber gilt dies tatsächlich für alle Medien? Sind nicht gerade die Bildmedien – Fotografie und Film – angetreten, diesen Defekt, diesen Makel der Sprache zu korrigieren? Folgt man dem Augenschein, kommen Fotografie und Film tatsächlich ohne Subsumtion aus. Anstatt eines Allgemeinen präsentieren sie ein Einzel- nes, das in all seiner Konkretheit und zudem eingebettet in seinen jeweils kon- kreten, nicht austauschbaren Kontext, sich präsentiert. Dies ist die Besonder- heit und die besondere Pointe dieser Medienkonstellation; eine radikale trale Frage Horkheimers/Adornos ist die, warum die Rezipienten dem ihnen Gebotenen zu- stimmen; es geht also keineswegs, wie man immer wieder lesen kann, um ‚Manipulation‘, sondern um einen destruktiven Zirkel zwischen Bedürfnisstruktur und Angebot. (Zur Figur des Zirkels siehe ebd., S. 142, S. 148, S. 155 und S. 168.) 35 Ebd., S. 145. 36 Friedrich Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ [1873], in: ders., Werke in sechs Bänden, Bd. 5, hg. v. Karl Schlechta, München, Wien, 1980, S. 309-322; Adorno, Theodor W., Gesammelte Schriften, Band 6: Negative Dialektik, hg. v. Rolf Tiede- mann, Frankfurt/M., 1982 [1966], S. 7-412. SCHEMABILDUNG 27 Konkretheit, die an die einzelnen nicht-austauschbaren Oberflächen sich bindet. Aber ist dies tatsächlich die letzte Auskunft? Auffällig ist zunächst, dass Fotografie und Film ganz überwiegend exemplarisch verfahren. Das jeweils Einzelne steht fast nie für sich selbst, oder nur für sich selbst, sondern in der überwiegenden Anzahl der Fälle bietet das jeweils konkret Präsentierte Mög- lichkeiten der Verallgemeinerung an. Die gefilmte Kneipe ist konkret, könnte darüber hinaus aber auch jede andere Kneipe sein. Der gefilmte Hund jeder Hund. Und wenn sich der Zuschauer mit dem Darsteller oder der fiktionalen Figur identifiziert, so ist auch dies ein Mechanismus, der aus einem konkreten Einzelnen ein offensichtlich Übertragbares macht. Ähnlich häufig sind Fälle einer Logik der Metonymie/Synekdoche, die aus Teilen ein Ganzes und aus benachbarten Konkreta ein versteckt Allgemeines macht. Daneben sind alle denkbaren Stufen von Allegorien möglich; wenn vor dem Amtsgericht ‒ mit verbundenen Augen ‒ eine ‚Justitia‘ steht, und diese für das abstrakte Prinzip der Gerechtigkeit allgemein, so kann man sagen, dass das Kino von Justitiae nur so wimmelt. Die radikale Konkretion der Ober- flächen ist Realität – und gleichzeitig Schein. Und noch deutlicher wird dies, sobald man auf die Seite der Rezipienten wechselt. Wenn schon die Gestalttheorie lehrt, dass alles Wahrnehmen Wie- dererkennen ist, so impliziert dies, dass hinter, unter und jenseits des Kon- kreten jeweils ein Schema waltet (auch wenn dies ausdrücklich nicht die letzte Auskunft zum Wahrnehmungsprozess insgesamt ist). Aber kann dies ein Wunder sein? Sind wir damit nicht dort, wo wir losgelaufen sind, zurück auf dem Terrain der Psychologie? 11. Galton Dass es tatsächlich um das materielle Funktionieren der Medien geht und keineswegs eben ‚nur‘ um die weichen Prozesse in der menschlichen Seele, sei an einem zusätzlichen Beispiel zumindest illustriert. In den 90er Jahren präsentierte die Magazinbeilage der ‚Zeit‘ ‒ pikanter Weise unter dem Etikett ‚Schönheit, was ist das?‘ ‒ die auf der nächsten Seite folgende Abbildung37. Im Konkreten handelt es sich um ein sogenanntes Mischportrait, das aus den 16 Bildern links durch schlichte Überlagerung das große Bild auf der rechten Seite erstellt. Die Technik der Kompositfotografie geht auf den engli- schen Naturforscher Francis Galton (1822-1911) zurück, der das kriminologi- sche Projekt hatte, aus Tausenden von Fotografien von Verbrechern „die Ge- 37 Dieter E. Zimmer, „Schönheit, was ist das?“, in: Die Zeit – Magazin, Nr. 2, 05.01.1996, S. 8- 15: 10. 28 HARTMUT WINKLER sichtszüge [zu ermitteln], die mit verschiedenen Arten von Kriminalität ein- hergingen.“38 Ewen/Ewen, die in ihrem brillanten Buch Typecasting die Produktion von Stereotyp und Vorurteil und die Allianz von Wissenschaftsgeschichte und Populärkultur untersuchen39, ordnen Galton in die problematische Geschichte anthropologisch-physiognomischer Forschungen ein: Galtons Verfahren verdankte vieles den statistischen Neuerungen, denen Adolphe Quetelet über 30 Jahre zuvor den Weg geebnet hatte. […] 1844 hatte Quetelet unter Anwendung des aus der Astronomie bekannten Gauß’schen Feh- lergesetzes die Brustkorbgröße von 5000 schottischen Soldaten gemessen. Jeder Soldat hatte seine individuellen Abmessungen, aber zusammengenommen er- möglichten diese Daten […] die Ermittlung der Körpermaße des „normalen Sol- daten“ oder „Durchschnittssoldaten“. Während also jedes Mitglied einer gegebe- nen Gruppe seine oder ihre persönlichen Besonderheiten hatte, konnten laut Quetelet die „Durchschnittsmerkmale“ dieser Gruppe ermittelt werden, indem die Individuen zu einem „Idealtypus“ verrechnet wurden.40 Galton musste das numerische Verfahren Quetelets nur ins optische Medium der Fotografie übersetzen, um aus konkreten Portraits von Verbrechern den Typus des Verbrechers zu extrahieren. Ewen/Ewen zitieren Galton: 38 Elisabeth Ewen/Stuart Ewen, Typen & Stereotype. Die Geschichte des Vorurteils, Berlin, 2009. [Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2006 bei Seven Stories Press in New York unter dem Titel Typecasting: On the Arts & Sciences of Human Inequality. A History of Dominant Ideas.] 39 Ebd. 40 Ebd., S. 287. SCHEMABILDUNG 29 „Wenn wir die aus dem selben Blickwinkel und unter denselben Lichtverhältnis- sen aufgenommenen Porträts von zwei oder mehreren Personen nehmen und … wenn wir sie in verschiedene Projektionsapparate stecken, die ihr Bild auf die- selbe Leinwand projizieren und sie sorgfältig einstellen ‒ zuerst, um sie auf den- selben Maßstab zu bringen, und dann, um sie so genau übereinander zu projizie- ren, wie es die Umstände zulassen – dann vermischen sich die unterschiedlichen Gesichter erstaunlich gut zu einem einzigen Antlitz. Wenn sie nicht sehr unter- schiedlich sind, macht das gemischte Ergebnis immer einen seltsamen Eindruck von Individualität und ist erstaunlich scharf gezeichnet; es gleicht keinem seiner Bestandteile genau, hat aber eine Art Familienähnlichkeit mit allen und stellt ein idealtypisches Durchschnittsportrait dar.“41 Von der Kriminologie zur Schönheit ist es für die ‚Zeit‘ nur ein kurzer Weg. Und beides scheint eine Frage allein der Typisierung zu sein. Interessant er- scheint mir, dass es im Fall der Schönheit nicht allein um den Idealtypus, son- dern ‒ ganz wörtlich ‒ um ‚Ideale‘ geht. Die statistische Überlagerung erweist sich als ein Mechanismus der Idealisierung. Und unterstellt, dass unser Schön- heitsempfinden tatsächlich schematisierend/statistisch verfährt, wäre zu fol- gern, dass es sich auch hier um Ökonomie, also letztlich um Denkfaulheit han- delt. Wie immer man zu Galton und seinen Forschungen steht: Was ich an sei- nem Beispiel zu zeigen versuche, ist, dass es regelhafte Übergänge zwischen Medientechniken und Schemabildung, technischen und psychischen Vorgän- gen, gibt. (Womit ich keineswegs impliziere, über das Verhältnis beider sei damit alles gesagt, beide seien kausal verbunden, gingen ineinander auf, oder seien auch nur direkt kompatibel). Der Schemabegriff eben fällt keineswegs einfach auf die Seite der Rezi- pientenpsychologie; Galton vielmehr zeigt, dass das relativ schlichte Mittel der Wiederholung/Akkumulation etwas produziert, das wir intuitiv als Prozess der Schemabildung anerkennen würden. Doch genauer: Das Verfahren setzt ein gewisses Maß an Ähnlichkeit durchaus voraus; so wäre es sicherlich un- möglich, aus einem Postauto, einem Baum und einem Meerschweinchen eine plausible Kompositfotografie zu gewinnen. Und gleichzeitig ‒ und dies ist bemerkenswert ‒ stellt die Komposit- fotografie das tertium comparationis allererst her. Dies deutet darauf hin, dass in beliebigem Material allein nach dem Maßstab empirisch auftretender Ähn- lichkeit/Wiederholung die Schemabildung anlaufen kann.42 Der Mechanismus scheint damit in einzigartiger Weise robust: Er scheint weder an eine be- stimmte Ebene von Abstraktion gebunden zu sein, da er diese Abstraktion als einen Effekt der Ähnlichkeit/Wiederholung/Kumulation selbst produziert. Und 41 Ebd., S. 288. 42 „Anlaß für den Prozeß der Schemainduktion ist in vielen Fällen die Wahrnehmung von Regu- larität und Ordnung in der Umwelt.“ Mandl/Friedrich/Hron (1988), Theoretische Ansätze zum Wissenserwerb, S. 128. 30 HARTMUT WINKLER er erscheint ‒ auch das hatte den Kognitivismus ja in einige Verwirrung ge- stürzt ‒ im selben Maß dynamisch/resultatoffen wie träge/stabil. Schemabildung stellt aus einer Fülle von Konkreta ein dynamisch Allge- meines her. Sie ist – die These dürfte nun plausibler sein – eine Maschine zur Umarbeitung von Inhalt in Form.43 Und Schemabildung scheint das Allgemeine nicht nur zu produzieren, sondern selbst der denkbar allgemeinste aller Abstraktionsmechanismen zu sein. 12. Medienunterschiede Mein Schlussgedanke nun soll der Frage gelten, auf welche Weise das Gesagte zur Klärung auch von Medienunterschieden, Medienspezifika beitragen kann. Mein Fach ist durchaus reich an ungeklärten Fragen; neben der wohl obszönsten ‒ was denn, bitte, ein Medium überhaupt sei ‒ rangiert sicher diejenige, warum es überhaupt unterschiedliche Medien, Medien im Plural, und also Medienunter- schiede, gibt. Auf diese Frage kann der Schemabegriff eine verblüffende, und, wie ich meine, sehr weitreichende Antwort liefern. Zunächst fällt auf, dass sich in den Medien unterschiedliche Niveaus von Schemata und Schematisierung finden. Den ‚hart‘ schematisierten Medien und symbolischen Systemen ‒ Schrift, Zahlen, Daten, Formalsprachen oder Mathematik ‒ stehen andere gegenüber, die nur ‚weiche‘ Mechanismen der Schematisierung kennen; in Fotografie und Film sind Stereotypen oder Genre- 43 Den Zusammenhang von Wiederholung, Abstraktion, Form und Formalisierung habe ich ausgeführt in: Hartmut Winkler, Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien, Frankfurt/M., 2004, S. 147 ff. SCHEMABILDUNG 31 regeln wirksam, in der Realwahrnehmung die Gestalterkennung, konstituierte ‚Zeichen‘ aber gibt es nicht. In einer ersten Summe ergibt sich oben stehendes Bild44. So grob (schematisch?) die Zuordnung zunächst ist, so evident erscheint, dass es sich um ein Kontinuum, um Stufen der Verhärtung handeln könnte. Das Maß der Schematisierung nimmt in Stufen zu. Der Knackpunkt scheint der Begriff des Zeichens (der die oberen, ‚harten‘ Stufen von den unteren, ‚weichen‘ trennt). Dass Schrift über konstituierte Zei- chen verfügt, Fotografie und Film aber eben ohne diese operieren, wäre im Licht der Schematheorien neu zu beschreiben. Die Pointe könnte sein, den Begriff des Zeichens selbst auf neue Weise auf- zufassen. Als eine Stufe der Verhärtung eben, wo die Schemata dasjenige Ni- veau erreichen, dass sie ‒ wie in einer chemischen Reaktion ‒ als konstituierte Zeichen quasi ausgefällt werden. Erst auf einem bestimmten Niveau von Ver- härtung also kann man überhaupt von ‚Zeichen‘ sprechen. Eine zweite Grafik versucht die chemische Metapher der Ausfällung ernst zu nehmen45: 44 Hartmut Winkler, Basiswissen Medien, Frankfurt/M., 2008, S. 258. 45 Ebd., S. 271. 32 HARTMUT WINKLER Eine dritte schließlich macht den Knackpunkt deutlich46: Was aber ist es, das am Punkt des ‚Sprungs‘ konkret geschieht? Was ‒ letzt- lich ‒ trennt die linke ‚weiche‘ von der rechten ‚harten‘ Seite?47 46 Ebd., S. 272. 47 Ebd. SCHEMABILDUNG 33 Meine Antwort wäre, strikt im Korridor der Schematheorie, dass ‚links‘ die Mustererkennung auf die Seite des Rezipienten fällt; nur er ist in der Lage, Schemata und Stereotypen in Material zu identifizieren. Was im Material ent- halten ist, sind ‚Ähnlichkeit‘ und Wiederholung selbst, da die konkreten Wie- derholungsakte aber streuen und Ähnlichkeit zudem Verhandlungssache ist, bleibt es in seiner Hand – abhängig von seinem Set mentaler Schemata ‒, ob die Wiederholung als Wiederholung erkannt wird und das Bewusstsein er- reicht, ob das Ereignis subliminal in die Schemabildung eingeht, oder ob es ohne jede Wirkung auf die Struktur ‒ Rumelhart hatte von ‚accretion‘ gespro- chen ‒ Einzelereignis bleibt und wahrscheinlich verglüht. Erst im Akt der Wiedererkennung des Schemas wird dieses aus dem Kontinuum des Materials freigestellt, ‚segmentiert‘. Auf der ‚rechten‘ Seite des Schemas liegen die Dinge anders. Hier sind die Muster zeichenhaft vorgeprägt, Teil des Codes, und werden mit dem Produkt bereits fertig geliefert. Auch die ‚Segmentierung‘, die Freistellung gegenüber dem Kontext, ist vom Code bereits fertig geleistet. Wie sich an den Leerräu- men, die die Buchstaben und Worte trennen, unschwer ablesen lässt. Knackpunkt ist insofern nicht das Zeichen selbst, sondern der Mechanismus, wie es seine Identität und seine Grenzen gewinnt. Beide, Identität und Gren- zen, sind Resultat der Schemabildung und Wiederholung selbst; einer Sche- mabildung allerdings, die weit vorangeschritten ist, und sich ‒ konventionali- siert und institutionalisiert ‒ zu einem Code verhärtet hat. Die Schwierigkeit ist, dass man dem Code, ist er einmal konstituiert, seine ‚weiche‘ Schemaver- gangenheit nicht mehr ansehen kann; nur die Theorie kann sie wahrscheinlich machen, mit der Eleganz des Modells und mit mehr oder minder guten Grün- den behaupten. (Einen Kommunikationswissenschaftler wie Matthes aller- dings, dies sei zugegeben, wird dies kaum überzeugen; und vielleicht ist es gut, dass es als Alternative noch die ‚Einstellungsforschung‘ gibt). 13. Schluss Wenn die These irgend plausibel ist, dass der Begriff des Zeichens an die Schematheorie anschließbar ist, bedeutet dies im Kern vor allem eine Enthier- archisierung der Medien. ‚Härtere‘ Schemata sind eben in keiner Weise ‚bes- ser‘ oder ‚schlechter‘ als deren Vermeidung. Auszugehen ist vielmehr von einer strikten Komplementarität, von der These, dass die unterschiedlichen Medien exakt das tun, was die andersgearteten Medien nicht können. Es ist auffällig, dass Fotografie und Film, die auf die radikale Konkretion setzen und eben ohne konstituierte Zeichen operieren, historisch eine Reak- tionsbildung auf 5000 Jahre Schrift- und 350 Jahre Druckuniversum sind. 34 HARTMUT WINKLER Fotografie und Film entstehen im Rücken der Sprache, und exakt dort, wo die radikale Sprachkritik Nietzsches, Hofmannsthals und Adornos den syste- matischen Defekt konstituierter Zeichen sieht. Als ein stabil konventionali- siertes System ist die Sprache an die Gesellschaft gebunden. Zu sprechen (und in der Sprache wahrhaft zu sein), sagt Nietzsche, heiße, „die usuellen Meta- phern zu brauchen“48, „[n]ur durch das Vergessen jener primitiven Metaphern- welt, nur durch das Hart- und Starrwerden einer ursprünglichen, in hitziger Flüssigkeit […] hervorströmenden Bildermasse […] lebt [der Mensch] in eini- ger Ruhe, Sicherheit und Konsequenz.“49 Wenn die Zeichen tatsächlich durch ‚Hart- und Starrwerden‘ eines ur- sprünglich Flüssigen entstehen, kann die Schematheorie exakt das tun, was unserem Alltagsbewusstsein so schwer fällt: Zurückzugehen hinter die einmal konstituierten Formen und zu zeigen, wie es zu dieser ‚Verhärtung‘ kommt. Literatur Adorno, Theodor W., Gesammelte Schriften, Band 6: Negative Dialektik, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M., 1982, S. 7-412. [1966] Bartlett, Frederic C., Remembering. A Study in Experimental and Social Psychology, Cambridge, New York, NY, 1995. [1932] Ewen, Elisabeth/Ewen, Stuart, Typen & Stereotype. Die Geschichte des Vorurteils, Berlin, 2009. [Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2006 bei Seven Stories Press in New York unter dem Titel Typecasting: On the Arts & Sciences of Human Inequality. A History of Dominant Ideas.] Eysenck, Michael W./Keane, Mark T., Cognitive Psychology – A Student’s Handbook, 4. Aufl., Hove, 2002. Halbwachs, Maurice, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt/M., 1985. [1925] Ders., Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt/M., 1991. [1950] Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W., Gesammelte Schriften. Band 3: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M., 1981. [1947] Mandl, Heinz/Friedrich, Felix/Hron, Aemilian, „Theoretische Ansätze zum Wissenser- werb“, in: Heinz Mandl/Hans Spada (Hg), Wissenspsychologie, München, Wein- heim, 1988, S. 123-160. Matthes, Jörg, „Die Schema-Theorie in der Medienwirkungsforschung: Ein unscharfer Blick in die ‚Black Box‘?“, in: Medien und Kommunikationswissenschaft 52, 4 (2004), S. 545-568. Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. v. Ansgar Nünning, Stuttgart, Wei- mar, 1998. 48 Nietzsche (1980), Über Wahrheit und Lüge, S. 314. 49 Ebd., S. 316. SCHEMABILDUNG 35 Minsky, Marvin, Mentopolis, Stuttgart, 1990. [1985] Nietzsche, Friedrich, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ [1873], in: ders., Werke in sechs Bänden, Bd. 5, hg. v. Karl Schlechta, München, Wien, 1980, S. 309-322. Rumelhart, David E./Norman, Donald A., Accretion, Tuning, and Restructuring: Three Modes of Learning, in: John W. Cotton/Roberta L. Klatzky (Hg.), Semantic Factors in Cognition, Hillsdale, NJ, 1978, S. 37-53. Wikipedia Deutschland, „Eintrag: Schema“, online unter: http://de.wikipedia.org/wi ki/Schema, zuletzt aufgerufen am 20.05.2011. Dass., „Stichwort: Schema (Psychologie)“, online unter: http://de.wikipedia.org/wiki/ Schema_(Psychologie), zuletzt aufgerufen am 20.05.2011. Winkler, Hartmut, Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien, Frankfurt/M., 2004. Ders., Basiswissen Medien, Frankfurt/M., 2008. Zimmer, Dieter E., „Schönheit, was ist das?“, in: Die Zeit – Magazin, Nr. 2, 05.01.1996, S. 8-15. ROLF F. NOHR SPRUDELNDE ÖLQUELLEN, DENKENDE GEHIRNE UND SIEGREICHE SPERMIEN – DIE PRODUKTION VON EVIDENZ (UND DEREN THEORIEN) 1 – InstaTrak™ – Werbeanzeige von General Electrics „Ihr Arzt kann jetzt sehen, wie Sie denken.“ Mit diesem Slogan wirbt der Me- dizingerätehersteller General Electric Medical Systems für sein CT-Scanner basiertes Image Guided Surgery System InstaTrak (vgl. Abb. 1). Nicht nur, 38 ROLF F. NOHR dass unser Arzt also unser Denken sehen kann – auch wir selbst können uns beim Denken zusehen. Und mehr noch: Der CT-Scan zeigt uns ein Bild, das wir ebenso benutzen wie wir es nützlich finden. Es ist ein Bild, das uns seine Botschaft unmittelbar, unverstellt, fast ‚natürlich‘ zu übermitteln scheint. Mit dieser Werbung ist ein gesellschaftlicher und medialer Effekt aufgerufen, der unter dem Oberbegriff der ‚Nützlichkeit‘ von Bildern verhandelt werden soll: Die Herstellung einer Augenscheinlichkeit, einer Evidenz, die im Bild und im Symbolischen zu liegen scheint – einem Bild, das zunächst und vage nicht auf einer symbolischen Vereinbarung, einer arbiträren Abbildhaftigkeit oder stabi- len Referenz beruht. Von Interesse ist hierbei die Frage, warum wir dieses Bild so intuitiv ver- stehen, warum wir annehmen, hier ‚unser Denken‘ sehen zu können. Die Ant- wort ist naheliegend: Nicht etwa, weil wir über spezialisiertes medizinisches Wissen oder eine ausgebildete Lesekompetenz bildgebender technischer Ver- fahren verfügen, sondern weil wir dieses Bild (und viele andere Formen von spezialisierten Visualisierungsformen) in unser Alltagswissen integriert haben. 2 – Titelbild der Neuen Apotheken Illustrierte vom 15. Februar 2006 PRODUKTION VON EVIDENZ 39 An Zeitungskiosken und in Magazinen, in Wissenschaftssendungen im Fern- sehen, in Fernsehserien, Kinofilmen oder eben in der Apotheken-Illustrierten (vgl. Abb. 2) haben wir medizindiagnostische Bilder erklärt bekommen, wur- de uns das Benutzen und die Benutzbarkeit dieser Bilder ‚didaktisiert‘ so oft vor Augen geführt, dass diese Bildkategorie selbstverständlich zu unserem Alltag zu gehören scheint. Diese Nützlichkeit beschränkt sich aber nicht nur auf CT-Visualisierungen. Wir verhandeln über ein ganzes Cluster von Bildern oder Visualisierungsformen: Gewundene DNS-Stränge, vielfarbige Fraktal- grafiken, multispektrale Satellitenbilder, Computertomografien, Viren und Mi- kroben unter hochvergrößernden (Elektronen-)Mikroskopen oder anatomische Schnittbilder sind Teile populärer Diskurse geworden. Diese Bilder aus dem Labor1 (im Sinne einer spezialisierten Wissensproduktion) entfalten in der me- dial befeuerten Öffentlichkeit eine bedeutungsproduktive Kraft – und sie wer- den dabei funktionalisierbar, nützlich. Worum es mir geht, ist aber genau nicht exklusiv dieser medizinische und ingenieurwissenschaftliche Diskurs von Bild- produktion; auch wenn sich aktuelle Theoriedebatten fast ausschließlich um sie zu drehen scheinen. Es geht mir um alle Bilder, die solche Evidenzerfahrungen stiften können. Ich möchte im Folgenden darüber nachdenken, wie Bilder und symbolische Systeme Evidenz als Geste, Behauptung und als Verfahren moderner Medienkulturen produzieren. Ich möchte dabei eine Trennung vor- nehmen zwischen einer idealen (oder besser: epistemischen) Evidenz, also der Erfahrung einer unmittelbaren Wahrheit in der Anschauung der Dinge, und einer Evidenz als produzierter, schematisierter oder manufakturierter Geste populärer und visueller Kulturen – einer produzierten oder diskursiven Evi- denz.2 Es geht mir jedoch nicht darum, diese Unterscheidung in irgendeiner Weise als eine normative Trennung zwischen dem ‚Schönen, Wahren und Gu- ten‘ einerseits und einem ‚billigen rhetorischen Trick‘ andererseits darzustel- len. Vielmehr interessiert mich eine Evidenz, die ich als unmögliche Evidenz vorstellen möchte. Im Vorgriff auf meine Darlegungen könnte hier also schon einmal die These formuliert werden, dass Evidenz per se unmöglich ist, dass aber aus dieser Unmöglichkeit eine Art von Sehnsucht entsteht, mit einer evi- denzähnlichen Rhetorik diese Unmöglichkeit zu kompensieren. Intellektuelle Anschauung Über die Möglichkeit von (idealer) Evidenz zu spekulieren bedeutet, sich auf ein philosophiegeschichtliches Motiv zu beziehen, das in seiner Ausführlich- 1 Der Begriff des Labors soll im Folgenden den ‚Ort‘ bezeichnen, an dem sich etwas Visuelles im Prozess der Denknotwendigkeit als Konsequenz des Prozesses niederlegt, einschreibt oder materialisiert. 2 Vgl. dazu Ludwig Jäger, „Schauplätze der Evidenz: Evidenzverfahren und kulturelle Seman- tik. Eine Skizze“, in: Michael Cuntz/Barbara Nitsche/Isabelle Otto/Marc Spaniol (Hg.), Die Listen der Evidenz (Mediologie, 15), Köln, 2006, S. 37-52. 40 ROLF F. NOHR keit hier nicht reproduziert, in seiner Tragweite und Denkungstiefe nicht in Ansätzen ausgelotet werden kann. Da ich im Wesentlichen an Evidenz als (medialem) Verfahren interessiert bin, und es mir daher auch eher um die Pro- bleme einer ‚anwendungsorientierten‘ Evidenzkritik geht, werde ich mich in meiner Argumentation schnell auf einen Ad-hoc-Begriff der Evidenz verla- gern. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die pragma- tischste und gegenstandsorientierteste Evidenzdefinition dennoch auf dem Rü- cken zumindest eines Riesen steht. Im Wesentlichen wäre hier Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft aufgerufen. Hier ist die Evidenz eine Funk- tion, die der Anschauung nachgelagert ist. Im Idealismus ist die Anschauung die Fähigkeit zur unmittelbaren Erkenntnis der Prinzipien unseres Wissens und der Wirklichkeit: Anschauung, intellektuale (oder intellektuelle), bedeutet eine übersinnliche, geis- tige, aber doch anschaulich-unmittelbare Erfassung des Wesens eines Objekts, ein schauendes Denken, denkende Selbstbesinnung auf das, was in uns eigent- lich vorgeht, wenn wir allgemeine Urteile fällen, Grundbegriffe (Kategorien) ge- brauchen. Die intellektuale Anschauung, weit entfernt eine mystische Kraft zu sein, beruht auf einer logischen Betätigung der Phantasie, welche das Typische, die Idee einer Sache intuitiv, in einem Akte heraushebt und klar macht.3 Gerade bei Kant erhält die intellektuelle Anschauung eine zentrale Kontur. Er weist der Frage nach der sinnlichen Anschaulichkeit von Erkenntnis eine zen- trale Position zu. Das Denken in Begriffen – so Kant – bezieht sich von sich aus auf seine Bildlichkeit. Das heißt, das Denken konvergiert ins Bildliche. Der Verstand selbst schaut die Begriffe in ihrer Bildlichkeit an, er arbeitet mit begrifflich strukturierten Bildern. Sprachliche Logik und Bild fallen so in eins. Wissen wird an Sprache und Bild geknüpft, es entsteht eine Schematisie- rung.4 Begriffe beziehen sich auf jene Bilder (beziehungsweise Anschauun- 3 Eintrag „Anschauung“, in: Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Bd. 1 und 2, 2. völlig neu bearb. Aufl., Berlin, 1904, S. 41-43. 4 Der Schematismus bezeichnet bei Kant die Verfahrensweise der Einbildungskraft, durch die Anschauungen und Kategorien aufeinander bezogen und so bildhafte Vorstellungen gebildet werden können. Das Schema liefert die Regel, nach der die Einbildungskraft die Begriffe in Vorstellungen anschaulich werden lässt: „Das Schema ist an sich selbst jederzeit nur ein Pro- dukt der Einbildungskraft; aber indem die Synthesis der letzteren keine einzelne Anschauung, sondern die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht hat, so ist das Schema doch vom Bilde zu unterscheiden. So, wenn ich fünf Punkte hintereinander setze ….., ist dies ein Bild von der Zahl fünf. Dagegen, wenn ich eine Zahl überhaupt nur denke, die nun fünf oder hundert sein kann, so ist dieses Denken mehr die Vorstellung einer Metho- de, einem gewissen Begriffe gemäß der Menge (z. E. Tausend) in einem Bilde vorzustellen, als dieses Bilde selbst, welches ich im letzteren Falle schwerlich würde übersehen und mit dem Begriff vergleichen können. Diese Vorstellung nun von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das Schema zu die- sem Begriffe. In der Tat liegen unseren reinen sinnlichen Begriffen nicht Bilder der Gegen- stände, sondern Schemate (sic!) zum Grunde“. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernuft I, in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Werkausgabe in 12 Bänden, Band. III, Frankfurt/M., 1981 [1781], S. 189. Ich hebe hier so ausführlich auf den Begriff des Schematismus ab, da dieser zu einem späteren Zeitpunkt der Argumentation nochmals aufgegriffen werden soll. PRODUKTION VON EVIDENZ 41 gen), die vom Schema der verstandesmäßigen Vorstellung formatiert werden. Der Verstand schaut ein begrifflich strukturiertes Bild an und begreift es in ei- ner auf die eigene Bildproduktion gestützten Sprache. Die darin wohnende eigentliche Differenz, die dem anschaulichen Denken vorausgeht, wird suspendiert: „Das Denken sieht und begreift, ‚wie es sich er- scheint, nicht wie es ist‘. Das Ineinandergreifen von Begriff und Bild, Sinn- haftem und Sinnlichem kann ihrerseits nicht begriffen oder angeschaut wer- den.“5 Daraus entsteht eine Unmöglichkeit einer intellektuellen Anschauung. Die eigentliche intellektuelle Anschauung wäre eine, die das Ineinander von Idee, Begriff und Bild, Sinnhaftem und Sinnlichen zu entwirren in der Lage wäre. Was ist nun die Konsequenz für das Evidente? Evidenz wäre, Kants Ar- gument folgend, nur eine rhetorische Funktion, die etwas herstellt – nämlich eine intellektuelle Anschauung der Dinge –, was per se nicht gegeben sein kann. Diese „unmögliche Evidenz“6 wird so zu einem Fluchtpunkt für die Er- kenntnistheorie selbst, aber eben auch für eine Debatte über Wissenschaft, die nach der Vereinigung von Sinnlichkeit und Intellekt, doch zunächst unmöglich erscheint: ,Unmögliche Evidenz‘ ist eine Evidenz, die nicht von vorneherein gegeben ist, nicht gottgegeben sich einstellt, sondern figuriert wird, wobei ihrer Figuration, sobald man sie als solche betrachtet, die Definition schon eingeschrieben ist.7 Hier wird nun auch deutlich, warum der kurze Ausflug in die Theoriebildung Kants lohnt: Kern der Evidenzdebatte ist die Ausgangsposition, dass die Pro- duktion und Darstellung von Wissen keine zwei voneinander unabhängigen Prozesse sind. Als ein zentrales Problem tritt hervor, inwieweit Wissen so und nicht anders als Wissen gelten, das heißt, wie es seine eigene Kontingenz bewältigen kann […]: Wissen verlangt nach ‚Evidenz‘; die Generation von Wissen geht mit der Fi- guration von Evidenz einher.8 Nützliche Bilder Eine solche Diskussion ist nun einerseits zeitlos und durchzieht und speist die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie traditionell. Andererseits scheint ein solches Nachdenken aber gerade in unserer zeitgenössischen visuellen Kultur eine gewisse Konjunktur zu erleben. In einer Kultur, die sich als „visuelle“, 5 Sibylle Peters/Martin Jörg Schäfer, „Intellektuelle Anschauung – unmögliche Evidenz“, in: dies. (Hg.), ‚Intellektuelle Anschauung‘. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wis- sen, Bielefeld, 2006, S. 9-24: 14. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd., S. 9. 42 ROLF F. NOHR „mediale“ oder wahlweise „kommunikative Kultur“ begreift, scheint die Be- schäftigung mit dem Wissen, seiner Darstellung und den Prämissen seiner in- tersubjektiven Geltungsmachung nahe liegend. Forciert wird diese Konjunktur der Evidenzreflexion zudem – so könnte man spekulieren – durch die Legiti- mationskrise der Geisteswissenschaften. Auch darauf wird noch einzugehen sein. Von Interesse im Rahmen meines Nachdenkens über Nützliche Bilder ist weniger, welche Bedeutungsverschiebungen in der Diffusion vom Labor oder vom Denken zur populären Zirkulation der Bilder auftreten.9 Vielmehr interes- sieren mich die Bedeutungsentfaltungen eines spezifischen Bilderkanons in der populären, visuellen Medienkultur. Denn dieser Bilderkanon fällt nicht nur durch seine spezifische ‚ästhetische‘ Präsenz auf, sondern auch dadurch, dass ihm bildliche Überzeugungskraft innezuwohnen scheint: Diese Bilder erschei- nen augenscheinlich, intuitiv lesbar – evident. Sind Nützliche Bilder also evi- dente Bilder? Stellen sie eine Gegenposition zu den immer beliebigeren, im- mer entkräfteteren Bildern unserer Medienwelt und unserer visuellen Kultur dar? Oder sind sie, wie Gottfried Boehm sie (unverholen normativ) charakteri- siert, „schwache Bilder“, welche Konstrukte eines didaktischen Verfahrens seien und „Eindeutigkeit“ beabsichtigten?10 Ich würde dafür plädieren, dieses Phänomen der Nützlichkeit oder des Evi- denten zunächst als ein Phänomen des Symbolischen zu begreifen. Die vor- gebliche Nützlichkeit und Augenscheinlichkeit entsteht meines Erachtens zu- nächst im Rahmen einer diskursiven Konstellation. Meines Dafürhaltens müs- sen wir zunächst den Prozess ergründen, wie auf der Ebene der intersubjekti- ven Zirkulation des Symbolischen solche spezifischen Effekte der Augen- scheinlichkeit oder der Relevanzbehauptung entstehen. Ich vertrete die An- sicht, dass die Anmutung der Nützlichkeit und Evidenz zunächst einmal ‚nur‘ ein Effekt des Spiels der Diskurse ist, dass also Evidenz ein Effekt symboli- scher Grammatiken, Automatismen, Schemata und Iterationen ist. Ich meine allerdings auch, dass wir jenseits dieser ‚maschinellen‘ Verfahren noch auf ei- nen Überschuss treffen, der ebenso der Reflexion bedarf – wenngleich dieser Überschuss nicht unbedingt auf eine Trennung in starke und schwache Bilder hinführt oder in eine Unterscheidung in ‚wahre‘ und ‚unwahre‘ Bilder leiten wird. 9 Und keineswegs ist diese Bewegung linear oder gerichtet (vom Labor in die Medien). Viel- mehr zirkulieren diese Bilder, wildern und mäandrieren durch die Gesellschaft und wirken zu guter Letzt auch in die Labore zurück: kein Großgeräteantrag bei der DFG mehr ohne beein- druckende und bunte Bilder. 10 Gottfried Boehm, „Zwischen Auge und Hand: Bilder als Instrument der Erkenntnis“, in: Bet- tina Heintz/Jörg Huber (Hg.), Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wis- senschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich, 2001, S. 43-54: 53. PRODUKTION VON EVIDENZ 43 Evidenz/evidence Um über den Zusammenhang von Wahrheitsanmutung, Nützlichkeit und Son- derstatus dieser Bilder nachzudenken, scheint es angebracht, zunächst einen Ad-hoc-Begriff der Evidenz zu etablieren. Evidenz scheint einer der Medien- funktionalismen zu sein, der die Sprechweise populärer, aktueller Mediensys- teme gewährleistet. Durch eine Reihe von Ad-hoc-Analysen lassen sich in einem ersten Zugriff Figuren der Evidenz in Medien charakterisieren. Evidenz wäre demnach eine Art von Zeigehandlung, die mediengestützt (wenn nicht gar medienspezifisch) einen Wahrheitsbeweis mit dem Medium im Medium herstellt. 3 – Die ,BP-spillcam‘: Live feeds from remotely operated vehicles (ROV) Als ein signifikantes Ereignis lässt sich das Livestreaming des Unterwasser- bohrlochs im Golf von Mexiko heranziehen (vgl. Abb. 3). Genauer gesagt: Die daran anhängige Auseinandersetzung um die Herstellung von Sichtbar- keit. Die durch die Explosion der Ölbohrplattform Deepwater Horizon am 20. April 2010 verursachte Ölpest im Golf von Mexiko 2010 war nicht zuletzt 44 ROLF F. NOHR auch Auslöser einer Auseinandersetzung zwischen der US-amerikanischen Regierung beziehungsweise einem öffentlichen Interesse an einer möglichst umfassenden Aufklärung und Sichtbarkeit der Katastrophe, ihren Auswirkun- gen und den Bemühungen um ihre Eindämmung und den Interessen der (ver- ursachenden und verantwortlichen) Firma BP, die Ursachen, Ausmaße und Folgen der Katastrophe in der Berichterstattung zu begrenzen, um den eigenen Marktwert nicht noch substanzieller zu schädigen. Diese Auseinandersetzung zwischen einem Primat ultimativer Sichtbarkeit (als Quintessenz eines investi- gativen, medial befeuerten und politisch motivierten Diskurses) und möglichst radikal eingeschränkter Sichtbarkeit (als Quintessenz eines ökonomisch moti- vierten PR- und Marketing-Diskurses) kulminierte im Kampf um ein ikoni- sches Bild für das ‚Ereignis Ölpest‘. Es wäre zu erwarten gewesen, dass sich ein solches Bild aus einem bestimmten konventionalisierten Repertoire an Me- dienbildern generieren würde, die eine bestimmte ‚Passung‘ zum genuinen Er- eignis aufweisen und die in Form von Stereotypen medial erprobt sind. So wären beispielsweise die ‚obligatorischen‘ ölverschmierten Vögel11 (vgl. Abb. 4), aber auch die Satellitenbilder von Öllachen oder Rauchwolken sicherlich nahe liegende Schlüsselbilder gewesen. 4 – links: ölverschmierte Möwe, Prinz-William-Sund, 27. März 1989; rechts: ölverschmierter Pelikan, East Grand Terre Island, 3. Juni 2010 Interessanterweise wird jedoch der Livestream der Unterwasserkameras (spill- cam), die die sprudelnde Ölquelle (und die wiederholt misslingenden Repara- turversuche) dokumentieren, zu einem solchen evidenten Schlüsselbild. In der öffentlichen und politischen Auseinandersetzung um die Aufarbei- tung der Katastrophe schreibt der republikanische Kongressabgeordnete Ed- ward Markey am 19. Mai 2010 einen Brief12 an den BP-CEO Lamar McKay, 11 Anna-Katharina Wöbse, „Ölpest und Pechvogel: Zur Frühgeschichte eines internationalen Umweltkonflikts“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU), 54 (2003), S. 671- 681. 12 http://globalwarming.house.gov/files/LTTR/051910_LamarMcKay.pdf, zuletzt aufgerufen am 17.08.2010. PRODUKTION VON EVIDENZ 45 5 – Durch den Blogger John Aravosis aufgedeckte Bildbearbeitung eines durch BP veröffentlichten Bildes der firmeneigenen Krisenzentrale in Houston. Links: unbe- arbeitetes Originalbild (vermutlich von 2001); rechts: nachbearbeitetes PR-Bild mit eingearbeiteten ‚spillcam‘-Bildschirmen in dem er dem Unternehmen eine verfehlte Öffentlichkeitspolitik vorwirft. Er macht diese Position an der Tatsache fest, dass BP seit Beginn der Öllecks Unterwasseraufnahmen von ferngesteuerten Sonden und Tauchfahrzeugen be- sitzen, diese jedoch nicht der Öffentlichkeit zugängig machen würde. Zwar hebt Markey in seinem Brief vorrangig auf die durch die Nichtveröffentli- chung der Bilder eingeschränkten Möglichkeiten unabhängiger Wissenschaft- ler ab, jedoch wird durch die anschließende Diskussion schnell deutlich, dass die Auseinandersetzung um die Zugänglichmachung der Unterwasseraufnah- men auch und vor allem eine Diskussion um die Sichtbarmachung der Kata- strophe für die Öffentlichkeit ist: „This may be BP’s footage, but it’s Ameri- ca’s ocean. Now anyone will be able to see the real-time effects the BP spill is having on our ocean“13. Durch den so aufgebauten Druck gibt BP in den nächsten Tagen die Bilder frei, die dann zunächst auf der BP-eigenen Kom- munikationsplattform zur Krise14 und auf Edward Markeys Energiepolitik- seite15 veröffentlicht werden, schnell aber auf einer unüberschaubaren Vielzahl von Seiten gehostet und diskutiert werden.16 In den folgenden Wochen wird das Livebild der unter Wasser sprudelnden Ölquelle zu einem signifikanten Kulminationspunkt der Auseinandersetzung. Jeder neue Reparaturversuch sei- tens BP entfacht neue Aufmerksamkeitshöhepunkte und Steigerungen der clickrates17 der übertragenden Seiten, CNN blendet sich live in die Übertra- 13 Aus der Presseerklärung Markeys anlässlich der Versendung des offenen Briefes, zit. nach: http://globalwarming.house.gov/mediacenter/pressreleases_2008?id=0245, zuletzt aufgerufen am 17.08.2010. 14 http://www.bp.com/sectionbodycopy.do?categoryId=9034366&contentId=7063636, zuletzt auf- gerufen am 17.08.2010. 15 http://globalwarming.house.gov/spillcam, zuletzt aufgerufen am 17.08.2010. 16 Als ein Beispiel unter vielen: http://www.energyboom.com/policy/live-webcam-feed-under- water-oil-spill-go-tonight, zuletzt aufgerufen am 17.08.2010. 17 „Oil spill cam becomes Internet sensation“, http://www.msnbc.msn.com/id/37406317/#, zu- letzt aufgerufen am 17.08.2010. 46 ROLF F. NOHR gungen ein18, BP setzt sich dem Verdacht aus, während der riskanten Reparaturversuche aus der Liveübertragung auszusteigen19 oder Reporter bei der Arbeit zu behindern20, und wird in seiner Krisenkommunikation bei einer peinlichen Photoshop-Fälschung des Livebild-Kontrollzentrums überführt (vgl. Abb. 5).21 Das Livebild der unermüdlich sprudelnden Quelle wird zum Schlüsselbild der Katastrophe, einem funktional und operativ politisch gegen den ‚Verursa- cher‘ BP gewandtem Bild der augenscheinlichen Schuld. Hier wird das durch eine Rhetorik der Bekräftigung und Legitimierung ausgestellte Bild zum Werkzeug der Evidenzerzeugung, indem auf eine selbsterklärende und bewei- sende Kraft des Bildes, eine Augenscheinlichkeit verwiesen wird, indem eine bestimmte Materialität benutzt wird, um eine Authentifizierungsstrategie her- zustellen. Jeder weitere Tag, an dem die aufsteigende und sprudelnde Wolke des Öls ins Meer dringt, zeigt ein weiteres Mal das Unvermögen einer Firma, Technologien zu beherrschen oder Katastrophen angemessen begegnen zu können. Jeder Blick auf die livefeeds vom Grund des Meeres stellt die Frage nach den Kosten von (energiepolitischen) Machbarkeitsphantasien. Die Legitimation des Sichtbaren (die sprudelnde Quelle) verweist auf ein Abstraktum: Die Frage, welchen Preis (subjektiver wie gesellschaftlicher) Wohlstand haben darf. Die spezifische ‚Offensichtlichkeit‘ des spillcam-Bil- des scheint auf einer Degradierung des Sichtbaren zu beruhen und diese einst- malige Sichtbarkeit durch bildlose, blinde Bilder zu ersetzen: Ein Bild von ei- ner sprudelnden Quelle beweist nichts. Es verstärkt nur eine spezifische ‚Be- glaubigung-durch-Zeugenschaft‘: Ich sehe die unverschlossene Verschluss- kappe eines Hochdruckventils und ‚weiß‘ um die Unfähigkeit BPs. Erst die Kombination aus einer Aussage, einem Bild und einer beglaubigenden, ‚be- weisenden‘ Geste macht aus dem Livebild ein legitimierendes Argument für die (alles andere als umweltpolitisch altruistischen) Interessen der US-Regie- rung ebenso wie für die Entlastungskonstruktionen des Fernsehzuschauers oder Internetbetrachters. Das Livebild vom Meeresgrund macht die Schuld BPs evident, verunsichtbart aber die subjektive Teilhabe am Ereignis ‚Ener- giehunger‘. Evidenz könnte also zunächst und solchermaßen verstanden wer- den als eine rein rhetorische Geste des ‚Hochhaltens von blinden Bildern‘, um vorgebliche Wahrheitsbeweise zu erzeugen. Evidenz wäre somit also eine Art von Überzeugungsarbeit: ‚Sieh hin! Das sieht man doch!‘ Im Falle des Livestreamings der sprudelnden bzw. versiegten Ölquelle ist Evidenz also eher nur ein Vorfall des (offensichtlich falliblen) evidence, des 18 http://news.blogs.cnn.com/2010/08/17/tuesdays-live-video-events-23/, zuletzt aufgerufen am 17.08.2010. 19 „Live (?) Video of the Oil Spill“, New York Times-Online, 20.05.2010, online unter: http:// green.blogs.nytimes.com/tag/edward-j-markey/, zuletzt aufgerufen am 17.08.2010. 20 http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,700128,00.html, zuletzt aufgerufen am 17.08.2010. 21 http://www.americablog.com/2010/07/bp-photoshops-fake-photo-of-command.html, zuletzt auf- gerufen am 17.08.2010. PRODUKTION VON EVIDENZ 47 Indizes. Eine solche Rhetorik des gestenreichen und rhetorisch eingebundenen Behauptens einer ‚Offensichtlichkeit durch Sichtbarkeit‘ ist uns bekannt – die Dünnheit ihrer Funktionalität ebenso. Allerdings treffen wir auch hier bereits auf ein wesentliches Strukturmerkmal des Evidenzprozesses – die Auslage- rung. Um dies zu erläutern, sollten wir uns einem weiteren ‚Evidenzvorfall‘ zu- wenden. Betrachten wir ein Bildbeispiel, das sich zur Verhandlung empfiehlt: 6 – Ausschnitte einer Bildstrecke aus dem Kapitel ‚Empfängnis‘ des schwedischen Wissenschaftsfotografen Lennart Nilsson. Links: 3 bis 7 Stunden nach der Ejakulation: Spermium und Ei; mittig: „Mehrere Spermien erreichen den Raum zwischen der äußeren Hülle und der Membran der Eizelle, doch nur ein einziges von ihnen kann das Ei befruchten“; rechts: „Das siegreiche Spermium“ Oben stehende Abbildungen (vgl. Abb. 6) sind dem aktuellen Buch des schwedischen Wissenschaftsfotografen Lennart Nilsson22 entnommen.23 Es sind drei Bilder aus einer Reihe von Fotografien24, die den Vorgang der Be- fruchtung des weiblichen Ovums durch die männlichen Spermien illustrieren. Im Nachwort des Buches schreibt der Naturwissenschaftler Hans Wigzell, unmittelbar nachdem er Nilssons bildgebende Leistungen neben die Da Vincis gerückt hat, über die Fotostrecke der Befruchtung25: „Darwins Theorie der 22 Lennart Nilsson, Leben: Bilder aus dem Inneren des menschlichen Körpers, München, 2006. 23 Der Wissenschaftsfotograf Lennart Nilsson gilt als ‚Pionier‘ der mikroskopischen Aufnahme des menschlichen Körpers, insbesondere auch von Embryonen. Seine bekannte Serie der vor- geburtlichen Entwicklung, Ein Kind entsteht, ist weltweit in unzähligen Auflagen erschienen und zierte Mitte der 60er Jahre die Titelcover vieler Magazine und Zeitungen (u. a. Life-Ma- gazine, Stern etc.). 24 Eines der gewichtigen Probleme im Umgang mit den Repräsentationsformen Lennart Nils- sons ist sicherlich die Tatsache, dass seine Arbeiten in Konsequenz als ‚Fotografien‘ ange- sprochen werden, wiewohl sie doch wesentlich mehr im Konnex naturwissenschaftlicher Vi- sualisierungsverfahren wie Mikroskopie oder Ultraschalldiagnostik zu verorten wären. 25 Hans Wigzell ist laut Klappentext des Nilsson-Buches (2006) einer der „führenden Naturwis- senschaftler der Welt“ und war „von 1990 bis 1992 Vorsitzender der Nobelversammlung“. 48 ROLF F. NOHR natürlichen Auslese leuchtet unmittelbar ein, wenn man sich klar macht, dass es nur einem einzigen von Millionen Spermien gelingt, seine Mission zu er- füllen“.26 Ich denke, es ist deutlich, wie eine vertiefende analytische und theoretische Durchdringung dieser Text-Bild-Kombination ausfallen könnte. Sehr einfach ließen sich die Mechanismen einer (politischen) Bedeutungsproduktion durch die Bildpolitik des Nilsson’schen Bandes nachweisen, die durch die Legitima- tionsgeste des naturwissenschaftlich konnotierten Visualisierungsverfahrens gestützt werden. Sicherlich brauche ich nicht detailliert nachzuvollziehen, in- wieweit hier von einer symbolischen Politik gesprochen werden könnte, die sich der Geste der Fotografie als Abdruck einer Unmittelbarkeit, der Sugges- tion einer „mechanischen Objektivität“27 bedient, um bestimmte Bedeutungs- produktionen herzustellen, die im Umfeld von Genderpolitik, Fortschrittsglau- ben, Machbarkeitsnarrationen und hegemonialen Ideologien anzusiedeln wäre. Es geht mir hier aber nur bedingt um die (behauptete) Verbindung eines Wissens über die Evolutionstheorie mit der Sichtbarkeit des Befruchtungsvor- gangs. Es scheint mir interessanter, an diesem Beispiel nachzuvollziehen, ob und warum und mit welchen Argumentationen wir diesem Beispiel eine ‚Evi- denz‘ zusprechen. Zunächst aber sollten wir den Ad-hoc-Begriff der Evidenz vertiefen, der aus solchen Analysen ableitbar wird. Eine Bild/Text-Aussage wird als ,evident‘ charakterisiert werden, wenn sie – (mediale) Unmittelbarkeit qua Sichtbarkeit bzw. Materialität des Symboli- schen suggeriert. Dies geschieht im vorliegenden Beispiel mithilfe des Ab- drucks des Technisch-Medialen der Fotografie. Dieses Charakteristikum der Evidenz, welches als ‚Behauptung des Materiellen‘ benannt werden könnte, schreibt sich (historisch) ausgehend von der Fotografie in weitere technisch- mediale Bildgebungsformen ein. Desweiteren kann eine Aussage als ,evident‘ charakterisiert werden, wenn sie – eine rhetorische Aussagelogik als Wahrheitsfunktion deklariert, eine Form der Unhinterfragbarkeit behauptet. Weil wir sehen können, wie ein Spermium ein Wettrennen gewinnt, zeigt sich, das sich die Evolution auf eine Durchset- zungskraft des ‚Bestangepassten‘, ‚Fittesten‘ oder gar ‚Stärksten‘ reduzieren lässt. Es ist dies die Inbezugsetzung zweier Aussagen, hier verstärkt durch die Bekräftigung zweier unterschiedlicher Sprecher oder Zeugen und zweier unterschiedlicher Aussagesysteme (Bild und Text). Eine Narration wird via unterschiedlicher Rhetoriken zur Aussagelogik überformt. Eine Aussage ist evident, wenn sie – ihre Funktionalität naturalisiert. 26 Hans Wigzell, „Nachwort“, in: Lennart Nilsson, Leben: Bilder aus dem Inneren des mensch- lichen Körpers, München, 2006, S. 289-291: 290. 27 Lorraine Daston/Peter Galison, „Das Bild der Objektivität“, in: Peter Geimer (Hg.), Ord- nungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/M., 2002, S. 29-99: 31 f. PRODUKTION VON EVIDENZ 49 Die Text-Bild-Aussage ‚bedient‘ sich der Mittel der Medialität um das Technische und Arbiträre ihrer Entstehung zu verschleiern. Eine Aussage ist evident, wenn sie – eine institutionalisierte und autoritäre Sprechposition aufbaut, Beweiskraft suggeriert, Paratextsysteme etabliert. Das Zusammenspiel der Institutionen Buch, Foto, Autor, Wissenschaftler und Herausgeber arbeitet an der Her- stellung einer dominanten und autoritären Sprechposition. Eine Aussage ist evident, wenn sie – eine Handlung (Geste)28 ist. Auch diese Thesen sind erkennbar pragmatisch, redundant und ad hoc ge- bildet. Wesentlich ist an dieser Ad-hoc-Analyse die Erkenntnis, dass symbo- lisch transportierte und erzeugte Evidenz prozessualisiert, hergestellt, manu- fakturiert wird. Man kann also mit Ludwig Jäger fragen: „Wie wird die Gel- tung von Sinn inszeniert?“29 Wenn wir darüber nachdenken, wie bestimmte Bildformen zu einer augenscheinlichen Überzeugungskraft gelangen, wie sie zu evidenten Bildern werden, werden wir uns dem Begriff der Evidenz noch weiter nähern müssen. Es stellt sich folglich die Frage, ob die Funktionalität solcher Evidenzsubstitutionen mehrheitlich als Effekte der subjektiven Sinn- stiftung oder verstärkt als intersubjektive Aushandlungen anzunehmen sind: „Ist Evidenz eine Leistung des Bewusstseins oder ein kommunikativer Pro- zess, eine Praxis?“30 Diskursive Evidenz Im Zentrum des Nachdenkens muss die Brücke zwischen dem Bewusstsein und dem Kommunikativen liegen: das Symbolische. Dieses Problem ist aber innerhalb der Medientheorie nichts Neues. Denn im Grunde haben wir mit der sprudelnden Ölquelle, dem sichtbaren Denken des CT-Scans oder dem Wig- zell’schen Spermium das Problem des ‚Dokumentarischen‘ aufgerufen, also die Frage, wie wir beispielsweise einen Dokumentarfilm oder einen Schnapp- schuss von einem fiktionalen, narrativen Film oder einem inszenierten und nachbearbeiteten Foto unterscheiden. Verallgemeinernd gesprochen dreht sich alles um die Frage, ob es für den Rezipienten technischer Medienbilder ‚ob- 28 Mit Agamben lässt sich eine Geste vor allem als soziale und politisch motivierte symbolische Handlung verstehen. Die Besonderheit der Geste liegt in ihrem intermediären Status zwischen Handlung als Vollzug (praxis) und der Handlung als Herstellung (poiesis). Vgl. Giorgio Agamben, „Noten zur Geste“, in: Jutta Georg-Lauer (Hg.), Postmoderne und Politik – Bei- träge zur Philosophie und Gesellschaftskritik, Tübingen, 1992, S. 97-101. 29 Jäger (2006), Schauplätze der Evidenz, S. 37. 30 Friedrich Balke, „Medien und Verfahren der Sichtbarmachung“, in: Transkriptionen – Schwerpunkt: Evidenz. Newsletter des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medien und Kulturelle Kommunikation SFB/FK 427, 5 (2005), S. 2-4: 3. 50 ROLF F. NOHR jektivierbare‘ Kriterien gibt, den „Abdruck des Realen“31 in einem bildgeben- den Verfahren zu erkennen oder nicht.32 Um nun im Verlauf meiner Ausfüh- rungen zu einer weiteren These zu gelangen, wie sich die Figur des Evidenten und Nützlichen mit einer höheren Durchdringungstiefe umreißen lässt, ist ein Umweg nötig; ein Umweg über die Frage, wie technische Bildmedien ihre Sinnproduktion im Symbolischen sicherstellen. Ich möchte argumentieren, dass bestimmte symbolische Bildformen inner- halb technischer Medien Effekte produzieren, durch die sie als ‚augenscheinli- cher‘ wahrgenommen werden als andere Bilder, weil ihnen eine Markierung der Referenz, ein Verweis auf eine objektive Tatsache oder sichtbare Wirk- lichkeit beigegeben ist, die nicht im Symbolischen liegt, sondern in der Geste, mit der das Symbolische inszeniert wird. Ist ein solches ‚wahres‘ Bild eta- bliert, dann werden bestimmte Mechanismen des Mediums seine stetige Wie- derkehr organisieren und damit diese Wahrheits- oder Referenzbehauptung durch Wiederholung stabilisieren und konventionalisieren. Diese Stabilisie- rung geschieht durch die Aufrufung flankierender Wissensbestände. Als letz- ter Schritt in der Etablierung eines Nützlichen Bildes greift dann eine Form der ‚Metaphorisierung‘ dieses Bildes in Form einer kollektiven Symbolisie- rung. Diesen Dreierschritt möchte ich im Folgenden ausführen und dabei an- deuten, wie sich bestimmte Bilder an Wissensdiskurse der Gesellschaft ando- cken, um effektiv, stabil und benutzbar zu werden. Damit komme ich nun auch zu der oben eingeführten Unterscheidung in zwei Formen der Evidenz: der epistemischen und der diskursiven Form der Evidenz. Die epistemische Evidenz ist dann die ideale subjektive, mentale und unmittelbare Gewissheit, die auf Anschauung und eine ‚Denknotwendigkeit‘ des Angeschauten rekur- riert, also ein klassischer Begriff der (Kant’schen oder cartesianischen) ‚Wahrheit der Dinge‘ in der Anschauung durch das Subjekt. Eine Evidenz, die – zumindest mit Kant – eine unmögliche Evidenz ist. Wenden wir uns aber zunächst der diskursiven Form der Evidenz zu: Die diskursiven Formen von Evidenz wären als Ergebnisse prozeduraler Gramma- tiken zu fassen – beispielsweise in Form von Beweis, Argumentation, Erklä- rung oder rhetorischen Figuren –, also durch intersubjektive und kommunika- tive Operativität gekennzeichnete Prozesse. Die Pointe einer solchen Evidenz- form ist, dass sie ihre eigentliche Legitimation aus sich selbst bezieht. Verall- gemeinernd ließe sich diese Selbstbezüglichkeit der diskursiven Evidenz aus der Natur der Diskurse selbst ableiten. Da es nichts jenseits der Diskurse gibt, muss der Beweis der Behauptung notwendig selbst Teil der Diskurse sein. Da Diskurse aber per se variabel, historisch transformierbar und symbolisch aus- gehandelt sind, muss auch das Ausgesagte mit seinem referenziellen Beweis 31 André Bazin, „Ontologie des fotografischen Bildes“, in: ders., Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, Köln, 1975, S. 21-27: 27. 32 An dieser Stelle wäre damit noch nicht einmal die Frage nach dem ‚Echten‘ und dem ‚Mani- pulierten‘ aufgerufen, die sicherlich hinter einer solchen Polarisierung immer lauert, sondern zunächst ‚nur‘ die Frage nach der Differenz von Fakt und Fiktion. PRODUKTION VON EVIDENZ 51 notwendigerweise in einem solchen falliblen und transformativen/transfor- mierbaren Verhältnis stehen. Die diskursive Evidenz erzielt ihre Plausibilität aus der Auslagerung des Beweises. Die diskursive Evidenz inszeniert ihre Geltungsfähigkeit mithilfe eines „externen Referenten, auf den der Diskurs dann verweisen und auf den er seine Autorität und Glaubwürdigkeit stützen kann“.33 Ähnlich argumentiert auch Bill Nichols: Alle Diskurse […] trachten danach, die Evidenz des Beweises auszulagern, also danach, sie außerhalb des eigenen Bereichs zu situieren, um dann gestenreich auf diesen Ort zeigen zu können, der jenseits und vor jeder Interpretation liegt. In der Referenz auf diesen externen Ort wird dann sichtbar gemacht und benannt, was dort angeblich der Benennung harrt.34 Man muss die Idee der Auslagerung zur Produktion eines Evidenzzusammen- hangs nicht ausschließlich diskurstheoretisch konzeptualisieren. Die Exkludie- rung der Beweisfunktion finden wir auch in den formal-logischen Theorien der Evidenz begründet: beispielsweise in der Auseinandersetzung um die Prä- dikation von Wahrheit. Korrespondenz Im Kontext der formalen Logik ist Wahrheit (von Aussagen) eine Frage von Korrespondenzen (also die Dichotomie von ‚übereinstimmend‘ versus ‚nicht- übereinstimmend‘). Eine naive Leseweise hierfür wäre beispielsweise das Diktum: ‚Wahrheit ist Übereinstimmung mit der Wirklichkeit‘.35 Die pragma- tische Sprachlichkeit kommt dabei aber auch ohne sogenannte ‚Proposition‘ aus: „Der Schnee ist weiß“ ist eine Wahrheitsaussage ohne Proposition. Mit Proposition würde sie lauten: „Es ist wahr, dass der Schnee weiß ist.“ Würden wir aber sprachlich dieses „wahr“ integrieren, es mitsprechen, so würde die Proposition nicht mehr der Evidenzierung dienen, sondern der Betonung, der Expression. Frege schreibt dazu: Die Form des Behauptungssatzes ist also eigentlich das, womit wir die Wahrheit aussagen und wir bedürfen dazu des Wortes ‚wahr‘ nicht. Ja, wir können sagen: 33 Michael Cuntz/Barbara Nitsche/Isabell Otto/Marc Spaniol, „Die Listen der Evidenz. Einlei- tende Überlegungen“, in: dies. (Hg.), Die Listen der Evidenz (Mediologie 15), Köln, 2006, S. 9-33: 18. 34 Bill Nichols, „Evidence – Fragen nach dem Beweis“, in: Michael Cuntz/Barbara Nitsche/Isa- belle Otto/Marc Spaniol (Hg.), Die Listen der Evidenz (Mediologie 15), Köln, 2006, S. 86- 100: 86. 35 „Ich antworte, es sei zu sagen, dass Wahrheit in der Übereinstimmung von Verstand und Sa- che besteht.“ Thomas von Aquin, Über sittliches Handeln: Summa theologiae I-II q. 18-21, hg. v. Rolf Schönberger, Stuttgart, 2001, hier: I q. 21, a. 2. 52 ROLF F. NOHR selbst da, wo wir die Ausdrucksweise ‚es ist wahr, daß ...‘ anwenden, ist eigent- lich die Form des Behauptungssatzes das Wesentliche.36 Bereits das Aussprechen des zugrunde liegenden Wahrheitsbegriffs verändert den Begriff und die Funktion der Wahrheit. Diese Veränderung bezeichnet man auch als die Redundanztheorie der Wahrheit, sie steht widerstreitend und paradoxal neben der Korrespondenztheorie.37 Man könnte nun also sagen, dass die Redundanz der Evidenz durch die Proposition nur durch Naturalisierung der Proposition vermieden werden kann. Dieser Prozess wäre nun aber erkennbar analog zu den Ordnungskräften des Diskurses. In beiden Fällen würde ein Teil der Aussage selbst in einem Pro- zess aus der Aussage externalisiert, um die Aussage selbst zu einer Evidenz zu machen. So wie also sprachliche Unmittelbarkeit („Der Schnee ist weiß“) ent- stünde, so entstünde auch diskursive Evidenz durch eine Naturalisierung der Proposition. (Also grob verkürzt: „Man sieht doch, dass Darwin recht hat, weil dieses Bild zeigt, dass nur das beste Spermium gewinnen kann.“) Das ‚Beson- dere‘ an einer solchermaßen konzeptualisierten diskursiven Evidenz wäre demnach, dass sich an ihr verschiedene problematische Effekte verdichten, die durch die Nähe der Evidenz zu Verfahren der Unmittelbarkeit, der Herstellung von Wahrheit, der Naturalisierung zustande kommen.38 Zum anderen ist mit diesem Begriff aber auch eine gewisse Unschärfe in den Evidenzbegriff eingeführt, der zur ‚Verwässerung‘ der Kontur der Evi- denz beiträgt: Wir haben hier nämlich Evidenz und Wahrheit in eins gesetzt und somit eigentlich die Schärfe des Begriffs (wie wir sie mit dem Exkurs zur intellektuellen Anschauung angedeutet haben) diffuser gemacht. Somit bleibt die Frage weiterhin offen, was das Besondere an der intersubjektiv ausgehan- delten, symbolisch basierten, diskursiven Evidenz wäre. Ihre Diskursivität und der Prozess der Auslagerung mag ein hinreichendes, aber kein ausreichendes Beschreibungskriterium darstellen. Denn diskursiv organisiertes Wissen neigt immer dazu, sich naturalisierte Geltungsmacht zu verschaffen. 36 Gottlob Frege, Schriften zur Logik und Sprachphilosophie: aus dem Nachlaß, hg. v. Gottfried Gabriel, Hamburg, 1978, S. 39 f. 37 Vgl. Alfred Tarski, „Die semantische Konzeption der Wahrheit und die Grundlagen der Se- mantik“, in: Gunnar Skirbekk (Hg.), Wahrheitstheorien. Eine Auswahl aus den Diskussionen über Wahrheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M., 1977, S. 140-188. 38 Man kann eine solche Argumentation zur ‚Herstellung eines Faktisch-Evidenten‘ aber auch in andere Bestände übertragen: zum Beispiel auf die Idee der historiografischen Quelle. Auch hier wird eine Externalisierung und Arbitrarisierung eines symbolischen Materials vorgenom- men. Der Quellentext wird vorgeblich aus dem Diskurs exkludiert und zur Quelle erklärt, die die Produktion weiterer diskursiver Texte stützt. Das Problem aber ist, dass diese ‚Konzep- tualisierung‘ natürlich in hohem Maße nur auf einer Strukturähnlichkeit zwischen sprachli- cher und diskursiver Evidenz beruht und keineswegs mehr sein kann als nur eine Analogie. PRODUKTION VON EVIDENZ 53 Auslagerung Die diskursiven Formen von Evidenz wären als Ergebnisse prozeduraler Grammatiken zu fassen, also die vordergründige Exkludierung von Beweis, Argumentation, Erklärung oder Zeugenschaft in einen anderen Ort des Diskur- ses und die Bezugnahme des Symbolischen auf diesen anderen Ort. Wie aber wären diese Auslagerungen und vor allem die Naturalisierung dieses Auslage- rungsortes zu beschreiben? In unserem Falle vor allem als Verfahren des Me- dialen: Diese Inszenierungsleistungen folgen dabei einer medialen Logik, die die Kon- stitution von – freilich notwenig prekär bleibendem – kulturellen Sinn, durch in- tra- und intermediale Prozesse der Remedialisierung, d. h. der Transkription ge- währleisten, durch Prozesse also, die bedeutungsgenerierende Effekte durch die wechselseitige Bezugnahme differenter Medien aufeinander sowie die rekursive Rückwendung eines Mediums auf sich selbst hervorbringen.39 Diese Prozessualität der Beglaubigung ist vielfach bearbeitet worden.40 Zu- nächst einmal sind es maßgeblich Markierungen durch die Technizität der Herstellung selbst, die hier als Markierungen für das Beglaubigende fungieren. Lorraine Daston und Peter Galison beispielsweise können nachzeichnen, wie sich in der Entstehung bildgebender technisch-apparativer Verfahren das Para- digma der „mechanischen Objektivität“ herstellt. Es geht ihnen darum zu zei- gen, wie in der Darstellungspraxis das Paradigma von der idealisierenden Dar- stellung des durch einen Autoren oder eine Autorität subjektiv ‚gemachten‘ Typus hin zur Darstellung des einzelnen Objekts mithilfe der vorgeblich ‚be- glaubigenden‘ und objektivierenden Technik herstellt. Diese Objektivität ist aber eine „vielgestaltige und wandelbare Sache“.41 Es ist das als objektivierend gelesene technische Verfahren des Fotografie- rens, welches hier Formen der Evidenz erzeugt. So subsumiert Peter Geimer die These Dastons und Galisons: So macht der Beitrag deutlich, dass die Objektivität, die dem fotografischen Bild seit seinem Aufkommen zugeschrieben wurde, keine fraglos mitgegebene Eigen- schaft der Fotografie ist, sondern nur einem Typus von Evidenz entspricht, der seinen Ort innerhalb einer Geschichte der Objektivität hat.42 39 Ludwig Jäger, „Evidenzverfahren“, in: Transkriptionen – Schwerpunkt: Evidenz. Newsletter des kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs SFB/FK 427, 5 (2005), S. 10-13: 10. 40 Olaf Breidbach beispielsweise kann solche Formen der Beschreibung und Abbildung als For- men der Wissensniederlegung auch als historisch herausgeprägtes Verfahren darstellen: „In den Illustrationen kondensieren sich ganze Erfahrungsreihen: Sie fixieren ein Wissen von der Welt, das die Impressionen interpretierbar und die Erfahrungen so als Beobachtungen notier- bar macht“ . Ders., Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahr- nehmung, München, 2005, S. 110. 41 Daston/Galison (2002), Das Bild der Objektivität, S. 99. 42 Peter Geimer, „Einleitung“, in: ders. (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wis- senschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/M., 2002, S. 7-27: 17. 54 ROLF F. NOHR Dieser Aspekt der diskursiven Evidenz in ihrer medialen Variante, der als ‚Be- hauptung der Apparate‘ charakterisiert werden könnte, schreibt sich aber aus- gehend von der jungen Fotografie in weitere technisch-mediale Bildgebungs- formen ein.43 So wie die Fotografie also unter dem Paradigma einer Selbstauf- schreibung der Natur (wie beispielsweise dem Paradigma „Let nature speak for itself“44 oder dem Schlagwort vom „Pencil of Nature“45) gelesen wird, so wird diese Evidenzbehauptung auch beispielsweise der jungen Röntgenfoto- grafie und von ihr ausgehend weiteren bildgebenden Verfahren medizinisch- biologischer Natur zugeschrieben – bis hin zum CT-Scan des denkenden Ge- hirns. Diese Auslagerungen und Naturalisierungen greifen nicht nur auf das Technisch-Apparative und seine anhängigen diskursiven Sinnstiftungen, son- dern sie finden auch (kaum verwunderlich) auf der Ebene des Symbolischen selbst statt. Iterieren, Schemata, Automatismen Die Evidenz dieser Bildformen und diskursiven Evidenzgesten in den Medien werden insofern leicht und natürlich hergestellt, als sie im weitesten Sinne ‚ideal‘ in die Artikulationsform des Mediums passen. Ich möchte vorschlagen, dass die Sprachform des technischen Bildmediums (neben vielem Anderem) auf dem System der Wiederholungen (oder präziser: Iterationen) basiert.46 Ite- rationen sind die Einübungsformen, die das Bildmedium lesbar, verstehbar machen. Bilder und symbolische Artikulationen werden wiederholt, in eine Dynamik der Rekursion und heavy rotation47 überführt und so dem Medien- nutzer in Wiederholungen als zunächst künstliches (arbiträres), in der Perma- nenz aber immer natürlich (ikonisch) anmutendes Zeichen vorgestellt. Verein- fachend können wir uns das ‚Erlernen‘ und ‚Evidentmachen‘ der Bilder wie jedes Sprachlernen vorstellen. Eine per se künstliche, auf Vereinbarungen und Regeln beruhende Sprechweise wird uns präsentiert und erklärt; durch die per- manente Wiederholung jedoch verlieren wir das Bewusstsein für den Verein- barungscharakter dieses symbolischen Zeichens und nehmen es als ‚natürlich‘ 43 Gabriele Werner, „Heemskerck, Röntgen und der Beweischarakter von Reproduktionstech- nik“, in: Ulrike Bergermann/Claudia Breger/Tanja Nusser (Hg.), Techniken der Reproduk- tion. Medien – Leben – Diskurse, Königsstein, 2002, S. 67-84: 74-78. 44 Daston/Galison (2002), Das Bild der Objektivität, S. 30. 45 So der Titel eines Buches (1844-46) des Fotografiepioniers Henry Fox Talbot, in denen er die Vorteile der Kalotypie als Illustration aufzeigen wollte. 46 „Bestimmend für Zeichen und Medien ist der Mechanismus der Wiederholung.“ Hartmut Winkler, „Mediendefinition“, in: Medienwissenschaft, 1 (2004), S. 9-27: 21. 47 Vgl. hierzu zentral Hartmut Winkler, Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien, Frankfurt/M., 2004, S. 170-182. PRODUKTION VON EVIDENZ 55 und selbstverständlich wahr.48 Unser Misstrauen gegen das ‚Künstliche‘ schwindet, das Bildzeichen naturalisiert sich. Wir treffen hier auf ein Verfahren der Medialität und des Symbolischen, mittels der Wiederholung, der Iteration Stabilitäten zu erzeugen, die das Wahrnehmen und Denken auf das Symbolische beziehen. Wir können diesen Prozess in der Begrifflichkeit Kants als Schematismus begreifen (s. dazu auch Fußnote 4): Diese Vorstellung nun von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das Schema zu diesem Begrif- fe. In der Tat liegen unseren reinen sinnlichen Begriffen nicht Bilder der Gegen- stände, sondern Schemate (sic!) zum Grunde.49 Ebensogut können wir uns jüngerer kognitionswissenschaftlicher Studien be- dienen, die das Schema als ein sinnstiftendes, aus Wiederholungen und Ver- härtungen entstandenes Ordnungsprinzip kognitiver Modellbildungen begrei- fen.50 Oder wir greifen auf diverse medientheoretische Darlegungen zurück, die die Wiederholung, Reproduktion, Konventionalisierung oder Matrizenbil- dung als zentrales Moment des Symbolischen und Massenmedialen benen- nen.51 Immer treffen wir auf eine Dynamik, die die automatisierte Wiederho- lung als eine Form der Einübung (des Symbolischen) begreift, die resultieren- de Spuren und Einschleifungen als Schematabildung darstellt, auf die (vorbe- wusst, jenseits der Wahrnehmung) zurückgegriffen wird, um subjektiv-iterier- te Formen als Ordnungs- und Orientierungsmuster verständlich zu machen. Die Konventionalisierung und in Steigerung Stereotypisierung symboli- scher Formen trägt also dazu bei, dass Bildformen als natürliche Kommuni- kate gelten können. Was nun beim Bild eines Baumes oder Tisches kaum ver- 48 Die eben postulierte These der Iteration als Einübung des symbolischen Systems kann so nicht einfach behauptet werden, sie verdient eine vertiefende Darstellung, die hier nicht ge- leistet werden kann. Es geht in Andeutung um eine Theorie des Symbolisch-sprachlichen des Bildes. Ziel eines solchen Nachdenkens müsste es sein, zu klären, wie die angenommene Sprachlichkeit der Bilder zu einer intersubjektiven Bildsprache überformt werden kann, um die intuitive und kommunikable Verständlichkeit solcher Bildformen auf der Basis eines all- gemeinen Wissens – also einer Art visuellen Lexikons – zu klären. Die Bildlichkeit des tech- nischen Mediums zielt zunächst und oberflächlich betrachtet auf einen Realismuseffekt jen- seits der Sprache als diskursivem System. ‚Objektivität‘ und ‚Kommunikabilität‘ wird den Bildern im Sinne eines „Sprechens ohne Sprache“ – wie Christian Metz das formuliert hat – unterstellt. Vgl. Christian Metz, Sprache und Film, Frankfurt/M., 1973. 49 Kant (1981), Kritik der reinen Vernunft, S. 189. 50 Vgl. bspw. Siegfried J. Schmidt, „ Bildgedächtnis: Fragen über Fragen“, in: Klaus P. Dencker (Hg.), Interface/Weltbilder: Computergestützte Visionen, Baden-Baden, 1995, S. 70-75. Das Erkennen und Konstruieren der Analogiebeziehung zwischen Wahrnehmung und kognitiver Modellation erfordert schematisches Wissen von höherem Abstraktionsniveau. Ein mentales Modell muss zum ‚Verstehen‘ (i. S. v. ‚verarbeitbar machen‘) eines neuen Sachverhaltes eines oder mehrere adäquate Schemata aufrufen, die aus vorher stabilisiertem Wissen relatio- nale und adäquate Verarbeitungsmuster ableiten. 51 Vgl. dazu Rolf Parr, „Wiederholen. Ein Strukturelement von Film, Fernsehen und neuen Me- dien im Fokus der Medientheorie“, in: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurs- theorie, 47 (2004), S. 33-39. 56 ROLF F. NOHR wunderlich erscheint, ist näher betrachtet aber für das ‚Bild‘ eines Gehirns oder der Evolutionstheorie verstörend. Denn beide Visualisierungsformen ent- ziehen sich der Unterstellung einer Referenz. Das Bild des Baumes ‚verweist‘ in irgendeiner Form auf einen Baum oder zumindest auf die Idee der ‚Baum- heit‘.52 Worauf aber verweist ein CT-Scan oder das Elektronenmikroskopbild eines Spermiums? Die Funktionalität solcher Bildformen stellt sich durch ei- nen Prozess her, der die konkrete Referenz (‚Bild des Baumes‘ zu ‚Baum‘) durch eine abstrakte Form der Bezugnahme ersetzt: Das Bild des CT-Scans verweist nicht auf die Idee des Gehirns oder des Denkens, sondern auf den Diskurs des Denkens. Künstliche, synthetische, apparative oder wie auch im- mer zu umfassende Bildformen nicht-referenziellen, nicht-ähnlichen oder nicht-kausalen Zusammenhangs von Ding und Bild rekurrieren, um ihre Funk- tionalität herzustellen, auf die Denk- und Sprechweisen intersubjektiver Ver- handlung von Wissen. Diskurse sind als artikulatorische Praxen zu verstehen, die „soziale Verhält- nisse nicht passiv repräsentieren, sondern diese als Fluss von sozialen Wis- sensvorräten durch die Zeit aktiv konstituieren und organisieren“.53 Der Dis- kurs steht dem Symbolischen ‚gegenüber‘: Er speist sich aus ihm (Denkwei- sen drücken sich in Zeichen und Symbolen aus). Gleichzeitig ist aber der Dis- kurs auch die Ordnungsfunktion der Zeichen und Symbole, er bestimmt, was die Symbole bedeuten. Der Diskurs organisiert die Bedeutung, die in den sym- bolischen Systemen liegt, als eine Form der permanenten und dynamisch-va- riablen Verhandlung von Bedeutung. Der Diskurs organisiert, was innerhalb einer Gesellschaft ‚wissbar‘ ist. Dieses Wissbare bestimmt sich aus dem Phä- nomen der Aufschreibung. Wissen muss aufschreibbar, in Symbole und Ord- nungen überführbar sein, in intersubjektiv reproduzierbare symbolische For- men übersetzt werden, um (jenseits des Subjekts selbst) effektiv zu sein. Am Beispiel der Nützlichen Bilder wird nun schnell offensichtlich, wo das Problem einer solchen Versprachlichung des Wissens liegt. Denn die Wissen- Bild-Kopplung, die wir hier auffinden, ist zutiefst künstlich. Das Bildzeichen verweist auf nichts Erkennbares, das in einer (wie auch immer konzeptuali- sierten) Realität vorhanden wäre. Wir haben noch nie ein ‚denkendes Gehirn‘ gesehen. Die Kopplung von Wissen an das Bild ist hier eine rein abstrakte Re- ferenzstiftung. Es bedarf einer Instanz, die diese Kopplung legitimiert und an ihrer Naturalisierung arbeitet. Jenseits des Experten, des Wissenden (sei es der weißbekittelte Arzt, Edward Markey oder Hans Wigzell) ist dies vorrangig Aufgabe der Medienkommunikation. 52 Hier scheint Platons Ideenlehre auf, in der Platon darüber nachdenkt, wie die Vernunft die Fä- higkeit erlangt, die letzten Seinsgründe (im Sinne der Ideen hinter den Dingen) unmittelbar durch theôria zu erfassen. Dem gegenüber steht nun eine Position, die sich von dieser idea- Lehre oder den Positionen der exstasis und theologischen Omnipräsenzschau abgrenzt, die also die Möglichkeit der Wesensschau und ihrer Artikulierbarkeit verweigert. 53 Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, 4. Aufl., Münster, S. 23. PRODUKTION VON EVIDENZ 57 Die Evidenzstiftung ist also charakterisierbar als einerseits eine Kopplung von Wissen an Symbol und andererseits als eine Form der institutionalisierten Didaktisierung dieser Wissen-Bild-Kopplung. Friedrich Balke legt dar, dass auch Verfahren der Evidenzstiftung auf For- men der Konventionalisierung durch Wiederholung beruhen. Er weist Strate- gien der Rekurrenz, Serialisierung, Paraphrasierung und Rhythmisierung aus, die medial an der Stabilisierung von Aussagelogiken künstlicher Kopplung ar- beiten.54 In dieser Manufakturierung von künstlichen Wissen-Bild-Kopplun- gen bringen Medien aber nicht nur ,etwas‘ zur Erscheinung, sondern auch sich selbst. Die entstehenden Bild-Wissen-Komplexe neigen dazu, sich in Form va- riabler Bildmetaphern durch die Medienlogiken zu ziehen; sie werden zu kol- lektiven Symboliken, die ihre Bedeutungsproduktionen eng an den Ort ihrer Entstehung anbinden. Inter- und Spezialdiskurs Wie lässt sich aber nun die Auslagerung des Diskurses im Evidenzfall, also die „Exterritorialisierung“ eines Symbolischen aus dem Diskurs veranschla- gen? Wie ließe sich der Moment der Bezugnahme darstellen, in dem der Dis- kurs auf sich selbst verweist, um seine Evidenz sicherzustellen? Wie kann die Veränderung und Transformation von Bedeutung, Sinn oder Wissen skizziert werden, welche Veränderungen im Übergang von einem spezialisierten Wis- sen (wie eben einem medizinischen bildgebenden Verfahren) zu einem Wissen des Common Sense (wie eben materialisiert in einem Titelbild der Neue Apo- theken Illustrierte) treten hier auf? Denn es scheint sich offensichtlich um ver- schiedene Formen des Wissens zu handeln, die uns hier am ‚gleichen‘ Bild an- gelagert begegnen. Die Gehirn-CT inkorporiert für einen ausgebildeten Medi- ziner ein anderes Wissen als für den Betrachter der InstraTrak™-Reklame oder den Zuschauer einer Emergency Room-Folge. Mit den Methoden der kri- tischen Diskurstheorie lässt sich diese Differenz pointiert benennen. Die kritische Diskursanalyse geht von der Beobachtung aus, dass Orte und Zeiten von Aussagen sich durch deutlich offenliegende Unterschiede konstitu- ieren. Verschiedene Faktoren der Differenzierung prägen, bilden und stabili- sieren unterschiedliche ‚Sprachformen‘, Aussageformen und Wissenskomple- xe.55 In diesen Orten dominieren spezialisierte Sprachformen, die subjektive und intersubjektive Wissenszirkulation, sogenannte Spezialdiskurse. Den Ab- grenzungsverfahren der Spezialdiskurse (untereinander wie auch zu den Dis- kursen der ,populär-kulturellen‘ Orte) stehen dann Integrations- und Reinte- 54 Balke (2005), Medien und Verfahren der Sichtbarmachung. 55 Eine solche Differenzierung setzt an einer Überzeugung an, moderne Gesellschaften durch funktionale Ausdifferenzierung charakterisiert zu betrachten, d. h. durch die Entwicklung ab- grenzbarer und spezieller Handlungs- und Wissensbereiche, die ihre jeweilig eigenen Aus- sagestrukturen in Form spezifischer Wissensdiskurse ausgebildet haben. 58 ROLF F. NOHR grationsverfahren zur Seite, die quasi ‚kompensatorisch‘ diese distinkten Be- reiche aneinander ankoppeln.56 Translationsarbeit und Kommunikation wird somit durch koppelnde Struk- turen und Diskurse hergestellt. Und diese verbindenden Strukturen firmieren in der Diskurstheorie unter dem Begriff des Interdiskurses: Die wichtigste Funktion solcher kultureller Interdiskurse ist die Produktion und Bereitstellung von diskursverbindenden Elementen und mit deren Applikation die Produktion und Reproduktion kollektiver und individueller Subjektivität, die in hochgradig arbeitsteiligen und ausdifferenzierten Gesellschaften leben kön- nen, ohne ständig in verschiedenste Spezialisierungen und Professionalisierun- gen auseinander gerissen zu werden.57 Die Lesbarkeit solcher Interdiskurse entsteht also durch eine Art der doppelten Codierung. Das Ausgedrückte muss in jedem der beiden Diskurse ‚lesbar‘ sein.58 Somit wird nun aber auch erkennbar, wie sich eine Argumentation am hier verhandelten Gegenstand unter den Prämissen der Diskurstheorie entfal- ten kann. Der Ort des natur- oder ingenieurswissenschaftlichen Labors des Beispiel- bildes kann als Position einer dezidierten Wissensformation und somit als Spezialdiskurs charakterisiert werden. Das Zirkulieren der daraus abstammen- den Bild-Wissen-Formen in öffentlichen und gesellschaftlichen Zusammen- hängen kann demgegenüber als Verfahren des Interdiskurses bezeichnet wer- den. Von entscheidender Bedeutung zum Verständnis der ‚Nützlichkeit‘ ist folglich der Ort des Übergangs; die Frage danach, wie sich ein so perspekti- vierter Interdiskurs herstellt und – im Folgenden –, wie er in einem interdis- kursiven System funktionale und operative Bedeutung entfaltet und wie er auf den Common Sense zurückschlägt. Ein herausgehobener Ort der Kopplung von Diskursen und der Einbindung in den Common Sense ist der Aussagenort der Medien. Hier, in einem Aussagekomplex, der sich schon funktional als Ort der Verschmelzung, Zusammenfügung, Diskussion und Stabilisierung unter- 56 Vgl. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 2. aktua- lisierte und erw. Aufl., Opladen, 1999. 57 Rolf Parr/Matthias Thiele, „Eine ‚vielgestalte Menge von Praktiken und Diskursen‘. Zur In- terdiskursivität und Televisualität von Paratexten des Fernsehens“, in: Klaus Kreimeier/Georg Stanitzek, Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen, Berlin, 2004, S. 261-282: 265. 58 Keineswegs aber kann die so gemachte Differenzierung auf eine unterschiedliche (inkom- mensurable) Epistemologie heruntergebrochen werden. „Dieser Unterschied zwischen Spe- zial- und Interdiskurs ist nicht identisch mit C. P. Snows Two Cultures [...]. Natur- und Kul- turwissenschaften bzw. Natur-, Geistes- und Kulturwissenschaften unterscheiden sich zwar u. a. auch durch verschiedenes Prozessieren der Differenz zwischen Spezial- und Interdiskur- sivität und ihres Verständnisses, sind aber institutionell sämtlich als Spezialdiskurse konstitu- iert.“ Jürgen Link, „Aspekte der Normalisierung von Subjekten. Kollektivsymbolik, Kurven- landschaften, Infografik“, in: Ute Gerhard/Jürgen Link/Ernst Schulte-Holtey (Hg.), Infografi- ken, Medien, Normalisierung. Zur Kartografie politisch-sozialer Landschaften, Heidelberg, 2001, S. 77-92: 78. PRODUKTION VON EVIDENZ 59 schiedlichster Aussageformen darstellt, gewinnt das Zirkulieren und Iterieren der Interdiskurse einen wichtigen Stellenwert. In den interdiskursiven Bereichen (wie Alltag; öffentliche Meinung; Medien; Allgemeinbildung; Weltanschauung usw.) wird die Gesamtheit der Spezialdis- kurse in hochgradig selektiver Weise durch Konzepte, prägnante Formulierun- gen und ‚Bilder‘ repräsentiert. Dabei gehen (in idealtypischer Vereinfachung) nur solche Einheiten in den Interdiskurs ein, die durch Diskursinterferenzen bzw. Diskurskoppelungen ,mehrstimmig‘ (paradigmatisch expandiert) worden sind. Man kann es geradezu (wiederum idealtypisch vereinfachend) als Tendenz der Spezialdiskurse bezeichnen, Konnotationen einzuschränken und die Denotation herrschend zu machen, und umgekehrt als Tendenz des Interdiskurses, Denota- tionen auf reiche Konnotationen (und damit auf ‚Literarizität‘) hin zu er- weitern.59 Der interessanteste Ort für unsere Überlegungen ist aber der sogenannte Inter- spezialdiskurs. Hier bündeln sich spezialdiskursive Elemente, die in mehreren Spezialdiskursen auftauchen (also verbindende Aussagekomplexe von Medi- zin und Biologie etc.). Meines Dafürhaltens wäre dies nun auch der Ort, in dem sich die jeweiligen Exkludierungen von Diskursfragmenten organisieren. Hier scheidet sich Evidenzbehauptung von ausgelagertem Evidenz-‚Beweis‘, und hier wird die jeweilige Referenzialisierung von Evidenzbehauptung und ‚verifizierender Instanz‘ organisiert. In bestimmten Fällen nun kann es noch zu einer Intensivierung dieser trans- ferierten Bilder kommen. Wenn die interdiskursiven Laborbilder innerhalb der medialen Aneignung, Zirkulation und Bedeutungsaufladung an signifikante gesellschaftliche Bedeutungskomplexe ankoppeln, kann es geschehen, dass diese Bilder sich um ein weiteres Mal verselbstständigen, zu performativen und elementar sinnstiftenden Bildern gerinnen. So ist es sicherlich im Falle des ‚denkenden Gehirns‘ geschehen. Ob dies im Beispiel des evolutionären Spermiums gelingt, sei dahingestellt und abzuwarten; die leckende Ver- schlusskappe im Livebild der spillcam wird vermutlich den ölverschmierten Vogel auf Dauer nicht als interdiskursive Verdichtung ablösen können. Epistemische Evidenz und „unmögliche Evidenz“ Damit wäre nun also ein Modell skizziert, wie sich diskursive Evidenz in Me- dienverfahren in einem dynamischen und automatisierten Prozess der diskursi- ven Kopplung und Exklusion herstellt. Andererseits wäre es nun aber vermes- sen, ein solches Modell selbst als über der Ordnung der beschriebenen Pro- blemlage anzunehmen, es sozusagen zu einem Erklärungsmodell dritter Ord- nung zu erheben. Ein Modell, das Evidenz erklärt, ist selbst eine ‚Evidenzma- 59 Jürgen Link/Rolf Parr, „ Semiotik und Interdiskursanalyse“, in: Klaus-Michael Bogdal (Hg.), Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, 2. Aufl., Opladen, 1997, S. 123 f. 60 ROLF F. NOHR schine‘, die sich einigen fundamentalen Problemen ausgesetzt sieht. Insofern seien hier im Sinne eines Fazits nicht die ‚Stärken‘ des Vorschlags, sondern eher seine Probleme nochmals gebündelt. 1. Problem: Evidenz nachweisen heißt Evidenz erzeugen Es muss kaum darauf hingewiesen werden, dass ein wissenschaftliches Argu- mentieren, das ideologiekritisch an einem Bild arbeitet, im Grunde nichts an- deres tut als ein ‚blindes Bild‘ hochzuhalten und ebenso einen Imperativ des ‚Sieh (kritisch) hin!‘ zu formulieren. Und somit degradiert sich der definitori- sche Versuch als tautologisch. Die Zeigehandlung am Beweisbild ist als eine tradierte Rhetorik erkennbar, die jedem symbolischen Ausdruckssystem inne- wohnt: Nicht zufällig kann auch sogar die Evidenz selbst in Zweifel gezogen wer- den, denn die Gewissheit ist Zweifel, insofern sie nämlich die Übernahme einer Tradition des Denkens ist, die sich zur evidenten ,Wahrheit‘ nicht zu verdichten vermag, wenn ich nicht auf ihre Explikation Verzicht leiste. Aus ein und demselben Grund ist eine Evidenz faktisch unwiderstehlich und doch immer noch anfechtbar; es sind nur diese zwei Weisen, ein und die- selbe Sache auszusprechen [...].60 2. Problem: Evidenz ist unmöglich Mit jedem Wissen geht eine Kunst der Darstellung einher – nach Evidenz zu fragen heißt also nach Kunstfertigkeiten der Kommunikabilität und der Ex- pression zu fragen. Im Begriff der Evidenz ist das, was man als Kern des epis- temischen Verfahrens bezeichnen könnte – das Denken –, und das, was oft als Moment der Darstellung und der Präsentation bezeichnet wird – das Symboli- sche –, von vornherein verschränkt. Diese Position haben wir oben mit dem Kant’schen Passus der „intellektuellen Anschauung“ eingeführt. Dieses hier nur skizzenhaft ausgeführte Verständnis einer auf Kant rekurrierenden unmög- lichen Evidenz determiniert alle Untersuchungen aktueller Evidenzbegriffe. Denn es scheint nachvollziehbar, dass die von Kant konstatierte Unmöglich- keit von subjektiver und innerer Anschauung der Dinge jenseits der Sprache und des Symbolischen eine relativ große Nähe zu Postulaten aufweist, wie sie in konstruktivistischen Positionen, in den Wendungen des linguistic und des pictorial turns aufscheinen. Kurz gesagt: Der gesamte Bestand der poststruk- turalistischen Theoriebildung, der die Arbitrarität, die Temporalität und produ- zierte Referenzialität von Zeichen und Objekt betont, scheint sich wesentlich besser mit Kant als mit den Positionen einer pragmatischen und gelungenen Evidenz oder einer funktionierenden kommunikablen Wesensschau der Dinge zu verbinden. Evidenz scheint per se unmöglich; aus dieser Unmöglichkeit 60 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin, 1966, S. 451. PRODUKTION VON EVIDENZ 61 entsteht aber eine Art von Sehnsucht, mit einer evidenzähnlichen Rhetorik die- se Unmöglichkeit zu kompensieren. Dies führt zu einem weiteren wesentli- chen Problem. 3. Problem: Evidenz und die Legitimationskrise der Geisteswissenschaft Jede Annäherung an einen Begriff der unmöglichen Evidenz oder der diskursi- ven Evidenz scheint das Phänomen mehr zu verunklaren als zu klären. Und dramatischer: Das sich die ‚Jagd‘ nach dem Evidenzbegriff als eine Jagd nach dem Heiligen Gral erweisen kann, also dem Versuch, etwas zu finden, von dem man sich Erlösung erhofft, ohne zu bemerken, dass es eher sinnig wäre, darüber nachzudenken, warum und wovon man erlöst werden will, anstatt weiter sinnlos durchs Land zu reiten. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die Suche nach dem Evidenten zuallererst auch eine Suche, nach (ver- loren gewähnten) Begriffen von absoluter Wahrheit, Objektivität, Beweissi- cherheit oder Ähnlichem sein mag. Und selbst die Annahme einer per se gege- benen Unmöglichkeit solcher Begriffe oder Funktionen und die Annahme, dass Wahrheit, Objektivität, Beweissicherheit nur als relative, produziert oder schlicht diskursiv manufakturierte Begriffe existent seien, lässt im Zweifelsfall doch eine Motivation erkennen, die recht normativ und politisch daherkommt. Es ist in nicht wenigen Fällen der Gedanke naheliegend, dass die fast zwang- hafte Suche nach dem Evidenten oder dem Nachweis der Unmöglichkeit des Evidenten oder der Konstruiertheit des Evidenten aus der schon erwähnten Legitimationskrise der Geisteswissenschaft erwächst. ‚Die Anderen‘ haben die harten Fakten und einen unverrückbaren Glauben an die Gültigkeit dieser Fakten, ‚wir‘ den Zweifel, die Evidenzkritik, den Relativismus – sowie eine uneingestandene Sehnsucht nach dem verlorenen Unhintergehbaren. Ausblick: Über Evidenz reden heißt immer, das Subjekt aufrufen Ich habe in diesem Text den Vorschlag gemacht, die Anmutung der Nützlich- keit und Evidenz zunächst einmal ‚nur‘ als ein Spiel der Diskurse zu begrei- fen, nach dem also Evidenz ein Effekt symbolischer Grammatiken, Automatis- men, Schemata und Iterationen ist. Ich meine allerdings auch, dass wir jenseits dieser ‚maschinellen‘ Verfahren noch auf einen Überschuss treffen, der eben- so der Reflexion bedarf – wenngleich dieser Überschuss nicht unbedingt auf eine Trennung in starke und schwache Bilder hinführt oder in eine Unterschei- dung in ‚wahre‘ und ‚unwahre‘ Bilder leiten wird. Abbildung 7 zeigt ein schönes Beispiel für eine subjektive, wiewohl tech- nisch vermittelte, dennoch nachvollziehbar unmittelbare Evidenzerfahrung – ein Pedoskop. Diese Röntgengeräte wurden von den 1920er bis zu den 1950er Jahren in Schuhgeschäften eingesetzt. Der oder die Käufer/in konnten sich mit einem schnellen Blick davon überzeugen, ob die eigenen Füße gut in die neu- 62 ROLF F. NOHR 7 – Pedoskop – Röntgengerät zur Überprüfung der Passform von Schuhen en Schuhe passen.61 Auch wenn wir selbst nie durch ein Pedoskop geblickt ha- ben, so ist uns doch nachvollziehbar, wie die Anmutung gewirkt haben mag, in ein solches Gerät zu blicken. Die eigenen Zehenskelettknochen im diffusen grünen Röntgenlicht zu sehen, von einer schwach sichtbaren Kontur des Schuhs umgeben und dabei dann mit den Zehen zu wackeln, ist eine starke Er- fahrung. Die Erfahrung, zu sehen und zu spüren, dass ein Schuh passt, muss eine subjektiv-leibliche Augenscheinlichkeitserfahrung gewesen sein. Diese Erfahrung und die Verführungskraft, die allein schon das Gedankenexperi- ment, sich dem Pedoskop auszusetzen, entwickelt, ist ein starkes Argument, über einen solchen Erfahrungsüberschuss der Evidenz weiter nachzudenken – und auch darüber, warum die subjektive Erfahrung nicht zu einer intersubjek- tiven Erfahrung werden kann. 61 Jacalyn Duffin/Charles R.R. Hayter, „Baring the Sole. The Rise and Fall of the Shoe-Fitting Fluoroscope“, in: Isis 91, 2 (2000), S. 260-282. PRODUKTION VON EVIDENZ 63 Literatur Agamben, Giorgio, „Noten zur Geste“, in: Jutta Georg-Lauer (Hg.), Postmoderne und Politik – Beiträge zur Philosophie und Gesellschaftskritik, Tübingen, 1992, S. 97- 107. Aquin, Thomas von, Über sittliches Handeln: Summa theologiae I-II q. 18-21, hg. v. Rolf Schönberger, Stuttgart, 2001. Balke, Friedrich, „Medien und Verfahren der Sichtbarmachung“, in: Transkriptionen – Schwerpunkt: Evidenz. Newsletter des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medien und Kulturelle Kommunikation SFB/FK 427, 5 (2005), S. 2-4. Bazin, André, „Ontologie des fotografischen Bildes“, in: ders., Was ist Kino? Bau- steine zur Theorie des Films, Köln, 1975, S. 21-27. Boehm, Gottfried, „Zwischen Auge und Hand: Bilder als Instrument der Erkenntnis“, in: Bettina Heintz/Jörg Huber (Hg.), Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbar- machung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich, 2001, S. 43-54. Breidbach, Olaf, Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung, München, 2005. Cuntz, Michael/Nitsche, Barbara/Otto, lsabell/Spaniol, Marc, „Die Listen der Evidenz. Einleitende Überlegungen“, in: dies. (Hg.), Die Listen der Evidenz (Mediologie 15), Köln, 2006, S. 9-33. Daston, Lorraine/Galison, Peter, „Das Bild der Objektivität“, in: Peter Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/M., 2002, S. 29-99. Duffin, Jacalyn/Hayter, Charles R. R., „Baring the Sole. The Rise and Fall of the Shoe-Fitting Fluoroscope“, in: Isis 91, 2 (2000), S. 260-282. Eisler, Rudolf, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Bd. 1 und 2, 2. völlig neu be- arb. Aufl., Berlin, 1904. Frege, Gottlob, Schriften zur Logik und Sprachphilosophie: aus dem Nachlaß, hg. v. Gottfried Gabriel, Hamburg, 1978. Geimer, Peter, „Einleitung“, in: ders. (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/M., 2002, S. 7-27. Jäger, Ludwig, „Evidenzverfahren“, in: Transkriptionen – Schwerpunkt: Evidenz. Newsletter des kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs SFB/FK 427, 5 (2005), S. 10-13. Ders., „Schauplätze der Evidenz: Evidenzverfahren und kulturelle Semantik. Eine Skizze“, in: Michael Cuntz/Barbara Nitsche/Isabelle Otto/Marc Spaniol (Hg.), Die Listen der Evidenz (Mediologie, 15), Köln, 2006, S. 37-52. Jäger, Siegfried, Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, 4. Aufl., Münster, 2004. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernuft I, in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Werkaus- gabe in 12 Bänden, Band. III, Frankfurt/M., 1981. [1781] Link, Jürgen, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 2. ak- tualisierte und erw. Aufl., Opladen, 1999. Ders., „Aspekte der Normalisierung von Subjekten. Kollektivsymbolik, Kurvenland- schaften, Infografik“, in: Ute Gerhard/Jürgen Link/Ernst Schulte-Holtey (Hg.), Info- grafiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartografie politisch-sozialer Landschaften, Heidelberg, 2001, S. 77-92. Ders./Parr, Rolf, „Semiotik und Interdiskursanalyse“, in: Klaus-Michael Bogdal (Hg.), Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, 2. Aufl., Opladen, 1997, S. 108-133. 64 ROLF F. NOHR Merleau-Ponty, Maurice, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin, 1966. Metz, Christian, Sprache und Film, Frankfurt/M., 1973. Nichols, Bill, „Evidence – Fragen nach dem Beweis“, in: Michael Cuntz/Barbara Nit- sche/Isabelle Otto/Marc Spaniol (Hg.), Die Listen der Evidenz (Mediologie 15), Köln, 2006, S. 86-100. Nilsson, Lennart, Leben: Bilder aus dem Inneren des menschlichen Körpers, Mün- chen, 2006. Parr, Rolf, „Wiederholen. Ein Strukturelement von Film, Fernsehen und neuen Medien im Fokus der Medientheorie“, in: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte dis- kurstheorie, 47 (2004), S. 33-39. Ders./Thiele, Matthias, „Eine ‚vielgestalte Menge von Praktiken und Diskursen‘. Zur Interdiskursivität und Televisualität von Paratexten des Fernsehens“, in: Klaus Krei- meier/Georg Stanitzek (Hg.), Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen, Berlin, 2004, S. 261-282. Peters, Sibylle/Schäfer, Martin Jörg, „Intellektuelle Anschauung – unmögliche Evi- denz“, in: dies. (Hg.), ‚Intellektuelle Anschauung‘. Figurationen von Evidenz zwi- schen Kunst und Wissen, Bielefeld, 2006, S. 9-24. Schmidt, Siegfried J., „Bildgedächtnis: Fragen über Fragen“, in: Klaus P. Dencker (Hg.), Interface/Weltbilder: Computergestützte Visionen, Baden-Baden, 1995, S. 70- 75. Tarski, Alfred, „Die semantische Konzeption der Wahrheit und die Grundlagen der Se- mantik“, in: Gunnar Skirbekk (Hg.), Wahrheitstheorien. Eine Auswahl aus den Dis- kussionen über Wahrheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M., 1977, S. 140-188. Werner, Gabriele, „Heemskerck, Röntgen und der Beweischarakter von Reproduk- tionstechnik“, in: Ulrike Bergermann/Claudia Breger/Tanja Nusser (Hg.), Techniken der Reproduktion. Medien – Leben – Diskurse, Königsstein, 2002, S. 67-84. Wigzell, Hans, „Nachwort“, in: Lennart Nilsson, Leben: Bilder aus dem Inneren des menschlichen Körpers, München, 2006, S. 289-291. Winkler, Hartmut, Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien, Frankfurt/M., 2004. Ders., „Mediendefinition“, in: Medienwissenschaft, 1 (2004), S. 9-27. Wöbse, Anna-Katharina, „Ölpest und Pechvogel: Zur Frühgeschichte eines internatio- nalen Umweltkonflikts“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU), 54 (2003), S. 671-681. Internetquellen http://globalwarming.house.gov/files/LTTR/051910_LamarMcKay.pdf http://globalwarming.house.gov/mediacenter/pressreleases_2008?id=0245 http://globalwarming.house.gov/spillcam http://green.blogs.nytimes.com/tag/edward-j-markey/ http://news.blogs.cnn.com/2010/08/17/tuesdays-live-video-events-23/ http://www.americablog.com/2010/07/bp-photoshops-fake-photo-of-command.html http://www.bp.com/sectionbodycopy.do?categoryId=9034366&contentId=7063636 http://www.energyboom.com/policy/live-webcam-feed-underwater-oil-spill-go-tonight http://www.msnbc.msn.com/id/37406317/# http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,700128,00.html JÜRGEN LINK NORMALISIERUNG ZWISCHEN SPONTANEITÄT UND ADJUSTIERUNG. MIT EINEM BLICK AUF DIE „DEMOGRAFISCHE KRISE“ Die These vom Normalismus als Emergenz der europäischen Moderne impli- ziert diejenige von der Bifurkation der Kategorien Normativität und Normali- tät seit dem frühen 19. Jahrhundert.1 Als historisches Apriori des Normalismus muss die Entstehung verdateter Gesellschaften bestimmt werden. Verdatete Gesellschaften sind solche, die sich flächendeckend und regelmäßig statistisch transparent machen. Während normative Normen durch Punktförmigkeit, Prä- zision, Imperativität und Präskription, Einzelfallbezogenheit, Präexistenz ge- genüber dem Handeln und der Juridoförmigkeit gekennzeichnet sind, gilt für Normalitäten – idealtypisch gesehen – das Gegenteil: breites Spektrum, Flexi- bilität und Fluktuation, Fakultativität und Deskription, Massenbezogenheit, Postexistenz qua Durchschnittsbildung gegenüber dem Handeln und bloße sta- tistische Orientierungsfunktion. Wenn die Durchschnittsgröße (ob als arithme- tisches Mittel oder als Median) der Männer eines Landes bei 173 Zentimeter liegt, dann sind 156 cm oder 192 cm große Individuen keineswegs anormal. Im Unterschied zur Punktförmigkeit normativer Normen gelten für Normalitä- ten lediglich Schwellen- bzw. Grenzwerte: Irgendwo endet das normale Spek- trum der Körpergröße und beginnen die anormalen Zwerge bzw. Riesen, die aber insgesamt eine verschwindende Minderheit darstellen. Industrienormen wie das DIN-A4-Format sind also zunächst einmal normativ, wenn sie auch in ihrer Gesamtheit als Sonderfall in den Normalismus integriert werden kön- nen.2 Automatische einschließlich quasi-automatischer, tayloristischer Produk- tion beruht in jedem konkreten Einzelfall auf normativen Industrienormen, kann aber insgesamt auch normalistische Produktspektren mit Streubreite be- dienen. Die Computerisierung erlaubt tendenziell eine Adjustierung der Produkte, etwa der Kleidungsgrößen, an individuelle Streubreiten und damit die vollständige Integration der Industrienorm in den Normalismus.3 1 Zu dieser Unterscheidung wie auch zu den folgenden komprimierten Begriffsbestimmungen s. ausführlich Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 4., ergänzte, überarbeitete und neu gestaltete Aufl., Göttingen, 2009. [1996] 2 Näheres s. Jürgen Link, „,Normativ‘ oder ‚normal‘? Diskursgeschichtliches zur Sonderstel- lung der Industrienorm im Normalismus, mit einem Blick auf Walter Cannon“, in: Werner Sohn/Herbert Mehrtens (Hg.), Normalität und Abweichung. Studien zur Theorie und Ge- schichte der Normalisierungsgesellschaft, Opladen, Wiesbaden, 1999, S. 30-44. 3 Dazu exemplarisch Jürgen Link, „Textil genormte oder textil differenziell gestylte Körper? Uniformität zwischen Normativität und Normalität“, in: Gabriele Mentges/Birgit Richard 66 JÜRGEN LINK Der Grenzfall der Industrienorm ist symptomatisch für das Verhältnis von Normalismus und Standardisierung. Industrienormen gehören zu den Stan- dards, zu denen aber auch schon alle Messstandards gehören. Hätten wir kei- nen Messstandard, etwa in Zentimeter, dann könnte keine Verdatung der Kör- pergröße stattfinden und damit auch keine Statistik und keine Bestimmung von Normalitäten erhoben werden. Hätten wir keine Messstandards für die Zeit, so könnten Prozesse nicht verdatet werden. Standards bilden also eine Art Raster für die Verdatung und insofern eine Voraussetzung für normalisti- sche Prozesse und Adjustierungen, die aber keineswegs mit ihnen identisch sind oder auf sie reduziert werden können. Bevor ich die Anschaulichkeit am konkreten Fall demografischer De- und Renormalisierung erhöhen kann, hier zunächst noch einmal eine kurze defini- torische Rekapitulation: Unter „Normalismus“ sei die Gesamtheit aller sowohl diskursiven wie praktisch-intervenierenden Verfahren, Dispositive, Instanzen und Institutionen verstanden, durch die in modernen Gesellschaften „Normali- täten“ produziert und reproduziert werden. Konstitutiv sind dabei insbeson- dere die Dispositive der massenhaften Verdatung, d. h. die statistischen Dispo- sitive im weitesten Sinne: auf der Ebene der Datenerfassung einschließlich der Befragungen, auf der Ebene der Auswertung einschließlich der mathematisch- statistischen Verteilungstheorien, auf der Ebene der praktischen Intervention einschließlich aller sozialen Um-Verteilungs-Dispositive. Dabei sind die pro- duzierten und reproduzierten Normalitäten in der Synchronie im Wesentlichen durch „gemittelte“ Verteilungen gekennzeichnet (breiter mittlerer „normal range“ mit dichter Besetzung und zwei tendenziell symmetrische, „anormale“ Extremzonen mit dünner Besetzung) und idealiter einer „symbolisch gaußo- iden Verteilung“ angenähert. In der Diachronie ist der Idealtyp das „normale Wachstum“ in Gestalt der „endlos wachsenden Schlange“ (einer kontinuier- lichen Folge logistischer Kurven, also gelängter S-Kurven). Diese Dispositive regelmäßiger, systematischer und flächendeckender Verdatung stellen nach diesem Ansatz das historische Apriori des Normalismus dar, der demzufolge also erst seit dem 18. Jahrhundert entstanden wäre. Der Fall der Demografie eignet sich nun besonders gut unter der Frage be- handelt zu werden, wie „automatisch“ normalistische Prozesse ablaufen kön- nen, weil die Geburtenplanung (birth control) auf besonders heikle Eingriffe in Intimsphären und deren Spontaneität angewiesen ist. Historisch ist die Ver- datungslage durch zwei gegensätzliche Szenarien gekennzeichnet: Zum einen durch die malthusianischen und neomalthusianischen, die von einem symbo- lisch exponentiellen Wachstum und also einem katastrophischen Denormali- sierungsszenario ausgehen, woraus selbstverständlich radikale Formen der normalisierenden Intervention folgen (Heiratsverbote und andere Formen se- xueller Unterdrückung, später Sterilisierung; in China gesetzmäßiges Ein- (Hg.), Schönheit der Uniformität. Körper, Kleidung, Medien, Frankfurt/M., New York, NY, 2005, S. 43-56. NORMALISIERUNG – SPONTANEITÄT – ADJUSTIERUNG 67 Kind-System, das mit Sanktionen bewehrt ist, die nur die Armen und nicht die Reichen treffen). Auf der anderen Seite gibt es dagegen seit den 1920er Jahren jene Theorien, die von einer spontanen Normalisierung der demografischen Wachstumskurve nach dem Modell der logistischen Kurve ausgehen. Dafür gilt der Fall Frankreich als exemplarisch, wo bereits im 19. Jahrhundert der exponentielle Trend durch ein „spontanes“ zivilgesellschaftliches Zwei-Kin- der-System gestoppt wurde. Wenn diese „spontane“ Normalisierung der Kur- ve eine notwendige Begleiterscheinung von „Entwicklung“ ist, müsste diese Tendenz den Annahmen der UNO zufolge nach und nach alle Länder erfassen. Bekanntlich bezweifeln die Neomalthusianer diese Prognosen und rühren in regelmäßigen Abständen wieder die Alarmtrommel. Nun ist der Begriff der „Spontaneität“ zwar offensichtlich unumgänglich, aber deshalb nicht weniger rätselhaft. Angenommen die Wachstumsrate nor- malisiert sich „spontan“, so wäre der Begriff einer „automatischen“ Adjustie- rung für diesen Prozess zweifellos wenig passend. Die malthusianischen und neomalthusianischen Interventionsformen zwecks Normalisierung kommen bekanntlich nicht ohne normative Mittel, vor allem Sanktionen, aus. Aber auch so etwas wie die Spontaneität einer zivilgesellschaftlichen Selbstnormali- sierung ist auf diskursive Dispositive angewiesen, und zwar in erster Linie eben auf die normalistischen Dispositive der Verdatung. Selbstnormalisierung setzt Information über die Datenlagen bzw. die einschlägigen Kurvenland- schaften voraus, damit die normalistische Orientierungsfunktion greifen kann: als Stimulation eines bestimmten Verhaltens bzw. der Vermeidung eines sol- chen Verhaltens. Bekanntlich gehört es zu den wichtigsten Funktionen moder- ner Massenmedien, die normalistischen Datenlagen und die normalistischen Kurvenlandschaften in subjektivierter Form an die Subjekte zu vermitteln. Den Musterfall bildet die normalistische Infografik, die die Funktion der Sub- jektivierung durch elaborierte Kombinationen von statistischen Daten und Kollektivsymbolik erfüllt. Unter Kollektivsymbolik sei dabei die Gesamtheit aller „bildlichen“ Ele- mente des Mediendiskurses verstanden, d. h. Abbildungen im Wortsinne (z. B. Fotos, Filme, Karikaturen, Infografiken) plus alle sogenannten Sprachbilder, d. h. Symbole, Allegorien, Embleme, Vergleiche, Metaphern, Synekdochen, Modelle – insgesamt „Sinn-Bilder“ als Bilder, die (in der Regel mehrfachen) symbolischen Sinn ausstrahlen. Die fundamental binäre Struktur der Kollek- tivsymbole (Bild/Sinn, d. h. symbolische Bedeutung) lässt sich semiotisch und strukturalistisch sehr viel detaillierter analysieren, als es im vorliegenden Zu- sammenhang sinnvoll erscheint.4 Hingewiesen sei aber bereits an dieser Stelle 4 Dazu ausführlich und exemplarisch Jürgen Link, Die Struktur des Symbols in der Sprache des Journalismus. Zum Verhältnis literarischer und pragmatischer Symbole, München, 1978 so- wie ders., „Über ein Modell synchroner Systeme von Kollektivsymbolen sowie seine Rolle bei der Diskurs-Konstitution“, in: ders./Wulf Wülfing (Hg.), Bewegung und Stillstand in Me- taphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert, Stuttgart, 1984, S. 63-92. Die strukturalistische Symboltheorie definiert die 68 JÜRGEN LINK auf wichtige mediale Unterschiede der Bildebene wie den Unterschied zwi- schen dokumentarischen Bildern (Fotos und Filme realer Ereignisse) und fik- tionalen (wie Karikaturen). Auf diesen Unterschied wird im letzten Abschnitt ausführlich zurückzukommen sein. Zunächst einiges Anschauungsmaterial (vgl. Abb. 1): 1 – „Deutschlands Bevölkerungs-Zukunft“ Hier sehen wir – wie zwei Dächer über zwei einsame Mütter mit Kinderwagen montiert – zwei dicke, zunächst aufsteigende und dann fallende Kurven, deren Peak mit dem Jahr 2020 und 85,3 (84,5) Millionen Einwohnern markiert ist und bis zum Jahr 2050 auf 83,1 (78,9) Millionen abfällt. Es handelt sich um eine differenzierte Prognose, bei der die obere Kurve 270.000 „Zuwanderer“ (weil wir in Deutschland ja keine Einwanderer, sondern nur Zuwanderer ha- ben dürfen, um der mediopolitischen Klasse, die nun mal dekretiert hat, dass „Deutschland kein Einwanderungsland“ sei, das Gesicht zu wahren) – also „Zuwanderer“ jährlich impliziert – die untere dagegen nur 230.000. Die bei- den Mütter, von denen die eine ein Kopftuch trägt, gehen in Rückensicht in einer sich perspektivisch verengenden Straße, an deren Horizont zwei eben- falls einsame und sehr kleine Figuren nahezu verschwinden. Die Symbolik ist klar: Die Kurven berühren 2050 fast den Boden, also eine symbolische Null (obwohl das selbst beim sogenannten Worst-Case-Szenario noch immer fast Einheit zwischen einem ikonischen bzw. quasi-ikonischen, komplexen Symbolisanten (Pictu- ra) und einem (bzw. in der Regel mehreren, wodurch die Mehrdeutigkeit entsteht) dazu iso- morphen komplexen Symbolisat (Subscriptio) als gemeinsame Grundstruktur aller Symbolty- pen wie Emblem, Goethe-Symbol, Allegorie usw. Die Verschiedenheit der Typen erklärt sich im Wesentlichen aus der verschieden deutlich denotierten bzw. konnotierten Subscriptio. Die Rätselhaftigkeit einer lediglich schwach konnotierten Subscriptio liegt dem Eindruck der ‚symbolischen Tiefe‘ zugrunde. NORMALISIERUNG – SPONTANEITÄT – ADJUSTIERUNG 69 80 Millionen sind). Ferner kommt symbolisch auf eine eingeborene deutsche Mutter eine „zugewanderte“. Die Perspektivik symbolisiert zusätzlich eine „düstere Zukunft“. Also ganz klar ein Denormalisierungsszenario, das implizit an normalisierende Maßnahmen appelliert, die allerdings nicht expliziert wer- den. 2 – „Geburten ohne Kontrolle“ Wir sehen hier (vgl. Abb. 2) die Kombination zwischen einer symbolisch ex- ponentiellen demografischen Kurve (die beiläufig bemerkt bereits jetzt als übertrieben falsifiziert ist), und dem retuschierten Foto einer Menschenmasse, die buchstäblich ‚explodiert‘. Der durch die Infografik illustrierte Artikel stammt übrigens von einem sehr renommierten Wissenschaftler, dem Chemi- ker und „Vater der Pille“, Carl Djerassi. Die explodierende Masse löst Denor- malisierungsangst aus, die in Kombination mit den „wissenschaftlichen“ Da- ten und dem symbolischen Namen eines Exzellenzexperten noch verstärkt 70 JÜRGEN LINK wird. Die konnotierte, den Subjekten ‚unter die Haut gehende‘ Message lautet: die Basisnormalität der Welt ist in äußerster Gefahr, es besteht dringender Handlungsbedarf. Die Kollektivsymbolik dient also der Übersetzung von Statistik und Prog- nostik in subjektive Anschaulichkeit und Fühlbarkeit. Die Infografik setzt ih- rem Publikum sozusagen einen „inneren Bildschirm“ ein, auf den sie eine steil ansteigende Kurve projiziert, die einen Grenzwert überschreitet und sich etwa in eine rot unterlegte Gefahrenzone hineinbewegt. Die normalisierende Wir- kung auf die rätselhafte „Spontaneität“ einer Gesellschaft lässt sich allerdings nicht auf eine einzelne Infografik, auch nicht auf einen einzelnen Artikel oder Fernsehbericht zurückführen: Das Entscheidende ist vielmehr die für die ent- sprechende „Diskursökonomie“ (Hartmut Winkler5) charakteristische dichte zyklische Reproduktion. Indem in regelmäßiger Folge die symbolisch expo- nentielle Kurve in Kombination mit Sememen wie „Explosion“ und analogen Bildern massenhaft rezipiert wird, entsteht ein sogenannter „Konsens“ über ein sogenanntes „Thema“. Der Begriff des „Themas“ wiederum ist fundamen- tal für spontan genannte Meinungsbildungen in modernen Zivilgesellschaften, weil die konstitutiven Umfragen auf der Basis von „Themen“ erfolgen, die wiederum gerankt werden. Ein mediales „Thema“ zeichnet sich durch mehrere Eigenschaften aus, die an dieser Stelle nicht sämtlich dargestellt werden kön- nen. In unserem Zusammenhang seien lediglich die Folgenden erwähnt: Eine wichtige Eigenschaft für ein „Thema“ der Medien besteht gerade in einer ‚starken‘ kollektivsymbolischen Codierbarkeit. Die Explosionsmetapher als Teil des Bombensymbols gehört seit Langem zu den dominanten politischen Symbolen, da kaum etwas so evident ist, als dass „wir“ vor den Explosionen von Terrorismus oder Luftbombardements geschützt werden müssen. Eine zweite wichtige Eigenschaft für ein „starkes“ mediales „Thema“ liegt in seiner Einfügung in eine „mittlere Geschichte“6. Darunter sei eine über mittlere Zeit- räume hinweg stabile Gegnerschaft zwischen der politischen „Us“-Gruppe, also „unserem System“ (z. B.„Deutschland“, „Europa“ oder „der freie Wes- ten“), und einer gegnerischen „Them“-Gruppe verstanden. Die wichtigste „mittlere Geschichte“ zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ende der Zweiten Supermacht war die Geschichte des „Kalten Krieges“. Nach dem Ende des „Kalten Krieges“ entwickelten sich mehrere neue „mittlere Ge- schichten“, in denen fast immer ein Nord-Süd-Gegensatz eine Rolle spielt. Dazu gehört nicht zuletzt die „Bedrohung Europas durch eine Flüchtlings-Flut 5 Hartmut Winkler, Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien, Frank- furt/M., 2004. 6 Zum Begriff einer „mittleren Geschichte“ s. Jürgen Link, „Aktuelle Tendenzen des mediopo- litischen Diskurses in Deutschland (mit einem Blick auf Karl Heinz Bohrer)“, in: kultuRRevo- lution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie, 44 (2002), S. 51-58. Als „mittlere Geschich- te“ wird eine intermediäre narrative Tiefenstruktur zwischen den „großen Geschichten“ (grand récit, grand oder master narrative, große Erzählung) bei Jean-François Lyotard sowie den „kleinen Geschichten“ bestimmt. NORMALISIERUNG – SPONTANEITÄT – ADJUSTIERUNG 71 aus dem Süden, die aus der Bevölkerungs-Explosion entsteht“, wobei sich also mehrere „Themen“ von Denormalisierung koppeln und dadurch zusätzlich dramatisieren. Zu einer solchen Kopplung bietet die Infografik aus der Zeit (vgl. Abb. 2) sehr starke Anschlusspunkte, indem die Exponentialkurve differenziell dar- gestellt ist: Es sind die Regionen des Südens (ausgeflaggt sind Afrika, China, übriges Asien) die nach der Prognose allein auf 6 Milliarden ansteigen wer- den, während Europa, die ehemalige Sowjetunion und Amerika zusammen bloß undeutlich zwischen 1 und 2 Milliarden auf die Beine bringen. Auf diese im Normalismus entscheidend wichtige sogenannte „differenzielle Geburten- rate“ wird zurückzukommen sein. Evident erscheint jedenfalls, dass eine so starke Differenz im Wachstum einen Migrationsdruck aus den dynamischeren in die stagnierenden Regionen auslösen muss, wodurch also an das „Thema“ „Bevölkerungsexplosion“ tendenziell „Themen“ wie „Asylantenfluten“, „Mi- grantenströme“, „illegale Schlepperbanden“, „aggressiver Islam“ bis hin zu „Minaretten“ usw. ankoppelbar werden. Dabei spielt die Kollektivsymbolik die ungemein wichtige Rolle des Kopplungsdispositivs und der Subjektivie- rung der Daten. Schaut man sich die Grafik noch genauer an, so erkennt man beim Jahr 1950 in allen Kurven einen deutlichen Knick, von dem aus die Steilheit der Kurve wirklich nahezu in eine Vertikale überzugehen scheint. Dieser Knick konnotiert damit so etwas wie die definitive Denormalisierung, d. h. die Über- schreitung einer äußersten Grenze der Normalität bzw. der äußersten Normali- tätsgrenze. Häufig wird diese Grenze auch als „Schmerz-“ bzw. „Belastungs- grenze“ bezeichnet, und zwar im objektsprachlichen Text selbst: „Schmerz-“ und „Belastungsgrenze“ sind punktuelle Metaphern, die aber das Kollektiv- symbol des Subjektkörpers aufrufen, der in anderen Kontexten, z. B. in stereo- typer Weise unter Krankheiten, etwa ansteckenden, leiden kann. So konnotie- ren etwa die „Schlepper“ u. a. auch das „Einschleppen“ (von Krankheiten). Seit der öffentlichen Vorbereitung des UNO-Klimagipfels in Kopenhagen Ende 2009 ist eine zusätzliche Kopplung mit dem „Top-Thema“ „Klimawan- del“ entstanden: Auch dabei hat sich eine differenzielle Rate zwischen Nord und Süd entwickelt, indem der Norden mehr gegen die Treibhausgase und symbolisch gegen die „Verschmutzung der Erde“ tut als der Süden. Obwohl der mediopolitische Diskurs des Nordens dabei eine „größere Verantwortung“ des Nordens wegen der früheren „Klimasünden“ anerkennt, legt die Kollektiv- symbolik, darunter dominant die des Körpers, eine Kopplung der „Themen“ „Bevölkerungsexplosion“ und „Erdverschmutzung“ nahe – zusätzlich zur Kopplung mit den „Themen“ „Migration“ und „Islam“. Was für den Körper Krankheit und Schmerz, ist für die Migration Flut und für die Demografie Krieg (Explosion) – die Kollektivsymbole bilden also ein synchrones System aus Analogiengittern, so dass sie einander ersetzen und damit auch einander assoziieren lassen können. So kann eine Burg im Belage- rungszustand bekanntlich auch durch ein „volles Boot“ ersetzt werden. Das 72 JÜRGEN LINK Boot gehört zu den wichtigen Vehikel-Symbolen, und zwar zu denen, die ein kollektives Subjekt, eben die Wir-Gruppe, versinnbildlichen. In diesem Zu- sammenhang sei auf eine wichtige methodologische Implikation der Analyse von Kollektivsymbolen in den Massenmedien hingewiesen: Gerade auch die Kollektivsymbolik partizipiert an dem „Massen“-Aspekt dieser Medien. Wenn es auch sicher so etwas wie eine ästhetisch-singuläre Dimension einzelner Ka- rikaturen und sogar Infografiken gibt, so ist das Entscheidende der Effekt gro- ßer Quantitäten und engmaschiger Wiederholungen. Weil sich sowohl die symbolisch „exponentiellen“ Kurven (bei den verschiedensten „Themen“, z. B. auch bei demografischen wie der „Bevölkerungsexplosion“ oder bei öko- logischen wie dem „Treibhauseffekt“) wie auch die Körper-, die Boot- und die Kriegs-Symbole regelmäßig wiederholen, werden entsprechende quasi auto- matische „Tools“ auf den inneren Bildschirmen der regelmäßigen Mediennut- zer „implementiert“. In dem ununterbrochenen kombinatorischen Recycling der „Themen“ und der Symbole bilden sich stereotype Kopplungen und sym- bolische Äquivalenzen, durch die der viel beschworene „Konsens“ in sehr viel höherem Maße generiert wird als durch den Abgleich von Argumenten und Geltungsansprüchen im rationalen Dialog. Insofern könnte man die These ver- treten, dass das gesamte Netz der mehr oder weniger stereotypen bzw. sche- matischen Kollektivsymbole einer Kultur die Funktion einer Art von Standard höherer Ordnung erfüllt, also einer Art Raster, in das die konkreten Kurven- landschaften der denormalisierenden und normalisierenden Tendenzen einge- schrieben werden. Während die Stereotypie und Schematik der Kollektivsym- bolik in hohem Maße automatisiert ist, geht es dagegen in den je aktualhistori- schen, konkreten normalistischen Kurvenlandschaften immer um breite und differenzierte Spektren, immer um ein dynamisches Einpendeln von Werten und Daten, also stets um teils spontane, teils planend-intervenierende Flexibi- lität. Auf einer anderen Infografik (dpa, 16. Dezember 2002; vgl. Abb. 3) ist die Bevölkerungsexplosion als Leiter dargestellt, die diagonal vor einen Globus montiert ist, der dem Betrachter den afrikanischen Kontinent zuwendet. Unter dem Globus ist ein anwachsendes „Gewimmel“ von kleinen Figuren darge- stellt, die von rechts her (also symbolisch von Asien) auf die Leiter zueilen, sie besteigen und auf ihr hochklettern. Der obere Teil der sich diagonal von links unten nach rechts oben ersteckenden Leiter verlässt den Globus und hängt sozusagen in der Luft. Er endet beim Jahr 2050 und der Zahl von 9,32 Milliarden. Konnotativ sind damit zwei Grenzen markiert: Der Punkt, wo die Leiter den Globus überschreitet sowie die kurz nach 2050 drohende symboli- sche Megaschwelle von 10 Milliarden. Das Wesentliche an der Überschrei- tung einer solchen Grenze ist die Überschreitung eines (quantifizierbaren) Grenzwerts, und das Wesentliche dieses Grenzwerts wiederum ist die Grenze zwischen Normalität und Anormalität. NORMALISIERUNG – SPONTANEITÄT – ADJUSTIERUNG 73 3 – „Das Wachstum der Menschheit“ Das Publikum liest eine solche Infografik routinemäßig als „Frühwarnung“, d. h. als Mitteilung, dass in einem bestimmten Bereich Denormalisierung (Verlust der Normalität) droht und also Normalisierungsbedarf (üblicherweise „Handlungsbedarf“ genannt) besteht. Offenbar gehört die Unterscheidung nor- mal/anormal (bzw. nicht-normal) zu den konstitutiven Ordnungsprinzipien der heute ‚modernsten‘ Gesellschaftstypen. Im vorliegenden Fall bildet die Leiter nahezu eine steile Gerade, konnotiert also das alarmierend denormalisierende, symbolisch „exponentielle“ Wachstum und konnotiert demnach implizit den „Handlungsbedarf“, die Kurve spätestens etwa ab dem Punkt, wo sie den Glo- bus verlässt, in Richtung Horizontale (Nullwachstum) ‚zurückzubiegen‘. Wie das geschehen könnte, bleibt völlig ungesagt und unkonnotiert. Klar ist jeden- falls, dass es kaum „automatisch“ in einem strengen Sinne erfolgen kann. Wie die bisher kommentierten Beispiele zeigten, impliziert die Kombina- tion von Statistik und Kollektivsymbolik zunächst einen Effekt der positiven oder negativen Identifikation der Rezipienten mit den scheinbar „objektiven“ Datenlagen – und das ganz unabhängig von möglicher Manipulation der Daten bzw. ihrer numerischen Abbildung. Viel entscheidender ist der Subjekteffekt, den ich die Denormalisierungsangst nenne, d. h. die Angst, dass die Normali- tät verloren geht. Da das gesamte Sicherheitsgefühl in modernen Gesellschaf- ten aber auf der verlässlichen Reproduktion von Normalitäten beruht, geht die- se Angst wahrhaftig an die Wurzel der Subjekte. Dabei signalisiert der Begriff 74 JÜRGEN LINK der „Verunsicherung“ ziemlich genau den Sachverhalt beginnender und wach- sender Denormalisierungsangst. Modellartig lässt sich das mediale Spiel mit den symbolischen Normalitäts- grenzen auf dem „inneren Bildschirm“ der normalistischen Subjekte also wie das Cockpit eines modernen Vehikels begreifen. Auf dem Bildschirm kann das Subjekt ständig die verschiedenen symbolisch bebilderten Normalkurven verfolgen, so dass der Effekt eines normalistischen Über-Ich entsteht, dessen Stimme von innen spricht: Die Normalität unseres Sex ist durch eine exponen- tiell steigende AIDS-Kurve in höchster Gefahr; die Leistung unserer Schüler liegt laut PISA unter dem Grenzwert; dazu kommt eine exponentielle Steilkur- ve von Geburtenüberschuss armer farbiger südlicher Massen, die als Asylan- ten und Migranten zu uns einströmen; ebenso überschreitet die ökologische Belastung der Atmosphäre die Grenzwerte. All das erscheint mit der Deutlich- keit von EKG- und EEG-Kurven auf dem inneren Bildschirm und macht De- normalisierungsangst – es lässt nur eine Konsequenz zu: Ich muss all das drin- gend normalisieren, damit die Kurven wieder normal verlaufen. Es besteht Handlungsbedarf! „Konsens“ im Normalismus ist wesentlich diese Art Kon- sens über die Normalitätsgrenzen mit dem gleichen Gefühl von Denormalisie- rungsangst. Solange dieses normalistische Spiel nicht ‚gestört‘ ist, kann sich die Politik auf den normalistischen Konsens verlassen. Die Denormalisierungsangst wird ferner stark vergrößert durch die Platzie- rung von Datenlagen als „Spitzenthema“ der Medien mit Anschließbarkeit an eine „mittlere Geschichte“, wie es bei den Themen „Bevölkerungsexplosion“, „Geburtenschwund“, „Treibhauseffekt“, „Asylanten/Migranten“ der Fall ist. Je höher ein „Thema“ in den Rankings platziert, umso häufiger und umso ste- reotyper, schematischer, quasi automatischer wird es symbolisiert. Mehr noch: Die identischen Kollektivsymbole als Teilstrukturen der verschiedenen Bild- sorten zeitigen einen weitgehend unbewussten Nivellierungseffekt, so dass schließlich das Bewusstsein der Symbolizität der Bilder verloren geht und die Rezipienten mehr und mehr in einer Welt realisierter Kollektivsymbolik zu le- ben vermeinen. Man „sieht“ die Bevölkerungsexplosion, die Asylanten- und Migrantenfluten genauso wie die Schattenwirtschaft und das Ausufern der Staatsschuld – man „sieht“ die Denormalisierung. Schließlich ‚beweist‘ die symbolische Integration zwischen dokumentaristischen Bildern und statisti- schen, aber bebilderten Infografiken auch noch die „wissenschaftliche Exakt- heit“ dieser Medienwelt aus realisierten Symbolen und schafft dadurch einen massenhaften Konsens über Denormalisierungsrisiken und eine massenhafte Akzeptanz entsprechender Normalisierungsmaßnahmen. Bei der „Bevölkerungsexplosion“ handelt es sich gerade deshalb um ein ex- emplarisches normalistisches Paradigma, weil sie wie kein zweites das Pro- blem des „exponentiellen“ Wachstums und seiner Normalisierung in Gestalt einer (symbolisch) logistischen Kurve (gelängtes S) aufwirft. Damit sind Fra- gen wie die folgenden impliziert: Wird sich die „exponentielle“ Steilung mit ihrer Tendenz zu einer katastrophischen Denormalisierung spontan zur annä- NORMALISIERUNG – SPONTANEITÄT – ADJUSTIERUNG 75 hernden Horizontalen zurückbiegen? Wenn nicht, welche normalisierenden Interventionen sind denkbar und welche realistisch? Die entsprechenden Info- grafiken sind Musterfälle der oben erläuterten Subjektivierung objektiver Da- tenlagen: Typisch ist die Zweiteilung in die Exponentialkurve unten rechts und ihre Auffüllung oben links mit großen Massen von Köpfen (z. B. in Die Welt vom 15. August 1991; vgl. Abb. 4), wobei die Köpfe teilweise symbo- lisch ‚explodieren‘ (z. B. das obige Beispiel in Die Zeit vom 23. Oktober 1992; vgl. Abb. 2). 4 – „Bleibt die Erde bewohnbar?“ 76 JÜRGEN LINK Noch symptomatischer ist aber die „differenzielle“ Darstellung des Wachs- tumstrends wie auf der eingangs erwähnten Grafik der Zeit. Ähnlich setzt der Spiegel in seinem Aufmacherartikel „Die Baby-Lücke“ (30. August 1999; vgl. Abb. 5) links neben die Exponentialkurve differenzierte Blockdiagramme des Wachstums nach Kontinenten, wobei Europa mit 1,42 Kindern pro Frau von Afrika, mit 5,06 Kindern pro Frau weit „abgehängt“ wird. 5 – „Reiche Länder – wenig Nachwuchs“ Vergleicht man die Erscheinungsdaten, so sieht man teilweise eine Nachbar- schaft zwischen der Geschichte von der „Bevölkerungsexplosion“ bzw. vom „Geburtendefizit“ und der von der „Asylantenflut“. Diese Nachbarschaft gilt auch für eines der alarmierendsten Spiegel-Covers überhaupt, jenes vom 18. Mai 1992, das in ‚Horror-Violettrosa‘ gehaltene Bild zum Titel „Umweltgip- fel: Nord-Süd-Streit ums Überleben. Wem gehört die Erde?“ (vgl. Abb. 6). Wir sehen dort eine Erdkugel, aus deren oberer und unterer Hälfte je eine gierig zugreifende Hand herauswächst, die sich jeweils in die andere Hälfte einkrallt, wobei die „Südhand“ sich Europa und insbesondere Deutschland buchstäblich „unter den Nagel reißt“. NORMALISIERUNG – SPONTANEITÄT – ADJUSTIERUNG 77 6 – „Wem gehört die Erde?“ Es dürfte nach den bisherigen Ausführungen einigermaßen plausibel sein, an- zunehmen, dass bei statistisch relevanten Teilen des Publikums auf der Basis der eng verwandten und kontinuierlich stereotyp reproduzierten Kollektivsym- bolik eine Kopplung zwischen den Geschichten von der Bevölkerungsexplo- sion, vom Geburtendefizit und von der Einwanderung ‚einrasten‘ wird. Dies um so eher, als wir es in allen drei Fällen mit exemplarisch normalistischen Geschichten zu tun haben: In allen drei Fällen ist die Geschichte auf statis- tische Daten gestützt, so dass die subjektive Denormalisierungsangst ‚objek- tiv‘ untermauert wird. In allen drei Fällen vermitteln die Medien sehr ähnliche Kombinate von symbolisch „exponentiellen“ Infografiken und alarmierender Kollektivsymbolik massenhafter Explosionen, Fluten und Invasionen. Dabei zeigt die Geschichte des Normalismus, dass der Alarm über ein Ge- burtendefizit nicht zum ersten Mal geschlagen wird: Als um 1900 die seiner- zeit noch „exponentiell“ starke Wachstumsrate der deutschen Geburten ihren Höhepunkt erreicht hatte und erstmals sank, machten sich insbesondere natio- nalistische Beobachter Sorge um die deutsche „Wehrfähigkeit“ – und das, ob- 78 JÜRGEN LINK wohl es nicht um Schrumpfung (wie heute), sondern lediglich um geringeres Wachstum ging und obwohl der französische „Erbfeind“ schon seit der Revo- lution von 1789 mit einer geringen Wachstumsrate (Zwei-Kinder-System) vorangegangen war. In der damaligen Debatte wurden, wie u. a. Hannelore Bublitz7 und Ute Gerhard8 ausgeführt haben, Argumente entwickelt, die ex- plizit oder implizit auch heute wieder auferstehen: So zeichnete man ein „phy- sikalisches“ Demografie-Modell, in dem Bevölkerungswachstumsraten als „Atmosphärendruck“ symbolisiert wurden. Wenn dann etwa Polen und Russ- land höhere Wachstumsraten als Deutschland hatten, stand eine Invasion in das „Vakuum“ zu befürchten. Dazu ist zu sagen, dass die damaligen „Theo- rien“ lediglich explizierten, was in der normalistischen Kurvenlandschaft im- plizit bereits enthalten war: Wenn eine Nachbarbevölkerung eine erheblich größere Wachstumsrate hat, folgt daraus ein ‚Druck‘ in das (relative) „Vaku- um“ hinein. Da die gleiche normalistische Kurvenlandschaft sich bis heute re- produziert, gelten die gleichen impliziten Konsequenzen ebenfalls bis heute, so dass Titel des Spiegel wie „Raum ohne Volk“ und „Sterbendes Volk“ (Nr. 43, 2000, S. 42) lediglich die Implikationen explizieren. Der springende Punkt liegt natürlich in der Frage: Könnte das „deutsche“ Defizit (das zu konstatieren eine „ethnische“ Differenzierung voraussetzt) nicht durch Einwanderung ausgegli- chen werden? Diese Frage wird in der Regel entweder gar nicht gestellt oder pauschal mit nein beantwortet. Unter dieser Voraussetzung wird die Einwande- rung dann aber als vage „anormal“ konnotiert, und zwar implizit wegen einer Art „ethnischer Inkompatibilität“. Das „Defizit“ müsse anders ausgeglichen werden als durch ‚Hereinlassen der Bevölkerungsexplosion von da unten‘ – wo- mit die „explodierenden Massen“ symbolisch als „Ansteckungsgefahr durch un- tere Normalitätsklassen“ kodiert werden, was eine Bündelung mehrerer Denor- malisierungsängste bedeutet. Das Déjà-vu geht noch weiter: Die „differenzielle Geburtenrate“ um 1900 bezog sich nicht bloß auf Differenzen zwischen Nationen, sondern auch auf interne Differenzen zwischen Klassen. Insbesondere Darwins Vetter Francis Galton, einer der wichtigsten Theoretiker und Praktiker des Normalismus im 19. Jahrhundert9, zeigte sich besorgt über den Befund, dass innerhalb Englands die armen Klassen eine deutlich höhere Geburtenrate aufwiesen als die reicheren Klassen. Da er annahm, dass der jeweilige Lebensstandard 7 Vgl. die Beiträge von Hannelore Bublitz in: dies./Christine Hanke/Andrea Seier (Hg.), Der Gesellschaftskörper. Zur Neuordnung von Kultur und Geschlecht um 1900, Frankfurt/M., New York, NY, 2000. 8 Ute Gerhard, Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderung in der Weimarer Republik, Opladen, Wiesbaden, 1998 (besonders die Kapitel „Statistische Erfassung und symbolische Gesetzmäßigkeiten“ sowie „Theorie und Praxis des ‚Ventils‘“); zur Aktualität vgl. dies., „Wenn Flüchtlinge und Einwanderer zu ‚Asylantenfluten‘ werden“, in: Siegfried Jäger/Franz Januschek (Hg.), Der Diskurs des Rassismus. Ergebnisse des DISS- Kolloquiums Nomber 1991, (OBST Nr. 46, März 1992), Duisburg, S. 163-178. 9 Vgl. zu Galton ausführlich Link (2009), Versuch über den Normalismus, S. 233-245. NORMALISIERUNG – SPONTANEITÄT – ADJUSTIERUNG 79 statistisch mit der „Intelligenz“ korreliere, fürchtete er eine „Degeneration der Rasse“, der er durch seine Erfindung der „Eugenik“ entgegenwirken wollte. In diesem Kontext ist eine aktuelle „Themen“-Fokussierung bemerkens- wert: Wenn innerhalb des „Themas“ „Bevölkerungsexplosion“ das „Thema“ „deutsches Geburtendefizit“ und „Einwanderung“ emphatisch fokussiert wird, so innerhalb dieses „deutschen“ „Themas“ wiederum das der „kinderlosen Akademikerinnen“. In einer schönen farbigen Infografik der FAZ vom 8. März 2005 werden die Geburtenraten von Frauen sowohl nach ihrem Geburtsdatum wie nach ihrem „höchsten Bildungsabschluss“ verglichen: Dabei schlagen die Frauen mit Hochschulabschluss diejenigen mit Hauptschulabschluss bei Wei- tem in Gebärscheu. Die ersten sind zu 25,3 % kinderlos, die zweiten nur zu 15,9 %. Dazu gab es einen langen Artikel „Kinderlose Akademikerinnen?“, der innerhalb des von Frank Schirrmacher, dem Autor des Bestsellers „Das Methusalem-Komplott“, persönlich eingeleiteten „Grundkurs Demographie“ von Herwig Birg durchaus akzentuiert platziert war. Die WAZ titelte einige Monate später auf der Frontseite: „Forscher bleiben kinderlos. Der Nachwuchs an den Unis in NRW kriegt so gut wie keine Kinder mehr“ (18. November 2005) – im Text wechselt das Maskulinum der Schlagzeile dann das Ge- schlecht: „Beinahe alle Frauen haben keinen Nachwuchs“. Allerdings disku- tiert der zugehörige Kommentar durchaus differenziert die berufsbedingten Ursachen für diesen „Gebärstreik“. Schließlich ist es in diesem Kontext schon bemerkenswert, dass Angela Merkel in ihrer ersten Regierungserklärung zu- nächst ihre Grundsatzentscheidung mitteilte, nicht auf konkrete Bevölkerungs- gruppen und deren besondere Situation einzugehen („Denn es geht nicht um Gruppen, es geht um uns alle“), dann aber eine einzige Ausnahme vornahm: Je höher die Ausbildung der jungen Frauen und Männer ist, desto seltener be- kommen diese Kinder. Kaum etwas wird mir häufiger erzählt als dieses: Da ist eine Frau, sie hat ein Studium absolviert, eine hervorragende Ausbildung wahrnehmen können, sie möchte in ihrem Beruf Karriere machen, sie steht vor der Frage, wie sie diesen Berufswunsch mit ihrem Wunsch, eine Familie zu gründen, in Einklang bringen kann. Ich sage unumwunden: Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, diesen Konflikt einfach locker überwinden zu kön- nen. Das kann ich nicht. Ich kann nur einen kleinen Beitrag leisten, diesen Konflikt ein wenig zu mildern. Deshalb hat diese Regierung beschlossen, ein Elterngeld einzuführen. (Zit. n. FAZ vom 1. Dezember 2005.) Wenn also zum einen gewisse Analogien zwischen dem demografischen Denormalisierungsalarm um 1900 und dem um 2000 unübersehbar sind, so zeigt der Vergleich zum anderen die enormen Unterschiede zwischen dem da- maligen offen rassistischen Protonormalismus und dem heutigen „flexiblen Normalismus“10: Nicht nur bleibt das offen „ethnische“ (also neorassistische) Argument im Mainstream-Sektor des mediopolitischen Diskurses im Allge- meinen auf der konnotativen und impliziten Ebene ‚versteckt‘, nicht nur gilt 10 Zu diesem Begriff ausführlich Link (2009), Versuch über den Normalismus. 80 JÜRGEN LINK eine Abnahme der Bevölkerung nicht mehr von vornherein als Katastrophe, nicht nur wird der mögliche Vorteil einer „normalen“ Einwanderung nicht a priori geleugnet, vor allem wird auch die Entscheidungsfreiheit der potenziel- len Mütter in relevanten Teilen der Medien und der Politik verteidigt. Auch Angela Merkel erkennt den sich aus der Wirtschaftsordnung ergebenden Ziel- konflikt an, bekennt ihre Hilflosigkeit und beschränkt sich auf flexibel norma- lisierende Maßnahmen. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Interview des früheren Berliner Wirt- schaftssenators und inzwischen ausgeschiedenen Vorstandsmitglieds der Bun- desbank Thilo Sarrazin, in dem er gegen die angebliche Massenproduktion „kleiner Kopftuchmädchen“ polemisierte11, als kämen diese Mädchen mit Kopftüchern auf die Welt, seine historische Tiefenschärfe. Bis zur Begrün- dung mit angeblichen IQ-Differenzen ethnischer Teilpopulationen reprodu- zierte er die Galton’sche Argumentation mit der differenziellen Geburtenrate: Schlechtes IQ-Material, wie es seinerzeit im O-Ton dieses Diskurses geheißen hätte, aus Unterschicht und Einwanderung reproduziere sich erheblich schnel- ler als gutes, wodurch nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der deutschen Bevölkerung in eine Abwärtsspirale gerate.12 Erstaunlich bei diesem Interview war weniger das sozialdemokratische Parteibuch des Sprechers, das ihm in einem parteiinternen Verfahren bewahrt wurde, als die breite Zustim- mung aus Teilen der hegemonialen mediopolitischen Öffentlichkeit. Das war ohne jeden Zweifel ein größeres diskursives Ereignis in der Geschichte des Normalismus in Deutschland, weil es sich frontal gegen den flexiblen Norma- lismus wandte und für den guten alten deutschen Protonormalismus Reklame machte bzw. weiter macht. Denn die protonormalistische Diagnose empfiehlt implizit (bei Sarrazin auch explizit) Normalisierungsmaßnahmen des ‚harten‘, normativ gestützten Typs wie etwa das Verbot von „Nachzugs“-Ehen in Deutschland. Die bis auf Weiteres vorherrschende flexibel-normalistische Strategie setzt dagegen auf Maßnahmen wie verbesserte Beschulung sowie das Vertrauen auf „spontanes“ Einpendeln: Die Fertilität der Einwanderer werde sich der in Deutschland niedrigeren Normalität angleichen, wenn es nicht so- gar auf die Dauer zu einer stärkeren Vermischung kommen werde (was wiede- rum die Annahme einer „spontanen“ Säkularisierung des Islam impliziert). Als Resultat bleibt festzuhalten, dass die flexible Normalisierung das Phä- nomen soziokultureller „Spontaneität“ in heutigen westlichen Gesellschaften zwar nicht zur Gänze, wohl aber zu einem erheblichen Teil zu erklären ver- mag. Flexible Normalisierungen werden durch die „diskursökonomische“ (Hartmut Winkler) Reproduzität von Verdatung und medialer Verbreitung der 11 Siehe die entsprechenden Ausschnitte aus dem Interview mit „Lettre International“ in der FAZ vom 5.10.2009, S. 2. 12 In einem späteren Vortrag verteidigte Sarrazin seinen ‚Galtonismus‘ sehr offensiv: Die Kin- der der Süd-Einwanderer besäßen (erblich) einen niedrigeren IQ, der dann wegen der diffe- renziellen Geburtenrate den „deutschen“ Durchschnitts-IQ nach unten ziehe („Sarrazin: Düm- mer durch Einwanderung“, WAZ, 12.06.2010). NORMALISIERUNG – SPONTANEITÄT – ADJUSTIERUNG 81 Kurvenlandschaften generiert. Dabei erweisen sich sowohl die normalisti- schen Basiskurven (wie etwa die „Exponentialkurve“) wie auch das System der Kollektivsymbolik, mit dem die Datenlagen subjektiviert werden, als in hohem Maße stereotype Raster. Modellartig lässt sich von einem weitgehend schematisierten und standardisierten „inneren Bildschirm“ sprechen. Es han- delt sich sozusagen um „Diskurs-Standards“, die zur Orientierung unverzicht- bar sind, dabei aber genügend flexibel bleiben, um für jeden konkreten Fall (jedes konkrete „Thema“) mit seinen Kontingenzen eine jeweils besondere Konstellation aus Daten, Kurven und Kollektivsymbolen zu gewährleisten. So erscheint jeder neue konkrete „Konsens“ zwar als „normal“, aber weder als „automatisch“ noch als „schematisch“. Das Pendel des flexibel-normalisti- schen Einpendelns steht niemals still. Literatur Bublitz, Hannelore/Hanke, Christine/Seier, Andrea (Hg.), Der Gesellschaftskörper. Zur Neuordnung von Kultur und Geschlecht um 1900, Frankfurt/M., New York, NY, 2000. Gerhard, Ute, Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wan- derung in der Weimarer Republik, Opladen, Wiesbaden, 1998. Dies., „Wenn Flüchtlinge und Einwanderer zu ‚Asylantenfluten‘ werden“, in: Sieg- fried Jäger/Franz Januschek (Hg.), Der Diskurs des Rassismus. Ergebnisse des DISS-Kolloquiums Nomber 1991, (OBST Nr. 46, März 1992), Duisburg, S. 163-178. Link, Jürgen, Die Struktur des Symbols in der Sprache des Journalismus. Zum Verhält- nis literarischer und pragmatischer Symbole, München, 1978. Ders., Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 4., ergänzte, überarbeitete und neu gestaltete Aufl., Göttingen, 2009. [1996] Ders., „Über ein Modell synchroner Systeme von Kollektivsymbolen sowie seine Rol- le bei der Diskurs-Konstitution“, in: ders./Wulf Wülfing (Hg.), Bewegung und Still- stand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wis- sen und Literatur im 19. Jahrhundert, Stuttgart, 1984, S. 63-92. Ders., „,Normativ‘ oder ‚normal‘? Diskursgeschichtliches zur Sonderstellung der In- dustrienorm im Normalismus, mit einem Blick auf Walter Cannon“, in: Werner Sohn/Herbert Mehrtens (Hg.), Normalität und Abweichung. Studien zur Theorie und Geschichte der Normalisierungsgesellschaft, Opladen, Wiesbaden, 1999, S. 30-44. Ders., „Aktuelle Tendenzen des mediopolitischen Diskurses in Deutschland (mit ei- nem Blick auf Karl Heinz Bohrer)“, in: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie, 44 (2002), S. 51-58. Ders., „Textil genormte oder textil differenziell gestylte Körper? Uniformität zwischen Normativität und Normalität“, in: Gabriele Mentges/Birgit Richard (Hg.), Schönheit der Uniformität. Körper, Kleidung, Medien, Frankfurt/M., New York, NY, 2005, S. 43-56. 82 JÜRGEN LINK Winkler, Hartmut, Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien, Frankfurt/M., 2004. STEPHAN MÜLLER ZAUBER DER ZWANGSLÄUFIGKEIT. ERZÄHLSCHEMATA UND DIE KULTURELLEN AUTOMATISMEN DES MITTELALTERS – EINE PROBLEMSKIZZE I. avant-propos Die folgenden Überlegungen gehen auf einen Workshop zurück, der im Rah- men des Graduiertenkollegs Automatismen an der Universität Paderborn ver- anstaltet wurde, und für dessen Ergebnisse ich den Diskussionsteilnehmern mit dieser ‚Problemskizze‘ danken will. Einiges nämlich, was ich dort als ak- tuellen Stand der mediävistischen Erzählforschung vorgestellt habe, rückte im Gespräch in ein neues Licht und soll für das Forschungsprogramm des Kollegs eine historische Perspektive beisteuern. Ausgangspunkt meiner Überlegungen war die rezente Forschungslage zu den Erzählschemata, die einen Großteil der mittelhochdeutschen Epik aus der Zeit um 1200 prägen. In den hochmittelalterlichen Erzähltexten wurden dabei besonders zwei generelle Typen von Erzählschemata diskutiert: Jenes der ge- fährlichen Brautwerbung, also das sogenannte ‚Brautwerbungsschema‘ und das ‚Artus-Aventiure-Schema‘, das in den frühen Artusepen Erec und Iwein – zunächst in den altfranzösischen Texten des Chrétien des Troyes und dann mittelhochdeutsch bei Hartmann von Aue – in der berüchtigten ‚Doppelweg- struktur‘ der Texte begegnet, die zum Klassiker jeder Einführung in die me- diävistische Germanistik geworden ist.1 Historisch und erzählfunktional sind diese Schemata indes grundverschieden zu beurteilen, und wenn sie in Texten kombiniert werden, diagnostizierte man einen Effekt der ‚Hybridität‘.2 Vor dem Hintergrund der Frage nach Textfunktionen indes scheinen sich die ge- nannten Erzählschemata dann aber doch nicht so stark zu unterscheiden. Beide reagieren, so die These, die ich entwickeln will, auf eine spezifische Verfasst- heit der Kultur des Mittelalters, die mehr auf Formen identitätsstiftender Wie- derholung denn auf Formen der Differenz zu setzen scheint. Damit unterschei- 1 Fast zu euphorisch hat man es bewertet, und es gibt Plädoyers, diesem singulären Phänomen nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken: Elisabeth Schmid, „Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusforschung“, in: Friedrich Wolf- zettel (Hg.), Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Tagung der Artusgesellschaft, Tübingen, 1999, S. 70-85. 2 So herausgearbeitet etwa von Franziska Wenzel, Situationen höfischer Kommunikation. Stu- dien zu Rudolf von Ems ‚Willehalm von Orlens‘ (Mikrokosmos 57), Frankfurt/M. (u. a.), 2000, bes. S. 225-253. 84 STEPHAN MÜLLER det sie sich von den Erwartungen einer Moderne, die in Lebenspraxis wie Ästhe- tik mehr vom Einmaligen, vom Besonderen begeistert ist und in der Formen von Invarianz anrüchig wirken. Um dies und einige Konsequenzen dieser kul- turellen Konstellation des Mittelalters genauer diskutieren zu können, jedoch zunächst zu den Erzählschemata, von denen ich ausgehen will.3 II. Das ‚Brautwerbungsschema‘4 Das, was man ‚Schema der gefährlichen Brautwerbung‘ nennt, begegnet uns in sieben mittelhochdeutschen Epen des Hochmittelalters, und weitere vier sind zumindest teilweise davon geprägt. Das Schema, das man hier greifen kann, ist aus diesen Texten heraus entwickelt: Heuristisch ‚entsteht‘ es durch die Feststellung von Ähnlichkeiten, die in mehreren Texten auftauchen und die man dann aus der Perspektive des Vergleichs als ‚Erzählschema‘ beschrei- ben kann. Aufbauend auf ältere Arbeiten hat Christian Schmid-Cadalbert dies in einer kanonisch gewordenen Monografie geleistet.5 Vergröbernd dargestellt hat das Schema folgende Form: Ein lediger junger Herrscher sucht eine Braut. Er selbst kennt keine, doch es wird ihm eine Braut aus einem fernen Land ge- nannt. In einer Ratsversammlung wird die Eheschließung öffentlich diskutiert. Man schickt Boten bzw. Helfer aus. Die Werbung erweist sich – in der Regel wegen des Widerstands des Brautvaters – als gefährlich, wird aber bewältigt. Mit der Braut wird Konsens erreicht. Sie wird ins Reich des Werbers gebracht, wo die Eheschließung stattfindet. Eine Rückentführung der Braut durch ihren Vater kann eine Verdoppelung des Schemas bedingen. Damit ergibt sich eine relativ stabile Raumstruktur der Erzählung: Zwi- schen dem Residenzbereich des Werbers und dem Residenzbereich des Braut- vaters liegt ein ‚Zwischenraum‘, in der Regel das Meer, und im Residenzbe- reich des Brautvaters steht mit der Kemenate der Braut ein Raum der Kon- sensfindung zwischen Werber und Braut bereit. Auch ein Set von Handlungsrollen ist damit festgelegt: Werber und Braut natürlich. Auf der Seite des Werbers ein Nenner der Braut, ein Kundiger, der den Weg und die Gefahren kennt, ein außergewöhnlicher Helfer, der die Braut gewinnt, ein Bote, der schließlich die Werbungsbotschaft überbringt. Diese Rollen können von identischen Figuren eingenommen werden und im Extrem- 3 Ich muss dabei sehr allgemein und idealtypisch argumentieren und kann nicht alle Aspekte der aktuellen mediävistischen Forschung berücksichtigen. 4 In diesem Abschnitt greife ich auf einen eigenen Beitrag zurück. Stephan Müller, „Das Ende der Werbung. Erzählkerne, Erzählschemata und deren kulturelle Logik in Brautwerbungsge- schichten zwischen Herrschaft und Heiligkeit“, in: Andreas Hammer/Stephanie Seidl, Helden und Heilige. Kulturelle und literarische Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters (GRM Beiheft 42), Heidelberg, 2010, S. 181-196. 5 Christian Schmid-Cadalbert, Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur (Bibliotheca Germanica 28), Bern, 1985. ZAUBER DER ZWANGSLÄUFIGKEIT 85 fall sind Nenner, Kundiger, Helfer und Bote eine Figur. Der Brautwerber ist also wesentlich eingebettet in höfische Funktionsrollen, die ihm als Herrscher zugeordnet sind. Auf der Seite der Braut stehen Brautvater und Brautmutter und oft eine Zofe und Vertraute der Braut. Die Braut also wird eher im Kon- text einer Familie dargestellt, wenngleich natürlich einer Herrscherfamilie. Chronologisch finden wir das Schema erstmals im Brautwerbungsepos vom König Rother – also kurz nach der Mitte des 12. Jahrhunderts.6 Und es ist ein Kuriosum, dass der Rother das Schema in seiner reinsten Form zu repräsentie- ren scheint.7 Kurios deshalb, weil man doch annehmen könnte, dass sich Sche- mata erst im Zuge einer laufenden, sich wiederholenden Praxis konstituieren und so in den Erwartungshaushalt der Rezipienten eingehen. Im Falle des ‚Brautwerbungsschemas‘ kann man das Abweichen von diesem Sachverhalt durch den Rückgriff auf vorschriftliche Erzähltraditionen erklären, denn Er- zählungen von Brautwerbungen stehen in einer alten und kulturübergreifenden Tradition.8 Die These ist also, dass diese Tradition sich im Rother erstmals im Hochmittelalter schriftlich niederschlägt und den schriftkonzipierten Text strukturiert. Von diesem Punkt aus sind dann Formen der Abweichung des Schemas als Modus der literarischen Sinnstiftung möglich. Dabei muss man nicht direkt auf den Rother zurückgreifen, die Schemavarianten sind eher al- ternative Formen des Rückgriffs auf das Rezipientenwissen um die Form von Brautwerbungsdichtungen, das erst in einer Schriftkultur variiert werden kann. Wir beobachten also keine Schemagenese, sondern den Rückgriff auf ein vorschriftliches Erzählmuster unter den Bedingungen und Möglichkeiten einer neu sich etablierenden Schriftkultur. Rätselhaft indes scheint der Erfolg eines solch stereotypen Erzählens zu sein, aber nicht zu Unrecht hat man betont, dass die Erwartung und Hoch- schätzung unvergleichbarer Textentwürfe für das Mittelalter anachronistisch seien und auf dem Boden einer nachmittelalterlichen Genieästhetik stehen. Schematismus, der in der Moderne entweder ein Signum der Trivialität oder die hochmarkierte Besonderheit eines Textes ist, stellt für die Literatur des Mittelalters offensichtlich kein ästhetisches Problem dar, sondern ist eher eine Form der Selbstvergewisserung in einer Textkultur (und gleicht mit dieser Funktion dann doch dem Trivialen). Der Erfolg wird aber auch durch die Inhalte garantiert, die für die Adelskul- tur des Mittelalters ganz zentrale waren: Thematisch werden nämlich die 6 König Rother. Mittelhochdeutscher Text und neuhochdeutsche Übersetzung von Peter K. Stein (RUB 18047), hg. v. Ingrid Bennewitz, Stuttgart, 2000. 7 Zur Ausgestaltung des Schemas im Rother vgl. Christian Kiening, „Arbeit am Muster“, in: ders., Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt/M., 2003, S. 130-156. 8 Friedmar Geissler, Brautwerbung in der Weltliteratur, Halle/Saale, 1955 sowie Theodor Frings/Max Braun, Brautwerbung 1. Teil (Schriftenreihe: Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, Bd. 96, Heft 2), Leipzig, 1947. 86 STEPHAN MÜLLER Grundregeln einer mittelalterlichen Adelskultur, einer sich neu etablierenden Kultur des Rittertums, für die das Schema als ein Speichermedium von Wis- sen angesehen werden kann.9 Auf einen Punkt bringt das Armin Schulz in ei- nem grundlegenden Aufsatz zu den Brautwerbungsepen: Zentrales Thema des Brautwerbungsschemas ist die Sicherung weltlicher Herr- schaft. Handlungsmodell und Raumstruktur gründen auf einer Exogamieregel: Nur in einem fernen Land kann dem jugendlichen Herrscher die einzig angemes- sene Fortpflanzungspartnerin gewonnen werden, ihre Nachkommen sollen die Stabilität des Reichs für die Zukunft sichern. Brautwerbungserzählungen sind sozusagen Staatsromane einer dynastischen Herrschaftssicherung, von der nicht nur der Regent, sondern auch seine Gefolgsleute profitieren. Im Idealfall ist des- halb das ganze Handlungsmodell darauf abgestellt, den herrscherlichen Perso- nenverband in perfekt aufeinander abgestimmtem Gemeinschaftshandeln zu zei- gen; das Paradebeispiel hierfür liefert wiederum der König Rother.10 Idealtypisch werden im Schema also zwei Dimensionen vermittelt: Es geht einerseits um eine familiäre Verbindung eines Paares, das über eine Liebesbe- ziehung aufeinander verwiesen ist, andererseits aber auch um einen Akt öf- fentlichen Herrschaftshandelns. Die Sphären sind zunächst getrennt, interferie- ren aber ab der Kontaktaufnahme zwischen Werber und Braut und stehen oft unvermittelt nebeneinander, was nicht verblüffend ist, denn immerhin muss erzählt werden, wie ein Werber gegenüber einer ihm gänzlich fremden Braut, die ihm im Rahmen einer Ratsversammlung offiziell zugewiesen wird, eine Minnebeziehung aufbaut. So gesehen verschaltet das Schema also existenzielle Bereiche mittelalterli- cher Herrschaftskultur, die vorderhand nicht leicht kompatibel sind: Liebe und Herrschaft. Dies in sehr ähnlichen Textentwürfen anzubieten, war offensicht- lich ein literarischer Erfolg. Warum jedoch, das wird noch zu klären sein. III. ‚Artus-Aventiure-Schema‘ und ‚Doppelweg‘ Das zweite Erzählschema, von dem hier die Rede sein soll, ist das ‚Artus- Aventiure-Schema‘ oder – nach seiner erzähltechnischen Entfaltung genannt – die ‚Doppelwegstruktur‘ gerade der frühen Artusepen. Idealtypisch findet es sich zuerst in Chrétien de Troyes Erec et Enide und wird bei der mittelhoch- deutschen Adaptation durch Hartmann von Aue in den deutschen Sprachraum 9 Peter Strohschneider, „Einfache Regeln – komplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Ex- periment zum ‚Nibelungenlied‘“, in: Wolfgang Harms/Jan-Dirk Müller (Hg.), Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz-Josef Worstbrock, Stuttgart, Leipzig, 1997, S. 43-74, und programmatisch auch für seine ‚Höfischen Kompromisse‘ Jan-Dirk Müller, „Imaginäre Ordnungen und literarische Imaginationen“, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2003, München, 2004, S. 41-68. 10 Armin Schulz, „Morolfs Ende. Zur Dekonstruktion des feudalen Brautwerbungsschemas in der sogenannten ‚Spielmannsepik‘“, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 124, 2 (2002), S. 233-249: 234. ZAUBER DER ZWANGSLÄUFIGKEIT 87 übernommen. Dies geschieht zur selben Zeit, in der uns auch die ersten Braut- werbungsepen begegnen. Die Form der Doppelwegstruktur hat zuerst Hugo Kuhn in seinem berühmten Erec-Aufsatz11 beschrieben, erst später hat man dem Schema eine symbolische Form der Sinnstiftung zugeschrieben.12 Formal kann man das Schema als Aneinanderreihung von Einzelszenen (‚Aventiuren‘) verstehen, die sich zweimal auf eine Perfektion des Helden zu- bewegen; zwei Wege hat der Held zu gehen, deshalb also Doppelweg. Nach dem ersten Weg, auf dem der Held sich weltliche Ehre und eine Ehefrau an- eignet, fällt er in eine Krise, die im zweiten Weg endgültig überwunden wird. Formal ist dabei zumindest im Erec auch der zweite Weg in sich gedoppelt, er ist geprägt von symmetrisch sich zueinander verhaltenden Handlungssequen- zen. Da es sich also ganz allgemein um eine Form der Handlungsverdoppe- lung handelt, die wiederum Effekte der kalkulierten Varianz zwischen den Teilen des Textes ermöglicht, ist die Form so allgemein, dass man sie immer wieder vorzufinden glaubte, ja fast war unser Fach ein wenig versessen auf dieses Schema, so dass Elisabeth Schmid mit einem gewissen Recht forderte: „Weg mit dem Doppelweg“, da er mit seinem Erfolg in Forschung und – wie man sich denken kann – vor allem in der Lehre doch ein recht monothemati- sches Bild der hochmittelalterlichen Erzählkultur zu prägen drohte. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist nun eine kategoriale Differenz zwischen Brautwerbungsschema und Doppelweg. Haben wir das erste als Er- be einer mündlichen Erzähltradition zu sehen, ist das zweite ein genuin schriftliterarischer Sinnentwurf, und im Prolog seines Erec-Romans betont Chrétien, dass es ihm auf die Form seines Erzählens besonders ankommt, wo- mit er sich vom rein inhaltsbezogenen Erzählen seiner Vorgänger abhebe. Man hat darin sogar so etwas wie die Entdeckung der Fiktionalität gesehen, die sich zum Ausdruck bringt, indem der Autor von der Betonung des Inhalts auf die Betonung der Form umschwenkt, was man als Definitionskriterium von Literarizität schlechthin ansehen kann. Wir haben es also mit einer Autoridee zu tun, weshalb es auch nicht ver- wunderlich ist, dass das Schema in seiner reinsten Form in die literarische Welt kommt und dann zunehmend variiert und kombiniert wird. Sicher, die Texte, die von dieser Struktur geprägt sind, sind nicht ähnlich stereotyp wie die Brautwerbungsepen und man hat keinen so eindeutigen Kanon erzählstruk- turell verwandter Texte vor sich, wie das bei den Brautwerbungsepen der Fall ist. Im Doppelweg bricht sich eine neue schriftliterarische Ästhetik Bahn, im Brautwerbungsschema geht eine mündliche Tradition in der neuen Schriftkul- tur auf, aber vergleichend kann man doch mit Blick auf beide Schemata fest- stellen, dass die ersten prominenten weltlichen Großtexte des Hochmittelalters 11 Hugo Kuhn, „Erec“, in: ders./Christoph Cormeau, Hartmann von Aue (Schriftenreihe: Wege der Forschung 359), Darmstadt, 1973, S. 17-48. [1948] 12 Walther Haug, „Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschich- te 45, (1971), S. 668-705, bes. S. 668-670. 88 STEPHAN MÜLLER in deutscher Sprache in einer ähnlichen Form erzählstrukturell schematisch angelegt sind. Und das bedeutet auch, dass man sich deutlich vor Augen füh- ren muss, dass die Rezipienten dieser schriftliterarischen Erzähldichtung in deutscher Sprache mit einer solchen Form der Schematizität konfrontiert wa- ren, ja sie förmlich erwartet haben, und dass sie dem literarischen Erfolg der Texte nicht schadete, sondern eher nutzte. Warum dies so ist, das ist die Frage, für die ich eine Antwortskizze versuchen will und die mich zum Problem der ‚Automatismen‘ in der Kultur des Mittelalters führen wird. IV. Spielregeln des Mittelalters und die Geltung von Wiederholungen Ich gehe dabei von einer aktuellen Forschungsrichtung der mediävistischen Geschichtswissenschaft aus, die fest mit dem Namen Gerd Althoffs verbunden ist. In seiner am 20. Juni 1997 in Münster gehaltenen Antrittsvorlesung „Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation für das Verständnis des Mittelal- ters“13 hat Althoff ein Forschungsprogramm grundgelegt, das er in einer Reihe von Studien vorbereitet hatte14, und mit dem sein Begriff der „Spielregel“ zum festen terminologischen Inventar der Mittelalterforschung geworden ist. Alt- hoff nimmt dabei Formen öffentlichen Herrschaftshandelns in den Blick, Ri- tuale der Mächtigen, von denen in der Geschichtsschreibung immer wieder er- zählt wird. Seine These ist, dass diese Rituale nicht einfach eine Situation ab- bilden, sondern eine Situation eigentlich erst herstellen. In einer Zeit ohne ab- straktes staatsrechtliches Instrumentarium konstituieren solche öffentlich-ritu- ellen Handlungen für den Einzelnen unhintergehbare Verbindlichkeiten, stel- len also Wirklichkeiten her und determinieren erwartbare Folgehandlungen. Entsprechende Rituale sind konkrete Medien der Machtausübung, und dies vor dem Hintergrund eines kollektiven Wissens um die ‚Spielregeln‘ der Kul- tur des Mittelalters. Unter den zahllosen Beispielen, die Althoff beibringt und detailliert unter- sucht, sind etwa symbolische Formen des Bittens und Gewährens, an denen ich die zentrale These kurz verdeutlichen will: Es hat nämlich den Anschein, dass sich Herrscher gewissen symbolischen Formen des Bittens kaum verweh- ren können. So macht etwa Bischof Giselher von Merseburg gegenüber Otto II. eine Bitte nahezu unabweisbar, indem er sich wortlos dem Kaiser zu Füßen wirft, was zur Folge hatte, dass nicht der eigentlich Erwählte das Erzbistum Magdeburg erhielt, sondern eben der so Bittende selbst.15 Aber nicht nur Un- tergebene konnten so an Herrscher herantreten, auch die Herrscher selbst bau- 13 Gerd Althoff, „Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation für das Verständnis des Mittel- alters“, in: Frühmittelalterliche Studien 31, (1997), S. 370-389. 14 Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Friede und Fehde, Darmstadt, 1997 und später ders., Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittel- alter, Darmstadt, 2003. 15 Dieses Beispiel in Althoff (1997), Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation, S. 376 f. ZAUBER DER ZWANGSLÄUFIGKEIT 89 en auf die Rituale, wofür der Canossagang Heinrichs IV. ein gutes Beispiel ist: Indem Heinrich es gelang, seine Unterwerfung, seine deditio vor Papst Gregor VII. zu vollziehen, war ihm die Bitte nach Aufhebung des Kirchenbanns nicht mehr abzuschlagen. Wie schwer es war, diesen rituellen Formen, ein Anliegen durchzusetzen, zu entkommen, zeigen jene Beispiele, in denen das Ritual durch ein entgegengesetztes gleichsam aufgehoben wird: Althoff nennt hier den Fußfall eines Erzbischofs vor dem englischen König Johann Ohneland, den dieser abwehrte, indem er selbst vor dem Bischof zu Boden sank.16 So stand die Sache sozusagen unentschieden und der König war von der Erfül- lung der Bitte dispensiert. Ich kann und will hier nicht in die inzwischen sehr intensiv gewordene Dis- kussion um diese Thesen einsteigen. Für den vorliegenden Zusammenhang ist aber doch zumindest im Ansatz zu klären, woher diese Formen symbolischer Kommunikation ihre Geltung beziehen. Althoff plädierte wiederholt dafür, dass sie erst am Ende eines Prozesses von Vorabsprachen dem, was auf ratio- nal Wege erreicht wurde, auf eine rituell-nichtrationale Art und Weise Ver- bindlichkeit zuschreiben. Dem würde ich nicht in jedem Fall zustimmen; mir scheint hier eine moderne Erwartungshaltung auf die Praktiken mittelalterli- cher Herrschaftskultur rückgeblendet zu werden, wenngleich ich natürlich nicht ausschließen kann, dass Althoffs Vorstellungen in vielen Fällen zutref- fend sein könnten und tatsächlich vorab das geregelt wurde, was das öffentli- che Ritual dann besiegelte. Mir sympathischer und methodisch weitreichender ist allerdings die Vor- stellung, dass die symbolischen Formen mittelalterlicher Herrschaft mit einer spezifischen Weltvorstellung zusammenhängen: Einem Weltverständnis, in dem solche Rituale nicht auf etwas ‚verweisen‘, sondern (in einem etwas eu- phorisch klingenden Sinne) etwas ‚sind‘. Besonders eindringlich hat Hans Ul- rich Gumbrecht in den letzten Jahren auf solche Phänomene der ‚Präsenz‘ hin- gewiesen, die jeder Kultur eigen, in vormodernen Kulturen allerdings von höchster Prominenz seien.17 Dabei geht es mir hier nicht grundsätzlich darum, wie solche Kulturen der „Präsenz“ funktionieren und wie literarische Sinnent- würfe in solchen Kulturen zu verstehen sind – darüber wurde aktuell viel nachgedacht18 – vielmehr will ich nach den Kommunikationspraktiken fragen, die ein solch metonymisch-dingliches Verhältnis zur Welt zu Folge haben, denn hier scheint mir ein Zusammenhang zu den oben vorgestellten Formen des schemagebundenen Erzählens zu bestehen. 16 Ebd., S. 377 mit weiteren Beispielen. 17 Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt/M., 2004. 18 Ich nenne nur die Arbeiten zu Formen des metonymischen Erzählens im Mittelalter. Harald Haferland/Armin Schulz, „Metonymisches Erzählen“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Li- teraturwissenschaft und Geistesgeschichte 84, (2010), S. 3-43. Zu nennen wäre hier auch das große Buch zum Nibelungenlied von Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen, 1998. 90 STEPHAN MÜLLER Eine strukturelle Vergleichbarkeit zwischen politischem Ritual und Sche- matext liegt offenbar darin, dass die Wiederholung als Affirmation einer Ord- nung eine andere Geltung für sich in Anspruch nehmen kann, als das in der Moderne der Fall ist. Natürlich gibt es auch heute Formen von (Selbst-)Verge- wisserung, die auf Wiederholung bauen und natürlich gibt es die Sicherheit, die aus der Wiederholung des Vertrauten kommt. Der Unterschied besteht je- doch darin, dass solche Formen der Wiederholung in der Neuzeit Kontinuitä- ten stiften und oft sogar dezidiert als Mechanismen zur Abwendung von Ver- änderungszumutungen zu verstehen sind. Im Mittelalter dagegen werden durch die auf Wiederholung setzenden Rituale neue Konstellationen herbeige- führt: Vor dem Hintergrund unveränderlicher Regeln reagiert man auf die Herausforderung der Veränderung einer sich in ihren Äußerungsformen wan- delnden Kultur. Den modernen Innovationsansprüchen, die wirksamer sind, je ‚revolutionärer‘ sie daherkommen, stehen mittelalterliche Modelle des ‚Fort- schritts‘ gegenüber, die sich als Rückwendung feiern, als Wiederbesinnung auf eine Ordnung, die ewige Geltung habe soll. Mittelalterliche renovatio steht gegen moderne revolutio – auch wenn das natürlich nur idealtypisch so unter- schieden werden kann. Vergleichen wir die Formen der Wiederholung in literarischer Struktur und politischem Ritual, liegt eine Gemeinsamkeit auch darin, dass diese Wiederho- lungen auf eine Reaktion der Rezipienten hin angelegt zu sein scheinen. Die Geltung der politischen Rituale besteht ja darin, dass das, was öffentlich nach erwartbaren und für alle wiedererkennbaren Regeln zum Ausdruck gebracht wird, bei allen Akzeptanz findet und deshalb erwartbare Handlungskonse- quenzen nach sich zieht. Das würde ich auch für die schemagebundenen litera- rischen Texte so ansetzen: Die Rezeption als Form der Wiedererkennung – sie lässt die Rezipienten zu Partizipanten werden. Die schemagebundenen Texte bringen eine kulturelle Erwartungshaltung mit dem Rezeptionserlebnis zur Deckung und in dieser Deckung entsteht jene Akzeptanz, die auch den Herr- schaftsritualen entgegengebracht wird: Die Welt ist so, wie sie sein soll, wie man erwartet, dass sie ist – und unter der Oberfläche dieses Erlebnisses ist es möglich, politisch wie literarisch produktiv zu werden. Die Brautwerbungsepen präsentieren eine Eheschließung als öffentliches Herrschaftsritual, das im literarischen Text mit der Dimension einer persönli- chen Liebe verschaltet wird. Alles ist vorhersehbar und das Ende ist dann gut und erreicht, wenn sich alles einfügt. Wesentlich komplexer und in der literari- schen Tradition schon bald über diesen Mechanismus weit hinausgehend sind dagegen die frühen Artusepen mit ihrem Doppelweg: Der Held tut das, was man von ihm erwartet – und kommt zu einem Erfolg, den er verspielt, indem er an einem Punkt etwas tut, was von der allgemeinen Erwartung abweicht. Die so entstehende Krise überwindet er allerdings, indem er noch einmal das tut, was man von ihm will – nun ‚nachhaltiger‘, würde man heute sagen –, um am Ende einen Triumph zu feiern. ZAUBER DER ZWANGSLÄUFIGKEIT 91 Sozialisationstheoretisch im Sinne von Norbert Elias hat man das als Vor- bildhandlungen gedeutet, aber die Texte scheinen nichts vorzuführen, was die Rezipienten nicht schon wirklich gut kennen; die Vorstellung einer wie auch immer gearteten ‚Didaxe‘ scheint mir hier jedenfalls zu kurz zu greifen. Es geht vielmehr um eine Form der Partizipation an einem imaginären idealen Weltentwurf – wenngleich in diesem Rahmen die Regeln der Kultur des Mit- telalters auch diskutiert und transgrediert werden können, was die Texte von Anfang an auch tun.19 Damit ist noch nichts Spezifisches über die Texte gesagt, aber deutlich wird doch die Basisstruktur einer Partizipation an Spielregeln in Literatur wie Poli- tik. Bei allen Differenzen zwischen politischen Ritualen und schemagebunde- nen Erzählungen nämlich, setzen beide auf kollektive Erwartungshaltungen, die im Falle der literarischen Texte textgenealogisch sukzessiv konstruiert und verändert werden – und beide ziehen aus der Erfüllung der Erwartungen ihr kulturelles Kapital. Das bedingt eine Form literarischer Praxis und Ästhetik, die nicht auf das Singuläre, auf das Überraschende abzielt, sondern die das Erwartete feiert und gleichsam auf einen Zauber der Zwangsläufigkeit baut, der den modernen Le- ser oft etwas ratlos zurücklässt. V. … und Automatismen? Welchen Stellenwert aber haben diese Beobachtungen nun für ein Projekt, das davon ausgeht, „dass ein immer größerer Anteil der gesellschaftlich relevanten Strukturen dort entsteht, wo der Raum bewusster Planung endet“?20 Ich will versuchen, das bisher Gesagte auf diese Beobachtung, die das Gra- duiertenkolleg Automatismen zu ihren zentralen Forschungsgegenstand erho- ben hat, hin zu perspektivieren: „Planung“, das meint die Vorbereitung einer Zukunft mit dem Anspruch, den Weg in diese Zukunft hinein und die Gestalt des Geplanten kontrolliert vorbereiten und erreichen zu können. Diese Formen zukunftszugewandten Handelns werden nun – so die sicher zutreffende These des Kollegs – zunehmend prekär, indem Strukturen entstehen (Oder sollte man sagen ‚emergieren‘?), die nicht mehr planbar sind. Dort, wo das Kalkül ein Ende findet, beginnen die ‚Automatismen‘, die im Zentrum des Interesses des Kollegs stehen. Der Blick ins Mittelalter zeigt indes, dass die ‚Automatismen‘ sich nicht nur als Konsequenz eines sukzessiven Kontrollverlustes in der Welt der Planbarkeiten herausbilden, sondern dass das Verhältnis von ‚Automatis- men‘ und ‚Planung‘ im Mittelalter regelrecht unter anderen epistemischen Prä- 19 Siehe dazu meinen Beitrag Müller (2010), Das Ende der Werbung. 20 So in der Präsentation des Graduiertenkolleg Automatismen der Universität Paderborn, online unter: http://www.uni-paderborn.de/instituteeinrichtungen/gk-automatismen/profil-des-gradu iertenkollegs/, zuletzt aufgerufen am 13.02.2011. 92 STEPHAN MÜLLER missen steht, als das in der Neuzeit der Fall ist. Ich möchte deshalb eine Dis- kontinuität behaupten, also keine graduell zurückgehende Ränder des ‚Planba- ren‘. Eine genauere Beschreibung dieser Diskontinuität könnte auch dazu bei- tragen, die kulturellen Prämissen der Kultur des Mittelalters genauer einschät- zen zu lernen. Setzen wir dazu allgemein an: Planung der Zukunft, das setzt ein Weltver- hältnis voraus, das die Zukunft potenziell in die Hand eines planenden Indivi- duums legt, von dessen individuellen Fähigkeiten – oder sagen wir vielleicht etwas euphorischer, von dessen Genie – es abhängt, ob das Geplante in der ge- planten Form auch entsteht. Zunehmende Komplexitäten und sicher auch an- dere Faktoren erzeugen nun Planungsunsicherheiten, mit denen das schöpferi- sche Individuum umzugehen lernen muss und sei es nur in der Form, dass es seinen Anspruch an Gestaltbarkeit des Entstehenden punktuell aufgibt. Jedoch gerade hier würde ich die hauptsächliche Differenz zur Kultur des Mittelalters ansetzen: Individuelle Zukunftsperspektiven zielen im Mittelalter auf Formen der Harmonisierung des Lebens des Einzelnen mit dem übergreifenden Plan der Heilsgeschichte, den man als gegeben hinnimmt, der sich also idealtypisch außerhalb der Sphäre der Planbarkeiten befindet. ‚Planungen‘, wenn man da- von sprechen will, suchen einen Weg, um eine Koinzidenz von festgelegter Erwartung und lebenswirklicher Entwicklung zu erreichen. Das nicht zur Dis- position stehende Ziel steht fest: Die Form, es zu erreichen, darin liegt die Herausforderung, der man sich zu stellen hat. Es geht um den Weg, der so vor- gegeben ist, wie der Weg des Werbers zur Braut und der Doppelweg der Ar- tusepen. Will man das als Verhältnis von ‚Planung‘ und ‚Automatismen‘ ausdrü- cken, könnte man das so tun: In der Neuzeit liegt die Zukunft in der Hand pla- nender Individuen, die sich eine Zukunft gestalten und deren individuelle Be- mühungen an eine Grenze kommen, wenn die Planbarkeiten enden und die Automatismen beginnen. Der Mensch des Mittelalters (und diese bewusst for- ciert verallgemeinerte Wendung zeigt schon, dass wir es hier mit einer idealty- pischen und verallgemeinernden Vorstellung zu tun haben) sucht den Einklang mit einem transzendent vorgeschriebenen Heilsplan, indem er auf Formen er- wartbaren Handelns setzt, die nicht in der Hand seiner Planungsmöglichkeiten liegen – ‚Automatismen‘ könnte man diese Formen nennen, die sich in den Spielregeln der Politik greifen lassen und die in den Schematexten literarisch kommuniziert werden. Dort, wo diese Harmonie von vorgegebener Hand- lungserwartung und Lebensführung gestört ist, dort setzt Planung ein und man geht der Frage nach, wie die Welt wieder in Ordnung zu bringen sei. Die Pla- nung beginnt dort, wo die ‚Automatismen‘ aussetzen, wo das erfolgsgarantie- rende Spiel der Rituale scheitert. Kurz: Geht die Planbarkeit in der Moderne in den Bereich der unplanbaren Automatismen über, dann werden die Automatismen der Kultur des Mittelal- ters abgelöst von der Notwendigkeit der Planung, wenn die kulturellen Erwar- tungssicherheiten brüchig werden. ZAUBER DER ZWANGSLÄUFIGKEIT 93 Es wäre ein interessantes Projekt zu untersuchen, wie diese Formen sich ab- wechseln, wie die Verhältnisse sich ändern, wenn das Individuum Formen der Planung in die eigene Hand nimmt, die ihn dann an die Grenzen dieser Plan- barkeiten treiben werden. Ein Wendepunkt wäre sicher in der Frühen Neuzeit zu suchen, als die Bewältigung der Welt und die Gestaltung der Zukunft stär- ker zur Sache planender, autonomer werdender Individuen wird, was sich bis hin zum Geniekult der Moderne steigern wird.21 VI. Fazit Ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, dass die schemagebundenen Erzählun- gen des Mittelalters mit einer Form der Weltbewältigung des Mittelalters zu- sammengehen, die in den geschilderten Spielregeln der Politik einen pointier- ten Ausdruck findet: Man fügt sie in erwartbare Handlungsformen und sucht damit eine Harmonie mit den Regeln einer Welt, in deren Regeln man selbst nicht eingreift. Das heißt nicht, dass die schemagebundenen Texte identisch mit den Spielregeln sind, aber beides erwächst aus demselben epistemologi- schen Boden, der auch das Verhältnis von individueller ‚Planung‘ und den Glauben an und die Hoffnung auf ‚Automatismen‘ anders bestimmt, als das für die Moderne anzusetzen ist. Aber kann man etwas von diesem Blick in eine uns fremd gewordene Ver- gangenheit lernen? Zwei Dinge will ich hervorheben: Zum einen ist es der Sachverhalt einer Diskontinuität im Verhältnis von Planbarkeit und Automa- tismen, was die Erwartung nahelegt, dass in der Beschreibung dieser Pole die Differenzen grundverschiedener historischer Situationen genauer zu bestim- men sein könnten – und invariant wird das Verhältnis dieser Pole auch in der Moderne nicht sein. Die ‚Automatismen‘ entstehen nicht einfach jenseits des Planbaren, sondern ihre Entstehung setzt den Anspruch auf Planung und eine Form zukunftszugewandten Handelns voraus, die so im Mittelalter nicht anzu- setzen war. Die Verhältnisse verkehren sich: Dem Anspruch auf Verwirkli- chung des Selbst geht der Anspruch voraus, im Heilsplan Gottes seinen vorge- gebenen Platz zu finden – und ‚Automatismen‘ sind in diesen Zusammenhän- gen ganz unterschiedlich zu bewerten: Potenzielle Störung in der Moderne, potenzielle Orientierung im Mittelalter. Zum anderen – und man mag mir das als déformation professionelle nach- sehen – könnten die mittelalterlichen Verhältnisse helfen, die Verhältnisse der Moderne zu bestimmen und vielleicht sogar eine Zukunftsprognose zu wagen: Dort, wo man den Boden der Planbarkeiten unter den Füßen verliert, da könn- 21 Auch das ist natürlich eine idealtypische Aussage, die große Tendenzen auf eine Formel bringt und nicht behaupten will, dass Formen von Autonomie, Subjektivität oder Individuali- tät (um nur ein paar jüngst diskutierte Begriffe zu nennen) dem Mittelalter abzusprechen seien. 94 STEPHAN MÜLLER te sich eine Sehnsucht nach den Spielregeln des Mittelalters ergeben. Der Rückzug des Individuums aus den Geschäften der Zukunftssteuerung, die be- teuernden Fragen nach Prinzipien, die über den Einzelnen hinausgehen, das könnten solche sehnsuchtsvollen Reaktionen sein. Formal und ästhetisch ist jedoch sicher zu beobachten, dass Formen des Rituellen, mit denen etwa For- men von Autorschaft ganz neu justiert werden, in der Kultur der Moderne an Einfluss gewinnen. Der Einzelne tritt punktuell zurück, so wie das Hans Ul- rich Gumbrecht vor Kurzem auch in seinem Buch über „Unsere breite Gegen- wart“22 beschrieben hat. Dies zugunsten eines Zaubers der Zwangsläufigkeit, den Automatismen mit sich bringen und in der Kultur des Mittelalters bereits brachten, was bei einem Mediävisten einen Verdacht entstehen lässt: Viel- leicht sind wir ja mit dem Blick auf ‚Automatismen‘ Zeugen einer Rückab- wicklung des Geniegedankens? Literatur Althoff, Gerd, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Friede und Fehde, Darmstadt, 1997. Ders., „Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation für das Verständnis des Mittelal- ters“, in: Frühmittelalterliche Studien 31, (1997), S. 370-389. Ders., Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt, 2003. Frings, Theodor/Braun, Max, Brautwerbung 1. Teil (Schriftenreihe: Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philolo- gisch-historische Klasse, Bd. 96, Heft 2), Leipzig, 1947. Geissler, Friedmar, Brautwerbung in der Weltliteratur, Halle/Saale, 1955. Gumbrecht, Hans Ulrich, Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Prä- senz, Frankfurt/M., 2004. Ders., Unsere breite Gegenwart, Frankfurt/M., 2010. Graduiertenkolleg Automatismen der Universität Paderborn, online unter: http://www.uni- paderborn.de/instituteeinrichtungen/gk-automatismen/profil-des-graduiertenkollegs/, zuletzt aufgerufen am 13.02.2011. Haferland, Harald/Schulz, Armin, „Metonymisches Erzählen“, in: Deutsche Viertel- jahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 84, (2010), S. 3-43. Haug, Walther, „Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolf- ram von Eschenbach“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45, (1971), S. 668-705. Kiening, Christian, „Arbeit am Muster“, in: ders., Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt/M., 2003, S. 130-156. König Rother. Mittelhochdeutscher Text und neuhochdeutsche Übersetzung von Peter K. Stein (RUB 18047), hg. v. Ingrid Bennewitz, Stuttgart, 2000. 22 Hans Ulrich Gumbrecht, Unsere breite Gegenwart, Frankfurt/M., 2010. ZAUBER DER ZWANGSLÄUFIGKEIT 95 Kuhn, Hugo, „Erec“, in: ders./Christoph Cormeau, Hartmann von Aue (Schriftenreihe: Wege der Forschung 359), Darmstadt, 1973, S. 17-48. [1948] Müller, Jan-Dirk, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tü- bingen, 1998. Ders., „Imaginäre Ordnungen und literarische Imaginationen“, in: Jahrbuch des Histo- rischen Kollegs 2003, München, 2004, S. 41-68. Müller, Stephan, „Das Ende der Werbung. Erzählkerne, Erzählschemata und deren kulturelle Logik in Brautwerbungsgeschichten zwischen Herrschaft und Heiligkeit“, in: Andreas Hammer/Stephanie Seidl, Helden und Heilige. Kulturelle und literari- sche Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters (GRM Beiheft 42), Heidel- berg, 2010, S. 181-196. Schmid-Cadalbert, Christian, Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur (Bibliotheca Germanica 28), Bern, 1985. Schmid, Elisabeth, „Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusforschung“, in: Friedrich Wolfzettel (Hg.), Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Tagung der Artusgesell- schaft, Tübingen, 1999, S. 70-85. Schulz, Armin, „Morolfs Ende. Zur Dekonstruktion des feudalen Brautwerbungssche- mas in der sogenannten ‚Spielmannsepik‘“, in: Beiträge zur Geschichte der deut- schen Sprache und Literatur 124, 2 (2002), S. 233-249. Strohschneider, Peter, „Einfache Regeln – komplexe Strukturen. Ein strukturanalyti- sches Experiment zum ‚Nibelungenlied‘“, in: Wolfgang Harms/Jan-Dirk Müller (Hg.), Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz-Josef Worstbrock, Stutt- gart, Leipzig, 1997, S. 43-74. Wenzel, Franziska, Situationen höfischer Kommunikation. Studien zu Rudolf von Ems ‚Willehalm von Orlens‘ (Mikrokosmos 57), Frankfurt/M. (u. a.), 2000. MIRNA ZEMAN VOLKSCHARAKTERE UND NATIONALITÄTENSCHEMATA: STEREOTYPE UND AUTOMATISMEN In der ‚artenreichen‘ Stereotypenlandschaft1 stellen nationale Stereotype eine besondere ‚Varietät‘ dar. Sozialpsychologen beschreiben sie als eine besonde- re Spielart vereinfachender Charakterisierung von Menschengruppen. Die Rasterung der Welt in Form einer begrenzten Anzahl voneinander unter- scheidbarer und wiedererkennbarer ‚Völker‘ und ‚Nationen‘ stiftet Ordnung im Wust von Detailinformationen über die soziale Umwelt und ermöglicht Orientierung im Wirrwarr der sprachlich-kulturellen Heterogenität. Als schnell abrufbare Sets vermeintlicher Wesensmerkmale der ‚Nationen‘2 stellen nationale Stereotype ein wichtiges erkenntnisökonomisches device dar: Sie minimieren den kognitiven Aufwand beim Nachdenken über kulturelle Diffe- renzen. Nationale Stereotype entfalten ihre Wirkung jedoch nicht nur auf indi- vidualpsychologischer Ebene. Sie materialisieren sich sprachlich und bildlich in unterschiedlichsten kulturellen Produkten und behaupten sich problemlos über die Grenzen der einzelnen Medien, Genres, Diskurse, Nationalliteraturen hinweg. Nationale Stereotype sind Bestandteile des kollektiv geteilten Wis- sens, immer überindividuell, intersubjektiv manifest. Diesen Aspekt der natio- nalen Stereotypie kann man mit Jürgen Link und Wulf Wülfing als ‚kollektiv- symbolischen‘ bezeichnen.3 Wiederholung ist der grundlegende Antrieb einer jeden Stereotypenvita. Nicht selten entfalten diese Vitae eine longue durée-Dynamik, denn die Re- produzierbarkeit verleiht den Stereotypen das Potenzial, die spezifischen his- torischen Kontexte ihrer Entstehung um Jahrhunderte zu überdauern. Nationale Stereotype haben eine historische Dimension: Diachronisch gesehen 1 Die Stereotypie, verstanden als Vereinfachung, Typisierung, Musterbildung, kann sich theo- retisch auf sämtliche Personengruppen, Sachverhalte, Gegenstände, Verfahren, Handlungsab- läufe usw. erstrecken. Die Alltagssprache und der Fachdiskurs kennen eine breite Palette der Referenzobjekte der Stereotypie. 2 Der Begriff ‚Nation‘ steht im folgenden Beitrag vor allem für eine Größe im kategorialen Raster der Anthropologie. Über die Frage nach dem definitorischen ‚Wenn‘ und dem histori- schen ‚Wann‘ der ‚Nationen‘ im heutigen, politischen Sinne herrscht in der Forschung zwar keine Einigkeit, in der Übereinstimmung mit modernistischen Nationalismustheorien verorte ich die politische Aufladung des Begriffs in das ausgehende 18. und beginnende 19. Jahrhun- dert. Vor dieser Zeit gab es keine ‚Nationen‘ im heutigen Sinne des Wortes. 3 Siehe Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stutt- gart, 1991 sowie dies. (Hg.), Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert, Stuttgart, 1984. 98 MIRNA ZEMAN haben wir es mit hartnäckigen Schöpfungen zu tun, die jedoch im Laufe der Zeit Änderungen unterliegen. Weiterhin lässt sich eine prozedurale Ebene der Stereotypie ausmachen: Nationale Stereotype kommen nicht nur mental und diskursiv zum Tragen, sondern auch im praktischen Vollzug der Kultur, des Konsums, des Wissens, der Wissenschaften, des Alltags. Kurz: im iterativen doing the nations. Nationale Stereotype entfalten sich im Umgang mit Dingen und Artefakten (man inkorporiert regelrecht ‚deutsches Bier‘ als flüssiges Ste- reotyp oder erwirbt mit dem ‚nationalen‘ Souvenir Krawatte ein Stück kom- modifizierten Kroatentums), über Handlungsabläufe und alltägliche, unspekta- kuläre Routinen und Praktiken.4 Über das Phänomen der Stereotypisierung wurde bisher viel geforscht, die ausufernde Literatur zum Thema zeugt von einer bemerkenswerten Karriere des Stereotypenbegriffs in verschiedenen Disziplinen und stellt eine breit gefä- cherte Palette der Konzeptualisierungs- und Bestimmungsversuche bereit.5 Die 4 Selbstverständlich lassen sich auch weitere Dimensionen der nationalen Stereotype ausma- chen. Auch nationale Stereotype haben eine mediale bzw. eine medientechnische Seite. Das Wort ‚Stereotyp‘ stammt aus der Druckersprache und bezeichnet laut Jarochna Dąbrowska, Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck im Polenbild der deutschen Presse, Tübingen, 1999, S. 53, um 1800 noch „die gegossene Form einer Druckplatte, mit der beliebig viele Ab- züge gemacht werden können.“ Stereotype waren also zunächst eine medientechnische Vor- richtung, die es möglich machte, mit Hartmut Winkler gesprochen, „Vorgaben auf mechani- schem Wege zu reproduzieren und Musterstücke mit vermindertem Aufwand ‚identisch‘ zu vervielfältigen“. Hartmut Winkler, „Technische Reproduktion und Serialität“, in: Günther Giesenfeld (Hg.), Endlose Geschichten. Serialität in den Medien, Hildesheim, 1994, S. 38- 45: 38. Die „mechanische Wiederholung“ (ebd., S. 42) durch die Reproduktionstechnik Ste- reotyp machte bereits im 18. Jahrhundert sprachliche und bildliche Darstellungen verschiede- ner Völker und Nationen einer breiten Masse der Bevölkerung zugänglich. Silke Meyer konn- te beispielsweise die breite Streuung und Popularität der Druckgrafiken, die diverse Natio- nentypen bildlich fixieren, im englischen Alltag des 18. Jahrhunderts nachweisen. Siehe Silke Meyer, Die Ikonographie der Nation. Nationalstereotype in der englischen Druckgraphik des 18. Jahrhunderts, Münster (u. a.), 2003. 5 Zur „Konzeptkarriere“ des Stereotyps siehe Konrad Ehlich, „Vorurteile, Vor-Urteile, Wis- senstypen, mentale und diskursive Strukturen“, in: Margot Heinemann (Hg.), Sprachliche und soziale Stereotype, Frankfurt/M., 1998, S. 11-25: 11. Zu Stereotypen aus sozialpsychologi- scher Sicht siehe u. a. Jacques-Philippe Leyens/Vincent Yzerbyt/Georges Schandron (Hg.), Stereotypes and Social Cognition, London, Thousand Oaks u. New Delhi, 1994; Penelope J. Oakes/S. Alexander Haslam/John C. Turner (Hg.), Stereotyping and Social Reality, Oxford, 1994; David L. Hamilton/Jeffrey Sherman, „Stereotypes“, in: Robert S. Wyer Jr./Thomas K. Srull (Hg.), Handbook of Social Cognition, Bd. 2, 2. Aufl., Hillsdale, NJ, 1994, S. 1-69. Zur literaturwissenschaftlichen Stereotypenforschung vgl. u. a. Manfred Beller/Joep Leerssen (Hg.), Imagology. The Cultural Construction and Literary Representation of National Char- acters. A Critical Survey, Amsterdam, New York, NY, 2007; Günther Blaicher (Hg.), Er- starrtes Denken. Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorurteil in englischsprachiger Literatur, Tübingen, 1987; Ruth Florack, „Stereotypenforschung als Baustein zu einer inter- kulturellen Literaturwissenschaft“, in: Peter Wiesinger (Hg.), Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. „Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“, Bern (u. a.), 2003, S. 37-43. Zu diskursanalytischen Zugängen siehe Link/Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole; Michael Imhof, „Stereotypen und Dis- kursanalyse. Anregungen zu einem Forschungskonzept kulturwissenschaftlicher Stereotypen- forschung“, in: Hans Henning Hahn (Hg.), Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion NATIONALITÄTENSCHEMATA 99 Wissenschaft ist bisher vorwiegend arbeitsteilig an das Phänomen herangetre- ten und hat sich schwer getan mit dem viel gepriesenen und vielfach geforder- ten Postulat der Interdisziplinarität. Das gilt auch für die komparatistische Imagologie – einen literaturwissenschaftlichen ‚Seitenarm‘ der Stereotypen- forschung, der sich der Untersuchung nationaler Stereotype in ihren genuin li- terarischen Objektivationen (i. e. in den nicht selten mit Zeugnissen des kol- lektiven Bewusstseins gleichgesetzten Nationalliteraturen) verschrieben hat.6 Sowohl im Bereich der Imagologie als auch in anderen kulturwissenschaftli- chen Teilbereichen der stereotype studies ist eine inhaltsanalytische Herange- hensweise vorherrschend.7 Die Erforschung nationaler Stereotype aus kultur- wissenschaftlicher Sicht folgt meistens der Formel ‚Bilder der Nation x in den Texten/Bildern/Filmen der Nation y‘.8 Ein breites, aber auch ein begrenztes und eindeutig in Richtung Ausschöpfung der limitierten Kombinationsmög- lichkeiten voranschreitendes Forschungsfeld. Mein Beitrag versucht, einige Erkenntnisse und Funde aus der kognitions- wissenschaftlichen, sozialpsychologischen und historischen Stereotypenfor- schung, der komparatistischen Imagologie und der kritischen Diskursanalyse aufeinander zu beziehen. Dabei lasse ich mich von einer Fragestellung leiten, die weg von einer rein inhaltlichen Analyse führt und hin zur Frage nach dem Konnex zwischen nationalen Stereotypen und Automatismen.9 Welche Prozes- se kommen bei der Herausbildung, Anwendung und Stabilisierung von natio- von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen, Frankfurt/M. (u. a.), 2002, S. 57-71; zu Ste- reotypen aus der Sicht der historischen Wissenschaften vgl. u. a. Hans Henning Hahn (Hg.), Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde, Ol- denburg, 1994; zu linguistischen Modellen siehe Magdalena Telus, „Gruppenspezifisches Stereotyp: Ein textlinguistisches Modell“, in: Hans Henning Hahn, Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen, Frankfurt/M. (u. a.), 2002, S. 87-125; Gerd Hentschel, „Stereotyp und Prototyp. Überlegungen zur begriff- lichen Abgrenzung vom linguistischen Standpunkt“, in: Hans Henning Hahn (Hg.), Histo- rische Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde, Olden- burg, 1994, S. 7-14; vgl. auch medientheoretische Überlegungen zu Stereotypen von Hartmut Winkler, „Bilder, Stereotypen und Zeichen. Versuch, zwischen zwei sehr unterschiedlichen Theorietraditionen eine Brücke zu schlagen“, in: Beiträge zur Film- und Fernsehwissen- schaft, 41 (1992), S. 142-169. 6 Zur Imagologie siehe u. a. Manfred S. Fischer, Nationale Images als Gegenstand verglei- chender Literaturgeschichte. Untersuchungen zur Entstehung der komparatistischen Imago- logie, Bonn, 1981; Elke Mehnert (Hg.), Bilderwelten-Weltbilder. Vademekum der Imagolo- gie, Chemnitz, 1997; Beller/Leerssen (2007), Imagology; Cedric C. Barfoot (Hg.), Beyond Pug’s Tour: National and Ethnic Stereotyping in Theory and Literary Practice, Amsterdam, 1997; Joep Leerssen/Karl Ulrich Syndram (Hg.), Europa Provincia Mundi. Essays in Com- parative Literature and European Studies Offered to Hugo Dyserinck on the Occasion of his Sixty-Fifth Birthday, Amsterdam, 1992. 7 An dieser Stelle nur ein Beispiel aus der volkskundlichen Stereotypenforschung: Hermann Bausinger, Typisch deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen, München, 2000. 8 Diesem Schema folgt auch meine demnächst erscheinende Dissertation zu den Stereotypen über die Kroaten in deutschsprachigen Texten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. 9 Zum Automatismenkonzept siehe Hannelore Bublitz/Roman Marek/Christina L. Steinmann/ Hartmut Winkler: „Einleitung“, in: dies. (Hg), Automatismen, München, 2010, S. 9-17. 100 MIRNA ZEMAN nalen Stereotypen zum Tragen? Inwiefern gehorchen diese Prozesse einer Ei- gendynamik? Sind nationale Stereotype ein Fallbeispiel für ungeplante Struk- turbildung, die automatisch, ‚hinter dem Rücken‘ der beteiligten Akteure ab- läuft? Kontrollierbare Automatismen That stereotyping is unintentional and perhaps inevitable is a mistaken assump- tion at worst, and an inadequately examined one at best. This common misinter- pretation is important, because an absence of intent implies an absence of re- sponsibility ... It has led me to have the following nightmare: After testifying for the plaintiff in a case of egregious and demonstrable discrimination, a cognitive socialpsychologist faces the cross-examining attorney. The hostile attorney, who looms taller than Goliath, says, ,Tell us, Professor, do people intend to discrimi- nate?‘ The cognitive social psychologist hedges about not having any hard data with regard to discrimination, being an expert mainly in stereotyping. When pressed, the psychologist admits that stereotypic cognitions are presumed to un- derlie discriminatory behavior. Pressed still further, the psychologist reluctantly mumbles that, indeed, a common interpretation of the cognitive approach is that people do not stereotype intentionally, where upon the cross-examinating attor- ney says in an tone of triumph, ,No further questions, Your Honor.‘10 Die bisher profundesten Untersuchungen zu den Zusammenhängen zwischen Automatismen und Stereotypie stammen aus der kognitiven Sozialpsycho- logie, und nicht selten stufen die Sozialpsychologen – der „Albtraum“ von Fiske macht es deutlich – ihre Forschungsergebnisse als beängstigend ein. Nach weithin geteilter Meinung, die zahlreiche Experimente bekräftigen, lau- fen die Prozesse des Abrufens und der Anwendung gruppenspezifischer Ste- reotype auf kognitiver Ebene automatisch ab und sind nicht willentlich kon- trollierbar. „Dem gegenüber“, schreibt der Psychologe Bernd Schaal, „steht eine Position, die sich verkürzt mit den Worten ‚Needs and goals affect every- thing‘ beschreiben lässt und postuliert, daß auch unser Denken willentlicher Einflussnahme unterliegt.“11 Schaals Doktorarbeit, die die Möglichkeiten der Durchbrechung der automatischen Stereotypenaktivierung unter bestimmten „motivationalen und volitionalen Bedingungen“12 untersucht, zeigt auf, dass 10 Susan T. Fiske, „Examining the Roll of Intent: Toward Understanding Its Role in Stereotyp- ing and Prejudice“, in: James S. Uleman/John A. Bargh (Hg.), Unintended Thought, New York, NY, 1989, S. 253-287: 253. Zit. nach Bernd Schaal, Willentliche Kontrolle stereotypen Denkens: Intentionseffekte auf die Aktivierung von Stereotypen. Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades an der sozialwissenschaftlichen Fakultät Universität Konstanz, Fachbereich Psychologie, Konstanz 1997, S. 1, online unter: http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn= 956885004&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=956885004.pdfhttp://deposit.ddb.de/cgi- bin/dokserv?idn=956885004&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=956885004.pdf, zuletzt aufgerufen am 28.03.2011. 11 Ebd., S. 2. 12 Ebd., S. 93. NATIONALITÄTENSCHEMATA 101 die Aktivierung von Stereotypen zwar weitgehend automatisch ist, dennoch aber willentlicher Kontrolle unterliegen kann. Die Stereotypenaktivierung ist nach Schaal ein kontrollierbarer Automatismus. Die geläufige Bestimmung der ‚Automatizität‘ als einen Gegenpol der Kon- trolle sei laut Schaal nicht ausreichend, um Prozesse der Stereotypisierung ein- deutig zu beschreiben: Die Beschreibung eines Prozesses als automatisch bzw. kontrolliert bezüglich der Kriterien Bewußtheit, Kontrollierbarkeit, Intentionalität und Effizienz darf nicht anhand einer „Alles-oder-Nichts“-Regel vorgenommen werden. Dadurch entsteht das Problem, dass viele Vorgänge weder der einen noch der anderen Seite zugeordnet werden können.13 Eine Lösung liefern laut Schaal neuere kognitionswissenschaftliche Modelle, die die Dichotomie automatisch-kontrollierbar durchbrechen, darunter das Modell der zielabhängigen Automatismen von Bargh: Zielabhängige Automatismen entstehen vor dem Hintergrund des Formulierens und Verfolgens von Zielen. Bargh (1989) unterscheidet dabei unbeabsichtigte zielabhängige Automatismen und automatische Prozesse, die mit der Zielformu- lierung in Einklang stehen. Unbeabsichtigte automatische Nebeneffekte von Zielhandlungen können in Form von Aktivierung von für die Zielhandlung völ- lig irrelevanter Information auftreten. Beim Handeln auf ein bestimmtes Ziel hin wird parallel noch Information aktiviert, die für die Zielerreichung eigentlich gar keine Rolle spielt.14 Die Konzepte der kontrollierbaren und zielabhängigen Automatismen lassen sich auch auf kulturelle Stereotype übertragen. Auch sprachlich, literarisch und massenmedial vermittelte Stereotype entfalten ihre Wirkung im dichten Ineinandergreifen von Automatizität und Kontrolle. Die letztere Komponente veranschaulichen verschiedene politische und kommerzielle, aber auch chau- vinistische und rassistische Instrumentalisierungen dieser „tückischen Gebil- de“15. Ein Beispiel für das Zusammenspiel zwischen ‚automatisiertem‘ Tabu und bewusster Kontrolle liefern verschiedene Formen von verdeckter Stereo- typenanwendung innerhalb derjenigen sozialen Gruppen, die sich der Norm der politischen Korrektheit unterworfen haben und „in stillschweigender Übereinkunft“16 bestimmte explizite Stereotypisierungen vermeiden. Barghs 13 Ebd., S. 71. 14 Ebd., S. 67-68. Ausführlicher dazu vgl. John A. Bargh: „The Four Horsemen of Automaticity: Awareness, Intention, Efficiency, and Control in Social Cognition“, in: Robert S. Wyer Jr./ Thomas K. Srull (Hg.), Handbook of Social Cognition, Bd. 1, 2. Aufl., Hillsdale, NJ, 1994, S. 1-41. 15 András Vári, „Die Palette ethnischer Stereotypen in Ungarn 1790-1848“, in: Eva Schmidt- Hartmann (Hg.), Formen des nationalen Bewusstseins im Lichte zeitgenössischer Nationalis- mustheorien, München, 1994, S. 173-196: 191. 16 Dieses Beispiel verdanke ich Gisela Ecker, „Ungeschriebene Regeln. Automatismen und Ta- bus“, in: Hannelore Bublitz/Roman Marek/Christina L. Steinmann/Hartmut Winkler (Hg.), Automatismen, München, 2010, S. 157-269: 264. 102 MIRNA ZEMAN Modell der zielabhängigen Automatismen macht auf individualpsychologi- scher Ebene Prozesse fest, die jenen, die das Paderborner Graduiertenkolleg auf der Ebene der Kollektive beschreibt, in mancherlei Hinsicht entsprechen. Eine der Grundthesen des Paderborner Forschungsprogramms besagt, dass Automatismen besonders beim verteilten Handeln zum Tragen kommen, wenn viele verschiedene Akteure ohne eine zentrale Lenkung agieren und, jeweils eigene Ziele verfolgend, im Nebeneffekt automatisch den diskursiven, norma- tiven und prozeduralen Verhärtungen – zum Beispiel den nationalen Stereoty- pen, der Stabilisierung der Kategorie des Nationalcharakters und ihrer alltags- praktischen Naturalisierung zuarbeiten.17 Ein weiteres kognitives Modell, das Automatizität nicht in einem aus- schließlichen Gegenüber zur Kontrolle, sondern über Kriterien wie Erinnern von Vorwissen‚ Wiederholung bzw. Häufigkeit der gemeinsam auftretenden Phänomene beschreibt, ist die Schematheorie. Sie erweist sich für die Erfor- schung der Zusammenhänge zwischen Stereotypen und Automatismen als be- sonders weiterführend.18 Stereotype und Schemata Laut den Social-Cognition-Forschern Hamilton und Sherman sind gruppenbe- zogene Stereotype abstract knowledge structures linking a social group to a set of traits or behav- ioral characteristics. As such, stereotypes act as expectancies that guide the pro- cessing of information about the group as a whole and about particular group members. In addition to these generalized expectancies, one’s knowledge about particular group members (or exemplars) also may influence judgments about groups and their members.19 Die Stereotypenbildung, so die beiden Forscher weiter, basiert auf Kategori- sierungsprozessen: „Inherent in this process is the perceptual separation of dif- 17 Zum „verteilten Charakter“ der Automatismen siehe Bublitz/Marek/Steinmann/Winkler (2010), Einleitung, S. 10. 18 Zur Schematheorie in den Kognitionswissenschaften siehe u. a. David E. Rumelhart, „Sche- mata: The Building Blocks of Cognition“, in: Rand J. Spiro (Hg.), Theoretical Issues in Read- ing Comprehension, Hillsdale, NJ, 1980, S. 33-55; Jean Matter Mandler, Stories, Scripts, and Scenes: Aspects of Schema Theory, Hillsdale, NJ, 1994; Karl-Heinz Flechsig überträgt das Konzept in die Interkulturalitätsforschung. Vgl. Karl-Heinz Flechsig, „Kulturelle Schemata und interkulturelles Lernen“, online unter http://wwwuser.gwdg.de/~kflechs/iikdiaps3- 98.htm, zuletzt aufgerufen am 30.03.2011. Zur Schematheorie in den Medienwissenschaften siehe Jörg Matthes, „Die Schema-Theorie in der Medienwirkungsforschung: Ein unscharfer Blick in die Black Box?“, in: Medien und Kommunikationswissenschaft 52, 4, (2004), S. 545- 568; Sven Strasen macht die Schematheorie für die literaturwissenschaftliche Rezeptionsfor- schung fruchtbar. Vgl. Sven Strasen, Rezeptionstheorien. Literatur-, sprach- und kulturwis- senschaftliche Ansätze und kulturelle Modelle, Trier, 2008. 19 Hamilton/Sherman (1994), Stereotypes, S. 3. NATIONALITÄTENSCHEMATA 103 ferent social categories.“20 Bei der nationalen Stereotypie haben wir es demzu- folge mit verfestigten, automatisierten assoziativen Verknüpfungen zwischen Kategorien (‚Deutsche‘) und Sets von Merkmalen (‚Dichter und Denker‘, ‚trinkfreudig‘, ‚bodenständig‘) in den Köpfen von Individuen zu tun. Die Au- tomatisierung von Verknüpfungen zwischen Nationen und Charaktereigen- schaften erscheint als ein gutes Mittel, den Verarbeitungsaufwand bei der Be- wältigung der Informationen über die komplexe soziale Umwelt zu minimie- ren. Kognitionsforscher beschreiben stereotypengeleitete Informationsverar- beitung als Selbststeuerung in Feedbackschleifen: „Like all expectancies, ste- reotypes guide information processes and often are perpetuated by confirmato- ry biases that they themselves generate.“21 Für abstrakte kognitive Strukturen, die der Entlastung der Informationsver- arbeitungskapazitäten dienen und helfen, die Komplexität der sozialen Um- welt kognitiv zu bewältigen, verwenden manche Stereotypenforscher den Be- griff ‚Schemata‘22. Soziale Informationsverarbeitung, eine Richtung der kogni- tiven Sozialpsychologie, definiert Schemata als Vorstellungen, Annahmen, Theorien über den jeweiligen Gegenstand der Infor- mationsverarbeitung, d. h. hier über soziale Gegenstände […]. Besondere Beach- tung finden, entsprechend den betrachteten sozialen Gegenständen, Personen- Schemata, Selbst-Schemata, Rollen-Schemata, Stereotype bzw. Schemata für so- ziale Gruppen und Ereignis-Schemata bzw. Skripts.23 Stereotype sind also eine Art von Schemata, die das Wissen über die kulturelle Differenz repräsentieren. Kognitionswissenschaftler und Sozialpsychologen verorten diese Schemata in den Denkapparat und versuchen durch empirische Erhebungen und Experimente an sie heranzukommen. Flechsig, der schema- theoretische Erkenntnisse für Interkulturalitätsforschung fruchtbar macht, ver- sucht sich zwar an einer kultursensiblen Schematheorie, lehrt uns, dass Sche- mata generell kulturbedingt sind und erklärt plausibel, was mit den Schemata bei einem Kontakt mit einer fremden Kultur passiert. Über die Prozesse im kognitiven Apparat geht Flechsigs Studie jedoch nicht hinaus: „Schemata sind stets Schemata in den Köpfen von Individuen. Welche davon von Mitgliedern einer Kulturgemeinschaft geteilt werden, ist letztlich eine Frage der Empirie und der Statistik.“24 Zu den kulturell geteilten Schemata über Nationen können Kulturwissenschaftler plausiblere Antworten geben als Statistiker. Die Schwierigkeit, überindividuelle Schemata der ‚Nationalcharaktere‘ kulturwis- 20 Ebd. 21 Ebd., S. 33. 22 Vgl. Peter O. Güttler, Sozialpsychologie, 4. Aufl., München, 2003, S. 3; Hamilton/Sherman (1994), Stereotypes, S. 16. 23 „Skript zur Forschungsvertiefung. Interaktion und Kommunikation. Thema 6: Symbolischer Interaktionismus und Social Cognition“, online unter: http://www.psychologie.hu-berlin.de/ prof/org/studium/skript/vl6.htm, zuletzt aufgerufen am 20.01.2010. Vgl. auch Güttler (2003), Sozialpsychologie, S. 3. 24 Flechsig (o.J.), Kulturelle Schemata, o.S. 104 MIRNA ZEMAN senschaftlich zu analysieren, besteht allerdings darin, dass sie – als eine syste- mische, relationale und je nach Perspektive ständig wechselnde Größe – im Text- und Bildmaterial in der Regel nicht unmittelbar beobachtbar, sondern erst über Indizes – zum Beispiel sich häufende Aussagen in der Literatur – er- schließbar sind. Vor diesem Hintergrund erweist sich ein Fund aus der historischen und litera- turwissenschaftlichen Stereotypenforschung als besonders interessant und wichtig für die Operationalisierung der Schematheorie in der kulturwissen- schaftlichen Stereotypenforschung. Im Österreichischen Museum für Volks- kunde in Wien hängt ein Ölgemälde aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Titel „Kurze Beschreibung der In Europa Befindlichen Völckern und Ihren Aigenschaften“. Diese sogenannte ‚Völkertafel‘ stellt im Medium der Zeichnung und der Schrift in einem geometrischen Schema verschiedene euro- päische Völker und ihre Eigenschaften dar.25 Das Ölbild gliedert sich in eine 25 Die Ausführungen zu den Völkertafeln basieren auf den Arbeiten von Franz K. Stanzel (Hg.), Europäischer Völkerspiegel. Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frühen 18. Jahrhunderts, Heidelberg, 1999; ders., „Das Nationalitätenschema in der Literatur und seine Entstehung zu Beginn der Neuzeit“, in: Günther Blaicher (Hg.), Erstarrtes Denken. Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorurteil in englischsprachiger Literatur, Tübingen, 1987, S. 84-96. NATIONALITÄTENSCHEMATA 105 Bildleiste und einen Textteil. Im Bildteil stellen sich Prototype von zehn ver- schiedenen Völkern – ‚Spanier‘, ‚Frantzoß‘, ‚Wälisch‘, ‚Teutscher‘, ‚Enger- länder‘, ‚Schöth‘, ‚Boläck‘, ‚Unger‘, ‚Muskawith‘ und schließlich ‚Tirk oder Griech‘ – in ihren jeweiligen Trachten visuell vor. Unterhalb der Zeichnung werden in siebzehn senkrecht verlaufenden Zeilen verschiedene Kriterien an- geführt, nach denen die einzelnen Nationen in der jeweiligen Völkerspalte qualifiziert werden. Die Forschergruppe um den österreichischen Literaturwis- senschaftler Franz K. Stanzel konnte ermitteln, dass dieser ‚Steirischen Völ- kertafel‘, die in mehreren Repliken belegt ist, eine zweite, sehr ähnliche sche- matische Darstellung zur Vorlage gedient hat: Der sogenannte ‚Leopold- Stich‘. Die Völkertafeln sind interessant, weil sie Völker und ihre jeweiligen Attribute als ein System darstellen. Wenn man mit Benedict Anderson die Na- tionen als solche als imagined communities26 fasst, den ‚Charakter‘ im Allge- meinen und den ‚Nationalcharakter‘ im Besonderen als Konzepte, Kategorien, Schemata versteht, wenn man weiterhin davon ausgeht, dass sich eine jede bildliche/sprachliche/tabularische Repräsentation im Vergleich zu der kom- plexen tatsächlichen Welt notwendigerweise als vereinfachend, typisierend, schematisierend darstellt, so erscheinen die ‚Völkertafeln‘ als eine Materiali- sierung sich multiplizierender und gegenseitig potenzierender Schemata, ver- einfacht gesagt, liegt hier ein ‚Schema der Schemata‘ vor. Die erste vertikale Kolonne enthält Angaben wie ‚Sitten‘, ‚Natur u. Eigen- schaft‘, ‚Am Verstand‘, ‚Tracht der Kleidung‘, ‚Lieben‘, ‚Krankheiten‘ usw. Schematheoretiker würden sagen: Das sind die Variablen des Schemas ‚Volkscharakter‘. In den übrigen Kolonnen findet man zehn unterschiedliche ‚Instantiierungen‘ dieses Schemas. Das Schema des spanischen ‚Nationalcha- rakters‘ wird aktualisiert, indem den Variablen aus der ersten Kolonne die Werte (Stereotype) ‚Hochmüttig‘, ‚Wunderbarlich‘, ‚Klug un Weitz‘ usw. zu- geordnet werden. Interessant ist, dass die Völkertafel nicht nur vertikal-para- digmatisch, sondern auch horizontal-syntagmatisch eine Strukturierung leis- tet.27 Durch eine vertikale Lektüre wird man mit den Eigenschaftslisten der einzelnen Nationen konfrontiert, eine horizontale Rezeption führt zum Ver- gleich der Völker hin, wobei sich ein „Wertungsgefälle von links nach rechts bzw. West nach Ost“28 ausmachen lässt: Am schlechtesten schneidet der ‚Bal- kanmensch‘ –‚Tirk oder Griech‘ – ab, bei dem negative Attributionen domi- nieren. 26 Vgl. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Kon- zepts, Frankfurt/M., New York, NY, 1988. 27 Vgl. Franz K. Stanzel, „Zur literarischen Imagologie. Eine Einführung“, in: ders. (Hg.), Euro- päischer Völkerspiegel. Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frü- hen 18. Jahrhunderts, Heidelberg, 1999, S. 9-40: 25. 28 Stanzel (1999), Zur literarischen Imagologie, S. 24. 106 MIRNA ZEMAN Interessanterweise handelt es sich bei den hier vermittelten Stereotypen um althergebrachte, in der Literatur und in dem ethnografischen Schrifttum der Frühen Neuzeit herumgeisternde kollektive Zuschreibungen.29 Schauen wir uns die Charakteristika der ‚Teutschen‘ näher an. Die Völker- tafel besagt, die ‚Teutschen‘ lieben den Trunk, leiden an Gicht („bodogrä“) – einer Krankheit, die mit Alkoholkonsum in Verbindung gebracht wird – ver- treiben die Zeit mit Trinken und beenden ihr Leben im Wein. Der „Ebrietas- Topos“ war, wie Stanzel und Spode überzeugend gezeigt haben, in der Frühen Neuzeit eine gängige Beschreibungsschablone für die Deutschen.30 In die Tex- te der Humanisten gelangte das Stereotyp von den deutschen Trunkenbolden per Nachsagetransport. Ihren Ursprung nimmt die Fama in einer viel älteren Quelle, nämlich in Tacitus’ Germania, wo es bezüglich der Germanen heißt: „[D]iem noctemque continuare potando, nulli probrum“: Tag und Nacht fuh- ren sie fort zu saufen, ohne jegliche Redlichkeit.31 Tacitus schreibt über die ‚Germanen‘; mit dem Aufkommen protonationaler Identitätskonzepte in der Frühen Neuzeit wird in einem veränderten Klassifikationssystem das ur- sprünglich germanenbezogene Stereotyp von den ‚Teutschen‘ geerbt. An die- sem Beispiel kann man einen grundlegenden Mechanismus ausmachen, der bei der Konstruktion der Nationen und der Herausbildung nationaler Stereo- type eine wichtige Rolle spielt: den Prozess der Überprägung oder der Deriva- tion aus dem Vorexistenten, aus den älteren Schemata, Klassifikationssyste- men und Charaktertypologien. Stanzel zeigt, dass ‚Nationalcharaktere‘ weitge- hend durch ethnische oder nationale Überprägungen bereits verfügbarer und in der Literatur geläufiger Typenbilder von Menschen entstehen, etwa der von Alters her vertrauten Standes-, Temperamenten- und moralischen Verhaltens- typen.32 Die vormoderne Literatur speist sich aus der Typik, aus der Wiederho- lung, aus den Schemata. Im 17. und frühen 18. Jahrhundert ist die typisierende Darstellung eine poetologische Regel.33 Eine verbreitete Norm der damaligen Literatur ist die Vorschrift an die Autoren, den Charakter aus einem bestimm- ten Stand nur mit jenen Eigenschaften auszustatten, die nach herkömmlicher Vorstellung diesem Stand zukämen. Das gleiche gilt für die Schilderung nach Herkunftsland. Die Poetiken sind voller Eigenschaftslisten und Epithetonlexi- 29 Ausführlicher dazu vgl. Stanzel (1987), Das Nationalitätenschema, sowie ders. (1999), Zur li- terarischen Imagologie. 30 Siehe Franz K. Stanzel, „Deutschland. Aber wo liegt es?“, in: ders. (Hg.), Europäischer Völ- kerspiegel. Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frühen 18. Jahr- hunderts, Heidelberg, 1999, S. 194-209; Hasso Spode, „,Der Sauf bleibt ein allmächtiger Ab- gott bei uns Deutschen‘. Trunkenheit als Baustein der nationalen Identität,“ in: Hans Jürgen Teuteberg/Gerhard Neumann/Alois Wierlacher (Hg.), Essen und kulturelle Identität, Berlin, 1997, S. 282-299. 31 Zit. n. Stanzel (1999), Deutschland, S. 203. 32 Siehe Stanzel (1999), Zur literarischen Imagologie, S. 19-22. 33 Vgl. Franz K. Stanzel, „Der literarische Aspekt unserer Vorstellungen vom Charakter fremder Völker“, in: Anzeiger der phil.-hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaf- ten, 111, (1974), Sonderdruck, S. 63-82. NATIONALITÄTENSCHEMATA 107 ka, die exakt vorschreiben, was ein ‚Franzose‘ auf der Bühne zu sagen hat, wie er sich verhalten muss, um seinem Charakter gerecht zu werden. Merk- male, die vielleicht zufällig in eine erste solche Darstellung dieses Völkertyps gelangt sind, kehren später immer wieder zurück, gelten zunächst als Erken- nungszeichen, reproduzieren sich, bis sie schließlich zu den ‚Wesensmerkma- len‘ der ‚Franzosen‘ werden.34 Außerdem fließen in das System der ‚National- charaktere‘ automatisch auch alte Traditionen und Modelle ein, zum Beispiel die Temperamentenlehre (Humoralpathologie) und die Klimatheorie – Syste- me also, die das antike, uralte Wissen über die Völker repräsentieren. Die aus der Medizin stammende Säftelehre führt bekanntlich die physi- schen und psychischen Unterschiede zwischen Menschen auf unterschiedliche Anteile von vier Säften, Schleim, Blut, schwarze Galle und gelbe Galle, zu- rück.35 Das System der Säftelehre gründet sich auf dem Denken in Analogien. Den vier Säften werden Kombinationen von vier Qualitäten, heiß und kalt, tro- cken und feucht, weiterhin die vier Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft, die vier Jahreszeiten, die vier Lebensalter eines Menschen, aber auch Konti- nente und Planeten zugeordnet.36 Die Ausstrahlung dieser uralten Ordnungs- schemata auf die Modellierung der ‚Nationalcharaktere‘ ist unverkennbar. Beispiele für Zuordnungen der Eigenschaften traditioneller Temperamententy- pen (Choleriker, Sanguiniker, Melancholiker, Phlegmatiker) zu den einzelnen Nationen finden sich quer durch das europäische Schrifttum, bis in die heutige Zeit hinein. Ein weiteres Ordnungsschema, das durch Jahrtausende hindurch Wahrneh- mungen und Beschreibungen der Völker präfiguriert, ist die Klimatheorie. Diese aus der Antike stammende Lehre verknüpft das Naturell und die Ingenia der Völker kausal mit den Umwelt- und Klimaeinflüssen des Landes. Grundle- gend ist dabei die Einteilung der Welt in drei Zonen: eine nördliche, eine mitt- lere und eine südliche Zone. Bereits Hippokrates schildert die ‚Nordländer‘ als kräftig und wenig intellektuell, die ‚Südländer‘ als fruchtbar und feige, und am besten schneiden die Bewohner der klimatisch günstigeren mittleren Zone ab.37 Im europäischen Schrifttum der Frühen Neuzeit erkennt man dieses Ras- ter in seinen unzähligen Aktualisierungen und Modifizierungen wieder. Stan- zel schreibt dazu: Die Annahmen von tiefgreifenden Unterschieden in Aussehen, Statur, Tempera- ment und geistiger Veranlagung zwischen Nordländern und Südländern ermög- lichte es, alle europäischen Völker in zwei konträre Gruppen zu teilen. Seither ist der Gegensatz zwischen Nord und Süd zu einer der meistverwendeten Erklä- 34 Siehe dazu Stanzel (1974), Der literarische Aspekt. S. 63-82. 35 Zu den Zusammenhängen zwischen der Temperamentenlehre, der Klimatheorie und den na- tionalen Stereotypen vgl. Meyer (2003), Die Ikonographie der Nation, S. 334-344. 36 Ebd., S. 335. 37 Vgl. ebd. Siehe auch Bernhard Lang, „Der Orientreisende als Exeget“, in: Gisela Ecker/Su- sanne Röhl (Hg.), In Spuren reisen. Vor-Bilder und Vor-Schriften in der Reiseliteratur, Ber- lin, 2006, S. 31-61: 53-58. 108 MIRNA ZEMAN rungskategorien der europäischen Geistes-, Kunst und Literaturgeschichte ge- worden.38 Klimatheorie, Temperamentenlehre, das System der ‚Nationalcharaktere‘ – bei der Ausformung völkerbezogener Zuschreibungen ist offenbar eine Reihe mit- einander kommunizierender und ineinander verschachtelter Schemata am Werk. Feststellen lässt sich dabei ein Ineinandergreifen von Starrheit (Wieder- holung) und Dynamik (Ableitung, Überformung). Es stellt sich erstens die Frage, wie all diese kollektiven Schemata miteinander und zweitens mit jenen auf der individuell-psychologischen Ebene interagieren. Eine mögliche Ant- wort auf die erste Frage wäre, dass kollektive Schemata (Klimatheorie, Säfte- lehre, Schema der ‚Nationalcharaktere‘) über zyklische Rückkopplungen mit- einander verbunden bleiben. Nehmen wir ein Beispiel aus der historischen Reiseliteratur: Ein Reisender aus der Frühen Neuzeit bereitet sich für seine Reise vor. Zu der Vorbereitung zählt üblicherweise die Lektüre verfügbarer Werke über das Land, das er besuchen will. Da die antiken Lehrmeister zum selbstverständlichen Bildungsgut damaliger Gelehrter zählten, kann man da- von ausgehen, dass auch der Reisende mit dem klimatheoretischen Gedanken- gut vertraut ist. Die Erwartungen des Reisenden sind somit durch das Vorwis- sen präformiert. Im fremden Land beginnt dann ein Bestätigungsmechanismus abzulaufen, die angelesenen Eigenschaften eines fremden Volkes werden wie- dererkannt und in die Beschreibung der eigenen Reiseerfahrung integriert. Da Reiseberichte damals Informationsquellen ersten Ranges waren, kann man sich leicht vorstellen, dass durch die damals sehr verbreitete Technik des Ab- schreibens die Eindrücke des Reisenden in die Erdbeschreibungen und Kos- mografien – wie man damals geografische Handbücher nannte – gelangten, auf die wiederum Theorien der historisch-politischen Wirklichkeit wie etwa klima- und staatstheoretische Werke Montesquieus aufbauten. Diese werden von den zukünftigen Reisenden gelesen, präformieren ihre Wahrnehmungen. Der Kreis schließt sich und die Sache fängt von Neuem an. An diesem Bei- spiel wird deutlich, wie sich Automatismen im hermeneutischen Zirkel und in der Schleife Vortext-Bericht-Nachtext entfalten.39 Die Frage, wie all diese kollektiv geteilten Schemata mit jenen auf der indi- vidualpsychologischen Ebene interagieren, ist nicht hinreichend geklärt, ein- deutig spielen dabei verschiedene Vermittlungsinstanzen, darunter Sprache, Literatur und andere Medien, eine entscheidende Rolle. Ein Modell, das die schwierige Frage nach den Mechanismen der intersub- jektiven, gesellschaftlichen Konsensbildung in Bezug auf nationale Stereotype 38 Stanzel (1974), Der literarische Aspekt, S. 79. 39 Zum hermeneutischen Zirkel im Zusammenhang mit Reiseliteratur in der Frühen Neuzeit siehe Justin Stagl, Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550-1800, Wien, 2002, S. 101-102. NATIONALITÄTENSCHEMATA 109 plausibel beantwortet, haben Ute Gerhard und Jürgen Link vorgelegt.40 Nach Gerhard und Link sind Nationalcharaktere und -stereotype interdiskursive Komplexe, die über symbolische Konnotationen Diskursintegrale zwischen verschiedenen Spezialdiskursen schaffen. Gerhard und Link gehen davon aus, dass dies über die Kopplungen der ‚Nationalcharaktere‘ mit den – zu unter- schiedlichen Zeitpunkten interdiskursiv wirkmächtigen – Kollektivsymbolen (beispielsweise mit der Körpersymbolik wie im Falle des „heißblütigen Spani- ers“) läuft. Eine Besonderheit der Nationalcharaktere besteht nach Links und Gerhards Modell darin, dass sie – genauso wie Kollektivsymbole – nie isoliert, sondern (der Existenz verschiedener Nationen entsprechend) als ein synchro- nes System funktionieren. Eine besonders anschauliche Bestätigung dieser Annahme liefern die besprochenen Völkertafeln. Durch verteiltes Handeln Vieler, die unterschiedliche Zuschreibungssets den jeweiligen Wir- und Sie-Gruppen öffentlich kommunizierend zuordnen, durch Polemiken und ‚Pro-und-Contra-Spiele‘ der diskursiven Positionen, ent- stehen vielfältige Anschlüsse und Querverweise zwischen dem Nationalcha- rakter- und dem Kollektivsymbolsystem.41 Sven Strasen, der im Rahmen sei- ner Arbeit zur Rezeption literarischer Texte die Schematheorie mit dem Inter- diskurskonzept von Link zu verzahnen versucht, formuliert eine interessante Beobachtung: Wenn der Interdiskurs die ihm von Link zugewiesene Vermittlungsfunktion er- füllen soll, so muss er mit individuellen Wissensbeständen kompatibel und darü- ber hinaus in der Lage sein, die hoch komplexen Sachverhalte aus verschiedenen Spezialdiskursen den individuellen kognitiven Systemen effektiv zur Verarbei- tung zur Verfügung zu stellen. Diese Überlegung legt nahe, dass auch der Inter- diskurs durch Schemata strukturiert ist. […] Der Interdiskurs vermittelt nicht zwischen Diskursen, sondern zwischen Angehörigen von Diskursgemeinschaf- ten. […] Soll hier eine Vermittlungsinstanz intervenieren, so liegt es auf der Hand, dass sie diese Vermittlungsfunktion besonders gut erfüllen kann, wenn sie ebenfalls schematisch organisiert ist.42 Tatsächlich sind die Mechanismen, die Link auf der elementarliterarischen Ebene feststellt, jenen, die kognitive Psychologen beschreiben, verblüffend ähnlich. Das Spiel der Verknüpfungen und der gegenseitigen automatischen Abrufe zwischen Kategorien (‚Nationalcharakteren‘) und Merkmalkomplexen (‚Kollektivsymbolen‘) verlängert sich anscheinend auch in die – symbolisch 40 Vgl. Ute Gerhard/Jürgen Link, „Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereoty- pen“, in: Jürgen Link/Wulf Wülfing, Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart, 1991, S. 16-52. 41 Vgl. ebd. Siehe auch Jürgen Link/Wulf Wülfing, „Einleitung“, in: dies., Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Kon- zepten nationaler Identität, Stuttgart, 1991, S. 7-15: 12. 42 Strasen (2008), Rezeptionstheorien, S. 290. 110 MIRNA ZEMAN und metaphorisch strukturierte – Vermittlungsinstanz ‚Interdiskurs‘ hinein. Link schreibt beispielsweise: Werden die „Massen“ von Paris und deren Aktionen bei der Revolution reprä- sentativ gesetzt für Frankreich, so werden parallel angenommene semantische Merkmale von „Masse“ – „ungeordnet“, „willenlos“, „ungegliedert“ – dem Cha- rakter Frankreichs zugeordnet, das ohne organische Gliederung, nur Masse sei. Wohingegen Deutschland die „Aufgabe“ zugesprochen wird, diesen französi- schen-massenhaften Character des Continents zu ändern.43 Individuelle Schemata und kollektiver Interdiskurs scheinen eine ähnliche Ar- beit zu leisten. Äquivalent einem Schema auf der kognitiven Ebene, die aus einer Fülle zahlreicher Einzelinformationen über Einzelexemplare allgemeine Merkmale herausfiltert und einkapselt, subsumiert der Interdiskurs komplexe spezialdiskursive Sachverhalte unter einfache, allgemeine und allgemein ver- ständliche symbolische Muster.44 43 Gerhard/Link (1991), Zum Anteil der Kollektivsymbolik, S. 28. Ein weiteres Beispiel, S. 18: „Wie in diesem Beispiel, so werden die Kollektivsymbole (hier das Maschinen-Symbol) in aller Regel im konkreten Gebrauch bloß partiell und fragmentarisch benutzt – im kollektiven Halbbewußtsein sind die jeweils weggelassenen Elemente des Symbols aber als Folie latent.“ 44 Nach Hartmut Winklers Modell liegt auch den Medien – einer weiteren Vermittlungsinstanz der nationalen Stereotype – die Schematisierung zugrunde. Vgl. Hartmut Winklers Beitrag in diesem Band. Linguistische Untersuchungen suggerieren, dass bei der Herausbildung der na- tionalen Stereotype ein Mechanismus am Werk ist, der – wie Gerd Hentschel in seiner auf den Erkenntnissen der Prototypensemantik basierenden Arbeit zeigt – auch für die „allgemei- ne, ‚nicht-stereotype‘ objektsprachliche Begriffsbildung“ charakteristisch ist. Vgl. Hentschel (1994), Stereotyp und Prototyp, S. 15. In diese Richtung weist auch Hartmut Winklers semio- tisches Stereotypenmodell. Auch Winkler (1992), Bilder, Stereotype, Zeichen, formuliert die These, dass sich Stereotype eigentlich nicht anders als sprachliche Zeichen im Allgemeinen verhalten: Bei der Stereotypenbildung wie bei den semiotischen Prozessen im Allgemeinen sind dieselben Mechanismen am Werk: Wiederholung und das Wiedererkennen, Typisierung und Abstraktion. Zeichen wie Stereotype bilden sich im Prozess der Wiederholung und wer- den sukzessive zum Code verhärtet. Hier kommen Automatismen zum Tragen. Auch bei den völkerbezogenen Stereotypen lässt sich diese Art von Verhärtung, die „Einschreibung in den Code“ (Hartmut Winkler, Basiswissen Medien, Frankfurt/M., 2008, S. 196) nachweisen. Zum Beispiel am reichen Fundus an ethnischen Schimpfwörtern für Menschen aus anderen Grup- pen, Völkern und Nationen, die man in den Lexika verschiedener Sprachen vorfindet. Andre- as Winkler hat in seiner Studie „Ethnische Schimpfwörter und übertragener Gebrauch von Ethnika“, in: Muttersprache, 4 (1994), S. 320-337, einen umfangreichen Wortschatz von sol- chen abfälligen Bezeichnungen gesammelt, die fast immer in Bezug auf die benachbarten Völker und ethnischen Gruppen stehen, zu denen man im ständigen und damit oft konflikt- reichen Kontakt steht. Zu dem Unangenehmen, das mit einem anderen Volk häufig assoziiert wird, zählt zum Beispiel das Ungeziefer. Die Bezeichnungen für diese ekelerregenden Tiere leiten sich in vielen Sprachen von den Namen den Völkern ab, denen man negative Eigen- schaften, wie Unsauberkeit, unterstellt. Die Bezeichnungen für Küchenschaben sind ein solches Beispiel. In Österreich nennt man sie ‚Schwaben‘, ebenfalls in Kroatien, wo der Terminus ‚bube švabe‘ gebräuchlich ist, in Deutschland laut Anderas Winkler ‚Dänen‘‚‘ oder ‚Russen‘, in Russland ‚prusak‘ i. e. ‚Preußen‘. Ein weiteres Beispiel für die in die Sprache hinein vergessene Nationenschelte liefern Bezeichnungen für Syphilis. So kommt es vor, dass diese Krankheit mit einer Bezeichnung versehen wird, die an ihren vermeintlichen geo- grafischen Ursprung erinnert. Hier wird beispielsweise den traditionell als frivol geltenden NATIONALITÄTENSCHEMATA 111 Kognitive Schemata und der schematisch organisierte Interdiskurs generie- ren, stabilisieren und erhärten die Verknüpfungen zwischen der Kategorie ‚Nation‘ und den sie bestimmenden Eigenschaftssets. Die Erhärtung dieser Verknüpfungen vollzieht sich – wie praxeologische Untersuchungen aus dem Bereich der Kommunikationstheorie, der Soziologie und der Nationalismus- forschung zeigen – nicht nur mental und interdiskursiv, sondern auch im kon- kreten praktischen Tun. Stereotype, Automatismen und alltägliche Nationalismen „We cannot let the terrorists achieve the objective of frightening our nation to the point where we don’t conduct business, where people don’t shop. Mrs. Bush and I want to encourage Americans to go shopping.“45 Mit dieser Aussa- ge forderte George W. Bush die Amerikaner nicht nur zu einer die National- ökonomie fördernden Aktivität auf, sondern auch zum alltagspraktischen live- up-to-a-stereotype, zum doing-the-Americanness durch Konsum. Um die Ka- tegorie eines ‚Amerikaners‘ mit ihrem typischen Merkmal ‚konsumeristische Geisteshaltung‘ aufrechtzuerhalten, bedarf es einer kontinuierlichen diskursi- ven Erinnerung und Erneuerung, aber auch – mit Bowker/Star gesprochen – „a lot of skilled work“46, des tatsächlichen Handelns also, das nicht nur auf die Seite der Regierungen und den bürokratischen Institutionen fällt. Bowker und Star machen darauf aufmerksam, dass Kategorien nicht nur Konstrukte sind, sondern auch Artefakte, die durch das Tun hervorgebracht und praktisch ge- braucht und gepflegt werden. Neben einer ideellen haben sie auch eine materi- elle Seite. Materiell sind sie insofern, als sie sich in die Dinge einschreiben und denen anhaften. In verdinglichter wie in konzeptueller Form werden sie durch Handlungen, Praktiken, Routinen eingeübt und zunehmend habituali- siert, so dass sie mit Hannelore Bublitz gesprochen als „täuschend natürlich“47 erscheinen. Bowker/Star, die Kategorien als „naturalisierte Objekte“ beschrei- ben, betonen diesbezüglich: The more naturalized an object becomes, the more unquestionable the relation- ship of the community to it, the more invisible the contingent and historical cir- Franzosen die Einschleppung dieser Krankheit ins heimatliche Gefilde unterstellt und so heißt sie in vielen europäischen Sprachen ‚französische Krankheit‘. 45 George W. Bush, „Fighting a Global War on Terror“, White House, National Security Web- site, 2006. Zitiert nach Melissa J. Ferguson/Travis J. Carter/Ran R. Hassin, „On the Automat- icity of Nationalist Ideology. The Case of USA“, S. 65, online unter: http://cornellpsych.org /people/travis/materials/Ferguson-Carter-Hassin-Automatic%20Nationalism-2009.pdf, zuletzt aufgerufen am 30.03.2011. 46 Geoffrey C. Bowker/Susan Leigh Star, Sorting Things Out. Classification and Its Conse- quences, Cambridge, MA, London, 1999, S. 285. 47 Hannelore Bublitz, „Täuschend natürlich. Zur Dynamik gesellschaftlicher Automatismen, ih- rer Ereignishaftigkeit und strukturbildenden Kraft“, in: dies./Roman Marek/Christina L. Steinmann/Hartmut Winkler, Automatismen, München, 2010, S. 153-171. 112 MIRNA ZEMAN cumstances of its birth, the more it sinks into the community’s routinely forgot- ten memory.48 Die Kategorie ‚Nation‘ ist längst einzelne Praxisgemeinschaften übergreifend habitualisiert, selbstverständlich und ‚unsichtbar‘ geworden. Das nationale Dispositiv – ein „wirkmächtiges Arrangement von Dingen, Zeichen und Sub- jekten“49 – reproduziert sich beiläufig, unspektakulär und implizit durch alltäg- liche Essgewohnheiten und Konsumpraktiken, durch subtiles Fahnenzeigen in den Wetterprognosen und plakatives Fahnenschwenken bei den Sportwett- kämpfen. Bereits 1995 hat Michael Billig diesen Automatismus mit „täu- schend natürlicher Wirkung“50 „banal nationalism“ genannt: the term banal nationalism is introduced to cover the ideological habits which enable the established nations of the West to be reproduced. It is argued that these habits are not removed from everyday life, as some observers have sup- posed. Daily, the nation is indicated or ‚flagged‘ in the lives of its citizenry. Na- tionalism, far from being an intermittent mood in established nation, is endemic condition.51 Nationale Stereotype, deren Regime sich – wie ich an einer anderen Stelle ar- gumentiert habe – ganz abgesehen von den Sportereignissen und der Touris- musindustrie durch produktkommunikative Materialisierungen und diverse Konsumgüter verstärkt in unterschiedliche Bereiche des Alltags hinein verlän- gert – spielen beim alltäglichen flagging the nations eine entscheidende Rol- le.52 Bei der Inkorporierung des ‚deutschen Biers‘, beim täglichen Einkauf beim ‚Türken‘ um die Ecke, bei den beiläufigen Erkundungen des ‚schwedi- schen Nationalcharakters‘ im Möbelhaus IKEA – werden Stereotype prakti- ziert und das Prinzip des Nationalen gestärkt. Entgegen der geläufigen Auffassung, durch supranationale Integrationspro- zesse verschwinde das Leitbild ‚Nation‘, verlieren nationale Kategorien und Stereotype trotz aller Integrationen, Entgrenzungen und Aufwertungen kultu- reller Differenz und Hybridität auch in der Ära der Globalisierung nicht an Bedeutung. Entgegen der geläufigen Rhetorik, die das Phänomen ‚Nationalis- mus‘ auf eine substaatliche Ebene ausgelagert und in der Regel einem (meis- tens separatistischen oder marginalen) ‚Anderen‘ zuschreibt, sind Nationalis- men auch in den stabilen Staaten Europas ein Mainstream. Dass man sie nicht bemerkt, verdankt sich ihrer Modernisierung durch eine Banalisierung und eben den Automatismen. 48 Bowker/Star (1999), Sorting Things Out, S. 299. 49 Bublitz (2010), Täuschend natürlich, S. 163. 50 Ebd. 51 Michael Billig, Banal Nationalism, London, 1995, S. 6. 52 Vgl. Mirna Zeman, „Käufliche Stereotype, trinkbare Sagen, vermarktete Nationen: Zu Kroa- ten, Krabat-Schnaps und Krawatte“, in: Maik Bierwirth/Oliver Leistert/Renate Wieser (Hg.), Ungeplante Strukturen. Tausch und Zirkulation, München, 2010, S. 235-252. NATIONALITÄTENSCHEMATA 113 Fazit Die blühende Landschaft nationaler Stereotype, die man in verschiedensten Kultur- und Lebensbereichen vorfindet, baut sich auf dem höchst effektiven Fundament weitgehend ungeplanter, unbewusster und unkontrollierbarer Ab- läufe. Sozialpsychologen beschreiben Automatismen der Stereotypenaktivie- rung im kognitiven Apparat, kulturwissenschaftliche Stereotypenforschung liefert Beispiele für automatische Prozesse, die bei der Herausbildung, An- wendung und Stabilisierung sowie im alltagspraktischen Vollzug nationaler Stereotype zum Tragen kommen. Die Automatizität der Stereotypie schließt jedoch kontrollierte und kontrollierbare Prozesse nicht aus. Nationale Stereo- type entstehen und entfalten ihre Wirkung vielmehr in einem engen Bezie- hungsgeflecht zwischen Automatismen (spontane Herausbildung, Aktivierung, Ankonditionierung) und Kontrolle (individual-psychologische Inhibitions- möglichkeiten, ideologische Instrumentalisierung). Sie sind ein Paradebeispiel für kontrollierbare Automatismen. Das Reich der Automatismen um die natio- nalen Stereotype ist weitgehend in deren schematischer Natur begründet. Nationale Stereotype sind kognitive Schemata und als solche eine hilfreiche denkökonomische Einrichtung: Sie organisieren das Wissen über kulturelle Differenz auf Basis einer Automatisierung von Verknüpfungen zwischen Na- tionen und Charaktereigenschaften. Gleichzeitig sind sie überindividuelle Schemata und als solche ein Ergebnis des Konsenses, das durch symbolische Verhandlungen in einem schematisch organisierten Interdiskurs ‚hinter dem Rücken‘ der Beteiligten automatisch entsteht. Nationale Stereotype entfalten ihre Wirkung mental, diskursiv und prozedural, im Umgang mit Dingen und Artefakten, über alltägliche Handlungsabläufe und unspektakuläre Routinen und Praktiken. Sie sind ein Vehikel der Habitualisierung des Nationsprinzips und ein wesentlicher Bestandteil eines banalisierten und weitgehend automati- sierten Nationalismus. Literatur Anderson, Benedict, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Kon- zepts, Frankfurt/M., New York, NY, 1988. Barfoot, Cedric C. (Hg.), Beyond Pug’s Tour: National and Ethnic Stereotyping in Theory and Literary Practice, Amsterdam, 1997. Bargh, John A., „The Four Horsemen of Automaticity: Awereness, Intention, Effi- ciency, and Control in Social Cognition“, in: Robert S. Wyer Jr./Thomas K. Srull (Hg.), Handbook of Social Cognition, Bd. 1, 2. Aufl., Hillsdale, NJ, 1994, S. 1-41. Bausinger, Hermann, Typisch deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen, München, 2000. 114 MIRNA ZEMAN Beller, Manfred/Leerssen, Joep (Hg.), Imagology. The Cultural Construction and Lit- erary Representation of National Characters. A Critical Survey, Amsterdam, New York, NY, 2007. Billig, Michael, Banal Nationalism, London, 1995. Blaicher, Günther (Hg.), Erstarrtes Denken. Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorur- teil in englischsprachiger Literatur, Tübingen, 1987. Bowker, Geoffrey C./Star, Susan Leigh, Sorting Things Out. Classification and Its Consequences, Cambridge, MA, London, 1999. Bublitz, Hannelore/Marek, Roman/Steinmann, Christina L./Winkler, Hartmut (Hg.), Automatismen, München, 2010. Dies. „Einleitung“, in: dies., Automatismen, München, 2010, S. 9-17. Bublitz, Hannelore, „Täuschend natürlich. Zur Dynamik gesellschaftlicher Automatis- men, ihrer Ereignishaftigkeit und strukturbildenden Kraft“, in: dies./Roman Marek/ Christina L. Steinmann/Hartmut Winkler, Automatismen, München, 2010, S. 153- 171. Dąbrowska, Jarochna, Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck im Polenbild der deutschen Presse, Tübingen, 1999. Ecker, Gisela, „Ungeschriebene Regeln. Automatismen und Tabus“, in: Hannelore Bublitz/Roman Marek/Christina L. Steinmann/Hartmut Winkler (Hg.), Automatis- men, München, 2010, S. 157-269. Ehlich, Konrad, „Vorurteile, Vor-Urteile, Wissenstypen, mentale und diskursive Struk- turen“, in: Margot Heinemann (Hg.), Sprachliche und soziale Stereotype, Frankfurt/ M., 1998, S. 11-25. Ferguson, Melissa J./Carter, Travis J./Hassin, Ran R., „On the Automaticity of Nation- alist Ideology. The Case of USA“, online unter: http://cornellpsych.org/people/tra vis/materials/Ferguson-Carter-Hassin-Automatic%20Nationalism-2009.pdf, zuletzt aufgerufen am 30.03.2011. Fischer, Manfred S., Nationale Images als Gegenstand vergleichender Literaturge- schichte. Untersuchungen zur Entstehung der komparatistischen Imagologie, Bonn, 1981. Fiske, Susan T., „Examining the Roll of Intent: Toward Understanding Its Rolle in Stereotyping and Prejudice“, in: James S. Uleman/John A. Bargh (Hg.), Unintended Thought, New York, NY, 1989, S. 253-287. Flechsig, Karl-Heinz, „Kulturelle Schemata und interkulturelles Lernen“, online unter: http://wwwuser.gwdg.de/~kflechs/iikdiaps3-98.htm, zuletzt aufgerufen am 30.03.2011. Florack, Ruth, „Stereotypenforschung als Baustein zu einer interkulturellen Literatur- wissenschaft“, in: Peter Wiesinger (Hg.), Akten des X. Internationalen Germanisten- kongresses Wien 2000. „Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“, Bern (u. a.), 2003, S. 37-43. Gerhard, Ute/Link, Jürgen, „Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereo- typen“, in: Jürgen Link/Wulf Wülfing, Nationale Mythen und Symbole in der zwei- ten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationa- ler Identität, Stuttgart, 1991, S. 16-52. Güttler, Peter O., Sozialpsychologie, 4. Aufl., München, 2003. Hahn, Hans Henning (Hg.), Historische Stereotypenforschung. Methodische Überle- gungen und empirische Befunde, Oldenburg, 1994. Ders. (Hg.), Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in ge- sellschaftlichen Diskursen, Frankfurt/M. (u. a.), 2002. NATIONALITÄTENSCHEMATA 115 Hamilton, David L./Sherman, Jeffrey, „Stereotypes“, in: Robert S. Wyer Jr./Thomas K. Srull (Hg.), Handbook of Social Cognition, Bd. 2, 2. Aufl., Hillsdale, NJ, 1994, S. 1-69. Hentschel, Gerd, „Stereotyp und Prototyp. Überlegungen zur begrifflichen Abgren- zung vom linguistischen Standpunkt“, in: Hans Henning Hahn (Hg.), Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde, Olden- burg, 1994, S. 7-14. Imhof, Michael, „Stereotypen und Diskursanalyse. Anregungen zu einem Forschungs- konzept kulturwissenschaftlicher Stereotypenforschung“, in: Hans Henning Hahn (Hg.), Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empiri- sche Befunde, Oldenburg, 1994, S. 57-71. Lang, Bernhard, „Der Orientreisende als Exeget“, in: Gisela Ecker/Susanne Röhl (Hg.), In Spuren reisen. Vor-Bilder und Vor-Schriften in der Reiseliteratur, Berlin, 2006, S. 31-61. Leerssen, Joep/Syndram, Karl Ulrich (Hg.), Europa Provincia Mundi. Essays in Com- parative Literature and European Studies Offered to Hugo Dyserinck on the Occa- sion of his Sixty-Fifth Birthday, Amsterdam, 1992. Leyens, Jacques-Philippe/Yzerbyt, Vincent/Schandron, Georges (Hg.), Stereotypes and Social Cognition, London, Thousand Oaks u. New Delhi, 1994. Link, Jürgen/Wülfing, Wulf (Hg.), Bewegung und Stillstand in Metaphern und My- then. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert, Stuttgart, 1984. Dies., Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart, 1991. Dies., „Einleitung“, in: dies., Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart, 1991, S. 7-15. Mandler, Jean Matter, Stories, Scripts, and Scenes: Aspects of Schema Theory, Hills- dale, NJ, 1994. Matthes, Jörg, „Die Schema-Theorie in der Medienwirkungsforschung: Ein unscharfer Blick in die Black Box?“, in: Medien und Kommunikationswissenschaft 52, 4 (2004), S. 545-568. Mehnert, Elke (Hg.), Bilderwelten-Weltbilder. Vademekum der Imagologie, Chemnitz, 1997. Meyer, Silke, Die Ikonographie der Nation. Nationalstereotype in der englischen Druckgraphik des 18. Jahrhunderts, Münster (u. a.), 2003. Oakes, Penelope J./Haslam, S. Alexander/Turner, John C. (Hg.), Stereotyping and So- cial Reality, Oxford, 1994. Rumelhart, David E., „Schemata: The Building Blocks of Cognition“, in: Rand J. Spiro (Hg.), Theoretical Issues in Reading Comprehension, Hillsdale, NJ, 1980, S. 33-55. Schaal, Bernd, Willentliche Kontrolle stereotypen Denkens: Intentionseffekte auf die Aktivierung von Stereotypen, Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades an der sozialwissenschaftlichen Fakultät Universität Konstanz, Fachbereich Psychologie, Konstanz 1997, online unter: http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=956885004 &dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=956885004.pdf, zuletzt aufgerufen am 28.03.2011. „Skript zur Forschungsvertiefung. Interaktion und Kommunikation. Thema 6: Symbo- lischer Interaktionismus und Social Cognition“, online unter: http://www.psycholo gie.hu-berlin.de/prof/org/studium/skript/vl6.htm, zuletzt aufgerufen am 20.01.2010. 116 MIRNA ZEMAN Spode, Hasso, „,Der Sauf bleibt ein allmächtiger Abgott bei uns Deutschen‘. Trunken- heit als Baustein der nationalen Identität“, in: Hans Jürgen Teuteberg/Gerhard Neu- mann/Alois Wierlacher (Hg.), Essen und kulturelle Identität, Berlin, 1997, S. 282- 299. Stanzel, Franz K. (Hg.), Europäischer Völkerspiegel. Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frühen 18. Jahrhunderts, Heidelberg, 1999. Ders., „Der literarische Aspekt unserer Vorstellungen vom Charakter fremder Völker“, in: Anzeiger der phil.-hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaf- ten, 111 (1974), Sonderdruck, S. 63-82. Ders., „Das Nationalitätenschema in der Literatur und seine Entstehung zu Beginn der Neuzeit“, in: Günther Blaicher (Hg.), Erstarrtes Denken. Studien zu Klischee, Ste- reotyp und Vorurteil in englischsprachiger Literatur, Tübingen, 1987, S. 84-96. Ders., „Zur literarischen Imagologie. Eine Einführung“, in: ders. (Hg.), Europäischer Völkerspiegel. Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frü- hen 18. Jahrhunderts, Heidelberg, 1999, S. 9-40. Ders., „Deutschland. Aber wo liegt es?“, in: ders. (Hg.), Europäischer Völkerspiegel. Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frühen 18. Jahrhun- derts, Heidelberg, 1999, S. 194-209. Stagl, Justin, Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550-1800, Wien, 2002. Strasen, Sven, Rezeptionstheorien. Literatur-, sprach- und kulturwissenschaftliche An- sätze und kulturelle Modelle, Trier, 2008. Telus, Magdalena, „Gruppenspezifisches Stereotyp: Ein textlinguistisches Modell“, in: Hans Henning Hahn, Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereo- typen in gesellschaftlichen Diskursen, Frankfurt/M. (u. a.), 2002, S. 87-125. Vári, András, „Die Palette ethnischer Stereotypen in Ungarn 1790-1848“, in: Eva Schmidt-Hartmann (Hg.), Formen des nationalen Bewusstseins im Lichte zeitgenös- sischer Nationalismustheorien, München, 1994, S. 173-196. Winkler, Andreas, „Ethnische Schimpfwörter und übertragener Gebrauch von Ethni- ka“, in: Muttersprache, 4 (1994), S. 320-337. Winkler, Hartmut, „Bilder, Stereotypen und Zeichen. Versuch, zwischen zwei sehr un- terschiedlichen Theorietraditionen eine Brücke zu schlagen“, in: Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft, 41 (1992), S. 142-169. Ders., „Technische Reproduktion und Serialität“, in: Günther Giesenfeld (Hg.), Endlo- se Geschichten. Serialität in den Medien, Hildesheim, 1994, S. 38-45. Ders., Basiswissen Medien, Frankfurt/M., 2008. Zeman, Mirna, „Käufliche Stereotype, trinkbare Sagen, vermarktete Nationen: Zu Kroa- ten, Krabat-Schnaps und Krawatte“, in: Maik Bierwirth/Oliver Leistert/Renate Wieser (Hg.), Ungeplante Strukturen. Tausch und Zirkulation, München, 2010, S. 235-252. ROLF PARR ZWISCHEN INNOVATION UND AUTOMATISMUS. NATIONALSTEREOTYPE IN DER BERICHTERSTATTUNG ZUR FUßBALL-WM 2010 I. Automatismen und/oder Stereotype? Die bisherige Forschung hat zwei konstitutive Merkmale von Automatismen herausgearbeitet, nämlich erstens, dass sie „ungeplant, im Rücken der Betei- ligten und ohne zentrale Steuerung“1 entstehen und „in gewisser Weise Zu- fallseffekte“2 darstellen; zweitens, dass sie trotz dessen „einen engen Bezug zur Wiederholung, zur Gewohnheit und zur Schemabildung“3 haben. Automa- tismen sind damit in einem „Zwischenbereich“ angesiedelt, und zwar „zwi- schen freiwilligen, bewussten Handlungen einerseits und der vollständig unbe- wusst/unfreiwilligen Sphäre des Zwangs“4 andererseits. Automatismen „ver- danken sich“ demnach „nicht dem Willen eines planvoll handelnden Subjekts, der sich in ihnen manifestiert, sondern sind Bestandteil eines wirkmächtigen Arrangements von Dingen, Zeichen und Subjekten“.5 Diese Merkmale der Bestimmung von Automatismen gelten aber gleicher- maßen auch für jene Stereotype, die ganzen Nationen als über längere Zeiträu- me hinweg mehr oder weniger konstant bleibende ‚Charakterzüge‘ vom Typ ‚die Deutschen sind gründlich, ordentlich und pünktlich, die Österreicher ein klein wenig schlampig und die Engländer skurril‘ zugesprochen werden.6 Denn auch Nationalstereotype gehen nicht auf Intentionen Einzelner zurück, und auch sie tendieren zur Stabilisierung durch Wiederholung. Sie können da- her als „Paradebeispiel“ für unintendierte „Strukturbildung“ angesehen wer- 1 Maik Bierwirth, „… jenseits geplanter Prozesse. Einleitendes und Methodisches“, in: ders./ Oliver Leistert/Renate Wieser (Hg.), Ungeplante Strukturen. Tausch und Zirkulation, Mün- chen, 2010, S. 9-17: 9. 2 Hannelore Bublitz/Roman Marek/Christina L. Steinmann/Hartmut Winkler (Hg.), „Einlei- tung“, in: dies. (Hg.), Automatismen, München, 2010, S. 9-16: 10. 3 Bierwirth (2010), … jenseits geplanter Prozesse, S. 9. 4 Hartmut Winkler/Andreas Böhm/Hannelore Bublitz, „Thesenbaukasten zu Eigenschaften, Funktionsweise und Funktionen von Automatismen. Teil 1“, in: Hannelore Bublitz/Roman Marek/Christina L. Steinmann/Hartmut Winkler (Hg.), Automatismen, München, 2010, S. 17- 35: 18. 5 Bublitz/Marek/Steinmann/Winkler (2010), Einleitung, S. 10. 6 Populäre Beispiele bieten die Bände der „pauschal“-Reihe: Stefan Zeidenitz/Ben Barkow, Die Deutschen pauschal; Martin Solly, Die Italiener pauschal; Drew Launay, Die Spanier pau- schal; Louis James, Die Österreicher pauschal; Nick Yapp/Michel Syrett, Die Franzosen pauschal, (alle Frankfurt/M., 1997). 118 ROLF PARR den, insofern als auch für Nationalstereotype gilt, was Hartmut Winkler für Automatismen konstatiert hat, nämlich dass sie „nicht im einzelnen Produkt“ entstehen, „sondern in der größeren Fläche zwischen den Produkten; sie bilden sich im Rücken der Beteiligten, als ein Beiprodukt des Kommunikationspro- zesses, heraus“.7 Weiter haben Stereotype und Automatismen ihren „prozess- haften Charakter“ gemeinsam, die Tatsache also, dass sie eine Entstehungs- und (Weiter-)Entwicklungsgeschichte haben, in der sich drei zeitliche Dimen- sionen überlagern: erstens „der Ablauf“ des jeweiligen automatisierten „Vor- gangs selbst“, dem die Anwendung eines Stereotyps auf einen konkreten Fall entsprechen würde; zweitens „die Frist bis zur Wiederholung“ eines Automa- tismus, drittens die mal mehr mal weniger „lange Dauer, bis“ aus einer Serie von „Wiederholungen ein Automatismus wird“. Nimmt man „den Dauerpro- zess der Tradierung“ eines Automatismus, dem die kulturelle Verfestigung ei- nes Stereotyps zu einem „historischen Habitus“8 entsprechen würde, noch hin- zu, dann ergibt sich als vierte zeitliche Dimension „die kollektive Ebene der Traditionsbildung“.9 Sind Automatismen und Stereotype damit weitgehend identisch, beide Be- griffe also synonym? Oder schließt der Begriff des Automatismus als der wei- ter angelegte den des Stereotyps lediglich ein? Der Unterschied im Begriffs- umfang scheint vor allem darin zu liegen, dass mit ‚Automatismus‘ auch ein (rein) technischer Prozess bezeichnet werden kann, während der Begriff des Stereotyps immer an Zeichen und damit Semantik gebunden ist. Von daher ist genauer zu fragen, inwieweit von nationalen Stereotypen analog zu Automa- tismen gesprochen werden kann. Das soll im Folgenden am Beispiel der Be- richterstattung über die Fußballweltmeisterschaft 2010 in Südafrika untersucht werden, die für die Analyse von Nationalstereotypen geradezu eine Laborsi- tuation bot. Denn experimentell müsste man Systeme von Nationalstereotypen dadurch herausarbeiten, dass man jede Nation mit jeder anderen konfrontiert. Genau das aber ist das Basisszenario von Weltmeisterschaftsturnieren und der zugehörigen Berichterstattung in den Medien. 7 Hartmut Winkler, „Spuren, Bahnen … Drei heterogene Modelle im Hintergrund der Frage nach Automatismen“, in: Hannelore Bublitz/Roman Marek/Christina L. Steinmann/Hartmut Winkler (Hg.), Automatismen, München, 2010, S. 39-59: 51. 8 Ute Gerhard/Jürgen Link, „Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen“, in: Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart, 1991, S. 16-52; ders., „Anhang: Nationale Konfigurationen, nationale ‚Charakter-Dramen‘“, in: Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart, 1991, S. 53-71: 31. 9 Tobias Conradi/Hartmut Winkler/Roman Marek/Christian Hüls, „Thesenbaukasten zu Eigen- schaften, Funktionsweisen und Funktionen von Automatismen. Teil 3“, in: Hannelore Bub- litz/Roman Marek/Christina L. Steinmann/Hartmut Winkler (Hg.), Automatismen, München, 2010, S. 231-254: 235. INNOVATION UND AUTOMATISMUS 119 Darüber hinaus war die WM 2010 aber auch unter zwei weiteren Aspekten besonders interessant. Zum einen bot sie nämlich geradezu ein Lehrbuchbei- spiel für die Frage nach dem Verhältnis von Innovation und Automatismen, denn bereits nach den ersten Spielen konnte man verfolgen, wie das Set der in der Presse nahezu automatisierten Zuschreibungen nationaler ‚Charakterzüge‘ selbst dann noch tradiert wurde, als diese durch die Realität auf dem Spielfeld schon längst nicht mehr gedeckt waren. Zum anderen ließ sich beobachten, wie versucht wurde, neue nationale Positionen im Rückgriff auf das gesamte System der schon kursierenden nationalen Stereotype zu beschreiben, was aber dennoch zu Irritationen führte. Entsprechend schwer tat sich so mancher Reporter und so manche Kommentatorin damit, dass gewohnte Stereotype auf einmal nicht mehr anwendbar waren. Dennoch wurde das tradierte Set an Ste- reotypen nicht aufgegeben, sondern lediglich umgearbeitet, woraus eine inter- essante Mischung aus Konstanz und Variation in den Grenzen des Systems der schon vorhandenen Nationalstereotype entsprang. Man hatte es also in ein und demselben Prozess mit Automatismen bzw. Stereotypen, ihrer Durchbrechung und letzten Endes doch auch wieder ihrer Bestätigung zu tun, mit einem Reproduktionszyklus also, der auf Basis von Vorhandenem Neues entstehen ließ, durch das das Alte in weiter- bzw. umge- arbeiteter Form aber auch zugleich fortgeschrieben wurde. II. Nationalstereotype Stereotype in der Fußballberichterstattung imaginieren Nationalmannschaften als Individualsubjekte mit einem festen ,Charakter‘, der dann in jedem einzel- nen Vertreter und letztlich in allen (nicht nur fußballerischen) Handlungen al- ler Vertreter dieser Nation (und eben nicht nur ihrer Nationalmannschaft) ,wiederzuerkennen‘ ist: Die für den zugeschriebenen deutschen Nationalcha- rakter spezifischen Merkmale ,Ordentlichkeit‘ und ,arbeitsamer Fleiß‘ (even- tuell gepaart mit ,Rumpelfüßigkeit‘) manifestieren sich dann ebenso in ,or- dentlichen‘ Häusern, ,ordentlich‘ geführten Kriegen10 und ,ordentlich‘ gewa- schenen Samstagsautos wie eben auch in einem ,ordentlich‘ gespielten Fußball (ohne Tanzerei und Zauberei). „Spieler und Mannschaften erscheinen“ auf diese Weise „als temporäre Träger allgemeiner Eigenschaften, als austausch- bare Erscheinungen stabiler Essenzen“11, die ihre jeweilige Nation ausmachen. Solche Zuschreibungen von Nationalcharakteren referieren dabei nicht auf wirkliche Subjekte und ihre tatsächlichen Eigenschaften, sondern sind viel- 10 Nach Dietrich Schulze-Marmeling, Der gezähmte Fußball. Zur Geschichte eines subversiven Sports. Mit Beiträgen von Michael John, Martin Krauß, Matti Lieske, Pit Wuhrer, Göttingen, 1992, soll der amerikanische Außenminister Henry Kissinger „einmal über die Deutschen“ gesagt haben, „sie spielten Fußball ,wie sie Krieg führen‘“ (S. 199). 11 Matías Martínez, „Warum Fußball? Zur Einführung“, in: ders. (Hg.), Warum Fußball? Kul- turwissenschaftliche Beschreibungen eines Sports, Bielefeld, 2002, S. 7-35: 23. 120 ROLF PARR mehr stets Konstrukte, allerdings solche, die durch tatsächliche Ereignisse (auch historische), durch Gewohnheiten und typische Handlungen, die zu ei- nem Habitus tendieren, motiviert sein können (und in der Regel auch sind), wie etwa die Rede vom französischen ,Champagnerfußball‘ zeigt. Wir haben es bei den Nationalstereotypen also weder ausschließlich mit Referenzen auf eine wie auch immer geartete Realität zu tun, noch ausschließlich mit so etwas wie manipulativ wirkender Ideologie, sondern mit einer sehr viel brisanteren Mischung aus relativ konstanten Positionen, die aus immer und immer wieder aktualisierten Zuschreibungen resultieren, sowie aktuellen und historischen Ereignissen, Symbolen und Narrativen.12 So wird die belgische Nationalmann- schaft mit schöner Regelmäßigkeit zu einer Gruppe ,kantiger Fußball-Büro- kraten‘ erklärt, was lediglich durch die EU-Präsenz in Belgien legitimiert ist, die einen vermeintlichen Realitätsbezug herstellt, der das Stereotyp umso wirksamer macht. Ähnlich sieht es bei Frankreichs ,Champagnerfußball‘ und Brasiliens ,Sambatänzern auf dem Rasen‘ aus: Champagner ist nun mal eine genuin französische Sache und Sambatanzen eine brasilianische. Weiter muss man sich klar machen, dass Nationalcharaktere auf Distinktio- nen, auf Gegensätze hin angelegt sind, das heißt, dass die jeweils in Umlauf befindlichen Stereotype ein System von aufeinander bezogenen, aber gegen- einander auch deutlich abgegrenzten Positionen bilden, die man nicht zuletzt auf Basis von Belegen der Fußballberichterstattung in Radio, Fernsehen und Presse (einschließlich ihrer Weiterverarbeitung in der schönen Literatur) re- konstruieren kann. Daher kann eine einmal vergebene Position nur in Ausnah- mefällen auch für ein anderes Land Gültigkeit haben, am ehesten noch bei Nachbarländern, deren Nationalstereotype sich nur in einem von mehreren Merkmalen unterscheiden. Kommen neue Nationen hinzu, dann wird der Platz im System, je nachdem wie dieses System in seiner Entstehungsphase ange- legt wurde, eventuell knapp, so dass neue Positionen aus der Kombination schon vorhandener gewonnen werden müssen.13 Schließlich vervielfältigen sich Systeme von Nationalstereotypen noch ein- mal, wenn man bedenkt, dass sie immer aus der Perspektive einer Nation, ge- legentlich vielleicht noch der eines Kontinents entworfen werden. So käme ein deutscher Fußballreporter kaum auf die Idee, eine japanische Mannschaft nach 12 Vgl. dazu Jürgen Link/Wulf Wülfing, „Einleitung“, in: dies., Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten natio- naler Identität, Stuttgart, 1991, S. 7-15: 7-11. 13 Maik Bierwirth (ders., (2010), … jenseits geplanter Prozesse, S. 13) hat im Anschluss an Thomas Wägenbauer (ders. (Hg.), Blinde Emergenz? Beiträge zu Fragen kultureller Evolu- tion, Heidelberg, 2000, S. 29.) unlängst darauf hingewiesen, dass man Emergenzprozesse im- mer erst im Nachhinein erkennen kann, nämlich indem man „einen früheren Zustand mit ei- nem späteren“ vergleicht, und zugleich weiter gefolgert, dass das bloße Konstatieren von Veränderung jedoch noch keine Antwort auf die Frage gebe, „wie ungeplante Strukturen ent- standen sind, sondern nur, dass sie entstanden sind“. Aufgrund ihres Systemcharakters sieht dies im Falle der Nationalstereotype etwas anders aus, denn das ‚wie‘ ist insofern eingrenz- bar, da es im Rahmen und damit den Grenzen des Systems gedacht werden muss. INNOVATION UND AUTOMATISMUS 121 den Kriterien ,süß‘ und ,schön‘ ins System der Stereotypen einzurastern, wäh- rend dies bei seinen Kollegen in Japan möglich wäre. Die Matrix der welt-fuß- ballerischen Nationalstereotype ist also aus deutscher Sicht eine ganz andere, als aus koreanischer oder japanischer; und sie war bis Anfang der 1990er Jah- re eine andere aus ost- als aus westdeutscher Perspektive. Die Ausgangsbasis und zugleich das Rohmaterial für solche Zuschreibun- gen nationaler Eigenschaften im Fußball stellt das System der Nationalstereo- type dar, wie es sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts für Europa entwickelt hat und seitdem in seinen Grundstrukturen erstaunlich stabil geblieben ist.14 Danach galt Deutschland bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts als philoso- phisch-musikalisch-idealistisches Land der ,Dichter und Denker‘, das symbo- lisch entweder abgehoben in den Lüften der Phantasie oder romantisch-tief in der Erde platziert war, während Frankreich die Oberfläche der Erde und Eng- land die weite Horizontalität des Meeres zukam – so der Märchensammler Musäus und Anne Germaine de Staël in Anlehnung an Jean Paul und Heinrich Heine.15 Mit der bismarckschen Reichsgründung 1871 verschob sich diese Verteilung, denn einer ihrer wichtigsten Effekte bestand darin, für Deutsch- land eine realistische Diskursposition zurückgewonnen und mit der alten ,idealistisch-romantischen‘ vermittelt zu haben. Entsprechend konnte sich das Land der ,Dichter und Denker‘ nach dem gewonnenen Krieg von 1870/71 ge- genüber Frankreich als die ,realistischere‘ Nation konstituieren, eine Position, die noch 1900 als ,plötzlich eingetreten‘ empfunden wurde. In gleichem Maße wie Preußen-Deutschland ,Realismus‘ gewann, musste ihn Frankreich verlie- ren, so dass die Zuschreibung von Merkmalen wie ,Phantasie‘ und ,Leichtle- bigkeit‘ jetzt ein Entfernen vom realistischen Boden der Tatsachen anzeigte. War Frankreich also durch mangelnden Realismus von Preußen-Deutsch- land unterschieden, so ließ sich die notwendige Differenz gegenüber dem Eng- land zugeschriebenen ,bloßen Manchestertum‘ und ,brutalen Realismus‘ durch die Betonung des nach wie vor gültigen ,idealistisch-romantischen‘ Moments im deutschen Nationalcharakter sicherstellen. Deutschland musste zugleich ,realistisch‘ auf der horizontalen Oberfläche der militärischen und industriel- len ,Tatsachen‘ stehen und vertikal idealistisch-philosophisch oder auch musi- kalisch ‚in der Tiefe wurzeln‘. Jedes Abweichen von dieser Mittelposition hät- te immer zugleich die Gefahr heraufbeschworen, das ,Charakterbild‘ einer der 14 Einige noch frühere Systeme von Nationalstereotypen finden sich in den sogenannten Völker- tafeln, die die einzelnen Völker in der Regel nach einem Katalog von Kriterien wie ,Sitten‘, ,Untugend‘, ,Tugend‘, ,sie lieben …‘ miteinander vergleichen (siehe dazu die Abbildungen bei Franz K. Stanzel, Europäer. Ein imagologischer Essay, Heidelberg, 1997). 15 Vgl. Johann Karl August Musäus, Volksmärchen der Deutschen. Vollständige Ausgabe, nach dem Text der Erstausgabe von 1782-1786, Darmstadt, 1961, S. 8; Anne Germaine de Staël, Über Deutschland, Frankfurt/M., 1985, [vollständige und neu durchgesehene Fassung der deutschen Erstausgabe von 1814 in der Gemeinschaftsübersetzung von Friedrich Buchholz, Samuel Heinrich Catel und Julius Eduard Hitzig, hg. und mit einem Nachwort versehen von Monika Bosse], S. 29, sowie Heinrich Heine, Deutschland – Ein Wintermärchen, in: ders., Sämtliche Schriften, hg. v. Klaus Briegleb, Bd. 4, München, 1971, S. 571-644: 592. 122 ROLF PARR beiden anderen Nationen zu übernehmen. Dieser Position des Real-Idealismus entsprechend wurden nach dem Krieg von 1870/71 gegen Frankreich alle nur denkbaren Ereignisse, historischen Narrationen und aktuellen Diskussionen quer durch die gesellschaftlichen Teilbereiche auf diese integrierende Position hin codiert. Damit hatte sich die Grundkonstellation in der Verteilung der Na- tionalstereotype für Deutschland, Frankreich und England spätestens in den 1870er Jahren herausgebildet und ist seitdem relativ konstant geblieben.16 III. Fußballerische Nationalstereotype 2002/2006 Wie sehen nun die Hauptlinien im System der fußballerischen Nationalstereo- type und ihre Entwicklung seit der WM 2002 in Südkorea/Japan aus?17 Bis 2002 waren aus Perspektive der deutschen Berichterstattung in Funk, Fernse- hen und Presse die Engländer ,eiskalte und knallharte, wenn auch in der Regel durchaus faire Direktfußballer‘; die Franzosen eine Mannschaft mit ,Spiel- witz‘ bei gleichzeitiger ,Erfolgsorientiertheit‘; die Italiener so ,abwehrverses- sen und taktikorientiert‘, dass sie darüber sogar ihre eigentliche Aufgabe, nämlich das Toreschießen, vergaßen: „Sieben Verteidiger im Dienste der schlechten Unterhaltung“.18 Bulgaren und Rumänen galten als ,schlampig‘, da- für aber auch ,hinterlistig‘ wie alle Balkanfußballer; die Dänen als so lange völlig ,relaxed‘ bis sie zunächst ,frech aufspielten‘ und dann als ,danish dyna- mite‘ förmlich explodierten. Da sah es mit dem südamerikanischen Fußball schon anders aus, denn dessen Ball-,Künstler‘ ,zauberten‘ und tanzten ,Samba‘ (wie im Falle Brasiliens) oder ,Tango‘ (wie im Falle Argentiniens); Zentralaf- rikaner ,tanzten‘ zwar auch, aber ohne ,Zauber‘ und im Unterschied zu Süd- amerikanern eher ohne als mit Ball, so dass einer kollektiven körperlichen Steigerung (,als Mannschaft mit dem Ball tanzen‘) hier eine nur individuelle (,als Einzelner ohne Ball an der Eckfahne Lambada tanzen‘) gegenüberstand. 16 Vgl. Rolf Parr, „,Der Deutsche, wenn er nicht besoffen ist, ist ein ungeselliges und furchtbar ein- gebildetes Biest.‘ – Fontanes Sicht der europäischen Nationalstereotypen“, in: Hanna Delf von Wolzogen (in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger) (Hg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes, 13.-17. September 1998 in Potsdam, Bd. 1, Würzburg, 2000, S. 211-226; ders., „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“. Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks (1860-1918), München, 1992, bes. S. 134-139; ders.: „Real-Idealismus. Zur Diskurs- position des deutschen Nationalstereotyps um 1870 am Beispiel von Ernst Wichert und Theodor Fontane“, in: Klaus Amann/Karl Wagner (Hg.), Literatur und Nation. Die Gründung des Deutschen Reiches in der deutschsprachigen Literatur. Mit einer Auswahlbibliographie, Wien, Köln u. Weimar, 1996, S. 107-126. 17 Dieser Abschnitt folgt Rolf Parr, „Der mit dem Ball tanzt, der mit dem Bein holzt, der mit sich selbst spielt. – Nationalstereotype in der Fußball-Berichterstattung“, in: Ralf Adelmann/ Rolf Parr/Thomas Schwarz (Hg.), Querpässe. Beiträge zur Literatur-, Kultur- und Medien- geschichte des Fußballs, Heidelberg, 2003, S. 47-70. 18 Dirk Schümer, „,Italien: Sieben Verteidiger im Dienste der schlechten Unterhaltung‘“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.05.2002), S. 40. INNOVATION UND AUTOMATISMUS 123 Und Asien? Japaner zeichneten sich – wie andere asiatische Mannschaften auch – als zwar ,fleißige, aber unkoordinierte Läufer‘ aus und waren damit ,leichte Gegner‘; Koreaner galten – immer noch aus der Perspektive der deut- schen Medienberichterstattung – als ‚opferbereit und leidensfähig‘. Demge- genüber wiederum waren die biederen deutschen Kicker in der Positivvariante eher so etwas wie ,ordentlich-gründliche Arbeiter am Ball‘ (sogar so gründ- lich, dass sie gelegentlich gar nicht in die nächste Runde gehen wollten), in der Negativvariante eher „klobige Balltreter“19 und ‚Rumpelfüßler‘, eine Zu- schreibung, die bei der EM 2000 aufkam und seit einigen Niederlagen im Herbst 2001 vermehrt die Runde machte. Das ging auch gar nicht anders, denn von den Nationalstereotypen her gedacht, hätten die Deutschen ja andernfalls zu Brasilianern oder Argentiniern werden müssen.20 Dass diese Position im System der Nationalstereotype schon besetzt war, hatte Berti Vogts als Natio- naltrainer schon bei der Weltmeisterschaft in Frankreich erkannt und festge- stellt: „,Wenn wir Deutschen tanzen, und der Brasilianer tanzt daneben [...], dann musst du doch sofort von der Tanzfläche verschwinden.‘“21 Die deutsche ,Rumpelfüßigkeit‘ verweist auf eine Besonderheit der fußbal- lerischen Nationalstereotype, nämlich dass sie stets in besonders ausgeprägter Weise eine Positiv- und eine Negativvariante bereithalten, so dass sie im Falle eines Sieges wie auch einer Niederlage gleichermaßen greifen können. Dann siegt beispielsweise die deutsche ,Ordentlichkeit‘ zwar über österreichische ,Schlampertheit‘, die deutschen ,Rumpelfüßler‘ verlieren aber vielleicht gegen den erfrischenden französischen ,Spielwitz‘. Tabellarisch gegenübergestellt sahen Positiv- und Negativzuschreibungen bis 2002 etwa folgendermaßen aus: Nation Positivvariante Negativvariante DEUTSCHLAND ehrlicher Arbeitsfußball Rumpelfußball DÄNEMARK danish dynamite Fehlzündung USA wie Weltmeister wie Hausmeister 19 Jan Christian Müller, „Umleitung“, in: Frankfurter Rundschau (03.09.2001), S. 23. 20 Vgl. Rolf Parr, „Arbeiter können nicht tanzen. Wie in der Fußball-Berichterstattung nationale Stereotype die Jahrhunderte überdauert haben – und sich doch zwanglos der jeweiligen Spiel- technik und Situation anpassen. Interview von Erik Eggers“, in: Frankfurter Rundschau (14./15.06.2006), S. B6. 21 Zitiert nach Christoph Biermann/Ulrich Fuchs, „Schönheit kriegt ihren Preis. Verschieben, kombinieren, Kurzpass spielen: Eine Taktikvorschau auf die WM, bei der mit ‚deutschen Tu- genden‘ nichts zu holen sein wird“, in: Die Zeit, Nr. 23 (29.05.2002), S. 53. Wie hartnäckig sich ein solches Stereotyp hält, zeigt acht Jahre später der folgende Beleg: „Für den Welt- schmerz, der sich im Tango ausdrückt, sind wir zu simpel gestrickt. Und auf dem glänzenden Parkett Rumpelfüßler. Der Argentinier sieht irgendwie besser aus, was auch für die Damen an der Landesspitze gilt.“ Rolf Kiesendahl, „Tangotänzer und Rumpelfüßler. Steak gegen Brat- wurst, das Trikot vom MSV und Gauchos in Gelsenkirchen: Das Wichtigste zum Spiel aus Reviersicht“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (03.07.2010). 124 ROLF PARR BRASILIEN filigran Samba tanzen verspielt Samba tanzen ARGENTINIEN Superspieler sich verzettelnde Individualisten RUSSLAND Teamgeist alter Kollektivismus ENGLAND Kontrolle behalten spielerischer Minimalismus Die Parallelität von Positiv- und Negativvariante macht die Anwendbarkeit der nationalen Stereotype hochflexibel, und zwar sowohl für die mediale Be- richterstattung als auch die nachträgliche kollektive Bewältigung von Siegen bzw. Niederlagen, so dass geradezu diametral entgegenstehende Bewertungen möglich werden, ohne die nationalen Stereotype in ihrem Kern wirklich än- dern zu müssen. Das ist wichtig, da auf eine Niederlage ja möglicherweise wieder ein Sieg folgt und umgekehrt nach einem noch so großen Sieg auch schnell eine empfindliche Niederlage drohen kann. Auch wenn ein Spiel etwa in der zweiten Halbzeit umkippt, kann das weiterhin innerhalb ein und dessel- ben Nationalstereotyps kommentiert werden, ohne dass dadurch gleich das ge- samte System durcheinander geraten würde. Intakt war das System der Nationalstereotype zunächst auch noch bei der unter dem Motto „Zu Gast bei Freunden“ stehenden WM 2006. Die meisten der neu ins Spiel gekommenen Nationen blieben nicht allzu lange im Turnier, so dass daraus keine Irritationen des bestehenden Stereotypensystems resul- tierten. Als Experte dazu befragt, ob es in einer Zeit, in der „kaum ein Bereich unserer Gesellschaft […] so stark von der Globalisierung geprägt“ sei „wie der Fußball“, noch landestypische Spielstile gebe, antwortete Günter Netzer voller Überzeugung: Die gibt es selbstverständlich noch. Über die Art und Weise, wie Mannschaften Fußball spielen, lassen sich gewisse landestypische Eigenheiten herleiten. Brasi- lianer bewegen sich einfach anders als Nordeuropäer, und das erkennt man in der Art und Weise, wie Fußball gespielt wird. Hier die überschäumende Freude, da- mit verbunden die Fähigkeit, den Ball zu beherrschen und nichts anderes zu wol- len, als den Ball zu besitzen, auf der anderen Seite dieser eher doch unterkühlte Fußball nördlicher Regionen, dem andere Dinge wichtig sind. Ich rede hier nicht von Erfolg, aber es sieht einfach anders aus, und da gibt es seit vielen Jahrzehn- ten Anlehnungen an den Nationalcharakter. Im Fußball kehren die Spieler ihr In- nerstes nach außen und präsentieren sich so, wie der Landesstil es zulässt. Auch der Einwurf des Interviewers, dass doch „fast sämtliche Spieler, die bei der WM eine entscheidende Rolle spielen […] seit langem in Europa aktiv“ seien und das doch gerade nicht für „die Annahme“ spreche, „diese Spieler könnten für verschiedene Nationalstile gewonnen werden“, irritierte Netzer nicht: Das ist keineswegs so – und davor muss man auch warnen, wenn man Landes- trainer ist. Nehmen Sie die Brasilianer, sie haben ungeheuer davon profitiert, INNOVATION UND AUTOMATISMUS 125 ihre Spieler nach Europa schicken zu können. Die Brasilianer waren teilweise zu verliebt in ihre eigenen Fähigkeiten, sie haben einen Fußball zelebriert, der an der Grenze zum Machbaren war und haben darüber vergessen, effizient zu sein. Die Spieler nun, die nach Europa gingen, sind mit einer anderen Kultur vertraut geworden und haben diese, für den Fußball unbedingt notwendigen, Eigenschaf- ten in ihr eigenes Land transportiert. So entstand ein Fußball, den man nahezu perfekt nennen kann. Im Ausland lernen Spieler dazu, ihre speziellen Eigenhei- ten aber verlieren sie nicht. Auch die Unarten nicht, sonst müssten afrikanische Mannschaften längst Weltspitze sein.22 So sehr Netzer auch auf der Gültigkeit der bei ihm gegenüber aller Fremdso- zialisation letzten Endes doch dominierenden Nationalcharaktere bestand, brachte das WM-„Sommermärchen“ von 2006 dann de facto doch erste Irrita- tionen in der Korrelation von Nationalstereotypen und Spielweisen mit sich, was sich 2010 noch einmal deutlich verschärfte, so dass über die Realität auf dem Spielfeld beim besten Willen nicht mehr im Rückgriff auf die üblichen automatisierten Zuschreibungen nationaler Tugenden und Schwächen berich- tet werden konnte: Die Deutschen waren nämlich plötzlich keine ,Rumpelfuß- baller‘ mehr und in der Positivvariante genauso wenig ,ehrliche Arbeiter am Ball‘, sondern zeigten sich als ,jung‘, ,sexy‘, ,frech‘, mit ,brasilianischer Spiel- freude‘, aber doch einem ,ganz eigenen Stil‘;23 die Brasilianer dagegen erwie- sen sich als effektive Minimalisten, ein Merkmal, das bisher stets England zu- geschrieben wurde; dafür übernahmen die Niederländer die alten deutschen Spieltugenden und mit ihnen in der Berichterstattung die entsprechenden Ste- reotype. Von daher hatten wir es bei der WM 2010 mit einem Ereignis zu tun, das in ein System von Stereotypen, das lange Zeit automatisiert verwendet wurde, so irritierend einbrach, dass es nicht einfach fortgeschrieben werden konnte. Unter dem Titel „Fußball ohne Sinn. Wie das deutsche Team mit sei- nen vielen Toren ein Weltbild zerstört“ berichtete die Welt von den Irritatio- nen eines südafrikanischen Fußballfans, dessen „Weltbild gerade kollabiert“ sei, da Fußball für ihn „keinen Sinn mehr“ ergebe: Er habe kein Problem mit Deutschland. Aber es gibt nun einmal nur noch weni- ge Konstanten im Leben. Und seit Samstagnachmittag ist eine verloren gegan- 22 o. A., „Deutsch reicht nicht mehr! Interview mit Günter Netzer“, in: Cicero. Magazin für po- litische Kultur (März 2006), S. 58-61: 58 f. 23 Anzutreffen war dieses Bild mit nahezu identischen Zuschreibungen semantischer Merkmale bereits im Mai 2010, als Lena Meyer-Landrut den Eurovision Song Contest gewann und we- nig später in abgeschwächter Form auch noch einmal bei der Wahl des ,jungen‘ Bundespräsi- denten Christian Wulff, der seinerseits sofort mit dem inzwischen abrufbaren Label ,Lena‘ in Zusammenhang gebracht wurde, kamen doch beide aus Hannover. Die Koppelung zum Fuß- ball hatte Guildo Horn als ehemaliger Contest-Teilnehmer unmittelbar nach dem Sieg von Lena Meyer-Landrut hergestellt: „Jetzt werden wir auch noch Weltmeister (vgl. den „Lena- Ticker“ bei stern.de, http://www.stern.de/kultur/musik/lena-ticker-raab-fordert-von-lena-titel verteidigung-1570221.html, zuletzt aufgerufen am 14.10.2010). – Ich danke Markus Engelns für diesen Hinweis. 126 ROLF PARR gen: Man gewinnt nicht mit 4:0 gegen eine Mannschaft, die Lionel Messi in ih- ren Reihen hat. Erst recht nicht Deutschland, und schon gar nicht so schön.24 War es im System der fußballerischen Nationalstereotype bis 2010 möglich, dass „einander unbekannte Akteure“25 im selben, kulturell parat gehaltenen Stereotypenvorrat miteinander kommunizierten, so fächerten sich die Zu- schreibungen zunächst auf, um dann jedoch in kürzester Zeit wieder re-kano- nisiert und re-automatisiert zu werden. IV. Die WM 2010 in Südafrika Die Berichterstattung in der deutschen Presse begann zunächst ganz im Stil der eingeführten Nationalstereotype, die quasi automatisiert abgerufen wur- den. Unter dem Titel „Deutscher Wertarbeiter“ porträtierte die Westdeutsche Allgemeine Zeitung am 9. Juni 2010 Innenverteidiger Arne Friedrich: Arne Friedrich darf endlich dort spielen, wo er spielen möchte und wo er auch spielen sollte: in der Innenverteidigung. […] Zerstören. Aufbauen. Und noch einmal: Zerstören. In teutonischer Tradition. In der teutonischen Tradition, für deren Übernahme Champions-League-Sieger In- ter Mailand mit seinen Verteidigungs-Bollwerken Walter Samuel und Lucio nicht geliebt, aber gefeiert wurde. Gegen die Bosnier hat der spät Beglückte durchaus Geberqualitäten auf Inter-Ni- veau demonstriert. Aber Arne Friedrich wäre nicht Arne Friedrich, wenn er sich als kerniges teutonisches Element im Spiel betrachten würde. Arne Friedrich spricht von Sicherheit, von Ordnung, von Organisation, die er gewährleisten könne. Er spricht, wie Arne Friedrich immer gesprochen hat. Er steht für das, wofür er immer gestanden hat. Für deutsche Wertarbeit, ausgeführt von deut- schen Fachkräften.26 Auch Philipp Lahm reproduzierte in einem Interview mit der Zeit am 10. Juni 2010, also kurz vor WM-Beginn, noch die alten Nationalstereotype: Wir waren noch nie die spielerisch stärkste Mannschaft, deswegen müssen wir jetzt erst mal taktisch diszipliniert spielen. Wir haben eben eine Mannschaft, die gut verteidigen kann, die schwer zu schlagen ist. Und das wird auch bei dieser 24 Christian Putsch, „Fußball ohne Sinn“, in: Die Welt (05.07.2010), S. 24. Vgl. für solche Irrita- tionen auch Janis Brinkmann, „Taktik statt Tritte“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (01.07.2010): „Schubladendenken macht viele Dinge übersichtlicher. Auch der Fußball be- wahrte in einer sich ständig verändernden Welt Stereotype, die in Stein gemeißelt schienen: Brasilien zauberte, England kam über die Kraft, Italien spielte clever – und Uruguay knüppel- hart./Das war irgendwie beruhigend. Doch bei dieser WM blieb kaum ein Stein auf dem anderen: Defensive Brasilianer, kraftlose Engländer, tölpelhafte Italiener./Aber friedfertige Urus? Sie wollen einfach nicht mehr zünftig zutreten. […]/In Südafrika zeigt Uruguay keinen Fußball zum Zunge schnalzen, setzt aber verstärkt auf Taktik statt auf Tritte.“ 25 Bublitz/Marek/Steinmann/Winkler (2010), Einleitung, S. 11. 26 Frank Lamers, „Deutscher Wertarbeiter“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (09.06.2010). INNOVATION UND AUTOMATISMUS 127 WM wieder so sein. Wir werden nicht auf Teufel komm raus nach vorn laufen, die Flucht nach vorn suchen, sondern wir müssen schauen, dass wir unser Spiel spielen können. Und das bedeutet, dass wir in der Verteidigung gut stehen und schnell unser Spiel nach vorn treiben. Genau darin liegen unsere Qualitäten.27 Diese Ausgangsposition in Sachen Nationalstereotype war dann nach dem 4:0- Auftaktsieg der deutschen Mannschaft gegen Australien am 13. Juni 2010 kaum noch haltbar. Entsprechend irritiert war nicht nur die deutsche, sondern auch die internationale Presse, deren Reaktionen die gesamte Bandbreite von Handlungsmöglichkeiten umfasste, die in dieser Situation zur Verfügung stan- den. Das Hamburger Abendblatt brachte auf seiner Internetseite davon eine kleine Auswahl. Die dort wiedergegebenen Pressestimmen reichten von ers- tens das eigentliche Spiel völlig ignorierenden Fortschreibungen der bis dahin gültigen Nationalstereotype, so der Mirror („Deutschland begann die WM in typisch gnadenloser Art“), Le Figaro („Deutschland hat wie üblich einen Auf- tritt ohne Patzer hingelegt“), der serbische Blic („Panzer erniedrigen Australi- en – Deutsche Maschine“) und aus Italien La Repubblica („Tor-Maschine Deutschland“) über zweitens Kopplungen gängiger Stereotype mit neuen Ele- menten, so La Stampa („Zu viel Deutschland […]. Ein multiethnischer Panzer mit vortrefflichen Füßen“), der spanische Sport („Deutschland zeigt sich so überwältigend wie immer, aber mit einem Fußball, der seit vielen Jahren nicht mehr zu sehen war“), bis hin zur – drittens – Formulierung der paradox anmu- tenden Situation selbst wie in Extra Bladet (Dänemark) („Das deutsche An- griffsorchester spielte mit voller Besetzung. Bisher war die deutsche Adels- marke die Fähigkeit zu Erfolg ohne Schönheit. Was soll nun werden, wenn es jetzt auch noch Spaß macht, den Germanen zuzuschauen?“). Der Daily Tele- graph schließlich rettete sich – viertens – auf eine Metaebene und reflektierte über die bisher abgerufenen Stereotype: Es ist Zeit, die Klischees zu verbannen und die Stereotypen über den deutschen Fußball dem Mülleimer der Geschichte anzuvertrauen. Ja, dieser Auftritt war ef- fizient, gut organisiert und ziemlich mitleidslos. Aber er war auch geprägt von Flair, Unvorhersehbarkeit und jugendlicher Lebenslust.28 Und die Times schließlich umschrieb zu Beginn und am Ende ihres Artikels die aus der neuen deutschen Spielweise für das bisher gängige Nationalstereo- typ resultierende, tendenziell paradoxe Koinzidenz von Neuem und Altem: Umso mehr sich Deutschland verändert, desto mehr Dinge bleiben gleich. Wäh- rend das Resultat so vorhersehbar war, wie es die Stereotypen vorschrieben – 27 o. A., „,Höflichkeit beeindruckt mich‘. Philipp Lahm, der neue Kapitän der deutschen Mann- schaft, über seine Rolle als Anführer und die Tugenden auf und neben dem Platz“, in: Die Zeit, Nr. 24 (13.06.2010), S. 18. 28 o. A., „,Das Baby-Deutschland ist beeindruckend und macht Angst‘, Deutschland feiert den 4:0- Sieg gegen Australien“, in: Hamburger Abendblatt (14.06.2010, 13:44 Uhr), online unter: http://www.abendblatt.de/sport/fussball-wm/article1530935/Das-Baby-Deutschland-ist-beein- druckend-und-macht-Angst.html, zuletzt aufgerufen am 11.10.2010. 128 ROLF PARR diese treibende Kraft gewann das sechste Auftaktmatch bei der WM in Folge –, aber die Art dieses exquisiten Sieges war es überhaupt nicht. Es waren die Deut- schen, aber nicht, wie wir sie kennen.29 Die unmittelbare Folge des deutschen ,Standortwechsels‘ im System der fuß- ballerischen Nationalstereotype war, dass auch die übrigen Nationen anders platziert werden mussten, wobei der einfache Positionstausch zwischen zwei Nationen wie Deutschland und den Niederlanden, den einfachsten Fall dar- stellte. Noch vergleichsweise vorsichtig erprobte Reinhard Schüssler in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung einen solchen Tausch der Stereotype am 15. Juni 2010 unter dem Titel „Auch noch Spaß gehabt?“: Wohin man in diesen Tagen auch hört – wenn nicht gerade von der Wut-uzela die Rede ist, wird von der Spielfreude und Kreativität der Löw-Elf geschwärmt. Und die Fußball-Welt fragt irritiert: „Diese Spielweise soll deutsch sein?“ Was zur Frage führt, welche Eigenschaften im Fußball als „typisch deutsch“ gel- ten: Disziplin, Wille und – wie es der holländische Trainer Guus Hiddink nach Russlands Scheitern in der WM-Qualifikation gegen Deutschland auf den Punkt brachte – Durchschlagskraft. [...] Und nun das: Deutsche Spieler, die so leichtfüßig, fast beschwingt wirken, dass sich vor allem in den Niederlanden die Fußballfans die Augen reiben. Hatten sie doch gerade dort immer mit einem Schuss Verachtung auf ihre Nachbarn herab- geschaut. Allerdings nicht, ohne diese klammheimlich für ihre Effektivität zu be- neiden. […] Nach dem schnörkellos heruntergespielten 2:0-Startsieg über Dänemark erkannte der frühere HSV-Star Rafael van der Vaart treffend: „Deutschland hat wie Hol- land gewonnen und wir wie Deutschland.“30 In derselben Ausgabe schrieb Manfred Hendriock über die „Holländer“, dass sie „mit all ihren Künstlern“ fast schon „typisch deutsch“ gespielt hätten.31 29 Ebd. Vgl. auch o. A., „,Deutschland macht Angst‘“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (15.06.2010): „Marca (Spanien): ,Das neue Deutschland ist der Wahnsinn. Diese Mannschaft ist anders, sie will den Ball und streichelt ihn. Sie spielte Fußball mit Eleganz.‘“/„Tuttosport (Italien): ,Das multikulturelle Deutschland beeindruckt. Jugend und Technik besiegen die australischen Opas. Das ist natürlich erst der erste Schritt, doch die anderen Teams sind ge- warnt.‘“ 30 Reinhard Schüssler, „Auch noch Spaß haben?“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (16.06.2010). Vgl. auch Dirk Schümer, „Kick it like Wilders“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 150 (06.07.2010), S. 28: „Alles oranje Sonnenschein bei unseren niederländi- schen Nachbarn? […] Weit gefehlt. […]/Irgendwie erinnert das alles an das deutsche Fußball- Elend vergangener Jahrzehnte, als sie zwar gewannen, aber mit dem Rumpelfußball keine Sympathien erringen konnten. Damals kam der schlimmste Spott gegen den ‚Panzerfußball‘ aus Holland: Ihr könnt zwar gewinnen, aber deshalb noch lange nicht Fußball spielen wie wir. Offenbar wollen viele Niederländer gar nicht in erster Linie den WM-Titel holen, sondern mit Kreativität und Witz die Liebe der Welt erringen, notfalls als Gescheiterte. Nicht auszuden- ken, wenn am Ende die Niederländer gegen ein brillantes Deutschland mit einem unberech- tigten Elfmeter unverdient den Titel holen würden. Ob Johan Cruyff den Pokal dann wohl nach Deutschland schicken würde?“ INNOVATION UND AUTOMATISMUS 129 Zwei Wochen später konnte sich der ehemalige Radiokommentator Manni Breuckmann dann schon wie selbstverständlich über den niederländischen „Rumpelfußball“ beklagen, was den Positionstausch mit Deutschland gegen- über 2002 perfekt machte: Nederlandse Rumpel-Voetbal Die Holländer (Achtung, Wortspiel!) robben sich durch das Turnier, gewinnen alles, aber spätestens seit ihrem 2:1-Achtelfinal-Erfolg gegen die Slowakei ha- ben sie einen Fan verloren: mich nämlich. Ich habe keine Lust mehr auf Langeweile. Oranje ist seit 23 Spielen ungeschla- gen, achtmal in den letzten 11 Partien stand die Null. Aber sie spielen Neder- landse Rumpel-Voetbal. Alles ist total effizient, erstmal wird der Strafraum ver- rammelt, zwischendurch ein Geniestreich von Robben, und nach neunzig Minu- ten können sich die Fans am Ergebnis aufgeilen. Super! […] Dass Augenschmaus und Erfolg einander nicht ausschließen, belegt bislang in Südafrika – welche Ironie der Fußball-Geschichte! – ausgerechnet das schwarz- rot-goldene Land der Rumpler, Kämpfer und Geradeaus-Läufer.32 Eine Folge dieser Verlagerung des deutschen ,Fußballnationalcharakters‘ war, dass alle Spieler, Trainer oder Mannschaften, die auch nur eine der ehemals deutschen Tugenden wie beispielsweise die der ,ehrlichen Arbeit‘ zeigten, ten- denziell zu den jetzt verspotteten ,alten Deutschen‘ wurden. So berichtete Frank Hellmann in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung vom brasiliani- schen Trainer Carlos Dunga als einem „Ordnungshüter […], genannt der Deutsche“, der „seinen Brasilianern Vernunft, Disziplin und Defensive beige- bracht“ habe. Titel des Artikels: „Vor dem Spaß kommt die Arbeit“. Was Dunga damals darstellte, ist der 46-Jährige noch heute: Ordnungshüter ei- nes Volkes, das den Fußball als eine rauschende Droge mit Tricks und Toren, Idee und Inspiration, Show und Spektakel begreift. Dunga, der früher einmal Rechtsanwalt werden wollte, hält von diesen Dingen als Elementartugenden we- nig. Disziplin und Defensive, Kampf und Kontrolle, Effektivität und Ergebnisse sind ihm wichtiger. „Der Trainer hat uns ein europäisches Niveau beigebracht. Wir rennen und kämpfen, damit die Defensive gut steht“, sagt Josúe.33 Dermaßen ,deutsch‘ ausgebildet und ,eingestellt‘, verwundert es nicht, dass die Brasilianer nicht den erwarteten Sambafußball, sondern stattdessen ,neue Sachlichkeit‘ auf dem Platz praktizierten: 31 Manfred Hendriock, „Die Karten noch nicht aufgedeckt. Holländer starten mit dem 2:0 gegen Dänemark unspektakulär“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (15.06.2010). 32 Manni Breuckmann, „Nederlandse Rumpel-Voetbal“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (30.06.2010). 33 Frank Hellmann, „Vor dem Spaß kommt die Arbeit. Ordnungshüter Carlos Dunga, genannt der Deutsche, hat seinen Brasilianern Vernunft, Disziplin und Defensive beigebracht“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (15.06.2010). 130 ROLF PARR Ein Sieg mit neuer Sachlichkeit Brasilien zeigt nur wenig Brasilianisches beim dürftigen 2:1 gegen den krassen Außenseiter Nordkorea Im Fußball geht es nicht immer nur nach Wünschen, im Fußball geht es heutzu- tage vor allem um Ergebnisse. Gewünscht hätten sich die Zuschauer gestern Abend im Ellis Park von Johannesburg eine spektakuläre Samba-Show der brasi- lianischen Mannschaft, denn kein Team ist hier in Südafrika auch nur annähernd so beliebt wie der Rekordweltmeister […]. Doch zu sehen bekamen die Fans nur einen kargen 2:1-Erfolg ihrer Lieblinge gegen Nordkorea. Die Seleção siegte schlicht und einfach mit ihrer neuen Sachlichkeit.34 Da Italien zunächst eher mittelmäßig und für die Zuschreibung von Stereoty- pen indifferent spielte, musste man, um auch hier den Positionstausch mit Deutschland perfekt zu machen, auf das Feld der Politik ausweichen: Nanu? Haben ausgerechnet die Italiener mittlerweile ein „preußischeres“ Pflicht- bewusstsein als die Deutschen? Einen Tag, nachdem Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt dazu aufgerufen hatte, den Beschäftigten in Deutschland die Möglichkeit zu geben, während der Arbeit die WM-Spiele im TV zu verfolgen, schlug Rena- to Brunetta, in Rom Minister für den öffentlichen Dienst, ganz andere Töne an. „Arbeit ist Arbeit, und Spaß ist Spaß“, verkündete er und forderte: „Wer unbe- dingt die Spiele sehen will, muss sich Urlaub nehmen.“ Wahrscheinlich hätte ihm auch nicht gefallen, was sich gestern in Bonn abspielte: Dort erschienen etli- che Teilnehmer der UN-Klimakonferenz statt im Maßanzug im Trikot ihrer Na- tionalmannschaft.35 Gerade dieses Beispiel macht deutlich, dass Positionsverschiebungen im Sys- tem der Nationalstereotype anscheinend nur dann möglich sind, wenn die ,freigewordene‘ Stelle im Gegenzug mit einer anderen, ebenso ,verschobenen‘ Nation gefüllt wird. Das aber bedeutet letztlich die Fortschreibung des beste- henden Stereotypensystems als Ganzes, womit es in der Tat gelingt, Neues im Alten zu artikulieren, und zwar so, dass das Alte weiterhin Bestand hat. Wenn aber gleich eine ganze Reihe von Nationen im System der National- stereotype auf den ursprünglich ,deutschen‘ Platz verschoben wurden, dann er- öffnete das auch die Möglichkeit, ganz verschiedene attraktiv erscheinende Positionen der anderen Nationen für den deutschen Fußball in Anspruch zu nehmen. Entsprechend machte die Presseberichterstattung die deutsche Mann- schaft im Verlauf der WM mal zu den ,besseren Niederländern‘, mal zu den noch ,filigraneren Brasilianern‘, mal zu den ,erfolgreicheren Spaniern‘. In the- oretischer Hinsicht bedeutete das für eine kurze Zeitspanne eine Vervielfa- chung von parallel zueinander entworfenen Systemen von Nationalstereoty- pen, und zwar aus der Perspektive jeweils einzelner Journalisten, Redaktionen oder Zeitungen. Diese Systeme konnten in sich stimmig sein, waren aber nicht 34 Manfred Hendriock, „Ein Sieg mit neuer Sachlichkeit. Brasilien zeigt nur wenig Brasiliani- sches beim dürftigen 2:1 gegen den krassen Außenseiter Nordkorea“, in: Westdeutsche Allge- meine Zeitung (16.06.2010). 35 o. A., „Deutsche und Italiener“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (12.06.2010). INNOVATION UND AUTOMATISMUS 131 miteinander kombinierbar, denn der deutsche Fußball und im Weiteren Deutschland überhaupt hätten ja dann gleich drei oder noch mehr Nationalste- reotype repräsentieren müssen, ohne dass daraus Widersprüche hätten entste- hen dürfen. Hier einige Beispiele, um das Spektrum der jeweils nur binären Analogien zwischen den Nationalstereotypen zu belegen: Mit dem Prädikat ,filigrane Florett-Fußballer‘ machte Frank Lamers die deutsche Mannschaft in der West- deutschen Allgemeinen Zeitung zu Brasilianern: „Die filigranen Florett-Fuß- baller. Mit 4:0 hat das deutsche Team Maradonas Weltensemble aus dem Tur- nier katapultiert. Sogar Löw gerät ins Schwärmen.“36 Immerhin zu „Klein- Spanien“ wird die deutsche Mannschaft bei Janis Brinkmann in derselben Zei- tung: Spaniens Spiel lebt von einer Dominanz, in die sich Bayern-Trainer Louis van Gaal sofort verlieben könnte. Von Frische, Tempo und Esprit. Für einen Spanier ist der Ball kein Freund – sondern eine Geliebte, die er niemals betrügt. Aller- dings wird diese Geliebte mannschaftsintern rasch weitergereicht: Spanien spielt „Tiqui Taka“, schnelle und direkte Kurzpass-Stafetten mit meist nur einem Ball- kontakt. Dann geht es steil in die Spitze. Wie an der Schnur gezogen. Zum Zun- geschnalzen. Das bringt mich in besagten Konflikt: Ich sehe die Spanier genauso gern spielen wie die Deutschen siegen. Zum Glück gibt es noch Joachim Löw. Der hat die deutsche Nationalmannschaft langsam aber zielstrebig zu einer Art „Klein-Spanien“ umgebaut, was Geschwin- digkeit, Raffinesse und Spielfreude angeht. So gesehen können Jogis Jungs heute guten Gewissens gewinnen. Weil Deutschland ja jetzt irgendwie auch Spanien ist.37 Klaus Wille sieht Deutschland in derselben Ausgabe sogar als das „bessere Spanien“ an und räsoniert rückblickend darüber, „was ein Monat verändern kann“: Was in einem Monat alles passieren kann. Vor einem Monat galt Deutschland noch nicht als das bessere Spanien, und vor einem Monat hat Philipp Lahm sich noch als Kapitän für ein Turnier betrachtet. Doch nichts davon ist am Tag des WM-Halbfinales gegen Spanien noch so, wie es war. […] Zum Glück hat sich in den vergangenen vier Wochen noch eine Menge mehr ge- tan. Deutschland hat bei dieser WM begeistert wie keine andere Nation, es steht plötzlich nicht mehr für kalte Effizienz, sondern es verknüpft Hingabe und gro- ßes taktisches Können mit einem Fußball, der Flügel verleiht. Vor zwei Jahren, in der Nacht, als Deutschland das EM-Finale 0:1 gegen Spa- nien verloren hatte und damit noch bestens bedient war, stand nur der Sieger für 36 Frank Lamers, „Die filigranen Florett-Fußballer. Mit 4:0 hat das deutsche Team Maradonas Weltensemble aus dem Turnier katapultiert“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (05.07.2010). 37 Janis Brinkmann, „Gefangen im Tiqui-Taka-Land“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (07.07.2010). 132 ROLF PARR einen Spielstil, der Ballbesitz mit Technik und offensiver Kreativität verbindet. Joachim Löw hat das als Blaupause genutzt und uns alle zum Staunen gebracht: Deutschland gilt nach vier Wochen WM als das bessere Spanien. Man kann das nicht hoch genug bewerten. Auch wenn sich das Vorbild heute Abend vielleicht noch einmal durchsetzen sollte.38 Nach den ersten Spielen zogen die Sportjournalisten noch sehr vorsichtig eine erste Bilanz der Neuverteilung der Nationalstereotype, was zugleich den Ver- such darstellte, einen von nun an gültigen neuen Standard des Systems der Na- tionalstereotype im Fußball festzuhalten, einen Standard, an dem man sich ori- entieren kann und der wieder automatisiert abgerufen werden kann. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung resümierte am 2. Juli 2010: Früher fragte man sich ja als Deutscher immer, ob sie in Holland ihre Talente auf Feldern züchten wie die Tulpen. Fragen sich nun die Holländer, wie das die Deutschen machen? Schon seltsam, wie die Weltmeisterschaft in Südafrika das Stilgefühl ganzer Nationen erschüttert. Wir sehen Brasilianer und Holländer, die so spielen, wie man das im letzten Jahrhundert von den Deutschen kannte – und hören Brasilianer und Holländer, die davon schwärmen, wie die Deutschen heute spielen. Deutscher Fußball, schlank und schnell und jung, der Mode-Trend der WM.39 Ganz ähnlich die Westdeutsche Allgemeine Zeitung drei Tage später: Deutschland feiert, die Welt zieht den Hut. […] Wer hätte dies je für möglich gehalten? Selbst Brasilien beneidet die Deutschen um ihre „Fußball-Zauberer“, die nach dem 4:1 gegen England ein weiteres Glanzlicht dieser WM lieferten. […] Das WM-Team prägt in diesen Tagen weltweit ein ganz neues Deutschland-Bild. „Argentiniens Stars reichen nicht aus, um das neue Deutschland mit Polen, Tür- ken, Tunesiern und sogar Brasilianern zu stoppen“, staunte die brasilianische Zeitung „Lance“ gestern. „Ein wahres Fest der Tore und des schönen Spiels“ hat die italienische „Tuttosport“ gesehen. Und in London erklärte der „Observer“: „Letztendlich müssen wir uns von einem Klischee verabschieden: Dem vom alten, geistlosen Deutschland, das einer jugendlichen Erhabenheit gewichen ist.“40 Und in derselben Ausgabe an anderer Stelle gleich noch einmal: Eine Elf mit einer Botschaft […] Auf das „Wir sind Deutschland“- folgt vier Jahre später nun das „Wir sind Fuß- ball“-Gefühl, genauer gesagt: schöner, mitreißender Fußball. Und die Welt reibt 38 Klaus Wille, „Was ein Monat verändern kann“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (07.07.2010). 39 cei., „Neugier aus Holland, Neid aus Brasilien“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 150 (02.07.2010), S. 28. 40 o. A., „Deutschland begeistert die Welt“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (05.07.2010), S. 1. INNOVATION UND AUTOMATISMUS 133 sich zum zweiten Mal verwundert die Augen: Das soll Deutschland, das soll deutscher Fußball sein? Das Land, das die Grätsche perfektioniert hat (Berti Vogts, Jürgen Kohler) und deren Fußballmannschaft wegen ihrer „Durchschlagskraft“ mehr gefürchtet denn geachtet wurde, steht über Nacht für die Erfüllung der Sehnsucht nach der Schönheit eines Spiels, die zunehmend von Taktikern verschüttet wird. Von dieser wunderbaren Elf geht aber auch eine weiter reichende Botschaft aus: Wir sollten uns nicht immer nur über typisch deutsche Tugenden definieren, son- dern auch Neues wagen. Zumal es – wie man sieht – richtig Spaß machen kann.41 Auch diesmal aber brachte das reale Spielgeschehen solche Bemühungen wie- der durcheinander, denn einige der gerade auf neuen Positionen im synchro- nen System der Nationalstereotype verorteten Nationen fielen wenig später in ihre ,alten‘ Spielweisen und damit auf ihre ,alten‘ Stereotype zurück. Das aber eröffnete für die Berichterstattung über die deutsche Mannschaft neue Mög- lichkeiten: Erstens diejenige, die alten Stereotype von ,Ordentlichkeit‘ und ,harter Fußballarbeit‘ (in der Positivvariante) bzw. ,Rumpelfüßigkeit‘ (in der Negativvariante) wieder aufzunehmen und damit gegen Ende des Turniers auch das gesamte ,alte‘ System der Nationalstereotypen wieder zu restituieren; zweitens die Möglichkeit, das mit dem ,neuen deutschen Fußball‘ verbundene Stereotyp eines jugendlichen, leichten, schön anzusehenden und auch noch torreichen Fußballs auf andere Nationen zu übertragen, die damit zu eigentlich ,deutschen‘ Mannschaften und im Weiteren zu eigentlich ,deutschen‘ Natio- nen erklärt werden konnten. Das vervielfältigte – ähnlich wie die Aufsplittung der fußballerischen Nationalstereotype in eine Positiv- und eine Negativvari- ante – die Möglichkeiten der Selbstverortung. Zum einen war man wieder ,richtig‘ deutsch im alten Stereotyp, hatte also nicht seinen Nationalcharakter gewechselt, wofür der Preis allerdings war, sich einzugestehen, dass es nur zu Platz drei gereicht hatte. Zum anderen konnte man die im Endspiel stehenden Nationen über die Zuschreibung der mit dem neuen deutschen Fußballstil ver- bundenen Merkmale unter der Hand zu Deutschen machen, so dass man die Erfolge der anderen als eigene genießen konnte. In extenso praktizierte das die Bildzeitung unter der Überschrift „Bundesrepublik Holland“ und korrelierte den Fußball fast schon systematisch mit anderen gesellschaftlichen Teilberei- 41 Reinhard Schüssler, „Eine Elf mit einer Botschaft“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (05.07.2010), S. 1. Vgl. auch: o. A., „Das völlig subjektive WM-Tagebuch. Hfs: ‚Deutsch‘ haben nur die anderen gespielt“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (07.07.2010): „,Deutsch‘ haben nur die anderen gespielt/Meine Kollegin verfügt anerkanntermaßen über Fußball-Sachverstand. Ihrer Eloge auf den Spaßsport, den uns Neuer, Schweinsteiger, Müller und die anderen Racker bieten, kann ich mich anschließen. ,Deutsch‘ haben bei dieser WM andere gespielt. Und sind längst wieder daheim./Was waren das noch für unappetitliche Zei- ten, als die ,Walz von der Pfalz‘ oder technisch ähnlich beschlagene Kaputtnicks wie ,Bulle‘ Roth des Gegners Angriffe zermalmten? Heute schnalzen wir mit der Zunge, wenn die schwarz-weißen Strategen ihre Kontrahenten reihenweise vernaschen. Das ist wunderschön anzusehen.“ 134 ROLF PARR chen, um so die eigene These vom ,deutschen Holland‘ auch über den Fußball hinaus zu belegen: Das halbe Team kommt aus der Bundesliga. In ihrer Hymne verehren sie einen Deutschen. Ihre schönste Spielerfrau ist in Deutschland ein Superstar. Diese Holländer kommen uns irgendwie bekannt vor ... Sie spielen nicht mehr den schönsten Fußball (wir früher auch nicht), aber plötz- lich sind sie erfolgreich (wie wir früher). Unser Nachbar zieht nach 32 Jahren und dem 3:2 gegen Uruguay wieder ins WM-Finale ein. Auf altdeutsche Art. Mittelfeld-Mann Nigel de Jong (früher HSV, jetzt Manchester City) gibt zu: „Wir spielen deutscher als die Deutschen früher. Nicht schön, aber effektiv. Das ist unser Schlüssel zum Erfolg.“ Willkommen in der Bundesrepublik Holland! Die halbe Mannschaft spielt oder spielte in der Bundesliga. […] Rafael van der Vaart (heute Real), der beim HSV zwischen 2005 und 2008 zum Star wurde, schwärmt: „Die Bundesliga ist eine optimale Schule für uns Holländer. Es ist wie ein Stahlbad. Wenn du da Erfolg hast, kannst du eine große Karriere ma- chen. Für meine war es das größte Glück, nach Hamburg gegangen zu sein.“ Willkommen in der Bundesrepublik Holland! Trainer Bert van Marwijk hat seinen Führungsstil in der Bundesliga verfeinert. Er wechselte 2004 für zwei Jahre nach Dortmund. Heute sagt er: „In Deutsch- land ist alles sehr straff organisiert.“ So wie nun sein Team. Wer aufmuckt, fliegt. Starallüren gibt es keine mehr. Selbst die Taktik ist gleich: Das berühmte 4-3-3-System der Holländer mit drei Stürmern ist Geschichte. Wie Deutschland spielt Holland 4-2-3-1 unter van Mar- wijk mit nur einem Stürmer. Willkommen in der Bundesrepublik Holland! An Oranje ist noch viel mehr Deutsch. In der niederländischen Hymne wird Staatsgründer Willem von Nassau-Oranienburg (geboren im hessischen Dillen- burg) besungen mit dem Satz: „Wilhelmus von Nassau, bin ich von deutschem Blut.“ […] Die inoffizielle Fan-Hymne stammt aus Köln. „Viva Hollandia“ frei nach „Viva Colonia“. Willkommen in der Bundesrepublik Holland! Sylvie van der Vaart (32), die Frau von Raffael, ist bei uns ein TV- und Werbe- star. […] Ihre mutige Brustkrebs-Beichte hat sie bei uns noch beliebter gemacht. Sylvie, die Königin der Bundesrepublik Holland.42 Andere Blätter machten demgegenüber gleich Niederländer und Spanier zu ,typisch deutschen‘ Mannschaften im Sinne des nicht immer schönen, aber er- folgreichen alten deutschen ,Ergebnisfußballs‘, so dass das Finale auf jeden Fall mit einem symbolischen Sieg dieses Stereotyps und damit indirekt auch ,deutscher Tugenden‘ enden musste. Reinhard Schüssler schrieb in der West- deutschen Allgemeinen Zeitung über die Dichotomie von „Ergebnis- und Er- lebnisfußball“: 42 o. A., „Bundesrepublik Holland“, in: Bild (08.07.2010), S. 19. INNOVATION UND AUTOMATISMUS 135 Achtelfinale: 1:0, Viertelfinale: 1:0, Halbfinale: 1:0. Na, dämmert Ihnen etwas? Nein? Verständlich wäre es. Denn wer – außer vielleicht jenen Fans, die nur das nackte Ergebnis interessiert – erinnert sich schon gerne an die WM 2002, bei der die deutsche Nationalmannschaft mit diesen Ergebnissen ins Finale rumpelte. […] Die deutsche 1:0-Serie von 2002 fand in diesem Jahr eine verblüffende Parallele. Auch Spanien erreichte mit drei 1:0-Erfolgen (Portugal, Paraguay, Deutschland) das Endspiel. Die Wahrnehmung jedoch ist eine andere, zumal der Europameis- ter sich seine bisher beste Leistung für das Duell mit Deutschland aufgehoben hatte. Bemerkenswert auch: Das entscheidende Tor entsprang nicht der unstritti- gen spielerischen Überlegenheit der Spanier, sondern einer schnöden Standard- Situation (Kopfball nach Ecke); das 1:0 gegen Portugal war aus Abseitsposition erzielt worden. […] Die Spanier mögen die besseren Spieler haben, gewinnen müssen sie deshalb noch lange nicht. Auf der anderen Seite würde ein holländischer Triumph einer gewissen Ironie nicht entbehren. Hat sich doch spätestens in Südafrika gezeigt, dass die jahrelange offene Verachtung des vermeintlichen deutschen Ergebnis- Fußballs durch die Oranje-Fans auch ein Stück Selbstbetrug war. Denn nachdem die Mannschaft mit dem Fußball, der bis 2010 als „typisch deutsch“ galt, ins Fi- nale vorgestoßen ist, hat man in den Niederlanden auch die Schönheit des schlechten Ergebnisses zu schätzen gelernt. Wie inzwischen auch in Spanien.43 Für einen Moment hätte man nun denken können, dass daraus, dass beide Fi- nalgegner als eigentlich ,deutsch‘ dargestellt wurden, ein Problem hätte resul- tieren müssen, da doch einer von beiden Teilnehmern notwendigerweise als Verlierer vom Platz gehen musste. Das aber konnte durch die Weichenstellung zwischen Positiv- und Negativvariante des alten deutschen Stereotyps aufge- fangen werden, wie der Kommentar des niederländischen Schriftstellers Leon de Winter zeigte: „Die Holländer spielen, als ob sie ein Schiff in Rotterdam ausladen müssten. Hafenarbeiter. Keine Balletttänzer.“44 An anderer Stelle in derselben Ausgabe wurde auch Spanien mithilfe der Negativvariante eines Na- tionalstereotyps (tendenziell desjenigen, das sonst England zugesprochen wird, nämlich ,Härte‘) verortet und diesem Stereotyp zugleich das schöne neue deutsche Fußballbild entgegenstellt: „Spanien Weltmeister 1:0. Treter- Finale. Da hätten wir mit unserem schönen Fußball nur gestört!“45 Da die deutsche Mannschaft im kleinen Finale um Platz drei auch selbst wieder die ,alten deutschen Spieltugenden‘ zeigte46, war in der Logik der Pres- 43 Reinhard Schüssler, „Ergebnis- und Erlebnisfußball“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (09.07.2010). 44 o. A., „Spanien ist Weltmeister!“, in: Bild (12.07.2010), S. 13. 45 o. A., „Spanien Weltmeister 1:0. Treter-Finale. Da hätten wir mit unserem schönen Fußball nur gestört!“, in: Bild (12.07.2010), S. 1. 46 „Ein Sieg deutscher Tugenden./Die deutsche Mannschaft erinnert sich nach Rückstand an alte Werte und schlägt Uruguay im Spiel um Platz drei/[…]/Jene Tugenden, die den deutschen Fußball einst in der Welt mehr berüchtigt als bekannt gemacht hatten, wurden plötzlich abge- fragt. Und sie wurden tatsächlich abgerufen: Marcell Jansen wuchtete eine Flanke von Jerome Boateng zum 2:2 ins Netz […], auch Sami Khedira stand beim Siegtreffer zum 3:2 im un- 136 ROLF PARR seberichterstattung am Ende des Turniers gleichzeitig das alte deutsche Natio- nalstereotyp gerettet und mit dem auf andere Nationen übertragenen neuen deutschen Fußballstil das Endspiel erreicht bzw. gewonnen. Exemplarisch hat diese Kopplung Ulrich Reitz in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung im Rückblick auf das gesamte Turnier realisiert: Deutsche Tugenden […] Zwei Sachen sind hoffentlich weg: Der deutsche Bulldozer sozusagen und die ir- ritierende These, Fußball sei die schönste Nebensache der Welt. Der Fußball hat gerade mehr Außenpolitik gemacht als es der Außenminister in vier Jahren fer- tigbringen wird. Und aus dem Bulldozer ist eine feingliedrige Präzisions-Ma- schine geworden, eine edle Uhr vielleicht. Immer noch tüftelt der deutsche Inge- nieur, diesmal aber schafft er ein Kunstwerk. Hingabe, Fleiß, Kampfgeist – es ist nicht alles weg, was typisch deutsch genannt wurde. Aber früher dienten die Tu- genden der Pflichterfüllung, heute produzieren sie obendrein Freude.47 Den „deutschen Bulldozer“ kann Reitz dabei leicht opfern, weil er nicht zum System der Nationalstereotype aus deutscher Perspektive gehört, wohl aber zum britischen, wobei der „Bulldozer“ lediglich die harmlosere Version des sonst meist angeführten ,deutschen Panzers‘ darstellt. Dafür aber verkoppelt Reitz aus dem alten deutschen Stereotyp den ,Ingenieur‘ (konnotierend die Se- kundärtugend ,Ordentlichkeit‘) mit der neuen (in historischer Perspektive ei- gentlich nur wiederentdeckten) Fußball-,Kunst‘ zum Trickster-Stereotyp des künstlerischen deutschen Fußballingenieurs. V. Fazit Festzuhalten bleibt: Das System der Stereotype und die mit ihm kulturell parat gehaltenen Vorstellungen werden selbst bei noch so großen Irritationen, wie die WM 2010 in Südafrika sie mit sich brachte, nicht aufgegeben, sondern es wird versucht, die neuen Positionen im System dadurch zu beschreiben, dass entweder ein Ringtausch zwischen den Nationen stattfindet, also die National- stereotype transnational verschoben werden (,Deutschland spielt brasiliani- schen Fußball‘), oder – wenn das nicht ausreicht – dadurch, dass Kombinatio- nen aus mehreren Nationalstereotypen hergestellt werden (,die Holländer spie- len so genau wie deutsche Fußballarbeiter, haben aber zugleich die Eleganz übersichtlichen Dickicht des Strafraums nach Ecke von Mesut Özil parat. Er köpfte den Ball sehr überlegt über den Torwart hinweg ins Tor. Eine typisch deutsche Willensleistung einer bemerkenswerten Mannschaft, die, so Bundestrainer Joachim Löw anerkennend, ,in den ein, zwei Tagen zuvor psychisch und physisch an ihre Grenzen gelangt‘ war.“ jcm., „Ein Sieg deutscher Tugenden. Die deutsche Mannschaft erinnert sich nach Rückstand an alte Werte und schlägt Uruguay im Spiel um Platz drei“, in: Frankfurter Rundschau. Sonderbeilage „WM-Rundschau“ (12.07.2010), S. 2. 47 Ulrich Reitz, „Deutsche Tugenden“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (12.07.2010), S. 1. INNOVATION UND AUTOMATISMUS 137 von Brasilianern‘). In diesem Falle werden also neue Positionen aus der Kom- bination von Elementen aus den schon vorhandenen Stereotypen generiert. In- sofern haben wir es mit ,Bewegung im System‘ und ,Fortschreibung eines Systems‘ von Stereotypen zugleich zu tun, mit aktivem Handeln im System und durch das System generierten Automatismen zugleich. Dabei können sich die Entwürfe für Systeme von Nationalstereotypen, mit denen man es nolens volens immer gleich zu tun hat, auch wenn man nur ein einzelnes Stereotyp thematisiert, kurzzeitig vervielfachen. Es scheint aber gleichsam ein ,Automatismus-Effekt‘ zu sein, dass die durchaus divergierenden Entwürfe am Ende doch wieder in ein gemeinsames System einmünden, wobei sich selbst innerhalb der für Stereotype kurzen Dauer einer Fußball-Weltmeisterschaft dann die Tendenz zeigt, sich der Aus- gangssituation wieder anzunähern. Man kann dieses Spiel temporärer Abwei- chungen bei am Ende zugleich festzustellender Tendenz zur Bestätigung des ursprünglichen Stereotypensystems vielleicht ganz gut als ,kreativen Automa- tismus‘ im Rahmen der Systemgrenzen bezeichnen. Presse- und anderes Diskursmaterial o. A., „Bundesrepublik Holland“, in: Bild (08.07.2010), S. 19. o. A., „,Das Baby-Deutschland ist beeindruckend und macht Angst‘, Deutschland fei- ert den 4:0-Sieg gegen Australien“, in: Hamburger Abendblatt (14.06.2010, 13:44 Uhr), online unter: http://www.abendblatt.de/sport/fussball-wm/article1530935/Das- Baby-Deutschland-ist-beeindruckend-und-macht-Angst.html, zuletzt aufgerufen am 11.10.2010. o. A., „Das völlig subjektive WM-Tagebuch. Hfs: ‚Deutsch‘ haben nur die anderen ge- spielt“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (07.07.2010). o. A., „Deutsch reicht nicht mehr! Interview mit Günter Netzer“, in: Cicero. Magazin für politische Kultur (März 2006), S. 58-61. o. A., „Deutsche und Italiener“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (12.06.2010). o. A., „Deutschland begeistert die Welt“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (05.07.2010), S. 1. o. A., „,Deutschland macht Angst‘“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (15.06.2010). o. A., „,Höflichkeit beeindruckt mich‘. Philipp Lahm, der neue Kapitän der deutschen Mannschaft, über seine Rolle als Anführer und die Tugenden auf und neben dem Platz“, in: Die Zeit, Nr. 24 (13.06.2010), S. 18. o. A., „Lena-Ticker“ bei stern.de, online unter: http://www.stern.de/kultur/musik/lena- ticker-raab-fordert-von-lena-titelverteidigung-1570221.html, zuletzt aufgerufen am 14.10.2010. o. A., „Spanien ist Weltmeister!“, in: Bild (12.07.2010), S. 13. o. A., „Spanien Weltmeister 1:0. Treter-Finale. Da hätten wir mit unserem schönen Fußball nur gestört!“, in: Bild (12.07.2010), S. 1. 138 ROLF PARR Biermann, Christoph/Fuchs, Ulrich, „Schönheit kriegt ihren Preis. Verschieben, kom- binieren, Kurzpass spielen: Eine Taktikvorschau auf die WM, bei der mit ‚deutschen Tugenden‘ nichts zu holen sein wird“, in: Die Zeit, Nr. 23 (29.05.2002), S. 53. Breuckmann, Manni, „Nederlandse Rumpel-Voetbal“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (30.06.2010). Brinkmann, Janis, „Taktik statt Tritte“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (01.07.2010). Ders., „Gefangen im Tiqui-Taka-Land“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (07.07.2010). cei., „Neugier aus Holland, Neid aus Brasilien“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 150 (02.07.2010), S. 28. Heine, Heinrich, Deutschland – Ein Wintermärchen, in: ders., Sämtliche Schriften, hg. v. Klaus Briegleb, Bd. 4, München, 1971, S. 571-644. Hellmann, Frank, „Vor dem Spaß kommt die Arbeit. Ordnungshüter Carlos Dunga, ge- nannt der Deutsche, hat seinen Brasilianern Vernunft, Disziplin und Defensive bei- gebracht“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (15.06.2010). Hendriock, Manfred, „Die Karten noch nicht aufgedeckt. Holländer starten mit dem 2:0 gegen Dänemark unspektakulär“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (15.06.2010). Ders., „Ein Sieg mit neuer Sachlichkeit. Brasilien zeigt nur wenig Brasilianisches beim dürftigen 2:1 gegen den krassen Außenseiter Nordkorea“, in: Westdeutsche Allge- meine Zeitung (16.06.2010). James, Louis, Die Österreicher pauschal, Frankfurt/M., 1997. jcm., „Ein Sieg deutscher Tugenden. Die deutsche Mannschaft erinnert sich nach Rückstand an alte Werte und schlägt Uruguay im Spiel um Platz drei“, in: Frankfur- ter Rundschau. Sonderbeilage „WM-Rundschau“ (12.07.2010), S. 2. Kiesendahl, Rolf, „Tangotänzer und Rumpelfüßler. Steak gegen Bratwurst, das Trikot vom MSV und Gauchos in Gelsenkirchen: Das Wichtigste zum Spiel aus Revier- sicht“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (03.07.2010). Launay, Drew, Die Spanier pauschal, Frankfurt/M., 1997. Lamers, Frank, „Deutscher Wertarbeiter“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (09.06.2010). Ders., „Die filigranen Florett-Fußballer. Mit 4:0 hat das deutsche Team Maradonas Weltensemble aus dem Turnier katapultiert“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (05.07.2010). Müller, Jan Christian, „Umleitung“, in: Frankfurter Rundschau (03.09.2001), S. 23. Musäus, Johann Karl August, Volksmärchen der Deutschen. Vollständige Ausgabe, nach dem Text der Erstausgabe von 1782-1786, Darmstadt, 1961. Putsch, Christian, „Fußball ohne Sinn“, in: Die Welt (05.07.2010), S. 24. Reitz, Ulrich, „Deutsche Tugenden“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (12.07.2010), S. 1. Schümer, Dirk, „,Italien: Sieben Verteidiger im Dienste der schlechten Unterhaltung‘“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.05.2002), S. 40. Ders., „Kick it like Wilders“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 150 (06.07.2010), S. 28. Schüssler, Reinhard, „Auch noch Spaß haben?“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (16.06.2010). Ders., „Eine Elf mit einer Botschaft“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (05.07.2010), S. 1. Ders.: „Ergebnis- und Erlebnisfußball“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (09.07.2010). INNOVATION UND AUTOMATISMUS 139 Solly, Martin, Die Italiener pauschal, Frankfurt/M., 1997. Staël, Anne Germaine de, Über Deutschland, Frankfurt/M., 1985. [Vollständige und neu durchgesehene Fassung der deutschen Erstausgabe von 1814 in der Gemein- schaftsübersetzung von Friedrich Buchholz, Samuel Heinrich Catel und Julius Eduard Hitzig, hg. und mit einem Nachwort versehen von Monika Bosse.] Wille, Klaus, „Was ein Monat verändern kann“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (07.07.2010). Yapp, Nick/Syrett, Michel, Die Franzosen pauschal, Frankfurt/M., 1997. Zeidenitz, Stefan/Barkow, Ben, Die Deutschen pauschal, Frankfurt/M., 1997. Forschungsliteratur Bierwirth, Maik, „… jenseits geplanter Prozesse. Einleitendes und Methodisches“, in: ders./Oliver Leistert/Renate Wieser (Hg.), Ungeplante Strukturen. Tausch und Zir- kulation, München, 2010, S. 9-17. Bublitz, Hannelore/Marek, Roman/Steinmann, Christina L./Winkler, Hartmut, „Einlei- tung“, in: dies. (Hg.), Automatismen, München, 2010, S. 9-16. Conradi, Tobias/Winkler, Hartmut/Marek, Roman/Hüls, Christian, „Thesenbaukasten zu Eigenschaften, Funktionsweisen und Funktionen von Automatismen. Teil 3“, in: Hannelore Bublitz/Roman Marek/Christina L. Steinmann/Hartmut Winkler (Hg.), Automatismen, München, 2010, S. 231-254. Gerhard, Ute/Link, Jürgen, „Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereo- typen“, in: Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten na- tionaler Identität, Stuttgart, 1991, S. 16-52. Dies., „Einleitung“, in: dies., Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart, 1991, S. 7-15. Link, Jürgen, „Anhang: Nationale Konfigurationen, nationale ,Charakter-Dramen‘“, in: ders./Wulf Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Iden- tität, Stuttgart, 1991, S. 53-71. Martínez, Matías, „Warum Fußball? Zur Einführung“, in: ders. (Hg.), Warum Fuß- ball? Kulturwissenschaftliche Beschreibungen eines Sports, Bielefeld, 2002, S. 7- 35. Parr, Rolf, „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“. Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks (1860-1918), München, 1992. Ders., „Real-Idealismus. Zur Diskursposition des deutschen Nationalstereotyps um 1870 am Beispiel von Ernst Wichert und Theodor Fontane“, in: Klaus Amann/Karl Wagner (Hg.), Literatur und Nation. Die Gründung des Deutschen Reiches in der deutschsprachigen Literatur. Mit einer Auswahlbibliographie, Wien, Köln u. Wei- mar, 1996, S. 107-126. Ders., „,Der Deutsche, wenn er nicht besoffen ist, ist ein ungeselliges und furchtbar eingebildetes Biest.‘ – Fontanes Sicht der europäischen Nationalstereotypen“, in: Hanna Delf von Wolzogen (in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger) (Hg.), 140 ROLF PARR Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theo- dor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes, 13.-17. September 1998 in Potsdam, Bd. 1, Würzburg, 2000, S. 211-226. Ders., „Der mit dem Ball tanzt, der mit dem Bein holzt, der mit sich selbst spielt. – Na- tionalstereotype in der Fußball-Berichterstattung“, in: Ralf Adelmann/Rolf Parr/ Thomas Schwarz (Hg.), Querpässe. Beiträge zur Literatur-, Kultur- und Medienge- schichte des Fußballs, Heidelberg, 2003, S. 47-70. Ders., „Arbeiter können nicht tanzen. Wie in der Fußball-Berichterstattung nationale Stereotype die Jahrhunderte überdauert haben – und sich doch zwanglos der jeweili- gen Spieltechnik und Situation anpassen. Interview von Erik Eggers“, in: Frankfur- ter Rundschau (14./15.06.2006), S. B6. Schulze-Marmeling, Dietrich, Der gezähmte Fußball. Zur Geschichte eines subversi- ven Sports. Mit Beiträgen von Michael John, Martin Krauß, Matti Lieske, Pit Wuh- rer, Göttingen, 1992. Stanzel, Franz K., Europäer. Ein imagologischer Essay, Heidelberg, 1997. Winkler, Hartmut/Böhm, Andreas/Bublitz, Hannelore, „Thesenbaukasten zu Eigen- schaften, Funktionsweise und Funktionen von Automatismen. Teil 1“, in: Hannelore Bublitz/Roman Marek/Christina L. Steinmann/Hartmut Winkler (Hg.), Automatis- men, München, 2010, S. 17-35. Wägenbauer, Thomas (Hg.), Blinde Emergenz? Beiträge zu Fragen kultureller Evolu- tion, Heidelberg, 2000. Winkler, Hartmut, „Spuren, Bahnen … Drei heterogene Modelle im Hintergrund der Frage nach Automatismen“, in: Hannelore Bublitz/Roman Marek/Christina L. Stein- mann/Hartmut Winkler (Hg.), Automatismen, München, 2010, S. 39-59. FRANZ J. RAMMIG BIOLOGICALLY INSPIRED INFORMATION TECHNOLOGY: TOWARDS A CYBER BIOSPHERE1 1 Introduction Engineers are interested in building highly efficient, highly reliable, and high- ly deterministic systems; they are interested to keep their systems completely under control under all potential circumstances. For this purpose the Embed- ded Systems community, especially the real-time researchers have developed sophisticated solutions: deterministic real-time scheduling techniques, sched- ulability analysis, collision-free communication protocols, time-triggered ar- chitectures, formal proof techniques, just to mention some of them. However, serious restrictions have to be respected when following such approaches. In most cases a closed world has to be assumed, all parameters must be controll- able. This especially restricts the possibilities to distribute such systems, as in distributed systems synchronization among the components may cause prob- lems. In fact, whenever there is a finite speed of communication which is “slow” with respect to the operational speed of the individual components, the effect of “relativity” is present. Adapting inspirations from the biosphere, a world that seems to follow completely different approaches, appears to be a strange idea at the first glance. On the other hand engineers are impressed by the robustness of ex- tremely complex biological systems. Robustness in this context means short- term robustness. Of course, in long terms any constituent of the biosphere shows a dramatically instable behavior, from appearance of a species or an in- stance of a species up to its disappearance. In short terms, however, the entire system and its constituents are remarkably stable. A human, made of billions of cells, interacting in a highly sophisticated manner, is continuously exposed to billions of enemies (antigens) which change their attacking strategies rapid- ly and in a non predictable manner. By simple Mean Time Between Failures (MTBF) calculations one would conclude that a human's lifetime should not exceed some hours. However, such a complex system survives in a hostile environment for up to 100 years or even longer. The same can be said for any 1 This paper extends Franz J. Rammig, “Cyber Biosphere for Future Embedded Systems”, in: Uwe Brinkschulte/Tony Givargis/Stefano Russo (eds.), Software Technologies for Embedded and Ubiquitous Systems (Lecture Notes in Computer Science Vol. 5287), Berlin, Heidelberg, 2008, p. 245–255. 142 FRANZ J. RAMMIG kind of complex bio-conglomerates. So, biological systems have proven to be extremely robust even in dynamically changing hostile environments. Of course engineers also are able to design highly complex systems. A to- day's complex microprocessor which is a sophisticated digital System on Chip (SoC) comprises a billion of transistors as well, and it runs reliably for a long time. Giant software systems like telephone switching systems are very reliable as well. What can be questioned, however, is the stability and robust- ness in case of dramatically changing environmental conditions or in case of unforeseen hostile circumstances. Classical engineering always makes rather strict assumptions concerning the environment, in most cases it even assumes the environment to be adapted to the operational conditions of the system to be built. For designing a car, e.g. the existence of well paved roads is assumed. Of course, biological systems can handle unforeseen situations also only to a certain amount. In cases beyond this level of flexibility the respective instance or even an entire species disappears. However, it seems that this limit of biological flexibility is much wider than in conventional technical artifacts. From this observation it does not surprise that one of the most stable, most ro- bust and most adaptive complex technical artifact is the internet. In fact the internet follows a couple of basic principles of biological systems like distrib- utive design, postponing decisions and actions into the operational phase, self- organization, emerging redundancy, just to mention some of them. Common to the highly complex systems of the future are the following key characteristics: – complex volatile networks in which components cooperate as well as possibly compete, – decentralized control and components acting autonomously, – an unobservable global system state and thus components with only local knowledge, – optimization of own benefits being the driving force of a component's cooperation, – adapting to and learning from environmental changes as a universal ability of components, – limited availability of resources combined with security and safety re- quirements. Characteristic No. 1 originates from the sheer fact of complexity. Above a cer- tain threshold a conglomerate cannot be kept stable concerning its structure and behavior. Components will appear and disappear and it will not be able to keep always the same rules concerning these components' behaviors. Characteristic No. 2 is closely related to the first one. If the complexity of a system grows towards infinity any attempt of global control would evolve to- wards infinite complexity, which in turn would convert it into a system of in- finite complexity and so on. It is not surprising that e.g. centrally controlled economies tend to fail. So the individual components are forced to act autono- CYBER BIOSPHERE 143 mously to a certain amount, giving them the freedom to do this in cooperative or non cooperative manner. It is the relativistic property of large distributed systems that results in characteristic No. 3. In a relativistic system a global state cannot exist as ob- servation and even definition of a global state would imply exact synchrony of all local time lines. And exact synchrony cannot be achieved with finite com- munication speeds. This also implies that components of such a system can be aware only of their own state and the states of objects in their near vicinity. Near vicinity is defined as the set of components where communication is possible within a time period which is small with respect to the relevant speed of operation (in physics these are sub-systems where the error made when applying Newton's mechanics is negligible). An unobservable global state brings us immediately to characteristic No. 4. As components of such a complex system cannot observe a global state, they also cannot precisely be aware of a global objective. A pragmatic way to over- come this problem is the assumption when trying to optimize the individual benefit (in whatever way this can be determined), the resulting “global” be- havior will not be too far away from a theoretical global optimum. Such systems can hardly show robust behavior if the constituents would be unable to adapt to changing environmental conditions. This makes learning capabilities necessary as undirected changes rarely result in beneficial adapta- tion (characteristic No. 5). New properties emerge while the network's compo- nents adapt to and learn from other components. This in turn makes resulting learning necessary. Characteristic No. 6 is different in nature from the other ones. It is just a general restriction which we always find in real systems. There are never unlimited resources. Without providing safety, robustness would be harmed by the constituent components themselves, without security there would be no means to provide robustness in presence of potentially hostile other compo- nents. And as selfishness has to be the driving force of the individual compo- nents hostile behavior will always be present. These fundamental characteristics raise a number of new research questions that need to be addressed in order to achieve any progress in this area. All the mentioned properties are present in biological systems as well. Therefore, it seems to be attractive looking for inspirations in this domain. Biological sys- tems seem to follow optimal strategies (or at least near-optimal ones) in the presence of partial or even unreliable information. Biological components are able to “decide” which information is relevant and which need not be con- sidered. They follow “algorithms” reaching stable, robust, and desirable be- havior in a distributed network. Biological entities find out about their right option of interaction with cooperating other components or even such ones which they are in competition with. Nature “invented” clever, adaptive, and efficient communication principles. All this is done under restricted resources and even in case of failing parts. Nature transformed most of the decisions and 144 FRANZ J. RAMMIG actions into the operational phase of biological artifacts which results in highly adaptable systems. These systems reflect on both their own and their environ- ment's behavior and consequently change themselves. Nature provides tech- niques that to a certain amount can ensure the correctness of emergent volatile systems. To sum up: Highly complex systems behave like global economy. By their tradition engineers tend to organize their artifacts in the way of planned, cen- trally controlled economy. Nature is an economy driven by free enterprise of selfish agents. Such economies may be far away from optimality, they tend to locally show nondeterministic and undesired behavior at certain points of time (economic crisis). But they seem to be extremely robust on the long term. In this paper we would like to provide some hints why it could be wise for engi- neers to accept a certain amount of free economy as well. 2 Ant Colony Algorithms The total biomass of ants on earth is more or less the same as the biomass of mankind. Ants can be seen as one of the most advanced examples of social bio-systems. Ant colonies can be interpreted as a specific kind of an organism, forming an interesting compromise between simple swarms of single cell life and highly organized multi-cell systems (e.g. mammals) where most cells are fixed at a specific location and play a specific role. Differently from these two extremes, in an ant colony the individual constituent (an ant) is a multi-cell object, mobile, intelligent to a certain degree, but closely embedded into a global collaborative scheme. Ant Colony Optimization (ACO) is a cooperative meta-heuristic being successfully applied to various combinatorial optimiza- tion problems. Ants tend to find the shortest path from their nests to a food source in a relatively short time. In order to achieve this, they communicate in an indirect manner, called stigmergy. Moving ants deposit traces of phero- mone on their trail. On the other hand, ants have the tendency to follow trails which are marked by pheromone. This establishes a positive feedback which makes a marked trail even more attractive. Evaporation of pheromone establishes a negative feedback. When alternative trails are chosen randomly in the beginning, with high probability the pheromone level of a path is in- verse proportional to the path's length (see Fig. 1). Marco Dorigo established this field of meta-heuristics. Dorigo et al.2 was the first paper to apply ACO to graph-related optimization problems like the Traveling Salesman Problem (TSP). A more general theory has been devel- 2 Marco Dorigo/Vittorio Manniezzo/Alberto Colorni, “The Ant System: Optimization by a Colony of Cooperating Agents”, in: IEEE Transactions on Systems, Man, and Cybernetics, Part B 26, 1 (1996), p. 29–41. CYBER BIOSPHERE 145 oped in his book AntColony Optimization3, proceedings of dedicated conferen- ces have been published as well.4 An excellent introduction into biologically inspired techniques in sensor networks, including application of ACO is given by Dressler.5 Here just some aspects, covered by research in Paderborn, shall be discussed. 1 – Pheromone estimation und adaptation (time line: left to right) Ditze6 and Ditze/Becker7 describe the application of Dorigo's basic approach to the scheduling problem of MPEG streams via the 802.11e EDCA. For this purpose, the precedence-constrained MPEG scheduling has to be mapped onto a directed graph, expressing the precedence relationships of MPEG Groups of Pictures (GoP). This results in a cyclic graph consisting of the various I-, P-, and B-frames contained in the GoP being represented as nodes and the prece- dences as directed edges. A feasible solution represents a schedule of MPEG 3 Marco Dorigo/Thomas G. Stützle, Ant Colony Optimization (A Bradford Book), Cambridge, MA, (et al.), 2004. 4 Marco Dorigo/Mauro Birattari/Christian Blum, et al. (eds.), Ant Colony Optimization and Swarm Intelligence. 4th International Workshop, ANTS 2004: September 5–8, 2004, Brussels, Belgium; Proceedings (Lecture Notes in Computer Science Vol. 3172), Berlin, 2004, and Marco Dorigo/Luca Maria Gambardella/Mauro Birattari, et al. (eds.), Ant Colony Optimiza- tion and Swarm Intelligence. 5th International Workshop, ANTS 2006: September 4–7, 2006, Brussels, Belgium; Proceedings (Lecture Notes in Computer Science Vol. 4150), Berlin, 2006. 5 Falko Dressler, Self-Organization in Sensor and Actor Networks (Wiley Series in Communi- cations Networking Distributed Systems), Chichester (et al.), 2007. 6 Michael Ditze, “Evaluation of an Ant Colony Optimization Based Scheduler for the Trans- mission of Multimedia Traffic in the 802.11e EDCA”, in: Proceedings of the 3rd ACM Work- shop on Wireless Multimedia Networking and Performance Modeling: October 22nd 2007, Chania, Crete Island, Greece [held in conjunction with the 10th ACM/IEEE International Symposium on Modeling, Analysis, and Simulation of Wireless and Mobile Systems (MSWiM)], New York, NY, 2007, p. 9–15. 7 Michael Ditze/Markus Becker, “An Improved Adaptive ACO Meta Heuristic for Scheduling Multimedia Traffic Across the 802.11e EDCA”, in: Reza Rejaie/Roger Zimmermann (ed.), Multimedia Computing and Networking 2008: January 30–31, 2008, San Jose, California, USA; Proceedings, Electronic Imaging, Science and Technology, Bellingham, WA, 2008, p. 6818–6820. 146 FRANZ J. RAMMIG frames where each frame is expected to be transmitted within its (previously defined) delay bounds. On such a graph a colony of π ants is deployed. An ant of such a colony sitting on a “border” node of a partially feasible schedule se- lects an edge from this node to an attainable node according to a probabilistic function as in Dorigo's original work. A tour is said to be completed if all π ants of a colony have returned to the initial I-frame. Then the best selected path is evaluated by counting the number of timely scheduled frames. On each edge of this path the pheromone values are updated. The updated value is pro- portional to the ratio of the achieved solution and the optimal one (all frames of the GoP scheduled timely). As a result, near optimal solutions that entail higher concentration of pheromone will have a higher impact on the edge se- lection process in subsequent tours. In experiments this algorithm turned out to be nearly as efficient (concerning needed computation time) as a dedicated scheduling algorithm designed at our institute by the same author. However, it showed a much more robust behavior with respect to rapidly changing load and transmission distortions. In our group we developed a fully distributed operating system, i.e. the various services offered by the OS are distributed over a network of nodes. Compared with providing all services at all nodes this results in a substantial reduction of memory footprint. However, additional communication costs occur whenever a service is requested which is not locally available. This implies the need for an optimized service distribution. See Fig 2. for the opti- mization problem. A problem graph describing service requests by applica- tions has to be mapped onto a platform graph describing the nodes and their interconnection links in such a way that the global communication costs are minimized. 2 – Service allocation in a fully distributed operating system CYBER BIOSPHERE 147 Heimfarth/Janacik8 apply ACO to this problem. Of course, the objective in this case is not to minimize path lengths but weighted communication costs. These costs are calculated in this case by path length measured in hops, link quality using a sophisticated combined link metrics, and the access frequency, i.e. the frequency a certain path is used due to requesting the considered ser- vice. In their use of ACOs services are the equivalent of food sources and ser- vice locations are the equivalent of shortest paths. Calls made by the request- ers are modelled by ants while requesters are modelled by nests. Wireless links in between the platform nodes form the paths which the ants can use for movement. As common to ACOs, ants leave pheromone on the nodes while the requests are being routed to the destination service. This pheromone evaporates over time. In Fig. 3 this application of ACOs is illustrated. It shows a situation where service S1 residing on node v is requested by applications r1 on node g, r2 on node b, and r3 on node c. In this situation the service S1 has a tendency migrating to node u. As this one might be overloaded due to service S2 residing on this node, a migration to node j is selected. In addition (not shown in this example) geographically related paths are handled in such a way that they bundle attracting force into their direction.9 3 – Optimization of service allocation in a fully distributed operating system 8 Tales Heimfarth/Peter Janacik, “Experiments with Biologically-Inspired Methods for Service Assignment in Wireless Sensor Networks”, in: Mike Hinchey/Anastasia Pagnoni, et al. (eds.), Biologically-Inspired Collaborative Computing: IFIP 20th World Computer Congress, Sec- ond IFIP TC 10 International Conference on Biologically-Inspired Collaborative Computing: September 8–9, 2008, Milano, Italy, Vol. 268, New York, NY, 2008, p. 71–84. 9 For more details, see ibidem. 148 FRANZ J. RAMMIG Up to now homogeneous systems have been considered. In our analogy this means ant colonies where all ants are alike. Nature, however, also “devel- oped” colonies with heterogeneous populations. Social insects like Pheidole Rea form such colonies of heterogeneous objects. This allows a dedicated di- vision of labor. Larger ants (the “majors” serve to protect the nest against enemies while the smaller ones (“minors”) are doing daily work. In fact this division of labor reduces the overall energy need of the entire colony. Large ad hoc networks can be clustered following an approach based on division of labor in such colonies of social insects. The basic idea in this case is to treat each node of an ad hoc network either as a “major” ant or a “minor” one. A major represents a cluster head responsible for wider area communication. This means a higher workload while the minors are member nodes of clusters. The main power of the approach is originating from the built-in elasticity. Both types of species have a certain threshold to become major or minor. On the other hand they are stimulated by received signals. Whenever the strength of such signals is above a certain threshold the role of a major may change to a minor or vice versa. Typical stimuli signals are signal strengths of received messages, frequency of received messages, etc. Thresholds are established e.g. by the power reserve of a node. A cluster head with flattening power resources has a tendency to become a minor (member node), an “isolated” member node to become a cluster head.10 This approach again shows enormous robustness against rapidly changing situations. 3 Artificial Hormone Systems All biological systems can be seen just as a collection of individually operat- ing cells which follow some collaborative principle of operation, based on some communication means. Electrical signaling via the nerve system consti- tutes a means of directed communication in the sense of single-cast or multi- cast. Controlled and centrally coordinated actions like contraction of specific muscles to enable movement may serve as an example. In other situations when an extremely high number of potentially receiving cells have to be ad- dressed and if those cells are widely spread across a body, a multi-cast com- munication scheme is desirable. In bio-systems this is carried out by means of the hormone system which can be interpreted as a way of biological broad- casting. Specific chemicals are generated by the sending instance and cause reactions on the side of receiving cells. It is essential that different receiving cells can react in a different and specific manner. This specific reaction may 10 For more details, see Tales Heimfarth/Peter Janacik/Franz J. Rammig, “Self-Organizing Re- source-Aware Clustering for Ad Hoc Networks”, in: Proceedings of the 5th IFIP WG 10.2 In- ternational Conference on Software Technologies for Embedded and Ubiquitous Systems, Berlin, Heidelberg, 2007, p. 319–328. CYBER BIOSPHERE 149 depend on cell type or even on a specific cell instance and its current environ- mental setting. Even the set of hormones may be specific for the different cells. Hormones unknown to a certain receiver are just ignored. So the intend- ed communication is established only between processing elements that share a joint reservoir of hormones. By this concept multi-cast can be implemented easily. In addition it is a kind of “power line communication” as blood circula- tion serves as carrier for information transport. This simple basic principle thus can be tailored in numerous ways to result in the desired behaviors. Von Renteln et al.11 discuss an approach to apply concepts of artificial hor- mone systems to task allocation on heterogeneous processing elements. In their approach each of the processing elements and the tasks to be assigned may secrete “hormones” or may react on receiving ones. This approach strictly follows a decentralized approach. Each processing element may have an individual rule set for the secretion of hormones or how to react on receiv- ing certain ones. The only common rules are given by some agreement what hormones to be used. In their approach the authors implement a distributed feedback controller by means of two principle types of hormones, so called accelerators (positive feedback) and so called suppressors (negative feedback). The first ones are sent out to indicate the willingness of a processing element to attract additional tasks, the second one to indicate the inability to do so. The approach results in a couple of self-x properties: self-configuration as there is no central control, self-optimization as there may be included rules to re-open the assignment “market” periodically or stimulated by some events, self-heal- ing as a failing task or processing element is no longer sending hormones and by this disturbs the equilibrium which causes some re-allocation. The authors have built a flexible simulation environment which allows them to experiment with a variety of parameter settings. Brinkschulte/von Renteln12 additionally examine very carefully conditions for stability in such systems. Stress response is a special version of a hormone system. The “Fight-or- flight”-theory by Walter Cannon13 describes the reaction of humans and animals to threats. In such stress situations specific physiological actions are taking place by the sympathetic nervous system of the organism as an auto- matic regulation system without the intervention of conscious thought. For ex- ample, epinephrine, a hormone, is released which causes the organism to re- lease energy to react on the threat (fight or flight). This concept is adopted to 11 Alexander von Renteln/Uwe Bringschulte/Michael Weiss, “Analyzing the Behavior of an Ar- tificial Hormone System for Task Allocation”, in: Juan González Nieto (ed.), Proceedings of the 6th International Conference on Autonomic and Trusted Computing, ATC 2009: July 7–9, 2009, Brisbane, Australia, Berlin, Heidelberg, 2009, p. 47–61. 12 Brinkschulte/Renteln/Weiss (2009), Analyzing the Behavior. 13 Walter B. Cannon, Bodily Changes in Pain, Hunger, Fear and Rage: An Account of Recent Research into the Function of Emotional Excitement, reprint of 2nd ed., New York, NY, 1929. 150 FRANZ J. RAMMIG control the on-line reconfigurable real-time operating system DREAMS14 (Distributed Real-Time Extensible Application Management System) which has been developed by our group. This RTOS (Real-Time Operating System) is able to manage system tasks and user tasks in the form of different “pro- files” by means of a special resource manager FRM (Flexible Resource Man- ager)15 (see Fig. 4). 4 – Flexible Resource Manager FRM DREAMS has been tailored to the special demands of self-optimizing applica- tions. The manager tries to optimize the resource utilization at run-time. The optimization includes a safe over-allocation of resources, by putting resources that are held back for worst-case scenarios by tasks at other tasks' disposal. The interface to the FRM is called Profile Framework. By means of the Profile Framework the developer can define a set of profiles per application. Profiles describe different service levels of the application, including different quality and different resource requirements. All states belonging to one profile build the state space that can be reached when the profile is active. The differ- ent profiles can be assigned to specific emergency categories using a generic monitoring concept for self-optimizing systems. The intent is to protect tasks systematically against hazards or faults. These hazards or faults might result from their self-optimizing behavior themselves, but self-optimizing behavior 14 Recently a new version of DREAMS has been created, called Organic Reconfigurable Oper- ating System (ORCOS). It can be downloaded from https://orcos.cs.uni-paderborn.de 15 Simon Oberthür/Carsten Böke, “Flexible Resource Management – a Framework for Self- Optimizing Real-Time Systems”, in: Bernd Kleinjohann/Guang R. Gao/Hermann Kopetz/ Lisa Kleinjohann/Achim Rettberg (eds.), Design Methods and Applications for Distributed Embedded Systems: IFIP 18th World Computer Congress, TC10 Working Conference on Dis- tributed and Parallel Embedded Systems (DIPES 2004): August 22–27, 2004, Toulouse, France, Vol. 268, Boston, MA, (et al.), 2004, p. 177–186. CYBER BIOSPHERE 151 can also support the re-allocation of resources to handle threats. The concept distinguishes four different emergency categories: 1) The system operates regularly and uses its self-optimization for the major system objectives. 2) A possible threat has been detected and the self-optimization is not only used to optimize the behavior but also to reach system states, which are considered to be safer than the current one. 3) A hazard has been detected that endangers the system. Fast and robust countermeasures, like a reflex, are performed to reach a safer state (1 or 2). 4) The system is no longer under control; the system must be immedi- ately stopped or a minimal safe-operational mode must be warranted, to minimize damage. The artificial hormone system is applied to ensure that the system can provide more resources to enable more efficient countermeasures whenever it experi- ences entering emergency category 2. The idea is, when a task of the system detects a threat for the system it releases virtual epinephrine. This distributed epinephrine forces non-critical tasks into a profile with lower resource con- sumption. By this, resources are released and this permits the critical task to handle the threat more appropriately by switching into a specific emergency handling profile which usually is more resource-hungry. The virtual epineph- rine carries the information how much additional resources the epinephrine se- creting task requires to activate its threat-handling profile. It is assumed that all tasks are sorted according to their safety critical nature. Like the cardiovas- cular system of an organism the resource manager broadcasts the epinephrine to the tasks. Tasks with the lowest safety level have the shortest reaction time. When the epinephrine is injected into such a task it can react by switching into a special profile with lower resource requirements. The task then updates the information inside the epinephrine how much resources are still required. This updated epinephrine then is secreted again, by this over-writing the hormone already received by tasks at higher safety levels which react more slowly. By this technique finally every task has information about the threat and can react accordingly. The complexity of this process is linear with respect to the num- ber of tasks. The reaction of the tasks to the epinephrine (“consuming” it by up- date) is done in a short, constant time.16 16 Details can be found in Holger Giese/Norma Montealegre/Thomas Müller/Simon Oberthür, “Acute Stress Response for Self-Optimizing Mechatronic Systems”, in: Yi Pan/Franz J. Ram- mig, et al. (eds.), 2006 – Biologically Inspired Cooperative Computing, Vol. 216, p. 157–167. 152 FRANZ J. RAMMIG 4 Artificial Immune Systems Immunocomputing intends to establish another kind of computing. The main idea is to copy the immune system's ability to identify abnormal objects (“antigens”) with high separation precision and to attack such antigens using adapted means (“antibodies”) in an extremely efficient manner. All this is done in a distributed but interlinked manner and is quickly adapted to varying situations (occurrence of previously unknown antigens) by a sophisticated learning ability. As biological immune systems are based on chemical reac- tions of proteins, immunocomputing is based on the “formal protein” as its ba- sic element. A protein is an essential component of organisms and participates in every process within cells. It is composed of amino-acids arranged in a linear chain. Proteins constitute epitopes present in antigens and antigen pre- senting cells. Proteins constitute also paratopes present in antibodies. Both are made of around 10 amino-acids. An epitope is the minimum molecular struc- ture that is able to be recognized by the immune system. One epitope matches with a paratope in molecular recognition (see Fig. 5). An antigen presenting cell is a cell that has digested an antigen and presents in its surface a respec- tive epitope. The 3D shape or tertiary structure of the epitope is recognized by a paratope. It means an epitope is a kind of surface protein. That is why pro- teins will be seen as the basic element in immunocomputing. 5 – Epitope of an antigen binding to a paratope of an antibody Cytokines are introduced as an additional concept into immunocomputing17 to establish collaboration. In biological systems cytokines are groups of proteins secreted by many types of cells. Each cytokine binds to a specific cell's sur- face receptor signaling a specific action i.e. differentiation into plasma cells, 17 Alexander O. Tarakanov/Segei V. Kvachev/Alexander V. Sukhorukov, “A Formal Immune Network and Its Implementation for On-line Intrusion Detection”, in: Vladimir Gorodetsky/ Igor Kotenko/Victor Skormin (eds.), Computer Network Security (Lecture Notes in Computer Science Vol. 3685), Berlin, Heidelberg, 2005, p. 394–405. CYBER BIOSPHERE 153 antibody secretion, or cell death. They bind also through own receptors constituted from proteins, too. The basic entities in a biological immune system and therefore also in im- munocomputing are so-called B-cells. B-cells in the immune system secrete antibodies, i.e. the actuators of immune reaction. On the other hand they also secrete cytokines in order to signal something to another cell. This introduces a positive feedback into the immune system. In Artificial Immune Systems, a B-cell will be taken as a generic cell Vi with two components expressed by Vi = (ci, Pi) where ci ∈ N represents a cytokine (action to be carried out) and Pi ∈ Rq = ((p1)i, ..., (pq)i) is a point in a q-dimensional space. P lies within a cube max{| (p1)i |, ..., | (pq)i |} ≤ 1 . It represents a protein transformed into the so- called FIN (Formal Immune Network) space (see Fig. 6). In biological terms it represents an antigen binding site (antigen detection) of an antibody or, sim- plifying, an antibody. 6 – Immune Networks We applied cFIN (cytokine FIN) to build self-repairing reconfigurable hard- ware arrays (FPGAs), following a BIST (Built-In Self-Test) approach. The cir- cuit under test receives a test pattern and the response is evaluated by means of cFINs. In this case, an antibody represents the expected output, transformed into the FIN space. An antigen is the response of the circuit under test. A cyto- kine represents the action to be taken for fault recovery purposes. It is impor- tant that the system has to be trained beforehand using a training matrix V(c,A). A = A1,…,An with Ai = (Inputi, Outputi, Stimulii, Statei) is a matrix with information about expected responses under defined input patterns. Each ex- pected or unexpected response then is linked to an action expressed by c with ci = (selfi, actioni). The first component indicates the differentiation between self and not self, the second one identifies the action to be taken. Using the cy- 154 FRANZ J. RAMMIG tokine communication system, on-line learning can take place during opera- tion18 (see Fig. 7). 7 – Essential part of cFIN-based self-repairing FPGA 5 Discussion The three approaches presented here are just examples of a broad potential when getting inspiration from nature. Of course, these approaches include much more sophistication than the simple principles presented here just to ini- tiate a discussion. In any case it is wise to collect more profound knowledge about biological systems before gaining real benefit out of them for engineer- ing disciplines. Even the three sketches presented here, however, show some interesting similarities. So it seems that there are some basic principles worth to be studied as inspirations. Inspiration 1: Follow a cell-based approach. Nature “invented” life by “inventing” cells. Cells include intelligent I/O (cell membrane), static code (nucleus), a reproduction mechanism, a complete chemical plant (cell plasma), energy management, and a motion mechanism. I.e. cells are self-contained with respect to information, energy, and material flow. For billions of years life did exist solely in form of single cell entities. So whatever emerged as biological system remains a collection of individual 18 Details can be found in Norma Montealegre/Franz J. Rammig, “Immuno-Repairing of FPGA Designs”, in: Mike Hinchey/Anastasia Pagnoni/Franz J. Rammig/Hartmut Schmeck (eds.), Biologically-Inspired Collaborative Computing: IFIP 20th World Computer Congress [WCC 2008], Second IFIP TC 10 International Conference on Biologically-Inspired Collaborative Computing: September 8–9, 2008, Milano, Italy, New York, NY, 2008, p. 137–149. For general readings on immunocomputing, see: Leandro N. de Castro/Jonathan Timmis, Artificial Immune Systems. A New Computational Intelligence Approach, London (et al.), 2002, and Jonathan Timmis/Peter J. Bentley/Emma Hart, Artificial Immune Systems. Second International Confer- ence (ICARIS): September 1–3, 2003, Edinburgh, UK; Proceedings (Lecture Notes in Computer Science Vol. 2787), Berlin (et al.), 2003. CYBER BIOSPHERE 155 cells, a collection of cells which may cooperate very closely, a collection of cells where the cells may be differentiated into highly specialized ones. Inspiration 2: Follow a federated approach. Biological cells never lost their property of autonomy even in highly complex multi-cell species. Biological systems are federated ones. The blood circula- tion can be interpreted as a trick to “simulate” the environment a cell needs to survive in such a federated multi-cell setting. Social insects may be seen as a copy of the same principle; now using more elaborate “macro cells”. And this principle can be recursively extended. It may not be so surprising that the fed- eration principle can be found using more and more complex “cells”, a princi- ple that reaches up to human societies. Federation seems to be a very useful principle to achieve robustness. Inspiration 3: Elastic division of labor. Usually there is some dedication, some division of labor in federated systems. The degree of this division of labor increases by the complexity of the federal community. However, it can be observed that in most cases there is more or less elasticity. Components of a community dedicated to specific tasks can take over other tasks whenever they receive stimulations beyond their present threshold. This observation certainly is a valuable inspiration for future “Em- bedded Systems”. Our own experiments in the areas of service migration, clustering, or real-time scheduling of media streams did show very robust and fault tolerant behavior when following this principle. Division of labor to- gether with elasticity provides a good compromise between efficiency and avoidance of single points of failure. Inspiration 4: Make use of a broad variation of communication mechanisms. Federated systems following the basic principle of delegation (distribute glob- ally only what to do, let the individual components decide how to do) rely on an adequate communication scheme. It can be observed that nature created the entire range from uni-cast/multi-cast (nerve system) to multi-cast/broad-cast (secreting hormones/cytokines or pheromones) and from dedicated “cabling” (nerve system) via “powerline communication” (hormones/cytokines) to wire- less (pheromone). Common to all these communication approaches is the fact that they are tailored for federated systems. All biological systems are made as a collection of cells and each single cell is equipped with sensors and actua- 156 FRANZ J. RAMMIG tors. All higher order constructions make use of this basic principle. By the same reason similarities can be observed between the different communication concepts. Nerve threads are made by sequences of nerve cells communicating via their synapses making use of the ability of any cell to cause and sense elec- trical potentials. Other capabilities of cells for sensing and acting are given by the ability to expose specific proteins on their surface and to sense the surface of proteins (necessary in any case as part of a cell's digestion system). This principle is used within the hormone system, in immune-networks via cyto- kines, and also when using pheromone for communication. An interesting as- pect is the reuse of energy flows (cardiovascular system) to transmit messages. This is a kind of biological powerline communication. Stigmergy can be seen as transforming hormones or cytokines to a more general environment. An important principle in any case is a decay mechanism for messages, evapora- tion of pheromones in case of ant colony communication via stigmergy. Of course, the communication demands in technical systems differ. However, it is worth to consider biological communication techniques as inspiration as well. Inspiration 5: Delegation. Common to all communication and control techniques in biological systems is the principle of delegation. It is up to a cell how to react on a sensed signal. This reaction may depend of the specific cell type or even cell instance (thus enabling multicast) or on actual environmental or state conditions of a cell. Large, complex systems need a certain degree of self-organization or, even less tight, self-coordination. Under such circumstances pre-planned communi- cation systems seem to be no longer adequate. By the principle of delegation the amount of information to be communicated can be reduced dramatically. More recently the discussion about Cyber Physical Systems (CPS) emerged. It is an attempt to combine two engineering cultures that up to now emerged in a relatively separated manner: highly predictable, hard real-time-driven Em- bedded Systems and the Internet, a communication infrastructure that is based on probabilistic principles. CPSs seem to be a promising approach to build globally distributed, collaborating technical artifacts. One of the fundamental arguments within this community is that the traditional separation into func- tional and non functional properties of computation seems to be no longer adequate when building the deeply embedded but widely distributed systems of the future. Especially abstracting away time which in most areas of comput- ing is a common principle turns out to be a dangerous assumption. The solu- tions proposed include the usage of a strict and very precise global time source and then abstracting this source to a “sparse time”-model.19 Based on such a 19 Hermann Kopetz, “Embedded System Complexity”, in: Self-Optimizing Mechatronic Sys- tems: Design the Future: Technologies for Tomorrow's Mechanical Engineering Products – CYBER BIOSPHERE 157 model adequate OO (Object Oriented) architectures can be built, e.g. using the TMO (Time-Triggered Message-Triggered Object) approach of UC Irvine.20 This approach seems to be completely different from the techniques of han- dling time in biological systems. They tend to follow an approach to approxi- mate and correct afterwards if the approximation turns out to be wrong or not precise enough. It definitely makes no sense to look for inspirations from biol- ogy in an ideological manner. Technology opens potentials that were not available within evolution up to now and these potentials have to be used. Es- tablishing a precise global time base was made possible by GPS and compara- ble systems and as it is available, it should be used. Other aspects addressed in CPS research, however, match relatively well with inspirations we can get from biological systems. As already mentioned several times in this paper, all biological systems are built bottom-up using a strict cell-based approach. These cells are more comparable to components than to objects in the OO sense. Communication is done by signaling values; it then is up to the compo- nents how to react. This basic principle of delegation constitutes much of the success of biological systems and should be considered as a basic principle for CPSs as well. Biological systems do not distinguish between functional and non functional properties. Nature always is aware of resources, is making use of what is available (considers the available “platform”), provides solutions how to handle lacking resources to a certain amount. This is another principle to be considered as inspiration when building CPSs. If such systems are built in a bottom-up manner by creating cells based on and closely adapted to avail- able platforms, being sensitive for certain sets of rules, and being highly adap- tive, capable of learning, then many of the CPSs' challenges might be solvable. Building a generic framework, a Cyber Biosphere (CBS) may be an attempt worth to be worked on. 6 Conclusion In this paper some arguments are presented for taking inspirations from biol- ogy when designing the complex technical artifacts of the future. Using some Dependability and Software Engineering – Design Methods and Tools; 7th International Heinz Nixdorf Symposium Self-Optimizing Mechatronic Systems: February 20–21, 2008, Heinz Nixdorf MuseumsForum, Paderborn, Germany, Paderborn, 2008, p. 469–486, and Hermann Kopetz, “The Complexity Challenge in Embedded System Design”, in: 11th IEEE International Symposium on Object Oriented Real-Time Distributed Computing (ISORC): May 5–7, 2008, Orlando, Florida; Proceedings, Piscataway, NJ, 2008, p. 3–12. 20 Kanghee H. Kim, “Object Structures for Real-Time Systems and Simulators”, in: Computer 30, 8 (1997), p. 62–70, and Kanghee H. Kim/Yuqing Li/Kee-Wook Rim/Eltefaat Shokri, “A Hierarchical Resource Management Scheme Enabled by the TMO Programming Scheme”, in: 11th IEEE International Symposium on Object Oriented Real-Time Distributed Computing (ISORC), 2008: May 5–7, 2008, Orlando, Florida; Proceedings, Piscataway, NJ, 2008, p. 370–376. 158 FRANZ J. RAMMIG examples it has been shown that such inspirations may be helpful especially when the systems have to behave in a robust manner in rapidly changing envi- ronments. However, one should never make the mistake just to copy nature into technical artifacts. Our artifacts have to work in a dependable manner for some years or decades. Nature “thinks” in terms of millions of years, short- term behavior is of minor interest. Nature optimizes the long-term global per- formance; the specific entity is of no interest. Engineers have to consider the single entity they are liable for. Thus, taking inspiration from nature should always be an option but never more than an option among others. References Brinkschulte, Uwe/von Renteln, Alexander/Weiss, Michael, “Analyzing the Behavior of an Artificial Hormone System for Task Allocation”, in: Juan González Nieto (ed.), Proceedings of the 6th International Conference on Autonomic and Trusted Computing, ATC 2009: July 7–9, 2009, Brisbane, Australia, Berlin, Heidelberg, 2009, p. 47–61. Cannon, Walter B., Bodily Changes in Pain, Hunger, Fear and Rage: An Account of Recent Research into the Function of Emotional Excitement, reprint of 2nd ed., New York, NY, 1929. Castro, Leandro N. de/Timmis, Jonathan, Artificial Immune Systems. A New Computa- tional Intelligence Approach, London (et al.), 2002. Ditze, Michael , “Evaluation of an Ant Colony Optimization Based Scheduler for the Transmission of Multimedia Traffic in the 802.11e EDCA”, in: Proceedings of the 3rd ACM Workshop on Wireless Multimedia Networking and Performance Model- ing: October 22nd 2007, Chania, Crete Island, Greece [held in conjunction with the 10th ACM/IEEE International Symposium on Modeling, Analysis, and Simulation of Wireless and Mobile Systems (MSWiM)], New York, NY, 2007, p. 9–15. ―/Becker, Markus, “An Improved Adaptive ACO Meta Heuristic for Scheduling Mul- timedia Traffic Across the 802.11e EDCA”, in: Reza Rejaie/Roger Zimmermann (ed.), Multimedia Computing and Networking 2008: January 30–31, 2008, San Jose, California, USA; Proceedings, Electronic Imaging, Science and Technology, Bel- lingham, WA, 2008, p. 6818–6820. Dorigo, Marco/Manniezzo, Vittorio/Colorni, Alberto, “The Ant System: Optimization by a Colony of Cooperating Agents”, in: IEEE Transactions on Systems, Man, and Cybernetics, Part B 26, 1 (1996), p. 29–41. ―/Stützle, Thomas G., Ant Colony Optimization (A Bradford Book), Cambridge, MA, (et al.), 2004. ―/Birattari, Mauro/Blum, Christian, et al. (eds.), Ant Colony Optimization and Swarm Intelligence. 4th International Workshop, ANTS 2004: September 5–8, 2004, Brus- sels, Belgium; Proceedings (Lecture Notes in Computer Science Vol. 3172), Berlin, 2004. ―/Gambardella, Luca Maria/Birattari, Mauro, et al. (eds.), Ant Colony Optimization and Swarm Intelligence. 5th International Workshop, ANTS 2006: September 4–7, CYBER BIOSPHERE 159 2006, Brussels, Belgium; Proceedings (Lecture Notes in Computer Science Vol. 4150), Berlin, 2006. Dressler, Falko, Self-Organization in Sensor and Actor Networks (Wiley Series in Communications Networking Distributed Systems), Chichester (et al.), 2007. Giese, Holger/Montealegre, Norma/Müller, Thomas/Oberthür, Simon/Schulz, Bernd, “Acute Stress Response for Self-Optimizing Mechatronic Systems”, in: Yi Pan/ Franz J. Rammig, et al. (eds.), 2006 – Biologically Inspired Cooperative Computing, Vol. 216, p. 157–167. Heimfarth, Tales/Janacik, Peter, “Experiments with Biologically-Inspired Methods for Service Assignment in Wireless Sensor Networks”, in: Mike Hinchey/Anastasia Pagnoni, et al. (eds.), Biologically-Inspired Collaborative Computing: IFIP 20th World Computer Congress, Second IFIP TC 10 International Conference on Bio- logically-Inspired Collaborative Computing: September 8–9, 2008, Milano, Italy, Vol. 268, New York, NY, 2008, p. 71–84. ―/Janacik, Peter/Rammig, Franz J., “Self-Organizing Resource-Aware Clustering for Ad Hoc Networks”, in: Proceedings of the 5th IFIP WG 10.2 International Confer- ence on Software Technologies for Embedded and Ubiquitous Systems, Berlin, Hei- delberg, 2007, p. 319–328. Kim, Kanghee H./Li, Yuqing/Rim, Kee-Wook/Shokri, Eltefaat, “A Hierarchical Re- source Management Scheme Enabled by the TMO Programming Scheme”, in: 11th IEEE International Symposium on Object Oriented Real-Time Distributed Comput- ing (ISORC), 2008: May 5–7, 2008, Orlando, Florida; Proceedings, Piscataway, NJ, 2008, p. 370–376. ―, “Object Structures for Real-Time Systems and Simulators”, in: Computer 30, 8 (1997), p. 62–70. Kopetz, Hermann, “Embedded System Complexity”, in: Self-Optimizing Mechatronic Systems: Design the Future: Technologies for Tomorrow's Mechanical Engineering Products – Dependability and Software Engineering – Design Methods and Tools; 7th International Heinz Nixdorf Symposium Self-Optimizing Mechatronic Systems: February 20–21, 2008, Heinz Nixdorf MuseumsForum, Paderborn, Germany, Pad- erborn, 2008, p. 469–486. ―, “The Complexity Challenge in Embedded System Design”, in: 11th IEEE Interna- tional Symposium on Object Oriented Real-Time Distributed Computing (ISORC): May 5–7, 2008, Orlando, Florida; Proceedings, Piscataway, NJ, 2008, p. 3–12. Montealegre, Norma/Rammig, Franz J., “Immuno-Repairing of FPGA Designs”, in: Mike Hinchey/Anastasia Pagnoni/Franz J. Rammig/Hartmut Schmeck (eds.), Bio- logically-Inspired Collaborative Computing: IFIP 20th World Computer Congress [WCC 2008], Second IFIP TC 10 International Conference on Biologically-Inspired Collaborative Computing: September 8–9, 2008, Milano, Italy, New York, NY, 2008, p. 137–149. Oberthür, Simon/Böke, Carsten, “Flexible Resource Management – a Framework for Self-Optimizing Real-Time Systems”, in: Bernd Kleinjohann/Guang R. Gao/Her- mann Kopetz/Lisa Kleinjohanna/Achim Rettberg (eds.), Design Methods and Ap- plications for Distributed Embedded Systems: IFIP 18th World Computer Congress, TC10 Working Conference on Distributed and Parallel Embedded Systems (DIPES 2004): August 22–27, 2004, Toulouse, France, Vol. 268, Boston, MA, (et al.), 2004, p. 177–186. Rammig, Franz J., “Cyber Biosphere for Future Embedded Systems”, in: Uwe Brink- schulte/Tony Givargis/Stefano Russo (eds.), Software Technologies for Embedded 160 FRANZ J. RAMMIG and Ubiquitous Systems (Lecture Notes in Computer Science Vol. 5287), Berlin, Heidelberg, 2008, p. 245–255. Renteln, Alexander von/Brinkschulte, Uwe/Weiss, Michael, “Examinating Task Dis- tribution by an Artificial Hormone System Based Middleware”, in: IEEE Inter- national Symposium on Object Oriented Real-Time Distributed Computing (ISORC), 2008: May 5-7, 2008, Orlando, Florida; Proceedings, Piscataway, NJ, 2008, p. 119–123. Tarakanov, Alexander O./Kvachev, Sergei V./Sukhorukov, Alexander V., “A Formal Immune Network and Its Implementation for On-line Intrusion Detection”, in: Vladimir Gorodetsky/Igor Kotenko/Victor Skormin (eds.), Computer Network Secu- rity (Lecture Notes in Computer Science Vol. 3685), Berlin, Heidelberg, 2005, p. 394–405. Timmis, Jon/Bentley, Peter/Hart, Emma (eds.), Artificial Immune Systems. Second In- ternational Conference (ICARIS): September 1–3, 2003, Edinburgh, UK; Proceed- ings (Lecture Notes in Computer Science Vol. 2787), Berlin (et al.), 2003. WERNER HOLLY TRANSKRIPTIV KONTROLLGEMINDERT. AUTOMATISMEN UND SPRACH-BILD-ÜBERSCHREIBUNGEN IN POLIT-TALKSHOWS 1. Talkshow-Automatismen im Weitwinkel Automatismen allerorten. In der ersten begrifflichen Annäherung (des Pader- borner Graduiertenkollegs1 gleichen Namens) ist der Blickwinkel mit gutem Grund weit: „Als Automatismen bezeichnet man Abläufe, die sich einer be- wussten Kontrolle weitgehend entziehen.“2 Schon ein schneller medienlingu- istischer Blick aus diesem Weitwinkel auf den empirischen Ausschnitt, mit dem ich mich hier befassen werde, auf aktuelle Polit-Talkshows also, enthüllt eine Reihe von Automatismen-Phänomenen, wobei die theoretischen Perspektiven ebenso vielfältig sind. (1) Handlungstheoretisch kann man festhalten: Jeder der dort mehr oder weniger spontan sprechhandelnden Akteure formuliert und performiert nicht durchweg bewusst und kontrolliert. Auch wenn sprachliches Handeln grund- sätzlich kontrollierbar sein muss, sofern es diesen Status verdienen soll, so gibt es doch auch sprachliche Handlungsarten, die als ‚Zwangshandeln‘, ‚Rou- tinehandeln‘ oder ‚Versehenshandeln‘ systematisch anders ablaufen als der Prototyp ‚rationalen Handelns‘, für den Absicht, Wille und Bewusstheit unter- stellt werden können.3 Darüber hinaus hat die ethnomethodologische Konver- sationsanalyse gezeigt, wie Gesprächsverhalten erst einmal quasi automatisch abläuft, sich dabei aber permanent an Erfordernissen der wechselseitigen Ver- ständigung orientiert4, so dass Störungen und Reparaturen keine Unfälle dar- stellen, sondern – transkriptionstheoretisch gewendet – „als konstitutives 1 Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag in der Ringvorlesung des Graduiertenkollegs Auto- matismen im Sommer 2010. 2 Hannelore Bublitz/Roman Marek/Christina L. Steinmann/Hartmut Winkler, „Einleitung“, in: dies. (Hg.), Automatismen, München, 2010, S. 9-16: 9. 3 Werner Holly/Peter Kühn/Ulrich Püschel, „Für einen ‚sinnvollen‘ Handlungsbegriff in der linguistischen Pragmatik“, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 12, (1984), S. 275- 312. 4 Emanuel A. Schegloff/Gail Jefferson/Harvey Sacks, „The Preference for Self-Correction in the Organization of Repair in Conversation“, in: Language 53, 2 (1977), S. 361-382 sowie Emanuel A. Schegloff, „Repair After Next Turn: The Last Structurally Provided Defense of Intersubjectivity in Conversation“, in: American Journal of Sociology, 97 (1992), S. 1295- 1345. 162 WERNER HOLLY Merkmal der Redeentfaltung aufzufassen“ sind.5 Man kann schlussfolgern: Ganz anders als manche Sprachverarbeitungsmodelle dies vorsehen, ist der Sprecher nicht der ununterbrochen souverän voranschreitende Herr über seine Rede, sondern in vielen Fällen nur sein erster Hörer, und er kommt seinen In- tentionen gewissermaßen erst nachträglich auf die Spur, wobei er das, was er sagt, abgleicht mit dem, was er sagen wollte, und es entsprechend „transkri- bierend“ überarbeitet.6 Dass er selbst keinen vorsprachlichen Zugang zu seinen Gedanken hat, sondern dass Sprechen immer an Ausdrucksseiten, also medial gebunden ist, hat ebenso wie die grundsätzliche dialogische Orientierung schon Humboldt sprachtheoretisch entwickelt.7 (2) Natürlich sind die sprechhandelnden Talkshow-Akteure mit ihren indi- viduellen Absichten auch immer auf ein Sprachsystem als irgendwie vorgängi- ge Struktur angewiesen. Sprachtheoretisch gilt also weiter: Beide Einschrän- kungen der Sprecherautonomie in der ‚parole‘, die hier als Prozessmerkmale aufscheinen, finden ihre Entsprechungen auf der Ebene der ‚langue‘ als Struk- turmerkmale von Sprache, als soziales System von materialgebundenen Zei- chen, als soziale Regeln, als soziale Muster, die aber nur – wie die Ethnome- thodologie formuliert – „im Vollzug“ existieren, als soziale Prägungen oder Gestalten8, die der beliebigen Verfügung des Einzelnen und damit seiner un- eingeschränkten Kontrolle entzogen sind. Lange Zeit waren die verschiedenen Sprachtheorien lediglich konkurrierende Modelle; ihre Inkongruenzen moch- ten bestenfalls die Aspektvielfalt von Sprache illustrieren. Die alten gängigen Konzeptualisierungen von Sprache als sozialem System oder als individuell ausgebildetem Organ, wobei diese sich – wenn sie nicht gar auf „innate ideas“ zurückgeführt werden – beide erst im intersubjektiven Gebrauch herausbilden und performativ ständig verändern, setzten nicht nur unvermittelt an den ver- schiedenen Polen der Mikro- bzw. Makroebene an; sie konterkarierten schein- bar die dritte, seit der pragmatischen Wende prominente Auffassung von Spra- che als Handlung, die einerseits (als individuell verfügbares Werkzeug) nach Gutdünken individuelle Absichten und Ziele kommunikativ zur Geltung brin- gen will, andererseits dabei immer darauf angewiesen bleibt, auf soziale Mus- ter und Regeln zurückzugreifen (die in diesem Werkzeug gewissermaßen ein- geschrieben sind). Die Vermittlung der verschiedenen Perspektiven – wie sich also im individuell handelnden Gebrauch vieler Einzelner, hinter deren Rü- cken, ein Sprachsystem herausbildet und ständig wandelt – ist erst relativ spät (dann aber weithin wirksam) explizit als „invisible hand“-Prozess beschrieben worden.9 Die Systemstrukturen sind demnach zwar insgesamt das von keinem 5 Ludwig Jäger, „Verstehen und Störung. Skizze zu den Voraussetzungen einer linguistischen Hermeneutik“, in: Fritz Hermanns/Werner Holly (Hg.), Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens, Tübingen, 2007, S. 25-42: 36. 6 Ebd., S. 34 f. 7 Ebd., S. 30. 8 Helmuth Feilke, Sprache als soziale Gestalt, Frankfurt/M., 1996. 9 Rudi Keller, Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache, Tübingen, 1990. TRANSKRIPTIV KONTROLLGEMINDERT 163 so gewollte Resultat der vielen Einzelakteure, andererseits aber alles andere als deterministische Zwangsjacken, die dem individuellen Handeln keinen Spielraum ließen. Mit der Möglichkeit der Abweichung von der Regel, mit der Ausdrucksvielfalt, mit dem generativen Potenzial der Sprache, mit ihrer immer wieder neuen und schier unerschöpflichen sprachlichen Variation wer- den genügend Elastizität und ständiger Wandel offen und in Gang gehalten. (3) Wenn bisher die Akteure als sprechhandelnd in den Blick genommen wurden, dann war impliziert, dass sie nicht nur Sprache als ein System von verbalen Zeichen verwenden, sondern auch weitere Symbolsysteme, deren willkürliche Verfügbarkeit noch weitaus fraglicher erscheint. Zeichentheore- tisch muss man deshalb hinzufügen: Die Verkörperung von Sprache in Stim- me gehört zu den schwer kontrollierbaren, symptomhaften Anteilen der Se- miose; hier „stoßen alle Ansätze, die das Sprechen als eine intentionale, inter- subjektiv kontrollierbare Tätigkeit zu thematisieren versuchen, an ihre Gren- zen“10. Ähnlich fragwürdig ist der Handlungsstatus der anderen Verhaltensmo- di körperlichen Ausdrucks, die gewöhnlich auch als „Körpersprache“ zusam- mengefasst werden und die seit einiger Zeit auch in die ethnomethodologische Analyse von Gesprächen einbezogen werden11, also Gestikulation, Mimik, Blick, Körperhaltung, Körperorientierung, Position im Raum, Bewegungsar- ten.12 Diese sichtbare Körpersprache macht zusammen mit der hörbaren Stim- me eine körpergebundene primäre Audiovisualität aus, die aber – in unseren Talkshows – nur die im Studio kopräsenten Mitakteure oder ein Studiopubli- kum unmittelbar wahrnehmen können. Für den TV-Rezipienten wird mit der Kommunikationsform13 Fernsehen eine sekundäre Audiovisualität inszeniert, die diese erste Audiovisualität nicht nur selektiv präsentiert und transkriptiv überformt, sondern von Anfang an Zeichen anderer Symbolsysteme hinzufügt und damit eine gänzlich andere Medialität entstehen lässt. Empirische Bei- spiele dafür werde ich später vorführen. (4) Zunächst ist aber im Hinblick auf Automatismen festzuhalten, dass sich damit der Akteur nicht nur der unmittelbaren oder prinzipiellen Dialogizität von Sprache und Körpersprache und ihren interaktiven und systemhaften Be- 10 Sybille Krämer, „Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Me- dialität“, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissen- schaften, Frankfurt/M., 2002, S. 323-346: 340. 11 Charles Goodwin, „Practices of Seeing Visual Analysis: an Ethnomethodological Approach“, in: Theo van Leeuwen/Carey Jewitt (Hg.), Handbook of Visual Analysis, London (u. a.), 2001, S. 157-182 sowie Reinhold Schmitt (Hg.), Koordination. Analysen zur multimodalen Interaktion, Tübingen, 2007. 12 Ein kleines Beispiel riskanter, weil schwer zu kontrollierender (audio-)visueller Selbstdarstel- lung analysiert Werner Holly, „Politische Kommunikation – Perspektiven der Medienlingu- istik. Am Beispiel eines Selbstdarstellungsvideos von Guido Westerwelle“, in: Kersten Sven Roth/Christa Dürscheid (Hg.), Wahl der Wörter – Wahl der Waffen? Sprache und Politik in der Schweiz, Bremen, 2010, S. 167-185. 13 Zum Begriff der Kommunikationsform s. Werner Holly, „Medien, Kommunikationsformen, Textsortenfamilien“, in: Stephan Habscheid (Hg.), Textsorten und sprachliche Handlungs- muster: Linguistische Typen der Kommunikation, Berlin, New York, NY, 2011. 164 WERNER HOLLY dingungen unterworfen sieht, sondern – medientheoretisch betrachtet – dass ihm in einem noch radikaleren und ganz offensichtlichen Sinn die vollständige Kontrolle über sein kommunikatives Handeln genommen wird, indem er dem Inszenierungsdispositiv der Fernsehtechnik, deren eigenständigen Akteuren und deren Mustern ausgeliefert wird. Fernsehen ist eben eine Teamproduk- tion; was herauskommt, kann keiner allein planen und entscheiden, schon gar nicht im performativen Vollzug einer Live-Sendung. Es ergibt sich auch keine klare Resultante als eindeutiges Ergebnis auseinanderstrebender Vektoren; vielmehr entsteht ein Geflecht miteinander verknüpfter, aber durchaus hetero- gener multicodaler und multimodaler Textstränge, die sich dem Rezipienten als offenes Angebot mit semiotischem Überschuss darstellen, ganz wie die Cultural Studies (hierin Roland Barthes und Umberto Eco folgend) dies konzi- piert haben.14 Erst beim Rezipienten findet ja die Schließung statt, d. h. er ent- scheidet letztlich, wie er die Botschaft verstehen will, wenn auch nicht allein und beliebig; dennoch kann dies in erstaunlichen Um- und Missdeutungen enden.15 Selbst wenn man diesen Teil der üblichen (massen-)kommunikativen Kon- tingenz außer Acht lässt, ergibt sich aus der Sicht des Talkshow-Akteurs immer noch ein doppeltes Kontrollproblem, das ihm seine eigene Performanz und die der Fernsehmacher bereiten. Jedenfalls ist er nicht einmal mehr der Endredakteur seiner Botschaft, die – wie zu zeigen sein wird – in beiden Modi der Audiovisualität transkribiert wird, ohne dass ihm unmittelbar die Gelegen- heit gegeben wird, zu autorisieren, was dann am Ende seiner Autorschaft zu- geschrieben wird. Aber auch die Medienmacher, die doch immerhin mit pro- fessioneller Kommunikationskompetenz ausgestattet sind, vermögen nicht, den Gesamtprozess autonom und komplett zu steuern, auch wenn sie sich alle erdenkliche Mühe geben, indem sie drehbuchartig vorstrukturieren und rasch reagierend durch Bahnung und Rückführung begleiten, was sich kommunika- tiv abspielt. Erstens sind bei ihnen selbst nicht alle Steuerungen in einer Hand, zweitens sind die eigentlichen Live-Akteure dann doch zu eigenständig, um sich in ihrer spontanen Performanz wie Marionetten oder wie Schauspieler in einem vorbereiteten und nachbearbeiteten Film vorführen zu lassen. So ergibt sich insgesamt ein multicodales, multimodales und multiauktoria- les Textgeflecht, das ich hier anhand eines empirischen Beispiels mithilfe der schon verschiedentlich angeklungenen Transkriptivitätstheorie Ludwig Jägers in mehreren Schritten beschreiben will, um mindestens einigen der hier umrisse- nen Automatismen etwas genauer auf die Spur zu kommen. Dabei soll es in ei- nem ersten Analyseschritt um den Sprachtext (Abschnitt 4) gehen, dann um die 14 John Fiske, Television Culture, London, 1987 sowie Werner Holly, „‚Wie meine Tante Hul- da, echt‘. Textoffenheit in der Lindenstraße als Produkt- und Rezeptionsphänomen“, in: Mar- tin Jurga (Hg.), Lindenstraße. Produktion und Rezeption einer Erfolgsserie, Opladen, 1995, S. 117-136. 15 Werner Holly/Ulrich Püschel/Jörg Bergmann (Hg.), Der sprechende Zuschauer. Wie wir uns Fernsehen kommunikativ aneignen, Wiesbaden, 2001. TRANSKRIPTIV KONTROLLGEMINDERT 165 wechselseitigen Sprach-Bild-Beziehungen (Abschnitt 5). Doch zunächst (Ab- schnitt 2) einige generelle Anmerkungen zum Jäger’schen Konzept der Trans- kriptivität und zu seiner Relevanz für die hier angedeuteten Automatismen; außerdem noch einige Anmerkungen zum Beispielmaterial (Abschnitt 3). 2. Transkriptivität und Automatismen Die Theorie der Transkriptivität ist eine sehr allgemeine und weitreichende Konzeption der Bedeutungsgenese, für die Ludwig Jäger die These vertritt, dass „Semantik nicht primär durch Referenz auf eine symboltranszendente Welt, sondern durch die intermedialen Kopplungen verschiedener Symbol- systeme generiert“ wird.16 Es ist also – anders als in repräsentationistischen Zeichenmodellen unterstellt – nicht durchweg so, dass wir mit Zeichen un- mittelbar auf eine Realwelt referieren, die sich uns ohnehin zu keinem Zeit- punkt ohne die Vermittlung medial gebundener Symbolsysteme erschlossen hat; vielmehr knüpfen wir prioritär mit Zeichen an (vorige) Zeichen an. Jäger argumentiert, „daß die Fähigkeit von Subjekten mit Zeichen auf Gegenstände einer transsemiotischen Welt Bezug zu nehmen, in Begriffen der Fähigkeit er- klärt werden muß, mit Zeichen auf Zeichen Bezug zu nehmen“17 und verweist dabei auf die Priorisierung inferenzieller vor referenziellen Bezugnahmen, die Brandom18 postuliert hat und mit der er „den repräsentationalen Gehalt von Begriffen und Behauptungen […] an den Raum medialer Diskursivität“ bindet.19 Die Generierung von Sinn ist also im Wesentlichen ein medienimmanenter Prozess, den Jäger – in absichtlich skripturaler Metaphorik – als zweierlei Verfahren der ‚Transkription‘ fasst, ein intramediales und ein intermediales, für die es in allen und zwischen vielen Symbolsystemen gängige kulturelle Praktiken gibt: So wird beispielsweise Gesprochenes in Geschriebenes trans- kribiert, Geschriebenes durch Stimme hörbar gemacht; in der geschriebenen wie gesprochenen Sprache haben wir Zitat, Erwähnung, Paraphrase, Erläute- rung, Explikation, Reformulierung, Übersetzung; in der Bildkunst finden wir Variation, Parodie, Travestie, Persiflage, Pastiche, Allusion, Hommage; in der Musik kennen wir Arrangements, Bearbeitungen, Variationen, Orchestrierun- gen; Sprache wird mit Bildern veranschaulicht oder illustriert, Bilder werden mit Sprache betextet, unterschrieben, beschrieben; Bilder werden mit Musik untermalt, Sprache wird gesungen bzw. vertont, mit Musik begleitet, Musik 16 Ludwig Jäger, „Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik“, in: ders./Ge- org Stanitzek (Hg.), Transkribieren. Medien/Lektüre, München, 2002, S. 19-41: 28. 17 Ludwig Jäger, „Bezugnahmepraktiken. Skizze zur operationalen Logik der Mediensemantik“, Vortrag Aachen, Manuskript, 2007, S. 5. 18 Robert B. Brandom, Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus, Frankfurt/M., 2001. 19 Jäger (2007), Bezugnahmepraktiken S. 5 f. 166 WERNER HOLLY wird mit Sprache betextet, erklärt, und dies sind nur einige wenige, und zwar vergleichsweise auffällige Beispiele im Zusammenhang der wichtigsten Sym- bolsysteme. Weitaus unauffälliger sind die transkriptiven Beziehungen zwi- schen Zeichenarten in komplexen medialen Kommunikationen, etwa die schon erwähnte primäre Audiovisualität in „face to face“-Kommunikationen oder die sekundäre Audiovisualität von Tonfilm, Fernsehen oder Videos mit Ton, wo man von wechselseitiger Transkriptivität ausgehen muss. In Jägers Terminologie sind am Transkriptionsprozess jeweils Paare von ‚Skripturen‘ beteiligt, wobei ‚Präskripte‘ bzw. ‚Skripte‘ durch ‚Transkripte‘ transkribiert werden. Durch die Transkription wird ein Präskript selegiert und so nachträglich zum ‚Skript‘, wobei zwischen Skript und Transkript kein simples Abbildungsverhältnis besteht. Dabei geht es darum, nicht (ausrei- chend) lesbare Präskripte lesbar (oder gerade unlesbar) zu machen. Dies be- trifft auch unmittelbar die Adressierung, denn zweifellos wird durch das ‚An- ders-(un)lesbar-Machen‘ auch die Zugänglichkeit verändert: Nichtlesende Kinder etwa können Bildanteile in Büchern verstehen; weitere Beispiele von Adressierungsveränderungen durch Transkription sind Filme mit Untertiteln, Fernsehnachrichten in Gebärdensprache oder Botschaften in Verschlüsse- lungen. In unserem Beispiel einer Polit-Talkshow muss man also damit rechnen, dass sich die verschiedenen Zeichenarten sowohl jeweils selbst, aber dann auch gegenseitig transkribieren, wobei die einzelnen Akteure – Sprecher wie auch selbst unsichtbar bleibende Inszenateure – Auto- und Heterotranskriptio- nen vornehmen. Dabei überlagern sich die körpergebundenen Sprach- und Körpersprachzeichen mit den technisch kodierten Ton- und Bildartefakten, so dass das Gesamtergebnis ein relativ komplexes audiovisuelles Geflecht von transkriptiven Spuren darstellt, das niemand ganz und gar kontrolliert, auch wenn einzelne Elemente mit mehr oder weniger Berechtigung der Autorschaft von jeweiligen Akteuren zugeschrieben werden. Denn keiner überblickt je, was der andere gleichzeitig transkriptiv unternimmt, geschweige denn, dass die möglichen Skript- und Transkriptqualitäten einhellig beurteilt werden. Im Folgenden werde ich die Sendung und das herangezogene Exemplar, dann den gewählten Ausschnitt kurz rahmend vorstellen, bevor ich mit der eigentlichen Analyse von Sprach- und Bildtextanteilen beginne. 3. Das Beispiel: ein Turn aus der ZDF-Polit-Talkshow „Maybrit Illner“ vom 29. März 2007 Meine exemplarische Analyse verwendet einen Ausschnitt aus einer Aufzeich- nung der ZDF-Polit-Talkshow „Maybrit Illner“ vom 29. März 2007 mit dem Thema: „Lebenslänglich, trotzdem frei: Gnade für die RAF?“; sie stand im Kontext der damals hitzig debattierten Frage, wie sich der Bundespräsident zu TRANSKRIPTIV KONTROLLGEMINDERT 167 einem Gnadengesuch des RAF-Häftlings Christian Klar verhalten solle. Das Format läuft seit dem Jahre 1999 (anfänglich unter dem Namen „Berlin Mitte“) jeweils donnerstags in der Regel ab 22.15 Uhr live und gehört zu den wohletablierten Polit-Talkshows, mit denen die öffentlich-rechtlichen Anstal- ten neben ihren News-Shows und politischen Magazinen ihre Dominanz auf dem Feld der politischen Berichterstattung nach wie vor behaupten. Als Prota- gonisten dieser Sendung waren fünf Gäste geladen, die nach einer Einleitung der Moderatorin Maybrit Illner (s. auf der Abb. 1 unten 3. v. l.) von einer männlichen Stimme aus dem Off zu Beginn folgendermaßen vorgestellt wurden20: Ina Beckurts – ihr mann wurde von RAF-terroristen ermordet [2. v. r.]; Rupert von Plottnitz – er hat RAF-terroristen verteidigt [ganz r.]; Claus Peymann – der berliner intendant hat Christian Klar ein praktikum in seinem theater angeboten [2. v. l.]; Roland Koch – der hessische ministerpräsident fordert: leute wie Peymann dürfen dieses schreckliche kapitel deutscher geschichte nicht noch verklären [3. v. r.]; und Klaus Bölling – der ehemalige regierungssprecher meint: die geschichte der RAF ist nicht wirklich zu ende [ganz l.]. 1 – „Maybrit Illner“ 29.3.2007, Akteure und Setting mit vier Studiokameras Auf der Abbildung sieht man auch, dass die zweite Kamera von rechts den Teleprompter für die Moderatorin integriert hat. Nicht sichtbar sind eine eben- 20 Die Transkription der gesprochenen Sprache orientiert sich zur besseren Lesbarkeit weitge- hend an Rechtschreibnormen, ist aber ohne Interpunktion und in Kleinschreibung gehalten (außer Namen); Gedankenstriche stehen für kurze Stockungen oder Pausen; BB+/- signalisie- ren die Ein- und Ausblendung sogenannter „Bauchbinden“. Dies sind schriftliche Einblen- dungen, die den Namen und die Funktion einer Person erklären; außerdem notiert sind Ein- stellungsdauer und Besonderheiten markierter Einstellungen; Weiteres dazu s. Abschnitt 5. 168 WERNER HOLLY falls zum Einsatz kommende Steadycam und die Krankamera, von der das Bild stammt. Dem Halbrund gegenüber sitzt das Studiopublikum, das gele- gentlich eingeblendet wird. Der Ausschnitt, auf den ich mich hier konzentriere, ist der vorletzte Ab- schnitt in der Reihe von initialen einzelinterviewähnlichen Passagen, die zum Ritual solcher Sendungen gehören. Typisch ist, dass die Antworten der Gäste immer länger werden, weil jeder nächste schon vorangegangene Äußerungen kommentierend transkribiert, womit der (gewöhnlich strittige) Diskurs allmäh- lich in Gang kommt. Nach Peymann (57 sec), Koch (65 sec) und Frau Be- ckurts (75 sec) bringt es nun Rupert von Plottnitz auf 151 Sekunden, nur noch von seinem Nachfolger Klaus Bölling übertroffen, der sogar 250 Sekunden sprechen wird. Vor der Frage an von Plottnitz kommt es zu einer kurzen expli- ziten Rederechtsregelung der Moderatorin (I), weil eigentlich Peymann (P) ge- rade provoziert worden war und deshalb auch kurz ironisch unterbricht21; ihre vollständige Äußerung lautet: I: ja – jetzt müssten hätten wir eingtlich das problem dass er [Peymann] sich da- zu auch äußern möchte und muss – vielleicht darf ich trotzdem ganz kurz wenn sie einverstanden sind P: wieso sie sie ham alle macht in der hand des is äh (lacht) I: nee von macht würd ich nicht reden an dieser stelle ich sach ma ich versuche zu moderieren P: die sprachmacht ja I: ja wenigstens zu verbinden und möchte Rupert von Plottnitz vorstellen sie sind einer der RAFverteidiger in den 75er stammheimprozessen gewesen arbeiten heute wieder als anwalt sind zwischendurch lange jahre grüner politiker ge- wesen – äh um über Christian Klar und seine politischen überzeugungen und die morde reden zu können und darüber reden zu können ob man gnade walten lässt und ihn arbeiten lässt ihn resozialisiert in diesem land müsste er vorher eben begnadigt werden – glauben sie dass das geschehen wird Danach folgt eine Passage mit Äußerungen von Rupert von Plottnitz (vP), die nun ausführlicher zu behandeln ist und die ich zunächst zusammen mit Stills der 20 verwendeten Einstellungen in Tabellenform wiedergebe: 21 Zur Rederechtsverteilung in politischen Fernsehdiskussionen s. Werner Holly/Peter Kühn/Ulrich Püschel, Politische Fernsehdiskussionen. Zur medienspezifischen Inszenierung von Propaganda als Diskussion, Tübingen, 1986. Weitere Turns der Eröffnungsrunde werden im Zusammenhang mit der Kamerainszenierung analysiert in Werner Holly, „Besprochene Bilder – bebildertes Sprechen. Audiovisuelle Transkriptivität in Nachrichtenfilmen und Polit- Talkshows“, in: Arnulf Deppermann/Angelika Linke (Hg.), Sprache intermedial: Stimme und Schrift, Bild und Ton, Berlin, New York, NY, 2010, S. 359-382 und in ders., „Bild- inszenierungen in Talkshows. Medienlinguistische Anmerkungen zu einer Form von ‚Bild- Sprach-Transkription‘, in: Heiko Girnth/Sascha Michel (Hg.), Multimodale Kommunikation in Polit-Talkshows, Stuttgart, (im Erscheinen). TRANSKRIPTIV KONTROLLGEMINDERT 169 [1] (21 sec) (I) vP: also zunächst mal eine kleine richtigstellung ich war nich [BB+] RAFverteidiger ich habe eine bestimmte person verteidigt oder mehrere [BB-] vor dem 1.1.75 die der zugehörigkeit zur RAF beschuldigt waren und der taten die im zusammenhang damit begangen worden sind äh (II) ansonsten also zum einen ä glaub ich tun wir gut daran uns zu erinnern [nach BB Zoom auf Groß] [2] (14 sec) herr Klar ist nicht verurteilt worden weil er gegen den kapitalismus war – das steht jedem frei in der bundesrepublik gegen den kapitalismus zu sein – was er nicht tun darf is äh mit seiner haltung gegen geltendes recht zu verstoßen äh (III) ad 3 frau [Schwenk von ganz rechts nach ganz links] [3] (8 sec) Beckurts hat recht es wird wahnsinnig viel zur zeit darüber geredet aber ich finde es en gebot der fairness daran zu erinnern die [4] (6 sec) betroffenen um die es geht die ä legen offen- sichtlich kein wert darauf über ihre anträge und um die s jeweils geht zu [mit Zoom auf Koch Groß] [5] (4 sec) reden es sind andere wir die darüber reden aber ich finds nich fair denen [6] (3 sec) sozusagen den vorwurf zu machen sie seien schuld daran dass jetz so viel [7] (6 sec) geredet wird die verfahren um die s geht ob gnadenverfahren oder strafvollstreckungsrechtliches entlassungsverfahren 170 WERNER HOLLY [8] (3 sec) das sind nichtöffentliche verfahren und insofern dräng [9] (8 sec) haben sich die betroffenen selbst nicht an die öffentlichkeit gedrängt – (IV) wichtigste fand ich was herr Koch gesagt hat es sind normale mörder also – [mit Rückwärtszoom von Groß auf Nah] [10] (3 sec) da muss ich sagen in der erinnerung an die 70er jahre und [11] (2 sec) sie ham ja gesagt dass ich an der verteidigung in solchen ä [12] (14 sec) strafverfahren beteiligt war äh wären sie nur behandelt worden wie normale mörder in anführungsstrichen aber sie wurden eben nich behandelt wie normale mörder es wurden äh ei es wurde ä ein neues gesetz nach dem andern aus der [Fahrt der Krankamera nach oben bis Mitte] [13] (16 sec) taufe gehoben I: ja vP: aber ich wär ja froh wenn sich nun inzwischen das geändert hat und es keine [BB+] sonderregelung und keine sondervorstellung für die behandlung ä der betroffenen mehr gibt aber dazu ge- hört natürlich [BB-] hat jeder das recht auch ä jeder der der zugehörigkeit zur RAF [mit leichtem Rückwärtszoom] [14] (11 sec) ma beschuldigt war ein gnadenantrag zu stellen und jeder hat das recht wie frau Mohnhaut ein äh Mohnhaupt ein entlassungsantrag zu stellen was im falle von frau Mohnhaupt geschehen ist gehört zum alltag der [Schwenk von links nach rechts] TRANSKRIPTIV KONTROLLGEMINDERT 171 [15] (7 sec) strafvollstreckungsrechtlichen praxis der bundesrepublik jemand der n vierteljahrhundert in haft gesessen hat für dens ein [16] (7 sec) positives prognosegutachten gibt äh der hatn anspruch auf entlassung spätestens seit einer entscheidung des [mit Zoom auf Beckurts Groß] [17] (9 sec) bundesverfassungsgerichts aus dem jahre 1977 also es wäre nich rechtens gewesen sie nicht zu ent- lassen I: und zwar unabhängig davon ob er reue bezeugt hat oder sie reue bekundet hat oder [18] (1 sec) eben nich vP: (V) das mit der reue da muss vielleicht noch [19] (7 sec) ein satz zu der reue weil das auch überall ne rolle spielt I: nee vielleicht n ganz kleiner vP: ob es reuebezeugungen gegeben hat des weiß wissen nur die die die akten kenn [20] (1 sec) das sin ja nichtöffentliche verfahren Tabelle 1: Äußerungen von Rupert von Plottnitz 172 WERNER HOLLY 4. Sprachautomatismen und intramediale Transkriptionen Nach der eigentlich simplen Frage an von Plottnitz zum Thema Begnadigung von Christian Klar (glauben sie, dass das geschehen wird), auf die er in politi- kertypischer Manier überhaupt nicht eingeht, folgt sein Beitrag sprachlich einer klaren, juristisch anmutenden argumentativen Struktur in fünf Teilen, von denen drei den Kern seiner Argumentation ausmachen; davor weist er (Teil I) die Typisierung der Moderatorin (RAFverteidiger) zurück, danach (Teil V) hängt er noch eine Bemerkung zum Thema ‚Reue‘ an, das die Mode- ratorin in einem Zwischenruf eingebracht hatte. Seine eigenständigen drei Punkte betreffen zwei weitere Zurückweisungen, nämlich die Frage, ob die überzeugungen von Klar, die ebenfalls von der Moderatorin ins Spiel gebracht worden waren, eine Rolle spielen dürfen (Teil II), und den Vorwurf, dass zu- viel geredet werde, was er nicht den Antragstellern zugeschrieben haben will (Teil III). Sein zentraler und ausführlichster Punkt (Teil IV) ist ein Plädoyer für eine rechtliche Gleichbehandlung der Häftlinge, die er sich – mit einer Kri- tik an der früher geübten Praxis – nun wünscht. Alle fünf Teile werden expli- zit durch gliedernde und relevanzmarkierende Äußerungen eingeleitet (römi- sche Ziffern beziehen sich auf Spracheinheiten; die Ziffern in eckigen Klam- mern nehmen Bezug auf die Nummerierungen der Einstellungen in der Tabelle): (I) [1] also zunächst mal eine kleine richtigstellung (II) [1] ansonsten also zum einen ä glaub ich (III) [2/3] ad 3 frau Beckurts hat recht (IV) [9] wichtigste fand ich was herr Koch gesagt hat (V) [18/19] das mit der reue da muss vielleicht noch ein satz zu der reue Für unseren Zusammenhang ist interessant, dass alle fünf Teile transkriptiv an andere Äußerungen anschließen, Teil I, II und V an die Formulierungen der Moderatorin (nur nicht an ihre Frage), Teil III wird an eine Äußerung von Frau Beckurts angehängt, Teil IV nimmt geschickt eine Formulierung von Koch auf, wendet sie aber gegen dessen Position. Dadurch erhält sein Beitrag trotz des nicht-responsiven Einstiegs rhetorisch insgesamt das Format diskurs- interner Kohärenz, obwohl er in allen fünf Punkten von den Standpunkten, die er transkribiert, abweicht. Insofern finden wir hier die typische Orientierung an den Gesprächspartnern, die zu den Mustern der performativen Reziprozität gehört. Wie das (konversationsanalytisch sogenannte) „recipient design“ von Äußerungen es vorsieht, macht man seinen Beitrag den andern möglichst ver- ständlich, zum Beispiel indem man – und sei es nur zum Schein – auf ihre Formulierungen und Sichtweisen eingeht. Man kann darin eine Einschränkung der Sprecherautonomie sehen, aber es ist dennoch unbestritten, dass sich da- durch an seiner tatsächlichen Kontrolle nichts ändert. Im Gegenteil, dieses ar- gumentative Vorgehen ist strategisch geplant und versucht sogar, den Kon- TRANSKRIPTIV KONTROLLGEMINDERT 173 trollbereich des Sprechers auszudehnen auf die Domänen der Adressaten, die ja persuasiv dazu gebracht werden sollen, die Dinge ähnlich zu sehen. Anders sieht es auf der Ebene der Formulierungsprozeduren aus, wo sich – wie einleitend schon angedeutet – allerlei findet, das darauf schließen lässt, dass „etwas“ im Sprecher formuliert, das er nicht immer vorbereitend kontrol- liert, so dass sich gelegentlich die Notwendigkeit der Korrektur ergibt. Symp- tomhafte Anzeichen dafür sind jeweils Stellen, die grammatikalisch zumindest auffällig sind; hier einige Beispiele: [3-5] die betroffenen um die es geht die ä legen offensichtlich kein wert darauf über ihre anträge und um die s jeweils geht zu reden [8/9] das sind nichtöffentliche verfahren und insofern dräng haben sich die betroffenen selbst nicht an die öffentlichkeit gedrängt [10] da muss ich sagen in der erinnerung an die 70er jahre [12/13] es wurden äh ei es wurde ä ein neues gesetz nach dem andern aus der taufe gehoben [13] aber ich wär ja froh wenn sich nun inzwischen das geändert hat und es keine sonderregelung und keine sondervorstellung für die behandlung ä der betroffenen mehr gibt [14] jeder hat das recht wie frau Mohnhaut ein äh Mohnhaupt ein entlassungsantrag zu stellen [18/19] das mit der reue da muss vielleicht noch ein satz zu der reue In [3-5] haben wir das merkwürdige Phänomen, dass ein Relativsatz mit und eingeleitet wird, was sich hier so erklären lässt, dass ein solcher nahezu gleichlautender Relativsatz (um die es geht) gerade geäußert worden war, so dass die Koordination mit und hier auch an diesen ersten Relativsatz anknüpft, auch wenn der eigentlich schon abgeschlossen war und deshalb gar nicht mehr koordinierbar ist – ein grammatischer Fehler, aber verständlich. [8/9] ist eine klassische Selbstkorrektur, die sich hier eindeutig auf die Tempusmorphologie bezieht: Statt eines Präsens wird im Verlauf der offen- sichtlich anders geplanten Äußerung nun ein Perfekt eingesetzt. Ähnlich wird in [12/13] die Pluralform des Verbs zu einer Singularform korrigiert, weil dies die gewählte phraseologische Form (ein neues gesetz nach dem andern) so er- fordert, auch wenn es semantisch bei einer Mehrzahl bleibt. In der Selbstkor- rektur von [14] wird nur ein phonetischer Lapsus von Mohnhaut zu Mohn- haupt verändert, allerdings etwas verspätet, so dass unter Wiederholung von ein die Infinitivgruppe ein zweites Mal begonnen werden muss. [10] zeigt den in der gesprochenen Sprache üblichen Nachtragsstil, der zu einer im Schriftlichen seltener verwendeten, aber grammatisch einwandfreien Ausklammerung von Satzgliedern hinter die nicht-finiten Prädikatsteile führt; hier wird die „allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Sprechen“ sinn- fällig, indem die syntaktische Integration zugunsten von desintegrierten und 174 WERNER HOLLY nachgeschobenen, aber eigentlich integrierbaren Sinneinheiten aufgegeben wird.22 In [13] scheint es so, als ob der Sprecher sich vom ursprünglich geplanten irrealen Konditionalsatzgefüge im Konjunktiv II zu einem realen im Indikativ umentschieden habe, was dem Wunsch nach einer geänderten Praxis im Um- gang mit RAF-Häftlingen – gewissermaßen durch sprachliche Beschwörung – einen rhetorisch angestrebten Nachdruck gibt, so als ob die Praxis „wirklich/ real“ jetzt schon anders sei und man den Wunsch deshalb doch lieber gar nicht mehr als Irrealis formuliert wie noch in [12]: wären sie nur behandelt worden wie normale mörder in anführungsstrichen. [18/19] ist ein deutlicher Satzbruch. Der ursprünglich gefasste Plan wird nach muss aufgegeben und ein neuer Satz wird ohne weitere Markierung be- gonnen. Hier ist der Strategiewechsel gut erklärbar durch den Kampf um den floor; die Moderatorin hatte an die vorausgehende Argumentation des Spre- chers einen neuen Gesichtspunkt (Reue) angebunden, allerdings wohl im Sin- ne einer Nachbemerkung, die keinen weiteren Kommentar des vorigen Spre- chers mehr vorsah. Von Plottnitz will sich aber dieses Argument (die Rolle der Reue im Begnadigungsverfahren) als Entkräftung seines Plädoyers nicht ein- fach anhängen lassen; so setzt er zu einem Gegenargument an, das er, als er bemerkt, dass die Moderatorin ihn gar nicht mehr ans Wort lassen will, defen- siv (mit Abtönungspartikel vielleicht) als eine nur kurze Bemerkung ankün- digt: vielleicht noch ein satz zu der reue. So immunisiert er sein Vorhaben und hat damit auch Erfolg, er bleibt am Wort. Alle hier beschriebenen grammatischen Besonderheiten sind wohlbekannte und gut untersuchte typische Phänomene spontan gesprochener Sprache.23 Die meisten sind Anakoluthformen, die sowohl „absichtliche Konstruktionsabbrü- che, aber auch unterlaufene syntaktische Konstruktionswechsel“24 sein kön- nen. Auch wenn man unterstellen kann, dass sie eindeutige Belege für eine sehr dynamische Sprachproduktion sind, die nicht Schritt für Schritt vom In- halt zum Ausdruck vorgeht, sondern beides uno actu hervorbringt, sind sie doch andererseits gerade keine Ergebnisse von Prozessen, die der Kontrolle vollständig entzogen sind; eher sind sie Symptome dafür, dass Sprachproduk- tion grundsätzlich im Modus des Handelns abläuft, das zwar über weite Stre- cken routiniert und automatisiert ist, das aber immer wieder durch Self-Moni- toring der Kontrolle unterworfen und, wenn nötig, einer Korrektur unterzogen wird. Denn das Resultat muss – wie jedes Handeln – grundsätzlich verant- wortet werden. Beide Typen von intramedialen Sprachtranskriptionen, die anderer Sprecher (Heterotranskriptionen) wie die Selbstüberschreibungen (Autotranskriptio- nen), erscheinen hier als Verfahren der Bedeutungsgenerierung, die immer in 22 Siehe auch Johannes Schwitalla, Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung, Berlin, 1997. 23 Siehe z. B. ebd., S. 82-96. 24 Ebd., S. 83. TRANSKRIPTIV KONTROLLGEMINDERT 175 soziale Prozesse eingebunden und damit der vollständigen Autonomie der Sprecher notwendig teilentzogen sind. Erstens müssen sich die Sprecher mit den diskursiven Anschlussoptionen auseinandersetzen und ihre Beiträge ent- sprechend transkriptiv auf diese beziehen, wollen sie „im Gespräch bleiben“. Zweitens müssen sie sich noch viel fundamentaler sozialen Regeln unterwer- fen, die in die Grammatik und Lexik ihrer Sprache eingeschrieben sind und deren routinierte und automatisierte (Nicht-)Beachtung ständig dazu führt, dass ihre Rede daraufhin überprüft werden muss, ob sie den Anforderungen ihrer eigenen Interessen und der grundsätzlichen Verantwortbarkeit des Geäu- ßerten noch standhält, was zu ständigen transkriptiven Überarbeitungsschritten führt. 5. Intermediale Sprach-Bild-Transkriptionen Nun will ich mich erneut dieser Passage zuwenden und beschreiben, wie ande- re Symbolsysteme mit den bisher betrachteten Sprachzeichen in wechselseiti- gen Transkriptivitätsverhältnissen stehen. Dabei lasse ich unberücksichtigt, wie stimmliche und prosodische Merkmale den verbalen Text überformen; so könnte man anmerken, dass man insgesamt den Eindruck haben kann, dass von Plottnitz mit ein wenig trockenem Mund spricht und seine Stimme gele- gentlich etwas zu zittern scheint. Man könnte Stimmhöhenverläufe und rhyth- mische Phänomene genauer analysieren. All das soll hier aber nicht im Detail betrachtet werden. Ich will mich ganz auf Visuelles beschränken, weil es die für Automatismen interessante Struktur aufweist, dass das hier Gezeigte unter geteilter Autorschaft hervorgebracht wird, wie es für die Kommunikations- form Live-Fernsehen konstitutiv ist. Was wir in solchen Talkshows sehen, lässt sich viererlei Qualitäten zuordnen: Erstens gibt es ein räumliches Arrangement, ein ‚Setting‘, das uns wie auf einer Bühne die Protagonisten, aber auch das ihnen gegenüber platzierte Stu- diopublikum in einer bestimmten, mit Bedacht gewählten Sitzanordnung zeigt, umgeben von einer durch wohlüberlegtes Design kreierten Szenerie in be- stimmten Farben, mit bildlichen Elementen usw. Zweitens sehen wir die Protagonisten (und in beschränktem Ausmaß auch das Publikum) mit ihrer körperlichen Performanz, ihrer ‚Körpersprache‘, wo- bei man Mimik, Gestik, Kinesik und Proxemik unterscheiden kann, auch wenn wir all diese – soweit wir sie überhaupt sehen – eher gestalthaft als Ganzheiten wahrnehmen. Drittens werden uns die bisher genannten beiden Elemente des Sichtbaren ausschließlich durch Kamerainszenierungen vermittelt, die als ein eigenständi- ges Zeichensystem von Einstellungen in Abfolgen, hergestellt durch Um- schnitt, aufgefasst werden können; außerdem werden dabei auch noch schrift- lich-grafische Einblendungen in Form von Inserts hinzugefügt, welche die Gäste (nicht die Moderatorin) in ihrer Performanz noch zusätzlich transkribie- 176 WERNER HOLLY ren. Auf die ‚Kamerasprache‘ und ihre Transkriptionsbeziehungen will ich mich im Folgenden konzentrieren, zumal sie ja auch die ersten beiden selektiv aufbereitet und damit in Teilen gewissermaßen eingebettet enthält. Eine vierte Bildqualität werde ich hier gar nicht weiter beachten, nämlich die kleinen Einspielfilme und zusätzlichen Schrifttexte, die in solchen Forma- ten immer häufiger strukturierend und provozierend eingesetzt werden, um der Bilderneigung des Mediums entsprechend für Abwechslung und zusätzliche stimulative Anreize zu sorgen. Diese visuelle Grundstruktur, in der drei von vier Bausteinen der Kontrolle der Gäste entzogen sind und für die vor allem die scheinbar alles steuernde Kameraarbeit, hinter der wiederum mehrere Akteure stehen, den Gesamtein- druck prägt, enthält allein schon ein komplexes Gefüge, das in reziprok trans- kriptiver Kombination mit den Sprachzeichen (wiederum verschiedener Her- kunft) von keinem Einzelnen mehr kontrolliert werden kann und so einen in- termedialen, nur begrenzt koordinierbaren, kollektiv hervorgebrachten Resul- tatmix von Handlungen, Verhaltensweisen und Automatismen ergibt. 5.1 Allgemeines und Struktur Betrachtet man die 20 Einstellungen des Ausschnitts im Überblick, fällt zu- nächst auf, dass sie einen strikten Wechsel von erwartbaren Nahaufnahmen des Sprechers und jeweils anderen, „markierten“ Einstellungen bieten. Daraus lässt sich folgern, dass die Bilder vom Sprecher der natürlichen Tendenz fol- gen, denjenigen zu betrachten, der gerade spricht, allerdings auch nicht „un- verwandt“, sondern mit gelegentlichen Unterbrechungen. Der Bildanteil, den die Sprecher allein erhalten, schwankt in der genauer untersuchten ersten Run- de von Statements zwischen 80 % und 55 %, und zwar abnehmend mit zuneh- mender Sprechdauer: Je kürzer einer spricht, desto eher hat er die Chance, ausschließlich im Bild zu sein. Das natürliche Bedürfnis des Auges nach Reiz- erneuerung scheint auch die Kamera zu leiten; nach einer Weile der Konzen- tration auf den Sprecher beginnt der Blick zu schweifen; je mehr Zeit ein Red- ner für sich in Anspruch nimmt, desto häufiger und länger geht die Kamera auf die Suche nach anderen Blickfängen. Immerhin ist in anderen Einstellun- gen, bei Schwenks, Fahrten und Schulterschüssen, der Sprecher gelegentlich auch noch zu sehen, allerdings eben nicht allein. In unserer Passage, die als vorletztes Statement der Eröffnungsrunde mit 151 Sekunden ja schon ziemlich lang ist, bekommt von Plottnitz allein nur noch ca. 58 % der Bilder, der Rest zeigt (auch) andere. Man könnte die ganze Plottnitz-Passage als symmetrisch aus zwei, etwa gleich langen 10er-Paketen von Einstellungen gebaut sehen (wie man anhand der Stills in der Tabelle vorne in etwa nachvollziehen kann). Den Anfang macht die insgesamt längste Einstellung des Sprechers, die durch eine eingeblendete „Bauchbinde“ mit dem Namen und dem Etikett „ehemaliger RAF-Anwalt“ schon ein Element optischer Variation enthält. Danach wird mit einem ausführlichen Schwenk TRANSKRIPTIV KONTROLLGEMINDERT 177 über die ganze Runde von rechts nach links, der mit 14 Sekunden immerhin zwei Drittel der ersten Einstellung dauert, eine Art Gegengewicht gesetzt. In der Folge werden zwischen 8, 4, 6 und 8 Sekunden langen Sprecherbildern Andere gezeigt, zuerst ein Blick über sein Ohr auf Koch, immerhin 6 Sekun- den lang, dann jeweils 3 Sekunden lange Einblendungen von Peymann, Böl- ling und wieder Koch. Die zweite Hälfte markiert nach einem 2 Sekunden kurzen Sprecherbild einen größeren Abschnitt, und zwar mit einer großen 14-Sekunden-Fahrt über den Rücken des Sprechers nach oben auf die ganze Runde und schließlich nach vorne zu einer Frontalansicht, die von oben einen generalisierenden Überblick verschafft. Danach kehrt man wieder zum Strickmuster der ersten Hälfte zurück: ziemlich langes Bild vom Sprecher (16 Sekunden), erneut durch eine „Bauchbinde“ aufgelockert, dann ein ausführlicher Schwenk durch die ganze Runde, diesmal von links nach rechts (11 Sekunden). Dann folgen zwischen 7 und 9 Sekunden lange Sprecherbilder, jeweils unterbrochen zu- nächst von einem relativ langen Dialogbild (Ohr von Plottnitz auf Beckurts, 7 Sekunden), dann von 1-sekündigen Bildern der Moderatorin und Peymanns. Man kann in einer solchen Einstellungsabfolge vor allem das Bestreben der Kameraarbeit erkennen, durch einen Rhythmus von längeren und kürzeren Einstellungen heterogenen Bedürfnissen gerecht zu werden: Erstens soll der Sprecher ins Bild gesetzt werden, damit man seinen Äußerungen besser folgen kann; dabei sollen aber auch seine Sprachäußerungen profilierend transkribiert werden, durch eine Art optischer Kommentare. Zweitens soll dieser Sprecher- beitrag und die ganze Sendung optisch gegliedert und rhythmisch dynamisiert werden, um eintönige Längen zu vermeiden und immer wieder Überblicke über die ganze Runde und ihren Zustand zu verschaffen; es geht also um Strukturierungen in einer Mikro- und Makroperspektive. Drittens wird eine zusätzliche Dramatisierung angestrebt, indem durch transkriptive Einblendung anderer Gäste (und des Publikums) Beteiligungsrollen herausgearbeitet oder auch nur angedeutet werden, so dass das jeweils gerade Gesagte in bestimmter Weise transkriptiv kontextualisiert werden kann. Während ich es für den zwei- ten Aspekt, die Strukturierung im Ganzen und im Detail, bei den bisherigen Andeutungen belassen will, sollen für den ersten und den dritten Aspekt, also die Sprecherprofilierung und die visuelle Inszenierung von Beteiligungsrollen, einige Beispiele gegeben werden, damit deutlicher wird, inwiefern dabei durch wechselseitige Bild-Sprach-Transkriptionen audiovisuelle Zeichenkomplexe entstehen, die von keinem Einzelnen mehr kontrolliert werden können, so dass wir es tatsächlich mit Automatismen zu tun haben. Auch sie folgen – so die These – gewissen Mustern, die sich aus der Mischung von gezielten Handlun- gen sprachlicher und bildinszenatorischer Art und einem unkalkulierbaren Zu- fallsfaktor ergeben. 178 WERNER HOLLY 5.2 Sprecherprofilierung Das redaktionelle „Drehbuch“ der Talkshow, das für jeden Gast eine be- stimmte Rolle mit bestimmten Erwartungen vorsieht, hat von Plottnitz als „ehemaligen RAF-Anwalt“ etikettiert, was ihm – nach der entsprechenden Vorstellung zu Beginn und dann noch einmal durch die Moderatorin in der Frage – auch noch zweimal per Insert unter seinen Kopf geschoben wird. Des- halb ist es bemerkenswert, dass er sein Statement mit der expliziten Zurück- weisung dieser Typisierung beginnt (eine kleine richtigstellung); er legt Wert darauf, dass er nicht die RAF verteidigt hat, sondern einzelne Personen, die der zugehörigkeit zur RAF beschuldigt waren, eine durchaus relevante Unter- scheidung. Das hindert die Bildregie allerdings nicht daran, an ihrer plakativen Sichtweise auch während seines Dementis festzuhalten und sie später zu wie- derholen. Damit wird ein Widerspruch zwischen seiner eigenen sprachlichen Darstellung und seiner schriftbildlichen Identifizierung von außen aufgerissen, der nirgendwo bearbeitet und aufgelöst wird. Die Standardeinstellung zeigt ihn, der im Bild ganz rechts außen sitzt und sich deshalb in Richtung Moderatorin und Diskussionsrunde leicht nach rechts dreht, überwiegend mit seiner linken Gesichtsseite (so die Stills in 1, 5, 11, 13, 15, 17, 19); nur gelegentlich dreht er den Kopf etwas gerade oder nach links in Richtung Publikum oder Kamera, ohne allerdings direkt in die Kamera zu se- hen (so etwa zu erkennen in 3, 7, 9). Bisweilen werden, obwohl kaum mehr als sein Kopf im Bild ist, auch seine gestikulierenden Hände sichtbar (wieder- gegeben z. B. in den Stills 11 und 19), die vor allem sprachliche Akzente be- gleitend unterstreichen, um das jeweils Gesagte nicht nur prosodisch hervor- zuheben, so z. B. denen in [5], wichtigste in [9], alltag in [14], anspruch in [16]. An zwei Stellen kommen zusätzliche körpersprachliche Besonderheiten ins Bild, einmal während der großen Fahrt in [12], wo er bei normale mörder in anführungsstrichen mit beiden Zeigefingern die Anführungsstriche in die Luft zeichnet (nicht auf die amerikanische Weise mit gekrümmten Zeige- und Mittelfingern); zum andern hebt er in [19] sehr auffällig den Kopf, um durch diesen visuellen Versuch der Dominanzmarkierung und beherztes Weiterreden deutlich zu machen, dass er noch am Wort bleiben will, obwohl die Moderato- rin ihn schon in [17] unterbrochen hatte und dies als Abschlusssignal für seinen Turn verstanden haben wollte. Dennoch ist seine visuelle Performanz insgesamt eher unaufgeregt und ent- sprechend wenig aufsehenerregend; er sitzt mit übergeschlagenen Beinen und zurückgelehnt aufrecht in seinem Stuhl, wirkt mit seinem braunen Jackett und korrekter Krawatte wie ein durchschnittlicher Talkshow-Gast, also ziemlich unauffällig, was seinem Image als Juristen nicht widerspricht, aber auch nicht das Klischee eines grünen Politikers und Verteidigers von Linksextremisten erfüllt. Dem unauffälligen Erscheinungsbild entspricht die juristenhafte, etwas penible Diktion mit sehr argumentativem Gestus, die durchweg nicht-politi- sche, sondern quasi unanfechtbare Rechtsstandpunkte vertritt, allerdings auch TRANSKRIPTIV KONTROLLGEMINDERT 179 nicht polarisierend, so dass sein Gesamtunterhaltungswert für die Talkshow- Macher nicht eben hoch zu sein scheint. So ist es durchaus verständlich, dass sich die Kamera – nach einer längeren Anfangseinstellung – anderem zu- wendet. Wenn man für die Sprecherprofilierung die Hauptfunktion der Zuwendung und Abwendung der Kamera darin sieht, dem Zuschauer Hinweise darauf zu geben, ob bei diesem Sprecher gerade etwas Interessantes passiert, dann kann man sie als eine visuelle Art von halbintentionalem face work im Sinne Goff- mans25 verstehen, mit dem Respekt und Interesse ausgedrückt werden (als Face-Bestätigungen) oder eben Rückzug und Wegschauen, um entweder imageschonend Peinlichkeiten nicht zu verstärken oder sogar aggressiv Desin- teresse zu markieren. Dabei kann allerdings passieren, dass durch die damit einhergehende Transkription des Gesagten eine sekundäre Gewichtung von Redeteilen passiert, die von der Bildregie gar nicht semantisch gesteuert wer- den kann; deshalb ergibt sich im Sinne unseres Kontexts dadurch ein weiterer Automatismen-Effekt. Betrachtet man also noch einmal genauer, was von Plottnitz sagt und wel- che seiner Redeteile von der Aufmerksamkeit der Kamera begleitet werden und welche nicht, so kommt man zu einem erstaunlichen Befund. In vielen Fällen sind es gerade die Aussagekerne, die ‚rhematischen‘ Teile seiner For- mulierungen26, bei denen er nicht mehr im Bild ist. Man könnte den Eindruck bekommen, dass fast sinnwidrig die nur ‚thematischen Teile‘, das, was er als bekannt voraussetzt, optisch verstärkt wird, während seine inhaltlichen Schwerpunkte die visuelle Performanzunterstützung durch Entzug der Körper- sprachbilder verloren haben. Sprecher von Plottnitz im On: Sprecher von Plottnitz im Off: [1] (21 sec) vP: (I) also zunächst mal [2] (14 sec) herr Klar ist nicht ver- eine kleine richtigstellung ich war urteilt worden weil er gegen den nich [BB+] RAFverteidiger ich habe kapitalismus war – das steht jedem eine bestimmte person verteidigt oder frei in der bundesrepublik gegen den mehrere [BB-] vor dem 1.1.75 die der kapitalismus zu sein – was er nicht zugehörigkeit zur RAF beschuldigt tun darf is äh mit seiner haltung 25 Siehe dazu Erving Goffman, Interaction Ritual: Essays on Face-to-Face-Behavior, New York, NY, 1967; für die linguistische Gesprächsanalyse auch Werner Holly, Imagearbeit in Gesprächen. Zur linguistischen Beschreibung des Beziehungsaspekts, Tübingen, 1979 und ders., „Beziehungsmanagement und Imagearbeit“, in: Klaus Brinker/Gerd Antos/Wolfgang Heinemann (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zur zeitge- nössischen Forschung, 2. Halbbd., Berlin, 2001, S. 1382-1393. 26 Zusammenfassend zu den Begriffen ‚Rhema‘, ‚Thema‘ und zur Thema-Rhema-Struktur s. Peter von Polenz, Deutsche Satzsemantik, 3. Aufl., Berlin, New York, NY, 2008, S. 290 ff. 180 WERNER HOLLY waren und der taten die im gegen geltendes recht zu verstoßen äh zusammenhang damit begangen (III) ad 3 frau worden sind äh (II) ansonsten also zum einen ä glaub ich tun wir gut daran uns zu erinnern [3] (8 sec) Beckurts hat recht es wird [4] (6 sec) betroffenen um die es geht wahnsinnig viel zur zeit darüber ge- die ä legen offensichtlich kein wert redet aber ich finde es en gebot der darauf über ihre anträge und um die s fairness daran zu erinnern die jeweils geht zu [5] (4 sec) reden es sind andere wir [6] (3 sec) sozusagen den vorwurf zu die darüber reden aber ich finds nich machen sie seien schuld daran dass fair denen jetz so viel [7] (6 sec) geredet wird die verfahren [8] (3 sec) das sind nichtöffentliche um die s geht ob gnadenverfahren verfahren und insofern dräng oder strafvollstreckungsrechtliches entlassungsverfahren [9] (8 sec) haben sich die betroffenen [10] (3 sec) da muss ich sagen in der selbst nicht an die öffentlichkeit ge- erinnerung an die 70er jahre und drängt – (IV) wichtigste fand ich was herr Koch gesagt hat es sind normale mörder also – [11] (2 sec) sie ham ja gesagt dass ich [12] (14 sec) strafverfahren beteiligt an der verteidigung in solchen ä war äh wären sie nur behandelt worden wie normale mörder in anführungsstrichen aber sie wurden eben nich behandelt wie normale mörder es wurden äh ei es wurde ä ein neues gesetz nach dem andern aus der [13] (16 sec) taufe gehoben I: ja vP: [14] (11 sec) ma beschuldigt war ein aber ich wär ja froh wenn sich nun in- gnadenantrag zu stellen und jeder hat TRANSKRIPTIV KONTROLLGEMINDERT 181 zwischen das geändert hat und es das recht wie frau Mohnhaut ein äh keine [BB+] sonderregelung und Mohnhaupt ein entlassungsantrag zu keine sondervorstellung für die stellen was im falle von frau Mohn- behandlung ä der betroffenen mehr haupt geschehen ist gehört zum alltag gibt aber dazu gehört natürlich [BB-] der hat jeder das recht auch ä jeder der der zugehörigkeit zur RAF [15] (7 sec) strafvollstreckungsrecht- [16] (7 sec) positives prognosegut- lichen praxis der bundesrepublik achten gibt äh der hatn anspruch auf jemand der n vierteljahrhundert in entlassung spätestens seit einer haft gesessen hat für dens ein entscheidung des [17] (9 sec) [18] (1 sec) eben nich bundesverfassungsgerichts aus dem vP: (V) das mit der reue da muss jahre 1977 also es wäre nich rechtens vielleicht noch gewesen sie nicht zu entlassen I: und zwar unabhängig davon ob er reue bezeugt hat oder sie reue be- kundet hat oder [19] (7 sec) ein satz zu der reue weil [20] (1 sec) das sin ja nichtöffentliche das auch überall ne rolle spielt verfahren I: nee vielleicht n ganz kleiner vP: ob es reuebezeugungen gegeben hat des weiß wissen nur die die die akten kenn Tabelle 2: Sprecher von Plottnitz im On und im Off Folgen wir dazu noch einmal dem Sprechertext in Tabelle 2: Hier sind stark ‚rhematische‘ Teile nicht-kursiv markiert, um sie von der Kursivschreibung nicht-rhematischer Teile klar abzusetzen. Die linke Spalte enthält die Passagen mit von Plottnitz im On, die rechte Spalte zeigt die Teile, für die man ihn (überwiegend) als Off-Sprecher nur hört – kleinste Stücke bei Schwenks und Fahrten ausgenommen. Im Teil I seines Beitrags geht es – wie oben schon ausgeführt – um die Zu- rückweisung der Etikettierung als „RAF-Anwalt“; zwar spricht er während seiner zentralen Aussage dazu (I) [1] ich war nicht RAFverteidiger 182 WERNER HOLLY selbst im On, aber gerade, als er das ominöse Prädikat ausspricht, schaltet man das Insert mit der ihm widersprechenden Bezeichnung. Teil II seiner Ausführungen behandelt die Frage, ob es im Zusammenhang mit der Begnadigungsfrage um die Überzeugungen von Christian Klar gehen dürfe oder solle. Noch zu Beginn seiner Argumentation dazu sieht man ihn im Bild, allerdings nur solange, wie der rahmende Matrixsatz dauert (zum einen ä glaub ich tun wir gut daran uns zu erinnern). Im Moment, als er die zentrale Aussage formuliert, (II) [2] herr Klar ist nicht verurteilt worden weil er gegen den kapitalismus war – das steht jedem frei geht die Kamera auf Wanderschaft zu einem ausführlichen Schwenk nach links über die ganze Runde, kein Zeichen von erhöhter Aufmerksamkeit für seine Worte. Als er Teil III beginnt, wo es um die Frage geht, wer eigentlich jetzt so viel in der Öffentlichkeit über die Begnadigungsfrage redet, bekommt er die Ka- mera zurück, allerdings auch wieder nur für den thematischen Teil seiner Äu- ßerung, mit der er an Frau Beckurts anschließt und Fairness einfordert; wiede- rum ist es nur der Matrixsatz (daran zu erinnern), bei dem er noch zu sehen ist. Während des rhematischen Kerns (III) [3] die [4] betroffenen um die es geht die ä legen offensichtlich kein wert darauf über ihre anträge und um die s jeweils geht zu [5] reden schneidet man um zu einer dialogisierenden Perspektive auf Roland Koch. Auch zwei weitere wesentliche Argumente dieses Teils lassen ihn als Sprecher im Off, lediglich der letzte rhematische Part hat ihn wieder im On: (III) [6] den vorwurf zu machen sie seien schuld daran dass jetz so viel [7] ge- redet wird (III) [8] das sind nichtöffentliche verfahren (III) [9] haben sich die betroffenen selbst nicht an die öffentlichkeit gedrängt Am auffälligsten ist sicherlich, dass er im Teil IV, der sein zentrales Anliegen enthält, nämlich die Auffassung, man müsse die RAF-Leute behandeln wie alle andern, wieder nur während des rahmenden Vorspanns im Bild ist. Gerade als er sogar mit rhetorischem Aufwand (Wunschsatz im Irrealis, Contradictio, Repetitio) zum Höhepunkt ansetzt, (IV) [12] wären sie nur behandelt worden wie normale mörder in anführungsstri- chen aber sie wurden eben nich behandelt wie normale mörder hat die Kamera sich schon wieder in Bewegung gesetzt, diesmal auf großer Fahrt vom Kran aus zum Übersichtspunkt, der das Ganze ins Auge nimmt. Damit ist seinem Hauptargument optisch der Wind aus den Segeln genommen. Auch im weiteren Verlauf dieser Passage IV sind zwei von drei Kernaussagen ins Off geraten, lediglich die letzte (IV) [17] zeigt ihn wieder sprechend, aller- dings ist sie mit einer doppelten Verneinung nicht gerade zündend formuliert: TRANSKRIPTIV KONTROLLGEMINDERT 183 (IV) [13] natürlich hat jeder das recht […] [14] ein gnadenantrag zu stellen […] was im falle von frau Mohnhaupt geschehen ist gehört zum alltag […] (IV) [15] jemand […] für dens ein [16] […] positives prognosegutachten gibt äh der hatn anspruch auf entlassung (IV) [17] es wäre nich rechtens gewesen sie nicht zu entlassen Was hier gezeigt werden kann, ist die transkriptive Tendenz der Kamerainsze- nierung, der sprachlichen Bemühung um Gewichtung, die vor allem durch Reihenfolge und Akzent vorgenommen wird, eine gegenläufige Aufmerksam- keitsstruktur entgegenzusetzen, indem die Kamera meistens, wenn es sprach- lich relevant wird, sich vom Sprecher abwendet. Wahrscheinlich würde eine bewusste und gezielte Inszenierung, wie man sie in Kinofilmen verwendet, ge- rade nicht so verfahren. Der ad hoc hergestellte Umschnitt der Live-Gestal- tung kann wohl nicht ausreichend absehen, wo sprachliche Gewichtungen vor- genommen werden sollen; so wenig, wie der Sprecher weiß oder gar kontrol- lieren kann, wie er ins Bild gesetzt wird oder eben nicht, so wenig kann die Bildregie die sprachlichen Muster vorhersehen oder gar kontrollieren, so dass das Ergebnis ein unkontrolliertes Muster ergibt, wie es Automatismen eben er- zeugen. Es mag ein Zufall sein, dass Ab- und Zuwendungen der Kamera hier gegen die sprachlichen Relevanzsetzungen laufen; es kann auch sein, dass der Sprecher durch seine etwas umständlichen Einleitungen und zu langen Matrix- satzformulierungen eine gewisse gelangweilte Ungeduld erzeugt, die von der Bildregie mit Umschnitten beantwortet wird. Dabei soll aber nicht behauptet werden, die Bildinszenierung beeinträchtige das Verstehen, wie es seinerzeit die These der „Text-Bild-Schere“27 für die Nachrichtenberichterstattung nahelegte. Es soll lediglich gezeigt werden, wie durch das nicht gänzlich kontrollierte wechselseitige transkriptive Zusammen- spiel von Sprecher und Kamerabildern/Bildregie ein Interpretationspotenzial entsteht, das vieldeutig und zum Teil widersprüchlich wahrgenommen werden kann. Es wäre sicherlich unmöglich und auch hermeneutisch sinnlos, ein gene- relles Rezeptionsmuster solcher Passagen zu unterstellen. Deshalb kann hier nur auf der Ebene der Textanalyse ein Zeichenpotenzial ermittelt werden, das sicherlich ausreichend Spielraum und Variation in der jeweiligen individuellen Rezeption zulässt. Weil die Kamera im Wechselspiel von On- und Off-Sprecher-Bildern auch weiteres Material ins Spiel bringt, d. h. Bilder von anderen Gästen (bzw. der Moderatorin und dem Studiopublikum), muss auch nach deren transkriptivem Potenzial gefragt werden. 5.3 Inszenierung weiterer Beteiligungsrollen Unser Ausschnitt zeigt, dass es alternativ zu den Bildern vom aktuellen Spre- cher zwei Typen von Bildern gibt: Solche, die in erster Linie dadurch moti- 27 Bernward Wember, Wie informiert das Fernsehen?, München, 1976. 184 WERNER HOLLY viert sind, dass Abwechslung geboten werden soll; dazu gehören die Schwenks und Fahrten über mehrere andere hinweg; dann aber solche, die ge- zielte Auswahlen von aktuellen Hörern zeigen und diesen bestimmte Beteili- gungsrollen zuweisen, wobei es wiederum zwei Möglichkeiten gibt, nämlich solche, die der aktuelle Sprecher angesprochen oder erwähnt und dadurch als interessante Reagenten ins Spiel gebracht hat, und selbstständige Wahlen der Bildregie, die dadurch einen Anwesenden als irgendwie betroffen kontextuali- sieren, sei es wegen eines soeben vom Sprecher transkribierten früheren Bei- trags, sei es als potenziell zustimmend oder ablehnend, so dass seine körper- sprachliche Reaktion wiederum transkriptiv in Bezug auf den aktuellen Rede- beitrag gelesen werden kann. Alle drei Typen führen möglicherweise zu un- vorhergesehenen Sprach-Bild-Transkriptionsbeziehungen, da keiner weiß, wie der im Bild Gezeigte letztlich reagiert, ob der Bezug den Erwartungen entspre- chen wird oder nicht, so dass ein durchaus erwünschtes Spannungsmoment entsteht. Die zwei Schwenks ([2], [14]) und die Fahrt ([12]) in unserem Beispiel können illustrieren, dass dabei unkontrollierte Automatismen-Muster entste- hen können. Während von Plottnitz im Teil II seiner Rede die zentrale Aus- sage formuliert (herr Klar ist nicht verurteilt worden weil er gegen den kapita- lismus war – das steht jedem frei in der bundesrepublik gegen den kapitalis- mus zu sein …) wandert die Kamera in [2] auf Frau Beckurts, die ihn nicht an- sieht, sondern starr geradeaus, dann zu Roland Koch, der unverwandt nach links unten, immerhin in seine Richtung blickt, dann über die Moderatorin zu Claus Peymann und Klaus Bölling, die alle drei den Sprecher anblicken; am Schluss der Fahrt bleibt die Kamera auf einer Doppelansicht von Peymann (rechts) und Bölling (links); am Ende der Aussage blickt Bölling leicht indig- niert nach rechts vorne in Richtung Publikum, wobei er die Hand zum Kopf hebt, um sich am Kopf zu kratzen, was wiederum von Peymann minimal zeit- versetzt in einer parallelen Armbewegung begleitet wird, weil er die Hand zum Kinn führt; das Ganze wirkt – sicherlich nicht beabsichtigt – wie ein kon- zertierter Ausdruck von Unbehagen oder Skepsis, wenn nicht sogar von Miss- billigung der gerade gehörten Argumentation (Abb. 2). 2 und 3 – links: parallele Armbewegung von Claus Peymann und Klaus Bölling; rechts: die Sprecheraussage findet keine Billigung bei Roland Koch und Ina Beckurts TRANSKRIPTIV KONTROLLGEMINDERT 185 Auch die Reaktionen, die der zweite Schwenk in [14] vermittelt, sind überwie- gend zurückhaltend bis negativ. Nun geht die Bewegung von Bölling aus nach rechts, er blickt regungslos geradeaus, Peymann bewegt sich nach dem Beginn der Kernaussage dieses Teils IV (jeder hat das recht …) hüstelnd nach vorne, die Kamera zieht weiter über die Moderatorin auf Koch und Frau Beckurts, wobei die beiden letzteren nach vorne (unten) blicken und sich erst am Ende seines Arguments (was im falle von frau Mohnhaupt geschehen ist gehört zum alltag) mit dem Kopf zum Sprecher drehen, sie schnell mit aufgerissenen Au- gen, er langsamer (Abb. 3). Die Aussage weckt offensichtlich Interesse (am deutlichsten übrigens bei der Moderatorin, die fragend den Kopf hebt), findet allerdings keine Billigung bei den beiden anderen. Die Fahrt in [12] ist oben ja schon unter dem Gesichtspunkt der Abwen- dung vom Sprecher gerade an seinem rhetorischen Höhepunkt gedeutet wor- den. Sie zeigt noch weitere Aspekte, die im Bezug auf die Transkription von Interesse sind: Während am Anfang Peymann sich die Hand in die Tasche steckt und im Stuhl ruckelt (Abb. 4), Frau Beckurts sogar zunächst beim Stichwort normale Mörder leicht nickt (Abb. 5), sieht man später, wie Roland Koch (gelangweilt?) nach seinem Glas greift (Abb. 6) und Bölling (unge- duldig, er hat noch nicht gesprochen) sich einatmend zurücklehnt (Abb. 7): 4 bis 7 – Kamerafahrt in Einstellung [12] 186 WERNER HOLLY Wenn die Kamera in solchen Überblicksbildern auch einen Gesamteindruck von ersten Reaktionen zeigt, dann sehen wir hier, dass in allen Lagern, bei po- tenziellen Befürwortern wie Gegnern seiner Haltung, Reserve bis Ablehnung vorherrscht und damit seine Äußerungen entsprechend transkribiert werden. Die Einblendung einzelner anderer ist unterschiedlich motiviert. Am deut- lichsten ist das Bild von Koch in [10], der unmittelbar zuvor von Plottnitz als Stichwortgeber genannt worden war, also eine klare Sprecherwahl. Er zeigt auch eine schöne Reaktion, die transkriptiv bedeutsam ist: Zunächst sieht man ihn noch in die Richtung des Sprechers blicken; als klar wird, dass nun eine Argumentation folgt, die nicht in seinem Sinne ist, wendet er den Blick mit ei- ner Kopfdrehung sichtbar ab. Der sprachliche Bezug auf Beckurts schon vor- her führte nicht zu einer entsprechenden Einblendung, vermutlich, weil der Sprecher selbst erst gerade wieder ins Bild gekommen war; als dann in [4] ein Hörer eingeblendet wird, ist es da schon Koch, an den die Kamera sogar so nah heranzoomt, dass man erkennt, wie er zwischendurch die Pupille auf die Kamera richtet, insgesamt aber skeptisch von der Seite blickt. So wirkt er wie ein spezieller Adressat dieses Textabschnitts. Als Unterstützer kommt in [6] Peymann ins Bild, der zur Zurückweisung von „Schuld für das viele Gerede“ leicht zu nicken scheint. Wenn er ganz am Ende in [20] noch einmal kurz gezeigt wird, scheint das eher einem Prinzip der Variation zu folgen, keinem inhaltlichen Grund. Ähnlich neutral wirkt auch Bölling, der schon in [8] eingeblendet wird, man sieht ihn vorgebeugt und quasi kampfbereit, wie er sich die Lippen leckt. Nach Fahrt und Schwenk wird erst in [16] wieder eine Einzelreaktion gezeigt, diesmal ein Zoom auf Frau Beckurts, die zur These vom Anspruch auf Entlassung von Frau Mohn- haupt erwartungsgemäß äußerst ablehnend direkt auf den Sprecher schaut. Dass [18] die Moderatorin zeigt, hat eindeutig damit zu tun, dass sie in der Einstellung zuvor einen Einwurf gemacht hatte, vielleicht sogar mit dem Ziel weiterzugehen, aber von Plottnitz erkämpft sich noch, während sie im Bild ist, den floor zurück und dann auch noch einmal das Bild. Insgesamt kann man zur Inszenierung von Beteiligungsrollen anderer fest- halten: Die (meist kurze) Einblendung von Mitdiskutanten (meist in Nah- oder Großaufnahme), die sie zu „markierten Hörern“ macht, ist zugleich eine ex- terne Weise, den Sprechertextabschnitt zu „kontextualisieren“, als besonders relevant im Hinblick auf den Gezeigten, der zum Adressaten, Unterstützer oder Kontrahenten bzw. zum Repräsentanten eines Themas stilisiert oder als solcher hervorgehoben wird; damit wird der Sprechertext nachträglich profi- lierend „transkribiert“, zum Zweck der dramatisierenden Kommentierung. Da- bei werden die Beteiligten typisiert: Ihnen werden ja von Anfang an stereotype Rollen im entsprechenden Diskurszusammenhang zugewiesen, z. B. als Pro- vokateure, Scharfmacher, Kontrahenten, Betroffene, Unterstützer, Neutrale. Diese Typisierungen strukturieren die gesamte Dramaturgie, von der Einla- dung über die Sitzordnung, die Vorstellung bis hin zu den Inserttexten. Die Kameraführung inszeniert also unterstützend entsprechende Interaktions- und TRANSKRIPTIV KONTROLLGEMINDERT 187 Konfliktlinien. Für unseren Zusammenhang hier ist deutlich geworden, dass im Zusammenspiel keiner mehr die Kontrolle über das Gesamtergebnis hat, das dennoch musterhaft gedeutet werden kann; es handelt sich also um kom- plexe Muster als Ergebnisse von Automatismen. 6. Fazit Zu Anfang habe ich darauf hingewiesen, dass Live-Fernsehen, wie wir es hier am Beispiel von Polit-Talkshows betrachtet haben, eine Fülle von Automatis- men hervorbringt. Das Ziel meiner Analyse war, im Einzelnen zu zeigen, wie technische („sekundäre“) Audiovisualität durch die getrennte und kombinierte Inszenierung semantisch heterogenen Materials, das durch wechselseitige Transkription nach bestimmten (darunter auch nicht-intendierten) Mustern aufeinander bezogen ist, komplexe Bedeutungsgeflechte mit Elementen von Automatismen generiert, die grundsätzlich genre- und kommunikationsform- spezifisch beschrieben werden sollten. Schon die Sprachperformanz führt zu einer Reihe von Phänomenen, die zwar der prinzipiell kontrollierbaren Natur von Sprachhandeln nicht widersprechen, die aber Belege dafür sind, dass bei der Sprachproduktion die Kontrolle häufig erst nachträglich möglich ist und deshalb verschiedene Mechanismen der selbsttranskribierenden Korrektur er- forderlich werden. Im Live-Fernsehen kommen im Zusammenhang mit der Sprachperformanz visuelle Symbolsysteme unterschiedlicher Grade von Planbarkeit hinzu, die das Sprachliche überformen, nicht nur die mit dem Sprechen verbundenen Körpersprachzeichen und die wahrnehmbaren situativen Elemente des räum- lichen Settings, sondern vor allem deren selektive und fremdgesteuerte Prä- sentation durch die Kamerainszenierung, die mit ihren Einstellungen und Um- schnitten als „kulturelle Praktiken“ der Bedeutungskonstitution transkriptiv mit dem Sprachlichen in Wechselbeziehungen geraten. Die Kameraarbeit er- scheint als implizites, unauffälliges, dennoch nicht beliebiges Vorgehen, ohne explizites genaues Regelwerk, mehr oder weniger reflektiert, immer aber der Kontrolle des sprechenden Akteurs entzogen, dessen sprachliche Produktionen wiederum für die Bildsteuerung nicht (vollständig) vorhersehbar sind. Die Ka- merainszenierung in solchen Live-Formaten ist zwar ein zentrales Element der „transkriptiven Kraft“ des Mediendispositivs Fernsehen, aber sie kann nur im Zusammenhang mit den anderen visuellen und vor allem mit den sprachlichen Bedeutungskonstitutiva verstanden werden. Dabei ist die Kameraführung (gegenüber der Körperperformanz der Ak- teure und dem Setting) gleichzeitig der unauffälligste Teil der visuellen Insze- nierung. Sie ist zwar hochprofessionell gestaltet, aber – wie zu zeigen war – insofern nicht völlig kontrolliert, als sie nur im Zusammenspiel mit anderen Aktionen wirksam wird und weitgehend spontan nach implizitem Wissen rou- tiniert vorgeht, so dass Zufallsergebnisse als Automatismen zu ihrer Struktur 188 WERNER HOLLY gehören. In Polit-Talkshows transkribiert die Kamerainszenierung Sprecheräu- ßerungen im Sinne von Abwechslung und Gliederung, zur Sprecherprofilie- rung und zur Profilierung von Beteiligungsrollen anderer, damit die Organisa- tion des Gesprächs und die Beziehungsgestaltung zu und zwischen den Betei- ligten intensiver und für den Zuschauer attraktiver werden (Stichwort Quote). Wenn die Deutungen der transkriptiven Kameraeinstellungen und Um- schnitte hier nur interpretierend rekonstruiert wurden und diese Deutungen ohne Stützung durch die Intentionen der Fernsehmacher, wie man sie etwa in einer Produktionsanalyse hätte erfragen oder sonst wie ermitteln können, aus- kommen mussten, mag dies auch deshalb gerechtfertigt sein, weil es sich bei den im Ergebnis beobachtbaren Verfahren eben um weitgehend implizites, auf jeden Fall aber routiniert und quasi automatisiert angewendetes Regelwissen handelt, das zu ermitteln keineswegs trivial erscheint. Deshalb wäre es reiz- voll, durch teilnehmende Beobachtungen, etwa im Stile der „workplace stud- ies“, hier ergänzend Produktionsanalysen vorzunehmen. Literatur Brandom, Robert B., Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialis- mus, Frankfurt/M., 2001. Bublitz, Hannelore/Marek, Roman/Steinmann, Christina L./Winkler, Hartmut, „Ein- leitung“, in: dies. (Hg.), Automatismen, München, 2010, S. 9-16. Feilke, Helmuth, Sprache als soziale Gestalt, Frankfurt/M., 1996. Fiske, John, Television Culture, London, 1987. Goffman, Erving, Interaction Ritual: Essays on Face-to-Face-Behavior, New York, NY, 1967. Goodwin, Charles, „Practices of Seeing Visual Analysis: an Ethnomethodological Ap- proach“, in: Theo van Leeuwen/Carey Jewitt (Hg.), Handbook of Visual Analysis, London (u. a.), 2001, S. 157-182. Holly, Werner, Imagearbeit in Gesprächen. Zur linguistischen Beschreibung des Be- ziehungsaspekts, Tübingen, 1979. Ders./Kühn, Peter/Püschel, Ulrich, Politische Fernsehdiskussionen. Zur medienspezifi- schen Inszenierung von Propaganda als Diskussion, Tübingen, 1986. Ders./Püschel, Ulrich/Bergmann, Jörg (Hg.), Der sprechende Zuschauer. Wie wir uns Fernsehen kommunikativ aneignen, Wiesbaden, 2001. Ders., „‚Wie meine Tante Hulda, echt‘. Textoffenheit in der Lindenstraße als Produkt- und Rezeptionsphänomen“, in: Martin Jurga (Hg.), Lindenstraße. Produktion und Rezeption einer Erfolgsserie, Opladen, 1995, S. 117-136. Ders., „Beziehungsmanagement und Imagearbeit“, in: Klaus Brinker/Gerd Antos/ Wolfgang Heinemann (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zur zeitgenössischen Forschung, 2. Halbbd., Berlin, 2001, S. 1382-1393. Ders., „Politische Kommunikation – Perspektiven der Medienlinguistik. Am Beispiel eines Selbstdarstellungsvideos von Guido Westerwelle“, in: Kersten Sven Roth/ TRANSKRIPTIV KONTROLLGEMINDERT 189 Christa Dürscheid (Hg.), Wahl der Wörter – Wahl der Waffen? Sprache und Politik in der Schweiz, Bremen, 2010, S. 167-185. Ders., „Besprochene Bilder – bebildertes Sprechen. Audiovisuelle Transkriptivität in Nachrichtenfilmen und Polit-Talkshows“, in: Arnulf Deppermann/Angelika Linke (Hg.), Sprache intermedial: Stimme und Schrift, Bild und Ton, Berlin, New York, NY, 2010, S. 359-382. Ders., „Medien, Kommunikationsformen, Textsortenfamilien“, in: Stephan Habscheid (Hg.), Textsorten und sprachliche Handlungsmuster: Linguistische Typen der Kom- munikation, Berlin, New York, NY, 2011. Ders., „Bildinszenierungen in Talkshows. Medienlinguistische Anmerkungen zu einer Form von ‚Bild-Sprach-Transkription‘, in: Heiko Girnth/Sascha Michel (Hg.), Mul- timodale Kommunikation in Polit-Talkshows, Stuttgart, (im Erscheinen). Ders./Kühn, Peter/Püschel, Ulrich, „Für einen ‚sinnvollen‘ Handlungsbegriff in der linguistischen Pragmatik“, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 12, (1984), S. 275-312. Jäger, Ludwig, „Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik“, in: ders./Georg Stanitzek (Hg.), Transkribieren. Medien/Lektüre, München, 2002, S. 19- 41. Ders., „Verstehen und Störung. Skizze zu den Voraussetzungen einer linguistischen Hermeneutik“, in: Fritz Hermanns/Werner Holly (Hg.), Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens, Tübingen, 2007, S. 25-42. Ders., „Bezugnahmepraktiken. Skizze zur operationalen Logik der Mediensemantik“, Vortrag Aachen, Manuskript, 2007. Keller, Rudi, Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache, Tübingen, 1990. Krämer, Sybille, „Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität“, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M., 2002, S. 323-346. Polenz, Peter von, Deutsche Satzsemantik, 3. Aufl., Berlin, New York, NY, 2008. Schegloff, Emanuel A., „Repair After Next Turn: The Last Structurally Provided De- fense of Intersubjectivity in Conversation“, in: American Journal of Sociology, 97 (1992), S. 1295-1345. Ders./Jefferson, Gail/Sacks, Harvey, „The Preference for Self-Correction in the Orga- nization of Repair in Conversation“, in: Language 53, 2 (1977), S. 361-382. Schmitt, Reinhold (Hg.), Koordination. Analysen zur multimodalen Interaktion, Tübin- gen, 2007. Schwitalla, Johannes, Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung, Berlin, 1997. Wember, Bernward, Wie informiert das Fernsehen?, München, 1976. CHRISTIAN KASSUNG ANIMAL MACHINES. EINE FALLE IST KEIN GE-STELL Hand und Wurf Was verbindet die Paläo-Indianer des westlichen Nordamerikas vor etwa 11.000 Jahren mit Osama bin Laden oder dem 11. September 2001? Auf diese Frage traut sich der Historiker Alfred W. Crosby in seinem Buch Throwing Fire eine Antwort zu geben.1 Sie ist so einfach wie überzeugend. Unter der Perspektive einer longue durée spielt die erfolgreiche Handhabung von Pro- jektilen eine mindestens ähnlich zentrale Rolle für die Kulturgeschichte des Menschen wie die Herstellung von Werkzeugen oder der Gebrauch von Spra- che. Wenn der Mensch nicht immer schon intrinsisch motiviert gewesen wäre, Dinge möglichst weit zu werfen, zu schleudern oder zu katapultieren, so wä- ren wir niemals auf dem Mond gelandet oder wäre London niemals von 500 V2-Raketen getroffen worden. So einleuchtend diese Linie auf den ersten Blick erscheint – und so virtuos Crosby seine lange Geschichte zu erzählen weiß –, so offen bleibt ein ent- scheidener Punkt: Wie ist es überhaupt möglich, dass sich ein Wissen um Pro- jektile, das wir heute vollständig austechnisiert in Soft- und Hardware imple- mentiert haben, aus einer fluiden und kontingenten Praxis des Werfens von mehr oder minder spitzen Dingen heraus entwickelt hat? Und – so wäre hinzu- zufügen – wir gleichzeitig noch immer und voller Begeisterung Dinge mit der Hand werfen? Und noch genauer nachgefragt: Wie lässt sich die historisch und kulturell schillernde Schnittfläche zwischen einem habitualisierten, aber eben impliziten Wissen einerseits und einem exteriorisierten und expliziten Wissen andererseits beschreiben? Ist die Transformation einer sich zuneh- mend dekontingentierenden kulturellen Praxis in ein anschreibbares und damit automatisierbares Wissen wirklich ein irreversibler Prozess bzw. dasjenige, was wir noch heute im Anschluss an Ernst Kapp technischen Fortschritt nennen?2 Keine andere Spezies als der Mensch kann weiter und genauer werfen. Frei- lich haben wir diese Fähigkeit heute nahezu vollständig technisiert, übrigens auch auf der imaginären Ebene. Warum auch sonst sollen Eltern mit geradezu 1 Vgl. Alfred W. Crosby, Throwing Fire. Projectile Technology Through History, New York, NY, 2002. 2 Vgl. Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten, Düsseldorf, 1978. 192 CHRISTIAN KASSUNG lähmender Regelmäßigkeit tot umfallen, wenn sie von ihren Kindern mit einer Spielzeugpistole erschossen werden. „Du bist jetzt tot“ heißt nichts anderes als: „Ich kann Dich über eine räumliche Distanz hinweg direkt manipulieren.“ Dass Kinder weder nachladen noch zielen müssen, gehört fest zum imaginären Potenzial dieser Wurfautomaten – es sind eben vollkommene Fernwaffen. Doch so scheinbar vollständig unsere Kultur die actio in distans automatisiert hat, so bezeichnend ist eine Ausnahme, die derzeit zudem mediale Hochkon- junktur genießt: der Sport. Ist es ein Zufall, dass Spiel und Sport sozial extrem relevante Residuen des impliziten Wissens sind? Doch möchte ich zunächst noch einmal auf Throwing Fire zurückkommen. Alfred W. Crosbys Geschichte beginnt mit dem aufrechten Gang und der da- mit verbundenen Befreiung der Hand, dem Anfertigen von Werkzeugen – und im Speziellen von Waffen. Sie führt über die Flexibilität des Handgelenks und die möglichen Bewegungsformen des Armes in allen drei Ebenen und Achsen zum ersten geworfenen Stein. Möglicherweise geschah dies lange vor den ersten Werkzeugen als bearbeiteten Dingen, nämlich vor fünf Millionen Jah- ren. Es wäre also der Australopithecus gewesen, der erstmals einen Stein mit dem Ziel geworfen hat, etwas zu treffen. Wichtiger als die Datierung ist die Reihenfolge: Lange bevor der Stein ein Keil ist, wird er geworfen. Diese Geschichte der Feuerwaffen impliziert somit auch eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung von Technik – und damit des Menschen. Auf zwei Füßen zu gehen, bringt „eine Reihe von Transformationen mit sich […], zu denen auch die Technik gehört.“3 Technik beginnt nicht mit dem Kopf, dem Gehirn des Menschen, sondern mit seinen Füßen. Die Paläontologie hat in der Folge Leroi-Gourhans die Geschichte des Menschen vom Kopf auf seine Füße gestellt. Sobald der Mensch etwas in die Hand nimmt, wird es zu einem Stück Technik. Der Gebrauch von Werkzeugen und von Symbolen ist für Leroi-Gourhan gleichursprünglich.4 Schauen wir uns vor diesem Hintergrund noch einmal möglichst präzise an, wie der Mensch einen Stein zur Hand nimmt, um diesen zu werfen. Wir star- ten also den Versuch zu explizieren, wie ein Wurf funktioniert.5 Rund die Hälfte der Ballgeschwindigkeit wird nicht vom Arm, sondern vom Oberkörper und den Beinen erzeugt. Man nimmt Anlauf und stoppt vor Beginn der eigent- lichen Wurfbewegung. Dabei befindet sich der Arm hinter dem Körper und wird nun selbst durch die abrupte Abbremsung des Körpers nach vorn ge- schleudert. Hinzu kommt die Eigenkraft des Arms. Dann wird der Stein – oder was auch immer – im richtigen Moment losgelassen. Das Zeitfenster hierfür beträgt, will man einen Hasen in etwa zehn Meter Entfernung treffen, gerade mal eine Millisekunde. Wann dieser Moment freilich ist, das kann man nicht 3 Bernard Stiegler, Technik und Zeit. 1. Der Fehler des Epimetheus, Zürich, Berlin, 2009, S. 153. 4 Vgl. André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt/M.,1988. 5 Vgl. Crosby, Throwing Fire, S. 22-25. ANIMAL MACHINES 193 sagen, sondern nur im Wortsinne fühlen. Genau das aber ist der zentrale Punkt: Ich verfüge über die Fähigkeit, einen Stein weit und präzise zu werfen. Allerdings bin ich nicht in der Lage zu verstehen oder zu beschreiben, wie ich dies genau tue. Wie man einen Stein wirft, ist zumindest zu weiten Teilen ein implizites Wissen – ganz im Gegensatz dazu, wie man eine Mondrakete baut. Einen Stein wirft man durch Üben, eine Rakete dagegen durch Rechnen. Die These, dass die historische Entwicklung des Werfens vom Stein zur Ra- kete als eine Transformation eines impliziten in ein explizites Wissen be- schreibbar ist, bedarf sicherlich weiterer sorgfältiger Überprüfung. Diese Überprüfung würde zeigen, dass die Wissenstransformationen nicht kontinu- ierlich und sukzessive erfolgen, sondern dass im Gegenteil von einer massiven Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, von starken Residuen des impliziten Wissens und großen Widerständen der Explizierung auszugehen ist. Ich möchte hier stellvertretend nur zwei kleine Schlaglichter setzen, um die Kom- plexität der Wurfgeschichte zu illustrieren. Wurf und Schrift Mein erstes Beispiel betrifft Aristoteles‘ Versuch, das, was bei einem Wurf geschieht, in eine systematische Philosophie sprich Physik einzugliedern.6 Worauf es mir dabei ankommt, ist zu zeigen, dass dieser Versuch letztlich scheitert. Für Aristoteles ist der Wurf ein Beispiel für eine erzwungene Bewe- gung (motus violentus) im Gegensatz zu den natürlichen Bewegungen wie dem freien Fall. Die Beschreibung sämtlicher Bewegungsformen wird zu- nächst durch die Prinzipien der peripatetischen Dynamik strukturiert: Jede Veränderung innerhalb des aristotelischen Kosmos bedarf einer Ursache. Also dauert eine Bewegung genau so lange an – und auch in dem Maße –, wie die Kraft wirkt, die für sie verantwortlich ist: Cessante causa cessat effectus.7 Während sich die natürlichen Bewegungen damit quasi von selbst erklären, wird der Wurf zu einem echten Problemfall. Hier ist die Ursache offensicht- lich die werfende Hand. Die aber löst sich vom Stein, damit dieser sein räum- lich entferntes Ziel erreichen kann. Aristoteles formuliert den sich daraus erge- benden Erklärungsnotstand zunächst als Frage: „Wie kann es sein, daß einige Gegenstände sich fortlaufend weiterbewegen, obwohl doch das Bewegungge- bende mit ihnen nicht mehr in Berührung ist, z. B. geworfene Gegenstände?“8 Eine Ursache kann ihre Wirkung allein durch unmittelbaren Kontakt über- tragen – ein Dispositiv, das heute noch im Medienbegriff haust und das Aristo- 6 Aristoteles entwickelt die Theorie des Wurfes maßgeblich im achten Buch der „Physik. Vor- lesung über die Natur“, in: ders., Physik – Über die Seele, (Philosophische Schriften in sechs Bänden), Bd. 6, Hamburg, 1995, Kap. 10, S. 266b27-267a20. 7 Vgl. ebd., S. 28 (= 226b). 8 Ebd., S. 235 (= 266 b). 194 CHRISTIAN KASSUNG teles in eine weitere Schwierigkeit treibt.9 Jedoch bildet der Wurf nicht bloß ein Störungsmoment der räumlichen Ordnung zwischen Beweger und Bewegtem. Es kommt darüber hinaus zu einer bezeichnenden Paradoxie im peripateti- schen Zeitgefüge: Obwohl die werfende Hand schon wieder zur Ruhe gekom- men ist, bewegt sich der Stein noch fort und wird erst einige Zeit später sein Ziel erreichen. Diese Wurfgeschichte widerspricht eindeutig dem Prinzip der Gleichzeitigkeit, das ein kontinuierliches Wirken eines äußeren Bewegers al- lererst ermöglicht. Beweger, das die räumliche Distanz überbrückende Me- dium wie schließlich das Bewegte müssen in ihrer Bewegung synchronisiert sein. Andernfalls geriete der gesamte aristotelische Ursache-Wirkungs-Zusam- menhang ins Wanken: „Stattdessen müßten alle Beteiligten gleichzeitig sich bewegen und auch zur Ruhe gekommen sein, wenn das erste Bewegunggeben- de eben dies tut“.10 Aristoteles rettet das Prinzip der Gleichzeitigkeit, indem er im ganz Klei- nen, d. h. zwischen den einzelnen sekundärbewegenden Einheiten so etwas wie Phasenverschiebungen zulässt: Es ist nicht gleichzeitig, daß (so ein Körper) damit aufhört, Bewegung weiterzu- geben und selbst in Bewegung zu sein, sondern mit der Eigenbewegung (hört er) wohl gleichzeitig damit (auf), daß der Bewegende eben damit aufhört, hingegen Bewegung weitergebend ist er immer noch.11 Dem die Bewegung Weitergebenden wird also eine den Wurfautomatismus rettende, jedoch in sich widersprüchliche Eigenschaft zugesprochen. Wie ge- wagt dieser Lösungsversuch ist, daran lässt Aristoteles selbst keinerlei Zwei- fel. Genau in dem Moment nämlich, da er seine Theorie des Wurfes entwi- ckelt hat, scheint er vor ihr zurückzuschrecken und verliert sich im Unklaren und Widersprüchlichen, ja kommentiert gar sich und seinen Text mit den Worten: „Es ist jedoch unmöglich, das Vorgetragene anders zu lösen, außer auf die genannte Weise.“12 Der Absturz des Textes, die gescheiterte Erklärung der Wurfmaschine Mensch ist keineswegs verschmerzbar. Er ist katastrophal im wahrsten Sinne des Wortes: „Es wird nicht einmal ganz deutlich, ob die eigene Theorie nun wirklich gelten soll oder ob sie nur einen Versuch darstellt.“13 Wenn die se- kundärbewegenden Luftteilchen ihr Bewegenkönnen über das eigene Bewegt- werden hinaus aufrechterhalten könnten, dann wären sie für diese Zeitphase unabhängig vom eigenen Bewegtwerden. Dieses Privileg wird jedoch alleine dem unbewegten Beweger zugesprochen. Alexandre Koyré, einer der ent- 9 Die Kehrseite eines kausalen Medienbegriffs ist die actio in distans, die Aristoteles bekann- termaßen ablehnte. 10 Aristoteles (1995), Physik, S. 235 (= 266 b). [Herv. Ch. K.] 11 Ebd., S. 235 (= 267a). 12 Ebd., S. 236 (= 267 a). [Herv. Ch. K.] 13 Gustav Adolf Seeck, „Die Theorie des Wurfs, Gleichzeitigkeit und kontinuierliche Bewe- gung“, in: ders., Die Naturphilosophie des Aristoteles, Darmstadt, 1975, S. 386. ANIMAL MACHINES 195 scheidenden Neubegründer der Wissenschaftsgeschichte als einer Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, kommentiert dies überaus trocken: „Es folgt daraus mit absoluter Notwendigkeit, daß die durchs Trägheitsprinzip postulier- te Bewegung in sich widersprüchlich und völlig unmöglich ist.“14 Ebenso schonungslos, aber etwas optimistischer fasst kein geringerer als Georg W. F. Hegel in seiner Wissenschaft der Logik die Paradoxie des Wurfs zusammen: Es bewegt sich etwas nur, nicht indem es in diesem Jetzt hier ist und in einem anderen Jetzt dort, sondern indem es in einem und demselben Jetzt hier und nicht hier, indem es in diesem Hier zugleich ist und nicht ist. Man muß den alten Dia- lektikern die Widersprüche zugeben, die sie in der Bewegung aufzeigen, aber daraus folgt, nicht, daß darum die Bewegung nicht ist, sondern vielmehr, daß die Bewegung der daseiende Widerspruch selbst ist.15 Wurf und Bild Das Zitat Hegels führt zu meinem zweiten, etwas kürzeren Beispiel, das sich durch eine mindestens ebenso gravierende innere Widersprüchlichkeit aus- zeichnet, jedoch in einem anderen Medium operiert: dem Bild. Bewegung heißt, dass sich ein Gegenstand in einem Moment an einem bestimmten Ort befindet, zugleich aber sozusagen wissen muss, wohin er sich im nächsten Moment bewegen wird. Dies ist für lange Zeit undenkbar, unbeschreibbar und eben auch unabbildbar. Das Aristotelische Paradigma, dass die Ursache für den Wurf der Werfer ist, der seine Einwirkung auf die Luft überträgt und diese auf den Wurfkörper, schlägt sich deshalb noch bis ins 16. Jahrhundert hinein unmittelbar in den bildlichen Darstellungen von Würfen, genauer gesagt von Geschossbahnen nieder. Man sieht buchstäblich, dass die geworfenen Gegen- stände solange geradlinig durch die Luft fliegen, bis die Wurfkraft erloschen ist. Sodann fallen sie senkrecht zu Boden. Im 6. Jahrhundert äußert Johannes Philoponos mit seiner Impetustheorie erstmalig Kritik an der Aristotelischen Wurferklärung. Aber auch diese Kritik änderte nichts an der grundlegenden Situation, dass die Bewegung des Flug- körpers solange von der Erdanziehung unabhängig war, wie die Wirkung des Wurfes andauerte. Erst mit Niccolò Tartaglia um 1540 wird eine kontinuier- liche Formung der Flugbahn durch die Schwerkraft denkbar. Wie zäh das Rin- gen um die Parabelform und die Überlagerung voneinander unabhängiger Kräfte war, erkennt man daran, dass noch in Uttenhofers Circinus Geometri- cus von 1626 eine Mörserkugel geradewegs vom Himmel fällt, sobald sie sich 14 Alexandre Koyré, „Galilei und die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts“, in: ders., Leonardo, Galilei, Pascal. Die Anfänge der neuzeitlichen Naturwissenschaft, Frankfurt/ M., 1998, S. 70-87: 76. 15 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „C. Der Widerspruch“, in: ders., Werke, Bd. 6, Frankfurt/M., 1979, S. 64-80: 76, Anmerkung 3. 196 CHRISTIAN KASSUNG über ihrem Ziel befindet (vgl. Abb. 1). Und auch heute, da wir uns längst an Trägheit und Gravitation gewöhnt zu haben glauben, wissen wir keine wirk- lich überzeugende Antwort auf die Frage, warum sich ein Gegenstand so be- wegt, wie er sich bewegt, wenn sich die Ursache seiner Bewegung in jedem Augenblick ändert. Und auch heute ändert dies nichts daran, dass wir uns um diese Zusammenhänge nicht kümmern müssen, wenn wir einen Basketball aus einer gehörigen Entfernung in seinen Korb befördern möchten: „Kulturtechni- ken […] sind stets älter als die Begriffe, die aus ihnen generiert werden.“16 1 – Flugbahn bei Caspar Uttenhofer Fassen wir kurz zusammen. Bei aller notwendigen Standardisierung des Wur- fes als Körpertechnik entzieht sich dieser beharrlich der Repräsentation und der damit einhergehenden Reduzierung auf störungsfreie Rationalität. Für die Frage nach der longue dureé aber ist dies entscheidend, denn das Wechselspiel zwischen Disziplinierung oder Formierung einerseits und Störung oder Kon- tingenz andererseits vermag einen ersten Hinweis darauf zu geben, wie neue Strukturen innerhalb einer scheinbar so simplen Körpertechnik wie dem Wurf entstehen können. Wurf und Waffe Vor diesem Fragehorizont lässt sich nun die erste rupture in der Geschichte des Werfens genauer untersuchen, nämlich der Übergang vom Wurf zur Schleuder. Abgesehen von den eben diskutierten epistemologischen Schwie- rigkeiten heißt Werfen, etwas in einer gewissen räumlichen Entfernung zu be- wirken, und zwar zu einem späteren Zeitpunkt.17 Werfen ist eine strikt raum- zeitliche Operation.18 Dabei ist ein Wurf umso besser, je größer die Entfernung 16 Thomas Macho, „Zeit und Zahl. Kalender- und Zeitrechnung als Kulturtechniken“, in: Sybille Krämer/Horst Bredekamp (Hg.), Bild, Schrift, Zahl, München, 2003, S. 179. 17 Jede Übertragung ist grundsätzlich an Zeit gebunden; vgl. Bernhard Vief, „Die Inflation der Igel – Versuch über die Medien“, in: Derrick Kerckhove/Martina Leeker/Kerstin Schmidt (Hg.), McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert, Bielefeld, 2008, S. 213-230. 18 Vgl. Crosby (2002), Throwing Fire, S. 24. ANIMAL MACHINES 197 ist und umso präziser der Treffer erfolgt. Wenden wir uns zunächst der räumli- chen Optimierung oder Streckung zu. Vor etwa 40.000 Jahren lernte der Mensch, durch die technische Verlängerung seines eigenen Armes die Wurf- weite entscheidend zu vergrößern. Ich möchte diesen Zusammenhang kurz durchrechnen. 2 – Berechnung einer Speerschleuder Die Bahngeschwindigkeit einer Rotationsbewegung ergibt sich aus dem Produkt aus Radius – sprich Armlänge – und Winkelgeschwindigkeit (vgl. Abb. 2): v = r·ω = r·2π/T = r·2π·f. Nehmen wir an, ein Mensch mit einem 0,68 m langen Arm könnte einen Pfeil auf 6,5 Umdrehungen pro Sekunde seines Armes beschleunigen. Daraus ergibt sich eine Geschwindigkeit für den Pfeil von: v = 0,68 m·2π·6,5·1/s = 27,8 m/s = 100,0 km/h. Nun aber verwendet der Werfer eine Speerschleuder mit einer Länge von 0,61 m, wodurch sich die Geschwindigkeit des Pfeiles nahezu verdoppelt: v = 1,29 m·2π·6,5·1/s = 52,7 m/s = 190,0 km/h. Man kann also – technisch unterstützt und wie vor etwa 40.000 Jahren gesche- hen – etwas weiter werfen, indem man beispielsweise eine 60 cm lange Speer- schleuder verwendet und damit die Wurfgeschwindigkeit schlichtweg verdop- pelt. Mit einem Wort: Speerschleudern lohnen sich. „The velocity of the busi- ness end of the tool was multiplied in proportion to the increase in its distance from the pivoting body parts: the pelvis, shoulder, elbow, and wrist.“19 19 Ebd., S. 31. 198 CHRISTIAN KASSUNG Ich möchte dieses Beispiel nun nicht weiter vertiefen, sondern direkt drei weiterführende Fragen bzw. Überlegungen daran anknüpfen. Erstens ist die Frage vollkommen offen, wie es zur Entdeckung der schlichten Tatsache kam, dass die Bahngeschwindigkeit einer Drehbewegung im Gegensatz zur Winkel- geschwindigkeit vom Radius abhängt. Natürlich lässt sich diese Frage nicht beantworten. Aber Alfred Crosby äußert eine Vermutung, die sehr bezeich- nend für nicht intendierte Wissensproduktion ist: „The hominids who used these tools must have observed that when the head of an axe or hammer flies off in midswing, it does so with great velocity.“20 Am Anfang einer Entdeckung steht – nicht nur für Crosby – die Störung, der Unfall. Paul Valéry formuliert denselben Umstand sehr schlicht: „Das In- strument neigt dazu, aus dem Bewußtsein zu verschwinden.“21 Erst wenn ein Unfall, eine Störung geschieht, werden wir uns der Technizität von Instrumen- ten bewusst, wird der rein technische Automatismus des blinden und deshalb eben nicht produktiven Funktionierens unterbrochen. Die Produktivität der Störung in und für die Wissensgeschichte ist ein mittlerweile breit und inten- siv diskutiertes Untersuchungsfeld. Was lernen wir über die beiden Begriffe des Automatismus bzw. des Auto- maten, wenn wir sie an dieser sehr frühen Form von Waffentechnik erpro- ben?22 Beim Wurf handelt es sich um eine höchst automatisierte Körpertech- nik, die sich einer Bewusstwerdung oder Explizierung weitestgehend entzieht. Störungen wie das Lockerwerden eines Hammerkopfes brechen diese Auto- matismen auf und können produktiv gemacht werden, indem sie in neue Tech- nologien implementiert werden. So wird aus dem Wurf mit der bloßen Hand eine Speerschleuder. Andererseits erscheint der Begriff des Automaten noch eher fehl am Platze, solange wir über Waffen wie die Speerschleuder spre- chen. Der Automat gehört vollauf in die Späre des Technologischen, während die Speerschleuder allenfalls die Übergangsphase zwischen Handwerk und Technik markiert. Womit die Frage im Raum steht, wann oder wo wir beim Werfen von Automaten sprechen können, bzw. wann, wie und warum aus dem Waffenhandwerk eine Waffentechnologie wird. Und genau um diese Frage drückt sich Alfred Crosby, obwohl sie entscheidend dafür ist, dass es über- haupt die longue durée eines Phänomens geben kann. An diesem Punkt hilft eine dritte und letzte Bemerkung zur Speerschleuder weiter. Der Geschwindigkeitssteigerung ist eine unhintergehbare physikali- sche Grenze gesetzt, die Störung kann nicht beliebig produktiv gemacht wer- den. Weil jede Verdopplung des Nutzens eine Quadrierung der Kosten voraus- setzt, wird Beschleunigung irgendwann unökonomisch, „Viefs Hase“ unter- 20 Ebd., S. 32. 21 Zit. n. Paul Virilio, Der eigentliche Unfall, Wien, 2009, S. 17. 22 Vgl. Hannelore Bublitz/RomanMarek/Christina L.Steinmann/Hartmut Winkler (Hg.), Auto- matismen, München, 2010, S. 9. Ich greife hier die von Bublitz et al.vorgeschlagene Differen- zierung von Automat und Automatismus auf. ANIMAL MACHINES 199 liegt dem Igel.23 Dagegen ist eine zeitliche Dehnung nahezu kostenfrei reali- sierbar – eine entsprechende Technik vorausgesetzt, womit die Schleuder zur Falle wird. Mit jeder Form von Wurfwaffe muss man einem Mammut bedroh- lich nahe kommen. Delegiert man dagegen den Wurf an einen Automaten, wird diese Bedrohung aufgehoben. Mit anderen Worten: Die Falle ist keine gänzlich andere oder vollkommen neue Technologie. Vielmehr lässt sie sich als technische Kaltstellung des Wurfautomatismus oder zumindest zentraler Moment der Körpertechnik des Werfens rekonstruieren: Der gewünschte Ef- fekt tritt selbst bei größtmöglicher Trennung von Jäger und Opfer ein. Diese aber ist nicht primär eine räumliche, sondern eine zeitliche. Es gibt also eine Asymmetrie in der Optimierung oder Streckung von Raum und Zeit der Waffe, und diese führt uns zugleich auf die Spur der Automaten, die entlang des Übergangs vom impliziten zum expliziten Wissen verläuft. Nun gibt es Waffen, die sich konsequent und kontinuierlich verbessern las- sen und solche, die wesentlich auf einem mehr oder minder habitualisierten und damit standardisierten Körperwissen beruhen, das jedoch nicht externali- siert und damit technisch implementiert werden kann. Die Schleuder beispiels- weise, obwohl sehr viel einfacher, günstiger und gefährlicher als die Speer- schleuder, trifft nur, wenn der Schleuderer das eine Ende im exakt richtigen Moment loslässt. Hier hilft ausschließlich und allenfalls in sehr engen Grenzen intensives Training. Ganz anders dagegen liegen die Dinge, wenn man die Speerschleuder so verbessert, dass die Geschossbeschleunigung nicht vom Menschen selbst, sondern technisch vermittelt geschieht. Wenn also ein Bogen gespannt wird, und solange gespannt bleibt, bis er losgelassen wird. Dann nämlich kann der Schütze in aller Ruhe zielen und vor allem auch den Auf- haltepunkt beschreiben sprich explizieren. Bogenschießen ist deshalb unter- richtbar, weil es einen sehr viel höheren Anteil an explizierbarem Wissen als Schleudern besitzt, und das ist, weil der Bogen um einiges mehr Technik ist als Körpertechnik, mehr Automat als Automatismus. Letzteres kann man un- missverständlich daran erkennen, dass der Bogen enorme technische Verbes- serungen zulässt, ja geradezu herausfordert. Delegiert man zudem noch das Spannen und Halten des Bogens an die Maschine, so wird daraus eine Arm- brust – ein Automat. Die Energie des Bogens ist gespeichert und kann zu ei- nem beliebigen Moment freigesetzt werden. Und diese Maschinen erinnern uns sehr eindringlich daran, wie stark körperliche Abläufe auf Körpertechni- ken beruhen und dass Körpertechniken allen anderen Techniken vorausgehen: „Es gibt […] kein technisches Apriori […], das nicht durch ein körpertechni- sches Apriori mitstrukturiert wurde.“24 Kontingenz und deshalb Kreativität 23 So der Titel eines Vortrags von Hartmut Winkler. Ders., „Viefs Hase. Medien, Verräumli- chung und Reversibilität“, Vortrag, gehalten auf der Tagung „Media Theory on the Move“, Potsdam 21.-24. Mai 2009, online unter: http://www.uni-paderborn.de/~winkler/hase_d.pdf, zuletzt aufgerufen am 06.09.2010. 24 Vgl. Erhard Schüttpelz, „Körpertechniken“, in: Zeitschrift für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie, 1 (2010), S. 101-120. 200 CHRISTIAN KASSUNG lassen sich eben nicht maschinell implementieren, weshalb die samstägliche mechanische Ziehung der Lottozahlen kein Anachronismus, sondern eine schlichte Notwendigkeit ist. Waffe und Falle Wie stark der Bogenschütze im Mittelalter überlegen war, zeigt eine Darstel- lung der Schlacht von Najera im Hundertjährigen Krieg aus der Chronik von Jean Froissart von 1369-1373 (vgl. Abb. 3). Die Technisierung und Mechani- sierung von Waffen beginnt um 1000 v. Chr. und spaltet sich in zwei Entwick- lungslinien. Die hat die Erhöhung der Reichweite und Schlagkraft zum Ziel, was unweigerlich mit einer Gigantomanie des Technischen verbunden ist. Leonardos bekannte Zeichnung einer Ballista aus dem Codex Atlanticus von ca. 1485 gibt einen ungefähren Eindruck von den Dimensionen, die diese Ma- schinen erreichen. Dass die Faszination der rein mechanischen Gewalt bis heute anhält, lässt sich an der Automobilindustrie in Reinform ablesen. 3 – Schlacht von Najera Dieser brachialen Entwicklungslinie steht eine zweite gegenüber, der Über- gang nämlich vom Wurf zur Falle oder wie zuvor angedeutet die temporale Streckung des Wurfes. Bereits bei der Ballista haben wir gesehen, dass es die Mechanisierung von Waffen möglich macht, die Energie zu speichern und dann zu einem beliebigen Zeitpunkt quasi auf Knopfdruck freizusetzen.25 Aber 25 Vgl. die lange Geschichte dieses Problems bei den Feuerwaffen, bis Ende des 19. Jahrhun- derts die ersten funktionstüchtigen Selbstladepistolen auf den Markt kommen. ANIMAL MACHINES 201 noch in einer zweiten Hinsicht ist die time axis manipulation bei Fernwaffen mindestens ebenso wichtig26: die Antizipation – ein Problem, mit dem sich be- kanntermaßen auch Norbert Wiener im Zweiten Weltkrieg herumschlug. Will man ein bewegtes Objekt treffen, muss man dorthin zielen, wo es sein wird, wenn die räumliche Distanz überwunden ist. Dieses Wissen über die Zukunft der Dinge konnte Norbert Wiener nur sehr rudimentär maschinell implemen- tieren sprich automatisieren, einfach weil sich Kontingenz nicht technisch bändigen lässt. Umso erstaunlicher ist es, dass der Mensch selbst über enorme Antizipa- tionsfähigkeiten verfügt. Um nur ein Beispiel zu nehmen, das wiederum – auch dies ist kein Zufall – aus dem Sportbereich kommt. Beim Tennis trifft ein Schläger, der mit rund 2.500 Umdrehungen pro Minute um den eigenen Kör- per rotiert, auf einen Ball, der eine Geschwindigkeit von etwa 200 km/h hat. Der Ball wird also dort getroffen, wo er sein wird, wenn sich auch der Schlä- ger am selben Punkt befindet, wobei die Kontaktzeit lediglich 5 ms beträgt. Über all das denkt ein Tennisspieler selbstverständlich nicht nach, und trifft gerade deswegen den Ball mit blinder Sicherheit. Diese Antizipation ist ex- trem tief ins Körperwissen eingesenkt, und nur weil es absolut hardwarenah durchgeführt wird, kann es überhaupt funktionieren. Denken würde viel zu lange aufhalten, der Ball wäre längst am Zaun gelandet und das Match ver- loren. Verlassen wir diese unmittelbaren Körpertechniken, greift eine ganz andere Form der Antizipation. Schon beim gezielten Schuss mit einem Gewehr auf eine galoppierende Antilope überlegen wir uns sehr genau den notwendigen Vorhalt. Dieser ergibt sich trigonometrisch bzw. rechnerisch aus der Entfer- nung zur Antilope und deren Laufgeschwindigkeit – eine abrupte Richtungs- änderung ausgeschlossen. Meine These ist nun, dass sich der (natürlich kei- nesfalls kausale) Übergang von der Waffe zur Falle durch eine Maximierung der Antizipation charakterisieren lässt. Maximierte Antizipation heißt in die- sem Fall, dass der eigene Körper, das zielende Subjekt schlichtweg ausge- schaltet wird. Bereits der deutsche Mediziner und Anthropologe Paul Alsberg hatte 1922 die dem Menschen eigene Kulturleistung in Absetzung vom Tier durch das Prinzip der „Körperausschaltung“ definiert.27 Alsberg hatte übrigens seinem Buch den in der Neuausgabe verschwundenen Titel Das Menschheitsrätsel. 26 Vgl. zum Begriff der time axis manipulation Friedrich A. Kittler, „Real Time Analysis. Time Axis Manipulation“, in: Georg Christoph Tholen/Michael O. Scholl (Hg.), Zeit-Zeichen. Auf- schübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit (Acta humaniora), Weinheim, 1990, S. 363-377. 27 Vgl. Paul Alsberg, Der Ausbruch aus dem Gefängnis. Zu den Entstehungsbedingungen des Menschen, kommentiert von Hartmut und Ingrid Rötting, hg. und mit einem Vorw. versehen v. Dieter Claessens, Gießen, 1985. Alsbergs Thesen sind von dem deutschen Soziologen und Anthropologen Dieter Claessens prominent wieder aufgegriffen worden; vgl. Dieter Claes- sens, Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie, Frankfurt/ M.,1993. 202 CHRISTIAN KASSUNG Versuch einer prinzipiellen Lösung gegeben. Während der Erfolg eines Tieres von der bestmöglichen Anpassung seiner körperlichen Ausstattung an die Um- welt abhängt, zeichnet sich die Hominisation durch eine zunehmend geringere Bedeutung des Körpers beispielsweise bei der Jagd aus. Der Mensch baut Dis- tanz zu seiner Umwelt auf, indem er seinen Körper sukzessive ausschaltet, in- dem er Körpertechniken in Technologien oder Automatismen in Automaten verwandelt. Nicht die Umwelt prägt den Menschen, sondern dieser passt seine Umwelt sich selbst an. Pointiert ausgedrückt: Die Falle ist eine Kulturtechnik der time axis manipulation, die wesentlich auf der Antizipation, d. h. der zeit- lichen und eben nicht bloß räumlichen Trennung des Menschen von seiner Umwelt beruht. Womit die technische Entwicklung der Falle aus dem Wurf als eine Verlagerung von der räumlichen zur zeitlichen Distanzierung verstan- den werden muss. Ich möchte den Begriff der Distanz und der Mobilität also wesentlich wei- ter fassen, als dies bei Paul Alsberg, Dieter Claessens oder noch Bernard Stiegler der Fall ist. Wenn Stiegler sagt, „das Spezifische des Menschen ist die Bewegung, sich außer Reichweite seiner eigenen Hand zu bringen“, so muss diese Distanzierungstechnik eben auch als eine wesentlich temporale ver- standen werden.28 Die Befreiung der Hand und die damit verbundene Projek- tion auf Objekte, die außerhalb der direkten Reichweite liegen, erfolgt im Wurf räumlich, in der Falle aber zeitlich. Insofern beide Distanzierungsstrate- gien immer ineinandergreifen, ist die Falle die technische Weiterentwicklung des Wurfs bzw. der Waffe.29 In einem Punkt jedoch unterscheiden sich räumliche und zeitliche Distan- zierungstechniken signifikant voneinander. Dieser wird sichtbar, sobald man nach den Voraussetzungen für eine zeitliche Distanzierung fragt. Der Bau einer Falle ist nur möglich aufgrund einer weitreichenden Explizierung des Antizipationswissens. Mein Körper muss nicht nur ,fühlen‘, was passieren wird, sondern ich muss es explit wissen und dieses Wissen in das konkrete Design einer Falle implementieren. Zeitliche Distanzierung ist also immer auch ein Prozess der Bedeutungsgenerierung. Fallen sind Symbolmaschinen, weil sie eine Körpertechnik, einen Automatismus verzeitlichen, d. h. das anti- zipatorische Wissen materiell verbauen.30 Eine Falle ist damit jenseits einer symbolischen Ordnung undenkbar, wohingegen Werfen nicht zwingend eine symbolische Operation ist.31 Oder nochmals umformuliert: Temporale Distan- 28 Stiegler, Technik und Zeit, S. 196. 29 Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, dass ich den Begriff der Waffe in einem sehr archaischen Sinn verwende, also beispielsweise das Problem der Massenvernichtungswaffen oder die Technologie der GPS-Steuerung außen vor lasse. 30 Zur Wechselwirkung von Verräumlichung, Symbolischen und time axis manipulation unter starker Priorisierung des als reversibel gedachten Raumaspekts vgl. nochmals Winkler (2009), Viefs Hase. 31 Die ethnologisch fundierte Gegenposition vertritt Erhard Schüttpelz, vgl. nochmals Schütt- pelz (2010), Körpertechniken. ANIMAL MACHINES 203 zierung heißt immer auch Differenzierung, worauf übrigens bereits Jacques Derrida sehr nachdrücklich aufmerksam gemacht hat: Die Aufteilung des Sinns im griechischen diapherein umfaßt eine der beiden Be- deutungen des lateinischen differre nicht, nämlich die Tätigkeit, etwas auf später zu verschieben, sich von der Zeit und den Kräften bei einer Operation Rechen- schaft abzulegen, die Rechnung aufzumachen, die ökonomischen Kalkül, Um- weg, Aufschub, Verzögerung, Reserve, Repräsentation impliziert, alles Begriffe, die ich hier in einem Wort zusammenfasse, das ich nie benutzt habe, das man jedoch in diese Kette einfügen könnte: die Temporisation. Différer in diesem Sinne heißt temporisieren, heißt bewußt oder unbewußt auf die zeitliche und ver- zögernde Vermittlung eines Umweges rekurrieren, welcher die Ausführung oder Erfüllung des ,Wunsches‘ oder ,Willens‘ supendiert.32 Woran lässt sich nun die Richtigkeit oder besser gesagt die Produktivität meiner These erkennen, dass Temporalisierung als körperliche Distanzie- rungstechnik immer auch als eine symbolische Tätigkeit verstanden werden muss?33 Die Antwort ist sehr simpel: Daran, dass man das verbaute Wissen des Menschen über seine Umwelt aus dem Fallendesign mehr oder minder direkt wieder herauslesen kann. Wir haben es, das habe ich eben schon einmal angedeutet, mit einer epistemologischen Parallelübersetzung des impliziten zum expliziten Wissen und der räumlichen zur zeitlichen Distanzierungs- technik zu tun. Diese Parallelübersetzung definiert zugleich den Unterschied zwischen Automatismus und Automat, wobei die Falle lediglich ein, wenn auch ein sehr schönes, Beispiel für diesen Übergang ist. Entsprechend hoch ist der Anteil des Kontingenten, der produktiven Störung bei der Falle. Damit steht zugleich das Programm für den letzten Abschnitt dieses Beitra- ges: eine Lektüre zumindest einiger ausgewählter Fallen. Dabei werde ich mich entlang einer Typologie von fünf sehr unterschiedlichen Fallenarten be- wegen, die selbstverständlich keinen Anspruch auf heuristische Vollständig- keit erheben soll. Zudem werde ich eher systematisch als historisch argumen- tieren, was dem Stand meiner bisherigen Quellensichtung geschuldet ist.34 Bereits seit vorantiker Zeit kennt man die sogenannten Netzfallen. Auf dem goldenen Becher von Vaphio bei Sparta aus spätminoischer Zeit, also um 1500 v. Chr., ist ein Fangnetz zu sehen, dessen Maschen diagonal verlaufen und nicht rechtwinklig, so wie wir es heute kennen (vgl. Abb. 4). Eine nahezu identische Anordnung findet man auch auf einem Mosaik aus der 1761 wiederentdeckten Villa Casale auf Sizilien wieder (vgl. Abb. 5). Die Villa wurde vermutlich um 300 n. Chr. erbaut und thematisiert die antike Jagdpraxis 32 Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, Wien, 1988, S. 33 f. 33 Thomas Macho bestimmt Kulturtechniken wesentlich durch ihre symbolische Dimension, vgl. Macho (2003), Zeit und Zahl. 34 Dieser Abschnitt verdankt viele Anregungen Alfred Gell, „Vogel’s Net. Traps as Artworks and Artworks as Traps“, in: Eric Hirsch (Hg.), The Art of Anthropology. Essays and Dia- grams, (London School of Economics Monographs on Social Anthropology), Bd. 67, Lon- don, New Brunswick, NJ, 1999, S. 187-214. 204 CHRISTIAN KASSUNG in ihrer ganzen Breite. Nun möchte ich den Blick auf zwei Details lenken. In der Villa Casale verfängt sich ein Tier mit seinen Hörnern im Netz. Auf dem Becher von Vaphio dagegen sind es die beiden Vorderläufe, die sich im Netz verfangen und das Tier zu Fall bringen. Diese beiden Details führen zu der erst einmal sehr trivialen Feststellung, dass eine Netzfalle nur dann funktioniert, wenn die Maschenweite im richtigen Größenverhältnis zum Tier- opfer steht. Man kann also direkt aus einem Netz herauslesen, wie groß die damit gefangenen Tiere sind. Einem Pfeil dagegen sieht man nur sehr bedingt an, welches Tier er töten soll. Seine Größe wird definiert durch die Körper- technik des Bogenschießens. 4 – Fangnetz aus spätminoischer Zeit 5 – Fangnetz aus spätantiker Zeit ANIMAL MACHINES 205 Auch die zweite Fallenart, der sogenannte Wolfsgarten, verrät viel über seine Opfer – genauer über das Wissen des Jägers über seine Beute (vgl. Abb. 6). Ein Wolf dringt in ein labyrinthisches Gelände ein, das so eng gebaut ist, dass er sich nicht umdrehen kann und deshalb zur Eingangstüre zurückkehrt, diese zustößt, wodurch ein Fallriegel betätigt wird. Herausgegriffen habe ich eine mittelalterliche Darstellung aus dem „Livre de chasse“ von Gaston III. Zwei Prinzipien greifen hier ineinander: die Irreversibilität und die Selbstauslösung. Nur weil der Wolf sich in eine einzige Richtung bewegen kann, führt seine Bewegung zum Verschließen und damit zur Dauerstellung der Falle.35 Das Tier fängt sich selbst, weil der Fallenbauer weiß, wie es sich verhält. 6 – Mittelalterlicher Wolfsgarten Zwei weitere Beispiele für das Ineinandergreifen von Fallen- und Beutegröße seien genannt, und zwar für den Typus der Fallgrube (vgl. Abb. 7). Einmal handelt es sich um ein Tier, das offensichtlich gerne Fallobst isst und deshalb mit seinem Vorderkörper in ein Loch stürzt – hier in einer Abbildung aus dem „Livre de chasse“. Dieses Loch ist gleichzeitig so eng, dass es sich nicht da- raus befreien kann. Noch eindeutiger spiegelt sich das Opfer in einer Falle, die Alfred Gell 1996 diskutiert. Es handelt sich um eine Giraffenfalle, die exakt der Körperform des Tieres entspricht und zudem die vorderen von den hinte- ren Läufen trennt. Fallen sind, das machen diese Beispiele unmissverständlich deutlich, Modelle des Wissens über die Opfer. Ihr Design ist konkrete Wis- sensgestaltung. 35 Der Frage, inwiefern sich eine Falle im Gegensatz zur Waffe dadurch auszeichnet, dass sie nur zwei Zustände besitzt, also binär operiert, soll hier nicht weiter nachgegangen werden. 206 CHRISTIAN KASSUNG 7 – Mittelalterliche Fanggrube Aber es lässt sich aus Fallen nicht nur die Körperform des Opfers ablesen (vgl. Abb. 8). Sie reagieren zugleich auf bestimmte Parameter des tierischen Ver- haltens – soweit dies eben bekannt ist. Nur weil die Ratte enge und dunkle Gänge bevorzugt, geht sie in diese Falle, die ihre natürliche Umwelt imitiert. Wer diese Falle gebaut hat, weiß um das Verhalten der Nager. In der Falle wird dieses Wissen ablesbar. Um wiederum den Vergleich zum Wurf zu zie- hen: Pfeil und Bogen lassen keine Aufschlüsse darüber zu, wie schnell oder langsam sich das Beutetier bewegt, ob es in der Luft oder am Boden lebt. Eine Waffe spricht primär die Sprache des Subjekts, eine Falle die des Objekts. 8 – Fangschleife für Ratten ANIMAL MACHINES 207 Die Rattenfalle repräsentiert einen vierten Typus, die Fangschleifen. Entschei- dend ist hierbei erneut die richtungsgebundene Bewegung des Opfers durch Hecken, Hürden oder Netze. Dabei zieht das Tier entweder die Schlinge selbst zu, oder es betätigt einen Auslösemechanismus, der die gespeicherte mechani- sche Energie so freisetzt, dass eine Schlinge zugezogen wird. Wie stark dabei Waffe und Falle ineinandergreifen, belegt wiederum eine Illustration aus dem „Livre de chasse“: Der gefangene Wolf hängt an einer Art Ballista (vgl. Abb. 9). Der einzige Unterschied besteht in der Selbstauslösung. Damit ist das zen- trale Element genannt, das allen zeitkritischen Bewegungen zugrunde liegt. Geschieht etwas zu langsam oder zu schnell, muss der Mensch aus dem Appa- rat herausgenommen werden. Der (binäre) Auslöser wird vom Objekt selbst betätigt, sobald es sich am richtigen Ort befindet. Ernst Mach verwendete die- se Strategie, weil sich die von ihm fotografierten Geschosse zu schnell beweg- ten. In den Fallen dagegen geschieht die längste Zeit nichts, weshalb sich das Tier selbst fangen oder erschießen muss. 9 – Mittelalterliche Wolfsangel Damit komme ich fünftens zu einem der interessantesten Fallentypen, der Speerfalle (vgl. Abb. 10). In der Höhe des Wildwechsels ist eine gespannte Armbrust angebracht. Das Tier löst die Waffe selbst aus, die damit zur Falle wird. Die Waffe wird zum Automaten dadurch, dass darin ein bestimmtes Wissen über die Tiere verobjektiviert ist. Damit wird die Falle zu einem Mo- dell für das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt. Wir sehen eine latent durch Speere bedrohte Umwelt. Diese ist durch zwei Abwesenheiten gekenn- zeichnet: die des Jägers und die des Gejagten. Es fehlen also Subjekt und Ob- jekt der Falle, des technischen Dings, das dadurch zum Zeichen wird. Die Fal- 208 CHRISTIAN KASSUNG le steht stellvertretend für die Gewaltbeziehung zwischen Mensch und Tier, symbolisiert im gespannten Bogen und dem Auslöser, der subjektlos auf das Auftreten des Objekts wartet – eine animal machine. 10 – Zentralafrikanische Speerfalle Diese sehr kurze Diskussion von fünf exemplarischen Fallentypen sollte vor allem zweierlei gezeigt haben: Zum einen zeichnen sich Fallen im Gegensatz zu Waffen durch eine sehr viel stärkere Objektivierung bzw. Explizierung von Wissen über die Relation zwischen Mensch und Tier, zwischen Jäger und Op- fer, zwischen Subjekt und Objekt aus. Zum anderen realisieren Fallen grund- sätzlich einen temporalen Aufschub, der die Abwesenheit von Subjekt und Objekt kompensiert. Beide Momente zusammengenommen machen Fallen zu Automaten. 11 – Guyanische Fischfalle ANIMAL MACHINES 209 Natürlich gehen die Dinge niemals nur und so einfach auf. Um gleich auch die Grenze der Lesbarkeit von Fallen zu markieren, möchte ich abschließend eine Falle vorstellen, die besonders rätselhaft ist (vgl. Abb. 11). Es handelt sich um eine Fischfalle, wie sie in Guyana verwendet wird. Dabei wird der friedlich vor sich hin schwimmende Fisch, sobald er den Köder verschluckt hat, von einer elastischen Rute in die Luft gehoben und verwandelt sich so in eine Frucht, die von Booten aus quasi gepflückt werden kann. Diese Falle fängt also nicht nur den Fisch, sie realisiert zugleich eine Transsubstantiation von Fisch in Frucht. Bereits dies aber ist im Grunde reine Spekulation. Wir wissen nichts über die Hintergründe dieser Metamorphose, weder ob sie mit Konser- vierungspraktiken oder ob sie mit religiösen Vorstellungen in Verbindung zu bringen ist. Um es klar heraus zu sagen: Die Lektüre von Fallen kann eben auch massiv scheitern – wie jede Lektüre. Hand und Falle Ich möchte eine letzte, für die theoretische Positionsbestimmung einer materi- al culture wichtige Frage aufwerfen. Welche Position können wir der Falle in- nerhalb der Trias Apparat – Technik – Körper zusprechen? Zunächst einmal sollten die Lektüreversuche gerade der beiden letzten Fallentypen gezeigt haben, dass ein emphatischer Widerspruch zwischen technikzentrierten und anthropologischen Theorieansätzen nicht mehr länger haltbar ist.36 Ich denke, dass man heute, wenn überhaupt, die Position Leroi-Gourhans – und damit auch Friedrich Kittlers –, dass es Technik ist, die den Menschen erfindet, deut- lich gelassener vertreten sollte. Das Konzept eines technisch-medialen Aprio- ris war Ende der 1980er Jahre ein extrem wichtiges Signal gegen die herme- neutische Fokussierung auf den Sinn von Texten. Für mich aber gehören Technikgeschichte und Anthropogenese untrennbar zusammen, und zwar so untrennbar, dass jedes strikte Ursache-Wirkungs-Prinzip, jede Form von Monokausalität hier nur falsch sein kann. Indem der Mensch das Werkzeug erfindet, definiert dieses ihn als Menschen. Oder wie Bernard Stiegler es for- muliert: „Die Erfindung des Menschen ist die Technik. Sowohl als Objekt wie als Subjekt. Sowohl die erfindende als auch die erfundene Technik.“37 Kultu- 36 In diesem Zusammenhang ist sicherlich auch die „medienanthropologische Kehre der Kultur- techniken“ zu sehen, die Erhard Schüttpelz in die Diskussion gebracht hat. Vgl. Erhard Schüttpelz, „Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken“, in: Lorenz Engell/ Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice ver- sa?), Weimar, 2006, S. 87-110. 37 Stiegler, Technik und Zeit, S. 185. 210 CHRISTIAN KASSUNG relle Praxen materialisieren sich in und als Technik genauso, wie diese Tech- nik wiederum neue Praktiken ermöglicht.38 Somit sind Techniken für mich im emphatischen, d. h. anthropogenetischen Sinne immer schon Kulturtechniken. Um dies möglichst kontrastiv an einem allerletzen Beispiel zu pointieren: Der Fallenbau ist eine Kulturtechnik, nicht aber die Topspin-Vorhand von Roger Federer; sie ist reine Technik, auch wenn sie noch so vollendet gespielt ist. Stiegler schreibt: „Antizipation bedeu- tet die Realisierung eines Möglichen, das nicht durch eine biologische Pro- grammierung determiniert ist.“39 Ohne Roger Federer an dieser Stelle Unrecht tun zu wollen: Antizipation beim Sport reduziert sich als implizites Wissen auf eine möglichst kontingenzfreie Automatisierung des eigenen Körpers. Sport ist zuallererst Technik. Dagegen setzt der Bau einer Falle eine eminente sym- bolische Dimension voraus, nämlich ein explizites Wissen über das Verhalten eines Tieres. Fallen sind niemals nur Ge-Stelle. Literatur Alsberg, Paul, Der Ausbruch aus dem Gefängnis. Zu den Entstehungsbedingungen des Menschen, kommentiert von Hartmut und Ingrid Rötting, hg. und mit einem Vorw. versehen v. Dieter Claessens, Gießen, 1985. Aristoteles, „Physik. Vorlesung über die Natur“, in: ders., Physik – Über die Seele, (Philosophische Schriften in sechs Bänden), Bd. 6, Hamburg, 1995, S. 1-248. Bublitz, Hannelore/Marek, Roman/Steinmann, Christina L./Winkler, Hartmut (Hg.), Automatismen, München, 2010. Claessens, Dieter, Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthro- pologie, Frankfurt/M.,1993. Crosby, Alfred W., Throwing Fire. Projectile Technology Through History, New York, NY, 2002. Derrida, Jacques, Randgänge der Philosophie, Wien, 1988. Gell, Alfred, „Vogel’s Net. Traps as Artworks and Artworks as Traps“, in: Eric Hirsch (Hg.), The Art of Anthropology. Essays and Diagrams, (London School of Economics Monographs on Social Anthropology), Bd. 67, London, New Brunswick, NJ, 1999, S. 187-214. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, „C. Der Widerspruch“, in: ders., Werke, Bd. 6, Frankfurt/M., 1979, S. 64-80. Kapp, Ernst, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten, Düsseldorf, 1978. 38 Vgl. Hartmut Winkler, „Die prekäre Rolle der Technik. Technikzentrierte versus ,anthropolo- gische‘ Mediengeschichtsschreibung“, 1997, online unter: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/2/ 2228/1.html, zuletzt aufgerufen am 06.09.2010. 39 Stiegler, Technik und Zeit, S. 202. ANIMAL MACHINES 211 Kittler, Friedrich A., „Real Time Analysis. Time Axis Manipulation“, in: Georg Chris- toph Tholen/Michael O. Scholl (Hg.), Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit (Acta humaniora), Weinheim, 1990, S. 363-377. Koyré, Alexandre, „Galilei und die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhun- derts“, in: ders., Leonardo, Galilei, Pascal. Die Anfänge der neuzeitlichen Naturwis- senschaft, Frankfurt/M., 1998, S. 70-87. Leroi-Gourhan, André, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt/M.,1988. Macho, Thomas, „Zeit und Zahl. Kalender- und Zeitrechnung als Kulturtechniken“, in: Sybille Krämer/Horst Bredekamp (Hg.), Bild, Schrift, Zahl, München, 2003, S. 179- 192. Schüttpelz, Erhard, „Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken“, in: Lo- renz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Kulturgeschichte als Medienge- schichte (oder vice versa?), Weimar, 2006, S. 87-110. Ders., „Körpertechniken“, in: Zeitschrift für Kulturtechnikforschung und Medienphilo- sophie, 1 (2010), S. 101-120. Seeck, Gustav Adolf, „Die Theorie des Wurfs, Gleichzeitigkeit und kontinuierliche Be- wegung“, in: ders., Die Naturphilosophie des Aristoteles, Darmstadt, 1975, S. 384- 390. Stiegler, Bernard, Technik und Zeit. 1. Der Fehler des Epimetheus, Zürich, Berlin, 2009. Vief, Bernhard, „Die Inflation der Igel – Versuch über die Medien“, in: Derrick Kerck- hove/Martina Leeker/Kerstin Schmidt (Hg.), McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert, Bielefeld, 2008, S. 213-230. Virilio, Paul, Der eigentliche Unfall, Wien, 2009. Winkler, Hartmut, „Die prekäre Rolle der Technik. Technikzentrierte versus ,anthro- pologische‘ Mediengeschichtsschreibung“, 1997, online unter: http://www.heise.de/ tp/r4/artikel/ 2/2228/1.html, zuletzt aufgerufen am 06.09.2010. Ders., „Viefs Hase. Medien, Verräumlichung und Reversibilität“, Vortrag, gehalten auf der Tagung „Media Theory on the Move“, Potsdam 21.-24. Mai 2009, online unter: http://www.uni-paderborn.de/~winkler/hase_d.pdf, zuletzt aufgerufen am 06.09.2010. ALBERTO DE CAMPO SONIFIKATION – DARSTELLUNG, WAHRNEHMUNG, EMERGENZ 1. Hintergrund Wie kann man Systeme untersuchen, in denen man komplexes Verhalten bzw. emergente Phänomene vermutet? Bei für Menschen unmittelbar wahrnehm- baren Eigenschaften der Systeme kann die Antwort direkte Beobachtung sein: Die Wege, die einzelne Tiere auf einer Ameisenstraße zurücklegen, oder die Hügel, die Termiten bauen, kann man sehen. Bei abstrakteren Eigenschaften spielen Messungen, Daten, Zahlen und Symbole als indirekte Beobachtung eine Rolle; je abstrakter das Gebiet, desto schwieriger kann es sein, geeignete Beobachtungs- und Analyseverfahren zu entwickeln. In wissenschaftlichen, sozialen, politischen, ökonomischen und anderen Systemen werden mehr und mehr Daten erhoben. Dabei muss zum Zeitpunkt der Messung noch gar nicht feststehen, was man in der Analyse herausfinden will – es genügt, zu wissen, welche Observablen sozusagen auf Verdacht gemessen werden sollen. Die üb- lichen Strategien, um unbekannte Phänomene in Daten zu „finden“, sind sta- tistische Analyse, sinnlich wahrnehmbare Darstellung (in der Regel in visuel- ler Form), und Kombinationen von beiden, um, in informationstheoretischen Begriffen gesprochen, aus dem Rauschen Information zu extrahieren. Eine klassische Definition von Visualisation lautet: „Several case studies suggest that visualization can be defined as the substitution of preconscious visual competencies for conscious thinking.“1 Eine darauf aufbauende Defini- tion des allgemeineren Begriffs der Perzeptualisation könnte lauten: „Percep- tualisation can be defined as the substitution of preconscious perceptual com- petencies for conscious thinking.“ Bewusstes Denken meint hier mathema- tisch-statistische Analyse; unbewusste Wahrnehmung bezieht sich darauf, dass in der Wahrnehmung Objekte sich scheinbar von selbst konstituieren: Wir gruppieren Grenzlinien zwischen Flächen in einem Bild „ganz automatisch“ zu Umrissen und weiter zu Objekten (etwa Möbelstücke und Personen in ei- nem Familienporträt) und können uns nur mit Mühe zwingen, die Grenzlinien zwischen den Objekten lediglich als abstrakte Linien und die Objekte nur als Farbflächen zu sehen. Die definierte „Ersetzung“ ist hier nicht so gemeint, 1 Richard Mark Friedhoff, „Part of a Panel Discussion: Is Visualization Really Necessary? The Role of Vizualization in Science, Engineering, and Medicine“, in: Gregory M. Nielson/Dan Bergeron/IEEE Computer Society (Hg.), Visualization ’93: Proceedings, October 25-29th, Bd. 5, San Jose, CA, 1993, S. 343. 214 ALBERTO DE CAMPO dass das bewusste Denken für die wissenschaftliche Erkenntnis insgesamt überflüssig würde, sondern dass manche Darstellungsformen einzelne analyti- sche Verfahren ersetzen können. Eine Besonderheit der Wahrnehmung ist hierbei, dass wir keineswegs nur Muster erkennen können, die uns bekannt sind oder die wir vorher analytisch verstanden haben; wir erkennen auch unbekannte Muster, die sich in Bildern oder Klängen als Regelmäßigkeiten finden. Auch wenn wir keine Begriffe für die beobachteten Phänomene haben, können wir sie in Wiederholungen wie- dererkennen und sie anderen Menschen demonstrieren, die dann auch lernen können, sie zu erkennen. Einen ähnlich unspezifischen Musterdetektor als Computerprogramm zu schreiben, ist nicht nur nicht trivial, sondern im Ge- genteil nahezu unmöglich. Dass das menschliche Nervensystem als Wahrneh- mungsmaschine unbekannte Muster zumindest detektieren kann, reicht im Prinzip auch schon aus, um Forschungsvorhaben auf neue Bahnen zu lenken. Im Sinne der Kybernetik zweiter Ordnung und des Konstruktivismus ge- dacht, beruht dieses Auftauchen von neuen Eigenschaften in Systemen auf der Existenz von Beobachtern dieser Systeme; man könnte lange darüber streiten, ob „emergente Phänomene“ tatsächlich im System selbst, also unabhängig von Beobachtern existieren. Meine Auffassung ist, dass Emergenz ein Phänomen in der Realitätskonstruktion der Beobachtenden ist und insofern prinzipiell darauf beruht, dass BeobachterInnen wesentliche Aspekte des Systems verfol- gen können. Hier setzt das eigentliche Versprechen der Wirksamkeit von Per- zeptualisation an: Indem unbekannte Muster in den nicht wahrnehmbaren Ei- genschaften von beobachteten Systemen der Wahrnehmung zugänglich ge- macht werden, können auch emergente Phänomene entdeckt werden, für die es kein analytisches Vorwissen gibt. Die Gestaltung von Perzeptualisationen und das Interagieren mit Perzeptua- lisationsmaschinen, die Eigenschaften von Daten, Modellen (also Systemen) sinnlich erlebbar machen, ist eine Strategie des handelnden Nachdenkens bzw. der Erkenntnisgewinnung über und mit Daten und Modellen. Die visuelle Form, Datenvisualisierung, ist in wissenschaftlichen Kontexten durchgesetzt und selbstverständlich – und wird auch in vielen künstlerischen Projekten auf- gegriffen; die auditive Form, Sonifikation, ist in beiden Bereichen noch immer eher die Ausnahme. Dass das Experimentieren mit akustischen Darstellungen noch viel weniger erforscht ist, macht diesen Zugang auch für künstlerische Arbeiten sehr interessant. KünstlerInnen befassen sich sehr genau mit der Ge- staltung von sinnlichen Erlebnissen und deren möglichem Detailreichtum; in- sofern ist gestalterische Erfahrung beim Entwerfen von Perzeptualisationen, die sehr empfindlich auf subtile Differenzen in den Daten oder Modellen sein sollen, ausgesprochen nützlich. Wie der Vortrag, auf dem er beruht, diskutiert dieser Text anhand von Bei- spielen die grundlegenden Konzepte der Sonifikation und der auftretenden Wahrnehmungsphänomene, und er versucht sie als wissenschaftliche und künstlerische Tätigkeit zu positionieren. SONIFIKATION 215 2. Zur Methodologie der wissenschaftlichen Sonifikation Aus wissenschaftstheoretischer Sicht steigen die Chancen, neue Hypothesen zu unklaren Beobachtungen zu entwickeln und im besten Fall neue Erklärun- gen für die beobachteten Phänomene zu finden, wenn die Palette der einsetz- baren alternativen Methoden umfangreicher wird. Solche Verfahren sind tech- nische Dinge im Sinne von Rheinberger2, und als solche Teil von experimen- tellen Setups; sie können, wenn sie gut verstanden sind, zu Standardverfahren werden. Zentrales Problem dabei sind die Fragen: Welche in der Darstellung wahrnehmbaren Gestalten gehen auf relevante Zusammenhänge in den Daten zurück und was sind Artefakte des Darstellungsverfahrens? Antworten darauf lassen sich nur durch genaues Experimentieren finden. Bei der Sonifikation, der Repräsentation von Daten/Systemen über Klänge, sind einige der markantesten Spezifika folgende: 1. Klang existiert nur in der Zeit; insofern ist die Entfaltung von Vorgängen in der Zeit mit Klängen sehr detailreich darstellbar. Beispielsweise sind perio- dische Vorgänge mit bedeutsamen feinen Variationen als Rhythmen oder als Tonhöhenschwankungen sehr gut auflösbar. 2. Klang ist allgegenwärtig und vielschichtig; wir hören unbewusst immer die ganze akustische Umgebung als Hintergrund mit und werden spontan auf Veränderungen aufmerksam, sogar wenn wir schlafen – deshalb gibt es weit mehr akustische als optische Wecker. 3. Wir können einerseits durch Konzentration bei einem komplexen Ge- webe von Klangschichten einer einzelnen Schicht folgen (etwa ein Gespräch unter vielen parallelen, wie beim sogenannten Cocktail-Party-Effekt); anderer- seits können wir auch auf die Gesamtheit hören und den quasi polyphonen Zu- sammenhang als solchen erfassen. 4. Wir können Gehörtes kurzzeitig als detailreichen Klang erinnern, bevor die Elemente von den höheren (bewussteren) Wahrnehmungsmechanismen kategorisiert werden. Durch Zeitachsenmanipulation (Beschleunigung von langsamen Vorgängen, Wiederholung von Segmenten) können wir auch un- kategorisierte Feinstruktur der weiteren Analyse zugänglich machen. Die Wahrnehmung von und das Denken in Klängen unterliegen bestimmten Begrenzungen: Bedeutend sind zunächst physiologische Begrenzungen wie z. B. der Be- reich der hörbaren Tonhöhen, die leisesten hörbaren Lautstärken (sie sind stark unterschiedlich für verschiedene Frequenzen), die kleinsten hörbaren Unterschiede in Tonhöhe, Lautstärke, Klangfarbe u. a. m. Psychische Begren- zungen umfassen etwa Grenzen der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses. Gelernte Fähigkeiten wie Tonhöhen benennen und notieren können, Vokabu- lar zur Beschreibung von Klängen. Kulturelle Einflüsse können weit in die 2 Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge: eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt/M., 2006. 216 ALBERTO DE CAMPO Wahrnehmung selbst hereinspielen; z. B. hört man musikalische Tonhöhen in kategorisierten Tonhöhenklassen, die spezifisch für die Kultur sind, mit der man vertraut ist. Wenn man mit den temperierten zwölf Tonstufen der klassi- schen europäischen Musiktradition aufgewachsen ist, hört man Tonstufen aus nicht-westlichen Kulturen sehr wahrscheinlich als „falsch“; dasselbe gilt um- gekehrt genauso. Die persönliche Lebensgeschichte kann Vorlieben für und genauere Kenntnis von bestimmten Arten von Klängen formen. Wenn Sonifi- kationen allgemein verständlich sein sollen, spielen all diese Begrenzungen eine wichtige Rolle im Gestaltungsspielraum. 3. Eine kurze Geschichte der Sonifikation Der Einsatz des Hörens für wissenschaftliche Zwecke war nicht immer so un- üblich wie er in der heute visuell dominierten wissenschaftlichen Kultur schei- nen mag. Die hier gegebene kurze Übersicht zur Vorgeschichte der Sonifika- tion soll das nur anreißen; eine genauere Diskussion findet sich z. B. bei Kra- mer.3 In der Medizin findet das Hören von Körpergeräuschen, die Auskultation, seit Hippokrates Anwendung; das Stethoskop (von Laennec 1819 erfunden) wird auch heute noch verwendet. In der Mechanik können ExpertInnen bei Maschinen wie z. B. Motoren sehr genau hören, welche Teile nicht optimal funktionieren oder falsch eingestellt sind. Es ist gut möglich, dass es dafür weitere, wenig bekannte Vorformen gibt. Ein sehr frühes Beispiel für wissenschaftliche Beweisführung über Klang ist die Hypothese, dass Galilei das quadratische Fallgesetz akustisch verifiziert habe (u. a. bei Drake4); in einer Rekonstruktion haben Riess et al.5 gezeigt, dass die im 17. Jh. üblichen Zeit-Messverfahren zu ungenau gewesen sein müssen, während das Erkennen eines sehr regelmäßigen Rhythmus’ als Methode weit plausibler scheint. Ein technisches Gerät, das für Menschen nicht spürbare Phänomene hörbar macht, ist der Geiger-Müller-Zähler (1908) – er wandelt ionisierende Strah- lung in knackende Geräusche um, wenn radioaktive Partikel auf den Sensor treffen. Passives Sonar, die Idee Unterwassergeräusche von Schiffen oder Tie- ren zu hören, gibt es schon in Notizen von Leonardo da Vinci. Aktives Sonar arbeitet mit lauten Pulsen, die in undurchsichtige Wasservolumen eingespielt werden, um aus den Reflexionsmustern die Form des Untergrunds zu schlie- ßen oder auch um U-Boote, Wale oder Fischschwärme zu finden. 3 Gregory Kramer, Auditory Display: Sonification, Audification, and Auditory Interfaces, Reading, MA, 1994. 4 Stillman Drake, Galileo, New York, NY, 1980. 5 Falk Riess/Peter Heering/Dennis Nawrath, „Reconstructing Galileo’s Inclined Plane Experi- ments for Teaching Purposes“, in: Proceedings of the 8th International History, Philosophy, Sociology and Science Teaching Conference, Leeds, UK, 2005. SONIFIKATION 217 In der Seismologie liegen akustische Verfahren nahe, da Erdbeben ja me- chanische Vibrationen sind. Bei Speeth6 lernten Subjekte, Erdbebentypen am beschleunigt abgespielten Geräusch zu erkennen; in der Auditory Seismology haben erst Hayward7 und später Dombois8 diese Praxis fortgesetzt. Aber auch in der Quantenphysik gibt es bereits in den 1990er Jahren einen Anwendungsfall: Pereverzev et al.9 wie- sen den Josephson-Effekt nach, eine in den 1960er vorhergesagte Quanten-Os- zillation zwischen schwach gekoppelten Superfluid-Helium-Reservoirs, indem sie in einem verstärkten akustischen Sensorsignal den erwarteten Verlauf hör- ten. Die offizielle Geschichte der Sonifikation beginnt wohl mit der ersten Inter- national Conference for Auditory Display (ICAD) 1992. Hier trafen Forschen- de aufeinander, die an verwandten Ideen arbeiteten, und die Proceedings (Kra- mer10) sind das erste umfangreiche Buch, das diese Arbeiten in einen neuen, gemeinsamen Kontext – Auditory Display, Sonification – stellt. Aus dieser Community kommen zahlreiche interessante Arbeiten: Fitch und Kramer11 ha- ben gezeigt, dass für die Vitalzeichen-Überwachung von PatientInnen reines Auditory Display effektiver sein kann als ein visual display oder ein kombi- niertes audio-visual display; Gaver et al.12 haben gezeigt, dass sich die Prozes- se einer virtuellen Fabrik mit polyphoner akustischer Darstellung sehr gut überwachen lassen (monitoring), um im Bedarfsfall steuernd eingreifen zu können. Die Verbindung von neuralen Signalen und dem Hören hat eine eigene Ge- schichte, von frühen Neurophysiologen wie Wedensky13, der Nervensignale mit dem eben erfundenen Telefon anhörte, zu aktuellen EEG-Sonifikationen wie Baier et al. (2007)14; Hermann et al. (2006)15, Hinterberger und Baier16. 6 Sheridan D. Speeth, „Seismometer Sounds“, in: Journal of the Acoustical Society of America, 33 (1961), S. 909-916. 7 Chris Hayward, „Listening to the Earth Sing“, in: Gregory Kramer (Hg.), Auditory Display: Sonification, Audification, and Auditory Interfaces, Reading, MA, 1994, S. 369-404. 8 Florian Dombois, „Using Audification in Planetary Seismology“, in: Proceedings of the In- ternational Conference on Auditory Display (ICAD), Espoo, Finland, 2001. 9 S. V. Pereverzev/A. Loshak/S. Backhaus/J. Davies/R. E. Packard, „Quantum Oscillations Be- tween Two Weakly Coupled Reservoirs of Superfluid 3He“, in: Nature, 388 (1997), S. 449- 451. 10 Kramer (1994), Auditory Display. 11 W. T. Fitch/Gregory Kramer, „Sonifying the Body Electric: Superiority of an Auditory over a Visual Display in a Complex Multivariate System“, in: Gregory Kramer (Hg.), Auditory Dis- play: Sonification, Audification, and Auditory Interfaces, Reading, MA, 1994, S. 307-325. 12 William W. Gaver/Randall B. Smith/Tim O’Shea, „Effective Sounds in Complex Systems: The ARKola Simulation“, in: Proceedings of CHI ’91, New Orleans, USA, 1991. 13 N. Wedensky, „Die telefonische Wirkungen des erregten Nerven“, in: Centralblatt für medi- zinische Wissenschaften, 26 (1883). 14 Gerold Baier/Thomas Hermann/Ulrich Stephani, „Event-Based Sonification of EEG Rhythms in Real Time“, in: Clinical Neurophysiology 118, 6 (2007). 218 ALBERTO DE CAMPO Die Faszination von MusikerInnen und KomponistInnen für Gehirnwellen, be- ginnend mit Alvin Luciers „Music for Solo Performer“ (1965) u. v. a. setzt sich bis in die Gegenwart fort und bezieht inzwischen auch die Forschung zu Brain-Computer-Interfaces in künstlerische Projekte ein. Unabhängig davon wird die Idee des Hörens als wissenschaftliche Methode immer wieder von Forschern neu entdeckt, die die sonification community nicht zu kennen scheinen, so z. B. die Sonozytologie von James Gimzewski.17 Es scheint wahrscheinlich, dass die Forschungsaktivität in der Sonifikation und im Auditory Display in Zukunft noch zunehmen wird: Einerseits bietet es die Chance, sehbehinderten Menschen besseren Zugang zum immer weiter an- schwellenden Fluss der Informationen zu ermöglichen, andererseits sind bei kleinen mobilen Geräten die visuellen Möglichkeiten beschränkt und akusti- sche Interfaces ermöglichen Kommunikation, die die Augen für andere Aufga- ben frei lassen („eyes-free“). 4. Das Forschungsprojekt SonEnvir Um sich eine genauere Vorstellung einer wissenschaftlichen Methode zu bil- den, sind konkrete Beispiele unersetzlich. Hier greife ich vor allem auf Arbei- ten zurück, an denen ich direkt beteiligt war, weil sie leicht zugänglich sind, und ich viel Kontextwissen dazu einbringen kann; einige der beschriebenen Arbeiten von anderen sind im Rahmen eines Konzertwettbewerbs der ICAD entstanden. Diese Arbeiten fanden weitgehend in einem interdisziplinär angelegten Pro- jekt statt, das von 2005 bis 2007 am Institut für elektronische Musik in Graz stattfand. Der Name „SonEnvir“ steht für „Sonification Environment“, also Umgebung zur Sonifikation, d. h. Repräsentation, Analyse, Exploration wis- senschaftlicher Daten. Die diversen Einzelprojekte sind auf der Projektwebsite http://sonenvir.at ausführlich dokumentiert. Ausgangspunkt für unser Projekt war die Auffassung, dass Sonifikation nur interdisziplinär wirklich denkbar ist, unter Einbeziehung von Disziplinen wie Human Computer Interaction, Psychoakustik, Auditory Display Design, Ex- ploratory Data Analysis, künstlerisches Sound Design, und vor allem auch denjenigen wissenschaftlichen Gebieten, für die Sonifikationen als Mittel zur 15 Thomas Hermann/Gerold Baier/Ulrich Stephani/Helge Ritter, „Vocal Sonification of Patho- logic EEG Features“, in: Proceedings of the International Conference on Auditory Display (ICAD), London, UK, 2006. 16 Thilo Hinterberger/Gerold Baier, „POSER: Parametric Orchestral Sonification of EEG in Real-Time for the Self-Regulation of Brain States“, in: IEEE Multimedia (Special Issue on Sonification) 12, 2 (2005), S. 70-79. 17 Siehe hierzu Andrew E. Pelling/Sadaf Sehati/Edith B. Gralle/Joan S. Valentine/James K. Gim- zewski, „Local Nanomechanical Motion of the Cell Wall of Saccharomyces cerevisiae“, in: Sci- ence 305, 5687 (2004), S. 1147-1150. SONIFIKATION 219 Hypothesenbildung, Exploration entwickelt werden sollten. Von Anfang an mit einbezogen wurden deshalb die Anwendungsgebiete Neurologie, Physik, Soziologie, und Signalverarbeitung. Jedes war im Projekt mit einem/einer Wissenschaftler/in vertreten. Ergebnisse dieses Projekts waren neben zahlreichen Sonifikationen für wis- senschaftliche und künstlerische Kontexte, von denen stellvertretend einige diskutiert werden, eine handlungsleitende Theorie, die Data Sonification De- sign Space Map, die zunächst kurz skizziert werden soll. 5. Data Sonification Design Space Map18 Wenn man zu neuen Forschungsfragen mit Darstellungsexperimenten beginnt, gleichgültig ob in visueller oder akustischer Form, weiß man gerade auch in Situationen interdisziplinärer Zusammenarbeit zunächst wenig über die je- weils anderen Gebiete: Eine Sonifikationsexpertin wird wenig über eine quan- tenphysikalische Frage wissen, ein Physiker wenig darüber, welche Varianten von Auditory Display bzw. Sonifikation für seinen konkreten Fall überhaupt infrage kommen. Kurz, wie beginnt man an Sonifikationen zu arbeiten, bevor man den ganzen Kontext kennt? Die Data Sonification Design Space Map entwickelt für diese Problemlage Strategien, indem sie im Sinne der ,„Grounded Theory“19 aus einer breiten praktischen Basis (wie wir sie im Projekt und speziell im Workshop „Science by Ear“ entwickelt haben) theoretische Abstraktionen bildet. Damit soll impli- zites Wissen von PraktikerInnen erschlossen werden, um als Grundlage für re- flektierende Diskussion, Didaktik und als Orientierung im Designprozess von neuen Anwendungen zu dienen. Die Data Sonification Design Space Map be- trachtet die sogenannten Sonification Designs als experimentelle Setups im Sinne von Rheinberger20, die im Idealfall als Standardlösungen in die allge- meine Praxis übergehen können. Die Design Space Map stellt drei Fragen, die den Suchvorgang nach emer- genten Phänomenen in den Daten systematisch beschleunigen soll: 1. Bei welchen Mengen an Datenpunkten ist zu erwarten, dass emergente Phänomene beobachtet werden können, also Wahrnehmung von Gestalten auf- tritt? Diese Anzahl an Punkten sollte dann innerhalb der typischen Dauer des akustischen Kurzzeitgedächtnisses (etwa 3 Sekunden)21 hörbar werden. (In Abb. 1 heißt diese Zahl gestalt number.) 18 Vgl. Alberto de Campo, Science by Ear. An Interdisciplinary Approach to Sonifying Scientific Data, Dissertation, Universität für Musik und Darstellende Kunst Graz, 2009, S. 37-51. 19 Barney G. Glaser/Anselm L.Strauss, The Discovery of Grounded Theory, New York, NY, 1967. 20 Rheinberger (2006), Experimentalsysteme. 21 Bob Snyder, Music and Memor: an Introduction, Cambridge, MA (u. a.), 2000. 220 ALBERTO DE CAMPO 2. Wie viele Eigenschaften jedes Datenpunkts will man in die aktuelle Ver- sion der Darstellung einbeziehen? Je nach Verfahren können einzelne Daten- dimensionen direkt als Klangparameter abgebildet werden (z. B. Temperatur als Tonhöhe); nicht immer müssen alle Datendimensionen in jede Version des Sonification Designs einbezogen werden. 3. Wie viele parallele Klangverläufe (auditory streams)22 sollen zum Ein- satz kommen? Bei Daten, die parallele Verläufe in der Zeit darstellen, liegt es nahe, diese oder eine Auswahl davon auch parallel darzustellen. Auf alle drei Fragen antwortet man mit geschätzten Zahlen; aufgrund der Konstellation dieser Zahlen schlägt die Design Space Map eine Auswahl der Strategie für den nächsten Entwurf eines Sonification Designs vor. Damit er- laubt sie informierte Designentscheidungen auf der Basis von Wissen um psy- choakustische Zusammenhänge und Vermutungen über die Daten. Abbildung 1 zeigt die typischen Bereiche der drei elementaren Sonifikations- Verfahren: Continuous Data Representation: Die Daten bilden einen kontinuierlichen Verlauf in der Zeit; dieses Verfahren ist bei großen Datenmengen sinnvoll. Discrete Point Data Representation: Jeder Datenpunkt wird als eigenes, im Normalfall sehr kurzes, Ereignis dargestellt; meist bei niedrigeren Gestaltzah- len eingesetzt. 22 Albert S. Bregman, Auditory Scene Analysis: the Perceptual Organization of Sound, Cam- bridge, MA (u. a.), 1990. SONIFIKATION 221 Model Based Data Representation: Die Daten informieren ein Modell, das vom User interaktiv quasi mit Energie angeregt und damit „gespielt“ werden kann, etwa indem physikalische Resonanzvorgänge simuliert werden. Das kann speziell bei hochdimensionalen Daten effektiv sein. Entwicklungsschritte im Sonification Design lassen sich als Bewegungen auf der Space Map denken und darstellen: Wenn man untersuchen will, ob bei größeren Datenmengen andere Phänomene hervortreten, bewegt man sich auf der Karte nach rechts, bringt also mehr Datenpunkte ins gleiche Zeitfenster. Will man die Darstellung einfacher halten, kann man mit wenigen Datendi- mensionen beginnen. Soll die Darstellung komplexer werden, bildet man spä- ter mehr Dimensionen im Klang selbst ab. 6. Beispiele für Sonification Designs im Projekt SonEnvir Die folgenden Beispiele wurden alle im Kontext des Projekts SonEnvir entwi- ckelt. Sie sind in einzelnen conference papers dokumentiert und zusammen- fassend in de Campo23; darüber hinaus sind sie in der Sammlung von Sonifica- tion Designs auf der Projektwebsite (http://sonenvir.at/data) mit Klangbeispie- len aufbereitet. Sämtlicher Code dieser Beispiele (in der Sprache „SuperColli- der3“24 geschrieben) ist auch online verfügbar. Die Integration in eine einzige, leicht benutzbare Demoapplikation für das ganze Projekt wurde erst nach Pro- jektende begonnen und wird erst nach und nach stattfinden. FRR Log Player SonEnvir-Kollege Christian Dayé hat im EU-Projekt FRR (Friendly Rest Room) mitgearbeitet, in dem es um die Entwicklung einer funktional flexiblen Toilette für Menschen mit verschiedenen Behinderungen ging. Gegen Ende dieses Projekts fand ein Feldversuch statt, bei dem diese Toilette mit vielen Personen getestet wurde. Die Benutzungssequenzen wurden dabei als Logs mitgeschrieben. Sensoren registrieren, wenn die Tür geöffnet wird, wenn die Neigung der Toilette sich durch Belastung ändert, wenn Höhe oder Neigung per Fernbedienung verstellt wird, wenn die Spülung betätigt wird, wenn der Hilfeknopf gedrückt wird und anderes. (Kameras waren hier offensichtlich aus Gründen der Privatsphäre ungeeignet.) Aus diesen Zeitverläufen sollten typische Benutzerverhaltensmuster er- kennbar werden, um z. B. Schwächen des Designs und der technischen Aus- stattung zu identifizieren, die bestimmten Benutzergruppen Schwierigkeiten machen. Die Abläufe können im Zeitraffer abgespielt werden, um sich einen 23 de Campo (2009), Science by Ear. 24 James McCartney et al., SuperCollider3, online unter: http://supercollider.sourceforge.net/, zuletzt aufgerufen am 12.07.2011. 222 ALBERTO DE CAMPO Überblick über die zeitlich ausgedehnten Benutzungsmuster zu verschaffen. Einerseits werden sie auf einem Graphical User Interface (GUI) optisch dar- gestellt, und andererseits sonifiziert: Jeder Knopf auf der Fernbedienung hat einen eigenen, einfachen symbolischen Sound; die Neigung wird als Richtung eines Glissandos im Hintergrundklang dargestellt.25 Eine genauere Beschrei- bung findet sich in Daye et al.26 und in de Campo27. 2 – Das grafische Interface zum LogPlayer zeigt eine symbolische Darstellung der Sensorzustände und die neuesten registrierten Events EEGPlayers Bei diesen beiden Sonification Designs ging es darum, für die Beobachtung und Auswertung von EEG-Aufzeichnungen Tools zu erstellen, die im Kontext klinischer Praxis in der Neurologie einsetzbar und nützlich sein sollten. Beide Designs sind mit Klangbeispielen auf http://sonenvir.at/data/eeg/ beschrieben, ausführlich in de Campo28 und aus neurologischer Sicht in Wallisch29. Beim EEGScreener (s. Abb 3) ist das Anwendungsszenario die Analyse von Langzeit-EEG-Aufzeichnungen, wie sie z. B. bei Kindern gemacht wer- den, bei denen Verdacht auf sogenannte Absence-Epilepsie besteht. Die kli- nisch relevanten Anteile in EEG-Signalen sind eher niederfrequent (zwischen 1 Hz und etwa 30 Hz) und bei zeitbeschleunigtem Abhören dieser Signale las- sen sie sich gut in den hörbaren Bereich (20 bis 20.000 Hz) verschieben. Sie 25 Dieses Beispiel ist mit Klangbeispielen kurz beschrieben unter http://sonenvir.at/data/log data1/. 26 Christian Dayé/Alberto de Campo/Christian Fleck/Christopher Frauenberger/Georg Edel- mayer, „Sonification as a Tool to Reconstruct User’s Actions in Unobservable Areas“, in: Proceedings of the International Conference on Auditory Display (ICAD), Limerick, Ireland, 2005. 27 de Campo (2009), Science by Ear. 28 Ebd. 29 Annette Wallisch, EEG plus Sonifikation. Sonifikation von EEG-Daten zur Epilepsiediagnos- tik im Rahmen des Projekts ,SonEnvir‘, Dissertation, Medizinische Universität Graz, 2007. SONIFIKATION 223 sind in EEG-typische Frequenzbänder aufteilbar, Zeitabschnitte lassen sich wiederholt anhören, und man kann leicht annotierte Hörprotokolle mit genau- en Zeitpunkten und Einstellungen anfertigen. 3 – Grafisches User Interface des EEGScreeners 4 – Grafisches User Interface des EEGRealtimePlayers Mehrere Stunden lang gleichzeitig auf einen Videoschirm zu achten, der den Patienten zeigt, und auf einen zweiten Bildschirm, auf dem die EEG-Signale gezeigt werden, ist sehr ermüdend. Der EEGRealtimePlayer (s. Abb 4) kann eingesetzt werden, um bei laufenden EEG-Aufnahmen das Überwachungsper- 224 ALBERTO DE CAMPO sonal dabei zu unterstützen und zu entlasten. Die akustische Darstellung über Sonifikation erlaubt hier, sich an eine relativ konstante Klangkulisse zu ge- wöhnen; wenn in dieser Klangkulisse überraschende Änderungen auftreten, wird man von selbst aufmerksam. Dazu werden die EEG-Signale in rhythmisch pulsierende Klänge verwan- delt, deren Zeitstrukturen in verschiedenen Tonhöhenschichten abgebildet werden. Dadurch ist der EEGRealtimePlayer auch verwendbar, um diese Zeit- strukturen zu Analysezwecken genauer unter die akustische Lupe zu nehmen. Juggling Sounds Diese Arbeit wurde vor allem von Till Bovermann mit Jonas Groten30 reali- siert, und beruht auf der Idee, JongleurInnen beim Erlernen und Ausarbeiten von verschiedenen komplexen Bewegungsformen auditives Feedback zu ge- ben. Einerseits haben Jongleure visuell mit dem Beobachten der Keulen, Bäl- le, o. Ä. schon genug zu tun, andererseits geht es oft darum, Bewegungen auf der linken und der rechten Körperhälfte synchron oder gegengleich auszufüh- ren, was optisch schwierig festzustellen ist. Die Arbeit wird am besten anhand der Videos auf http://sonenvir.at/data/Jug glingSounds/ verständlich. Die Bewegungen der Keulen werden mit Markern und schnellen Kameras verfolgt, und diese Daten werden in vier Zonen auf vier verschiedene Arten sonifiziert. Diese Varianten sind jeweils für bestimmte Jong- lageformen speziell geeignet, weil sie z. B. Exaktheit der Wurfhöhen, oder Gleichheit der Drehwinkel der Keulen gesondert darstellen. Gleichzeitig ist diese variable Mehrfachdarstellung für JonglagekünstlerInnen auch einfach reiz- voll als Erweiterung ihrer Performancepraxis. Natürlich geht auch hier das De- sign der Sounds und der Mappings zwischen Bewegungen und Sounds über eine rein technische Arbeitsweise hinaus: Wenn die technische Seite funktioniert, be- ginnt die künstlerisch-gestalterische Arbeit an Sonifikationen. Wahlgesänge Wahlgesänge thematisiert ein Ordnungsprinzip, wie es bei sozialen Daten häu- fig vorkommt, nämlich räumlich geordnete Daten. Als sehr einfaches Beispiel haben wir Daten von Wahlergebnissen in einem österreichischen Bundesland gewählt: der Steiermark. Daten von mehreren Landtagswahlen in über 500 Wahlkreisen liegen vor, und die Prozentzahlen jeder Partei und jeder Wahl können miteinander in ihrer räumlichen Verteilung verglichen werden. Auf dem Interface (s. Abb. 5) wählt man das Wahljahr und die Partei aus, die man hören will. Dann klickt man auf einen Punkt der Landkarte und löst damit eine Welle aus, die sich ringförmig vom Startpunkt ausbreitet. Wenn die 30 Till Bovermann/Alberto de Campo/Jonas Groten/Gerhard Eckel, „Juggling Sounds“, in: Pro- ceedings of the 2nd International Workshop on Interactive Sonification, York, 2007. SONIFIKATION 225 Welle auf einen Wahlkreis trifft, wird der Ton für das Ergebnis dieses Wahl- kreises ausgelöst. Man hört also das Zentrum zuerst, dann die nächsten Nach- barn, später entferntere Nachbarn. Die Tonhöhen werden von den relativen Prozentzahlen bestimmt. Durch wiederholtes Klicken an verschiedenen Orten kann man regionale Unterschiede und Besonderheiten im Wahlverhalten in hoher Auflösung erkunden. 5 – Grafisches User Interface des Wahlgesänge-Designs Dieses Design geht auf ein Beispiel für Model-Based Sonification von Till Bovermann31 zurück; Klangbeispiele finden sich unter http://sonenvir.at/data/ wahlgesaenge. Abgesehen von ihrer Relevanz für die jeweilige Anwendungsdisziplin haben die realisierten Sonifikationsdesigns in ihrer Vielfalt, gemeinsam mit den Erfahrungen, die das Team in den interdisziplinären Workshops sammeln konnte, entscheidend dazu beigetragen, dass mit der Sonification Design Space Map eine neue handlungsleitende Theorie für die Sonifikationsfor- schung entwickelt werden konnte. 31 Till Bovermann, „MBS-Sonogram“, 2005, online unter: http://www.techfak. uni-bielefeld. de/~tboverma/sc/, zuletzt aufgerufen am 12.07.2011. 226 ALBERTO DE CAMPO 7. Sonifikation in Wissenschaft und Kunst Abgesehen vom Interesse vieler KünstlerInnen an der Darstellung von Daten und Systemen sind auch viele Sonifikationsforscher der Ansicht, dass in der Praxis der Sonifikation interdisziplinäre Zusammenarbeit von Kunst und Wis- senschaft notwendig und sinnvoll ist. Die ICAD organisiert in ihren Konferen- zen Konzerte, um diese Idee zu propagieren. Für die ICAD 2004 hat Stephen Barrass einen Wettbewerb zu EEG-Daten ausgeschrieben („Listening to the Mind Listening“), dessen Ergebnisse im Sydney Opera House aufgeführt wur- den.32 Bei der ICAD in London 2006 hat das SonEnvir-Team den Concert Call und das Konzert selbst organisiert.33 Der Concert Call stellte globale Daten von 192 Ländern aus UNO-Statistiken34 zur Verfügung, von elementaren Da- ten wie Bevölkerungszahl, Fläche, BNP, Pro-Kopf-Einkommen bis hin zu Ausbildungszeiten für Männer und Frauen, Prozentsatz der Bevölkerung mit Zugang zu sauberem Wasser, Wohnbedingungen u. v. a. Die gestellte Aufgabe bestand darin, daraus soziologische Fragen zu entwickeln und diese Fragen mit Sonifikation zu behandeln. Die Sonifikationen sollten durchaus auch all- gemein verständlich sein, etwa in dem Sinne, wie Hans Rosling mit dem Pro- jekt GapMinder (http://www.gapminder.org/) populäre Aufklärungsarbeit durch neue, klug gestaltete und leicht verständliche Formen der Datenvisuali- sierung leistet. Im Folgenden behandle ich drei Beiträge für dieses Konzert. Zu diesen und fünf weiteren Arbeiten sind papers und MP3-Files verfügbar, die für Kopfhörerwiedergabe adaptiert sind.35 Life Expectancy – Tim Barrass Life Expectancy soll HörerInnen ermöglichen, Beziehungen zwischen Lebens- umständen und Lebenserwartung zu finden. Die gewählten Klänge verwenden sehr direkte Metaphern und sind insofern einfach lesbar. Gleichzeitig erlauben sie eine sehr dichte, reiche Darstellung. Das Stück besteht aus drei Teilen: einer introduction, die der Orientierung dient, einem langem Hauptteil und einer Coda, die Genderdifferenzen in der Lebenserwartung thematisiert. Der erste Teil zeigt in 20 Sekunden die räumlichen Richtungen aller Haupt- städte mit einem leicht ortbaren Glockenklang (auf einer ringförmigen Laut- sprecheranordnung mit 8 Kanälen), nach aufsteigender Lebenserwartung ge- ordnet, und die Lebenserwartung selbst, die als aufsteigende Linie umgesetzt ist. 32 http://www.icad.org/websiteV2.0/Conferences/ICAD2004/concert.htm. 33 http://www.dcs.qmul.ac.uk/research/imc/icad2006/concert.php. 34 UN Statistics Division, „Social Indicators“ (2006), online unter: http://unstats.un.org/unsd /demographic/products/socind/default.htm, zuletzt aufgerufen am 12.07.2011. 35 http://www.dcs.qmul.ac.uk/research/imc/icad2006/proceedings/concert/index.html. SONIFIKATION 227 Der Hauptteil bringt in ca. 6 Minuten sehr viel Information: Jedes Land wird durch eine komplexe Audiovignette von ca. 2 Sekunden dargestellt; der interessanteste Aspekt daran ist die Reihenfolge: Sie beginnt beim Land mit der höchsten Lebenserwartung, springt zur niedrigsten, dann zur zweithöchs- ten, zur zweitniedrigsten usw., bis die Reihe in der Mitte endet. Die Audiovignette für jedes Land bringt den Namen des Landes (als Text gesprochen), die Population (als Anzahl der sprechenden Stimmen), die Po- sition (als geografische Breite als Tonhöhe der Glocke, die Länge als Richtung am Ring). Die Lebenserwartung selbst wird als aufsteigende Tonleiter umge- setzt, die abbricht (1 Note = 10 Jahre) – zunächst für Männer, dann für Frauen. Das Durchschnittseinkommen erklingt als Münzen und der Zugang zu saube- rem Wasser als Klang eines Wassergefäßes. Die Coda stellt die Genderunterschiede in der Lebenserwartung noch mal explizit dar, als Glissando eines Tons vom jeweiligen Wert für Männer zu dem von Frauen. Tim Barrass selbst beschreibt seine Arbeit eher zurückhaltend: I have taken a straightforward and not particularly musical approach, in an at- tempt to gain a clear impression of the dataset. The sound mapping is ,brittle‘, designed specifically for the dataset. I would not expect this approach to provide a flexible base to explore the musical, sonic and informational possibilities of similar material, but it may at least serve as an example of one direction that has been tried.36 Obwohl das Stück ‚schmucklos‘ erscheint, indem es sehr viele Daten sehr direkt abbildet, finde ich es sowohl als Komposition wie als Sonifikation her- vorragend gelungen: Es stellt komplexe Zusammenhänge elegant in einer Form dar, die als Hörerlebnis wirklich interessant ist. Die Metaphern sind so transparent, dass man viele Details nach und nach entdecken und ‚lesen‘ ler- nen kann. Die stärkste Intervention im Stück, die Idee, Länder mit hohen und niedrigen Werten bei der jeweiligen Lebenserwartung zu verweben, und die sich daraus ergebenden Konstellationen haben wohl nicht nur bei mir zu neuen Perspektiven geführt. ,Navegar É Preciso, Viver Não É Preciso‘ – Alberto de Campo, Christian Dayé37 Die Arbeit an diesem Stück begann mit der Frage, wie man die räumlich ge- ordneten Daten von 192 Ländern in eine zeitliche Ordnung (für ein Konzert) bringen kann. Die Idee, dass sich die Sonifikation entlang der Route der histo- 36 Tim Barrass, „Description of Sonification for ICAD 2006 Concert: Life Expectancy“, in: Proceedings of the International Conference on Auditory Display (ICAD), London, UK, 2006. 37 Alberto de Campo/Christian Dayé, „Navegar É Preciso, Viver Não É Preciso“, in: Proceed- ings of the International Conference on Auditory Display (ICAD), London, UK, 2006. 228 ALBERTO DE CAMPO risch ersten Umrundung der Erde von Fernando Magellan (1519-1522) bewe- gen könnte, hat alle weiteren Entscheidungen maßgeblich beeinflusst. Genau- ere Dokumentation und ein Soundfile des Stücks finden sich auf der Website der ICAD 2006. 6 – Primo Viaggio Intorno al Globo Terracqueo, Antonio Pigafetta (1530) Die historischen Kolonisatoren wollten Gewürze finden: das damals teuerste Gut. Wir fragten uns: Welche modernen Äquivalente wären für die Kolonisa- toren heute interessant? Unsere Wahl fiel auf Reichtum und Einkommensver- teilung im Detail (der sogenannte Gini-Index) und den Zugang zu sauberem Wasser als zukunftskritische Ressource. Wir haben uns hier bewusst zu höherer Komplexität der Darstellung ent- schieden; obwohl das mehr Konzentration von den HörerInnen verlangt, bleibt so das Hörerlebnis auch nach mehrmaligem Hören interessant. Jedes Land wird mit einem komplexen Strom von Klängen dargestellt, der aus 5 nach- klingenden ‚Resonatoren‘ zusammengesetzt ist, die von zufällig verteilten Klicks mit einer bestimmten Dichte ‚angeschlagen‘ werden. Der zentrale Re- sonator klingt auf einer Tonhöhe nach, die vom mittleren Einkommen des je- weiligen Landes bestimmt wird, und ist am häufigsten zu hören; die beiden äußeren Paare (,Satelliten‘) erklingen seltener, und ihre Tonhöhen entsprechen den höchsten und niedrigsten 10 bzw. 20 % der Einkommensverteilung. Län- der mit sehr geringen Einkommensunterschieden klingen wie eng beieinander- liegende Akkorde, bei großen Unterschieden ist der fünfstimmige Akkord weit aufgespreizt. Alle Parameter dieses komplexen Klangs werden von den Daten des jewei- ligen Landes und vom Navigationsprozess bestimmt, d. h. von der aktuellen Distanz und Richtung des virtuellen Schiffs zu dem jeweiligen Land. Man hört immer die Klänge der nächstliegenden 15 Länder gleichzeitig, aus den Rich- tungen, in denen sie relativ zum Schiff liegen. SONIFIKATION 229 Die Mappings sind im einzelnen: Bevölkerungsdichte des Landes Dichte der zufälligen Trigger der Resonatoren Einkommen pro Kopf Tonhöhe des zentralen Resonators Ratio höchste/niedrigste Tonhöhen der äußeren 10 % Einkommen Satelliten-Resonatoren Ratio höchste/niedrigste Tonhöhen der inneren 20 % Einkommen Satelliten-Resonatoren Zugang zu sauberem Wasser Nachklingzeiten der Resonatoren (kurz = trocken) Distanz zum Schiff Lautstärke, Attack (weit weg = verschwommen) Richtung zum Schiff Richtung des Klangs im Lautsprecher-Ring Geschwindigkeit und Ausrichtung Richtung, Klangfarbe, Lautstärke des des Schiffs, Windstärke Windgeräusches Um die gewählten Mappings von den Daten auf Klangeigenschaften lernen zu können, zeige ich in Vorträgen meist ein interaktives Beispiel, bei dem man den gesamten Soundstream eines Landes hört und zwischen allen 192 Ländern umschalten kann; der Code dafür ist als Teil des Kapitels über Sonifikation im SuperCollider Book auch online verfügbar. Damit lassen sich multidimensio- nale Unterschiede wie etwa zwischen der Mongolei (sehr niedrige Bevölke- rungsdichte, sehr arm) und Hongkong (sehr dichte Bevölkerung, sehr reich) gut vergleichen und erfassen. Mehr Hintergrundinformationen zu Reiseroute und anderen Details sind in Dayé und de Campo38 und in de Campo39 zu fin- den. Terra Nullius – Julian Rohrhuber, ICAD Concert 2006 London Dieses Stück thematisiert ein zentrales Problem sozialer Daten: ihre Unvoll- ständigkeit. Manchmal sind fehlende Daten (missing data) ergänzbar, meis- tens aber nicht. Was bedeutet es, wenn beispielsweise bei Daten, die eine Per- 38 Christian Dayé/Alberto de Campo/Marianne Egger de Campo, „Sonifikationen in der wissen- schaftlichen Datenanalyse“, in: Angewandte Sozialforschung 24, 1/2 (2006), S. 41-56. 39 de Campo (2009), Science by Ear. 230 ALBERTO DE CAMPO son beschreiben, der Wert für Alter fehlt? Entlang einer linearen Skala für den Parameter „Alter“ können die Daten nach dieser Dimension nicht mehr geord- net werden. Wenn der Wert für das Alter in irgendeiner Form abgebildet wer- den soll, fehlt eine Eigenschaft wie z. B. die Farbe eines dargestellten Daten- punkts. Am ehesten könnte man argumentieren, dass das Fehlen von Daten als neue, orthogonale Dimension behandelt werden müsste. Die betroffenen Da- tenpunkte auszuschließen ist zwar möglich, kann allerdings die Datenlage un- zulässig verzerren. „Terra Nullius“ macht dieses Niemandsland der Bedeutungen explizit hör- bar: Die ZuhörerInnen befinden sich im virtuellen Erdmittelpunkt, während sich ein Zeiger um die Erde dreht. Zuerst werden nur die Länder mit geografi- scher Breite nahe an der von Greenwich hörbar, in der Reihenfolge ihrer geo- grafischen Länge. Nach und nach kommen mehr Länder in nördlichen und südlichen Breiten dazu. Jede Datendimension wird einem bestimmten Frequenzband zugeordnet, und wenn in einem Land die Daten für diese Dimension fehlen, macht Rau- schen in diesem Frequenzbereich dieses Fehlen hörbar. Rohrhuber dazu: „A band of filtered noise is used for each dimension that is missing, i.e. the nois- ier it is, the less we know. In the end the missing itself seems quite rich of in- formation – only about what?“40 8. Diskussion und Ausblick Sonifikation als wissenschaftliche und künstlerische Praxis wirft die gleichen epistemologischen Fragen auf wie andere Repräsentationsstrategien: – Sind die emergenten Phänomene immanent in den Daten bzw. Model- len? – Existieren sie nur in der Wahrnehmung der BeobachterInnen? – Wie sicher kann man eigentliche Dateneigenschaften und Darstel- lungsartefakte unterscheiden – oder kann man zumindest lernen, sie zu unterscheiden? – Jede Darstellung ist schon eine Interpretation – welche konkreten Darstellungsformen einer Struktur sind dann neutraler, aussagekräfti- ger als andere? Diese Fragen stellen sich bei jeder Gestaltung einer neuen Sonifikation aufs Neue, insofern gibt es hier keine definitive Antworten – das Nachdenken darü- ber gewinnt durch die Beschäftigung mit Perzeptualisationsformen als Metho- den der Erkenntnis neue Aspekte. Es scheint sehr wahrscheinlich, dass sich akustische Repräsentationen von Daten, Systemen und Modellen weiter ausbreiten werden, vor allem auch dort, 40 Julian Rohrhuber, „Terra Nullius“, in: Proceedings of the International Conference on Audi- tory Display (ICAD), London, UK, 2006. SONIFIKATION 231 wo reiche Interaktionsmöglichkeiten mit den Systemen erstrebenswert sind. Im wissenschaftlichen Bereich tragen Projekte wie SonEnvir und das Nachfol- geprojekt QCD-Audio41 sowie die Arbeiten in der Neuroinformatikgruppe in Bielefeld42 dazu bei, diese Methoden zu verfeinern und in neuen experimentel- len Setups als technische Dinge zu erproben. Im eher anwendungsorientierten Bereich des Interaktionsdesigns für mobile Geräte ist zu erwarten, dass Audi- tory Display, also der Einsatz akustischer Interfaces, weiter zunehmen wird. Zahlreiche KünstlerInnen haben großes Interesse daran, Sonifikation in die Gestaltung von komplexen multimedialen Arbeiten zu wissenschaftlichen oder sozialen Fragen einzubeziehen. Um nur ein Beispiel zu erwähnen: Ich hatte das große Vergnügen, in dem Projekt „Bonner Durchmusterung“ (ein Auftragswerk zum Jahr der Astrono- mie 2009) mit dem Komponisten Marcus Schmickler zusammen Sonification Designs für viele verschiedene Arten von astronomischen Daten und Modellen zu entwerfen. Diese Designs waren bewusst eher strikt gehalten. Schmicklers Stück ist eine Folge von Episoden, die verschiedene astronomische Phäno- mene behandeln; als ich es erstmals ganz hörte, war ich verblüfft über den Un- terschied zwischen dem, was ich von den einzelnen Designs in akustischer Er- innerung hatte, und der Komposition, die dieses Material mit weniger strengen Interpretationen der Phänomene und frei gestalteten Überleitungen so kombi- nierte, dass ein sehr überzeugender ästhetischer Zusammenhang entstand. Literatur Baier, Gerold/Hermann, Thomas, „The Sonification of Rhythms in Human Electroen- cephalogram“, in: Proceedings of the International Conference on Auditory Display (ICAD), Sydney, Australia, 2004. Ders./Hermann, Thomas/Stephani, Ulrich, „Event-Based Sonification of EEG Rhythms in Real Time“, in: Clinical Neurophysiology 118, 6 (2007). Barrass, Tim, „Description of Sonification for ICAD 2006 Concert: Life Expectancy“, in: Proceedings of the International Conference on Auditory Display (ICAD), Lon- don, UK, 2006. Bovermann, Till, „MBS-Sonogram“, 2005, online unter: http://www.techfak. uni-biele feld.de/~tboverma/sc/, zuletzt aufgerufen am 12.07.2011. Ders./de Campo, Alberto/Groten, Jonas/Eckel, Gerhard, „Juggling Sounds“, in: Pro- ceedings of the 2nd International Workshop on Interactive Sonification, York, 2007. Bregman, Albert S., Auditory Scene Analysis: the Perceptual Organization of Sound, Cambridge, MA (u. a.), 1990. 41 http://www.qcd-audio.at/. 42 http://ni.www.techfak.uni-bielefeld.de/ sowie http://www.techfak.uni-bielefeld.de/ags/ami/. 232 ALBERTO DE CAMPO Dayé, Christian/de Campo, Alberto/Fleck, Christian/Frauenberger, Christopher/Edel- mayer, Georg, „Sonification as a Tool to Reconstruct User’s Actions in Unobserv- able Areas“, in: Proceedings of the International Conference on Auditory Display (ICAD), Limerick, Ireland, 2005. Ders./de Campo, Alberto/Egger de Campo, Marianne, „Sonifikationen in der wissen- schaftlichen Datenanalyse“, in: Angewandte Sozialforschung 24, 1/2 (2006), S. 41- 56. de Campo, Alberto, Science by Ear. An Interdisciplinary Approach to Sonifying Scien- tific Data, Dissertation, Universität für Musik und Darstellende Kunst Graz, 2009. Ders./Dayé, Christian, „Navegar É Preciso, Viver Não É Preciso“, in: Proceedings of the International Conference on Auditory Display (ICAD), London, UK, 2006. Ders./Rohrhuber, Julian/Bovermann, Till/Frauenberger, Christopher, „Sonification and Auditory Display in SuperCollider“, in: Scott Wilson/David Michael Cottle (Hg.), The SuperCollider Book, Cambridge, MA, 2011, S. 381-408. Dombois, Florian, „Using Audification in Planetary Seismology“, in: Proceedings of the International Conference on Auditory Display (ICAD), Espoo, Finland, 2001. Drake, Stillman, Galileo, New York, NY, 1980. Fitch, W. T./Kramer, Gregory, „Sonifying the Body Electric: Superiority of an Audi- tory over a Visual Display in a Complex Multivariate System“, in: Gregory Kramer (Hg.), Auditory Display: Sonification, Audification, and Auditory Interfaces, Read- ing, MA, 1994, S. 307-325. Friedhoff, Richard Mark, „Part of a Panel Discussion: Is Visualization Really Neces- sary? The Role of Vizualization in Science, Engineering, and Medicine“, in: Greg- ory M. Nielson/Dan Bergeron/IEEE Computer Society (Hg.), Visualization ’93: Proceedings, October 25-29th, Bd. 5, San Jose, CA, 1993, S. 343. Gaver, William W./Smith, Randall B./O’Shea, Tim, „Effective Sounds in Complex Systems: The ARKola Simulation“, in: Proceedings of CHI ’91, New Orleans, USA, 1991. Glaser, Barney G./Strauss, Anselm L., The Discovery of Grounded Theory, New York, NY, 1967. Hayward, Chris, „Listening to the Earth Sing“, in: Gregory Kramer (Hg.), Auditory Display: Sonification, Audification, and Auditory Interfaces, Reading, MA, 1994, S. 369-404. Hermann, Thomas/Baier, Gerold/Stephani, Ulrich/Ritter, Helge, „Vocal Sonification of Pathologic EEG Features“, in: Proceedings of the International Conference on Auditory Display (ICAD), London, UK, 2006. Hinterberger, Thilo/Baier, Gerold „POSER: Parametric Orchestral Sonification of EEG in Real-Time for the Self-Regulation of Brain States“, in: IEEE Multimedia (Special Issue on Sonification) 12, 2 (2005), S. 70-79. Jordà Puig, Sergi, Digital Lutherie. Crafting Musical Computers for New Musics’ Per- formance and Improvisation, PhD thesis, Departament de Tecnologia, Universitat Pompeu Fabra, 2005. Kramer, Gregory, Auditory Display: Sonification, Audification, and Auditory Inter- faces, Reading, MA, 1994. Ders., „An Introduction to Auditory Display“, in: ders. (Hg.), Auditory Display: Sonifi- cation, Audification, and Auditory Interfaces, Reading, MA, 1994. McCartney, James et al., SuperCollider3, online unter: http://supercollider.source forge.net/, zuletzt aufgerufen am 12.07.2011. SONIFIKATION 233 Pelling, Andrew E./Sehati, Sadaf/Gralle, Edith B./Valentine, Joan S./Gimzewski, James K., „Local Nanomechanical Motion of the Cell Wall of Saccharomyces cere- visiae“, in: Science 305, 5687 (2004), S. 1147-1150. Pereverzev, S. V./Loshak, A./Backhaus, S./Davies, J./Packard, R. E., „Quantum Oscil- lations Between Two Weakly Coupled Reservoirs of Superfluid 3He“, in: Nature, 388 (1997), S. 449-451. Pigafetta, Antonio, Primo Viaggio Intorno al Globo Terracqueo, hg. v. Carlo Amor- etti, Mailand, 1800. Ders., Mit Magellan um die Erde: ein Augenzeugenbericht der ersten Weltumsegelung 1519-1522, hg. v. Robert Grün, mit einem Vorwort von Dieter Lohmann, Stuttgart, Wien, 2001. Rheinberger, Hans-Jörg, Experimentalsysteme und epistemische Dinge: eine Geschich- te der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt/M., 2006. Riess, Falk/Heering, Peter/Nawrath, Dennis, „Reconstructing Galileo’s Inclined Plane Experiments for Teaching Purposes“, in: Proceedings of the 8th International His- tory, Philosophy, Sociology and Science Teaching Conference, Leeds, UK, 2005. Roads, Curtis, Microsound, Cambridge, MA, 2002. Rohrhuber, Julian, „Terra Nullius“, in: Proceedings of the International Conference on Auditory Display (ICAD), London, UK, 2006. Snyder, Bob, Music and Memory: an Introduction, Cambridge, MA (u. a.), 2000. Speeth, Sheridan D., „Seismometer Sounds“, in: Journal of the Acoustical Society of America, 33 (1961), S. 909-916. UN Statistics Division, „Social Indicators“ (2006), online unter: http://unstats.un.org/ unsd/demographic/products/socind/default.htm, zuletzt aufgerufen am 12.07.2011. Wallisch, Annette, EEG plus Sonifikation. Sonifikation von EEG-Daten zur Epilepsie- diagnostik im Rahmen des Projekts ,SonEnvir‘, Dissertation, Medizinische Universi- tät Graz, 2007. Wedensky, N., „Die telefonische Wirkungen des erregten Nerven“, in: Centralblatt für medizinische Wissenschaften, 26 (1883). Internetquellen http://ni.www.techfak.uni-bielefeld.de/ http://sonenvir.at http://sonenvir.at/data http://sonenvir.at/data/eeg/ http://sonenvir.at/data/JugglingSounds/ http://sonenvir.at/data/logdata1/ http://sonenvir.at/data/wahlgesaenge http://www.dcs.qmul.ac.uk/research/imc/icad2006/concert.php http://www.dcs.qmul.ac.uk/research/imc/icad2006/proceedings/concert/index.html http://www.gapminder.org/) http://www.icad.org/websiteV2.0/Conferences/ICAD2004/concert.htm http://www.qcd-audio.at/ http://www.techfak.uni-bielefeld.de/ags/ami/ ABBILDUNGSNACHWEISE Hartmut Winkler Abb. 1: Dieter E. Zimmer, „Schönheit, was ist das?“, in: Die Zeit – Magazin, Nr. 2, 05.01.1996, S. 8-15: 10. Abb. 2: Hartmut Winkler, Basiswissen Medien, Frankfurt/M., 2008, S. 258. Abb. 3: Ebd., S. 271. Abb. 4 und 5: Ebd., S. 272. Rolf F. Nohr Abb. 2: ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (Hg.), Neue Apotheken Illustrierte, Eschborn, 15.02.2006. Abb. 3: Persönlicher Screenshot, online unter: http://www.bp.com/sectionbody copy.do?categoryId=9034366&contentId=7063636, zuletzt aufgerufen am 17.08.2010. Abb. 4 links: http://www.alaska-in-pictures.com/dead-oil-bird-3200-pictures.htm, zuletzt aufgerufen am 12.05.2011. (© 2000-2010 alaska-in-pictures.com.) Abb. 4 rechts: http://cf.komonews.com/100604_gulf_oil_spill_lg25.jpg, zu- letzt aufgerufen am 10.05.2011. (AP Photo/Charlie Riedel) Abb. 5 links: http://www.bp.com/liveassets/bp_internet/globalbp/globalbp_uk_eng lish/incident_response/STAGING/local_assets/images/HIVE_houston01.jpg, (zu- letzt aufgerufen am 10.05.2011. Abb. 5 rechts: http://1.bp.blogspot.com/_1xQeOPE9ePU/TETTdOtWj5I/AAAA AAAAFB0/iG1avKpceKk/s1600/bpphotoshop8.jpg, zuletzt aufgerufen am 10.05.2011. Abb. 6 links: Lennart Nilsson, Leben, München, 2006, S. 69. Abb. 6 mittig: Ebd., S. 73. Abb. 6 rechts: Ebd., S. 75. Abb. 7: Norbert Lossau, Röntgen: Eine Entdeckung verändert unser Leben, Köln, 1995, S. 94. Jürgen Link Abb. 1: Globus, 27.08.2004 Abb. 2: Die Zeit, 23.10.1992 Abb. 3: dpa-Infografik, 16.12.2002 Abb. 4: Die Welt, 15.08.1991 Abb. 5: Der Spiegel, 30.08.1999 Abb. 6: Der Spiegel, 18.05.1992 Franz J. Rammig Abb. 1 und 4 bis 7: eigene Darstellung 236 ABBILDUNGSNACHWEISE Abb. 2: Tales Heimfarth/Peter Janacik, „Experiments with Biologically- Inspired Methods for Service Assignment in Wireless Sensor Networks“, in: Pagnoni Hinchey et al. (Hg.), Biologically-Inspired Collaborative Computing, Bd. 268, 2008, S. 71-84: 74. Abb. 3: Ebd., S. 77. Werner Holly Für alle Abb.: Screenshots der Fernsehsendung „Maybrit Illner“ vom 29.03.2007. Christian Kassung Abb. 1: Caspar Uttenhofer, Circinus Geometricus, zu Teutsch Meß-Circel, Simon Halbmeyern, 1626, S. 80. Abb. 2: http://centraledesmaths.uregina.ca/rr/database/rr.09.07/cotcher/atlatl/ index.html, zuletzt aufgerufen am 06.09.2010. Abb. 3: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Battle_najera_froissart.jpg, zuletzt aufgerufen am 06.09.2010. Abb. 4: Sir Arthur Evans, The Palace of Minos at Knossos. A Comparative Account of the Successive Stages of the Early Cretan Civilisation as Illus- trated by the Discoveries, Bd. III, London, 1930, S. 179, Fig. 123 A und B. Abb. 5: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/84/Villa02%28js %29.jpg, zuletzt aufgerufen am 06.09.2010. Abb. 6: http://classes.bnf.fr/phebus/grands/c66_616.htm, zuletzt aufgerufen am 06.09.2010. Abb. 7: http://classes.bnf.fr/phebus/grands/c68_616.htm, zuletzt aufgerufen am 06.09.2010. Abb. 8: Alfred Gell, „Vogel’s Net. Traps as Artworks and Artworks as Traps“, in: Eric Hirsch (Hg.), The Art of Anthropology. Essays and Diagrams, (Lon- don School of Economics Monographs on Social Anthropology), Bd. 67, Lon- don, New Brunswick, NJ, 1999, S. 187-214: 201. Abb. 9: Gaston Phoebus, Le livre de la chasse. Das Buch von der Jagd, Graz, 1976, S. 107, online unter: http://classes.bnf.fr/phebus/grands/c64_616.htm, zu- letzt aufgerufen am 06.09.2010. Abb. 10: Gell (1999), Vogel’s Net, S. 199. Abb. 11: Ebd., S. 207. Alberto de Campo Abb. 1 bis 5: Screenshots Alberto de Campo Abb. 6: Universitätsbibliothek Graz: Antonio Pigafetta, Primo Viaggio Intorno al Globo Terracqueo, hg. v. Carlo Amoretti, Mailand, 1800, S. 7. ÜBER DIE AUTORINNEN UND AUTOREN CONRADI, TOBIAS, geb. 1981, promoviert im Fach Medienwissenschaften an der Universität Paderborn. Promotionsprojekt: „Automatismen in der Reprä- sentation von Krisen- und Katastrophenereignissen“. Von 2008 bis 2011 Sti- pendiat am Graduiertenkolleg Automatismen der Universität Paderborn. Bis Februar 2008 Studium der Medien- und Literaturwissenschaft an HBK und TU Braunschweig. 2006/2007 Aufenthalt an der University of East London (UEL), GB. Arbeitsgebiete: Diskurstheorie, Cultural Studies, Visual Culture. Neuere Veröffentlichung: Strukturentstehung durch Verflechtung. Akteur- Netzwerk-Theorie(n) und Automatismen (hg. mit Heike Derwanz/Florian Muhle) (2011). DE CAMPO, ALBERTO, geb. 1964, Dr. phil., Professor für Generative Kunst/ Computational Art an der Universität der Künste Berlin. Arbeitsgebiete: Künst- lerische Arbeit mit Sound, Sonifikation, Algorithmische Kunst. Neuere Ver- öffentlichungen: Einige Kapitel in The SuperCollider Book (2011), u. a. zu Mi- crosound, Object Modeling, Sonification and Auditory Display in Super Collider; Varia Zoosystematica Profundorum (Installation, 2010); Reversing Pendulum Music (Komposition/Performance, 2010); Science by Ear – An Inter- disciplinary Approach to Sonifying Scientific Data (2009). ECKER, GISELA, geb. 1946, Dr. phil., Professorin im Fach Komparatistik an der Universität Paderborn. Aktuelle Arbeitsgebiete: Gabentheorien, Materielle Kultur und die Künste, Cultural Studies. Neuere Buchveröffentlichungen u. a.: ‚Giftige’ Gaben. Über Tauschprozesse in der Literatur (2008); Kulturen der Arbeit (hg. mit Claudia Lillge) (2011). EKE, NORBERT OTTO, geb. 1958, Dr. phil., Professor für Neuere deutsche Li- teratur und Literaturtheorie an der Universität Paderborn. Arbeitsgebiete: Erin- nerungskulturen und ästhetische Formungen mit Schwerpunkten in den Berei- chen Dramen- und Theatergeschichte, deutsch-jüdische Literatur (Literatur und Shoah), Vormärzliteratur und Gegenwartsliteratur. Neuere Veröffentli- chungen u. a.: „Sprache, die so tröstlich zu mir kam“. Thomas Valentin in Briefen von und an Hermann Hesse (mit Dagmar Olasz-Eke) (2011); New Readings – Neulektüren (hg. mit Gerhard P. Knapp) (2009); Wort/Spiele. Dra- ma – Film – Literatur (2007); Shoah in der deutschsprachigen Literatur (hg. mit Hartmut Steinecke) (2006); Das Gedächtnis der Literatur. Konstitutions- formen des Vergangenen in der Literatur des 20. Jahrhunderts (hg. mit Alo Allkemper) (2006). Herausgeber der Zeitschrift für deutsche Philologie und der Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik. 238 ÜBER DIE AUTORINNEN UND AUTOREN HOLLY, WERNER, geb. 1946, Dr. phil., Professor für Germanistische Sprach- wissenschaft an der TU Chemnitz. Forschungsschwerpunkte: Pragmatik, Text- und Gesprächslinguistik, Diskursanalyse, Sprache in der Politik, Sprache und Medien, Audiovisualität. Wichtige neuere Veröffentlichungen: „Bildüber- schreibungen“, in: Bildlinguistik (2011); Linguistische Hermeneutik (hg. mit Fritz Hermanns) (2007); Über Geld spricht man (mit Stephan Hab- scheid/Frank Kleemann/Ingo Matuschek/G. Günter Voß) (2006); Fernsehen (2004); Einführung in die Pragmalinguistik (2001); Der sprechende Zu- schauer (hg. mit Ulrich Püschel/Jörg Bergmann) (2001). KASSUNG, CHRISTIAN, geb. 1968, Dr. phil., Professor für Kulturtechniken und Wissensgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsgebiete: Wissens- und Kulturgeschichte der Naturwissenschaften, v. a. der Physik, Ge- schichte und Praxis technischer Medien. Neuere Veröffentlichungen u. a.: Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls (2009); Das Pendel. Eine Wissensgeschichte (2007). LINK, JÜRGEN, geb. 1940, Dr. phil., Professor für Literaturwissenschaft und Diskurstheorie an der Universität Dortmund (2005 pensioniert). Seit 1982 Mitherausgeber der kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheo- rie. Arbeitsgebiete: Normalismus, Diskurstheorie, Kollektivsymbolik. Veröf- fentlichungen (Auswahl): Versuch über den Normalismus (20094 [1997]); Hölderlin-Rousseau: inventive Rückkehr (1999); Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe (19976 [1974]); Elementare Literatur und generative Diskurs- analyse (1983); Roman: Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung (2008). MÜLLER, STEPHAN, geb. 1967, Dr. phil., Professor für Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Universität Wien. Arbeitsgebiete: Theorie und Geschichte von Schrift und Überlieferung, historische Erzählforschung. Neue- re Veröffentlichungen u. a.: Codex und Raum (hg. mit Liselotte E. Saurma/ Peter Strohschneider) (2009); Deutsche Texte der Salierzeit (hg. mit Jens Schneider) (2009); Althochdeutsche Literatur (2007). MUHLE, FLORIAN, geb. 1981, promoviert im Fach Soziologie an der Biele- felder Graduate School in History and Sociology. Von 2008 bis 2011 war er Stipendiat am Graduiertenkolleg Automatismen der Universität Paderborn. Interessengebiete: Mediensoziologie, Wissenschafts- und Technikforschung, Qualitative Sozialforschung, Sozialtheorie. Bisherige Publikationen: Struktur- entstehung durch Verflechtung. Akteur-Netzwerk-Theorie(n) und Automatis- men (hg. mit Tobias Conradi/Heike Derwanz) (2011); „Social Machines? Critical Reflections on the Agency of ,Embodied Conversational Agents‘“, in: Sandra Karner/Günter Getzinger (Hg.), Proceedings: 9th Annual IAS-STS Con- ference: Critical Issues in Science and Technology Studies (2010); „,Versteh SCHEMATA UND PRAKTIKEN 239 ich grad nicht‘ – Mensch-Maschine-Kommunikation als Problem“, in: kommu- nikation@gesellschaft (2008). NOHR, ROLF F., geb. 1968, Dr. phil., Professor für Medienästhetik und Medi- enkultur im Studiengang Medienwissenschaften der HBK Braunschweig. Ar- beitsschwerpunkte: Mediale Evidenzverfahren, Game Studies, instantane Bil- der. Leiter des Forschungsprojekts „Strategie Spielen“. Neuere Veröffentli- chungen u. a.: Die Natürlichkeit des Spielens. Vom Verschwinden des Ge- machten im Computerspiel (2008); Strategie Spielen. Medialität, Geschichte und Politik des Strategiespiels (hg. mit Serjoscha Wiemer) (2008). Mehr unter www.nuetzliche-bilder.de. PARR, ROLF, geb. 1956, Dr. phil., Professor für Germanistik (Literatur- und Medienwissenschaft) an der Universität Duisburg-Essen. Arbeitsgebiete: Lite- ratur-, Medien- und Kulturtheorie/-geschichte, Diskurstheorie, Normalismus, Kollektivsymbolik. Neuere Veröffentlichungen u. a.: Globalisierung und Ge- genwartsliteratur (hg. mit Georg Mein/Wilhelm Amann) (2010); Gastlichkeit. Erkundungen einer Schwellensituation (hg. mit Peter Friedrich) (2009); Autor- schaft. Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz (mit Jörg Schönert) (2008); Foucault-Handbuch (hg. mit Clemens Kammler/Ulrich Jo- hannes Schneider) (2008). RAMMIG, FRANZ J., geb. 1947, Dr. rer. nat., Professor für Informatik an der Universität Paderborn. Arbeitsgebiete: Realzeit-Betriebssysteme, Entwurf Eingebetteter Systeme, Biologisch inspirierte Systeme. Neuere Veröf- fentlichungen u. a.: (mit Yara Khaluf und Emi Mathews), „Self-Organized Cooperation in Swarm Robotics“, in: 14th IEEE International Symposium on Object/Component/Service-Oriented Real-Time Distributed Computing Work- shops (ISORC 2011), IEEE Computer Society, S. 217-226 (2011); (mit Norma Montealegre), „Dynamic Partial Reconfiguration by Means of Algorithmic Skeletons – A Case Study“, in: Dynamically Reconfigurable Systems, S. 183- 197 (2009). WINKLER, HARTMUT, geb. 1953, Dr. phil., Professor für Medienwissenschaft, Medientheorie und Medienkultur an der Universität Paderborn. Arbeitsgebiete: Medien und Kulturtheorie, Alltagskultur, Semiotik. Neuere Veröffentlichungen u. a.: Automatismen (hg. mit Hannelore Bublitz/Roman Marek/Christina L. Steinmann) (2010); Basiswissen Medien (2008); Diskursökonomie – Versuch über die innere Ökonomie der Medien (2004). ZEMAN, MIRNA, geb. 1978, Dr. phil., Literaturwissenschaftlerin, Germanistin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bamberg, Arbeitsgebiete: Kulturwissenschaftliche Stereotypen- und Nationalismusforschung. Neuere Veröffentlichungen u. a.: „Kroatische Imagothemen. Deutschsprachige 240 ÜBER DIE AUTORINNEN UND AUTOREN Fremddarstellungen ‚illyrischer Völkerschaften‘“, in: Mirosława Czarnecka/ Thomas Borgstedt/Tomasz Jabłecki (Hg.), Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster (2010); „Käuf- liche Stereotype, trinkbare Sagen, vermarktete Nationen: Zu Kroaten, Krabat- Schnaps und Krawatte“, in: Maik Bierwirth/Oliver Leistert/Renate Wieser (Hg.), Ungeplante Strukturen. Tausch und Zirkulation (2010); Reise zu den ‚Illyriern‘. Das historische Kroatien als Reiseziel und Imagothema in deutsch- sprachigen Texten (1740-1809) (im Druck). Schemofuon dP rokti'ksetne heinn einemk omplementcVirenrh ölt- nisz ueinondeSri.e e ntstehoeuns d emW echselspvieoln S tillstond undt nfwicklung. Schemoteon lsfeheinn sichw iederholendeunn d routinisiertePnr ok- tikenu nd HondlungsoblöufeDne. renS trukturevne destigesni ch n