1 Andrea Nolte (Hg.) FFK 15 Dokumentation des 15. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Universität Paderborn März 2002 SCHÜREN 2 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Enheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich Schüren Verlag Universitätsstr. 55 . 35037 Marburg www.schueren-verlag.de © Schüren 2003 Alle Rechte vorbehalten Druck: /// Printed in Germany ISSN /// ISBN /// 3 Inhalt Vorwort .................................................................................................................5 Dogmen Andreas Sudmann Julien Donkey-Boy, Tigerland, Traffic - Was macht das amerikanische Kino mit Dogma 95? ...........................................7 Dietmar Götsch Schimmer des Vergangenen Überlegungen zu Thomas Vinterbergs Film Festen ........................................... 19 Frauen / Männer Caroline Zieger Konstruktion weiblicher Identität im populären deutschen Kino der 90er Jahre am Beispiel von Katja Riemann, Veronica Ferres und Franka Potente ..............................................................................................27 Elisabeth Gotto Men‘s Studies und Filmwissenschaft. Positionen und Perspektiven ................................................................................ 37 Mediale Wirklichkeiten Oliver Scholle Spielarten der Theorie. Variationen phototheoretischer Texte in Wilhelm Genazinos Auf der Kippe .................................................................48 Wirklichkeit auf Abwegen? Zum Verhältnis von Authentizität und Inszenierung im aktuellen dokumentarischen Fernsehen am Beispiel des Formats Popstars ....................................................................... 55 Jana Herwig Illsusion, Simulation, Virtualität. Zur Modalität der medialen Wirklichkeiten von Kino, Fernsehen, World Wide Web ..............................................................68 Geschichtsschreibung Henning Wrage The Truth is out there. Die Mediengeschichte der DDR am Beispiel des Phantastischen ...................... 76 Jan Distelmeyer Vom auteur zum Kulturprodukt Entwurf einer kontextorientierten Werkgeschichtsschreibung ...........................86 4 Film / Literatur Daniela Casanova Literaturverfilmung: Die Mär vom Abklatsch. Eine Verteidigung am Beispiel von Ian Softleys Henry James Verfilmung The Wings of the Dove ...............................................98 Andreas Hauck Dialogische Inszenierung und sympraktische Bewusstwerdung ..................... 107 Film - Analysen / Rezeptionen Catrin Corell Holocaustfilme an der Schwelle zum 21. Jahrhundert - neue Wege des Umgangs mit der Vergangenheit .............................................. 121 Karl Juhnke Vom Volks- zum Leidensgenossen: Formen der Viktimisierung in Nacht fiel über Gotenhafen .............................. 132 Mathias Wierth-Heining Auszüge empathischer Bewegungen einer Mädchenclique im Film 8mm ................................................................... 144 Geld Ulrike Bergermann Co-Branding: Genre- und Globalisierungsfragen an Nikes Clip „Freestyle“ .................................................................................. 157 Zu den AutorInnen .......................................................................................... 171 5 Vorwort Der vorliegende Band versammelt Beiträge des 15. Film- und Fernsehwissen- schaftlichen Kolloquiums, das vom 25. bis 27. März 2002 vom Fach Medienwis- senschaft an der Universität Paderborn veranstaltet wurde. Wie bereits in den vergangenen Jahren trafen sich vorwiegend jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, um aktuelle Forschungsarbeiten zu präsentieren und zu diskutieren. Die Vorträge umspannten dabei ein Themen- spektrum, das über den engeren Raum film- und fernsehwissenschaftlicher Fra- gestellungen hinausreichte. Neben filmtheoretischen und -historischen Überlegungen, konkreten Analy- sen sowie Fragen zur Rezeptionsforschung wurden Arbeiten mit Bezügen zu Fotografie, Video und digitalen Medien ebenso präsentiert wie fernsehwissen- schaftliche Themen. Die Atmosphäre der Tagung war gleichermaßen anregend und entspannt, die Diskussionen konstruktiv und lebendig. An dieser Stelle gilt mein Dank allen Beteiligten, die auf vielfältige Weise zum Gelingen des Kolloquiums beigetragen haben. Dank auch an die Universität Paderborn für die freundliche finanzielle Unterstützung dieser Publikation und insbesondere an Sigrun Bohn und Oliver Hoffstadt, die mir bei der Erstellung des Layouts mit Rat und Tat zur Seite stan- den. Andrea Nolte 6 Dogmen 7 Andreas Sudmann Julien Donkey-Boy, Tigerland, Traffi c – Was macht das amerikanische Kino mit Dogma 95? Während Dogma 95 für seine dänischen Urheber - Lars von Trier, Thomas Vinter- berg, Søren Kragh Jacobsen und Kristian Levring - von vorneherein nie mehr als den Status eines zeitlich begrenzten Projekts hatte, handelt es sich dennoch um ein Pamphlet, das sein Bekenntnis zur Keuschheit mit großer avantgardistischer Geste ausdrücklich zur Nachahmung empfahl. Und tatsächlich konnte die Avantgarde, die, wenngleich sie auch nichts Avantgardistisches zu bieten hatte, bis dato einen Einfl uss gewinnen, der weit über das Kino hinaus, die ästhetischen Praktiken in solch unterschiedlichen kulturellen Feldern wie Literatur,1 Computerspiele2 oder Theater3 inspiriert.4 Weltweit sind dem Sendungsbewusstsein der Dänen über 30 Filmregisseure offi ziell gefolgt.5 Die Anzahl der inoffi ziellen, an Dogma angelehnten ist unüberschaubar. So beispielsweise: Doris Dörries Erleuchtung garantiert, Andreas Dresens Die Polizistin und Halbe Treppe, Hans Weingartners Das weisse Rau- schen, Lou Yes Suzhou River, Ken Loachs Bread and Roses, Spike Lees Bam- boozled, Mira Nairs Monsoon Wedding oder Ethan Hawkes Chelsea Walls. Und, die meisten offi ziellen Dogma-Filme wurden in Amerika gedreht, wobei die ame- rikanischen Adepten von Dogma 95 bis auf Harmony Korine6 weitgehend unbe- kannt und häufi g Debütanten sind. Entgegen weitverbreiteten Gerüchten haben weder Martin Scorsese noch Steven Spielberg Dogma-Filme gedreht. Aber Joel Schumacher, dessen Namen man gemeinhin mit Sommer-Blockbustern wie Bat- man Forever, The Client oder St. Elmo’s Fire verbindet, hat sich bei Tigerland von Dogma 95 inspirieren lassen und dies auch ausdrücklich betont, ebenso wie Steven Soderbergh bei Traffi c. Korines Julien Donkey-Boy, Schumachers Tiger- land und Soderberghs Traffi c grenzen das Spektrum eines möglichen Umgangs des amerikanischen Kinos mit Dogma 95 ein. Welchen Gebrauch machen diese Regisseure von der Dogma-Ästhetik? Wie ist das Verhältnis des Dogma-Stils zur inhaltlichen Dimension der Filme? Und in welcher Weise können diese Filme die konventionellen Formen des amerikanischen Mainstreams unterlaufen? Obwohl Julien Donkey-Boy der einzige offi zielle Dogma-Film unter den hier untersuchten Filmen ist, ähnelt Tigerland seinen dänischen Vorbildern wohl am meisten. Amerika 1971. In Fort Polke werden Rekruten für den Einsatz in Vietnam ausgebildet. Roland Bozz (Colin Farrell) hat alle Vorbereitungen getroffen, um nach Mexiko zu fl üchten, sobald er in „Tigerland“ ist. Tigerland ist ein Militärareal in den Sümpfen Louisianas, ein Vietnam-Szenario mitten in Amerika, ein Kriegs- spielplatz. Bozz trifft auf Rekruten, die den brutalen Machtstrukturen und der Konfrontation mit dem Tod hilfl os gegenüberstehen, die fast noch Kinder sind: Jim Paxton, der sich freiwillig meldete, um einem anderen den Kriegsdienst zu ersparen, der seine Erlebnisse im Camp minutiös notiert, um eine Art Hemingway des Vietnamzeitalters zu werden. Miter, der sich, von seiner Frau betrogen und von 8 Dogmen seinem Vater gedemütigt, als Mann beweisen will. Cantwell, den Punchingball eines sadistischen Kameraden und Wilson, einen William Foster7 in Uniform, ein unbedingter Patriot, der zunehmend in Paranoia und Aggressionen abgleitet. Bozz unterläuft permanent die Machtstrukturen und verweigert sich der Zurich- tung durch den militärischen Disziplinierungsapparat. Angesichts der Orien- tierungslosigkeit, der wachsenden Verzweifl ung der Rekruten wird Bozz’ bis dahin scheinbar ziellose, egoistische Insubordination zur Aufgabe, noch wider- strebend verhilft er Cantwell zur Entlassung aus der Armee, später dann Miter. Währenddessen spitzt sich der Konfl ikt zwischen Wilson und Bozz zu. Nachdem Wilson versucht, Bozz während einer Schießübung zu töten, wird er zu einer anderen Kompanie verlegt. Im Verlauf einer Übung in Tigerland treffen die bei- den wieder aufeinander, Bozz im simulierten Szenario zum Vietnamesen erklärt und Wilson als GI. In einem letzten Showdown gelingt es Bozz, seinen besten Freund Paxton kriegsunfähig zu schießen, um auch ihn auf diese Weise vor dem Kriegsdienst zu bewahren. Bozz fährt mit den übriggebliebenen Rekruten nach Vietnam, ob er jemals dort ankommt, ob er doch nach Mexiko fl üchtet oder im Krieg umkommt, bleibt offen. Schumacher drehte sein 97minütiges Tigerland in nur 28 Tagen auf 16mm mit Handkamera. Er verzichtete auf künstliches Licht, Maske, Stuntmen und Friseure. Soweit zur Dogma-Konformität. Weder auf den Einsatz nichtdiegetischer (allerdings sehr reduzierter) Musik, Kamerafahrten, Postproduktionseffekte wollte er, noch auf Kostümbild und Waffen konnte er verzichten. Und natürlich spielt der Film nicht im Hier und Jetzt, wie es das Dogma-Manifest vorschreibt. Allerdings gibt es weder in Tigerland noch in Traffi c Rückblenden, was wiederum Dogma- konform ist. Ebenso wie Soderbergh zeigte Schumacher sich vor allem von der Idee der ästhetisch-technischen Reduktion als Abkehr von der Konvention, von der aufgeblasenen Apparatur fasziniert. In diesem Sinne bediente er sich auch der Regiestrategien Mike Leighs: So sollten die Darsteller als Vorbereitung auf ihre Rolle einen detaillierten Bericht über den Verlauf ihres bisherigen Lebens, z.B. erste sexuelle Kontakte, verfassen. Oder er ließ sie ganze Szenen improvisieren. Schumacher: Ich wollte den Film mit noch recht unbekannten Neulingen drehen. Das sollte die Realität ein stückweit befördern. Denn, wenn wir Schauspieler oder Schauspielerinnen sehen, mit denen wir uns auf der Stelle identifi - zieren können, dann wissen wir sofort, wie der Film ablaufen wird, weil, voraussichtlich die Stars überleben werden, der Hund wird überleben, das schöne Mädchen wird überleben, und die Bösewichter sterben. Bei neuen Darstellern weiß man nicht so genau, was geschehen wird. Außerdem paßt es zum Stück.8 Der Drehbuch-Autor Ross Klavan absolvierte 1971 seine Grundausbildung in Fort Polke, bevor er nach Vietnam geschickt wurde. Der Film basiert auf seinen Erleb- nissen als junger Rekrut. Gemäß dieser „vollständigen Identität von ästhetischer Dogmen 9 Methode und ideologischer Absicht“9, an die wir bereits durch die dänischen Dogma-Filme gewöhnt sind, bewegt sich die Handkamera schwankend durch das Geschehen, wird exzessiv gezoomt, es gibt Achsen- bzw. Bildsprünge und Unschärfen. Mit unverhohlener Affrontmentalität zelebriert Schumacher seinen persönlichen Angriff auf den Mythos des unsichtbaren Hollywood-Stils.10 Wenn Seeßlen sagt, dass Dogma 95 dem Privaten mit den Mitteln der Kriegsbericht- erstattung zu Leibe rückt,11 sind sie bei Tigerland nun wieder im Krieg selbst angekommen.12 Andererseits schwelgt Schumacher in schönen, verwirrenden olivfarbenen Bildern, einige Einstellungen gleiten geradezu ins Dekorative ab, wie auch bei besonders symbolträchtigen Bildern wieder Kamerafahrten ein- gesetzt werden. Anders als Walter Hill in Southern Comfort (1981), der für seine Geschichte, die ebenfalls in einem Trainingscamp in Louisiana angesiedelt ist, verstörend abstoßende Bilder von aufgeschlitzten Tierleibern und Schweine- schlachtszenen als Illustration der so nicht darstellbaren menschlichen Verwun- dungen gefunden hat, traut sich Schumacher hier nicht an drastische Bilder heran. Wenn die Dogma-Regel Nr. 6 das Vorkommen von Waffen und Morden (im Sinne der Vermeidung oberfl ächlicher Action) verbietet, kann dies zur Beförderung eines ‚repräsentativen’ Realismus zwar im europäischen Kino gelten, keinesfalls aber im ungleich waffenstrotzenderen und von Alltagsgewalt erschütterten Amerika. Wenngleich auch Schumacher in Tigerland versucht, das potentiell Sensationelle der Gewaltdarstellungen auszuklammern. Nachdem sein erstes Experiment mit einem ‚persönlicheren’ Film seit Falling down, das durchaus opulente 8mm, mit Starbesetzung und bizarrer Bilderwelt, scheiterte, versuchte er bei Tigerland jeden Gedanken an Box Offi ce-Resultate zu ignorieren, indem er Hollywoods Gigantomanie der Technik und deren formalästhetischen Perfektionismus radi- kal negiert, ohne freilich die narrativen Prinzipien Hollywoods in toto aufzuge- ben (Die Handlung folgt einer klaren, verständlichen Dramaturgie, die Ziele der Protagonisten, sowie innere psychologische Veränderungen sind nachvollziehbar motiviert und der Narration insgesamt untergeordnet, etc.). Sobald die Soldaten im dritten Akt Tigerland betreten, vertraut Schumacher dann doch auf die Steigerung des realistischen Eindrucks durch die Verfremdung (Vergröberung) des aufgenommenen Materials mit kopier- und postprodukti- onstechnischen Verfahren.13 Wie in Soderberghs Traffi c wird einem Ort eine ästhetische Bildqualität zugeschrieben, bei Schumacher ist Tigerland grobkörnig, fragmentiert und farbentsättigt. Und ähnlich wie James Cameron in Aliens (Rip- leys Begegnung mit der Alien-Königin) oder Titanic (Rose unter den Ertrinkenden im eiskalten Meer) betont Schumacher die Atemlosigkeit bedrohlicher Momente14 mittels Strobe (verzögerte Zeitlupe) und Absenken des Tonpegels. Einmal mehr beweist sich, dass die Konstruktion von Realitätseffekten sehr wohl mit den Mit- teln des Irrealen erzielt werden kann. Auch weil die menschliche Wahrnehmung durch extreme Angst oder andere Gefühle tatsächlich verändert wird - erhöhter Puls, Rauschen in den Ohren, Atemlosigkeit, verminderte oder stark konzentrierte Sehfähigkeit. 10 Dogmen Tigerland profi tiert in erster Linie von seinen phantastischen Darstellern und der eindrucksvollen Bildästhetik. Der Text verweist entgegen dem postmodernen Trend nicht explizit auf andere Texte, er ist frei von ironischen Referenzen, und er behält die Hierarchie von schweren und leichten Zeichen. Folglich setzt er nicht auf die Lust an einer kennerhaften Entzifferung intertextueller Codes, statt dessen auf Nachvollziehbarkeit und Empathie. Schumacher: In dieser Geschichte ist der Krieg der Übeltäter. Die Männer, die man ein- zog, um diesen Krieg zu führen, wurden als beliebig verfügbares Material angesehen. Die Freundschaft, die Loyalität, das Mitgefühl und der Mut dieser Männer sind das eigentliche Thema des Films.15 Die Banalität dieser Ebene wird auch im Film thematisiert. Bozz zu Paxton: „Was willst du denn für ein Buch schreiben? Der Krieg ist die Hölle, aber die Männer sind mutig? So eine abgedroschene Scheiße?“16 Aber nur um den zynischen Bozz am Ende des Films von der Richtigkeit dieser Aussage zu überzeugen. Dessen Strategie bestand bis dato darin, die Grundausbildung so lange wiederholen zu müssen, bis der Krieg beendet wäre. Dem naiven Charme Paxtons kann Bozz sich nicht entziehen, nach und nach lässt er sich von dessen altruistischer Weltsicht anstecken. Zunächst geriert er sich als der typisch Spielbergsche widerwillige Held17 und verhilft zwei Rekruten erstens zu der Erkenntnis, dass sie nicht für den Einsatz in Vietnam geeignet sind und zweitens zur Entlassung aus der Armee. In einer Schlüsselszene sitzen Bozz und Paxton auf einem Dach und überlegen sich herunterzuspringen, da dies für beide die einzige Möglichkeit ist, sich derart ernsthafte Verletzungen zuzuziehen, dass man sie ebenfalls entlassen würde. Letztendlich trauen sie sich nicht. Man wartet förmlich darauf, dass Bozz Paxton hinunterstößt. Doch erst angesichts der realen Todesbedrohung in Tigerland, wenn Wilson Bozz beinahe erschießt, und der versteht, was das wirkliche Vietnam tatsächlich bedeuten könnte, vollzieht sich die Katharsis; er schießt Paxton mit dem Übungsgewehr ins Gesicht, damit dieser kriegsunfähig wird und fl üchtet nicht nach Mexiko. Womit der Film zu einer Art Groundhog Day in Vietnam- Wonderland wird. Erst als der Held völlig altruistisch (gut) handelt, bereit ist Verantwortung zu übernehmen, wird er erlöst. Soderbergh hat Traffi c18 seinen 46 Millionen Dollar Dogma-Film genannt.19 Auf drei Handlungsebenen wird das amerikanische Drogenproblem aus verschie- denen Blickwinkeln beleuchtet: Mexiko, im Grenzgebiet zu den USA: Der Polizist Javier Rodriguez (Benicio del Torro) arbeitet als Drogenfahnder in Tijuana. Aus Frustration über die Aussichtslosigkeit seiner Arbeit lässt er sich auf ein Angebot des Chefs der militärischen Antidrogeneinheit, General Salazar, ein. Unter dem Vorwand, das Kartell der Drogenfamilie Obregon zerschlagen zu wollen, trägt Salazar Rodriguez auf, Frankie Flowers, den Auftragskiller der Obregons, zu stellen und an ihn auszuliefern. Als Rodriguez auf den totgeglaubten Chef des Konkurrenzkartells trifft, erkennt er, dass Salazars Ziel nur die Vernichtung eines unliebsamen Konkurrenten ist. Javier entschließt sich sein Wissen den amerikanischen Drogenfahndern der Drug Enforcement Administration (DEA) Dogmen 11 mitzuteilen. Cincinnati, Ohio: Der als Hardliner bekannte Oberste Richter des Ohio State Supreme Court Robert Wakefi eld (Michael Douglas) soll den Posten des Obersten Drogenbekämpfers der USA übernehmen und unter anderem die Drogenkartelle in Mexiko zerschlagen. Er reist durch Amerika und lässt sich über die ausweglos erscheinenden Drogenbekämpfungsprobleme informieren. Währenddessen versinkt seine Tochter Caroline zunehmend in ihren Süchten: Kokain, Heroin, Crack. Als Wakefi eld den Ernst ihrer Lage endlich erkannt hat, quittiert er seinen Job und kümmert sich um Caroline. San Diego, Kalifornien: Zwei Fahnder der DEA verhaften einen Drogenhändler, der bereit ist Informa- tionen zu liefern, die zur Festnahme seines Auftraggebers Carlos Ayala, dem amerikanischen Hauptabnehmer des Obregon Kartells, führen sollen. Als Helena Ayala (Catherine Zeta-Jones) von den Geschäften ihres Mannes erfährt, ist sie zunächst entsetzt, angesichts des drohenden Verlustes ihres Vermögens und gesell- schaftlichen Ansehens aber entschließt sie sich den Drogenhandel weiterzuführen und engagiert einen Killer (Frankie Flowers), der den Kronzeugen ermorden soll. Frankie Flowers wird im Verlauf der Aktion getötet, weil er das Tijuana-Kartell verraten hat. Helena Ayala hat unterdessen die Kontakte zum Obregon-Kartell wieder aufgenommen, ein zweiter Killer wird geschickt, ihm gelingt es, den Hauptbelastungszeugen umzubringen. In Schumachers Film gibt es einen bildästhetischen Bruch, sobald die Protago- nisten Tigerland betreten. Soderbergh weist den Orten von Anfang an unterschied- liche farbliche und ästhetische Qualitäten zu, bei ihm ist Ohio sinnigerweise blau eingefärbt, San Diego, mit all seinen Miami Vice-Referenzen, normal kodiert und Mexiko gebleicht und gelblich-bernsteinfarben wie die Pernod-Werbung. Diesen farblichen Qualitäten ist offensichtlich keine weitere Bedeutung zugeschrieben als dem Zuschauer die Unterscheidung der Handlungsebenen zu erleichtern20 und eine oberfl ächliche psychische Stimmung zu vermitteln: In Mexiko scheint die Sonne, und Ohios politische Szene ist emotional unterkühlt. Soderbergh bedient sich hier einer ästhetischen Strategie, die an die Praxis des Einfärbens von Stummfi l- men (Virage) erinnert: die Nacht ist blau, die Natur ist grün und die Liebe rot. Dieses Zugeständnis an den Zuschauer spiegelt Soderberghs, angesichts seiner Box Offi ce-Misserfolge mit z.B. Kafka oder Schizopolis, neuerworbene Auffassung wider, die besagt, dass man vermeintlich unbequeme Themen nur mit Kompro- missbereitschaft hinsichtlich der Sehgewohnheiten des Publikums transportieren kann: Einerseits die Handkamera, die den Ort der Handlung sucht, lange Objektive und Zoom, weitestgehend natürliches Licht, Improvisationstechniken, Verstöße gegen den Continuity-Schnitt, drei Handlungsebenen etc.; andererseits Starbeset- zung, drei Happy Ends (zumindest Hoffnungsschimmer), dann doch stereotype Charaktere, plus einem geradezu fernsehtypischen Erzählstrang, wenn es um Wakefi elds Tochter Caroline geht. Alles ist vorhanden: die einstmals fröhliche Tochter, von ihren bösen, verlotterten reichen Freunden aus lauter Langeweile zum Drogenkonsum verführt, der hilfl ose Vater und seine Einsicht, dass er seine Familie der Karriere geopfert hat und dass die Familie von nun an über allem zu stehen hat, die Therapiegruppe: „Hi, ich bin Caroline...“. 12 Dogmen Soderbergh hat eine Botschaft für das Publikum und entschuldigt damit all seine narrativen und ästhetischen Kompromisse. Er will sich mit seinen kommer- ziellen Erfolgen einen Status schaffen, der es ihm ermöglicht, tun und lassen zu können, was er will, nicht umsonst nennt er Spielberg als Vorbild. An dieser Doppelstrategie scheitert dann auch Traffi c. Der Dualismus von Subversion und Anpassung zerfällt in Ästhetik auf der einen und Inhalt auf der anderen Seite, und die Form wird zum bloßen Zeichen einer Realismusverpfl ichtung und erfüllt letztendlich dieselbe Funktion wie Special Effects im Mainstream-Kino. Soderbergh betont immer wieder den ‚aufklärerischen’ Charakter seines Films und versucht so auch zu begründen, dass er die eigentlichen Zentren des ameri- kanischen Drogenproblems, trotz der unterschiedlichen Handlungsstränge, mit denen versucht werden soll der Komplexität des Themas gerecht zu werden, prak- tisch ignoriert: Die hispanischen und afroamerikanischen Ghettos, die sozialen Brennpunkte, deren Bewohner die hauptsächlichen Opfer der verfehlten Drogen- und Sozialpolitik sind, cracksüchtig und HIV-infi ziert. In Traffi c ist all das nur Kulisse, eine exotische Szenerie. Soderbergh: Zum Beispiel hätte ich eine viel viel düsterere Version von Traffi c drehen können. Aber ich wollte es nicht. Denn ich wollte keine 46 Millionen Dollar dafür ausgeben, dass ich genau die Leute vertreibe, die ich ja ansprechen möchte. Ich wollte, dass das weiße Mittelklassen-Amerika über das Dro- genproblem nachdenkt und dass das, was sie sehen weiterwirkt, wenn sie aus dem Kino rauskommen.21 Entsprechend repräsentiert das Drogenopfer - eine Variante des ‚all american girl’ - trotz ihrer Zugehörigkeit zur Oberschicht die weiße Mittelschicht, und die Täter sind Afroamerikaner oder Hispanics, wobei natürlich auch Traffi c mit den klassischen Alibi-Figuren Hollywoods aufwartet: dem ‚guten schwarzen Polizi- sten’ (Don Cheadle) und dem ‚korrupten weißen Anwalt’ (Dennis Quaid), um eine scheinbar ausgewogene und realistische Darstellung im Hinblick auf die Repräsentation von ‚race’ zu liefern. Tatsächlich aber spielt der Film mit den rassistischen Ängsten und Vorurteilen des von ihm anvisierten weißen Mittel- klasse-Publikums, was spätestens deutlich wird, wenn Caroline, um an ‚Stoff’ zu kommen, mit ihrem schwarzen Dealer schläft. Hierbei ist vor allem die ästhetische Inszenierung des schwarzen Körpers relevant:22 nackt, muskulös, glänzend, schwitzend, mit federnden, kraftvoll lässigen Bewegungen, herablas- send, cool, aktiv, potent, animalisch. Während in einer späteren Szene der Körper eines weißen Freiers bekleidet bleibt und der Akt letztendlich nicht gezeigt wird, stellt Soderbergh den Sex zwischen Caroline und dem Afroamerikaner ausführlich dar. Zu Beginn, aus der Sicht Carolines, wieder in Dogma-Manier, ist das Bild unscharf, verwackelt und unsauber kadriert. Wenn nach einer Unterbrechung der Dealer aufsteht, zur Tür geht, zurückkommt, noch einmal zur Tür geht, und erneut zurückkommt (auf die Kamera zu), inszeniert Soderbergh diese Gänge mit kunstvoller Beleuchtung, die jede Muskelpartie des schwarzen Körpers betont und setzt diesen dominant ins Zentrum des Bildes. Als er sich wieder zu Caroline Dogmen 13 in das Bett begibt, wirkt er sehr schwarz und Caroline sehr weiß, bläulich-blass. Die halbbetäubte Caroline im Bett könnte die Schwester, die Tochter, die Freundin eines beliebigen weißen Zuschauers sein, keine unnahbare Schönheit sondern das leidlich hübsche Mädchen von nebenan. Weiße Männlichkeit wird hier bedroht mit dem Klischee des überlegenen schwarzen Körpers, der überlegenen Potenz, andererseits wird suggeriert, dass Caroline sich ihm nur hingibt, weil sie die Drogen braucht und nicht mehr zurechnungsfähig ist. At one extreme, we fi nd popular representations that strain to manage dif- ferences fi gured as pure threat in images and stories which mobilize social anxiety, only to reassure mainstream audiences by restoring the privilege of white heterosexuality, white masculinity, and the white middle-class family. At the other end of the spectrum, we fi nd other representations that strive to accommodate diversity through scripts organized around specifi c identities and intended to capture new identity-based market segments.23 Traffi c muss man eindeutig der ersten Kategorie zurechnen. Die einzige die dea- lenden Afroamerikaner (Nicht-Weißen) ‚entlastende’ Erklärung im Film liefert ein drogensüchtiger Teenager, der, moralisch korrupt, ohnehin keine Autorität mehr innerhalb des Textes besitzt. Während der einzige Ausweg, den der Text am Ende nahe legt, die Rückbesinnung auf Familienwerte ist. Nicht die Politik ist damit der Ort für Veränderungen, sondern das Private. Soderbergh behauptet, er wolle weder erklären, noch belehren, sondern nur etwas zur Disposition stel- len, woran sich eine gesellschaftliche Debatte entzünden kann.24 Aber natürlich steht Traffi c nicht außerhalb politisch-sozialer Diskurse, sondern ist selbst ein Teil von ihnen bzw. durch sie und auf sie hin positioniert, so schwierig diese Positionen auch lesbar sind und so unterschiedlich diese auch interpretiert werden können.25 Julien Donkey-Boy von Harmony Korine ist der erste amerikanische Film, der sich offi ziell den Regeln des Dogma 95-Manifests unterworfen hat, und er ist wahrscheinlich einer der radikalsten Dogma-Filme. Er verweigert sich den herkömmlichen narrativen und ästhetischen Strukturen des Mainstreams nahezu vollständig und verzichtet insbesondere darauf, die Bilder der hierarchischen Struktur eines plots unterzuordnen. Julien (Ewen Bremner) ist ein junger Mann, der unter Schizophrenie leidet. Gleich zu Beginn des Films wird der Zuschauer drastisch mit seiner verzerrten Realitätswahrnehmung konfrontiert. Julien trifft auf einen Jungen, der mit Schildkröten spielt. Julien greift den Jungen unvermittelt an, und, indem die Kamera die subjektive Sicht des Opfers einnimmt, schlägt er (Großaufnahme) mit einem Stein auf ihn ein. Wie dieser spontane, verstörende Gewaltausbruch motiviert sein könnte, lässt der Film genauso offen wie die Frage, ob er den Jungen tatsächlich tötet, eine Frage, die Hollywood immer beantwortet. Diese Handlungssequenz wird im weiteren Verlauf des Films keine Rolle mehr spielen, noch wird sich ein ähnlicher Akt der Gewalt wiederholen. Ganz im Gegenteil erle- ben wir Julien eher als einen fürsorglichen, ängstlichen, Behinderte in ihrer Frei- 14 Dogmen zeit betreuenden und keinesfalls aggressiven Menschen. Julien ist nicht der einzig psychisch Gestörte in seiner Familie. Da wäre der autoritäre, alkoholsüchtige Vater (Werner Herzog), der seine Kinder quält und erniedrigt. Juliens Schwester Pearl (Chloë Sevigny), bezeichnet er als „Schlampe“ und kritisiert unbarmherzig ihr Harfenspiel. Aus Chris, dem Bruder, versucht er einen „echten Mann“ zu machen, indem er ihn zu körperlichen Höchstleistungen anstachelt, ohne sich je zufrieden zu zeigen. Eine Mutter existiert nicht mehr. Es gibt noch eine Großmutter, die aber letztendlich nur als Requisit im Film präsent ist und sich ausschließlich für ihren Pudel zu interessieren scheint. Trotzdem beschränkt sich Korine nicht darauf die Dysfunktionalität dieser Familie vorzuführen, es existiert noch eine Art Sozialleben. Man geht gemeinsam ins Schwimmbad oder besucht einen Baptisten- gottesdienst. Innerhalb der insgesamt stark fragmentarischen Narration, bei der die einzel- nen Szenen einen kausal-logischen Zusammenhang nahezu vollständig vermissen lassen, gibt es eine Ausnahme: Pearl erwartet ein Baby. Die Frage der Ärztin, wer der Vater sei, wird erst am Ende des Films beantwortet. Juliens Schwester stürzt beim Eislaufen und erleidet eine Fehlgeburt. Im Krankenhaus bittet Julien die Schwester, den toten Fötus auf den Arm nehmen zu dürfen, weil er der Vater sei. Er fl üchtet mit dem toten Kind aus dem Krankenhaus nach Hause und verkriecht sich im Bett. Dort unter der Decke, die nur sein Gesicht freigibt, sieht Julien aus wie ein ängstliches Neugeborenes. Noch einmal werden die ersten Bilder des Films aufgegriffen, Material, das Korine vom Fernseher in Zeitlupe abgefi lmt hat: Eine Eisläuferin bewegt sich anmutig und präzise zu einer Arie von Puccini, die Roger Ebert als „lament for the suffering of the characters“ interpretiert.26 Eine Art Rahmung des Films, die zur eingeschlossenen ‚Wirklichkeitsebene’ in paradoxer Gleichzeitigkeit von Kontrastierung und Spiegelung funktioniert. Korine: I want to change people’s expectations of what cinema can do every single time I make a fi lm. [...] In a sense, my whole approach is fuelled by anger at the mediocrity of American fi lm, at the peddling of lies and falsity and formula, at the denigration of this century’s most powerful art form.27 Sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht erreicht Korine eine Radikalität, die die der dänischen Dogma-Filme übertrifft. Die Bilder Korines lösen sich hier fast vollständig in ihrer erzwungenen Grobkörnigkeit auf, wie- derum dominieren Unschärfen, Bildsprünge, brachiale Kadrierungen, selbst der Ton ist manchmal unverständlich. Das ist die ästhetische Negation Hollywoods. Julien Donkey-Boy hat keinen Anfang, keine Mitte und kein Ende. Es gibt keine Dramaturgie, keinen plot, keine verlässliche Orientierung über Raum- und Zeitkonstellationen. Damit ist Julien Donkey-Boy wohl der Dogma-Film, dem es am ehesten gelingt, sich der Vorhersehbarkeit der Geschichte zu entziehen. Was bleibt, ist eine leerstellenreiche Aneinanderreihung von Episoden und Motiven, die durchaus repetitiven Charakter hat: z.B. die sadistischen Auswüchse des Vaters mit all ihrer tragikomischen Skurrilität, etwa wenn er Chris dazu auffordert, das Kleid seiner Mutter anzuziehen und mit ihm zu tanzen oder wenn Julien Dogmen 15 in seinem Zimmer mit einem Gewehr zunächst auf ein Hitler-Plakat zielt, ihn beschimpft, nur um ihn anschließend zum Tee einzuladen. Thematisch sind wir hier wieder ganz nah bei den dänischen Vorbildern. Z.B geht es wie in Festen auch um Inzest, ist der Inzest das Vergangene innerhalb des Hier und Jetzt, ohne jedoch als dramaturgischer Ausgangspunkt instrumentalisiert zu werden, genauso wenig wird er hier als Gegenstand einer moralischen Bewertung verhandelt. Das ist vor allem die Negation der Hollywood-Moral. Und doch geht es hier auch um Schuld und Sühne, sowie um das Religiöse, für das Julien eine ausgesprochene Affi nität zeigt.28 Es liegt in der Natur der Sache, dass Filme, die durch das Pathos ihres Stils jeden Quadratzentimeter Realität mit Bedeutung aufl aden und ihr atemlos hinterher hecheln, bald an die Grenzen der Immanenz stoßen und ein Bedürfnis nach Transzendenz entwickeln: letzte Ausfahrt Religion,29 so Jan Pehrke in Konkret über Dogma 95, und er beklagt im weiteren, Seeßlen30 folgend, die Standpunkt- und Utopielosigkeit der Dogma-Filme. „Auf sich und ihresgleichen zurückgeworfen, ohne ein den eigenen Horizont überwindendes Weltbewusstsein, bleibt den Figuren nichts anderes übrig, als an sich selbst zugrundezugehen.“31 Wobei es aber sicherlich legitim ist, über den Umweg des Unerzählten Alternativen zum Erzählten zu generieren. Mogens Rukov: [...] ich würde auch sagen, dass die Alternative im Publikum sein sollte. Sie sollte nicht notwendigerweise auf der Leinwand sein. Jedesmal, wenn man eine Art Leben auf der Leinwand sieht, nimmt man als Zuschauer einen Standpunkt ein.32 In Julien Donkey-Boy ist die Kamera tatsächlich überall, sie ist multiperspek- tivisch, mal übernimmt sie den Point Of View des schizophrenen Julien, mal imitiert sie Überwachungsmedien, wenn sie vom Kronleuchter herab den Vater mit einer imaginären Partnerin tanzend im Wohnzimmer zeigt. Wie in den anderen Dogma-Filmen auch zelebriert sie ihre Freiheit mit fast herausfordernder Attitüde. Soderberghs Handkamera dagegen ist nicht mobil. Sie wird nicht zum neugierig herumwandernden Protagonisten, wirkt eher wie ein unauffälliger Zeuge, als wie ein aktiv Beteiligter. Wenn es Kamerabewegungen gibt, dann sind es Schwenks. Damit wird die Handkamera aber ihrer angestammten Funktion beraubt, sich im profi lmischen Raum frei bewegen zu können. Bei den dänischen Dogma-Filmen sucht die Kamera die Handlung, bei Soderbergh ist die Handlung dort, wo die Kamera ist. Schumacher, Korine und Soderbergh sehen in der Dogma-Methodik und insbesondere in der Verwendung der Handkamera offenkundig ein Verfah- ren, das Improvisation begünstigt. Trotzdem sind sie weit davon entfernt, um mit Adorno zu sprechen, den ‚unabdingbaren Schein der Unmittelbarkeit’ zu transzendieren. Die Handkamera hier ist kein ‚Gefäß’ im Sinne Alexander Klu- ges, das der Evozierung einer gesellschaftlichen Zurichtung der Figuren dient, kein Geburtshelfer des Eigensinns. Selbst bei Julien Donkey-Boy geht es um die Imitation von Verhalten, Julien-Darsteller Ewan Bremner beispielsweise besuchte in Vorbereitung seiner Rolle Harmony Korines schizophrenen Onkel Eddie.33 16 Dogmen Neben der Handkamera galten die ersten Reaktionen auf Dogma dem eri- gierten Penis in Idioterne, der vermeintlich freien, expliziten Darstellung von Sexualität.34 Das Hauptthema der venezianischen Filmfestspiele von 1999 waren pornografi sch anmutende Szenen, in Filmen wie Chereaus Intimacy oder Fon- teynes Une Liaison Pornographiqe, später dann Virginie Despentes Baise-moi etc.35; Darstellungen wie sie im amerikanischen Mainstream-Kino kaum möglich sind. Sowohl in Traffi c als auch in Tigerland gibt es jeweils eine, den dänischen Vorbildern vergleichbare Sexszene. In Tigerland sprechen Bozz und Paxton zwei junge Frauen an, nehmen sie mit aufs Zimmer und schlafen in zwei nebeneinander stehenden Betten mit ihnen. Die Frauen verlassen das Zimmer kurz nach dem Akt, Bozz und Paxton sitzen nackt nebeneinander und unterhalten sich. Womit Schumacher eine wunderschöne homoerotische Ebene einfügt, die Männer schla- fen zwar mit den Mädchen, doch das Nachspiel gehört ihnen. Die Szene war vollständig improvisiert und die Frauen Laiendarsteller. Weder erigierte Penisse wie in Idioterne noch close shots von Geschlechtsverkehr werden gezeigt. Nur in Julien Donkey-Boy birgt das Bild einer masturbierenden Nonne ein verstörendes Potential. Trotzdem erhielten Traffi c und Tigerland ein „Restricted“-Rating.36 Wie schon das Dogma-Manifest ex post keinen wirklichen Antagonismus zum klassischen Hollywood-Stil darstellt, so bleiben selbstverständlich auch Soderbergh und Schumacher den Standards von narrativer Kohärenz, Logik und Linearität verpfl ichtet. Nur Korine traut sich, sich dem zu entziehen. Korine hatte aber bereits vor Julien Donkey-Boy eine Sonderstellung, vergleichbar der Woody Allens, David Lynchs oder Jim Jarmuschs. Aber der Markt für Godards in Amerika ist eben sehr begrenzt. Die Integrationsfähigkeit von Dogma 95 in das amerikanische Mainstream- Kino funktioniert vor allem in zweifacher Hinsicht. So wird der Verzicht auf die opulenten Darstellungstechniken der digitalen Illusionsmaschinerie höchstwahrscheinlich den Filmherstellungsprozess beschleunigen, wovon vor allem die Schauspieler profi tieren, indem ihre künstlerische Leistung weniger durch das Primat der Technik konditioniert und fragmentiert wird (neben den ökonomischen Vorteilen). Des weiteren entspricht die bereits im dänischen Manifest verankerte Identitätslogik von ästhetischem Verfahren und ideologischer Absicht genau jener Geschlossenheit, Einheit und Ordnung, die im Sinne Bordwell/Thompson/ Staigers37 als die conditio sine qua non des (klassischen) Hollywood-Kinos betrach- tet werden kann und sicher auch für das gegenwärtige Erscheinungsbild Holly- woods im digitalen Zeitalter von konstitutiver Bedeutung ist. Dass dieses Konzept auch in der Praxis aufgeht, haben bereits die dänischen Filme vorgeführt und einerseits (erneut) bewiesen, dass psychologischer Realismus und fi lmästhetischer Purismus durchaus harmonieren, andererseits – noch bedeutsamer – dass sie an den Prinzipien einer classical narration sehr wohl festhalten, was impliziert, dass eine Regel, die die Vorhersehbarkeit einer Geschichte verbieten will, wenig Sinn macht. Dogmen 17 Dogma-Filme sind demnach keine subversiven Filme, sondern allenfalls Filme mit einer ‚subversiven’ Ästhetik, was nach Hollywood-Maßstäben trotz aller historischen Offenheit für Neuerungen und Abweichungen, noch immer ein Spur Devianz zu viel sein dürfte. Insofern ist es nur allzu stimmig, dass Schumacher und Soderbergh nur das von Dogma übernehmen, was sie buchstäblich gebrauchen können, lies: was die herrschenden Normen Hollywoods angemessen würdigt. Diese Integrations- und Anpassungspraxis hat eine historische Kontinuität, die vom Umgang Hollywoods mit dem deutschen expressionistischen Films bis zur Nouvelle Vague reicht: „the classical style took only what could extend and elaborate its principles without challenging them“, lautet entsprechend die Ana- lyse Bordwell/Thompson/Staigers in deren Studie des klassischen Hollywood- Kinos.38 Hollywood ist weit davon entfernt, sich neue Regeln, im Sinne von Triers oder Vinterbergs vorschreiben zu lassen. Es hat genug eigene. Es nimmt sich Dogma 95, insbesondere die Möglichkeit, gegen alle Kamerakonventionen zu verstoßen, und gewinnt dadurch noch mehr ästhetischen Spielraum. Nun darf das Bild halt auch verwackelt und grobkörnig sein, oder die Schnitte sprunghaft oder scheinbar unmotiviert wirken. Solange es das Publikum akzeptiert, haben – um es paradox zu formulieren – auch regressive Innovationen in der Traumfabrik ihre Berechti- gung. 1 Explizit durch Dogma 95 inspiriert, haben einige deutsche Autoren, darunter Gunter Gerlach und Lou A. Probsthayn, ein acht Regeln umfassendes „Hamburger Dogma“ ins Leben gerufen. Vgl. online im Internet: http://www.hamburger-dogma.de; 4.2.2003. 2 Der amerikanische Spieleentwickler/-designer Ernest Adams hat ein puristisches „Dogma 2001“-Regelwerk für Computerspiele vorgeschlagen, nicht zuletzt weil Adams der Auffassung ist, dass die Entwicklungen in der Computerspieleindustrie mit der Filmindustrie vergleichbar sind. Vgl. online im Internet: www.gamasutra.com/features/20010129/adams_01.htm; 1.2.2002. 3 U.a. in einer Transposition des polnischen Regisseurs Grzegorz Jarzyna. In Deutschland hat Michael Thalheimer Das Fest für das Dresdner Staatsschauspiel inszeniert. 4 ...und selbst die dänische Möbelindustrie nicht unberührt ließ. 5 Eine in unregelmäßigen Abständen aktualisierte Liste der offi ziell zertifi zierten Dogma-Filme fi ndet man im Internet unter: http://www.tvropa.com/tvropa1.2/fi lm/dogme95/menu/menuset.htm; 4.2.2003. 6 Harmony Korine schrieb das Drehbuch zu dem Film Kids. 7 William Foster (Michael Douglas) ist der Protagonist in Joel Schumachers Falling Down. 8 Vgl. den DVD-Audiokommentar Schumachers (RC-2-Fassung). 9 Seeßlen, Georg: „Aufbruch in die Sackgasse. Die dänischen Dogma-Filme. Radikaldilettantismus oder Utopieverrat? Eine Zwischenbilanz“. In: Die Zeit, Nr. 28, 8.7.1999, S. 43. 10 Mit Christian Metz könnte man den „unsichtbaren Stil“ als „Anwesenheit in der Form der Vernei- nung“ fassen. Vgl.: Metz, Christian: Der imaginäre Signifi kant. Psychoanalyse und Kino, Münster: Nodus 2000, S. 43. 11 Seeßlen: „Aufbruch in die Sackgasse“, S. 43. 12 Während die entfesselte Kamera stets zu Hollywoods Action- und Kriegsfi lmrepertoire gehörte, wie unlängst in Steven Spielbergs Saving Private Ryan. 13 Der Verfremdungseffekt der Tigerland-Sequenz wurde wahrscheinlich kopiertechnisch entweder mit dem sogenannten Bleichbad-Überbrückungs- oder ENR-Verfahren realisiert. 14 Öfter und ausgedehnter als Cameron, der diesen Effekt stets nur zur Betonung des Besonderen einsetzt. 15 Vgl. www.kinoweb.de/fi lm2001/Tigerland/fi lm99.php3; 4.2.2003. 16 Die Dialogpassage ist ebenfalls der deutschen DVD-Fassung (RC-2) entnommen. 17 Seeßlen, Georg: Steven Spielberg und seine Filme. Marburg: Schüren 2001, S. 86 ff. 18 Dogmen 18 Angelehnt an / inspiriert durch die erfolgreiche britische Channel 4 Mini-Serie Traffi k. 19 Vgl.http://www.indiewire.com/fi lm/interviews/int_Soderbergh_Stev_010103.html; 10.1.2002. Laut der Internet Movie Database betrug das Budget allerdings 50 Millionen US-$. Vgl. http:// us.imdb.com/Business?0181865; 4.2.2003. 20 Vgl. Soderbergh, Steven: deutsches Presseheft zu Traffi c, 2001, S. 20. 21 Vgl. Soderbergh, Steven: „Ich bin ein bißchen cleverer geworden“, artechock-Interview mit Rüdiger Suchsland vom 5.04.2001. http://www.artechock.de/arte/text/interview/s/soderbergh_2001.html; 4.2.2003. 22 Dank an Uta Scheer für die ausführlichen Diskussionen und Hinweise im Zusammenhang mit der Konstruktion von ‚race’. 23 Willis, Sharon: High Contrast. Race and Gender in Contemporary Hollywood Film. Durham, London: Duke University Press 1997, S. 3. 24 Vgl. Soderbergh, Steven: deutsches Presseheft zu Traffi c, 2001, S. 11. 25 „Indeterminacy means that multiaccentual or polyvalent signs have no necessary belonging and can be articulated and appropriated into the political discourse of the Right as easily as they can into that of the Left.“ Mercer, Kobena: Welcome to the Jungle. New York: Routledge 1994, S. 202. 26 Ebert, Roger: Julien Donkey-Boy-Review. In: http://www.suntimes.com/ebert/ebert_reviews/1999/ 11/110501.html; 4.2.2003. 27 Korine, Harmony: „Here‘s looking at you, kid“. In: The Guardian 13.03.1999. Vgl. http:// www.guardian.co.uk/weekend/story/0,3605,312591,00.html; 4.2.2003. 28 Im Beichtstuhl wähnt er sich der Liebe Gottes unwürdig, woraufhin der Beichtvater ihm rät, einen Therapeuten aufzusuchen, was Julien demütig annimmt, um kurz darauf von einer masturbierenden Nonne zu phantasieren. 29 Vgl. Pehrke, Jan: „Im Arsch der Dinge“. In: Konkret 2/2002, S. 49. 30 Seeßlen: „Aufbruch in die Sackgasse“, S. 43. 31 Pehrke: „Im Arsch der Dinge“, S. 49. 32 Rukov, Mogens in: Sudmann, Andreas: Dogma 95. Die Abkehr vom Zwang des Möglichen. Han- nover: Offi zin Verlag 2001, S. 170. 33 Presseinfo zu Julien Donkey-Boy von Independent Pictures, S. 5. 34 Allerdings ist die Darstellung von Sexualität bei näherer Betrachtung der Dogma-Filme weniger frei, als dann doch prüde und von moralischen Ansprüchen geprägt. Vgl. Sudmann: Dogma 95, S. 128. 35 „Tatsächlich scheint das nicht-amerikanische Kino nur auf diese Initialzündung gewartet zu haben. In Abgrenzung zur Choreographie der Prüderie Hollywoods und jenseits der plumpen Ästhetisierungsstrategien pornographischer Filme zeigt das europäische Kino [...] Bilder der sexuellen Ernüchterung, den physischen Akt, desillusioniert, oft drastisch und schonungslos direkt.“ Ebd., S. 137. 36 Möglicherweise sind selbst diejenigen Fassungen, die letztlich ein “R”-Rating erhielten, noch geschnittene Versionen. Anders verfuhr Lars von Trier mit seinem Dogma-Film Idioterne. Um ein „NC-17“-Rating zu vermeiden, wurde die „Genitalien“-Darstellungen in der US-amerikanischen Fassung schlicht mit einem schwarzen Balken versehen. 37 Bordwell, David; Janet Staiger; Kristin Thompson: The Classical Hollywood Cinema. Film Style & Mode of Production to 1960. London u.a.: Routledge & Kegan Paul 198538 Ebd., S. 73. Vgl. ebenso: King, Geoff: New Hollywood Cinema. An Introduction. London, New York: I.B. Tauris 2002, S. 44 f. Dogmen 19 Dietmar Götsch Schimmer des Vergangenen Überlegungen zu Thomas Vinterbergs Film Festen 1. Mit dem Anspruch, dem im „fi lm of illusion“1 sich manifestierenden „technolo- gical storm“2 wirkungsvoll entgegenzutreten, verfassten Thomas Vinterberg und Lars von Trier in ihrem Dogma 95 jenen Katalog von zehn Regeln, der sich zum Ziel setzt, „to force the truth out [the] characters and settings“.3 Zu den Regeln, die in ihren Auswirkungen an den Charakter von Dokumentarfi lmen erinnern, gehören die Beschränkung auf Originalschauplätze ohne zusätzliche Requisiten, die Gleichzeitigkeit von Bild- und Tonaufnahme, die ausschließliche Verwendung von Handkameras und Farbfi lm, der Verzicht auf künstliches Licht, optische Bearbeitungen und den Einsatz von Filtern, die Ablehnung effektgeladener Action sowie des Vorkommens von Mord und Waffen, der Verzicht auf Darstellungen, die vom Schauplatz und von der Zeit der Handlung abweichen (keine Rückblenden), die Ablehnung von Genre-Filmen, die Beschränkung auf das 35mm-Format und schließlich die Forderung, dass der Regisseur am Ende des Films nicht genannt werden dürfe.4 Aufgrund dieser letzten Regel, die den Namen des Regisseurs eher hervorhebt als verbirgt, aber auch aufgrund des spielerischen Umgangs mit revolutionären Gesten war der ironische Charakter des Manifests kaum zu übersehen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob er mit Formulierungen wie „PR-Gag“5 auch schon hinreichend verstanden ist. Ironie äußert sich, wie es bei einem ihrer scharfsin- nigsten Theoretiker heißt, vor allem darin, dass „jede Antwort eine neue Frage hervorruft, und im wechselnden Strome der Rede und Gegenrede (oder vielmehr des Denkens und Gegendenkens) sich lebendig fortbewegt.“6 Der ständige Wechsel von Denken und Gegendenken, von Bild und Gegenbild, das fortwährende Unter- laufen von Positionen dient nicht etwa dazu, die dargestellten Gegenstände ein- fach nur aufzulösen, sondern sie setzt sie einer Kritik aus, welche allein sie am Leben erhält. Kritik im Sinne der Ironie erschöpft sich nämlich nicht in Urtei- len, welche dem kritisierten Gegenstand seine Mängel vorrechnen oder ihn der Lächerlichkeit preisgeben, sie bewahrt ihn vielmehr davor, in der Formulierung einer letztgültigen Botschaft trügerische Ruhe zu fi nden, die sich mit der Zeit abnutzt und die Botschaften entweder zu Allgemeinplätzen und Phrasen oder aber zu ideologischen Versatzstücken verkommen lässt. In diesem Sinne ist die Dogma-Ästhetik ein Ausdruck von Ironie, die nicht zuletzt den Anspruch oder die Darstellungsmöglichkeiten von Wahrheit, Authentizität und Unmittelbarkeit im Gegenwartsfi lm auslotet. Die Ironie bzw. der „eigentliche Witz“ von Dogma 95 besteht, wie Peter Schepelern treffend bemerkt, „darin, daß die Aktion ernst gemeint war.“7 Und weiter heißt es: „[D]ie Pointe von DOGMA 95 liegt gerade darin, daß sein Ziel kein Dokumentarismus ist - was die Methode eher konven- tionell als innovativ erscheinen ließe -, sondern daß es aufgrund der Dialektik zwischen Fiktion und Wahrheitssuche eine Herausforderung für den Spielfi lm darstellt.“8 20 Dogmen Entgegen allen Unmutsbekundungen, die Dogma 95 als „Nerv einer im ganzen eher trost- und ratlosen Filmkultur“9 nur eine kurze Lebensdauer prophezeiten,10 ist die Bewegung weiterhin lebendig, wie sich etwa an der Qualität und dem Erfolg der Filme Italiensk for begyndere (Lone Scherfi g, Dänemark 2000) und Elsker dig for evigt (Susanne Bier, Dänemark 2002) zeigt. Gewiss lassen sich ähnliche Verfahrensweisen wie die Dogmaregeln auch schon in früheren Filmen fi nden, so beispielsweise in den Filmen John Cassavetes’ oder in Woody Allens Husbands and Wives (USA 1992). Darüber hinaus gibt es inzwischen eine Vielzahl von neuen Filmen, die in ähnlicher Weise mit Handkameras arbeiten, ohne sich dabei auf den Regelkatalog von Dogma 95 zu stützen, so beispielsweise The Blair Witch Project (Eduardo Sanchez, Daniel Myrick, USA 1999), Suzhou River (Ye Lou, China, Deutschland 2000) oder The Bourne Identity (Doug Liman, USA 2002). All dies zeigt, dass die Ästhetik von Dogma 95 durchaus kein Ausdruck von Beliebigkeit ist. Es bleibt vielmehr ein Verdienst des Manifestes, Problemstellun- gen, die sich um die Frage nach Authentizität bewegen, gebündelt und zu einer breiten Aufmerksamkeit verholfen zu haben. Die Belebung der alten Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Schein ist nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil es sich hierbei um eine Frage handelt, die nicht ein für allemal gelöst werden kann, sondern von jeder Kultur neu gestellt und verhandelt werden muss. Die folgenden Ausführungen zeigen, wie die in Festen sowohl fi lmtechnisch als auch inhaltlich gestaltete Wahrheitssuche sich nicht etwa darin erschöpft, ein verborgenes Faktum aufzudecken, sondern die Darstellung einer wechsel- seitigen Durchdringung von Verhangenheit und Gegenwart ermöglicht, welche ihre Besonderheit vor allem dem Spannungsverhältnis zu der dogmagemäßen Festlegung auf das Hier und Jetzt verdankt.11 2. Die weniger als 24 Stunden währende Handlung des Films Festen spielt auf einem dänischen Landsitz, auf dem der sechzigste Geburtstag des von allen als Respekts- person geachteten Helge in Form eines großen Familienfestes gefeiert wird. Helge verkörpert gleichermaßen die Rollen eines patriarchalischen Familienvaters, eines erfolgreichen Geschäftsmannes und eines Genussmenschen und weist damit alles auf, was den modernen Erfolgsmenschen auszeichnet. Im Kontrast dazu stehen seine Kinder. Der älteste Sohn Christian ist als Restaurantbesitzer in Frankreich nicht ohne berufl ichen Erfolg, allerdings zeigt er sich sehr verschlossen und fi n- det offenbar kein rechtes Verhältnis zu Frauen. Zwar ist er mit der bei Helge beschäftigten Kellnerin Pia befreundet, doch ist diese Beziehung allem Anschein nach keine sexuelle. Die Tochter Helene führt ein unstetes Leben mit wechselnden Liebhabern, und der jüngste Sohn Michael schließlich, der eine Lehre als Koch abgebrochen hat, sollte aufgrund seines ungehobelten Verhaltens zunächst gar nicht zum Fest eingeladen werden. Überschattet wird das Fest vom Tod der Tochter Linda, die sich kurz zuvor das Leben genommen hatte. Für ihren Zwillingsbruder Christian wird dieser Tod zum Anlass, um auf der Geburtstagsfeier einen sexuellen Missbrauch aufzudecken, Dogmen 21 dem er und Linda als Kinder ausgesetzt waren. In drei Anläufen in Form von Geburtstagsreden bezichtigt er seinen Vater der Vergewaltigung sowie der Schuld am Tod seiner Schwester und erhebt gegenüber seiner Mutter den Vorwurf der Mitwisserschaft. Bei den Anwesenden löst er damit jedoch lediglich ein unbe- stimmtes Befremden aus. Erst als Helene den von ihr zunächst geheim gehaltenen Abschiedsbrief ihrer Schwester vorliest, in welchem diese das Verhältnis zum Vater als Grund für den Selbstmord nennt, gesteht Helge seine Schuld ein. Er verlangt jedoch auch jetzt noch Respekt, zeigt keinerlei Unrechtsbewusstsein und behauptet im stolzen Gefühl der Überlegenheit gar, seine Kinder seien nicht mehr wert gewesen. Das Ende des Films bleibt recht offen, zwar wird der Vater in gewisser Weise von den Kindern entmachtet - nachdem er ihnen gegenüber am folgenden Morgen Reue und Respekt gezeigt hat, wird er von Michael ‚höfl ich’ vor die Tür geschickt - doch lässt dies zumindest seine Stellung gegenüber den übrigen Gästen vermutlich unberührt. Eines der verstörendsten Momente des Films besteht denn auch darin, dass das Fest offenbar seinen eigenen Regeln folgt und sich die Gäste von diesen Regeln nicht abbringen lassen. Schon dies zeigt an, dass der Gehalt des Films sich nicht darin erschöpfen kann, ein verborgenes Familiengeheimnis aufzudecken. Ebenso beunruhigend wie die Wahrheit des Verbrechens ist vielleicht die an ihr hervortretende Wahrheit der durch nichts außer Kraft zu setzenden Macht der Gewohnheit. Wie Idioterne (Idioten, Lars von Trier, Dänemark 1998) stellt auch Festen sowohl auf formaler wie auch auf inhaltlicher Ebene eine Auseinanderset- zung mit Regeln dar.12 Kameratechnisch gesehen sind insbesondere zwei Stilformen besonders auffällig. Zum einen die unruhigen Handkamerabewegungen, die zunächst an einen amateurhaften Filmer denken lassen, wie er bei Familienfesten häufi g zuge- gen ist. Der Eindruck von Authentizität sowie die ‚natürliche’ Nähe zum Gegen- stand des Familienfestes wird darüber hinaus auch durch die ausgeblichen wir- kenden Farben des Filmmaterials verstärkt, welches bei den Innenaufnahmen häufi g „an alte oder schlecht fi xierte Fotos“13 erinnert. Die unruhigen Kamerabe- wegungen können außerdem, wie Birger Langkjær richtig bemerkt, den Charakter eines Suchens annehmen,14 der wiederum in enger Verbindung zum Thema der Wahrheitssuche steht. Die zweite hervorstechende Stilform sind extreme Blickwinkel, die durch ungewöhnliche Positionierungen der Kamera hervorgerufen werden, etwa wenn von der Decke oder vom Boden aus gefi lmt wird. Während die unruhigen Kame- rabewegungen die Perspektive eines ‚realen’ Beobachters bzw. eines zugegen gewesenen Zeugen suggerieren und dem Zuschauer ein Gefühl von Unmittelbar- keit geben, wie es in ähnlicher Weise in Breaking the Waves (Lars von Trier, Dänemark 1996) und Idioterne der Fall ist, lassen die befremdlich wirkenden extremen Einstellungen eher an bestimmte Situationen in Lars von Triers Serie Riget (Lars von Trier, Dänemark, Schweden, Deutschland 1994 und 1997) denken. In ihrem Kontrast zu den ‚realistischen’ Einstellungen erwecken sie den Ein- 22 Dogmen druck eines allgegenwärtigen Beobachters. In diesem Sinne dient beispielsweise die extrem nahe Detailaufnahme des Tablettenröhrchens, in welches Helene den Brief ihrer Schwester steckt, nicht einfach nur dazu, die Wichtigkeit des Briefes anzuzeigen, um die der Zuschauer ohnehin schon weiß, sie lässt vielmehr die Allgegenwärtigkeit jenes Blickes hervortreten, dem nichts entgeht und vor dem sich nichts verbergen lässt. Die extremen Einstellungen nehmen häufi g einen Charakter des Gespensti- schen an, und zwar insbesondere in jenen Szenen, die unmittelbar mit der verstor- benen Schwester zu tun haben, wie etwa in der Montagesequenz, in der Helene den Abschiedsbrief fi ndet. Das skandinavische Wort für Gespenst (gengangere) bedeutet Wiedergänger, es bezeichnet also den ruhelosen Geist eines Toten. Da nun der ‚Geist’ Lindas, wie im einzelnen noch zu zeigen ist, für das ganze Gesche- hen des Films von zentraler Bedeutung ist, liegt es nahe, den allgegenwärtigen gespenstischen Blick mit ihr in Verbindung zu bringen. Gespenstisch wirkt auch Lindas Zimmer, dessen Einrichtungsgegenstände mit Tüchern verhängt sind. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, als Helene, die für die Dauer ihres Aufent- halts Lindas Zimmer bezieht, die Tücher fortnimmt und für kurze Zeit der Ton ausgeblendet wird. Die oben erwähnte Montagesequenz ist eine der Schlüsselszenen des Films, in der sich die zentralen Motive des Films, Momente des Vergangenen, des Zukünftigen und des Gegenwärtigen, zu einem einzigen Augenblick verdichten. Zugleich stellt sie eine raffi nierte Form der Rückblende dar, die zeigt, wie die selbstauferlegten Dogma-Beschränkungen, zu denen die Festlegung auf das Hier und Jetzt der Handlung gehört, zu originellen fi lmischen Verfahrensweisen zwin- gen können. In dieser Sequenz werden vier Handlungen parallel geschnitten. Helene und der Empfangschef Lars folgen den von Linda gezeichneten Pfeilen, um den Abschiedsbrief der Verstorbenen zu fi nden. Pia nimmt ein Bad, taucht dabei ihren Kopf unter Wasser, öffnet den Mund und liegt wie eine Tote da. Dadurch stellt sich zum ersten Mal ein Zusammenhang zwischen ihr und Linda her - ein Zusammenhang, der sich noch als außerordentlich wichtig erweisen wird. Christian denkt - dies legt die Parallelmontage nahe - vermutlich an Linda und seine geplante Rede. Er hält ein Glas in der Hand, wie er es auch bei der Ankündigung der Rede tun wird, das Wasser verweist zudem auf das Element, durch das seine Schwester zu Tode gekommen ist. Michael nimmt ein Duschbad. Als Helene den Abschiedsbrief gefunden und gelesen hat, schreit sie kurz auf, woraufhin alle anderen Figuren erschrecken: Michael gleitet in der Dusche aus, Christian lässt das Glas fallen und Pia richtet sich in der Badewanne auf. Michaels kleiner Unfall im Bad bildet ein burleskes Gegengewicht zu dem tragischen Tod der Schwester und fügt sich so in die ironische Gesamtkonzeption, durch die die Rückblende vermittelt ist. Die Parallelmontage gibt zugleich in zugespitzter Form eine kontrastierende Charakterisierung der verschiedenen Figuren: Christian, der Melancholiker, denkt an seine Rede, Helene will keinen Skandal aufkommen lassen und den Brief verbergen, Michael, der einzige Unwissende, erscheint in Dogmen 23 seiner ganzen Unbeholfenheit und macht für alles Unglück stets andere, insbe- sondere seine Frau, verantwortlich. Ferner ist die Sequenz auch ein Beispiel für die durch die Kameratechnik vermittelte Wahrheitssuche, und zwar nicht in dem Sinne, dass die Kamera einen Standpunkt einnimmt, von dem aus sie alles nur ‚realistisch’ abbildet, sondern im Sinne eines Herstellens von Zusammenhängen, die erst als Zusammenhänge bedeutend werden. In der Parallelmontage liegt somit auch eine Ironisierung der Dokumentarästhetik. Das Bad bildet in Festen gleichermaßen den Ort der Wahrheit (an dem der Brief gefunden wurde), den Ort des Selbstmordes und den Ort, der mit dem Verbrechen des Vaters in Verbindung steht, der seine Kinder immer kurz vor dem Baden-Gehen vergewaltigt hatte. Die Verknüpfung von Bad als Bereich der Reinlichkeit und der Intimität einerseits und Verbrechen andererseits nimmt im Übrigen Bezug auf eine lange kulturgeschichtliche Tradition, die von Jacques Louis Davids Gemälde Der ermordete Marat (1793) über Henri-Georges Clouzots Les Diaboliques (Frankreich 1954) und Alfred Hitchcocks Psycho (USA 1960) bis in die Gegenwart reicht - ein Beispiel wäre etwa Fatal Attraction (Adrian Lyne, 1987). Im Unterschied zu den genannten Filmen von Clouzot, Hitchcock und Lyne ist Thomas Vinterbergs Festen gemäß dem Dogma, welches Mordwaffen verbietet, die Geschichte eines Mordes ohne Mordwaffe. Zu den weiteren Beispielen für Vinterbergs Verfahren, Vergangenes in die Gegenwart hineinragen zu lassen, gehört jene Szene in der Helge im Garten mit einem beckenförmigen Gong seinen Enkelsohn verfolgt. Die Wirkung dieser Szene als Traum- oder Erinnerungsbild ist sowohl kameratechnisch als auch inhaltlich bedingt: technisch, weil sie durch eine Glasscheibe gefi lmt wurde und daher unscharf und lautlos ist, inhaltlich, weil die unmittelbar vorausgehende Szene Christian in einer schlafenden Stellung zeigt. Als Traum- oder Erinne- rungsbild legt die Szene eine Spiegelung Christians in der Gestalt des Jungen nahe. In ähnlicher Weise wirkt eine Sequenz, bei der zunächst Pia in Lindas Zimmer von draußen durch einen Vorhang wahrgenommen und anschließend das gedan- kenvolle Gesicht Christians eingeblendet wird, der zu dieser Zeit noch draußen am Baum liegt, wo er von seinem Bruder gefesselt wurde, um ihn an seiner Rede zu hindern. Auch hier erscheint Linda einmal mehr in der Gestalt Pias. Die hier genannten Beispiele wie auch die oben angesprochen Bilder, die Assoziationen an ausgeblichene Familienfotos hervorrufen, geben dem auf sein Hier und Jetzt festgelegten Schauplatz die Gestalt eines Raumes, an dem überall die Vergangenheit hindurchschimmert, der durchsetzt ist von Erinnerungen. All dies belegt, dass die Filmtechnik mit Dogma 95 keinesfalls abschafft wird, viel- mehr stellt die Dogma-Ästhetik selbst eine Technik dar, die bestimmte - nicht zuletzt auch verfremdende Ausdrucksformen gerade ermöglicht. Hierzu gehört beispielsweise auch die im Verlauf des Abends zunehmende Verdüsterung, welche durch den Verzicht auf nicht zum Schauplatz gehörige Lichtquellen bedingt ist. Gerade die durch die Dogmaregeln bedingte Filmästhetik bewirkt nicht etwa 24 Dogmen eine rein dokumentarische Darstellung vermeintlicher Fakten, sondern hält das Geschehen in einer Schwebe von Gegenwart und Vergangenheit, die sich wech- selseitig durchdringen. Die Unentschiedenheit von Gegenwart und Vergangenheit, ihre diffuse Durchmischung bildet auf der Handlungsebene wiederum einen der zentralen Konfl ikte, in die sich der Protagonist Christian verstrickt. Interessanter- weise hat Festen, dessen Ästhetik ganz auf Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit ausgerichtet ist, mit dem Melancholiker Christian eine Figur als Protagonist, die eben dies nicht kann: unmittelbar, gegenwärtig sein. Was nämlich den Melancho- liker zum Melancholiker macht, besteht gerade darin, gegenwärtig nicht in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit zu sein, indem er das Geschehene immer aufs Neue durchdenkt, oder aber gegenwärtig in der Zukunft zu sein, indem er sich fortwährend auf Möglichkeiten hin entwirft, ohne diese Möglichkeiten zu ergreifen. Die Melancholie besteht darin, sich in der Vergangenheit oder Zukunft zu verlaufen und daher in der Gegenwart nicht Fuß fassen zu können. 3. Die straffe Dramaturgie, das Thema der Lebenslüge, der Entgegensetzung von Wahrheit und Schein, die Aufdeckung eines Verbrechens, welches zugleich die Grundfesten der Familie erschüttert, und die Wiederkehr des Vergangenen in Form des Gespenstischen rücken Festen unverkennbar in die Nähe von Henrik Ibsens Gespenstern (1881). Ähnlich wie in Gespenster geht es auch in Festen zum einen um die Frage, inwieweit bestimmte Verhältnisse der Gegenwart ihren Ursprung in der Vergangenheit haben, und zum anderen darum, wie mit dieser Vergangenheit umzugehen sei. Während aber in Gespenster diese beiden Problembereiche auf zwei Personen verteilt sind (Oswald ist das Opfer der Sünden seines Vaters, Frau Alving, seine Mutter, ist diejenige, die um die Vergangenheit weiß und - letztlich vergeblich - versucht, diese zu verbergen), muss sich Christian sowohl als Opfer wie auch als Wissender mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Es geht in Festen also um die Frage, ob und wodurch es Christian gelingt, seinem Vater offen entgegenzutreten. Der Film folgt daher auch nur bedingt einer analytischen Dramaturgie. Dass der Vater Christian und dessen Schwester vergewaltigt hat, weiß man bereits nach einem Drittel des Films. Die weitere Spannung beruht auf ganz anderen Momenten als der Entdeckung des Verbrechens. Wie bereits mehrfach angedeutet, ist eine der zentralen Figuren des Films die verstorbene Schwester Linda, ohne die man Christians Verhältnis zu seinem Vater nur sehr unzureichend in den Blick bekommt. Zu seiner Schwester hatte Christian offenbar eine inzestuöse Beziehung, zumindest aber bestand eine wech- selseitige inzestuöse Neigung, die möglicherweise aus der Schicksalsgemeinschaft hervorgegangen ist. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Neigung geht zum einen aus der Liebesbekundung in Lindas Abschiedsbrief hervor, sodann aus der Traumsequenz und schließlich aus der Tatsache, dass offenbar weder Christian noch Linda ein anderes Liebesverhältnis hatten. Somit hat Christian durch seinen Vater eine mehrfache Demütigung erfahren. Helge war nicht nur derjenige, der ihn missbraucht hat, er hat auch einem inzestuösen Verhältnis im Wege gestanden und darüber hinaus die Person, der Christians Liebe galt, missbraucht. Die wech- Dogmen 25 selseitige Neigung der beiden Geschwister ist nicht zuletzt auch ein Grund dafür, weshalb es Christian so schwer fällt, seinem Vater offen entgegenzutreten. Ferner hat Helge Christian wohl nicht ganz zu Unrecht eine Mitschuld am Tod seiner Schwester vorgeworfen, da er einer Hilfeleistung ausgewichen ist.15 Bedrohlich muss Helge für Christian auch deshalb wirken, weil er als eine Machtfi gur in Erscheinung tritt, die jenes ungehemmte Genießen für sich in Anspruch nimmt, welches Christian verwehrt ist.16 Die drückende Last, der Christian durch das an ihm verübte Verbrechen seitens des Vaters ausgesetzt ist, wird durch all dies folglich noch potenziert. Eine Schlüsselszene für das Verhältnis von Christian zu Linda und zu Pia ist die Traumsequenz, die beginnt, nachdem Christian in Gegenwart des Empfangs- chefs Lars zusammengebrochen ist. In diesem Traum sagt Christian zu Pia, dass Linda hier sei und er sie (nämlich Pia) liebe. Im weiteren Verlauf des Traumes jedoch erscheint nur noch Linda. Hierfür gibt es zwei Deutungsmöglichkeiten: Entweder blendet Christian seine Schwester und seine potenzielle Geliebte inein- ander, oder aber seine Schwester ist der Grund dafür, dass er keine Beziehung mit Pia eingehen kann. Beides bestätigt wiederum noch einmal die inzestuöse Beziehung zwischen Christian und Linda. Entscheidend ist in diesem Zusam- menhang nicht, ob Christian ‚tatsächlich’ ein inzestuöses Verhältnis zu seiner Schwester hatte, worauf es ankommt ist vielmehr, dass Christians Verhältnis zu Pia durch die Beziehung zu seiner Schwester vermittelt ist. In der veröffentlichten Drehbuchfassung kommt die Ineinanderblendung von Pia und Linda noch deutli- cher zum Ausdruck. Dort nämlich bittet Christian Pia, die am Morgen nach dem Fest beim Frühstück die Gäste als Kellnerin bedient, seine Frau zu werden und sieht im nächsten Augenblick seine Schwester Linda vor ihm stehen. Diese fl üstert ihm in eben der Gestalt einer Kellnerin die Worte zu: „Ich liebe dich ...“.17 Die als Buch veröffentlichte Variante hätte Christians Ineinanderblendung von Pia und Linda überdeutlich werden lassen. Da der zitierte Satz in der Drehbuchfassung die letzten gesprochenen Worte sind, hätten sie dem Schluss des Films zugleich einen anderen Akzent gegeben. Christian wäre nicht wirklich für eine Beziehung mit Pia frei geworden. Der in der Filmfassung gestaltete Traum, der die in Lindas Abschiedsbrief gestaltete Metaphorik von Licht und Dunkelheit aufgreift - die Tür am Ende der Traumsequenz erscheint geradezu als Tür ins Jenseits - dieser Traum zeigt ferner auch, dass Christian ebenfalls an Selbstmord gedacht hat und er seiner Schwester folgen will. Seine Schwester weist dieses Vorhaben jedoch zurück. Sie gibt ihn gewissermaßen frei, und Christian träumt vermutlich deshalb von dieser Freigabe, weil der Abschiedsbrief ihn von jeder Mitschuld an ihrem Tod entlastet hat. Bis zum Schluss bleibt Christian ein zweifelhafter Held, der es trotz seines Kamp- fes für die Aufdeckung des Verbrechens nicht vermocht hat, sich aus eigener Kraft von seinem Vater zu befreien. Es waren vielmehr das Opfer seiner Schwester und ihr Abschiedsbrief, die ein Schuldgeständnis des Vaters und damit seine Befreiung bewirkt haben. Sowohl auf fi lmtechnischer als auch auf inhaltlicher Ebene gehört die wech- selseitige Durchdringung von Vergangenheit und Gegenwart zu den zentralen 26 Dogmen Themen des Fests. Seine Zuspitzung erfährt dieses Thema vor allem durch das Spannungsverhältnis zu den Dogma-Regeln, welche den Film auf den Modus des Hier und Jetzt festlegen. In fi lmtechnischer Hinsicht bewirken gerade die scheinbar aufs Dokumentarische ausgerichteten Dogma-Regeln eine Schwebe zwi- schen Gegenwart und Vergangenheit sowie zwischen ‚Realem’ und Traumhaften oder Gespenstischem. In inhaltlicher Hinsicht zeigt sich die Durchdringung von Vergangenheit und Gegenwart insbesondere in der Ineinanderblendung von Pia und Linda, die den Protagonisten Christian in seinem Handeln beeinträchtigt. Bei der gemäß dem Dogma-Manifest sowohl formal als auch inhaltlich gestalteten Suche nach Wahrheit und Authentizität geht es dem Film nicht etwa darum, ein Ideal von Unmittelbarkeit oder einen aufs Faktische verpfl ichteten Dokumenta- rismus zu verkünden, vielmehr wird beides auf ironische Weise gebrochen und an eine Grenze geführt. Erst an dieser Grenze zeigt sich die Möglichkeit des Authentischen. 1 Trier, Lars von und Thomas Vinterberg: „Dogma 95“. In: Andreas Sudmann (Hg.): Dogma 95. Die Abkehr vom Zwang des Möglichen. Hannover: Offi zin-Verlag 2001, S. 192-194, hier: S. 193. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Vgl. ebd. S. 193f. 5 Seeßlen, Georg: „ Dogma oder Warum es notwendig wurde, der Krise des Erzählens im Film mit einem post-postmodernen Wirklichkeits-Remix zu begegnen“. In: Hallberg, Jana und Alexan- der Wewerka (Hg.), Dogma 95. Zwischen Kontrolle und Chaos. Berlin: Alexander-Verlag 2001, S. 327-338, hier: S. 330. 6 Schlegel, Friedrich: „Philosophische Vorlesungen insbesondere über Philosophie der Sprache und des Wortes.“ In: Ernst Behler (Hg.): Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Band 10. München u.a.: Schöningh 1969, S. 309-534, hier: S. 353. 7 Schepelern, Peter: „Film und Dogma. Spielregeln, Hindernisse und Befreiungen“. In: Hallberg, Wewerka (Hg.): Dogma 95, S. 350-368, hier: S. 351. 8 Ebd. S. 356. 9 Seeßlen, „ Dogma“, S. 330. 10 Bei Seeßlen heißt es weiter: „ Dogma 95, wir werden uns in ein paar Jahren daran erinnern, war mehreres zugleich: Ausdruck einer Krise des fi lmischen Erzählens, der konsequente Durchgang durch eine Ästhetik der Verweigerung, und schließlich: eine Sackgasse.“ (ebd., S. 334). 11 Die vorliegenden Überlegungen zu Festen bilden einen Bestandteil meines Aufsatzes „Auf der Suche nach der verlorenen Unmittelbarkeit. Zum Wechselspiel von grenzüberschreitender Liebe, Wahrheitssuche und Ironie in den dänischen Dogmafi lmen“, der 2003 in dem von Matthias N. Lorenz herausgegebenen Band DOGMA 95 im Kontext. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Authentisie- rungsbestrebung im dänischen Film der 90er Jahre (Westdeutscher Verlag) erscheint. 12 In der Textfassung ist noch explizit von Spielregeln die Rede, denen das Fest zu folgen habe und denen es auch tatsächlich bis zum Ende folgt (vgl. Vinterberg, Thomas und Mogens Rukov: „Das Fest“. In: Hallberg, Wewerka (Hg.): Dogma 95, S. 16-88, hier: S. 37). 13 Feldvoß, Marli: „Das Fest“. In: epd Film 1999, H. 1, S. 41-42, hier: S. 41. 14 Langkjær, Birger: „Om den nya vågen och Dogma 95 i dansk fi lm“. In: fi lmhäftet Jg. 28, 2000, Nr. 1, S. 14-22, hier: S. 20. 15 Hierauf weist bereits Sudmann hin (vgl. Sudmann: Dogma 95, S. 96 u. 99). 16 Slavoj Žižek deutet die Figur des obszönen vergewaltigenden Vaters als eine mögliche Phantasie- bildung, welche für die vom ‚Untergang des Ödipus’ geprägte Zeit charakteristisch ist. Der Vater im Sinne des Ödipus-Komplexes ist zwar „die ge- und verbietende ‚kastrierende’ Instanz, [aber eben auch die Instanz,] die den Eintritt des Subjekts in die symbolische Ordnung und damit in den Bereich des Begehrens ermöglicht.“ (Žižek, Slavoj: Das fragile Absolute. Berlin: Verlag Volk und Welt 2000 S. 92). Hingegen sei „Vinterbergs vergewaltigender Vater [gemeint ist der Vater aus Festen] ein Vater [...], der sich außerhalb der Zwänge/Beschränkungen des (symbolischen) Gesetzes befi ndet und sich des Zugangs zum uneingeschränkten Genießen erfreut.“ (ebd., S. 91) 17 Vinterberg, Rukov: „Das Fest“, S. 88. Frauen / Männer 27 Caroline Zieger Konstruktion weiblicher Identität im populären deutschen Kino der 90er Jahre am Beispiel von Katja Riemann, Veronica Ferres und Franka Potente Die Schauspielerinnen Katja Riemann, Veronica Ferres und Franka Potente haben einiges gemeinsam. Erstens: Sie gehören der sogenannten ,postfeministischen’ Generation der heute (mehr oder weniger) jungen Frauen an, die die Neue Frauen- bewegung der 70er Jahre nicht bewusst miterlebten, wohl aber mit deren Errun- genschaften und Nachwirkungen groß geworden ist. Zweitens: Zwar waren bzw. sind sie auch durch ihre Arbeit fürs Fernsehen bekannt, aber zu populären ,Stars’ wurden sie erst durch das kommerziell erfolgreiche deutsche Kino der 90er Jahre: jenes Kino nämlich, das den ruckartigen „Boom“ der in den Vorjahren brachlie- genden und von einigen schon totgesagten deutschen Kinoproduktion auslöste.1 Sie haben aber auch einiges nicht gemeinsam: Jede von ihnen verkörpert mit ihrem spezifi schen Image tendenziell, so zumindest lautet meine These, einen anderen ,Frauentypus’, eine andere (mitunter klischeehafte) Seite dessen, was als ,weiblich’ defi niert wird. Diese Voraussetzungen veranlassten mich, das unerschöpfl iche Thema der Konstruktion von weiblicher Identität im deutschen populären Kino exemplarisch zu untersuchen anhand von Starimage-Analysen2 dieser drei so unterschiedlichen und doch (vom Alters- und Bekanntheitsgrad her) in etwa ver- gleichbaren Schauspielerinnen. Das populäre deutsche Kino der 90er Jahre. Nachdem in den 80er Jahren das westdeutsche (Autoren-)Kino für tot erklärt worden war und die Kinofi lmproduk- tion - nicht nur in der Bundesrepublik - auch fi nanziell in einer Krise steckte (man denke an das Aufkommen des heimischen Videorekorders und die Dominanz des importierten Mainstreams aus Hollywood),3 formierte sich zu Beginn des folgenden Jahrzehnts eine neue Generation junger Filmemacher, die alles anders machen wollten als ihre kritischen Vorgänger. Hatten die Autorenfi lmer (um Wim Wenders, Rainer Werner Fassbinder, Werner Herzog etc.) mit dem Neuen Deutschen Film in den 70er Jahren künstlerisch und mitunter auch politisch ambi- tioniertes Kino für ein kleines intellektuelles Publikum gemacht, so wollten einige der jungen Absolventen der Filmhochschulen im Gegenteil vor allem ein unter- haltsames Kino für das breite Publikum produzieren.4 Pures Unterhaltungskino hatte in den achtziger und beginnenden neunziger Jahren bereits für einige - wenn auch kurzfristige - Kassenknüller gesorgt, die sogenannten ,Komiker- und Blödelulk-Komödien’ wie z.B. Die Supernasen (1983, mit Thomas Gottschalk und Mike Krüger), Ödipussi (1988, mit Loriot), Manta - der Film (1991) oder die zahlreichen Otto-Filme, die aber wegen allzu simpler Handlung und der engen Orientierung am jeweiligen populären Entertainer von der Filmkritik nicht ernst genommen wurden.5 Nun richteten sich die Hoffnungen auf Nachwuchsregisseure wie Sönke Wortmann, Katja von Garnier, Detlev Buck und Rainer Kauffmann: Mit dem Aufkommen ihrer ,(Beziehungs-) Komödien’, die bis Ende 1997 den deutschen Markt dominierten, lockten sie Millionen Zuschauer wieder in die Kinos und ließen den heimischen Marktanteil deutscher Produktionen rapide in 28 Frauen / Männer die Höhe klettern.6 Somit passte sich der deutsche Film „geschmacklich und in der Erzählweise an Produktionen der Massenmedien an, insbesondere an den Genre-Film“ bzw. an den „Unterhaltungsfi lm amerikanischer Provenienz“.7 Diese Kommerzialisierung hat aber natürlich auch fi lmwirtschaftliche und -politische Gründe. Mit dem Ziel, nun wieder die breiten Schichten des Publikums bedienen zu wollen, führte die unter der konservativ-liberalen Bundesregierung beschlos- sene Novellierung des westdeutschen Filmförderungsgesetzes von 1985 zu einer Änderung der Filmpolitik zugunsten marktwirtschaftlicher Rentabilität und auf Kosten von zuvor öffentlich unterstützten unkommerzielleren Projekten - und damit letztendlich zur „Umwandlung der kulturellen in die wirtschaftliche Förderung [...] der Filmkultur“.8 Die inhaltlichen Grundzüge dieser kommerziellen Komödien lassen sich leicht zusammenfassen: Meist geht es um mehr oder weniger frustrierte Großstadt-Sin- gles zwischen Ende zwanzig und Mitte dreißig, berufstätige Frauen und Männer der westdeutschen Mittelschicht mit je eigenen Marotten, die endlich den oder die Richtige(n) fi nden wollen, die große Liebe oder wenigstens ein nettes Abenteuer. Dann kommt es zu allerlei (meist heterosexuellen, manchmal auch schwulen) Beziehungsverwicklungen und Hindernissen, wobei zwischen den Konkurrenten unterschiedliche Lifestyles gegeneinander ausgespielt werden (etwa zwischen Anzugträgern und Spontis wie in Doris Dörries Männer oder Heteros und Homos wie in Wortmanns Der bewegte Mann). Dies vollzieht sich jedoch stets auf locker-leichtem Niveau ohne wirkliche Krisen und mit Happy End.9 Ähnlich rund und harmonisch ist auch die Form der Filme: Es gibt meist keine ästhetischen Auffälligkeiten, die Erzählstruktur ist einfach und linear.10 Erst ab etwa Ende 1997 bröckelte die beinahe monopolartige Stellung des Erfolgsgenres ,Beziehungskomödie’ und machte einer größeren Bandbreite von Filmen Platz. Filme wie z.B. Susanne Linkes Jenseits der Stille ( 1997), Joseph Vilsmaiers Comedian Harmonists (1997) und Tom Tykwers Lola rennt (1998) wurden zu Kassenschlagern. Letzterer erntete - im Gegensatz zu den nur im deutschsprachigen Raum erfolgreichen Komödien der Neunziger - auch interna- tionale Anerkennung und Preise.11 Eine nicht zu vernachlässigende Voraussetzung der kommerziellen Wiederbelebung der deutschen Filmproduktion im Laufe der 90er Jahre war bei allem auch die Wiedereinführung dessen, was zwei Jahrzehnte zuvor die Autorenfi lmer gemieden hatten: das Starsystem.12 Katja Riemann: zwischen ,zickiger Ziege’ und ‚bester Freundin’ Schon durch Fernsehrollen wie z.B. in Sommer in Lesmona und der Serie Regina auf den Stufen bekannt, wurde sie zum ,Star’ (in Deutschland) vor allem durch ihre Hauptrollen in zahlreichen und allesamt kommerziell erfolgreichen Kino- Komödien. Auffällig ist dabei die Homogenität ihrer Rollen auf der Kinoleinwand bis 1996.13 So verfestigte sich Riemanns (Leinwand-)Image der „Komödientante“, der „peppig patenten Blonden mit permanenter Partnerkrise“14, aber auch der „moderne[n], urbane[n] junge[n] Frau, die zwar frech, intelligent und wortge- wandt ihre Karriere angeht, aber bis zur Weinerlichkeit zagt und zaudert, wenn Frauen / Männer 29 der Traummann auftaucht“15 - eine „postfeministische Frau“16, zwischen Stolz und Selbstbewusstsein als unabhängige Single einerseits und Sehnsucht nach Romantik und dem ,Märchenprinzen‘ andererseits schwankend, zweifelnd und unsicher. Zur Veranschaulichung dieses Rollenimages habe ich als Beispiel Katja von Garniers Abgeschminkt! (1993) ausgewählt, da dieser Film einer ihrer ersten Kinoerfolge und richtungsweisend für ihr Leinwandimage war und zudem „als Prototyp der neuen deutschen Beziehungskomödie sowie der neuen postfeminis- tischen Mentalität“ gilt.17 Zum Inhalt: Die Comiczeichnerin Frenzy (K.R.) hat von Männern die Nase voll und gibt sich cool, wenn ihre Freundin Maischa auf schicken Berliner Partys den Frauenschwarm Réné aufzureißen versucht. Sie organisiert für Maischa schließlich ein Rendez-vous mit ihm und muss in der Zeit Rénés Freund Max unter dem Vorwand einer Stadtbesichtigung von dem Paar fernhalten. Das kurze Abenteuer mit dem Frauenheld erweist sich als Reinfall, während die zuerst ruppige Frenzy und Max sich wider Erwarten ineinander verlieben. Plötzlich ist für die erst so Unabhängige nichts wichtiger als der nervös erwartete Anruf des Liebsten und das nächste Wiedersehen mit ihm. Im Vordergrund des Films steht eindeutig die Freundschaft der beiden Frauen. Von den wenigen Szenen mit den männlichen Nebendarstellern abgesehen konzen- triert sich der Film auf die Darstellung von ,Frauen (genauer: Freundinnen) unter sich’ bei ihren Gesprächen über Männer und über ihre Selbstzweifel. Anstelle von romantischen oder erotischen Liebesszenen zwischen den beiden Paaren werden uns misslingende Annäherungsversuche präsentiert, beim ersten holprigen Kuss mit Max verschmiert Frenzys gerade nachgezogener Lippenstift zum Lacheffekt, und sogar die Sexszene (der sich als Flop erweisende One-night-stand zwischen Maischa und Réné) ist eher als eine Art komische Sportnummer inszeniert, in Parallelmontage mit dem nachts auf dem Kinderspielplatz um die Wette schau- kelnden anderen Paar Frenzy und Max.18 Riemann erscheint da nicht als erotisch anziehende oder begehrende erwachsene Frau, sondern eher als asexueller ,Kum- pel’ und beste Freundin: lässig gekleidet und meist ungeschminkt, schaukelnd, auf Bäume kletternd und Weingummi essend mit Max und über ihren Traummann und ihre Selbstzweifel sinnierend mit Maischa.19 Für Thomas Koebner verkörpert Riemann mit ihren Komödien-Figuren stets „die Sanfte“, die ihre „Schutzlosigkeit durch Komik“ kompensiert. „Sie spielt die Freundin, der man nicht helfen kann, weil sie zwischen verstandesmäßiger Organisation des Lebens, wie sie es sich zurechtgelegt hat, und dem jähen Impuls der Gefühle hin- und herschwankt.“20 Ab Mitte der 90er Jahre versuchte Riemann, ihr einseitiges Komödienimage zu erweitern. Zum einen spielte sie gezielt andere Rollen: etwa eine mutige Actionheldin in Nur aus Liebe (Denis Satin, 1997), in Bandits (Katja von Garnier, 1997) eine introvertiert-ernsthafte Schlagzeugerin, die den Ausbruch aus dem Gefängnis mit ihren drei Knast-Rockband-Kolleginnen am Ende mit dem Tod bezahlt oder Die Apothekerin (Rainer Kaufmann, 1997), die nach dem Ehebruch ihres Mannes zur kaltblütigen Serienmörderin wird. Zum 30 Frauen / Männer anderen machte sie sich seit 1998 auf der Kinoleinwand rar und schrieb statt dessen zwei Kinderbücher, die sie im Beisein ihrer Tochter, Schwester und Mutter auf Lesereisen für Kinder vorstellte21 und veröffentlichte Ende 2000 ihre erste CD Nachtblende. Für das CD-Cover ließ sie Aktphotos von sich machen22 und äußerte in Interviews, sie wolle nun endlich auch ihre Sinnlichkeit und Attraktivität zeigen - ein Imagewechselversuch, der „das Gelächter der Branche“ provoziert hatte.23 Solch sinnliche Eleganz stellte sie in den letzten Jahren auch bei öffentlichen Auftritten zur Schau (ihr früheres Outfi t in Jeans und Shirt ersetzte sie durch fi gurbetonende Designerkleider nicht nur bei Gala-Abenden), doch scheint man ihr das Divenhafte nicht ganz abnehmen zu wollen.24 Für eine Star-Diva erscheint ihr außerfi lmisches Image insgesamt zu ,normal’: keine Skandale, keine Affären, selbst die Trennung von ihrem langjährigen Lebensgefährten, Vater ihrer Tochter und Schauspielerkollegen Peter Sattmann verlief ohne großes Aufsehen. Sie wei- gert sich auch strikt, der Presse gegenüber von ihrem Intimleben zu erzählen und ist bekannt für ihren nicht gerade umgänglichen Tonfall dabei. Das mag dann auch das einzig Auffällige ihres Images jenseits der Leinwand sein: Sie „gilt in der Branche als Dickkopf“ und als „zickige Ziege“25. Veronica Ferres: das ‚Superweib’ Von den drei ausgewählten Schauspielerinnen verfügt sie mit Abstand über die größte Medien- und vor allem Fernsehpräsenz. Sie arbeitete auch nach ihrem Kinodurchbruch in Schtonk! (Helmut Dietl, 1992) hauptsächlich für das Fern- sehen.26 Außerdem taucht sie seit Anfang der 90er Jahre regelmäßig in Talk- und Unterhaltungsshows, bei übertragenen Preisverleihungen und Galaabenden27 und in den letzten Jahren gar in der Werbung auf (dazu später mehr). Von den vergleichsweise wenigen Kinoproduktionen ihrer Filmkarriere zählen Das Super- weib28 (Sönke Wortmann, 1995), Rossini oder Die mörderische Frage, wer mit wem schlief (Helmut Dietl, 1996) zu den bekanntesten. Auffällig ist auch hier wieder die Homogenität ihres Rollenimages. Sie gilt als „umschwärmtes Vollweib [...], hinter deren Femme-fatale-Aura stets die sym- pathische deutsche Hausfrau aufblitzt.“29 In etwa so tritt sie bereits bei ihrem Kinodebüt in Helmut Dietls Schtonk! (1992) auf. In der Filmparodie über die stern- Affäre um die gefälschten Hitler-Tagebücher spielt sie in klischeehaft-ironisierter Manier die junge, blonde, vollbusige und naive Martha. Ahnungslos steht sie dem sich als Kunstprofessor ausgebenden Kleingauner Modell, der nicht nur die Tagebücher, sondern auch ein angebliches Original-Aktgemälde der Eva Braun fälscht. Ferres spielt nur eine Nebenrolle, aber in den wenigen Szenen mit ihr ist sie entweder in einer den männlich-voyeuristischen Blick anziehenden Pose zu sehen (kniend bei der Spargelernte, wobei die Kamera zuerst langsam ihr rundes Hinterteil zusteuert), mehrfach splitternackt (stehend in Aktmodellpose oder auf dem Sofa des malenden „Professors“ und späteren Geliebten) oder nur dünn bekleidet (mit nasser, am Körper klebender Bluse, die von einem warmen Licht von der Seite beleuchtet wird). Ihre Funktion im Film wird also auf die der körperlichen Reize reduziert, ansonsten glänzt sie in ihrer Anhimmelung für den „Professor“ eher mit Dummheit. Frauen / Männer 31 Ebenso als (von Männern) „umschwärmtes Vollweib“ tritt sie auch ihren ande- ren beiden bekanntesten Kinofi lmen auf, aber immerhin nicht im Klischee der ,dummen Blondine‘, sondern als Karrierefrau, die ihre Wirkung auf Männer berechnend nutzt, um berufl ich aufzusteigen: Als Franziska in Das Superweib emanzipiert sie sich von ihrem untreuen Mann, einem großkotzigen Filmregisseur, und wechselt von ihrem anfänglichen Status der treuen Gattin, Hausfrau und Mutter zweier Kinder in den der Karrierefrau, indem sie ihre Biographie und Ehegeschichte als Buch herausbringt, das zum Bestseller wird, den ihr Ex-Mann schließlich verfi lmt. Nebenbei beginnt sie eine Beziehung mit ihrem Scheidungs- anwalt, eine Affäre mit einem verheirateten Liedermacher und schläft mit dem Chef eines großen Verlages (der daraufhin ihr Buch publiziert). Auch in diesem Film mangelt es nicht an Szenen, in denen Ferres als begehrte Femme fatale inszeniert wird.30 Dabei fällt auf, dass sie im ersten Teil des Films (als fürsorgliche Mutter) ständig von Haushaltsgegenständen und ihren Kindern, nicht aber von Männern umgeben ist, während sie später, als sexuell begehrte und begehrende Karrierefrau, kein einziges Mal mehr mit ihren Kindern – die in der Geschichte aber weiterhin bei ihr leben – erscheint. Es werden also in Das Superweib nur scheinbar Muttersein, Karriere und Sexualität ,vereinbart’, in Wirklichkeit spaltet der Film umso deutlicher zwischen dem Stereotyp der asexualisierten, alles hin- nehmenden Mutter und der (über)sexualisierten, selbstbewussten Verführerin. Eine bewusst gewollte Mischung der Polarität zwischen der Heiligen und der Hure verkörpert Ferres natürlich (wiederum in parodistisch überzeichnet) in Rossini. Sie wird von der engelhaft-unschuldigen Kindertheaterschauspielerin namens Schneewittchen zur Loreley, die die Männer ins Verderben stürzt. Als sie abends als Ehrengast im Nobelrestaurant Rossini mit einem natürlich weißen (aber fi gurbetonenden und tief dekolletierten) Abendkleid erscheint, wirkt sie mit ihrem langen hellblonden Haar und dem weichen, runden Gesicht im schummrigen Kerzenlicht wie ein feenhaftes ,unschuldiges’ Mädchen von zugleich auffälliger weiblicher Attraktivität auf die dort versammelten männlichen Bosse der Film- branche, die sie dann einen nach dem anderen verführt.31 Anstelle der ,besten Freundin’ wie bei Riemann gibt es hier als Folge dann einen Haufen eifersüchtiger Feindinnen. Ferres’ außerfi lmisches Image fällt weitgehend mit ihrem Leinwandimage zusammen.32 Das zeigt sich besonders deutlich allein schon an diversen Internet- Seiten, auf die man mit ihrem Namen als Begriff bei einer Suchmaschinen-Recher- che stößt: Zahlreiche (wohl nicht sehr seriöse) Anbieter werben mit Nacktphotos (die man leicht aus den Filmen entnehmen kann). Aber auch in gewöhnlichen Internet- und Print-Zeitschriften oder Internet-Fanseiten wird sie auf Photos sehr häufi g mit tiefen Dekolletés in ,erotischer’ Pose (etwa liegend oder breitbeinig und nach vorn gebeugt sitzend) als „überwältigend blonde Sahnebombe“ gezeigt.33 Zudem wird sie in Interviews oft auf ihre Beliebtheit bei Männern und ihre erotische Ausstrahlung angesprochen. Dieses Image nimmt sie gerne an, aber nicht ohne sich gegen das Stereotyp der ,dummen Blondine‘ zu wehren.34 Dazu (als Ergänzung in Richtung ,sanfte Weiblichkeit’?) wirbt sie in Frauenzeitschrif- ten in Großaufnahme mit engelhaftem Lächeln und hellblonden Löckchen für 32 Frauen / Männer Feuchtigkeitscreme und in Fernseh-Werbespots erschien sie (kurze Zeit nach der Geburt ihrer Tochter im Sommer 2001) als fürsorgliche Mutter mit Baby auf dem Arm für einen Babynahrungs-Hersteller. Während Riemann ihr Image mit mehr Erotik aufzupäppeln versucht, beginnt Ferres, nun doch verheiratet und Mutter, im Gegenteil, so scheint es, etwas mehr zur Sparte braver gefestigter Familienbürgerlichkeit tendieren zu wollen. Franka Potente: die Girly-Diva Nach der Beziehungskomödie mit ihren Frauen um die dreißig kam die Frau, deren Image sich in etwa so auf den Punkt bringen lässt: der „Jungstar“, „nicht zu stoppen“,35 erfolgreich und geradezu ,postmodern’ vielseitig. Die Junge verkörpert auf der Leinwand oft sogar die noch jüngere36: In ihrem ersten Kinofi lm Nach fünf im Urwald (Hans Christian Schmid, 1995) spielt Potente die etwa sechzehnjährige Tochter, die Filmschauspielerin werden will und Stress mit den Eltern hat, in Bin ich schön? (Doris Dörrie, 1998) eine junge Herumtreiberin, die nicht weiß, wo und wie sie leben will, in Downhill City (Hannu Salonen, 1999) ist sie als Fast-Food-Verkäuferin in einem Berlin der mittellosen Außenseiter zu sehen. In Schlaraffenland (Friedemann Fromm, 1999) spielt sie eine Schülerin, die mit ihrer Jugendclique nachts in ein Einkaufszentrum einbricht, in Anatomie (Stefan Ruzowitzky, 2000) eine Medizinstudentin, die eine mörderische Verschwörung aufdeckt, und in ihren zweiten Film mit Tom Tykwer Der Krieger und die Kaiserin (2000) ist sie eine Pfl egerin in einer Psychiatrie, die wie durch ein Wunder einen fast tödlichen Unfall überlebt und später an ihrem verschlossenen Lebensretter mit ihrer hartnäckigen Liebe ebenfalls Wunder wirkt. Ein klares Rollenimage, abgesehen vielleicht von dem der jugendlichen Unabhängigkeit, lässt sich aus der Summe ihrer Kinofi lme unterschiedlicher Genres nicht ablesen.37 Richtungs- weisend ist wohl am ehesten ihre Durchbruchrolle in Lola rennt (Tykwer, 1998), zumal der Film mit über 2,2 Millionen Zuschauern in Deutschland (und mehreren TV-Ausstrahlungen) der mit Abstand erfolgreichste war.38 Lola muss für ihren Freund in 20 Minuten 100.000 DM auftreiben. Mit der selbstverständlichen Ent- schlossenheit, das Unmögliche möglich zu machen, rennt sie quer durch Berlin, und das gleich dreimal - in drei jeweils unterschiedlich verlaufenden Episoden. Ihre fast übermenschliche Energie39 und Schnelligkeit, signalisiert allein schon durch ihre feuerroten struppigen Haare, werden zu den Hauptmerkmalen der Figur, die der „kommerzielle Experimentalfi lm“40 fortlaufend in Szene setzt durch seinen sehr fl otten Rhythmus, Videoclip-artige Schnittfolgen, die schnell fl iegende Kamera, die sich ständig wiederholenden Laufszenen, aus jeder erdenklichen Per- spektive aufgenommen, mit pulstreibender Technomusik unterlegt und mit Lola als Comicfi gur ergänzt. Ihre Jugendlichkeit macht sich auch am Outfi t fest: zum leuchtenden Haar ein hellblaues Feinripp-Top, auf Bauchnabelhöhe abgeschnitten, so dass ihre Tätowierung sichtbar wird, dazu eine enge Hose mit breitem Gürtel und viele auffällige Ringe an beiden Händen - fast schon „zu trendy“ für einen „Adreanlin-Dauerlauf“41. Die junge freakige Girly-42Frau also, die nicht zau- dernd auf Prinzen wartet wie die Riemann-Figuren und nicht aufstiegsorientiert Frauen / Männer 33 von einem Mann zum nächsten springt wie die Ferres-Frauen, sondern die mit Selbstverständlichkeit Unmögliches einfach tut. Dieses Image wird auch für die Person Franka Potente aufgebaut: „die Zauberfrau“43 die „den direkten Weg“44 geht, ja „unsere Frau für Hollywood“45 ist. Zur Karriere passt sogar ihre Partner- wahl: So sehr sie ihr Privatleben auch von der Öffentlichkeit abschirmt, pfl egte sie seit Lola rennt jahrelang doch ihr „Traumpaar“-Image mit dem Newcomer- Regisseur Tykwer46 und ist nun, da in Los Angeles angekommen, mit dem 22 Jahre jungen Hollywood-Star Elijah Wood zusammen.47 Auch ihr äußeres Erschei- nungsbild ist fl ippiger und jugendlicher als das ihrer Kolleginnen. Ihre Mode und Frisuren erscheinen geradezu ,postmodern’, ständig wechselnd zwischen diven- hafter Eleganz und schrillem Girly-Look. Ihr Haar trägt sie mal kurz, mal her- ausgewachsen, lang oder auf wenige Millimeter abgeschoren, die Farben wechseln ebenfalls ständig. Bei den Filmfestspielen in Venedig 1998 beispielsweise erschien sie mit langem blonden Haar und Rena Lange-Seidenkostüm, zur Premierenfeier von Blow in Los Angeles kam sie in Hippie-Schlabberlook mit einer blauschwarz- roten Langhaarperücke, bei Phototerminen kombiniert sie auch gern blaulackierte Fingernägel zu einem lila-orange-karierten Mantel mit Fellkragen oder ein enges schwarzes Abendkleid mit zerrissenen ellenbogenlangen Damenhandschuhen und bunter Flechtsträhnchen-Frisur, oder sie erscheint einfach in Jeans, Hemd und Turnschuhen.48 Franka gibt sich also genauso trendy wie Lola – und strahlt dabei gelassene Selbstverständlichkeit aus. Und welche Schlussfolgerungen lassen sich nun aus dieser - zugegebenermaßen sehr gerafften - Bestandsaufnahme ziehen? Ein wenig polemisch gewürzt würde ich folgende vorschlagen: Zwei der wohl populärsten deutschen Schauspielerinnen, die mit der Beziehungskomödie zu Stars wurden - beide inzwischen Ende 30, beide blond, attraktiv - stehen mit ihren Images für zwei geradezu entgegenge- setzte Konstrukte von ‚Frau’. Die eine, Riemann, ist die leicht zickige Quasseltante à la Doris Day, die auf der Leinwand bei allem Gerede über Männer doch fast asexuell-mädchenhaft und ewig unsicher daherkommt. Ihr (etwas zu gewollter?) Versuch des Imagewechsels zur sinnlichen Diva, die aber gleichzeitig Kinderbuchautorin und Mutter sein darf, passte dann nicht mehr ganz in die Schublade. Die andere, Ferres, wird allein durch ihre Körperformen und ihre lange blonde Mähne als ,Sexbombe’ à la Brigitte Bardot stigmatisiert, die sich aufgrund ihrer bekanntesten Rollen gegen das Klischee der ,dummen Blondine‘ wehren muss. Da drängt sich der Eindruck auf, dass die deutschen Komödien der 90er Jahre bei aller zur Schau gestellten liberalen Pluralität von Lebens- und Beziehungsar- ten mit ihren Frauenfi guren (die übrigens allesamt heterosexuell sind) doch an Althergebrachtem festhalten. Angenehm anders, befreit von diesen beiden Sackgassen, gestaltet sich das Image Franka Potentes, ohne Zweifel auch dank ihrer Rollen in Filmen ganz anderer Genres: Die Frage nach Singledasein oder Beziehung, nach Kindern oder Karriere oder nach der Angst vor der Midlife crisis wird da nicht gestellt. Potente 34 Frauen / Männer und ihre Figuren erscheinen insgesamt als jung, dreist und selbstbewusst. Lola muss sich weder wie die Superweibs-Frauen durch Karriere- und Männergeilheit selbst bestätigen, noch muss sie sich zögernd mit der besten Freundin austauschen, bevor sie in Aktion tritt. Riemann wie Ferres sind zwar auch ,Postfeministinnen’, aber die Sorgen ihrer Figuren und auch ihr persönliches Auftreten stehen schein- bar noch im Schatten des Superwoman-Diskurses der späten 80er und frühen 90er Jahre, der als Ideal die karrierebewusste, alles schaffende und erfüllte Frau hoch- hielt.49 Ein Film wie Lola rennt und das Starimage der Hauptdarstellerin drücken dagegen eher das Lebensgefühl der späten 90er aus: Potente mag auch als „Auf- steigerin“ gelten, doch gibt sie sich nach außen dabei gelassen und vergnügt. Ihre nur ein Jahrzehnt jüngere Frauengeneration ist weit genug von der dogmatisch- kämpferischen Zeit der 70er und der verunsichernden Übergangszeit der 80er entfernt, um nun beispielsweise so etwas wie die - zugegeben - unpolitische, aber selbstbewusste und fröhlich-schrille Girly-Kultur hervorzubringen. Die anstren- gende Frage von Diva-oder-nicht oder nach anderen weiblichen Etiketten kann man da getrost vergessen. Vielleicht ist das ein Anfang. 1 Vgl. Lowry, Stephen und Helmut Korte: Der Filmstar. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. 260ff. 2 Das Image eines Filmstars setzt sich aus dem inner- und dem außerfi lmischen Image zusammen: also dem seiner bekannten Filmrollen und dem der ,realen’ Person. Dabei sind alle öffentlich verfügbaren Informationen und ‚Zeichen’ des Stars (und ihre konnotativen Bedeutungen für die Rezipienten) von Belang. Für Näheres zur Starimageanalyse siehe ebd., S. 9ff; Faulstich, Werner und Helmut Korte (Hg.): Der Star. Geschichte, Rezeption, Bedeutung. München: Fink Verlag 1997; Dyer, Richard: Stars. London: British Film Institut 1998. 3 Vgl. Rentschler, Eric: „Das Kino der Achtziger Jahre. Endzeitspiele und Zeitgeistszenarien“. In: Jacobsen, Wolfgang (Hg.): Geschichte des deutschen Films. Stuttgart, Weimar: Metzler 1993, S. 285-322, hier S. 285, 288. 4 Vgl. Lowry, Korte: Der Filmstar, S. 260 sowie Kilb, Andreas: „Wir können nicht anders. Über den Erfolg der jüngeren deutschen Filmkomödie“. In: Amend, Heike und Michael Bütow (Hg.): Der bewegte Film. Aufbruch zu neuen deutschen Erfolgen. Berlin: Vistas 1997, S. 25-34. 5 Vgl. Gombert, Ina: Durch die Brille des Kritikers. Der erfolgreiche deutsche Film der 80er und 90er Jahre im Spiegel der Kritik, Köln: Teiresias Verlag 2001, S. 72f. 6 Zu den erfolgreichsten zählen z.B. Abgeschminkt! (Katja von Garnier, 1992), Der bewegte Mann (Sönke Wortmann, 1994 – mit über 6 Millionen Zuschauern der größte Erfolg), Das Superweib (ders., 1995), Stadtgespräch (Rainer Kaufmann, 1995), Männerpension (Detlef Buck, 1995), vgl. ebd. 7 Möller, Hans Bernhard: „Zur deutschen Filmkomödie der Generation nach 68“. In: Monatshefte, Nr. 2, Jg. 93, Sommer 2001, S. 196-208, Zitate S. 196. 8 Seeßlen, Georg: „Wer braucht den deutschen Film? Eine kurze Geschichte der Krise“. In: Freitag, Nr. 8, 1997, S. 17; vgl. auch Rentschler: „Das Kino der Achtziger Jahre“, S. 288. 9 Vgl. Kilb: „Wir können nicht anders“, S. 30f; Gombert: Durch die Brille des Kritikers, S. 69f. 10 Gombert: Durch die Brille des Kritikers, S. 70. 11 Vgl. Töteberg, Michael: die „The Germans are coming. Der deutsche Film kämpft um einen Auslandsmarkt“. In: fi lm-dienst, Nr. 18, Jg. 52, 1999, S. 12-15; Lowry, Korte: Der Filmstar, S. 261. 12 Vgl. [o.A.] „Deutschland, deine Sterne“. In: Der Spiegel, Nr. 7, 9.2.1998, S. 190; Holter, Mechthild: „Über deutsche Stars“. In: Amend, Bütow (Hg.): Der bewegte Film, S. 77-82 13 In ihrem ersten großen Kinoerfolg Ein Mann für jede Tonart (Peter Timm, 1992) spielt sie eine Solistin, die sich auf der Suche nach einem Partner zwischen - wieder einmal - einem Anzugträger und einem sportlich-fl ippigen Taxifahrer entscheiden muss und am Ende Zwillinge von Letzterem bekommt. In Der bewegte Mann (Sönke Wortmann, 1994) heiratet sie nach Beratung mit ihrer besten Freundin schließlich doch ihren untreuen Freund angesichts des Babys, das sie von ihm erwartet. Und als Radiomoderatorin kurz vor der Midlife crisis verliebt sie sich in Stadtgespräch (Rainer Kaufmann, 1995) bei ihrer Kontaktanzeigen-Partnersuche ausgerechnet in den Mann, der sich später als Gatte ihrer besten Freundin erweist. Immer sind ihre Figuren trotz ihrer (berufl ichen) Selbständigkeit doch zögernde, an sich zweifelnde Frauen. Frauen / Männer 35 14 [o.A.] „Du darfst. Stadtgespräch von Rainer Kaufmann“. In: Der Spiegel, Nr. 43, 23.10.1995, S. 246. 15 [o.A.] „Deutschland, deine Sterne“, S. 187. 16 Susanne Weingarten über Riemanns Rollenimage, zitiert nach Lowry, Korte: Der Filmstar, S. 268. 17 Lowry, Korte: Der Filmstar, S. 269. Katja von Garnier betonte, sie wolle in ihrem Film Frauen zei- gen, „die aus den 90er Jahren sind. Die weder die Karrieregeilheit der 80er noch das Kämpferische der 70er Jahre im Kopf haben. Sondern bewusste Frauen, die einfach alles tun und nicht nur alles wollen.“ In ihrer Rezension zu Abgeschminkt! kritisiert Sabine Horst allerdings die Männerorientierung dieser beiden Frauenfi guren, mit der sie „ihren Großmüttern die Hand reichen“ könnten (s. epd Film, Nr. 7/1997, S. 42). 18 Noch dazu erzählt sie ihm in dieser Spielplatz-Szene von ihrer Kindheit und dass sie noch heute um die Anerkennung ihres Vaters kämpfe. 19 Auch darin ist der Film repräsentativ für sein Genre. Martina Knoben hat diese erotische Abstinenz der ,Beziehungskomödie‘ kritisiert: „Wenn Katja Riemann und ihr vermeintlicher Traummann in Stadtgespräch aneinander herumfummeln im Halbdunkel einer Zahnarztpraxis oder Til Schweiger in Der bewegte Mann von seiner Freundin [K.R.] beim Seitensprung auf dem Damenklo erwischt wird, steckte nur die Behauptung von Sex und kaum Erotik dahinter. [...] In deutschen Beziehungskomödien wurde kumpelhaft gekuschelt, verlegen gefummelt oder Hochglanz-Akrobatik vorgeführt.[...] Freund- schaften waren dem Genre immer wichtiger.” (Knoben, Martina: „Ohne Standpunkt. Zum deutschen Film der 90er Jahre“. In: epd Film Nr. 9, 1997, S. 21-26, hier S. 21) 20 Koebner, Thomas: „Die Sanfte, die Mutige, die Strenge“. In: fi lm-dienst Nr. 25/1995, S.4-7, hier S. 4f. 21 Vgl. Schäfer, Andreas: „Katja und Susanne Riemann“. In: Berliner Zeitung (Magazin), 27.11.1999. 22 Eine Auswahl dieser hochstilisierten Nacktphotos verkaufte sie zudem an den stern (Nr. 21, 5.10.2000, S. 244ff). 23 Vgl. „Deutschland, deine Sterne“, S. 187. 24 Bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises 1998 beispielsweise gehörte sie mit ihrem hautengen fl iederfarbenen Paillettenkleid mit Perlen-Kopfschmuck zu den auffälligsten Gestalten den Abends. Das Boulevardblatt die zwei kommentierte jedoch, es habe zwar „ein Hauch von Diva durch das Publikum“ geweht, aber Riemann sei eben „keine Dietrich“ (vgl. [o.A.], Notiz in die zwei, Nr. 2 , 7.1.1998). 25 Kruttschnitt, Christine: „Katja Riemann: Alles, bloß nicht langweilig“. In: stern, Nr. 17, 18.4.1996, S. 50ff; Presler, Eckard: „Katja Riemann erhält den Lubitsch-Preis“. In: Berliner Zeitung, 22.1.1996, o.S. 26 Berühmt wurde ihre Rolle als pralinenfutternde Sekretärin in der Vorabendserie Unser Lehrer Doktor Specht (1991-94). Im ZDF-Zweiteiler Eine ungehorsame Frau (1998) spielt sie eine Hausfrau ohne Abitur, die sich zur erfolgreichen Verlagsleiterin hocharbeitet und von Ehe zu Ehe wandert (wie in Das Superweib), sahen fast 10 Millionen Zuschauer (vgl. www.dem.de/entertainment/stars/ v/veronica_ferres.html; 15.4.2002) 27 Vgl. Kniebe, Tobias: „Herr Zigeuner und sein Gespür für Schnee. Der Kater nach der großen Feier oder warum es dem deutschen Film so schlecht wird“. In: Süddeutsche Zeitung, 12.2.1997, S. 11. 28 Der Film war mit 2,3 Millionen Zuschauern ihr größter Kinoerfolg (vgl. Dirk Bolther: „Wirksame Filmthemen“. In: Amend, Bütow (Hg.): Der bewegte Film, S. 35-43, zu Das Superweib vgl. S. 39). 29 „Deutschland, deine Sterne“, Spiegel, S. 187 f. 30 Besonders dick aufgetragen wird das in den (vom Regisseur imaginierten) Szenen der Bestseller- verfi lmung, in denen Franziska als aufreizende, ,frühreife’ Schülerin ihren Deutschlehrer vor der Klasse verführt: wieder einmal ein Rückgriff auf das Klischee der intellektuell eher bescheidenen, aber attraktiven ,Blondine’. 31 Sie entspricht haargenau der auf die Spitze getriebenen Männerphantasie, wie sie vom Regisseur Zigeuner (Götz George) im Gespräch mit seinem Produzenten formuliert wird bezüglich der weib- lichen Hauptrolle seines Filmprojekts „Loreley“. Die Idealbesetzung für die Loreley wäre für ihn „die große blonde schöne junge Frau“, „göttlich und irdisch, engelhaft und diabolisch, zugleich jungfräulich und lasterhaft. Die Frau, von der wir alle träumen!“ 32 Dies wurde noch verstärkt durch den Umstand, dass der zwei Jahrzehnte ältere Dietl, der ihr zum Kinoerfolg verholfen hatte, damals ihr Lebenspartner war. Diese Konstellation erinnerte an Das Superweib. 33 Kniebe: „Herr Zigeuner und sein Gespür für Schnee“, S. 11. Zu den Photos vgl. z.B. Kruttschnitt, Christine und Volker Hinz: „Stark, schlau, sexy - das Superweib“. In: stern, Nr. 11, 7.3.1996, S. 28ff; www.prisma-online.de /tv/person.html?pid=veronica_ferres; 22.3.2002; „Max“-Fanpage und Bild online-Archiv unter home.t-online.de /home/nachtwaechter/ferres/fer008.html; 22.3.2002. 36 Frauen / Männer 34 In der ARD-Talkshow Beckmann (Sendung vom 28.1.2001) wurde sie gefragt, wie sie dazu stehe, dass laut einer Umfrage etwa 80% aller deutschen Männer gerne eine Nacht mit ihr verbringen würden. Sie antwortete, dass sie gerne für „Sinnlichkeit“ stehe. Sie verwies dann, wie auch in anderen Interviews, auf ihr sehr gutes Abitur, ihr Studium und ihren IQ von 152 (vgl. dazu auch Interview im Bild online-Archiv unter home.t-online.de /home/nachtwaechter/ferres/fer029.html; 22.3.2002). 35 Kruttschnitt, Christine: „Die will nach vorne“. In: stern, Nr. 35, 20.8.1998, S. 32ff. 36 Geboren 1974, drehte sie ihren ersten Kinofi lm schon mit 21 Jahren und wurde bereits mit 24 durch Lola rennt ein Star und auch international bekannt. Für das Fernsehen arbeitet sie seitdem nicht mehr (vgl. Rathje, Klaus und Ralf Krämer (Hg.): Franka Potente, Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2001, S. 242ff). Der Altersunterschied zu Riemann (Jahrgang 1963) und Ferres (Jahrgang 1965) mag gering erscheinen, ist aber für ihr Image als jüngere Überfl iegerin sicher nicht unwesentlich. 37 Ich übergehe im Rahmen dieser Arbeit ihre Auftritte in US-amerikanischen Filmen, da es mir um das deutsche Kino geht. Ihre kleine Nebenrolle in Blow (Ted Demme, 2000) und ihre erste Hauptrolle bei einer Hollywood-Produktion in The Bourne Identity (Doug Liman, 2001) sind für ihr Starimage aber vor allem wegen ihres Eintritts in den Rang einer Hollywood-Schauspielerin von Bedeutung, zumal dieser Schritt bei deutschen Stars selten ist. 38 Vgl. Rathje, Krämer: Franka Potente, S. 72ff und S. 256. 39 Übernatürlich wird sie sogar, als Lola in einem Spielkasino am Roulettetisch so laut schreit, dass alle Gläser zerspringen und die Kugel zum zweiten Mal auf ihre gesetzte Zahl fällt und sie reich macht. 40 Holz, Gudrun: „Spellbound auf Speed“ (Rezension zum Film). In: taz, 20.8.1998, S. 15. 41 [o.A.]: „Franka forscht“. In: tip, Nr. 18, 1998, S. 34-39, hier S. 38. 42 Unter Girlies verstehe ich Mädchen und junge Frauen, die sehr selbstbewusst auftreten, sich schrill oder besonders trendy kleiden und für deren Selbstverständnis feministische Theorien und politische Emanzipationsdebatten unbedeutend geworden sind, da sie sich in ihrer gelebten Individualität nicht begrenzt fühlen. 43 Schloemer, Andrea: „Die Zauberfrau“. In: max, Nr. 20, 12.9.2002, S. 141ff. 44 [o.A.]: „Ich gehe den direkten Weg“. Interview mit Potente in Der Spiegel, Nr. 38, 16.9.2002, S. 196f. 45 Ebert, Michael: „...unsere Frau für Hollywood.“ Interview mit Potente in stern, Nr. 43, 19.10.2000, S. 296. 46 Vgl. Siemens, Jochen: „Ein Kampf um jede Szene“. In: stern, Nr. 41, 5.10.2000, S. 222-230; Jenny, Urs: „Die Sissi vom Birkenhof“. In: Der Spiegel, Nr. 41, 9.10.2000, S. 248ff; Kruttschnitt: „Die will nach vorne“, S. 32ff.; Ziegler, Helmut: „König der Bilder“. In: Die Woche, 21.8.1998, S. 36; Rathje, Krämer (Hg.): Franka Potente, S. 78ff. 47 Vgl. Schloemer: „Die Zauberfrau“, S. 144 48 Zu einer Auswahl von Photos vgl. ebd., S. 140-144; Rathje, Krämer (Hg.): Franka Potente, pas- sim. 49 Vgl. Beyer, Susanne und Marianne Wellershoff: „Das Comeback der Mutter“. In: Der Spiegel Nr. 29, 16.7.2001, S. 66-76. Frauen / Männer 37 Elisabeth Gotto Men’s Studies und Filmwissenschaft. Positionen und Perspektiven Analog zu den seit den 1970er Jahren etablierten Womens’ Studies entstanden in den 80er Jahren die sogenannten Men’s Studies als eigenes Forschungsgebiet. Ausgehend von den Erkenntnissen der Frauenforschung, die die Kategorie Geschlecht als grundlegendes Analysekonzept eingeführt hatte, begannen die Forscher der Men’s Studies, ihren analytischen Blick auf die Bedeutung der Kon- fl ikte und Ambivalenzen der männlichen Geschlechtsidentität zu richten. Die Männerforschung kann nicht als homogene Disziplin betrachtet werden, vielmehr vereinigt sie in sich ganz unterschiedliche Ansätze und Richtungen. Im Folgenden sollen daher die Problemstellung der Männerforschung, die verschiedenen metho- dischen Ansätze und ideologischen Perspektiven sowie das Erkenntnisinteresse dieser Forschungsrichtung vorgestellt werden. Bereits Mitte der 70er Jahre wurden in den USA die ersten Hochschulkurse, die sich mit Männlichkeitsrefl exion beschäftigten, angeboten. Eine institutionelle Entwicklung hin zu einem eigenen Forschungsbereich vollzog sich jedoch erst in der ersten Hälfte der 80er Jahre. Zu Beginn wurden die Kurse, ähnlich wie in den Anfängen der Frauenforschung, vor allem im Rahmen der etablierten Disziplinen durchgeführt (z.B. Psychologie, Soziologie, Englische Literatur etc.). Inzwischen werden Men’s Studies-Kurse an einigen Universitäten als Teil eines kulturwissenschaftlich orientierten Gender Studies-Programms angebo- ten.1 Männlichkeitskritik wird heute mit unterschiedlichen Zielsetzungen und in unterschiedlichen politischen Kontexten betrieben. Zudem präsentiert sich die Männerforschung auch in methodologischer Hinsicht wie ein Kaleidoskop, in dem sich unterschiedliche Ansätze und Argumentationslinien in verschiedenen Schwerpunkten konzentrieren. Die aktuelle Männlichkeitsdebatte, die sich in der englischsprachigen Wissenschaftskultur herauskristallisiert, läßt sich grob in sieben Richtungen unterteilen.2 1. Profeministische Richtung3. Die politische Basis der profeministischen Rich- tung bildet die antisexistische Männerbewegung. 1982 wurde die „National Orga- nisation for Changing Men“ (NOCM) gegründet, die sich seit 1990 „National Organisation for Men Against Sexism“ (NOMAS) nennt. Diese Organisation begreift sich als profeministisch und führt seit dem Gründungsjahr jährlich Kon- gresse durch. Als Splittergruppe entstand die „Men’s Studies Association“, die vierteljährlich The Men’s Studies Review herausgab. Diese der NOMAS naheste- hende und sich als international verstehende Zeitschrift heißt seit 1993 Masculini- ties. Interdisciplinary Studies on Gender. Ausgangspunkt der Profeministen ist die Erkenntnis, dass beide Geschlechter in einer Gesellschaft leben, die im kulturellen, sozialen und politischen Bereich von männlichen Prinzipien dominiert wird. Dabei richtet sich der Blick vor allem auf Hierarchien und Differenzen unter Männern, die mit Ohnmachtserfahrungen und strukturellen Zwängen einhergehen. Was die feministische Forschung als grundlegende Gedanken und Erkenntnisse zur Kategorie Geschlecht formuliert hat, wird von der profeministischen Richtung aufgegriffen: die Einsicht in die Konstruiertheit des Geschlechts und das Ziel der 38 Frauen / Männer Aufl ösung scheinbar natürlicher Geschlechterdifferenzen und -hierarchien. Es geht den Profeministen insbesondere um die Analyse von Männlichkeitsbildern und -stereotypen, um die Demontage von heroischen Männlichkeitsmythen und um die Erforschung von hierarchischen Machtverhältnissen. Zu den wichtigsten Erkenntnissen dieser Gruppe gehört die Feststellung, dass die patriarchale Orga- nisation der Gesellschaft nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer eine Form der Unterdrückung darstellt, die Leid und Schmerz mit sich bringt und deshalb herausgefordert und verändert werden muss.4 2. Konservative Richtung. In den 80er Jahren kam es in den USA und in Europa zu einer Gegenbewegung zum Feminismus, die zu einer Reartikulation von traditionellen Formen der Männlichkeit führte. Schon 1977 gründete Herb Goldberg die „Free Men Inc.“, die sich für die Rechte der Männer einsetzte; die Nachfolgeorganisation ist die „National Coalition of Free Men“, die Kongresse organisiert und die Zeitschrift Transitions: Journal of Men’s Perspectives heraus- gibt. 1980 gründete sich der „National Congress for Men“, der heute „National Congress for Men and Children“ (NCMC) heißt und sich insbesondere für die Rechte der Väter (z. B. in Scheidungssituationen und Fragen des Sorgerechts) engagiert. Schon früh begannen Anhänger einer moralkonservativen Ausrichtung, feministische Forderungen zu kritisieren und zu attackieren. Sie propagieren einen deutlichen Geschlechterbinarismus, den sie als Grundfeste der Gesellschaftsord- nung verstehen. Verbunden mit diesem Konzept ist z.B. die klassische Art der Arbeitsteilung, die dem Mann Dominanz in der öffentlichen Sphäre zugesteht und der Frau hauptsächlich die privaten Sphäre zuweist. Anhänger der konser- vativen Richtung argumentieren, dass die Verletzung von bewährten Traditio- nen zu moralischen Krisen führe und lehnen daher die Forderung nach weniger stringenten Geschlechtsrollen ab. Moralkonservative Debatten stützen sich oft auf essentialistische Argumentationen, wobei sich zumeist ein Rückgriff auf die pseudowissenschaftliche Richtung der Sozialbiologie zeigt. Demnach seien soziale Institutionen und Praktiken durch die genetische Prädisposition von Männern und Frauen beeinfl usst. Die (auch politisch motivierte) Gegenbewegung zum Feminismus führte zu der Formation einer Gruppe, die sich als Kämpfer für die „Men’s Rights“ verstehen. Erklärtes Ziel ist die Aufl ehnung gegen die Ergeb- nisse der Frauenforschung sowie die Dekonstruktion ihrer zentralen Erkenntnisse. Die strategische Vorgehensweise dieser Forscher zeigt, dass der Blick auf das Geschlechterverhältnis vernachlässigt wird und ausschließlich die Lebenssituation des Mannes ins Zentrum der Analyse gerückt wird. Überwiegend werden jene Segmente der Männlichkeit thematisiert, unter denen Männer leiden. Einige For- scher engagieren sich in einer neuen Form des Sexismus, in dem sie behaupten, dass die aktuelle Gesellschaft zu einer Bastion des weiblichen Privilegs und zu einem Ort der männlichen Degradierung geworden sei.5 3. Mythopoetische Richtung. In den späten 80ern und frühen 90ern kam eine neue Bewegung auf, die sich auf das Werk des amerikanischen Männerforschers Robert Bly stützte. Bly veranstaltete Workshops und Seminare, in denen Männer sich durch Trommelrituale und das gegenseitige Vorlesen von Lyrik öffnen sollten, um von ihren emotionalen und psychischen Verletzungen sprechen zu können. Die Frauen / Männer 39 Autoren der mythopoetischen Richtung glauben, dass eine Rückbesinnung auf die mythische Vergangenheit der Schlüssel für zeitgenössische Männlichkeitsmodelle ist. Dabei stellt die Psychologie C. G. Jungs die Argumentationsgrundlage dar, nach der sich Männlichkeit auf Archetypen des Unterbewussten gründet. Sie mündet in der Forderung, dass Männer ihr kulturelles Erbe zurückerlangen müssen, das durch die moderne Gesellschaft zerstört wurde. Die Grunderkenntnis ist, dass Mythen in einer Periode der „männlichen Krise“ ein Werkzeug der subjektiven und kulturellen Transformation sein können. Als Grund dieser Krise benennen die Forscher die Frauenbewegung, die die Männer nicht nur feminisiere und dadurch verunsichere, sondern auch eine „antagonistische Wirkung“ auf die männliche Spiritualität habe.6 4. Homosexuelle Richtung. Initiiert durch die Stonewall Rebellion in Green- wich Village 1969 formierten sich bereits in den 70er Jahren mehrere Gruppen der Schwulenbewegung, die sich für die Befreiung und rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen einsetzten. Besonders wichtig war in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, dass Schwule zu den unterprivilegierten Gruppen innerhalb der Gesellschaft gehören und dass gegen diese Form der Unterdrückung gekämpft werden muss. Schwule Forscher betonen, dass ihre Art der Sexualität eine Her- ausforderung der traditionellen Formen dominanter Männlichkeit darstelle, ins- besondere in Bezug auf das Modell der Kernfamilie. Somit stünde die schwule Lebensform für ein alternatives Männlichkeitsmuster, das nicht auf der gesell- schaftlichen Unterdrückung von Frauen basiere. Weiterhin gehen sie davon aus, dass Homophobie als ein Schlüsselkonzept der männlichen Identität betrachtet werden muss, durch das sämtliche Prozesse männlicher Selbstfi ndung strukturiert werden.7 5. Afroamerikanische Richtung. In den 80er und 90er Jahren wurde zuneh- mend das Zusammenspiel von Männlichkeit mit der Komponente Ethnizität unter- sucht. Die Forscher der afroamerikanischen Richtung weisen darauf hin, dass die Emphase der dominanten Männlichkeit, die sich auf ein weißes, heterosexuelles Konstrukt stützt, andere Männlichkeiten außerhalb dieser Grenzen ausschließe und somit marginalisiere. Die gesellschaftlich institutionalisierte Form männlich motivierter Unterdrückung richte sich nicht nur gegen Frauen und Homosexuelle, sondern auch in besonderem Maße gegen Schwarze. 1990 wurde das „National Council of African American Men“ (NCAAM) gegründet, das zwei Zeitschriften herausgibt: das New Journal of African American Male Studies und das Annual State of Black Male America. Die Autoren der afroamerikanischen Richtung sind sich einig, dass die schwarze Männlichkeit in besonderem Maße problematisch sei, weil sie durch historische und gesellschaftliche Formen des Rassismus geprägt sei. Die Beschreibungen der Lebenswirklichkeit von Schwarzen und der Effekte dieses Rassismus variieren deutlich. Unbestritten ist jedoch die Erkenntnis, dass ein Rassismus, der sich gegen Minoritäten richtet, ein strukturelles Merkmal hegemonialer Männlichkeit darstellt.8 6. Sozialistische Richtung. Diese Richtung, die seit den Anfängen der Männerbewegung existiert, stützt sich hauptsächlich auf marxistisch orientierte Theoriekonzepte. Sie geht davon aus, dass Männlichkeit primär durch die kapi- 40 Frauen / Männer talistische Gesellschaft produziert und geformt wird. Diese Gesellschaftsform ist klassenstrukturiert und konstituiert sich durch Produktionsrelationen, die bestimmte Machtstrukturen (z. B. durch die Art der Arbeitsteilung) herausbilden. Der sozialistischen Perspektive zufolge liegt die männliche Geschlechtsidentität in ökonomisch determinierten Klassenstrukturen begründet, denn im patriarchalen Kapitalismus wird Männlichkeit dadurch bestimmt, wer welche Arbeit leistet, wer welche Arbeit kontrolliert und wer die Produkte dieser Arbeit kontrolliert. Proble- matisch sei das System insofern, als dass es Männer durch verschiedene Formen der Entfremdung, die es mobilisiert, benachteilige und unterdrücke. In einem weiteren Schritt wird erklärt, dass eine signifi kante Änderung der männlichen Geschlechtsrolle erst dann möglich sei, wenn sich auch die Klassenstrukturen (und damit die Machtrelationen) einer Gesellschaft änderten.9 7. Christlich-orientierte Richtung. 1990 gründete Bill McCartney die Organi- sation „Promise Keepers“, die aus der christlich orientierten Männerbewegung erwuchs und religiös-konservative Ziele verfolgt. Diese Vereinigung organisiert Konferenzen und Kongresse und gibt das Magazin New Man heraus. Ihr Name ist durch die zentrale Idee motiviert, dass Männer Frauen gegenüber ihre Versprechen nicht einhalten; dass sie z. B. keine guten Ernährer und Beschützer (und somit keine guten Väter) seien. Die Autoren der christlich-orientierten Richtung bekla- gen eine moralische Krise der Gesellschaft, die zum Teil durch verantwortungs- lose Männer, zum Teil aber auch durch überambitionierte Frauen entstanden sei. Viele Autoren vertreten antifeministische Positionen und fordern eine spirituelle Erneuerung der Männlichkeit sowie die Rekonstitution des traditionellen Patriar- chats.10 Innerhalb der Filmwissenschaft wurde die mediale Vermittlung der Männlichkeit sowie deren Implikationen für die Organisation von Blickverhältnissen und Machtstrukturen zu Beginn der 80er Jahre zum Gegen- stand wissenschaftlicher Refl exion. Im folgenden sollen diejenigen Ansätze der Männlichkeitskritik vorgestellt werden, die, ausgehend von den Fragestellungen der feministischen Filmtheorie, die Konzeption und Interaktion von Kino und Geschlecht untersuchen.11 Für die fi lmtheoretische Positionierung der heterosexuellen Männlichkeit war Laura Mulveys Aufsatz „Visual Pleasure And Narrative Cinema“ ein Schlüsseltext. Mulvey klassifi ziert darin heterosexuelles Begehren als selbstverständliches Fun- dament patriarchaler Lebensverhältnisse und entwickelt so eine Theorie der patri- archalen Festschreibung von Blick, Bild und Erzählung im Film. Männlichkeit wird insofern als normatives Prinzip verstanden, als dass Männer nach Mulvey im Besitz des allwissenden Blicks sind, sie als handlungsmächtige Träger der Erzählung angesehen werden, und als der Maßstab kinospezifi scher Identifi ka- tion gelten. Frauen hingegen haben als erotische Schauobjekte nur eine passive Funktion.12 Mulveys Dichotomisierung von männlich-aktivem Schauen und weib- lich-passivem Angeschautwerden wurde zum Paradigma fi lmtheoretischer Refl e- xion. Frauen / Männer 41 Eine Alternative zu dieser sexualpolitischen Konzeption etablierten in den späten 70er und frühen 80er Jahren homosexuelle Wissenschaftler, die mit ihren Untersuchungen zur Repräsentation und Rezeption von Schwulen in der Filmge- schichte eine Neubewertung der Analyse von begehrensspezifi schen Blickstruk- turen leisteten.13 1982 formulierte David Norman Rodowick eine kritische Ant- wort auf Mulveys restriktives Modell, die in der Kernthese mündete, dass der Status der männlichen Geschlechtsidentität nicht fi xiert, sondern fl ießend sei.14 Der breiter rezipierte Ansatz von Steve Neale hingegen bestätigt die von Mulvey propagierte ideologische Geschlossenheit des Erzählkinos. Neale geht davon aus, dass nicht nur die Unterdrückung von Frauen, sondern auch die Unterdrückung des homosexuellen Verlangens als konstitutive Komponente des Patriarchats sowie des klassischen Erzählfi lms angesehen werden muss. Der Adressat des klassischen Kinos sei somit nicht nur männlich, sondern auch heterosexuell. Als Beispiele dienen traditionell männlich konnotierte Genres wie Western, Krimis und Agen- tenfi lme. Neale bestätigt Mulveys These, indem er der Fetischisierung der Frau als Sexualobjekt grundsätzlich zustimmt und dem explizit erotischen Blick auf den männlichen Körper.15 1984 entwickelt I. Green eine Gegenthese zu Neale. Er kritisiert die seiner Meinung nach zu enge Beschränkung auf bestimmte Genres und führt am Beispiel des Melodrams aus, dass der Filmzuschauer nicht immer in die maskuline Subjektposition gedrängt werden muss. Somit lässt Green die Möglichkeit der multiplen Adressierung sowie der variablen Subjektposition des Filmzuschauers zu.16 1988 beteiligte sich die Filmzeitschrift Camera Obscura mit dem Themenheft „Male Trouble“17 an der Diskussion um kinospezi- fi sche Männlichkeitskonstrukte. In verschiedenen Aufsätzen namhafter femini- stischer Filmtheoretikerinnen wurde betont, dass die dominanten heterosexuellen Männlichkeitsdarstellungen von alternativen ‚unmännlichen’ Repräsentationen überlagert werden können, und dass Männlichkeit als symbolische Kategorie betrachtet werden muss, die sich aus der Komposition verschiedener kulturell produzierter Diskurspositionen ergibt. Eine Weiterentwicklung von Greens Ansatz lieferte 1990 Robert Hanke, der den symbolischen Charakter von Subjektivitäten und die Multivalenz von sozialen Identitäten fokussiert. Hanke beschreibt, wie einige Zuschauer soziale Defi nitionen von Männlichkeit aktivieren, andere ihnen widerstehen und wieder andere sie ignorieren. Durch die Analyse dieses unter- schiedlichen Zuschauerverhaltens kommt er zu dem Schluss, dass der Rezepti- onsprozess nicht auf einen singulären Akt beschränkt werden darf, sondern unter- schiedliche Mechanismen wie textuelle Adressierung, Dekodierungsstrategien und intersubjektive Vermittlung involviert.18 Anschließend an Mary Ann Doanes Konzeptionalisierung von Film, Weiblichkeit und Maskerade geht Chris Holmlund 1993 dazu über, die fi lmspezifi sche Konstruktion von Männlichkeit als eine Serie multipler Maskeraden zu analysieren. Dabei begreift sie diese Inszenierungen nicht als Verkörperung einer dahinter liegenden Wahrheit oder Essenz, sondern als künstliche, substanzlose Erscheinungen.19 Die bislang umfassendste Untersuchung legte Kaja Silvermann 1992 mit ihrem Werk Male Subjectivity at the Margins vor. Unter Verwendung der Ideologiekon- 42 Frauen / Männer zeption von Althusser und des Subjektbegriffs bei Lacan entwirft sie eine Theorie der sozialen Funktion der dominanten Männlichkeitsfi ktion. Nach Silverman sind Masochismus und Kastrationsängste für die normative Männlichkeit konstitutiv. Im Anschluss an diese These untersucht sie sogenannte marginale Männlichkeiten in Film und Literatur, also z. B. den kranken, schwachen, verwundeten Mann, um zu zeigen, dass die männliche Identität durch den Einfl uss von persönlichen und historischen Traumata gekennzeichnet ist. Die Markierung des männlichen Subjekts durch Passivität und Mangel schlägt sich nach Silverman auch in Brüchen der blickdramaturgischen Subjektpositionierung nieder und verdeutlicht so, dass Männlichkeit keine endgültige Entität bezeichnet, sondern vielmehr ein äußerst instabiles Konstrukt darstellt.20 Im Anschluss an Silverman untersucht Siegfried Kaltenecker 1996 vorwiegend am Beispiel von Crossdressing-Filmen die komplexen Verfl echtungen von Identität, Identifi kation, Ideologie und Repräsentation.21 Erklärtes Ziel ist es, durch die gezielte Analyse dominanter Männlichkeitsrepräsentationen diejenigen Organisationsprinzipien offenzulegen, die den hegemonialen Männlichkeitsdiskurs der bestehenden Ordnung etablieren und stabilisieren. Die Frage der Männlichkeitsrepräsentation ist nach wie vor ein zentrales kulturell-gesellschaftliches Thema, wie Georg L. Mosse feststellt: „Bilder der Maskulinität, d. h. Bilder, in denen Männer ihre Männlichkeit inszenieren, sind in unserer Kultur noch immer vorherrschend.“22 In den letzten beiden Jahrzehn- ten hat sich mit den Men’s Studies eine Forschungsrichtung entwickelt, die den Mann zum wissenschaftlichen Untersuchungsobjekt erhebt und sich mit der kriti- schen Analyse von Männlichkeitsbildern und –stereotypen auseinandersetzt. Doch welche Untersuchungen dieses neuen Forschungskomplexes können als zukunfts- weisend bezeichnet werden, wo bestehen Schwachstellen und welche Ansätze bedürfen einer kritischen Erweiterung? Trotz der Divergenz der methodischen Richtungen und ideologischen Perspektiven innerhalb der Männerforschung lassen sich einige signifi kante Gemeinsamkeiten erkennen. Kenneth Clatterbaugh fasst zusammen: Each [component] begins with a feminist viewpoint, whether or not it is ultimately opposed or indorsed. [...] Each movement claims that its agenda is in the best interest of men and women. [...] At the same time, each move- ment tries to be supportive of men and to fi nd ways to address issues of concern to men.23 Clatterbaugh bemerkt richtig, dass als Initialzündung der Männerforschung die Frauenforschung fungierte, deren Fragestellungen und Konzeptionen aufgegriffen wurden – als inspirierende Anregungen oder als Anlass zu polemischer Kritik. Einigkeit scheint indes darüber zu herrschen, dass sich der Mann am Ende des 20. Jahrhunderts in der Krise befi nde - allein die Titel der meisten Publikationen bestätigen diesen Befund.24 Sie sind symptomatisch für die tiefgreifende Verun- sicherung traditioneller Männlichkeitskonzepte, die sich seit den 80er Jahren in verschiedenen sozialen und kulturellen Bereichen abzeichnet. Frauen / Männer 43 Viele Männerforscher, insbesondere die der profeministischen Richtung, haben zentrale Erkenntnisse der Frauenforschung, wie z. B. die Einsicht in die Konstru- iertheit des Geschlechts, übernommen und bestätigt: Nicht nur die weibliche, auch die männliche Geschlechtsidentität wird inzwischen als Kategorie begriffen, die sich aus der Komposition vielfältiger kultureller Diskurse ergibt. Der neue Ansatz besteht darin, nicht nur marginalisierte Gruppen zu untersuchen, sondern Männlichkeit als Ergebnis einer kulturellen Normierung zu dekonstruieren. Das männliche Geschlecht darf demnach nicht länger als universelles Prinzip oder monolithisches Konzept verstanden werden; vielmehr soll die Instabilität und der konstrukthafte Charakter männlicher Subjektivität offengelegt werden.25 Die Gefahren eines solchen Ansatzes sind mithin nicht zu übersehen: Die Konzentration auf das männliche Geschlecht, die, wie Clatterbaugh erwähnt, allen Richtungen zu eigen ist, neigt dazu, eine naturgegebene Andersartigkeit zu suggerieren und alte substantialistische Modelle erneut heraufzubeschwören. Die Männerforschung sieht sich mit dem Risiko der Isolation und Selbstmargi- nalisierung konfrontiert, das ein solcher Ausschließungsmechanismus in sich birgt. Einige Forscher versuchen, angesichts der Verschiedenartigkeit männlicher Erfahrungen nicht mehr von der Männlichkeit auszugehen, sondern nur noch von Männlichkeiten zu sprechen. Verbunden mit diesem Konzept ist die Erkenntnis, dass es mehrere miteinander konkurrierende Männlichkeiten gibt, die in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Die bloße Pluralisierung des Begriffs stellt jedoch keine befriedigende Lösung des Problems dar, weil sie in einem Universalismus befangen bleibt, der die männliche Subjektivität als exklusiven Untersuchungsgegenstand voraus- setzt. Zudem scheint die bloße Aufzählung und Beschreibung unterschiedlicher Männlichkeitsbilder und –identitäten insofern ein hoffnungsloses Unterfangen zu sein, als dass sie niemals umfassend und erschöpfend sein kann, da Identität nicht als abgeschlossene Entität oder monolithische Kategorie existiert. Alan Petersen betont: The problem with this so-called additive model of identity is that no mat- ter how exhaustive the description, there will always be exclusions, and disjunctions between imposed identity labels and personal experiences. There is literally an infi nite number of ways in which the ‚components of identity’ can intersect or combine to ‚make up’ masculine identity.26 Ein weiteres Problem besteht darin, dass bei dieser Vorgehensweise das Verhältnis der Geschlechter zueinander unberücksichtigt bleibt und dass Männlichkeit als isoliertes Phänomen betrachtet wird. Ein Ansatz, der die Bedeutung der Interre- lation von männlichem und weiblichem Rollenverhalten ausblendet, ist wenig vielversprechend. Sean Nixon konstatiert: Particular versions of masculinity are not only constituted in their differ- ence from other versions of masculinity but are also defi ned in relation to femininity. This suggests, then, that an adequate understanding of mascu- linity requires our locating it within the wider fi eld of gender relations as a whole.27 44 Frauen / Männer Geschlechterrollen lassen sich nur in Relation zueinander begreifen. Das Verständnis der männlichen Geschlechtsrolle ist z. B. entscheidend davon geprägt, ob sich die Frau gemäß der Rolle verhält, die die gesellschaftliche Zuschreibung für sie vorsieht. Dort, wo das normative Geschlechterverhältnis überschritten wird, wo die Rollen neu verteilt werden, beginnen oft die Schwierigkeiten männlicher Identitätsfi ndung. Ebenso problematisch sind essentialistische Konzepte, die das Geschlecht als die einzig determinierende gesellschaftliche Kategorie vorausset- zen.28 Lynne Segal weist auf die Bedeutung weiterer sozialer Formationen in Zusammenhang mit der Konstruktion des Subjekts hin: „We are not simply deal- ing with a multiplicity of masculine styles, for these are always cut across by, and enmeshed within, other, differing relations of power - class, age, skill, ethnicity, sexual orientation, and so on.“29 Es wird deutlich, dass eine Erweiterung des reduktiven Genderkonzepts, das viele Forscher zugrunde legen, notwendig ist.30 An der Konstruktion der männlichen Identität sind viele verschiedene soziale und kulturelle Variablen beteiligt: Nicht nur das Geschlecht, auch andere Katego- rien wie Klasse und Ethnizität spielen eine wichtige Rolle. Zudem ist die Bedeu- tung des historischen Kontexts, der Fragen der politischen Rahmenbedingungen und soziokulturellen Voraussetzungen einschließt, oft unterschätzt worden. Alan Petersen fasst diese Defi zite der Männerforschung zusammen und stellt fest: „Researchers have failed to deconstruct the category ‹men›, and to examine how different constructions of ‚men’ have emerged historically and become infl ected with racialised, sexualised, and classist meanings.“31 Die Männerforschung darf nicht der Gefahr erliegen, die männliche Geschlechtsidentität als essentielles Konzept zu untersuchen. Das Zusammenspiel von Männlichkeit mit anderen kulturellen Kategorien wie Klasse, Ethnizität, religiöser, politischer und sexu- eller Ausrichtung sollte nicht länger ausgeblendet werden. Vielmehr muss die männliche Geschlechtsidentität als variables Bündel kultureller Normen begriffen werden, das jeweils historisch verschieden verkörpert wird. Diese Voraussetzungen sind auch für fi lmwissenschaftliche Fragestellungen von Bedeutung. Die neueren Entwicklungen der fi lmwissenschaftlichen Männerforschung greifen Mulveys Thesen an und kritisieren den Heterozentris- mus ihres Ansatzes, der ihrer Meinung nach eine repressive Hypothese darstellt. Zudem vernachlässigt Mulvey durch die Konzentration auf die Psychoanalyse andere wichtige Komponenten, die für den Prozess der Identitätskonstitution von entscheidender Bedeutung sind. Sean Nixon stellt fest: Historical and social factors which determine identity are - in the end - reduced to the calculus of psychosexual structures. [...] In other words, psychoanalysis privileges the acquisition of gender and sexual identity as the bedrock of identity. Other determinants upon identity (such as class) are effectively sidelined.32 Die Erweiterung eines geschlechtsorientierten Ansatzes um weitere zentrale kul- turelle Parameter, die als Analysekategorien von Vorteil sind (z. B. Ethnizität und Klasse), ist also auch in diesem Zusammenhang wichtig. Die psychoanalytische Filmtheorie geht vielen Autoren nicht weit genug, da sie die Chance des Zuschau- ers zur Intervention negiert, es also keine Möglichkeit des Rezipienten gibt, der Frauen / Männer 45 dominanten kinematographischen Adressierung zu widerstehen. Viele Forscher lehnen daher Mulveys Modell der fi lmspezifi schen Identifi kation ab und gehen stattdessen von einem polymorphen Verlangen des Zuschauers aus. John Fiske defi niert den textuellen Code als ein System von Zeichen, das von Regeln bestimmt wird, die von den Mitgliedern der benutzenden Kultur festgelegt werden.33 Nach dieser Theorie der textuellen Decodierung haben die Rezipien- ten also mehrere Möglichkeiten, einen Text zu lesen: Sie können dominante, konventionelle oder oppositionelle Codes anwenden und produzieren dadurch eine Multiplizität möglicher Bedeutungen. Film ist demnach kein Komplize der hegemonialen Geschlechterdifferenz, sondern ein Medium, in dem Fantasien den fi xen Status der Geschlechtsidentität aufl ösen.34 Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die vom post- strukturalistischen Feminismus formulierte Erkenntnis, dass Identität als kompo- sitorischer Begriff verstanden werden muss, der verdeutlicht, dass viele verschie- dene Subjektivitäten an der Konstruktion des Selbst beteiligt sind: Identität ist kein festes Produkt, sondern ein fl ießender Prozess. Eine wichtige Rolle spielt dabei die fi lmspezifi sche Inszenierung des Körpers. Besonders Judith Butler hat vermehrt auf die kulturelle Konstruktion des Körpers hingewiesen, den sie einer jeglichen natürlich-ontologischen Verankerung enthebt: Das ‚Körpergeschlecht’ ist, mit anderen Worten, ein ideales Konstrukt, das sich über die Zeit hin unter Zwang materialisiert. Es ist kein simples Faktum und kein statischer Zustand eines Körpers, sondern ein Prozess, bei dem reglementierende Normen das ‹Körpergeschlecht› materialisie- ren und diese Verstoffl ichung durch ein unter Zwang ablaufendes stetiges Wiederholen jener Normen erzielen.35 Materie und Bedeutung sind nach Butler keine Größen mehr, die unabhängig voneinander bestimmt werden können; vielmehr werden sie im wechselseitigen Verweis aufeinander jeweils zerstört und neu zusammengesetzt. Auch wenn die Radikalität dieser These nicht überall Zuspruch gefunden hat,36 so haben doch in letzter Zeit einige Forscher auf die Vernachlässigung der Kategorie Körper und ihrer angemessenen Historisierung bei der kritischen Analyse der Geschlechtsidentität hingewiesen. Donna Haraway betont: Die Dekonstruktion der sexuellen Differenz kann sich [...] nicht ausschließlich auf die Kritik von Gender beziehen. Sie muß die je spezifi - sche Konstruktion von Sex einerseits wie Gender andererseits und die je spezifi sche Konstruktion der Beziehung zwischen beiden miteinbeziehen, wenn die fundamentale Konstruktion der sexuellen Differenz angemessen verstanden werden soll.37 Weiterhin betont Haraway die generativen Möglichkeiten des Körpers und stellt fest: „Sie [die Körper] produzieren nicht nur neue Körper, sondern auch Bedeutun- gen. Körper sind Konstrukte, die im Rahmen historisch und kulturell spezifi scher Prozesse materiell und symbolisch hergestellt werden.“38 Genau wie die kulturelle Geschlechtlichkeit ist auch das körperliche Geschlecht veränderlich und kann verschiedenen soziokulturellen Deformationen unterliegen. 46 Frauen / Männer Es wird deutlich: Die Re-vision der männlich-sexuellen Determinanten des Kinos anhand eines neuen Geschlechter-Repräsentationsbegriffs ist unumgänglich. Die medial vermittelte Männlichkeit erfüllt nicht stets ein eindeutiges und homo- genes patriarchales Ideal, wie Mulvey behauptet. Vielmehr muss männliche Subjektivität als fl uktuierende Kategorie verstanden werden, die sich aus der Kombination vielfältiger Diskurse ergibt. 1 Vgl. Femiano, Sam: „The Evolution of Men‘s Studies“. In: Changing Men. Issues in Gender, Sex and Politics. 1991, 22, S. 39. 2 Die kaum noch zu überblickende Anzahl von Publikationen, die das interdisziplinäre Forschungsge- biet der Men’s Studies hervorgebracht hat, erlaubt nur eine skizzenhafte Darstellung mit ausgewählten Literaturbeispielen, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern überblickhaften Cha- rakter hat. Auch ist die Unterteilung in sieben verschiedene Richtungen nicht als endgültige, restrik- tive Einteilung zu verstehen, da sich einzelne Perspektiven überschneiden können (einige Forscher arbeiten z. B. mit einer Kombination des afroamerikanischen und des homosexuellen Ansatzes). Vielmehr verfolgt sie das Ziel, verschiedene signifi kante Forschungsansätze in einer Übersicht vorzustellen. 3 Die Bezeichnung dieser Richtung ist nicht unproblematisch und zudem bei ihren Anhängern selbst umstritten (einige nennen sich z. B. „Antisexisten“ oder „Liberale Männerforscher“). Riskant ist der Terminus insofern, als dass er Anerkennung und Übereinstimmung mit der feministischen Bewegung sowie des feministischen Theoriekanons impliziert, was nicht immer vorausgesetzt werden kann: „The term ‚pro-feminist’ is deceptive in that it often conceals ignorance of the complexities of feminist positions and a reluctance to engage critically with feminist theories.“ (Petersen, Alan: Unmasking The Masculine. ‚Men’ and ‚Identity’ in a Sceptical Age. London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage Publications 1998, S. 8). Ich beziehe mich im Folgenden auf den von Harry Brod und Michael Kaufman geprägten Begriff der profeministischen Richtung, dem sich inzwischen zahlreiche Forscher der Men’s Studies angeschlossen haben (Vgl. Brod, Harry und Michael Kaufman (Hg.): Theorizing Masculinities. London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage Publications 1994). 4 Vgl. Kimmel, Michael S. und Thomas E. Mosmiller (Hg.): Against the Tide: Pro-Feminist Men in the United States 1776-1990. A Documentary History. Boston: Beacon Press 1992; Brod/Kaufmann (Hg.): Theorizing Masculinities; Connell, R. W.: Masculinities. Cambridge: Polity Press 1996; Seidler, Victor J.: Man Enough. Embodying Masculinities. London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage Publications 1997 und Engelfried, Constance: Männlichkeiten. Die Öffnung des feministischen Blicks auf den Mann. Weinheim, München: Juventa Verlag 1997. 5 Vgl. Gould, Stephen Jay: The Mismeasure of Men. New York: Norton 1981; Kipnis, Aaron R.: Knights without Armor. A Practical Guide for Men in Quest of Masculine Soul. London: Lawrence & Wishart 1991 und Kimbrell, Andrew: The Maculine Mysthique. New York: Ballantine 1995. 6 Vgl. Bly, Robert: Iron John. New York: Addison-Wesley Publishing 1990, Rabinowitz, Frederic E. und Sam V. Cochran (Hg.): Man Alive: A Primer of Men’s Issues. Pacifi c Grov, California: Brooks/ Cole 1994. 7 Vgl. Kinsman, Gary: „Men loving Men: The Challenge of Gay Liberation“. In: Kaufman, Michael (Hg.): Beyond Patriarchy. Toronto: Oxford University Press 1987, S. 103-119 und Mohr, Richard D.: Gay Ideas: Outing and other Controversies. Boston: Beacon Press 1992. 8 Vgl. Gordon, Jacob U. und Richard G. Majors (Hg.): The American Black Male. His Present Status And His Future. Chicago: Nelson-Hall 1994. 9 Vgl. Tolson, Andrew: The Limits of Masculinity. New York: Harper & Row 1977 und Terkel, Studs: Working. New York: Random House 1984. 10 Vgl. McCartney, Bill (Hg.): What Makes a Man? Twelve Promises That Will Change Your Life. Colorado Springs: Navpress 1992 und Hicks, Robert: The Masculine Journey. Understanding the Six Stages of Manhood. Colorado Springs: Navpress 1993. 11 Der folgende Überblick geht nicht auf jede einzelne Publikation ein, sondern trifft eine Auswahl der wichtigsten fi lmtheoretischen Forschungsansätze. Die Literaturangaben sind daher als exemplarische Hinweise zu verstehen. 12 Vgl. Mulvey, Laura: „Visual Pleasure and Narrative Cinema“. In: Screen 1975, 16, S. 16-18. 13 Vgl. Dyer, Richard: Gays and Film. London: BFI 1977, Waugh, Thomas. 1977: „Films by Gays for Gays“. In: Jump Cut 1977, 16, S. 21-34 und Russo, Vito: The Celluloid Closet. Homosexuality in the Movies. New York: Harper & Row 1981. 14 Rodowick, David Norman: „The Diffi culty of Difference“. In: Wide Angle 1982, 1, S. 4-15. Frauen / Männer 47 15 Neale, Steve: „Masculinity as Spectacle“. In: Cohan, Steve und Ina Rae Hark (Hg.): Screening the Male. Exploring Masculinities in Hollywood Cinema. London, New York: Routledge 1993, S. 9-20. 16 Green, I.: „Malefunction: A Contribution to the Debate on Masculinity in the Cinema“. In: Screen 1984, 4-5, S. 36-48. 17 Camera Obscura (1988, 17) 18 Hanke, Robert: „Hegemonic Masculinity in Thirtysomething“. In: Critical Studies In Mass Com- munication 1990, 3, S. 231-248. 19 Holmlund, Chris: „Masculinity as Multiple Masquerade. The ‚Mature’ Stallone and the Stallone Clone“. In: Cohan/ Rae Hark (Hg.), Screening the Male, S. 213-230. 20 Silverman, Kaja: Male Subjectivity at the Margins. New York, London: Routledge 1992. 21 Kaltenecker, Siegfried: Spie(ge)lformen. Männlichkeit und Differenz im Kino. Basel, Frankfurt a. M.: Stroemfeld Verlag 1996. 22 Mosse, George L.: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 1997, S. 247. 23 Clatterbaugh, Kenneth: Contemporary Perspectives on Masculinity. Boulder, Oxford: Westview Press 1997, S. 14. 24 Vgl. z. B. Kimmel, Michael S.: „The Contemporary ‚Crisis’ of Masculinity in Historical Perspec- tive.“ In: Brod, Harry (Hg.): The Making of Masculinities. Boston: Allen & Unwin.Brod 1987, S. 121-153, Horrocks, Roger: Masculinity in Crisis. Myths, Fantasies and Realities. New York: St. Martin’s Press 1994, sowie die Ausgabe „Man Trouble“ der Zeitschrift Artforum (1994, 4) bzw. das Themenheft „Male Trouble“ der Zeitschrift Camera Obscura (1988, 17). 25 Neuere Tendenzen untersuchen auch andere kulturelle Normen sowie deren brüchige Inszenierun- gen. So beginnt sich allmählich ein neues Forschungsparadigma zu entwickeln, das die vermeintli- che Kohärenz von „Whiteness“ hinterfragt. Vgl. Dyer, Richard: White. London: Routledge 1997; Frankenberg, Ruth (Hg.): Displacing Whiteness. Essays in Social and Cultural Criticism. Durham: Duke University Press 1997; Hill, Mike (Hg.): Whiteness. A Critical Reader. New York: New York University Press 1997; Babb, Valerie Melissa: Whiteness Visible. The Meaning of Whiteness in American Literature and Culture. New York: New York University Press 1998; Cuomo, Chris J. (Hg.): Whiteness. Feminist Philosophical Refl ections. Lanham: Rowman & Littlefi eld 1999; Nakayama, Thomas K. und Judith N. Martin (Hg.): Whiteness. The Communication of Social Identity. Thousand Oaks: Sage Publications 1999. 26 Petersen: Unmasking the Masculine, S. 14. 27 Nixon, Sean: „Exhibiting Masculinity“. In: Hall, Stuart (Hg.): Representation. Cultural Representa- tion and Signifying Practices. London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage Publications 1997, S. 293-330, S. 298. 28 Dies trifft besonders auf die konservative und auf die mythopoetische Richtung zu. 29 Segal, Lynne: Slow Motion. Changing Masculinities, Changing Men. London: Virago 1990, S. xi. 30 Zwar lassen sich schon einzelne Ansätze erkennen, die weniger reduktive Modelle vorstellen, wie z. B. innerhalb der homosexuellen, marxistischen oder afroamerikanischen Richtung. Jedoch behandeln diese Richtungen die jeweils bevorzugte Analysekategorie in Isolation zu anderen kulturellen Komponenten und bieten daher eher horizontal beschränkte als interdisziplinäre Methoden an. 31 Petersen: Unmasking the Masculine, S. 6. 32 Nixon: „Exhibiting Masculinity“, S. 321. 33 Fiske, John: Television Culture. London, New York: Routledge 1987. 34 Vgl. Hearn, Jeff und Antonio Melechi: „The Transatlantic Gaze“. In: Craig, Steve (Hg.): Men, Masculinity and the Media. London, New Delhi: Sage Publications 1992, S. 215-233. 35 Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin: Berlin- Verlag 1995, S. 57. 36 Vgl. dazu z. B. Landweer, Hilge: „Kritik und Verteidigung der Kategorie Geschlecht “. In: Feministische Studien 1993, 2, S. 34-43 und Lindemann, Gesa: „Wider die Verdrängung des Leibes aus der Geschlechtskonstruktion“. In: Feministische Studien 1993, 2, S. 44-54. 37 Haraway, Donna: Die Neuerfi ndung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 1995, S. 14. 38 ebd., S. 21. 48 Mediale Wirklichkeiten Oliver Scholle Spielarten der Theorie. Variationen phototheoretischer Texte in Wilhelm Genazinos Auf der Kippe Wenn wir dagegen ein Bild vor unseren Augen sozusa- gen anhalten und es über die vorab zugebilligte Zeit betrachten, kommt das zustande, was wir den gedehnten Blick nennen können. (Er) sieht auch dann noch, wenn es nach allgemeiner Übereinkunft, die schon längst beim nächsten oder übernächsten Bild angekommen ist, nichts mehr zu sehen gibt. Wilhelm Genazino Viele literarische Publikationen der letzten Jahre, die sich mit der Photographie beschäftigen, weisen ein gemeinsames Merkmal auf: Sie rekurrieren auf die Theo- rie der Photographie, variieren oder interpretieren ihre Thesen und Fragestellun- gen. Beispiele hierfür sind neben Wilhelm Genazinos Auf der Kippe1 Jean-Philippe Toussaints L’appareil photo2, Péter Nádas’ Schöne Geschichte der Photogra- phie3 und Antje R. Strubels Offene Blende4. Der Rückgriff auf theoretische Texte wie die von Walter Benjamin5, Susan Sontag6 oder Roland Barthes7 erfolgt auf verschiedene Arten. Im Roman Offene Blende können die Kapitelüberschriften „Die helle Kammer“ und „Über Fotografi e“ als paratextuelle Verweise auf diese Quellen gelesen werden. Neben solchen ‚Zitaten’ existiert ein Korpus an Fragen, der nicht nur in den theoretischen Werken immer wieder von neuem untersucht wird, sondern auch Eingang in die literarischen Texte zur Photographie gefunden hat: die Nähe der Photographie zum Tod, das im Prozess des Photographierens zum Objekt werdende Subjekt, die Vergänglichkeit der intendierten Bedeutung oder die Frage nach der Existenz eines wahren, vollkommenen Bildes. Genazinos Auf der Kippe kommt dem Ansatz, die Theorie in den lite- rarischen Werken zu suchen, entgegen, weil viele der enthaltenen Texte Spe- zifi ka der Photographie diskutieren. Auf der Kippe ist, wie es der Untertitel verrät, ein Album, in dem sich auf jeder Doppelseite eine Photographie und ein dazugehöriger Text des Autors befi ndet. Die Bilder selbst stammen aus Antiqua- riaten, Haushaltsaufl ösungen, von Sterbefällen und Flohmärkten.8 Bei den ihnen zugeordneten Texten handelt es sich um die Bildinterpretationen des Autors, kleine erfundene Geschichten, die das mögliche Geschehen des Bildes zum Inhalt haben. So z. B. das Photo „Was geht“9, bei dem Genazino versucht, das mögliche Szenario einer Erschießung im Bild wiederzufi nden. Oder es sind im philosophischen Stil gehaltene Abhandlungen über allgemeine Fragen wie das Erleben der Kindheit oder die Veränderungen der Straßen in der Großstadt und natürlich über die Wesenszüge der Photographie. Die Kommentare Genazinos wollen jedoch nichts beweisen, sie lassen Raum für eigene Interpretationen. Explizite Hinweise auf den subjektiven Charakter der Texte wie „Hier, denke ich, sehen wir [...]“10 geben dem Rezipienten die Möglichkeit für eigene Betrachtungen. Denn nur so können die Bilder, die ‚auf der Kippe’ stehen, immer wieder vor dem Vergessen gerettet werden: Mediale Wirklichkeiten 49 Ihr Absinken in die Anonymität macht aus den Fotos Abfallbilder, für die es weder eine Nachfrage noch eine ästhetische Wertschätzung zu geben scheint. Erst die Einzelbetrachtung beendet das Schicksal der Vergessenheit und gibt den Bildern die Dignität von Dokumenten zurück.11 Bei dieser Untersuchung soll eine bestimmte Lesart im Zentrum stehen: der gezielte Rückgriff auf die theoretischen Texte zur Photographie. Das Phänomen, das die narrativen Texte zur Photographie viele Ideen bzw. Fragen aus der voran- gegangenen Theorie übernommen haben, interpretieren oder variieren, lässt sich an vielen Stellen in Genazinos Album aufzeigen. So fi ndet sich die Umkehrung von Genazinos Verfahren, das Wegwerfen der Bilder, bei Barthes: Ich kann das Photo nur in Abfall umwandeln: entweder Schublade oder Papierkorb: nicht nur teilt es das Schicksal des vergänglichen Papiers, es ist, auch wenn es auf härterem Material fi xiert wird, um nichts weniger sterblich: wie ein lebender Organismus wird es geboren aus keimenden Silberkörnchen, erblüht es für den Augenblick, um alsbald zu altern. Ange- griffen vom Licht und von der Feuchtigkeit, verblaßt es, erschöpft es sich und verschwindet; man kann es nur noch wegwerfen. 12 Diese Metamorphose ist das Schicksal jeder Photographie, vor dem Genazino sie zu retten versucht. Barthes entzieht der Photographie die Bedeutung, indem er sie nicht mehr betrachtet, über sie schweigt und somit dem Vergessen preisgibt. Die Frage nach der Dauerhaftigkeit der einem Photo zugeschriebenen Bedeutung hat schon Kracauer in seinem Essay „Photographie“13 thematisiert. Er erörtert das Problem anhand der Photographie einer Großmutter, die einmal „in eine böse Geschichte verwickelt war“.14 Doch diese Geschichte geht in der Photogra- phie verloren. Nicht nur, weil das Bild ausschließlich die sichtbaren Spuren der Großmutter gespeichert hat, sondern auch, weil niemand mehr die Geschichte über sie erzählen kann. Was von ihr bleibt sind die Fragmente ihrer Oberfl äche, die ohne Bedeutungszuweisung zu Müll werden: „Sie [die Photographie] stellt das schlechthin Vergangene dar, aber der Abfall war einmal Gegenwart.“15 Bei Genazino fi nden wir die gleiche Frage in seinem Text zu dem Bild „Natürlich“.16 Auf der Photographie sieht man eine große Ansammlung von Menschen, die sich zu einem, für ein Gruppenbild typisches, Arrangement aufgestellt haben. Den Grund für das Treffen verschweigt die Photographie. Genazino kommt, genau wie Kracauer, zu dem Schluss, dass die Bedeutung der Photographie häufi g nicht einmal die Lebensspanne der abgebildeten Personen überdauert. Sobald niemand mehr etwas über sie erzählen kann, droht sie in der Bedeutungslosigkeit zu versinken: Wie lange wird ein Foto überhaupt angeschaut? In der Regel nur von einer, der unmittelbar nachfolgenden Generation. Sie allein verbindet mit den abgebildeten Personen noch gesicherte persönliche Erfahrungen. Danach tritt das Foto in eine Anonymitätsphase ein, die länger dauert als das Leben der Abgebildeten.17 50 Mediale Wirklichkeiten Aus dieser Situation folgert Genazino, dass es vermutlich besser sei, sich nicht porträtieren zu lassen, damit man sich leichter an den Gedanken gewöhnt, eines Tages nicht mehr betrachtet zu werden. Diese Überlegung impliziert nichts ande- res als die Akzeptanz der Unmöglichkeit, mit Hilfe der Photographie den Tod zu überwinden, ein Irrglauben, den auch Kracauer in den vielen angefertigten Porträts sieht: Die Erinnerung an den Tod, der in jedem Gedächtnisbild mitgedacht ist, möchten die Photographien durch ihre Häufi gkeit verbannen. In den illu- strierten Zeitungen ist die Welt zur photographierten Gegenwart geworden und die photographische Gegenwart ganz verewigt. Sie scheint dem Tod entrissen zu sein; in Wirklichkeit ist sie ihm preisgeben.18 Fast alle von Genazino gesammelten Photographien haben ihre ‚erste Bedeutung’ verloren. Die Neubetrachtung orientiert sich häufi g an Details, die dem Betrachter ins Auge fallen und zum Ausgangspunkt einer neuen Erzählung werden. Bei der Photographie „Schon auf den“19 sind es die Tapete, das Sofa und vor allem die Kissen, die das eigentliche Motiv, eine Frau, die auf dem Sofa posiert, in den Hintergrund treten lassen: Es sind die um die Frau herum angeordneten Einzelheiten, von denen das Unbehagen ausgeht - die simple Tapete im Hintergrund, das Sofa, die Sofaecke und die Sofakissen. Vor allem die Kissen! Sie sind es, die den Ausfl ug der Frau in ein anderes Leben nicht mitmachen, sie verharren durch ihr So-sein-und-so-bleiben-wollen in der heimischen Welt des Wohn- zimmers. [...] Die Kissen pfeifen den Ausbruch schnöde zurück, und zwar buchstäblich hinter dem Rücken der Frau. Sie kann sich im Vordergrund noch so neckisch fortträumen, die Kissen fl üstern uns heimlich zu: Sie bleibt eine von uns. Es ist, denke ich, die besondere Art des Eingeknickt- seins der Kissen, in der die Intimität des Verrats haust.20 In Genazinos Erzähltext zu dem Photo „Schon auf den“ vereinen sich gleich mehrere Fragestellungen vorangegangener Texte. Bei Kracauer ist es das Kleid der Großmutter, welches ihre Enkel bei der Betrachtung des Photos nur noch amüsiert. Sie empfi nden ihr Kostüm als komisch.21 Das Bild wird durch das Kleid genauso gebrochen wie das Porträt der Frau durch die Kissen. Beide Photographien werden nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Ganzheitlichkeit betrachtet, sondern unter Herausstellung eines Fragments. Auch bei Calvino lassen sich Bildanalysen fi nden, die denen Genazinos gleichen. Calvinos Protagonist erkennt für sich, während er über seine Lichtbilder nachdenkt, dass er nicht das Innere eines Menschen porträtieren kann, sondern nur die Oberfl äche. Für ihn liegt, in diesem Stadium seiner Entwicklung als Photograph, die Wahrheit des Bildes in den gezeigten Details: Er mußte den entgegengesetzten Weg einschlagen: auf ein Bild ganz an der Oberfl äche, sichtbar und eindeutig, hinzielen, das nicht vor dem herkömmlichen Klischee zurückschreckte. Da die Maske vor allem ein soziales, historisches Produkt ist, enthielt sie mehr Wahrheit als jedes Bild, Mediale Wirklichkeiten 51 das sich als »wahr« ausgab; sie trug eine Menge Bedeutungen in sich, die sich nach und nach enthüllen würden.22 Die Kissen „verraten“ für Genazino das soziale Milieu der Frau. Die gezeigten Gegenstände wie die Tapete und das Sofa sind die Klischees des Bildes. Die Photographierte kann ihre Geschichte nicht verleugnen, weil sie auf dem Photo für Genazino mitpräsentiert wird. Doch auch bei anderen Photos steht bei Genazino ein Detail im Mittelpunkt. Auf dem Photo „Hier sehen wir“23 ist es ein Leiterwagen, um den sich eine Gruppe von Menschen gebildet hat. Genazino entdeckt darin das Szenario einer Abreise oder vielleicht sogar einer Flucht.24 Die Richtigkeit dieser Aussage ist weder überprüfbar noch bildet sie den zentralen Punkt seiner Interpretation. Das Zen- trum des Bildes ist für Genazino der Leiterwagen, um den sich die Menschen versammelt haben: Jetzt machen die Betrachter des Bildes eine wunderliche Erfahrung. Obwohl wir die Leute und ihre Absichten nicht kennen, fi xieren wir den Leiterwagen, je länger wir das Bild anschauen. Auf vielen Bildern (auch auf gemalten) gibt es einen bestimmten Glutkern, der oft nicht entdeckt, falsch gedeutet oder für belanglos gehalten wird. Der Glutkern ist deswegen wichtig, weil er - ist er erst mal entdeckt - die Bedeutung eines Bildes in eine neue Richtung lenken kann. Der Glutkern dieses Bildes ist vermutlich der Leiterwagen.25 Der ‚Glutkern’ Genazinos gleicht in seinen Charakteristika dem „absichtslosen Detail“26 Barthes’. Dieses Detail liegt für Barthes in der Regel nicht in der Inten- tion des Photographen, obwohl es für den Betrachter der zentrale Punkt des Bildes ist, der sein Interesse weckt. In Genazinos Beschreibung sticht der Leiterwagen aus dem Bild heraus und nähert sich so der Defi nition des punctums an: „Das zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen; denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt - und: Wurf der Würfel.“27 Barthes Begriff des punctums ist die Belebung des Bildes ausgehend vom Betrachter, gleich der ‚wunderlichen Erfahrung’. Sie wird durch ein beliebiges Detail ausgelöst, das für ihn aus dem Bild herausfällt und an das Subjekt des Betrachters gebunden ist. Der Glutkern des Bildes ist für Genazino der Leiterwagen. Er kann diese Erfahrung in seinem Kommentar schildern, aber nicht im Rezipienten selbst auslösen. Aber es gibt genau in der Mitte des Albums eine Photographie, die für den Rezipienten auf eine besondere Art ‚auf der Kippe’ steht. Das Bild „Die Frau“28 zeigt, so der Text, die verstorbene Gattin des Autors und das verstorbene Kind. Unter der Voraussetzung, dass es sich auf dem Bild wirklich um seine Frau und ihr Kind handelt, einer Aussage, deren Unaufl ösbarkeit zum Spiel der Photographie gehört, bricht der Autor sein bisheriges Schema auf. Die ‚eine’, in der Mitte des Buches platzierte Photographie, gleicht einem Riss: sie trifft, sie erschüttert. Sie erschüttert die bisherigen Bilder und deren Kommentare, weil sie die Anonymität der Photographien mit der Intimität der Privatsphäre des Autors vereint, in die der 52 Mediale Wirklichkeiten Leser gezogen wird. Hier thematisiert Genazino die nicht eindeutig zu ziehende Grenze zwischen der Zugehörigkeit einer Photographie zur Privatsphäre oder zum öffentlichen Raum. Auch Barthes verweist in der „Helle[n] Kammer“ auf dieses Phänomen: „Das Zeitalter der PHOTOGRAPHIE entspricht genau dem Einbruch des Privaten in den öffentlichen Raum oder vielmehr der Bildung eines neuen privaten Wertes: der Öffentlichkeit des Privaten: das Private wird als solches öffentlich konsumiert.“29 Beide Autoren benutzen das gleiche Szenario für ihre Arbeiten. Trotz der differierenden Bezugsquellen werden bis auf eine Ausnahme, das bei beiden zen- tral positionierte Bild des geliebten Menschen, ausschließlich Photographien aus dem öffentlichen Raum benutzt. Barthes’ ‚Bild aus dem Wintergarten’ zeichnet sich dabei durch eine Besonderheit aus: Es bleibt dem Rezipienten verborgen. Der Autor spart dieses Bild mit der Begründung aus, dass es für den Betrachter bedeu- tungslos und beliebig sei: „Ich kann das Photo aus dem Wintergarten nicht zeigen. Es existiert ausschließlich für mich. Für Sie wäre es ein belangloses Photo, eine der tausend Manifestationen des absolut beliebigen Gegenstandes überhaupt.“30 Barthes’ Bild der Mutter muss letztenendes nur einem anderen Bild, seiner Vor- stellung entsprechen: „[...] und ich fand sie endlich wieder, wie in sich selbst...“.31 Die Photographie muss nur ihm genügen. Sie soll weder den Ansprüchen seiner Mutter noch denen des Rezipienten entsprechen. Sie ist das Bild eines Bildes, in ihrer sichtbaren Form fast vollkommen beliebig. Das von Genazino präsentierte Photo seiner Frau ist zwar für den Rezipienten existent, aber es zeigt nicht mehr als eine Frau, die ein Kind auf dem Arm trägt. Nur die Referenten des Bilders, die Mutter Barthes’ und die Familie Genazinos, könnten die Behauptungen der Autoren bestätigen. Hier verschränken sich die Wesensarten der Photographie mit denen der Sprache: „Das Noema der PHOTO- GRAPHIE ist schlicht, banal, hat keine Tiefe: »Es ist so gewesen«.“32 Die von der Photographie erbrachte Bezeugung der eigenen Existenz steht dem Erzähltext gegenüber: Nichts Geschriebenes kann mir diese Gewißheit geben. Darin liegt das Übel (vielleicht aber auch die Wonne) der Sprache: daß sie für sich selbst nicht bürgen kann. Das Noema des Sprachlichen besteht vielleicht in die- sem Unvermögen oder, um es positiv zu wenden: Die Sprache ist ihrem Wesen nach Erfi ndung.“33 Diese beiden Charakterisierungen offenbaren das Verhältnis der Sprache zur Photographie. Sie verleiht der Photographie erst ihre Bedeutung. Die dem Bild zugeschriebene Geschichte ist die durch den Erzähler geleistete Kommentierung, die keinen Anspruch auf eine objektive Wahrhaftigkeit besitzt. So wie Genazino von einer Wiederbelebung der Angeschauten spricht,34 die für ihn im Schreiben über sie erfolgt, füllt auch Barthes die Photographie seiner Mutter, in dem er ihr Bild beschreibt: Da war ich nun, allein in der Wohnung, in der sie kurz zuvor gestorben war, und betrachtete unter der Lampe diese Photos meiner Mutter, eins ums andere, vergegenwärtigte mir Schritt für Schritt die Zeit mit ihr, auf der Suche nach der Wahrheit des Gesichts, daß ich geliebt hatte. Und ich Mediale Wirklichkeiten 53 entdeckte sie. [...] Ich betrachtete das kleine Mädchen und fand endlich meine Mutter wieder. Die Klarheit ihres Gesichtes, die naive Haltung der Hände, der Platz, den sie gehorsam eingenommen hatte, ohne sich zu zeigen und ohne sich zu verbergen, schließlich ihr Ausdruck, der sie vom hysterischen kleinen Mädchen, der gezierten Puppe, die die Erwachsene spielt, so klar unterschied, wie Gut und Böse sich unterscheiden [...].35 Der Betrachter wird bei diesem Prozess zum Erzähler. Diese Verschiebung wird besonders in der „Helle[n] Kammer“ deutlich, wenn Barthes seine Beschreibung des Bildes der Mutter mit dem Satz beendet: „Das war es, was ich in der PHOTO- GRAPHIE aus dem Wintergarten las.“36 Ausgangspunkt seiner Erzählung ist der auf Proust rekurrierende Begriff des ‚unwillkürlichen Erinnerns’: Dieses eine Mal gab mir die Photographie ein ebenso starkes Gefühl der Gewißheit wie die Erinnerung, so wie es Proust empfand, als er eines Tages, während er sich bückte, um die Schuhe auszuziehen, plötzlich in seinem Gedächtnis das wahre Gesicht seiner Großmutter entdeckte, »deren lebendige Realität sich zum erstenmal in einer unwillkürlichen und vollständigen Erinnerung wiederfand«.37 Bei der ‚unwillkürlichen Erinnerung’, die sich mit Benjamins Begriff der ‚Erfahr- barkeit’38 deckt, geht die Initiierung der Erfahrung vom Objekt aus. Der Betrachter ist nicht aktiv, sondern wird ‚angeschaut’. Das Bild spricht den Rezipienten an oder, in der Terminologie Barthes’, „verwundet“39 ihn. Im Moment des „Stich[s]“40 wird der zeitliche Bruch zwischen der Anwesenheit der Mutter, bzw. bei Genazino der Frau und des Kindes und ihrer Abwesenheit in der Gegenwart überwunden. Für den Augenblick überwindet das ‚wahre und vollkommene Bild’ den Tod: „In den ersten Augenblicken - und nur in ihnen - erfahren wir die Toten als kurzfristig Wiederauferstandene. Man kann auch sagen: Die überraschend wieder angeschauten Toten verwandeln sich im Geist des Betrachters zu Wiederverle- bendigten.“41 Die Texte, mit denen beide Erzähler das ‚eine’ Photo kommentieren, weisen gleichzeitig als rückwärts gerichtete Blicke in die Vergangenheit. Das Vergangene wird vergegenwärtigt, ins Bewusstsein geholt und erneut erlebt. Dem steht der, in jeder Porträtphotographie enthaltene, Tod gegenüber. Zum einen ist es der sich in die Ewigkeit ausdehnende Moment der Aufnahme, der bis auf den temporalen Index von jeder Bedeutung gereinigt ist. Zum anderen ist es der vom Augenblick der Aufnahme ausgehende Zeitpfeil in die Zukunft, der auf den unausweichlichen Tod des Referenten verweist. Doch Genazino bettet in seinen Text noch eine weitere Form der ‚Wiederbelebung’ ein: die Bedeutung des stets erneut auf das Photo gerichteten Blickes: „Erst die Einzelbetrachtung beendet das Schicksal der Vergessenheit und gibt den Bildern die Dignität von Dokumenten zurück“42. Für Genazino bringt der „gedehnte Blick“43 die Sprache mit der Photographie in Übereinstimmung, er überwindet die gleichzeitige An- und Abwesenheit der photographierten Person: „Nur die Immer-wieder-Anschauung des Fotos wird eines Tages das richtige Wort hervorbringen. Dann wird es so sein wie immer: Wort und Sache werden griffi g und schlackenlos zueinander passen, als wären sie schon immer beisammen gewesen.“44 54 Mediale Wirklichkeiten Barthes und Genazino variieren hier in ihren Ausführungen, zumal Barthes in seiner Bildlektüre auch den eigenen Tod impliziert und Genazino den Schwer- punkt mehr auf den Prozess des „Wiederverlebendigen[s]“45 legt, der für ihn im Betrachten stattfi ndet. Der Konsens ist jedoch die Erkenntnis, dass die Erfahrbar- keit der Transformation, der nicht artikulierbaren Authentizität der Photographie in Sprache innewohnt, denn das Photo „kann nicht sagen, was es zeigt.“46 1 Genazino, Wilhelm: Auf der Kippe. Ein Album. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000. 2 Toussaint, Jean-Philippe: L’appareil photo. Paris: Les Éditions de Minuit 1988. 3 Nádas, Péter: Schöne Geschichte der Fotografi e. Berlin: Berlin Verlag 2001. 4 Strubel, Antje R.: Offene Blende. München: DTV 2001. 5 Benjamin, Walter: „Kleine Geschichte der Photographie“. In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a.m.: Suhrkamp 1996. 6 Sontag, Susan: Über Fotographie. Frankfurt a.M.: Fischer 1996. 7 Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. 8 Vgl. Genazino: Auf der Kippe. Abbildungsnachweis, ohne S. 9 Ebd., S. 19-20. 10 Ebd., S. 12. 11 Ebd., Abbildungsnachweis, ohne S. 12 Barthes, Roland: Die helle Kammer, S. 103-104. 13 Kracauer, Siegfried: „Photographie“. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Frankfurt a.M.: Suhr- kamp 1977. 14 Ebd., S. 24. 15 Ebd., S. 31. 16 Genazino: Auf der Kippe, S. 52-53. 17 Ebd., S. 52. 18 Kracauer: Photographie, S. 35. 19 Genazino: Auf der Kippe, S. 19. 20 Ebd., S. 18. 21 Vgl. Kracauer: Photographie, S. 30. 22 Calvino, Italo: „Abenteuer eines Photographen“. In: Ders.: Abenteuer eines Reisenden. München: DTV 1999, S. 89 – 107, hier S. 99. 23 Genazino: Auf der Kippe, S. 15. 24 Vgl. ebd., S. 14. 25 Ebd. 26 Vgl. Barthes: Die helle Kammer, S. 57-60. 27 Ebd., S. 36. 28 Genazino: Auf der Kippe, S. 35. 29 Barthes: Die helle Kammer, S. 109. 30 Ebd., S. 83. 31 Ebd., S. 81. 32 Ebd., S. 126. 33 Ebd., S. 96. 34 Vgl. Genazino: Auf der Kippe, S. 34. 35 Barthes: Die helle Kammer, S. 78. 36 Ebd., S. 82. 37 Ebd., S. 80. 38 Vgl. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. V.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 280. 39 Barthes: Die helle Kammer, S. 36. 40 Ebd. 41 Genazino: Auf der Kippe, S. 34. 42 Ebd., Abbildungsnachweis, ohne S. 43 Wallmann, Hermann: „Abfallalbum“. In: Süddeutsche Zeitung , Nr. 11, 15./16.1.2000, S. 19. 44 Genazino: Auf der Kippe, S. 34. 45 Ebd. 46 Barthes: Die helle Kammer, S. 111. Mediale Wirklichkeiten 55 Andrea Nolte Wirklichkeit auf Abwegen? Zum Verhältnis von Authentizität und Inszenierung im aktuellen dokumen- tarischen Fernsehen am Beispiel des Formats Popstars Fernsehen erscheint nicht denkbar ohne dokumentarische Sendeformen.1 Nach wie vor gilt es gerade durch sie als Medium, das wie kein anderes Orientierungswissen über eine immer komplexer werdende Welt und sich stetig wandelnde Gesellschaft bietet.2 So selbstverständlich jedoch audiovisuell aufbereitete Realitätsfragmente seit den Anfängen des Fernsehens als wesentliche Teile des Gesamtprogramms fungierten, so problematisch war lange Zeit die wissenschaftliche Auseinander- setzung mit ihnen.3 Der Diskurs über dokumentarisches Fernsehen löste sich nur schwerfällig und emanzipierte sich nie ganz von dem der ursprünglich für das Kino konzipierten Dokumentarfi lme. Die Debatten kreisten über Jahrzehnte nahezu unverrückbar um die Frage nach der Einheit von vorfi lmischer Wirklich- keit und fi lmischer Abbildung.4 Heinz B. Heller skizziert das daraus resultierende Dilemma des Dokumentarischen: Die Konturen einer ontologisierenden Genrebestimmung sind verschwom- men. Dies gilt auch und insbesondere für das allgemeinste und vermeintlich verlässlichste Unterscheidungskriterium, demzufolge sich dokumentari- sches Filmen durch die Reproduktion einer vorgefundenen, real existie- renden Wirklichkeit von der Gestaltung und Präsentation einer erfun- denen, imaginären Wirklichkeit im Fiktionsfi lm abgrenze. Indes, allein die Erfahrung lehrt, wie wenig tragfähig eine solche Unterscheidung ist. Denn welche besonderen Qualitäten auch immer mit dem Attribut des Dokumentarischen verbunden werden [...] Filme geben von sich aus nicht preis, ob sie in diesem Sinne dokumentarisch sind oder nicht.5 Erst in den letzten Jahren gibt es in der Film- und Fernsehwissenschaft Ansätze, die der Prämisse folgen, dass „Dokumentarfi lme wie andere ästhetische Objekte auf ihre spezifi schen Diskursmerkmale und pragmatischen Wirkungsbedingungen hin untersucht werden sollten [...].“6 Nur so kann die „Frage der Modellierung des Realitätsbezugs im jeweiligen fi lmischen Diskurs“7 gestellt werden, denn [t]atsächlich [...] stellt sich der dokumentarische Wirklichkeitseindruck, der Authentie-Effekt des Gesehenen, weit weniger über das (zumeist ohnehin nicht nachprüfbare) Verhältnis von fi lmischem Abbild und vorfi lmischer Realität ein; vielmehr realisiert er sich in vielschichtigen kommunikativen Zusammenhängen zwischen Filmproduzenten und –rezipienten; pragma- tisch begründete Zusammenhänge, die sich strukturell dem Kommunikat, den dokumentarischen Bildern eingeschrieben haben.8 Problematisch ist dabei m. E., dass der Dokumentar-Film nach wie vor fokussiert und das Dokumentar-Fernsehen häufi g en passant mitbearbeitet wird, während die Unterschiede dieser beiden Medien vernachlässigt werden.9 Das scheint z.T. rein pragmatische Gründe zu haben: 56 Mediale Wirklichkeiten Fällt es schon schwer, eine konsequent stichhaltige Defi nition für den mediengeschichtlich vor und außerhalb des Fernsehens entstandenen ‚Dokumentarfi lm’ zu fi nden, so mehren sich die Probleme angesichts des Fernsehens: Nicht nur, dass das Fernsehen mit der Übernahme und Weiter- entwicklung einzelner Traditionen des Dokumentarfi lms dessen begriffl i- che Unschärfen bewahrt, - verkompliziert wird die Lage dadurch, dass das Fernsehen darüber hinaus ein breites Spektrum medienspezifi sch neuer dokumentarischer Filmformen ausgebildet hat.10 Diese Vielgestaltigkeit - vermeintlich - immer neuer nicht-fi ktionaler Formate im Fernsehen erfordert eine andere Fokussierung. Ausgehend vom Medium Fernse- hen, seinen Bedingtheiten und Möglichkeiten, gilt es anhand konkreter medialer Produkte herauszufi nden, welche Konventionen und Strategien manchmal offen, zumeist verdeckt als formale und inhaltliche Konstruktionselemente dokumen- tarischer Realitäten fungieren, worauf sie basieren, und was das in der Konse- quenz für das dokumentarische Fernsehen, seine Themen, Ästhetik und Wirkung bedeutet.11 Hattendorf befürchtet, dass der „Begriff des Dokumentarischen in Anbetracht der vielfältigen Entwicklungen der Fernsehsendeformen jegliche Trennschärfe zu verlieren droht, da er in zu viele, z.T. beliebige Unterbegriffe zerfällt.“12 Diese Sorge erscheint bezogen auf die im Bereich des dokumentarischen Fernsehens gegenwärtig kursierenden Begriffl ichkeiten nicht unberechtigt. Immer einfalls- reichere Etikettierungen für immer neue Varianten des Dokumentarischen treiben immer buntere Stilblüten. Komposita wie Reality-TV, Real-People-TV, Docu- Fiction, Docu-Drama oder Docu-Soap sind inzwischen Fernsehmachern, -wis- senschaftlern, -kritikern und -zuschauern gleichermaßen geläufi g. Stichhaltige Analysen der dokumentarischen Konzeptionen, die sich hinter diesen schicken, kurzerhand aus dem anglo-amerikanischen Sprachgebrauch übernommenen com- pound words13 verbergen, fehlen bislang. Insbesondere die Fernsehkritik fühlt sich durch das duale System und seine Entwicklungen ohnehin bis auf wenige Aus- nahmen ganz der Kategorie ‚Qualitätsfernsehen’14 verpfl ichtet. Kommentare zu den o.g. Formaten beschränken sich so oft auf pauschale Vorurteile: thematische Beliebigkeit, mangelnde dokumentarischer Qualität, Oberfl ächlichkeit.15 Trotz bestehender defi nitorischer Unsicherheiten und einiger inzwischen pro- duzierter Flops gilt speziell die aus dem englischen Fernsehen übernommene Form der Docu-Soap16 sowohl bei öffentlich-rechtlichen als auch bei privaten Sendern als eine wesentliche Möglichkeit, um dokumentarische Formate im Fernsehen wieder nach vorne zu bringen.17 Die Zuschauer sollen durch sie davon überzeugt werden, dass dokumentarisches Fernsehen etwas anderes ist als „das einzige Schlafmittel, das man durch die Augen einnehmen kann.“18 Der Begriff verweist in seiner Zweiteiligkeit auf das gestalterische Prinzip der Hybridität19, das Wolf bezogen auf die Docu-Soap wie folgt beschreibt: Doku-Soaps sind die bewußt gesuchte Verbindung von dokumentarischem Erzählen und serieller Dramaturgie, wie sie in der fi ktiven TV-Serie ent- wickelt wurde. Sie haben einen Grundbestand an Personal und konzent- Mediale Wirklichkeiten 57 rieren sich nicht, wie oft im klassischen Dokumentarfi lm, auf eine, sondern stets auf mehrere Personen. Deren Geschichten werden dann häufi g paral- lel montiert und erzählt - bis hin zu patchworkartigen Erzählweisen. Die einzelnen Handlungsstränge werden in dramaturgische Spannungsbögen gesetzt. Cliffhanger werden gesetzt, die die Spannung auf die nächste Folge hinlenken sollen.20 Diese an Ereignissen orientierte Dramaturgie, die dem Zuschauer mit einem eher erzählenden als dokumentierenden Gestus eine Reihe narrativer Höhepunkte bietet, bemüht sich um verschiedene Wirkungen: Die Docu-Soaps versprechen [...], unterhaltsamer zu sein als so manche spröde Dokumentation. Sie versprechen aber auch Authentizität: Echte Menschen mit echten Geschichten. In diesem Sinne profi tiert die Docu- Soap von einem allgemein gewachsenen Interesse am Dokumentarischen. Mir scheint, dieses Interesse hängt auf eine vertrackte Weise mit einer Welt zusammen, die sich dem Einzelnen sonst immer mehr entzieht. [...] einen Menschen, den der Wunsch nach Selbstversicherung umtreibt. Der sich vielleicht mehr als je zuvor vergleichen muß und etwas wissen will davon, wie andere leben und wie sie mit dem Leben fertig werden. Es muß aber so aussehen wie im Fernsehen.21 Wolf nennt die wesentlichen Merkmale des Formats, Narration und Authentizität, und verweist auf seine mögliche gesellschaftliche Funktion, Selbstversicherung im Alltäglichen. Allerdings ist das Interesse am Alltag keine neuartige Tendenz innerhalb des dokumentarischen Fernsehens22 und gleichzeitig haben inzwischen viele dokumentarische Produktionen bewiesen, dass der Alltag allein in den wenigsten Fällen ein ausreichende Basis für dokumentarisches Fernsehen darstellt. Für eine Docu-Soap bedarf es einer speziellen Präsentation des Alltags: Doku-Soaps feiern den Alltag als das Besondere: Menschen im Kaufhaus, am Flughafen, beim Tierarzt, im Urlaub - jeder kann dort Star sein. [...] Das größte Problem der Filmemacher ist im wirklichen Leben Geschichten zu fi nden, die einen Erzählbogen bieten.23 In der Docu-Soap erfährt der Alltag deshalb eine Aufwertung durch gezielt eingesetzte Narrationsstrukturen.24 Doch auch mit einer Geschichte allein ist es nicht getan, denn die Docu-Soaps versprechen den Zuschauern gleichzeitig Authentizität, die sich nach Heller ja aus einem speziellen Zusammenspiel von audiovisueller Produktion und Rezeption ergibt. Zum gleichen Schluss gelangt Hattendorf. Er sieht Authentizität als ein Ergebnis der fi lmischen Bearbeitung. Die >Glaubwürdigkeit< eines dar- gestellten Ereignisses ist damit abhängig von der Wirkung fi lmischer Stra- tegien im Augenblick der Rezeption. Die Authentizität liegt gleichermaßen in der formalen Gestaltung wie der Rezeption begründet.25 Wesentlich ist erscheint ihm dabei der Umgang mit der Kamera: Der Eindruck der Authentizität eines Filmes ist in entscheidendem Maße an die Kamerahandlung als spezifi sch fi lmischen Code gebunden. Durch 58 Mediale Wirklichkeiten die Wahl der gefi lmten Motive (Selektion) und deren optische Gestaltung (Kombination) codiert die Kamera fotografi sche Zeichen von Wirklichkeit fi lmisch und situiert sie in dem rhetorischen Gesamtkontext (Montage). In der Wahrnehmung eines Filmes wirken Selektion und Kombination immer simultan: Die vom Dokumentaristen ausgewählten Wirklichkeits- bereiche werden durch optische Gestaltungsmittel wie Bildkomposition, Kameraperspektive, Einstellungsgröße und Kamerabewegungen zu Tei- len eines Diskurses und tragen so zur Etablierung einer Perspektive als >Fluchtpunkt< des Filmes bei, in der sich dem Betrachter das implizit vorgestellte Norm- und Wertesystem vermittelt.26 Als weitere Authentizitäts-Faktoren gelten neben den fi lmischen Codes der Kamerahandlung und Montage die sprachliche Gestaltung, Ton und Musik sowie der im Film dokumentierte Beobachtungszeitraum.27 Eine durch Bild- und Ton- elemente als lang gekennzeichnete Beobachtung beglaubigt nicht nur das Gefi lmte; sie verleiht der Beobachtung Tiefe; ein im Hinblick auf die Authentizität des fi lmischen Ergebnisses entscheidendes Moment, das die Docu-Soaps in ihrer seriellen Struktur signalisieren. Es dient damit nicht nur zur Segmentierung der Erzählung, sondern auch der Intensivierung des authentischen Eindrucks. Authentizität schließt demnach auf verschiedenen Ebenen dokumentarischer Darstellung Inszenierung28 ein, funktioniert nicht ohne sie. Auf Basis dieser Erkenntnis streiten Theorie und Praxis bislang ergebnislos über ‚richtige’ Mischungsverhältnisse und einzuhaltende Grenzwerte.29 Popstars30 bietet ein besonders schillerndes Spannungsverhältnis zwischen Realität und Konstruktion, Authentizität und Inszenierung. Das Format wurde von der Kritik häufi g als Docu-Soap, wahlweise aber auch als Reality- bzw. Real- People-Soap bezeichnet. Einiges spricht für, anderes gegen diese Kategorisierun- gen. Ich orientiere meine Analyse zwar an den o.g. Merkmalen einer typischen Docu-Soap, gehe aber gleichzeitig davon aus, dass es sich bei Popstars ggf. um eine Weiterentwicklung, zumindest jedoch eine Variante dieses Sendetyps handelt. Thema des Formats ist ein in der Musikbranche überaus gängiges, aber selten offengelegtes Prinzip, das sogenannte ‚Bandbuilding’; im konkreten Fall der Aufbau der fünfköpfi gen Girlgroup No Angels. Die erste Hälfte der Folgen doku- mentiert diesen Prozess von den ersten Massencastings31 und weiterführenden Auswahlrunden über einen Tanz- und Gesangs-Workshop auf Mallorca bis zur Endausscheidung - aus der Sicht einzelner Teilnehmerinnen sowie der für die Aus- wahl zuständigen Jury.32 Die anschließenden Folgen zeigen die Entwicklung des Girlgroup-Images, d.h. die Namensgebung, das Styling, das erste Foto-Shooting, die Studioproduktion der ersten Single und den dazugehörigen Videodreh, Promo- Termine sowie den ersten großen Bühnen-Auftritt der Gruppe. Der Traum von einer Karriere im Show-Geschäft und seine Verwirklichung, der lange, steinige Weg eines No-Names zum Star-Ruhm ist den Zuschauern aus diversen medialen Vermittlungen fi ktionaler und nicht-fi ktionaler Art bestens vertraut. Die Basis-Handlung von Popstars z.B. gehört einerseits seit langem zum Grundrepertoire fi lmischen Erzählens und ist in ihrer Struktur entsprechend Mediale Wirklichkeiten 59 stark konventionalisiert. Insbesondere einige Hollywood-Musikfi lme der 80er Jahre wie Fame33 (1980), Flashdance (1983) oder A Chorus Line34 (1983) liefern bleibende Eindrücke von talentierten Tagträumern, die dennoch ihr Ziel klar vor Augen haben, von entbehrungsreichen Lebensphasen und existenziellen Krisen, von Knochenjobs, harten Trainings und gnadenlosen Auditions. Am Ende stehen immer die guten, tapferen Gestalten, die hart gearbeitet, ihr Bestes gegeben haben und doch Mensch geblieben sind. Genau zum Abspann haben sie es geschafft, stehen an der Schwelle zu einem neuen Leben, leben ihren Traum. Und ist es den Zuschauenden - aus welchen Gründen auch immer - gerade nicht möglich, ihr Glück ebenso zu versuchen, so haben sie hier die Möglichkeit, für ein Weilchen ein anderes Leben zu träumen, und das Gefühl, einen authentischen Blick hinter die Kulissen geworfen zu haben. Sie verlassen das Theater, den Kinosaal oder den Fernsehsessel auf jeden Fall mit einem trügerischen Wissen darüber, wie es hinter den Kulissen des Show-Business zugeht.35 Im dokumentarischen Fernse- hen gibt es andererseits eine lange Tradition von Features und Reportagen, die den Zuschauern - zumeist mit kritisch-aufklärerischem Impetus - vergleichbare Einblicke in die geheime Welt der Miss-Wahlen, Model-Contests u.ä. Casting- Wettbewerbe gewähren. Als einer der ersten dokumentierte 1966 der Filmemacher Roman Brodman in einem Feature der SDR-Dokumentarreihe Zeichen der Zeit die Hintergründe einer Miss-Wahl. Seitdem gehört dieser Bereich zum festen Themen-Repertoire des Fernsehens; in den 90er Jahren wurde die Berichterstat- tung über dieses Thema - bedingt durch Körperkult und Jugendlichkeitswahn - geradezu unkritisch-infl ationär.36 Auf genau diesen konventionalisierten Casting-Geschichten und dem mit ihrer Offenlegung verbundenen Authentie-Effekt baut Popstars auf und formuliert den vermeintlich paradoxen Aspekt der realistischen Tagträumerei aus der Sicht der Zuschauenden bereits im Untertitel des Formats – als Appell an die Protagoni- stinnen: „Popstars - Du bist mein Traum!“37 Wolf stellt in diesem Zusammenhang richtig fest: Das Wichtigste an der Doku-Soap [...] sind die Personen. Sie müssen stark und interessant genug sein, halbstündige Episoden oder einen ganzen Vier- teiler zu tragen. Die Protagonisten stehen unbedingt im Vordergrund, bis hin zur Identifi kation mit den Zuschauern.38 Vanessa z.B., die später tatsächlich ein Mitglied der Girlgroup wird, sagt in einem ihrer ersten Interviews auf die Frage, warum gerade sie für dieses Projekt geeignet sei: „Ich bin ein ganz normales Mädchen, ich bin gar nicht Besonderes.“ Genau dadurch betont sie ihre ‚Identifi kation mit den Zuschauern’, ein wesentlicher Faktor gerade für dieses Format. Wolf bemerkt über das Aufspüren geeigneter Protagonisten von Docu-Soaps: Sie sind keine Schauspieler, aber sie agieren nicht selten wie Schauspieler - zumal ihnen ja eine Erzählstruktur übergestülpt wird. [...] Sie zu fi nden und auszuwählen wird mit dem gleichen Begriff bezeichnet wie in der Spiel- fi lm-Branche die Suche nach den Stars und den Sternchen: „casten“.39 60 Mediale Wirklichkeiten Das Popstars-Casting unterscheidet jedoch gleichzeitig das Format von einer typischen Docu-Soap. Diese vermitteln häufi g den Eindruck, die dokumentierte Realität und die gezeigten Personen seien quasi ‚vorgefunden’, dabei werden gerade hier häufi g aufwendige Castings durchgeführt, die jedoch - obwohl Pro- log zur eigentlichen Geschichte - nicht Teil des fertigen Fernsehprodukts sind. Sie werden ausgeklammert, um den Realitätseindruck alter Prägung nicht zu schmälern. Popstars hingegen zeigt offensiv, dass die im weiteren Verlauf des Formats dokumentierte Handlung, die an die fünf gecasteten Frauen gekoppelt ist, nicht im dokumentarischen Sinne ‚vorgefunden’ wurde, sondern Ergebnis eines Auswahlverfahrens und in diesem Sinne konstruiert ist. Hier dient das Casting quasi als Initial der sich im weiteren entwickelnden Handlungen, die Auswahl- Runden und die sich hier ergebenden Geschichten bilden das Kernthema der ersten Staffelhälfte. Dass das Casting dokumentiert und als Teil der Gesamtinszenierung in das Format integriert wird erhöht den Authentizitätseindruck, die ‚Ehrlichkeit’ des Konzepts. Darüber hinaus geht es bei Popstars nicht nur darum, geeignete Protagonistinnen für ein Fernsehformat zu fi nden, sondern auch die Mitglieder einer zukünftig erfolgreichen Popgruppe, d.h. die dafür notwendigen Talente in den Bereichen Tanz und Gesang müssen zumindest im Ansatz vorhanden sein. Dieser Aspekt rückt das Casting weit mehr in die Nähe der Talentsuche als dies bei einer durchschnittlichen Docu-Soap der Fall ist.40 Popstars führt die Geschichte des langen Wegs zum Ruhm nach dem Abschluss des Castings fort und gibt sich dadurch noch authentischer, noch näher dran an der Realität des Pop-Business. Die Botschaft lautet: nicht nur das Popstar- Werden, sondern auch das Popstar-Sein ist alles andere als „Lari-Fari“41, und verdient die Aufmerksamkeit der Kamera sowie der Zuschauer. Eine weitere wesentliche Authentizitätsstrategie, die Popstars von anderen Real-People- und Docu-Formaten unterscheidet, ist daher die der Professionalisierung. Während in einigen Formaten die Teilnehmer aus ihren jeweiligen professionellen und privaten Kontexten herausgelöst oder in Umgebungen und Situationen beobachtet werden, die mit ihrer Profession nichts zu tun haben, funktioniert Popstars gegenläufi g. Die Castings, die daran anschließenden Auswahlrunden, die Ausgestaltung einer neuen Lebenssituation und das ‚Sich-Bewähren’ der Beteiligten in dieser neuen Situation machen die Profession ‚Popstar’ zu einem Kernaspekt der Darstellung. Zum Begriff der Professionalität stellt Michaela Pfadenhauer folgendes fest: Professionalität ist [...] keine unmittelbar sichtbare Qualität (eines Akteurs) bzw. ein historischer Zustand (z.B. bestimmter Berufsgruppen), der mittels ‚objektiver’ Indikatoren beschrieben werden könnte, sondern ein über ‚Dar- stellungen’ rekonstruierbarer Anspruch (des einzelnen und /oder der Grup- pierung). Inszenierungstheoretisch betrachtet erscheint Professionalität folglich als ein spezifi sches Darstellungsproblem. Es geht demnach wesent- lich um die Frage, wie, auf welche Art und Weise, mit welchen ‚Techniken’, es einem (individuellen oder kollektiven) Akteur, der Professionalität bean- sprucht, gelingt, andere dazu zu bewegen, ihm diese zu attestieren, d.h. wie es ihm gelingt, bei anderen glaubhaft den Eindruck von Professionalität zu erwecken [...].42 Mediale Wirklichkeiten 61 Im Popstars-Format stellen die Teilnehmerinnen ihre Talente, aus denen eine Profession erwachsen soll, in mehreren konkreten Handlungssituationen unter Beweis, die Momente der Konkurrenz und der Auswahl erzeugen den notwendi- gen Spannungsbogen, der die narrative Struktur der Serie nachhaltig prägt. Ob während der Casting- und Auswahl-Runden oder beim ersten Promo-Auftritt der fertigen Gruppe: es gilt, nicht nur die in der jeweiligen Situation tatsächlich anwesenden Personen von der wachsenden Professionalität der zukünftigen Pop- stars zu überzeugen, sondern auch die vor Ort durch die Kamera repräsentierten Fernsehzuschauer und möglichen Fans.43 Damit das schon in den frühen Stadien der Professionalisierung gelingt, wird das dokumentierte Geschehen zusätzlich extensiv kommentiert. Besonders eindrucksvoll ist die Kommentarebene während der Folgen gestaltet, die den Workshop auf Mallorca dokumentieren. Formulierun- gen wie „die Mädchen müssen hart arbeiten“, „ihr Bestes geben“, „einhundertpro- zentige Leistung zeigen“ kommentieren Aufnahmen des morgendlichen TaeBo- Workouts - denn Stars müssen fi t sein - und des nach dem Frühstück stattfi nden- den Tanztrainings. Dieses hat besondere Priorität, da eine ausgefeilte Choreo- graphie zusammen mit dem passenden Styling als wesentliches Kennzeichen von Boy- bzw. Girlgroup-Performances gilt. Beides - Fitness und Tanz - signa- lisiert Professionalität auf körperlicher Ebene. Wesentlich hierbei ist nicht nur das individuelle perfekte Beherrschen der Schrittfolgen und die Fähigkeit, das Ganze leicht aussehen zu lassen, sondern insbesondere die Gleichförmigkeit, die Uniformität des Äußeren und der Bewegungsabläufe innerhalb der Gruppe. Mit Girltruppen und menschlichen Massenornamenten beschäftigte sich bereits Siegfried Kracauer in „Das Ornament der Masse“.44 Hartmut Winkler greift diese Ausführungen auf: Den körperlichen Drill, die Koordinierung der Bewegungen und die Mechanizität, die Voraussetzung wie Ergebnis dieser Koordinierung ist, fanden die Girltruppen in der Tradition der Militärs und der sol- datischen Körperbildung vorentworfen; anders als im Fall des Militärs aber war es bei der Girltruppe kein äußerer Zweck, der die rabiaten Ein- griffe motivierte, sondern allein die spezifi sche Ästhetik und die - sicher erklärungsbedürftige - Lust, die diese Ästhetik den Zuschauern bot. Zudem waren es nun nicht mehr Männerkörper, die dem Drill ausgeliefert wurden, sondern Frauen, und damit dasjenige Geschlecht, das die gesellschaftli- che Phantasie, dem Mechanischen entgegengesetzt, wiederum gerade mit ‚Leben’ und Natur assoziiert.45 Dieser Bezug drängt sich bei POPSTARS förmlich auf; das zeigt insbesondere eine Szene, in der sich eine Teilnehmerin gleich zu Beginn des Workshops nach Ansicht des Tanztrainers und Choreographen Detlef „Dee“ Soost unprofessionell verhält und in einer dramatisch-emotionalen Szene aus dem Projekt geworfen wird. Wolf stellt passenderweise fest, „dass die Docu-Soap, anders als der analy- tische oder distanziert beobachtende Dokumentarfi lm, auf Emotionen“46 setzt. Dies gilt insbesondere für Popstars. Neben dem körperlichen Funktionieren, das der Authentifi zierung der Professionalität dient, dokumentiert das Format große Gefühle, die überdies klischeehafte Vorstellungen von Weiblichkeit zu 62 Mediale Wirklichkeiten bedienen. Besonders emotionsgeladen ist der Gesangsunterricht. Die von den Teilnehmerinnen vorgetragenen Lieder sind zumeist der Kategorie ‚Popballade’ zuzuordnen und dienen der medialen Vermittlung von Lebendigkeit und Echtheit auf einer Ebene, die viel stärker als die dokumentierten Tanzszenen mit dem Gefühl korreliert.47 Nachdem die Entscheidung gefallen ist, welche der Bewerberinnen zur neuen Girlgroup gehören, nehmen die fünf ausgewählten jungen Frauen ihre Tätigkeit als Popstars unter dem Gruppen-Namen No Angels auf. Sie haben ihren Job gekündigt, die Schule geschmissen, ihre Ausbildung abgebrochen. Ihr Terminka- lender ist randvoll mit Interview- und Fototerminen, Trainings und Studioaufnah- men, die Gruppe verbringt viel Zeit im Flugzeug und auf der Autobahn, schläft zu wenig und weiß noch nicht, ob der Stress tatsächlich von Erfolg gekrönt sein wird. Denn als erfolgreich kann das Projekt Popstars nur angesehen werden, wenn sich nicht nur die Einschaltquoten der Sendung, sondern auch die Verkaufszahlen der CDs und der Merchandising-Produkte positiv entwickeln. Noch einmal ist ein Bezug zur Professionssoziologie möglich. Pfadenhauer stellt fest, dass professio- nelle Praxen sich unter Rahmenbedingungen vollziehen, die von Zeitnot und Entscheidungsdruck geprägt sind, und [...] deshalb immer das Risiko von Misserfolg [bergen]. Denn die Situationen, in denen Professionelle handeln müssen, sind von Ungewißheit hinsichtlich der zu wählenden Lösungsstrategie geprägt, was auf der Seite der Professionellen subjektive Komponenten wie Intuition, Urteilsfähigkeit, Risikofreudig- keit und Verantwortungsübernahme, auf der Seite der Klienten Vertrauen erfordert.48 Die Frage für die No Angels lautete zu diesen Zeitpunkt also, ob dieses ‚Vertrauen der Klienten’ auch über die Serie hinaus Bestand haben würde, ob sie auch ohne den wöchentlichen Bonus einer eigenen Fernsehsendung weiterhin das ihnen entgegengebrachte Vertrauen - ‚Du bist mein Traum!’ - rechtfertigen könnten. Die Frage konnte im weiteren Verlauf deutlich mit ‚ja’ beantwortet werden.49 Die Sendung - und mit ihr die Gruppe - wurde zu Beginn immer wieder mit dem Vorwurf des Artifi ziellen konfrontiert. Als Ergebnis einer bewusst herbeigeführten Realität mussten die No Angels in ihren ersten an die Serie anschließenden Auftritten nicht nur sich selbst sondern auch das Format authen- tifi zieren: „In konkreten Handlungssituationen ist der Professionelle jedoch mit Erwartungen konfrontiert, denen er offenbar in irgendeiner Form nicht nur ‚dra- maturgisch’, sondern auch ‚substantiell’ gerecht werden muß [...].“50 Das wie- derholte Erbringen dieses Belegs innerhalb des eigenen Fernsehformats reichte offenbar nicht aus, um die Authentizität der Performance dauerhaft zu belegen. Bei Fernsehauftritten gaben die No Angels nach dem professionell arrangierten Playback-Performances51 daher häufi g noch eine live und acapella vorgetragene Zugabe, um die Professionalität ihres Gesangs nicht nur ‚dramaturgisch’ sondern auch ‚substantiell’ unter Beweis zu stellen. Die Ausstrahlung der ersten Popstars-Staffel liegt inzwischen mehr als zwei Jahre zurück. Die damals auf dem Bildschirm präsentierte, konstruierte Realität Mediale Wirklichkeiten 63 hat nicht nur ihre Bezüge zu einer vorfi lmischen Realität bewahrt, sondern eine eigene nachfi lmische Realität erzeugt, die wiederum zu einer vorfi lmischen wird, da sie Material für weiterführende mediale Verwertungen bietet. Aber ist diese Realität als Ausgangsstoff immer noch ebenso authentisch wie die in der Serie gezeigte? Die No Angels haben bereits ihren zweiten Longplayer auf den Markt gebracht; ihr Eigenanteil daran soll nach eigenen Aussagen diesmal deutlich höher sein als bei der ersten CD. Den Zuschauern der Serie, die inzwischen Fans der Gruppe und ihrer Musik sind, könnte der Wahrheitsgehalt dieser Bemerkung herzlich egal sein. Aber auch dieser Hinweis erscheint als eine Authentifi zierungs- strategie, die dem Pop-Artefakt Lebendigkeit und Glaubwürdigkeit geben soll. Die Beteuerung der ‚Echtheit’ des musikalischen Produkts führt somit zur nächsten Stufe der Selbst-Inszenierung der No Angels als ‚echter’ Band.52 Die Vielschichtigkeit der authentisch inszenierten Dramaturgie in Popstars, die hier lediglich anhand einiger Beispiele veranschaulicht werden konnte, belegt, dass Authentizität und Inszenierung sich im Rahmen eines konkreten dokumen- tarischen Formats weder ausschließen noch abstoßen sondern vielmehr wechsel- seitig bedingen. Dass Formate wie dieses die Antwort auf die Frage nach der Zukunft des dokumentarischen Fernsehens sind, ist ebenso fragwürdig wie das Vorurteil, hier befände sich die Wirklichkeit auf Abwegen. Vielmehr müssen die „Veränderungen der Fernsehästhetik im Zeichen der Ökonomisierung des dualen Rundfunksystems“53 ernstgenommen und die daraus resultierenden medialen Produkte zu Gegenständen kritischer Refl exion werden. 1 Den Begriff des Dokumentarischen belasse ich an dieser Stelle zunächst unbestimmt, um „der Aporie der Defi nitionslast zu entgehen“. (Hattendorf, Manfred: Dokumentarfi lm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung. Konstanz: UVK 1994, S. 43) Synonym verwende ich an einigen Stellen den Begriff des Nicht-Fiktionalen. 2 Vgl. dazu Hickethier, Knut: „Trashfernsehen und gesellschaftliche Modernisierung“. In: Berger- mann, Ulrike und Hartmut Winkler (Hg.): TV-Trash. The TV-Show I Love to Hate. Marburg: Schüren 2000, S. 23-37 sowie Bleicher, Joan Kristin: Fernsehen als Mythos. Poetik eines narrativen Erkennt- nissystems. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999, S. 15ff. Nach Bleicher übernehmen neben dem Fernsehdokumentarismus - sie bezeichnet damit „verschiedene Genres der Informations- berichterstattung [...], die in sehr unterschiedlicher Form Ausschnitte aus der Wirklichkeit vermitteln“ (ebd., S. 169) - Nachrichten und Magazine die „Funktion der Weltvermittlung“ (ebd.). Einerseits kann kaum von der Wirklichkeit die Rede sein, andererseits greift diese Eingrenzung darüber hinaus zu kurz, da auch fi ktionale Medienprodukte vielfältige Realitätsbezüge aufweisen und somit zumindest impliziten Anteil an der ‚Weltvermittlung’ haben. S. dazu auch Hattendorf: Dokumentarfi lm und Authentizität, S. 52f. 3 Hattendorf bemerkt, dass die wesentlichen Diskussionen „fast ausschließlich in einem kleinen Kreis von Filmschaffenden und Filmkritikern“ geführt wurden (Hattendorf, Manfred: „Vorwort“. In: ders. (Hg.): Perspektiven des Dokumentarfi lms. München: Diskurs-Film-Verlag Schaudig & Ledig 1995, S. 7-10, hier S. 7), fundierte theoretische Studien zumeist eng verbunden waren mit konkreten ‚Schulen’, ‚Wellen’ oder ‚Richtungen’ und im Rahmen der (Spiel)fi lmwissenschaft randständig blieben. Vgl. dazu auch Schillemans, Sandra: „Die Vernachlässigung des Dokumentarfi lms in der neueren Filmtheorie“. In: Hattendorf: Perspektiven des Dokumentarfi lms, S. 11-28, hier S. 14 sowie Hattendorf: Dokumentarfi lm und Authentizität, S. 13f.: „Eine lang anhaltende Vernachlässigung des Dokumentarfi lm in der wissenschaftlichen Diskussion, in der Historiographie aber noch stärker in der Theoriebildung war die Folge.“ (ebd., S. 14) Hattendorf stellt allerdings nicht in Abrede, dass es bereits in der ersten Jahrhunderthälfte „Phasen einer regen publizistischen Tätigkeit im Bereich des Dokumentarfi lms“ (ebd., S. 28) gab, spricht diesen Schriften aber bestenfalls einen zumeist programmatischen, an der jeweiligen dokumentarischen Praxis orientierten Ansatz zu (Vgl. ebd., S. 28f.). Sandra Schillemans führt dies auf eine damals fehlende „Unterscheidung zwischen Filmtheorie 64 Mediale Wirklichkeiten und Filmkritik“ (Schillemans, Sandra: „Die Vernachlässigung des Dokumentarfi lms“, S. 11) zurück. M.E. hat sich daran bis heute verhältnismäßig wenig geändert, auch wenn es sich in den letzten zehn Jahren Institutionen gegründet und Forschungszusammenhänge gebildet haben, die neue Perspektiven auf den Gegenstand eröffnen (S. dazu Hattendorf: „Vorwort“, S. 7f.). 4 Besonders intensiv geschah dies noch einmal Anfang der 80er Jahre in der sogenannten ‚Kreimeier- Wildenhahn-Debatte’. Für eine kurze Zusammenfassung der wesentlichen, z.T. normativen Positionen dieser Diskussion s. Hattendorf: Dokumentarfi lm und Authentizität, S. 15ff. Mitte der 90er Jahre änderte sich der Diskurs im Hinblick auf die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung. S. dazu insbesondere Hoffmann, Kay (Hg.): Trau-Schau-Wem. Digitalisierung und dokumentarische Form. Konstanz: UVK 1997 sowie auch Hattendorf: Dokumentarfi lm und Authentizität, S. 23f., der in diesem Zusammenhang auf die postmodernen Theorien Jean Baudrillards zur Simulation und die Arbeiten Florian Rötzers zu digitalen Medien verweist. 5 Heller, Heinz B.: „Dokumentarfi lm als Fernsehen - Fernsehdokumentarismus“. In: Kreuzer, Helmut (Hg.): Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland. Band 3: Informations- und Dokumentarsendungen. Hg. von Peter Ludes et al. München: Fink 1994, S. 91-100, hier S. 91. Die grundlegende Frage, ob es sich „bei genauerer Betrachtung überhaupt um ein Genre“ (Hattendorf: Dokumentarfi lm und Authentizität, S. 14) handelt, wurde häufi g vernachlässigt. Zu dieser Problematik und zum Begriff des Genres s. ebd., S. 41f. 6 Ebd., S. 17f. 7 Ebd. 8 Heller: „Dokumentarfi lm als Fernsehen“, S. 92. Demnach gewinnen „jene medienästhetischen Stra- tegien Bedeutung, die sich als Anweisungen für eine dokumentarisierende Lektüre dem fi lmischen Kommunikat eingeschrieben haben und die man - in partieller Übernahme literaturwissenschaftlicher Begriffl ichkeit - als fi lmische Appellstrukturen bezeichnen kann.“ (ebd., S. 97) Eine eingehende Vorstellung der erwähnten Ansätze und ihrer fi lmtheoretischen Implikationen ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich. S. weiterführend u.a. Nichols, Bill: Representing Reality. Bloomington, Indianapolis; Indiana University Press 1991; Odin, Roger: „Dokumentarischer Film - dokumentari- sierende Lektüre“. In: Sprung im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Wien: Sonderzahl 1990, S. 125-175; Kanzog, Klaus: Einführung in die Filmphilologie, München: Schaudig, Bauer, Ledig 1991; Hohenberger, Eva: Die Wirklichkeit des Films. Dokumentarfi lm - Ethnographischer Film - Jean Rouch. Hildesheim u.a.: Georg Olms Verlag 1988. 9 Auch wenn einzelne historische Phasen dokumentarischen Fernsehens inzwischen aufgearbeitet sind – ein eigenständiger, fundierter Rückblick auf die komplexe Geschichte des deutschen Fernseh- dokumentarismus fehlt bislang, obwohl er die für eine Theoriebildung notwendige Voraussetzung wäre. 10 Heller: „Dokumentarfi lm als Fernsehen“, S. 91. Heller formuliert in diesem Zusammenhang die theoretisch gegebenen Möglichkeiten des Dokumentarischen im Medium Fernsehen mit. Gleichzeitig muss jedoch gesagt werden, dass sich die Macher von Dokumentarsendungen auch Zwängen des Mediums Fernsehen anpassen mussten, um ihre Produktionen platzieren zu können (Sendelänge, Themen, stärkere Konventionalisierung der Darstellung). Die Ausbildung dieses ‚breiten Spektrums’ ergab sich also nicht in allen Fällen immer freiwillig und ohne Opfer. (S. dazu auch Hattendorf: Dokumentarfi lm und Authentizität, S. 22f.) 11 Was nicht bedeutet, dass der fi lmische Diskurs, insbesondere der über Dokumentarfi lme, dabei ausgeklammert werden soll. Er ist in mancherlei Hinsicht unverzichtbar, aber nicht länger Ausgangs- punkt der Analyse. 12 Hattendorf: Dokumentarfi lm und Authentizität, S. 13. 13 Fritz Wolf bezeichnet sie als „Germish-Begriffe“. (Wolf, Fritz: „Plot, Plot und wieder Plot. ‚Doku- Soap’: Mode oder Zukunft des Dokumentarfi lms?“. In epd medien, Nr. 22, 24. 3. 1999, zit. n. http:// www.epd.de/medien/1999/22leiter.htm; 17.3.2002). Zur Übersetzungsproblematik der aus England übernommenen Format-Bezeichnungen s. ebd. 14 Dabei dürfte allen Beteiligten klar sein, dass die Bestimmung dieses Begriffs ein nicht minder schwieriges Unterfangen darstellt. S. dazu und insbesondere zu den Polen Information und Unter- haltung bzw. Ernst und Spaß im Fernsehen: Hall, Peter Christain: Fernsehen für die Spaßgesellschaft. Wettbewerbsziel Aufmerksamkeit. 34. Mainzer Tage der Fernsehkritik. Mainz: ZDF 2002. 15 S. Wolf: „Plot, Plot und wieder Plot“. 16 Wolf moniert die Bezeichnung: „Möglicherweise ist der Begriff, der als Etikett auf dokumentari- sche oder pseudodokumentarische Mehrteiler geklebt wird, ein Hindernis, wenn man sich darüber Gedanken machen will, ob hier wirklich ein neues Genre entsteht. Zu verschieden sind die Produkte, in ihrer Absicht ebenso wie in der Ästhetik, in den Produktionsbedingungen ebenso wie in der Rea- lisierung.“ (ebd.) Er macht insbesondere dem Kultursender ARTE den Vorwurf, allzu unrefl ektiert mit diesem neuen Format umzugehen: „Ein Nebeneffekt des Booms an Doku-Soaps jedenfalls ist, Mediale Wirklichkeiten 65 dass die alten illusionistischen Versprechungen wieder aufgewärmt werden, als gäbe es keine mehr als hundertjährige Geschichte des Films und keine bald halbhundertjährige des Fernsehens. Es ist wieder mal alles authentisch und wahr wie das Leben selbst. ‚Das Leben - eine Serie’ textet selbst ARTE, wo man es nun wirklich besser wissen müsste.“ (ebd.) Zum Format s. außerdem Izod, John und Richard Kilborn mit Matthew Hibberd (Hg.): From Grierson to the Docu-Soap. Breaking the Baundaries. Luton: University of Luton Press 2000. 17 Gemeint sind hier sowohl die Einschaltquoten der Formate als auch ihre Platzierung im Programm der jeweiligen Sender. Das hierbei manchmal ganz spezielle Anforderungen an die Programmplanung eine Rolle spielen, zeigt wiederum ARTE. Docu-Soaps werden dort um 20.15 Uhr im Programm angesiedelt, um die unterschiedliche Anfangszeit der deutschen und der französischen Prime Time zu überbrücken. S. dazu auch Wolf, Fritz: „Die Docu-Soap. Renaissance oder Ende des Dokumen- tarfi lms im Fernsehen“. In: Ballhaus, Edmund (Hg.): Kulturwissenschaft, Film und Öffentlichkeit. Münster: Waxmann 2001, S. 290-295, hier S. 291. 18 Krieg, Peter: „Der Dokumentarfi lm: ein Schlafmittel“. In: Weiterbildung und Medien, H.5, 1986, S. 35. 19 Der aus dem Lateinischen abgeleitete Begriff des Hybriden fi ndet seine ursprüngliche Verwendung in der Biologie, wo er „einen Bastard, ein aus Kreuzungen hervorgegangenes Produkt von Vorfahren mit unterschiedlichen erblichen Merkmalen“ bezeichnet (Julika Griem: “Hybridität“. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart, Weimar 1998, S. 220-221, hier S. 220f.) Er gilt inzwischen als kulturtheoretischer Schlüsselbegriff (vgl. ebd.). Als „hybride Genres“ gelten in der Literaturtheorie „Textsorten, die Merkmale unterschiedlicher Gattungen in sich vereinen [...] insbesondere wenn eine über die realistische Darstellung hinausgehende Mischung von Fakt und Fiktion vorliegt. Dies ist z.B. der Fall, wenn authentisches Material mit Mitteln fi ktionalen Erzählens strukturiert wird [...].“ (Jutta Ernst: „Hybride Genres“, Ebd., S. 220) Eine Übertragung dieses Begriff- skonzepts auf das dokumentarische Fernsehen nehmen u.a. Richard Kilborn und John Izod vor: „As a result of television’s need to generate large and loyal audiences, we have witnessed a marked tendency in recent years to introduce a range of mixed-genre formats. This has involved combining elements of one genre with those of another in order to make what the broadcasters hope is an attractive new hybrid.“ (Kilborn, Richard und John Izod, John: An Introduction to Television Documentary. Confronting Reality. Manchester 1997, S. IX) Ihr intendiertes Ziel ist die endgültige Aufhebung der Dichotomie fi ktional - nicht-fi ktional. 20 Wolf: „Plot, Plot und wieder Plot“: „Das neue Genre der Doku-Soap ist eine ambivalente Grat- wanderung für Autoren und Protagonisten, ein Balancieren zwischen Authentischem und Erzähltem, zwischen Beobachten und Inszenieren, zwischen Finden und Erfi nden.“ (ebd.) In einem anderen Zusammenhang schreibt er: „Die Docu-Soap ist das Pendant zum Reality-TV. Während im einen Fall fi ktive Bilder ein reales Geschehen nachstellen, werden im anderen dokumentarische Bilder wie eine fi ktive Geschichte arrangiert.“ (Wolf: „Die Docu-Soap“, S. 294.) 21 Ebd. „Dazu kommen soziale Bedingungen. Viele Menschen haben nichts mehr dagegen, gefi lmt zu werden, mehr noch, sie wollen auch unbedingt im Fernsehen vorkommen. Die Talkshows haben ein Terrain freigeschlagen, in dem gewohnheitsmäßig Privates und Intimes öffentlich verhandelt wird und niemand mehr etwas dabei fi ndet, sich zu veröffentlichen.“ (Wolf: „Plot, Plot und wieder Plot“) S, auch Wellershoff, Marianne: „Jeder kann ein Star sein“. In: Der Spiegel, S. 100-102. Zur Selbstinszenierung in Daily Talks vgl. Hickethier: „Trash und gesellschaftliche Modernisierung“, S. 31ff. S. auch Willems, Herbert und Martin Jurga (Hg.): Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998. 22 Es gab im deutschen Fernsehen immer wieder dokumentarische Reihen und Formate, die sich dem Phänomen Alltag auf unterschiedliche Art und Weise gewidmet haben, wie z.B. Zeichen der Zeit (50er und 60er Jahre, Süddeutscher Rundfunk), Notizen vom Nachbarn (60er und 70er Jahre, Süddeutscher Rundfunk) oder Unter deutschen Dächern (70er bis 90er Jahre, Radio Bremen). S. dazu u.a. Hoffmann, Kay: Zeichen der Zeit. Zur Geschichte der Stuttgarter Schule. München: TR-Verlagsunion 1996; Steinmetz, Rüdiger (Hg.): Dokumentarfi lm als ‚Zeichen der Zeit’: Vom Ansehen der Wirklichkeit im Fernsehen. München: Ölschläger 1989; Peulings, Birgit und Ulrich Weih: Einblicke, aber keine Einsichten. Bemerkungen zur Sendereihe Unter deutschen Dächern von Radio Bremen“. In: Heller, Heinz B. (Hg.): Reihen und Aspekte des Dokumentarfi lms im Fernsehen der Gegenwart. Arbeitshefte Bildschirmmedien, Nr. 45, Siegen 1994. S. 7-22. 23 Wellershoff: „Jeder kann ein Star sein“, S. 101. 24 Dieser narrative, dramatisierende Umgang mit dokumentiertem Material ist auch keine Neuheit, wenn man sich z.B. die Filme Robert Flahertys aus den 1920er Jahren ansieht (Nanook of the North, Moana, Men of Aran). Zum Thema Narration und Dokumentarfi lm s. insbesondere Kiener, Wilma. Die Kunst des Erzählens. Narrativität in dokumentarischen und ethnographischen Filmen. Konstanz: UVK 1999. 66 Mediale Wirklichkeiten 25 Hattendorf, Dokumentarfi lm und Authentizität, S. 67. „Die glaubwürdige, überzeugende Vermitt- lung der gewählten Anordnung, von der Wahl des Beobachterstandpunktes bis zur Endmontage, stellt das zentrale Kriterium für den Eindruck von Authentizität beim Zuschauer dar.“ (ebd., S. 69) Aus diesem „Verständnis dokumentarfi lmischer Authentizität als eines Beglaubigungsverfahrens in Hinblick auf eine diskursiv behauptete Realität, das sich je unterschiedlicher Strategien der Überzeugung (Authentisierung) bedient, folgt zwangsläufi g, dass der Code des Authentischen kein unitäres System wie etwa die Morseschrift darstellen kann, sondern sich nur relativ als dynamische, veränderliche Größe beschreiben lässt.“ (ebd., S. 83) 26 Ebd., S. 86f. 27 S. dazu auch Hattendorfs ausführliche Einzelanalysen dokumentarischer Film- und Fernsehpro- duktionen, ebd., S. 86-213. Zum Stichwort ‚Beobachtungszeitraum’ vgl. ebd., S. 70. 28 D.h. ein „spezifi scher Modus der Zeichenverwendung in der Produktion“. (Fischer-Lichte, Erika: „Theatralität und Inszenierung“. In: Dies. und Isabel Pfl ug (Hg.): Inszenierung von Authentizität. Tübingen, Basel: Francke 2000, S. 20. 29 „In Großbritannien jedenfalls hat sich letztes Jahr eine heftige Debatte an einem Detail entwickelt. Da gibt es in der ‚Fahrschul-Soap’ eine Szene, in der die Protagonistin nachts aufwacht und im Bett ihren Ehemann mit Prüfungsfragen nervt. Die Szene war natürlich inszeniert. Lange hatte die Boulevard-Presse solche Szenen nicht beachtet, plötzlich aber entwickelte sich gerade an dieser Szene eine Debatte um Glaubwürdigkeit. Ob Doku-Soaps dazu taugen, Wirklichkeitsterrain zu erobern, wie man sich das bei ARTE vorstellt, wird sehr stark davon abhängen, wie glaubwürdig sie sind.“ (Wolf: „Plot, Plot und wieder Plot“) Zum Problem der Inszenierung s. auch Hattendorf: Dokumentarfi lm und Authentizität, S. 215ff. 30 RTL2 strahlte die 13-teilige Serie im Herbst/Winter 2000/2001 aus; der Senderhythmus war wöchentlich, der Sendetermin Dienstag Abend, 20.15 Uhr. Das Format stammt ursprünglich aus dem australischen Fernsehen. RTL2 produzierte 2001 eine zweite Staffel, die im Winter 2001/2002 ausgestrahlt wurde. Ergebnis ist die aus zwei Frauen und vier Männern bestehende Band Bro’Sis. Ich beziehe mich hier ausschließlich auf die erste Staffel. 31 RTL2 castete in Zusammenarbeit mit Tresor Entertainment und Polydor im September 2000 in acht deutschen Städten – Köln, Hamburg, Oberhausen, Frankfurt, Berlin, Leipzig, Stuttgart und München – innerhalb von vier Wochen über 5000 junge Frauen. (Informationen zum Format s. http://www.rtl2.de/popstars; 21.3.2002) 32 Die Jury-Mitglieder Mario Mendrzycki (Konzertveranstalter), Rainer Moslener (Mitarbeiter Poly- dor) und Simone Angel (Ex-MTV-VJane und Sängerin) verfügen laut RTL2 alle über „langjährige Erfahrung in der Musikbranche“. (ebd.) 33 Gefolgt von einer ebenso erfolgreichen gleichnamigen Fernsehserie, die von 1981 bis 1987 produ- ziert wurde. 34 Basierend auf dem gleichnamigen Broadway-Musical. 35 So steht in einem Nutzerkommentar (PinkBubbles) der Internet Movie Data Base über den Film FAME: „I knew after the audition scenes that this was a perfect movie for me. It follows the lives of tear-jerkingly believable characters of several different backgrounds. I laughed, I cried, and I bought the soundtrack. The acting is so excellent that the fi rst time I saw it, I’d forgotten that these were not real living, fl esh people, only actors.“ (http://german.imdb.com/Title?0080716; 13.3.2002) 36 Inzwischen gibt es in Deutschland zwei (!) offi zielle Miss-Wahlen und eine Mister-Wahl sowie diverse Model-Wettbewerbe, u.a. Das Gesicht, Bravo Girl/Boy etc., über die im Fernsehen regelmäßig in Reportagen sowie innerhalb von Boulevard- und Promi-Magazinen berichtet wird. Brodmans Film hebt sich von den anderen bei aller Kritik zumeist doch affi rmativen Produktionen insofern deutlich ab, als dass hier eine ausgefeilte Bildsprache sowie ein knapper, ironischer Kommentar die Sinnfreiheit dieser Miss-Maschinerie entlarven. 37 Eingebettet in die „Be a Star!“-Werbekampagne des Senders RTL2. Als Werbe-Slogan hätte hier ebenso gut der Flashdance-Untertitel verwendet werden können: “Take your passion and make it happen!“ 38 Wolf: „Plot, Plot und wieder Plot“. 39 Ebd. 40 Das Zeigen der Castings hat gleichzeitig einen Promo-Effekt, da es die Qualität des Produkts ‚Girl-Group’ unter Beweis stellt. Darüber hinaus entledigt man sich mit der Kreierung von Neustars einer Nebenwirkung, mit der sich die typischen Docu-Soaps nach ersten Erfahrungswerten schwer tun: „Ungleich komplizierter wird auch der Umgang mit den Protagonisten. Vertrauen herstellen, die Anwesenheit der Kamera vergessen machen, seine Protagonisten nicht vorzuführen oder dem Voyeurismus auszuliefern, das sind natürlich auch Aufgaben im klassischen Dokumentarfi lm, immer gewesen. Die Doku-Soaps zielten aber viel weiter, nämlich, [...] ‚ins Leben der Darsteller einzudrin- Mediale Wirklichkeiten 67 gen’. Mit welchen Folgen? Größere Verantwortung sei auf sie zugekommen, erzählt Susanne Abel, die für SAT 1 die ‚Fahrschule’ dreht; die Protagonisten empfänden sich nämlich als Stars und blieben mit der Hoffnung allein, während das Filmteam nach dem Dreh wieder verschwinde.“ (Wolf: „Plot, Plot und wieder Plot“) 41 Zitat der Teilnehmerin Nadja während des Workshops auf Mallorca. 42 Pfadenhauer, Michaela: „Das Problem zur Lösung“. In: Willems, Herbert; Jurga, Martin (Hrsg.): Inszenierungsgesellschaft, S. 291-304, hier S. 291. Aus berufssoziologischen Perspektive sind sicher Zweifel angebracht, ob die gesellschaftlich kaum als ernsthafter Beruf wahrgenommene Beschäftigung ‚Popstar’ überhaupt der Kategorie Profession zuzuordnen ist, denn Pfadenhauer führt aus, dass die auf Talcott Parsons zurückzuführende „Professionssoziologie auf der Vorstellung basiert, dass die besondere, gesellschaftlich als wertvoll erachtete Aufgabe und Leistung von Pro- fessionellen darin besteht, adäquate und in der Regel kognitiv anspruchsvolle Lösungen für die zentralen Werte der Gesellschaft bzw. für die Existenz von Personen betreffende Probleme bereit- zustellen.“ (ebd., S. 293) Betrachtet man allerdings andererseits die Etikettierungen, mit denen Soziologen die Gesellschaft der Gegenwart belegen, wie z.B. Risiko-, Erlebnis-, Inszenierungs- oder Spaßgesellschaft, erscheint die Anwendung des Konzepts in diesem Kontext weniger zweifelhaft. Sie soll zeigen, wie eine (Selbst-)Inszenierungsstrategie, die in alltäglichen Situationen berufl iche Kontexte determiniert, auch als medial vermitteltes Element von Professionalität eingesetzt wird, und neben der Funktion der Kompetenzdarstellung gleichzeitig als ein Moment der Authentizitätsbildung und -stabilisierung funktioniert. Das Erkenntnisinteresse dieser Ausführungen folgt damit nicht der Intention empirischer Professionsforschung, die in Mikroanalysen zum Thema Professionalität, deren Gegenstände Arbeitsaktivitäten, -vollzüge oder -bereiche insbesondere (natur-)wissenschaftlicher Kontexte sind, zu einer Refl exion und Neubestimmung des Professionellen beitragen will. 43 „Man sieht denen zu, die den ‚Trend’ verkörpern, ihn in der Welt der Medien leben, und man beobachtet den Untergang derer, die es nicht schaffen, nicht wollen, nicht können. Als faszinierend wird die Möglichkeit erlebt, einen schnellen Blick auf den Trend zu werfen und sich selbst darin zu lokalisieren.“ (Prokop, Dieter: Faszination und Langeweile. Die populären Medien. Stuttgart: dtv, Ferdinand Enke Verlag 1979, S. 2) 44 Kracauer, Siegfried: „Das Ornament der Masse“. In: ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963, S. 50-63. 45 Winkler, Hartmut: „Technische Reproduktion und Serialität“. In: Giesenfeld, Günter: Endlose Geschichten. Serialität in den Medien, S. 41. 46 Wolf: „Die Docu-Soap“, S. 293. 47 Lebendige Bezüge zu einer ‚weiblichen Natur’ herzustellen ist auch das Ziel des bereits erwähnten Stylings. In ihrem ersten Video zu der Single „Daylight in Your Eyes“ des Albums Elle’ments visualisieren die fünf Frauen durch Kleidung und Make Up vor jeweils passendem Hintergrund die Elemente Feuer, Wind, Wasser, Luft und – Spirit. Das fünfte Element wurde aufgrund der Mitglie- derzahl kurzerhand dazu erfunden. Beim Styling setzte man mit diesem Konzept auf Bewährtes und kopierte relativ unoriginell ein Image der Spice Girls. Die vier verbliebenen der ursprünglich ebenfalls fünf Ur-Girlies hatten bereits in zwei Videoproduktionen ihres Albums Forever (2000) durch Outfi t und Setting die Elemente symbolisiert. 48 Ebd., S. 293f. Die Rolle der risikobereiten Professionellen übernehmen im konkreten Fall somit nicht nur die zukünftigen Stars, sondern das gesamte Popstars-Team, das die Gruppe auf ihrem Weg zur ersten Hitsingle begleitet und somit im Hinblick auf Erfolg oder Misserfolg des Projekts ebenso in der Verantwortung steht wie die Bandmitglieder. 49 Die erste Single „Daylight in Your Eyes“ belegte nach ihrer Veröffentlichung in Deutschland wochenlang Platz eins der Charts und erreichte in Rekordzeit (ca. zwei Wochen) Platinstatus. 50 Pfadenhauer: „Das Problem zur Lösung“, S. 291. 51 Wesentlich ist hier der professionelle Gesamteindruck, von Stimme, Styling, Choreographie. 52 Daher singen Sandy, Vanessa, Nadja, Jessica und Lucy in ihrer ersten Singleauskopplung des zweiten Albums Now...Us! mit dem bezeichnenden Titel „There’s somethin’ about us“ gleich einem Versprechen: „We try to be as real as we can.“ Und bezüglich ihrer Funktion als Popstars: „The only thing we’re here for is to entertain.” Dass sie damit auch eine durchaus legitime Funktion dokumen- tarischen Fernsehens beschreiben, stellte u.a. Heller fest. (vgl. Heller, Heinz B.: „Kulinarischer Dokumentarfi lm? Anmerkungen zu neueren Tendenzen im Dokumentarfi lm und seinem Verhältnis zur Unterhaltung“ In. Hattendorf: Perspektiven des Dokumentarfi lms, S. 97-110.) 53 Bleicher, Joan Kristin: Fernsehen als Mythos. Poetik eines narrativen Erkenntnissystems. Opladen, Wiesbaden 1999, S. 19. 68 Mediale Wirklichkeiten Jana Herwig Illusion, Simulation, Virtualität. Zur Modalität der medialen Wirklichkeiten von Kino, Fernsehen, World Wide Web Modalitäten medialer Wirklichkeit in ihrer Bedingtheit durch Medientechnik sind das Thema dieses Beitrags. Das Vorgehen wird insofern tentativ sein, als es drei ästhetische Traditionen als heuristisches Mittel zur Unterscheidung solcher Modalitäten einsetzen wird: Als Illusion soll damit die Modalität des Kinos, als Simulation die des Fernsehens und als Virtualität die des World Wide Webs begriffen werden. Dieser Charakterisierung geht eine extensive Beschreibung von Medientechniken und der durch sie bedingten Spezifi zität medialer Phänomene voraus, die auf dem Weg des abgrenzenden Vergleichs nur idealtypisch beschrie- ben werden können. Hybrid-Formen und Subversionen der damit postulierten Medien-Typologie sollen keinesfalls ausgeschlossen, für die Dauer der Betrach- tung jedoch ausgeblendet werden. Eine wesentliche Rolle beim Entwurf des darzulegenden Vorgehens spielte die Phänomenologie der Wahrnehmung1 Maurice Merleau-Pontys. Sie ermöglichte die Refokussierung auf ein hinter Medientechnik und ‚Wahrnehmungslogistik’2 oft verschwindendes, leibliches Subjekt, das „alles sichtbare Schauspiel“, der Hypothese nach auch das mediale, „unaufhörlich am Leben erhält, es innerlich ernährt und beseelt, mit ihm ein einziges System bildend“3. Jedes Phänomen, lebensweltlich oder medial, soll dabei im Sinne Merleau-Pontys als zugleich Erscheinendes und prärefl exiv bereits Wahrgenommenes verstanden werden: „Im Bewußtsein ist Erscheinen nicht Sein, sondern Phänomen.“4 Die Bedingungen des Erscheinens und des Wahrnehmens werden anhand einer Diskussion der medialen Dispositive in zweifacher Perspektive untersucht werden: Zum einen mit Blick auf das Dispositiv als eine Anordnung der Fabrikation medialer Arte- fakte (Filmkopien, Rundfunkausstrahlung, Webseiten) und zum anderen als eine Anordnung der Rezeption der aktualisierten Artefakte durch Apparate (Projektor, Fernsehgerät, Computer) und unter idealtypischen Rezeptionsbedingungen. Mediale Phänomene werden dabei als Vermittler zwischen einem Raum der Alltagswahrnehmung und den medialen Wahrnehmungsräumen Diegese, Flow und Cyberspace betrachtet, welche in einem untergeordneten Verhältnis zum Raum der Lebenswelt stehen, in dem sich der Rezipient parallel leiblich erfährt. Die Differenz von cogito und video - so unterscheidet Peter M. Spangenberg unter systemtheoretischen Prämissen die Wahrnehmungsdisposition eines Raumes der „Körperselbstwahrnehmung“ von der eines „technisierten Wahrnehmungsraums“5 - wie auch die Differenzen der Wahrnehmung von Diegese, Flow und Cyber- space werden als das Resultat eines gesetzten cogito begriffen, das sich an den Phänomenen spezifi sch ausbildet und die phänomenal bedingten „Schwankungen des cogito“6 ausgleicht. Stabilisiert wird ein solches medienspezifi sches cogito in einer Fähigkeit, die ich als medienästhetische Kompetenz bezeichnen möchte und als sowohl kulturell wie individuell vermittelt verstehe. So lassen sich Medien- Gründungslegenden oft als Geschichten über die Unfähigkeit, das medienadäquate Mediale Wirklichkeiten 69 cogito setzen zu können, lesen: Das erste Kinopublikum sei vor dem einfahrenden Zug der Lumières gefl üchtet und das Radio hörende Amerika habe sich vor einem vermeintlichen Angriff der Marsianer aus Orson Welles’ War of the Worlds ver- schanzt. Der damit vorgeschlagene Begriff der medienästhetischen Kompetenz intendiert, den von der Medienpädagogik geprägten Begriff der Medienkompe- tenz um ästhetische und medienspezifi sche Aspekte zu erweitern.7 Dies ist die erste These. Die zweite stützt sich auf die Feststellung Merleau-Pontys, dass mit der Erfahrung verschiedener Wahrnehmungsräume eine jedem dieser Räume ursprüngliche „Fixierung in der Welt“8 verbunden sei. Diese wird im Rahmen der Untersuchung als Modalität von Wirklichkeit verstanden werden. Ein Wechsel des cogito muss dann auch einen Wechsel der Modalität nach sich ziehen: Indem ein Rezipient etwa die Räumlichkeit der Diegese erfährt, aktualisiert er damit einen anderen Modus seiner Fixierung in der Welt als er dies mit der Erfahrung des Flows oder Cyberspaces tun würde. Der Vergleich von Kino/Fernsehen einerseits und World Wide Web muss aus zwei Gründen uneinheitlich verlaufen. Der erste ist ein medientechnischer: Sowohl Kino als auch Fernsehen, bei allen Unterschieden ihrer Speicher- und Übertragungsmodalitäten, verfahren nach dem Camera-Obscura-Prinzip des Auf- zeichnens äußerer Wirklichkeit, während für das World Wide Web das Prinzip des digitalen Aufschreibens gilt: Alle Fabrikate sind ausnahmslos auf einen übertragbaren Code reduzierbar. Der zweite Grund ist ein wissenschaftlicher: Während für Kino und Fernsehen anerkannte Theorien der Dispositive, der Diegese und des Flows9 vorliegen, besteht für die computer-gestützte vernetzte Kommunikation weder ein verbindlicher Medienbegriff, noch eine verbindliche Beschreibung von Dispositiv oder Wahrnehmungsraum. Der bereits gefallene Begriff der medienästhetischen Kompetenz war das entscheidende Kriterium der Entscheidung für das World Wide Web als Medium (und damit gegen ‚Internet’, Computer, VR, MUD/MOO, IRC usw.). Anders als textbasierte oder Zusatzgeräte erfordernde VR-Anwendungen erlaubt die grafi schen Benutzeroberfl ächen (meist: Graphical User Interface, GUI) des Browsers eine intuitive Bedienung und Navi- gation von Webseiten. Der Boom des World Wide Webs - das mit der Rede vom ‚Internet’ zumeist gemeint ist - begann in der Tat mit der Beta-Distribution des ersten Browsers mit grafi scher Benutzeroberfl äche (Mosaic, 1993). Für das WWW als Anwendungsmedium spricht auch die mittlerweile erfolgte Integra- tion übriger Internetdienste und Protokolle (E-Mail/SMTP; Internet Relay Chat/ Telnet; Newsgroups/NNTP; FTP) in WWW-Interfaces: Die Anbieter dieser Dien- ste machen sich die intuitive Bedienung mittels Maus und Hyperlinks zu Nutze. Das Internet betrachte ich ausschließlich als Übertragungsmedium, als Äquivalent zu Sendefrequenzen bzw. der Infrastruktur der Filmdistribution. Internet in die- sem Sinne umfasst alle Datenfernverarbeitungsprozesse gemäß der Sieben-Schich- ten-Spezifi kation des Open Systems Interconnection (OSI) Referenzmodells.10 Das World Wide Web stellt hierbei nur einen der Dienste der obersten, nämlich der Anwendungsschicht dar und umfasst neben einem Übertragungsprotokoll (HTTP) und einer Beschreibungssprache zur Darstellung übermittelter Dateien (HTML) aus der Sicht des Users die Gesamtheit aller Webseiten inkl. eingebunde- 70 Mediale Wirklichkeiten ner Dateien, die mittels dieses Protokolls verfügbar sind. Der Computer spielt aus Anwender-Sicht lediglich die Rolle des Apparatus’ - nicht einmal das Anschalten, etwa in Internet-Cafés, muss beherrscht werden - und ist damit vergleichbar dem unsichtbaren Projektionsapparat im Kino oder der verborgenen Röhre des TV-Geräts. Der Computer stellt damit den apparativen Teil des Human Compu- ter Interfaces (HCI) dar, das ich als eine Anordnung des Users zu Monitor und Eingabe- bzw. Interaktionsgeräten (v.a. Tastatur und Maus) defi nieren möchte. Der relevante Phänomenbereich des WWWs - d.h. das Äquivalent zu Kinoleinwand und Fernsehbildschirm - ist damit eingrenzbar auf die auf dem Monitor sichtbaren, interaktionsfähigen GUI-Elemente, die aus dem GUI des Betriebssystems und den darin inkorporierten GUIs der Anwendung (Menüs des HTTP-Clients bzw. Browsers) und der dargestellten Webseiten (inkl. Hyperlinks) bestehen. Während die räumliche und apparative Anordnung des Fabrikationsdispositivs im Fall des WWWs identisch ist mit der des Rezeptionsdispositivs, unterschei- den sich diese im Fall von Kino und Fernsehen: Hier werden die Aufzeich- nungen mindestens einer oder (beim Fernsehen grundsätzlich mehrerer) Kame- ras über die Zwischenstufen der Artefakte (der Film als materielles Artefakt; das Fernsehprogramm im fl üchtigen Speichermedium der Kabel-/Rundfunk-/ Satelliten-Übertragung) und ihrer Aktualisierung durch die Apparate Projektor und Fernsehgerät zu einem sichtbaren Phänomenbereich, dem Enunziat11 auf Leinwand bzw. Fernsehschirm zusammengefügt. Ein erster, weniger medien- denn kulturtechnisch bedingter, semantischer Unterschied ist hier bereits auszu- machen: Während das kinematographische Enunziat immer etwas ganz Ande- res repräsentiert als die Kamera aufzeichnete (z.B. Charaktere der Diegese statt Schauspieler in einer realen Handlung), scheinen die Aufzeichnungen der Fern- sehkameras und das televisuelle Enunziat immer im Einklang miteinander zu sein: Im Fernsehen sind alle immer sie selbst. Oder, wie sich am Phänomen der parasozialen Bindung gerade zu Charakteren fi ktionaler serieller Formate formu- lieren ließe: Alle sind immer, wen sie im Fernsehen darstellen (ein bisschen mehr Trude Schölermann als Lotte Rausch). Während die Bildorganisation des Kinofi lms immer in einem nicht-diegetischen Blickpunkt zusammenläuft und die perspektivische Geschlossenheit der Diegese schafft, wird die Vielzahl der Fernseh-Kameras in der Aktualisierung nicht aufgehoben und können diese sogar die Namen ihres Beobachtungsobjekts tragen (z.B. Studio-, Publikums-, Schlaf- zimmerkamera). Ein perspektivisch kohärenter Raum wird dadurch nicht geschaf- fen, sondern ein Panoptikum: Als paradigmatisches Beispiel dieser Anordnung darf der Big-Brother-Container gelten. Bleibt der Kinozuschauer am Geschehen ebenso unbeteiligt, wie die aufzeichnende Filmkamera selbst, die nie sich selbst (allenfalls eine andere, diegetisierte Kamera) beobachten kann, ist die Identifi ka- tion mit der Einstellung der Fernsehstudiokameras unmittelbar affektiver Natur, da auch das Blickfeld der Fernsehkameras diese explizit adressiert. Aufgrund des erwähnten semantischen Umschlagens unterstehen die im Fabrikationsprozess des Films zusammengefügten Elemente (selbst bei Verstößen gegen das Gesetz des Continuity-Editing) immer der Story, d.h. erscheinen als Elemente der Diegese. Dagegen orientiert sich die Bildsequenzierung des Fernsehprogramms als Ganzes Mediale Wirklichkeiten 71 am Programmschema, und damit an der lebensweltlichen Zeit des Zusehers: Um 20 Uhr kommt die Tagesschau. Ein Montagskrimi ist in dieser Hinsicht nicht nur ein Krimi, der z.B. 90 Minuten dauert, sondern auch einer, mit dem jeden Montag zu rechnen ist. ‚Dies ist live’ ist die Botschaft, selbst wenn es nicht live, sondern eine MAZ ist, die eben jetzt ausgestrahlt wird. Nicht Aufzeichnen sondern Aufschreiben ist der Fabrikationsmodus für den alphanumerischen Code aller digitalen Medien, gleich, ob diese auf ASCII-Text oder Algorithmen basieren. Die Fabrikate, die nach dem Upload in WWW-Ver- zeichnissen zum Download zur Verfügung stehen, stellen immer eine Reduktion dar und tragen entsprechende Spuren des Fabrikationsprozesses. Der Mythos der exakten digitalen Replikation greift, v.a. aus Gründen der verfügbaren Band- breiten, nicht für die gegenwärtige Praxis des Web-Developments: „loss of data, degradation, and noise“ sind vielmehr, mit Manovich, „the very foundation of computer culture“12. Für die algorithmen-basierten Web-Grafi ken bedeutet dies i.d.R. auch eine Reduktion des Phänomenbereichs: Fotografi scher Realismus tritt zurück hinter einem heuristischen Realismus und in vielen Fällen ist eine Wie- derbelebung der Darstellungskonventionen der Emblematik zu beobachten. Die ASCII-basierten HTML-Textdateien (der sog. Quelltext) enthalten nicht darstell- baren Text - Layout-Anweisungen, Quell- und Zielangaben, mit denen z.B. Web- Grafi ken oder Hyperlinks eingebunden werden, Skriptanweisungen für durch User-Interaktion ausgelöste Aktionen - sowie darstellbaren Text. Für die Menge darstellbaren Texts gelten die gleichen Konventionen wie für jeden anderen, in Print erscheinenden Text: Wirklichkeit wird nicht aufgezeichnet, sondern beschrie- ben, kommentiert. Hier wie dort werden die Rahmenbedingungen der späteren Enunziation (Lesen) durch Genres strukturiert. Aufgrund der fragmentierten Öffentlichkeiten des World Wide Webs und dadurch bedingten Fragmentierung der öffentlichen Diskurse muss Vertrauen13 im World Wide Web verstärkt aus selbsterworbener Information gebildet werden. Auch auf der Ebene der Bildorga- nisation ist die Verwandtschaft zu Print-Produkten augenscheinlich größer als die zu Kinofi lmen/Fernsehprogrammen, v.a. was die mosaikähnliche Aufteilung des Phänomenbereichs betrifft. Dessen Elemente stellen Interaktionsangebote dar, anhand derer der User die Bildersequenzierung - durch Anklicken - selbst vornimmt. Der fabrizierende ist dabei immer auch der rezipierende User, der das Ergebnis seiner Arbeit im HCI kontrolliert. Die medialen Spuren der Fabrikationsdispositive sind relevant für die Erschei- nungs- wie Wahrnehmungsweisen der medialen Phänome in den Rezeptionsdispo- sitiven. Für die Filmrezeption elementar ist die perspektivische, d.h. unpersönliche Identifi kation mit den Vermittlungsweisen der Filmkamera, während bei der Fernsehrezeption die topographische (‚wir hier - du da’) und synchrone (‚live!’) Identifi kation in den Vordergrund rückt. Bei der Rezeption im World Wide Web erfolgt die Aneignung der Phänomene über die Identifi kation mit den Phänomenkontrollmechanismen des HCI und des GUI. Da der produktive Teil der Enunziation durch den User selbst ausgelöst wird und ausgelöst werden muss14, erscheint es gerechtfertigt, hier von Identität (statt Identifi kation) mit dem Enun- ziator zu sprechen. 72 Mediale Wirklichkeiten In der Reihe vom Kino zum Fernsehen zum World Wide Web ist weiterhin eine Zunahme der Interaktionsinstanzen bzw. Phänomenkontrollmechanismen zu verzeichnen, die sich als zunehmendes Maß der Sequenzierbarkeit der medialen Zeitdimension durch den Rezipienten äußert. Im Kino bleibt der Raum während der Dauer der Vorführung geschlossen, sowohl sphärisch (Saalverdunklung) als auch kulturell (Kartenverkauf wird eingestellt). Die Anordnung der Zuschauer in zentralperspektivisch ausgerichteten Sitzreihen vor einer bühnenähnlichen Installation, die Vergabe von Karten und die sich einstellende Anonymität der Zuschauer im Publikumskollektiv orientieren sich am Typ der kulturellen Öffentlichkeit in Theater, Oper und Konzert. Der Zuschauer befi ndet sich relativ immobilisiert vor der durch die Projektion erleuchteten, durch découpage15 aus dem Raum der Lebenswelt ausgeschnittenen Leinwand. Dank des Projektions- verfahrens erscheinen die Bilder „fotografi sch ‚dicht’“16 und zur Überlebensgröße maximiert auf der Leinwand. Die Interaktionsinstanzen enden hier, apparativ und kulturell bedingt, mit dem Erwerb der Eintrittskarte an der Kinokasse, also noch vor dem Betreten des Rezeptionsdispositivs. Für die Dauer der Vorstellung ist der Zuschauer der plot duration (Länge des Films, Vorfi lms, Kinowerbung in physikalischer Zeit) unterworfen. Im Vergleich dazu zeichnet sich das Rezeptionsdispositiv des Fernsehens aus durch die „fehlende Abdunkelung des Umraumes“, die „andere Projektionsrich- tung: […] entgegen der Blickrichtung des Betrachters“ und die „Platzierung des Zuschauers […] im privaten Wohnumfeld“17. Der Rezeptionsraum öffnet sich: Das Fernsehgerät ist Mobiliar und „Familienmitglied“18, rezipiert wird allein oder in vertrauten Kleingruppen als Teil der individuellen, d.h. nicht dezidiert kulturellen Freizeitgeselligkeit. Die Raumbeleuchtung obliegt dem Belieben oder dem Kon- sens der Zusehergruppe. Das Gesamtbild erscheint „elektronisch ‚fragmen- tiert’“19, die Ästhetik ist die dem Radar20 verwandte des ‚Schirmbildgeräts’. Durch das ‚Heim-Format’ werden die Fernsehbilder einerseits minimiert und anderer- seits durch fernsehtypische Einstellungen, insbesondere Close-ups von mensch- lichen Gesichtern, maximiert. Wesentliche Kontrollinstanz ist die Fernbedie- nung, womit der Zuseher die verfügbaren Programme sequenziert und nicht nur Phänomenkontrolle, sondern auch ‚Macht’ über das gemeinsame Rezeptionser- lebnis der Zusehergruppe ausüben kann. Das Rezeptionsdispositiv des World Wide Webs kann etabliert werden, wo immer ein Monitor mit Tastatur und Maus aufgebaut und ein Computer ans Inter- net angeschlossen werden kann, in privaten, öffentlichen und teilöffentlichen Orten. Die Beleuchtung obliegt oft weniger dem Nutzer als den Verwaltern dieser Orte. Der User ist zugleich immobil als auch aktiviert, Auge und Hand gehen eine feste Beziehung ein: Sobald das Auge etwas erblickt, greift die Hand intui- tiv zur Maus, weshalb sich die gleichzeitige Nutzung durch mehrere User kom- pliziert gestaltet. Der Raum des HCI ist daher geschlossen, es ist wörtlich als ‚Mensch-Maschine-Dyade’ zu verstehen. Statt der kulturellen oder geselligen Freizeittätigkeit liegt die Verwandtschaft zu ‚Handarbeit’ (Stricken, Sticken, Laubsägen) nahe: Privat fabrizierende User berichten häufi g, sie hätten an ihrer Homepage ‚gebastelt’. Die Monitorbilder sind das Resultat von Berechnung und Mediale Wirklichkeiten 73 Darstellung der heruntergeladenen Dateien, die aus temporären Verzeichnissen auf dem Computer-Apparatus aktualisiert werden. Da nicht - wie beim Fernsehgerät - Halbbilder, sondern Vollbilder dargestellt werden, wird ein entsprechend elek- tronisch ‚dichtes’ Gesamtbild erzeugt. Die Interaktionsinstanzen der GUIs sind mehrfach ineinander verschachtelt, wobei der Mauszeiger den integrierenden Interaktionsmechanismus darstellt: Seine Bewegungen sind Übersetzung der leib- lichen Aktionen des User, er ist das wesentliche Kontrollelement des der Anwen- dung übergeordneten Betriebssystems, liegt grafi sch ‚über’ allen übrigen GUI- Instanzen und suggeriert so die (vermeintliche) Omnipotenz des Users gegenüber den Phänomene des Monitors. Wird er über einen Hyperlink positioniert, ver- wandelt er sich in das Symbol einer Hand, was seine Funktion als mediale Repräsentation der leiblichen Hand betont. Mittels Mauszeiger und Tastatur wird die buchstäbliche Einschreibung in den Phänomenbereich, etwa beim Versand von Web-Mail, möglich. Auf der Basis dieser medientechnischen und materiellen Bedingungen der Dispositive formen sich die Wahrnehmungsräume von Kino, Fernsehen und WWW: die Diegese, der Flow, der Cyberspace. Inwiefern deren Raum/Zeit-Horizonte im Verhältnis zum ihnen zugrunde liegenden Raum der Alltagswahrnehmung und den Modalitäten der Illusion, der Simulation und der Virtualität stehen, soll im Folgenden dargelegt werden. So ist die lebensweltliche Relevanz, die der mediale Wahrnehmungsraum des Kinos überhaupt gewinnen kann, vorbedingt durch die Institutionalisierung des Kinobesuchs als kulturelle Öffentlichkeit und als kulturell konventionalisierte Erlebnis-Stilart, welche die Distanz der Vorführung zum Zuschauer-Publikum bewahrt. Durch die produktiven und rezeptiven Bedingungen des Rezeptions- dispositivs erscheinen die medialen Phänomene nicht der Lebenswelt, sondern einer anderen Wirklichkeitsebene zugehörig. Durch Spuren der medialen Fabri- kation in den Phänomenen der Leinwand wird das Erscheinende als autonome raum/zeitliche Entität und als Enunziat einer unpersönlichen Erzählinstanz wahr- genommen. Der entstehende Wahrnehmungsraum, die Diegese, gestaltet sich als eigene Welt und Wirklichkeit mit eigenem Raum/Zeit-Horizont, der mit der Gegenwart, mit Raum und Zeit des Wahrnehmungssubjekts, niemals zur Dek- kung gebracht werden kann. Als Illusion ist sie insofern zu verstehen, als sie - in der Tradition des ästhetischen Scheins nach Friedrich Schiller - sich „von allem Anspruch auf Realität ausdrücklich lossagt“ und „allen Beistand der Realität entbehrt“21. Die mögliche lebensweltliche Relevanz des Wahrnehmungsraums des Fern- sehens ist demgegenüber vorbedingt durch die Integration des Fernsehens in den Synthese-Prozess gesellschaftlicher Wirklichkeit.22 Mit der Rezeption wird dem Zuseher der Zugang zu dieser Fernsehwelt durch Einschalten und die persönliche Anteilnahme am Programm als Ausschnitt aus dieser Welt durch Umschalten möglich. Durch die Situierung des Apparats in der Privatsphäre des Zusehers kann das Wahrgenommene jener Alltags-Wirklichkeit, die durch die Synthese von Fernsehwelt und Gesellschaft schon transformiert wurde, zugerechnet werden. Durch fabrikative Spuren in den medialen Phänomenen des Bildschirms kann das Erscheinende als parallel zur lebensweltlichen Zeit fortschreitender Fluss und 74 Mediale Wirklichkeiten als persönliche Adressierung durch eine Instanz sozialer Kommunikation erlebt werden. Die Ort/Zeit-Dimensionen des entstehenden Wahrnehmungsraums, des Flows, sind durch das Streben nach Integration mit Raum und Zeit des Wahrneh- mungssubjekts gekennzeichnet, wodurch diese in einer Weise verändert werden, dass ihre gesellschaftlichen Dimension erst durch Teilnahme an der Fernsehwirk- lichkeit in vollem Umfang zugänglich wird. Als Ergebnis einer Simulation kann dieser Raum verstanden werden, da die medialen Inszenierungen beanspruchen, Wirklichkeit wiederzugeben und diesen Anspruch auf das Inszenierte ausweiten. Dies entspricht dem ästhetischen Effekt eines Hyperrealen, eines „Realen ohne Ursprung oder Realität“23, als Resultat von Simulationsprozessen im Sinne Jean Baudrillards. Und schließlich ist die lebensweltliche Relevanz, die der Cyberspace als Wahrnehmungsraum des World Wide Webs erlangen kann, vorbedingt durch die Semantisierung der Computernutzung als höchstpersönliche Tätigkeit außerhalb der Konventionen des kulturellen Erlebnisses oder gesellschaftlicher Kommu- nikation. So sind mögliche Interaktionen im Human-Computer-Interface den Kontingenzen der individuellen Tätigkeit überlassen: Ohne eine Aktion des Users bleibt der Cyberspace virtuell. Aufgrund der Anordnung von HCI, inklusive der mehrfachen Interaktionsinstanzen des GUI, fi nden die leiblichen Aktionen des Users ihren mittelbaren Ausdruck in den medialen Phänomenen des Monitors. Bedingt durch die Spuren des Fabrikations-HCIs in den medialen Phänomenen im engeren Sinne (die dargestellte Website) können sie ontologisch zugleich der eige- nen Interaktion und digitalen Code-Bearbeitungsprozessen zugerechnet werden. Der entstehende Wahrnehmungsraum Cyberspace, obwohl im perspektivischen Sinne dimensionslos, zeichnet sich somit durch eine interaktionsgebundene, dop- pelte Dimensionierung von Raum und Zeit aus: durch einen Raum der leiblichen Aktion und einen diesen übersetzenden medialen Raum der Navigation, sowie durch eine Zeit der leiblichen Aktion und eine an diese gebundene mediale Zeit der ästhetischen Präsenz einer Webseite, die in einem für jede Interaktion spezi- fi schen Verhältnis zum Datum des Uploads und zur Dauer des Downloads steht. Als ein Raum der Virtualität ist der Cyberspace insofern zu verstehen, als er mit der Ontologie der Lebenswelt nicht zu erklären ist und doch mit dieser in Zusam- menhang steht. Das Virtuelle, das Resultat von Berechnung, Beschreibung und Programmierung ist, kann jeweils nur durch eine Aktion des Users aus der Latenz gehoben werden und bleibt damit interaktionsgebunden und prozesshaft.24 1 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: De Gruyter 1974 [1947]. 2 Vgl. Virilio, Paul: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. Frankfurt a.M.: Fischer 1989. 3 Merleau-Ponty: Phänomenologie, S. 239. 4 Merleau-Ponty: Phänomenologie, S. 345. 5 Vgl. Spangenberg, Peter M.: „Stabilität und Entgrenzung von Wirklichkeiten. Systemtheoretische Überlegungen zu Funktion und Leistung der Massenmedien“. In: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Litera- turwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 66–100. 6 Merleau-Ponty: Phänomenologie, S. 345. 7 Gefordert durch die Mediatisierung der Lebenswelt wird Medienkompetenz hier als „zentrale Lernaufgabe“ verstanden, die „den Nutzer befähigen [soll], die neuen Möglichkeiten der Infor- Mediale Wirklichkeiten 75 mationsverarbeitung souverän handhaben zu können“. Vgl. Baacke, Dieter: „Medienkompetenz als zentrales Operationsfeld von Projekten“. In: ders. et al. (Hg.): Medienkompetenz. Modelle und Projekte. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1999, S. 31–35, hier: S. 31. Vgl. auch das Schlusswort von: ders., Horst Schäfer und Ralf Vollbrecht: Treffpunkt Kino. Daten und Materialien zum Verhältnis von Jugend und Kino. Weinheim, München: Juventa 1994, in dem die Autoren ebenso „Wahrnehmungsbildung“ als Aufgabe einer heutigen Medienpädagogik nennen. 8 Vgl. Merleau-Ponty: Phänomenologie, S. 326–329. 9 Dispositive, vgl. Baudry, Jean-Louis: „Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks“. In: Claus Pias et al. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Stuttgart: DVA 1999, S. 381–404, sowie Hickethier, Knut: „Dispositiv Fernsehen. Skizze eines Modells“. In: montage a/v, 4, 1995, 1, S. 63–83, hier: S. 63, sowie Elsner, Monika und Thomas Müller: „Der angewachsene Fernseher“. In: Hans U. Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 392–425. Diegese, vgl. Bordwell, David: Narration in the Fiction Film. London: Routledge 1985. Flow, vgl. Williams, Raymond: Television. Technology and Cultural Form. London: Routledge, 1990 [1975]. 10 Zur Referenz vgl. Payer, Margarete: Computervermittelte Kommunikation. Skript. Letztes Update: 19.11.02. URL: http://www.payer.de/cmclink.htm; 02.12.2002. 11 Christian Metz’ fi lmische Enunziationslehre erweist sich als geeignete Übersetzung der Dualität von Erscheinen und Wahrnehmen in ein medienwissenschaftliches Vokabular. Das Enunziat ist das auf der Leinwand durch Aktualisierung des Enunziators (Film) dem Enunziatär (Zuschauer) Erscheinende: „Der Enunziator ist kein Sender (als körperlich anwesende Person), der Enunziatär kein Empfänger, und genau dadurch unterscheidet sich die Enunziation von der Kommunikation.“ Metz, Christian: Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films. Münster: Nodus 1997 [1991], S. 166. 12 Manovich, Lev: The Language of New Media. Cambridge MA, London: MIT Press, 2001, S. 55. 13 Vgl. hierzu Luhmann, Niklas: Vertrauen. Ein Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität. Stuttgart: Enke 1989, S. 54: „Vertrauen ist überzogene Information, beruht also darauf, daß der Vertrauende sich in gewissen Grundzügen schon auskennt, schon informiert ist, wenn auch nicht dicht genug, nicht vollständig, nicht zuverlässig.“ 14 In der Push-Pull-Debatte – die hier als Frage von fabrikations- oder rezeptionsseitiger Sequenzie- rung zu formulieren wäre – teile ich die Einschätzung Hartmut Winklers, dass es sich bei der Push- These v.a. um eine „Anbieter-Phantasie“ handelt. Vgl. Winkler, Hartmut: „Vom Pull zum Push? Eine diskursökonomische Überlegung zum jüngsten Hype im Netz“. In: Telepolis, 1997, 2, S. 139–147. 15 Vgl. Barthes, Roland: „Diderot, Brecht, Eisenstein“. In: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990 [1982], S. 94–102, hier: S. 95: „Das Bild […] ist ein unumkehrbarer, unzersetzbarer, reiner Ausschnitt mit sauberen Rändern, der seine ganze unbenannte Umgebung ins Nichts verweist und all das ins Wesen, ins Licht, ins Blickfeld rückt, was er in sein Feld aufnimmt[.]“ 16 Steinmaurer, Thomas: „Theorie und Geschichte des Fernsehempfangs“. In: Renger, Rudi und Gabriele Siegert (Hg.): Kommunikationswelten. Innsbruck/Wien: StudienVerlag 1999, S. 45–68, hier: S. 51. 17 Hickethier: Dispositiv Fernsehen, S. 65. 18 Elsner und Müller: Angewachsener Fernseher, S. 408. 19 Steinmaurer: Fernsehempfang, S. 51. 20 Müller, Thomas und Peter M. Spangenberg: „Fern-Sehen – Radar – Krieg“. In: Martin Stingelin und Wolfgang Scherer (Hg.): HardWar, SoftWar. Krieg und Medien 1914 – 1945. München: Fink 1991, S. 275–302. 21 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Leipzig: Reclam 1795. Zit. nach URL: http://gutenberg.aol.de/schiller/erziehng/erziehng.htm; 22.10.2001. 22 Vgl. Elsner und Müller: Angewachsener Fernseher, S. 398. 23 Baudrillard, Jean: Agonie des Realen. Berlin: Merwe 1978, S. 7. 24 Die Grundlage für diesen Beitrag bildete eine Magister-Arbeit bei Prof. Irmela Schneider im Fach Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft an der Universität Köln. Infos zum Download unter http://www.feast.de/medial/. 76 Geschichtsschreibung Henning Wrage The truth is out there. Die Mediengeschichte der DDR am Beispiel des Phantastischen Dieser Text ist der Versuch, quasi in der Nußschale, mein Promotionsprojekt „Die Mediengeschichte der DDR am Beispiel des Phantastischen“ vorzustellen. Die Perspektive auf und aus dem Phantastischen als literaturwissenschaftlicher Kategorie mag zunächst willkürlich scheinen. Jedoch ist nicht das Phantastische selbst der eigentliche Gegenstand meiner Arbeit, sondern diskursive - und das heißt regelsupponierende - Strukturen1 der DDR-Kultur, die aus der Perspektive der Theoriebildung des Phantastischen beobachtet werden. Noch einmal anders gesagt: Das Phantastische ist in meiner Arbeit nicht nur Gegenstand, sondern auch und vor allem ein hermeneutisches Vehikel. Die Vorzüge dieses Vehikels bilden im folgenden das eigentliche Thema. Am Anfang meines Projekts standen zwei Ausgangshypothesen: Die erste ist, daß wesentliche Teile der Medienkultur in der DDR durch Mechanismen von Kanonbildung und Zensur dominiert wurden. Diese Mechanismen haben in Gesellschaften mit einem dominanten ideologischen Kern - wie eben der DDR - eine besondere Spezifi k. Folgt man Lutz Dannebergs Erwägungen bezüglich der DDR als monoparadigmatischer Gesellschaft2, erscheint der offi zielle kulturpo- litische Diskurs der DDR als Konstruktion von Kontinuität in der Diskontinuität. Danneberg behauptet ein Operationsparadigma für die Bewertung von Innovation: Neues, und das umfaßt hier sowohl kulturelle Formen als auch Wissenschafts- konzepte, wird über eine präskriptive (also nicht beschreibende sondern vor- schreibende) Terminologie als zugehörig oder entfernt zum jeweiligen Paradigma verortet. Dieses Paradigma leitet sich aus einem kanonisierten Textkorpus (die marxi- stisch-leninistischen Klassiker) ab und wird von gesellschaftlicher Praxis validiert. Das Paradigma für Literatur und Kunst im allgemeinen ist nun ein explizit didakti- sches. Kultur wird stets nach dem Genügen ihrer sozialen Funktion befragt: sie ist als Faktor der Formung und Vervollkommnung des Menschen zur sozialistischen Persönlichkeit zuallererst Erziehungsmittel.3 Aus dieser expliziten Zielsetzung für die Kultur entstehen inhaltliche und formale Muster, an denen sich das konkrete Werk zu messen hat: exemplarische Figuren wie der positive, beispielgebende Held,4 formal - unter anderem - die Forderung nach strikter narrativer Kohärenz, historisch die Anknüpfung an die humanistischen Traditionen des kulturellen Erbes, konkret natürlich die Orientie- rung an der Weimarer Klassik. Kultur wird an das Ziel der gesamtgesellschaftli- chen Entwicklung gekoppelt. Und es ist dann nur folgerichtig, daß die sozialisti- sche Kulturpolitik, hier zitiert nach Arnold I. Arnoldows Kultur im entwickelten Sozialismus, „retardierende, negative Erscheinungen [...], Elemente apolitischer Haltungen [...] Karrierismus und kleinbürgerliche Verhaltensweisen“5 genauso wie „Elemente der Unorganisiertheit und Spontaneität“6 auszuscheiden bestrebt ist. Geschichtsschreibung 77 Gleichzeitig haben die DDR-Offi ziellen die Existenz von Zensur stets bestritten - schon weil es in der Logik der wissenschaftlichen und damit widerspruchsfreien Gesellschaft für sie nichts zu tun geben dürfte. So hat Walter Ulbricht 1968 auf einer Pressekonferenz in der Tschechoslowakei die Anwesenden mit der Behaup- tung überrascht, in der DDR brauche man die Zensur nicht abzuschaffen - es gebe sie schlichtweg nicht.7 Die zweite Hypothese betrifft das Phantastische. Es gibt in den vielfältigen Defi nitionen dessen, was gemeinhin das Phantastische genannt wird, drei Kern- punkte: semantische und strukturelle Ambiguität, die Angewiesenheit auf eine narrative Form und die Kopplung des textuellen Phänomens an seine kulturellen und gesellschaftlichen Entstehensbedingungen. Dies sei etwas genauer dargestellt: Inhaltlich bestimmt sich das Phantastische aus der Konfrontation: eine als ver- traut und real dargestellte, empirisch validierbare Welt trifft auf eine zweite, die Züge des Fremden, Irrealen, Anderen trägt. Insofern fordert das Phantastische die Bindung an eine narrative Form (im Text oder Film), weil sich nur in der Konsekution der Zeit der (sekundäre) Einbruch des Chaotischen in eine primär vorgestellte Ordnung überzeugend artikulieren läßt.8 Die gezielte Setzung von Authentizitätssignalen in der primären narrativen Ordnung ist die Vorraussetzung für das semantische Flimmern, das die Phantastik ausmacht. Die Konfrontation einer primären Diegesis, die den Rezipienten immersiv binden soll, mit einer unerklärlichen zweiten ist zunächst mit den Termini Skandal9 und Riß10 beschrie- ben worden und wurde von Tzetvan Todorov präzisiert, der das Moment der textuellen Ambiguität zum zentralen Defi nitionsmerkmal der Phantastik erhebt. Todorov schreibt: In einer Welt, die durchaus die unsere ist, die, die wir kennen, eine Welt ohne Teufel, Silphiden oder Vampire, geschieht ein Ereignis, das sich aus den Gesetzen eben dieser vertrauten Welt nicht erklären läßt. [...] Das Fantastische liegt im Moment der Ungewißheit; sobald man sich für [...] eine [...] [Deutung, H.W.] entscheidet, verläßt man das Fantastische.11 Die inhaltliche und formal-ästhetische Mehrdeutigkeit des Phantastischen festzu- stellen, ist ein Gebiet der Phantastikforschung. Andere Autoren haben sich bemüht, produktionsästhetisch die Ursachen des Phantastischen ausfi ndig zu machen. Ich möchte drei solcher Erklärungsversuche kurz vorstellen, um deutlich zu machen, daß sie alle letztlich in eine Richtung führen. Es ist „die Aufkündigung jeder Schutz bietenden Übereinkunft“12, die für Lars Gustafsson das Phantastische zum Antipoden ideologisch geprägter Kunst macht. Die Rückführung von Unbe- kanntem auf Bekanntes, die dem Positivismus wie dem Marxismus einen opti- mistischen Grundgestus verliehen hat, weil beide die Welt für im Grundsatz durchschaubar erklärt haben, sei in der phantastischen Literatur negiert. Der moralische Impetus, die Welt für undurchschaubar zu erklären, impliziert nach Gustafsson einen Fatalismus und eine Menschenfeindlichkeit, die nur das Etikett „reaktionär“13 verdient. Psychoanalytisch argumentiert Rein Zondergeld: Das Phantastische in der Literatur repräsentiere das Unbewußte, das wiederum gut 78 Geschichtsschreibung freudianisch den „Charakter eines erotischen Wunschtraumes“14 besitzt. In die- ser Deutung fällt das Phantastische mit dem Unheimlichen zusammen - und so wird Phantastik zur Subversion durch Offenbarung verborgener Triebim- pulse.15 Die Theorie der Psychoanalyse ist nun, vermittelt über das Theorem des Realitätsprinzips, auch eine Gesellschaftstheorie.16 Es ist insofern ganz folgerich- tig, daß das Phantastische auch als „Rebellion [...] gegen die von einem immer tödlicher werdenden Realitätsprinzip beherrschte Dingwelt des Kapitalismus“17 verstanden worden ist. So schreibt Winfried Freund: „In der Phantastik entbindet sich das durch eine restriktive Gesellschaftspraxis gestaute Aggressionspotential und wendet sich richtend und zerstörend gegen die herrschaftlichen Orientierun- gen und gegen die Herrschaftsträger selbst.“18 Wichtig für den Zusammenhang meines Projekts ist die Kopplung eines narra- tiven Modus und einer spezifi schen Schreibweise an Phänomene gesellschaftlicher Emanzipation und Reaktion. Was für Freund emanzipatorisches Anschreiben gegen den Kapitalismus ist, kann vor dem Hintergrund einer im Grundsatz wider- spruchsfreien, sich teleologisch entwickelnden Gesellschaft nur als reaktionär gelten. Das Undurchsichtige und die Vernunftresistenz des Phantastischen machen es zum Gegenspieler des marxistischen Weltbilds, in dem, Dialektik hin oder her, schließlich die Vernunft zu sich selbst kommt. Das Phantastische, wie ich es hier beschrieben habe, fällt aus der Sicht der sozialistischen Kulturtheorie eindeutig unter den Begriff des sogenannten „künstlerischen Modernismus“19. Damit wird auf Kunstformen gezielt, „die aus einer antagonistischen gesellschaft- lichen Situation erwachsen, die künstlerische Refl exe des Verfalls der bürgerlichen Gesellschaft sind.“20 Um zusammenzufassen: Man kann das Phantastische als einen narrativen Modus defi nieren, der gesellschaftliche Ordnung hinterfragt, indem er über einer Folie authentieverstärkter hochkohärenter Narration strukturell und inhaltlich Irritation erzeugt. Dadurch wird es zum Gegenstück einer kulturtheoretischen Konzeption, die sich auf inhaltliche Geschlossenheit, Transparenz und Beispiel- haftigkeit beruft. Dies und die kulturpolitische Praxis der DDR daraufhin zu überprüfen, wie sie mit solchen Ambivalenzphänomenen umgeht, ob sie sie sankti- oniert oder ob sie die Phantastik aus kompensatorischen Erwägungen in bestimm- ten Bereichen zuläßt, ermöglicht einen Blick auf die Institutionsgeschichte der DDR, die sich an der Frage orientiert, inwieweit die Realisierung phantastischer Motive und Erzählweisen in Literatur, Film und Fernsehen möglich war, und inwieweit die kanonbildenden und -pfl egenden Institutionen dabei mitgewirkt oder eben dagegengewirkt haben. Daraus läßt sich, scheint mir, eine Typologie der Restriktion ableiten: am Beispiel einer Textsorte wird deutlich, wann, wie und in welchem Medium künstlerische Innovation in der DDR zulässig war. Dies soll nun ansatzweise für die Literatur, den Film und das Fernsehen ausgeführt werden. Literatur Phantastische Literatur erscheint in der DDR einerseits in Formen wie der Historie und dem Zukunftsroman, die, weil sie zeitlich deutlich vor- oder zurückweisen, Geschichtsschreibung 79 weitgehend akzeptiert sind.21 Seltener ist eine Form phantastischer Literatur, die die Zustände im eigenen Land thematisiert und für die Kontrollbehörden der DDR eine Art selbst erfüllender Prophezeiung darstellt. Dies wird gleich deutlicher, zunächst zitiere ich aber aus Slavoj Žižeks Pest der Phantasmen: Das Unbewußte ist draußen, nicht verborgen in unvordenklichen Tiefen - oder, um das Motte (sic) der Akte X zu zitieren: ‚The truth is out there.’ [...] Was wir auf diesem Weg argumentieren möchten, ist nicht einfach, daß Ideologie auch die behaupteten außerideologischen Schichten des alltäglichen Lebens durchdringt, sondern, daß die Materialisation der Ide- ologie in ihrer äußeren Materialität die inhärenten Antagonismen erweist, welche sich die explizite Formulierung der Ideologie nicht eingestehen kann: es ist, als ob ein ideologisches Gefüge, wenn es ‚normal’ funktio- nieren möchte, einer Art ‚Kobold der Perversion’ gehorchen muß und seine inhärenten Antagonismen im Außen seiner materiellen Existenz artikulieren.22 Es scheint fast, als würde der Versuch einer zentralistischen Gesellschaft wie der DDR , Diskontinuierliches institutionell einzuhegen, dazu führen, daß die Gestalt ihrer Instanzen selbst zum Gegenstand von Literatur, und zwar von phantastischer Literatur wird. Betrachtet man die avancierteren Refl exionen von DDR-Autoren auf ihre Gesellschaft und insbesondere ihre Institutionen, kann man sagen, daß die vielfältigen Zensurmechanismen der DDR im Sinne von Žižeks Kobold der Perversion gerade erzeugt haben, was sie zu verbieten versuchten - fast kafkaeske (und damit im weiteren Sinne phantastische) Beschreibungen ihrer selbst. Ich möchte als Beispiel eine Geschichte aus Günter Kunerts Sammelband Auf Abwegen und andere Verirrungen23 zitieren. Deren Deutlichkeit verdankt sich der Tatsache, daß sie erst 1984, also nach Kunerts Ausreise aus der DDR bei Hanser in München erschienen ist. Brisant an diesem Text ist, daß nicht nur Zensur, sondern auch die Thematisierung von Zensur zum Thema wird.24 Der „Bericht des Zensors über die Begegnung mit einem gewissen G.“25 beschreibt die Auseinandersetzung einer Literaturgenehmigungsbehörde eben mit einem gewissen G. Um wen es sich bei diesem Kürzel handelt, bleibt zunächst ungewiß. G. ist nichts anderes als eine Wartenummer, ein beliebiges Objekt, das, ohne sich dessen bewußt zu sein, schon der Zurichtung des Amtes unterliegt: Man läßt den Probanden warten, denn, so der Zensor, „Warten erzieht den Menschen ungemein“. Es versetzt den Wartenden in einen Zustand objektlosen Phantasierens, das „von sich aus drohende Vorstellungen“26 erzeugt. Schon hier wird deutlich, daß der Text die Innensicht des Apparates beschreibt, eine Art inversen Kafkaismus. Erzählt wird aus der Pers- pektive des Zensors, wodurch erzählstrukturelle Dominanz und gesellschaftliche Macht verkoppelt werden. Gleichzeitig verkehrt sich das Topos der Bürokratie als anonymer Apparat, dessen Funktionieren nun von innen beobachtet wird: nicht die Anonymität der Macht wird berichtet, sondern Anonymisierung als Machtstra- tegie. Eine Strategie, die zunächst aufgeht. Der Proband „zeigt Wirkung“, ein Zitat aus der „geradlinigen und unzweideutigen Sprache des Boxsports“27. Und wie in einem Boxkampf geht die Auseinandersetzung zwischen G. und dem Zensor über vier Runden (vier Begegnungen auf dem Amt). Auf dieser 80 Geschichtsschreibung Bedeutungsebene repräsentiert der Text den Zweikampf „zwischen einem den Unterdrückungsapparat verkörpernden Funktionär und einem als Bittsteller erscheinenden Autor.“28 Mit der Offenbarung der Identität von G., es handelt sich, wie man schnell erfährt, um niemand anderen als Goethe, der hier die Druckge- nehmigung für den „Zauberlehrling“ beantragt, gewinnt der Text eine zweite Dimension. Der „Bericht des Zensors über die Begegnung mit einem gewissen G.“ ist selbst eine, wenn auch nicht systemkonforme Aneignung des klassischen Erbes, das oben als Teil der offi ziellen kulturpolitischen Doktrin beschrieben wurde, und das Walter Ulbricht einmal mit dem Motto „Vorwärts zu Goethe“ umrissen hat. Der Text spielt nun diesen Teil gegen den anderen aus, der auf der Beispielhaftigkeit der Gestaltung beharrt. So sieht der Zensor durch den „Zauberlehrling“ die „klare Linie unserer Kulturpolitik“29 unterlaufen. Seine Kritik zielt auf die Gestaltung des Zauberlehrlings, der, als Muster des „durch Feindeinfl uß verführten Rowdys“30 eine untypische Minderheit der Jugend zeige. Nun, so der Zensor, wäre die Figur zur Vorbildhaftigkeit umzubauen: Die Figur einfach ins Positive wenden. Also ihn nicht heimlich und selbständig den Vorgang des Wasserholens auslösen lassen [...], sondern im Auftrage des ‚Alten Meisters’, welcher wiederum gesellschaftlich voll legitimiert ist. [...] Nur durch solche Veränderungen werde auch die aktiv-eingreifende Korrektur durch den alten Meister, dieser gelungenen Verkörperung der Arbeiterklasse, verständlich.31 Um es kurz zu machen: zwischen G. und dem Zensor entsteht ein Abtausch argumentativer Kinnhaken in besagten vier Runden, in dem Änderung auf Ableh- nung, Ablehnung auf Änderung folgt und dessen Strukturen schließlich jede Rationalisierbarkeit verlieren. Doch dies ist nicht das Ende der Geschichte. Diese schließt sich rekursiv vom Inhalt in die Textstruktur zurück, als G. schließlich einen neuen Text vorlegt: „die exakte Darstellung seiner Gespräche mit mir [dem Zensor, H.W.]“32. Der Text wird zum Metatext, weil er die Entstehungsbedingung seiner selbst im Text repräsentiert. Im Verlauf der Handlung wird G. vom Opfer zum Insider des Apparats, der den Zensor in einen unaufl ösbaren Konfl ikt stürzt. Versucht der Zensor, die Verbreitung des Textes zu verhindern, bestätigt er ihn als einen zutreffenden, wodurch die Institution ihren Schrecken verliert, da ihr mit der Undurchschaubarkeit ihres Funktionierens ein wesentliches Machtmittel verlorengeht. Der Zensor darf die Erklärungskraft des Text nicht bestätigen, indem er ihn verbietet. Läßt er aber den Text zu, beweist der Zensor dem Autor, ich zitiere noch einmal Žižek, gerade die „inhärenten Antagonismen [...], welche sich die explizite Formulierung der Ideologie nicht eingestehen kann“33, die Behörde versagt in ihrer Kernkompetenz. Denn zur Zensur gehört hier auch die Ver- schleierung ihrer eigenen Existenz.34 Es ist nicht zuletzt dieses Dilemma der Institution, das den Text zu einem exemplarischen, man könnte vielleicht sagen, metaphantastischen macht. Er ist beispielhaft in seiner Deutlichkeit, jedoch keine Ausnahme. Neben Kunert gibt es eine ganze Reihe von Autoren, die in der DDR phanta- stische Texte produziert und auch publiziert haben (z.B. Franz Fühmann, Irmtraud Geschichtsschreibung 81 Morgner, Günter und Johanna Braun oder Helga Königsdorf). Diese sind zum Teil bereits in Anthologien gesammelt und über Bibliographien aufbereitet; mei- nes Wissens gibt es bislang jedoch nur eine, mittlerweile 20 Jahre alte, wissen- schaftliche Publikation zum Thema (Horst Heidtmanns Dissertation zur utopisch- phantastischen Literatur der DDR35). Etikette(n) Mit guten Gründen fi ndet man in den Produktionen von DEFA und DDR-Fernse- hen Phantastisches weit seltener. Wenn das oben Beschriebene zutrifft und das Phantastische geradezu als Antipode der offi ziellen Kulturpolitik gelten kann, ist das auch nicht verwunderlich. Film und Fernsehen wurden, stärker noch als die Verlage, von einer ganzen Reihe staatlicher Organisationen beobachtet, die Verfügung über Produktionsmittel und die Distribution war nur über kom- plexe Genehmigungsverfahren zu erreichen.36 Was nicht irgendwie als Form des sozialistischen Realismus gelten konnte, wurde von vorneherein rigoros ausge- sondert und als Ausdruck bürgerlicher Einstellung gebrandmarkt. Ein vernichten- des Urteil, denn die ästhetischen Entwicklungen westeuropäischen Films gelten grundsätzlich als Produkte des wirtschaftlichen Verwertungszwangs. Ich zitiere aus einem, so noch 1984 erschienenen Studienmaterial für Filmemacher heißt es: In der kapitalistischen Welt übernimmt in starkem Maße der Kunstmarkt die Manipulation von Künstlern und Werk [...]. So kommt es für viele Künstler darauf an, etwas Spektakuläres zu produzieren. Neu muß es sein um jeden Preis, von Horror bis Pornographie, vom hochstilisierten Nonsens - an Dada anknüpfend - bis zum technisch perfekten ‚Objekt’ [...]. Echte Anteilnahme an der Kunst kann unter diesen Umständen unter einem breiten Publikum nicht entstehen.37 Filme wie Peter Vogels Fernsehproduktion Leutnant Yorck von Wartenburg (1981), wo, ich zitiere „die Erzählweise des Films [...] durch die nahtlose Durchdringung von Realität und Wunschtraum“38 bestimmt ist, mußten vor der Produktion beson- ders legitimiert werden - hier über das Argument der Identifi kation: „wir wollen den Zuschauer über die Halluzinationen des Helden verführen, seinen Weg geistig und emotional mitzugehen.“39 Ich zitiere noch einmal aus den Produktionsakten: „Die Berechtigung, Yorck zum Helden zu machen, erwächst aus dem Kniff, der Vision, des Traumes - darin liegt zugleich auch der Realismus der Geschichte.“40 Ein bewundernswert tiefgründiger Kniff: Vogel verstößt gegen gleich zwei Kon- ventionen; er macht erstens einen Verschwörer des 20. Juli zur Hauptfi gur, er projektiert zweitens einen Film, in dem sich die gesamte Diegesis am Ende als Halluzination erweist und er legitimiert drittens das eine durch das andere. Wie durch einen Zaubertrick wird die ästhetische Induktion von Irritanz zu sozialis- tischem Realismus. Das Phantastische existiert also, und das auch in Film und Fernsehen der DDR. Es fi ndet sich, wo es um Inhalte geht, in der Regel unter dem Vorbehalt der ausdrücklichen Etikettierung: in Märchenfi lmen, als Schwank und in der 82 Geschichtsschreibung Science Fiction, die in der DDR den etwas paradoxen Namen wissenschaftliche Phantastik trug. Wie konsequent solche Etikettierung stattfi ndet, wird zuweilen schon im Titel deutlich, wenn man z.B. die beiden E.T.A.-Hoffmann-Verfi lmungen betrachtet, die das DDR-Fernsehen produziert hat: Aus Klein Zaches wird der Zauber um Zinnober, aus den Serapionsbrüdern werden Lach- und Liebesge- schichten aus dem alten Berlin.41 Als ästhetisches Mittel der Irritanzinduktion fi ndet sich das Phantastische verstärkt ab den späten 70er Jahren: in Produktionen wie Der Mittelstürmer verweigert das Paradies, im Polizeiruf Alptraum, in den Lem-Adaptionen Professor Tarantoga und ein seltsamer Gast und Der getreue Roboter. Ich möchte am Schluß auf einen DEFA-Film eingehen, der mir für die Subtilität des Phantastischen in den Bildmedien ganz typisch erscheint: Frank Beyers Karbid und Sauerampfer (1963). Der Plot dieses Films ist eigentlich recht einfach. Karl Blücher, Vegetarier, Nichtraucher und Junggeselle wird von in den ersten Nachkriegsmonaten zu Fuß von Dresden nach Wittenberge geschickt, um für den Wiederaufbau einer Zigarettenfabrik Karbid zu besorgen. Am Ziel, steht er mit sieben Fässern da, die er ohne eigenes Transportmittel nach Dres- den bringen muß. Nachdem Karl die Liebe von Karla, einer jungen Bäuerin gewonnen hat, zieht er weiter, um seinen Auftrag zu erfüllen, gerät dabei in eine außergewöhnliche Situation nach der anderen und kommt auf die abenteuerlichste Weise Stück für Stück voran. Er ist auf Pilzsuche im verminten Wald, verbringt hungrig eine Nacht unwissentlich in einem Lebensmitteldepot, pausiert bei der mannstollen Unternehmerswitwe Clara Himmel und begegnet vielen skurrilen und zwielichtigen Gestalten. Mehrmals von sowjetischen Besatzern festgenommen und wieder freigelassen, steigt er auf die ‚Wasserstraße’ um, landet auf dem Teil einer gesprengten Elbbrücke und klaut ein amerikanisches Motorboot. Durch einen Bluff kommt er schließlich an einen LKW und mit zwei Fässern Karbid in Dresden an. Ein ganz übliches, slapstick-durchsetztes Roadmovie, mit den genretypischen ästhetischen Effekten in Szene gesetzt. Hier ein Stoptrick, da ein Zeitraffer, jedoch nichts, das die Linearität der fi lmischen Narration durchbricht. Möchte man denken. Wäre da nicht eine weitere Bedeutungsebene, die auf den zweiten Blick den Plot implodieren läßt. Diese zweite Bedeutung wird durch ein visuelles Leitmotiv in allegorischer Funktion repräsentiert – den Spiegel. Am Anfang des Weges treffen sich, wie schon angedeutet, Karl und Karla. Sie verbringen eine Nacht mit- einander. Der Akt selbst ist ausgespart, den Morgen danach erlebt der Zuschauer jedoch - gefi lmt durch einen Spiegel, in dem verschwommen das Photo einer Frau sichtbar ist. Damit ist das Motiv eingeführt und in seiner Bedeutung markiert. Als Karl weiterzieht, bekommt er von Karla als Andenken wiederum einen Spiegel, auf dessen Rückseite sich ein Photo Karlas befi ndet. Das Geschenk wird von Karla mit einem „Wenn Du hineinschaust, siehst Du mich“ kommentiert. Dies ist aber falsch oder zumindest irritierend, denn wenn Karl in den Spiegel schaut, sieht er gerade nicht Karla, sondern sich selbst; und es ist eigentlich der Zuschauer, der Geschichtsschreibung 83 Karla zu Gesicht bekommt. Würde der Spiegel umgedreht und Karl tatsächlich Karla betrachten, folgte in der Logik dieser Metapher hieraus die Refl exion des Zuschauers im Spiegel. Eine solche Irritation des kinematographischen Dispositivs fi ndet im Film nie statt und bleibt als Möglichkeit rein virtuell, so daß, nüchtern betrachtet, die Spiegelszenen wohl hauptsächlich eine zusätzliche Identifi kation des Zuschauers mit der Hauptfi gur intendieren. Schon das ist aber brisant genug, weil die wiederholte Figur des In-den-Spie- gel-Schauens immer wieder in Erinnerung bringt, daß Karla, das nunmehr eigent- liche Ziel von Blüchers Reise, sich mit der Annäherung an das ursprüngliche Ziel Dresden immer weiter entfernt. Ausgangspunkt und Ziel der Reise sind auf eigentümliche Weise vertauscht, was nicht zuletzt daran deutlich wird, daß Karl, als er Dresden erreicht, kaum Bestätigung, dafür aber ein Bündel Briefe von Karla fi ndet. Er bricht daraufhin erneut nach Wittenberge auf. Der Film endet mit einer weichen Blende, in der Karl verschwindet. Dieser Film ist gerade deshalb exemplarisch, weil das Phantastische im Film aus den oben beschriebenen Gründen eben nicht offen und ostentativ sein darf: Seine Strategie scheint vielmehr zu sein, das Reale aus einem irritierenden Detail heraus zu beschädigen. Man könnte hieraus folgenden, noch höchst spekulativen Gedankengang entwickeln: Geht man von einer vorgängigen Kohärenzerwartung des Zuschauers aus - einem willing suspension of disbelief - könnte man ein Zwei- Ebenen-Modell fi lmischer Rezeption entwickeln: Das hieße, den naiven Blick von einem refl ektierteren zu unterscheiden.42 Dieses Modell mündet aus der Innensicht kultureller Kontrolle in die Strategie, inhaltlich und ästhetisch an Nonkonformität zuzulassen, was dem naiven Blick vermutlich entgehen wird. Gesicherter erscheint folgendes: Die Deutlichkeit einer phantastisch zu nennen- den Ästhetik erscheint umgekehrt proportional zur Massivität medienpolitischer Restriktion. Als Äußerung bürgerlicher Dekadenz stigmatisiert, fi ndet sich das Phantastische trotzdem als mehr oder weniger deutlicher Bestandteil der gesamten Medienkultur. Und es entwickelt eine erhebliche Beschreibungskraft der gesell- schaftlichen Verhältnisse in der DDR. The truth is out there, eine Erkenntnis, zu der schließlich selbst Georg Lukács, der Hohepriester der Fabel, gefunden hat. Diesem gebürt hier, zitiert nach Raddatz, das letzte Wort: Nach nächtlicher Verhaftung in Budapest 1956, rasender Wagenfahrt mit verhängten Fenstern zu einem Militärfl ugplatz, Abfl ug in einer Maschine ohne Hoheitsabzeichen in ein unbekanntes Land und Ankunft in einer schloßartigen Villa an blinkendem Meeresstrand, in der er lebte, halb zeremoniös behandelter Staatsgast, halb Zuchthäusler, noch immer ohne Kenntnis, wo er sich überhaupt befand, sagte Georg Lukács: ‚Kafka war doch ein Realist.43 1 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M.: Fischer 1992. 2 Vgl. Danneberg, Lutz und Jörg Schönert: „Die Rezeption der Rezeptionsästhetik in der DDR. Wissenschaftswandel unter den Bedingungen des sozialistischen Systems.“ In: Knapp, Gerhard, Gerd Labroisse (Hg.): 1945-1995. Fünfzig Jahre deutschsprachige Literatur in Aspekten. Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1995, S. 643-702. 84 Geschichtsschreibung 3 Arnoldow, Arnold I.: Kultur im entwickelten Sozialismus. Hanke, Helmut; u.a. (Hg): Weltanschau- ung heute. Bd. 2. Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1975, S. 11. 4 Vgl. etwa Berger, Peter: „Entwurf vom künftigen Menschen.“ In: Prisma. Kino- und Fernsehal- manach 2, 1971, S. 86-93. 5 Arnoldow: Kultur im entwickelten Sozialismus, S. 21. 6 Ebd., S. 17. Vgl. auch Kamschalow, Alexander: „Der dramatische Konfl ikt und der Held im Gegen- wartsfi lm.“ In: Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft 5, 1984, S. 5-26. 7 Und das ausgerechnet in dem Jahr, in dem das Zensurverbot aus der Verfassung gestrichen wurde. Zitiert nach Thiele, Eckhard: „Schöne neue Welt wird Geschichte. Strategien der Entsinnlichung.“ In: Text und Kritik 109, 1990, S. 76-85, hier S. 76. Für die Anregung danke ich Thomas Beutelschmidt. Der Artikel 27 der Verfassung der DDR garantierte zwar „die Freiheit der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens“, allerdings war dieses Recht wesentlich als Recht der Artikulation gegen „Sub- jektivismus und Egoismus, gegen die imperialistische Ideologie und Moral“ (Haney, Gerhard: „Das Recht der Bürger und die Entfaltung der sozialistischen Persönlichkeit.“ In: STuR 1962, S. 1072) defi niert. Vgl. das Gesetzesblatt der DDR Teil 1, Nr. 47 vom 27. September 1974 sowie Mampel, Siegfried: Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Frankfurt a. M.: Alfred Metzner 1982, S. 703-713. 8 Vgl. hierfür Freund, Winfried: Deutsche Phantastik. Die phantastische deutsche Literatur von Goethe bis zur Gegenwart. München: Fink 1999, S. 10 sowie Broß, Thomas: Literarische Phantastik und Postmoderne. Zu Funktion, Bedeutung und Entwicklung von phantastischer Unschlüssigkeit im 20. Jahrhundert Dissertation. Gesamthochschule Essen 1996, S. 37ff. 9 Vgl. Vax, Louis: „Die Phantastik“. In: Phaicon 1, 1974, S. 11-43, hier S. 12, 16f. 10 Vgl. Callois, Roger: „Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction.“ In: Phaicon 1, 1974, S. 44-82. 11 Todorov, Tzetvan: Einführung in die fantastische Literatur. München: Ullstein 1972, S. 25f. 12 Gustafsson, Lars: „Über das Phantastische in der Literatur.“ In: Kursbuch 15 (1968), S. 104-116, hier S. 113. 13 Ebd., S. 115. 14 Zondergeld, Rein A.: „Zwei Versuche der Befreiung. Phantastische und erotische Literatur.“ In: Phaicon 2, 1975, S. 64-69, hier S. 68. 15 Vgl. Freud, Sigmund: „Das Unheimliche.“ In: Freud, Sigmund: Studienausgabe. Bd. 4. Frankfurt a. M.: Fischer 1969, S. 241-274 und den Überblick in Cersowski, Peter: „Was ist phantastische Literatur? Überlegungen zu ihrer Theorie.“ In: Freund, Winfried u.a. (Hg.): Der Demiurg ist ein Zwitter. Alfred Kubin und die deutschsprachige Phantastik. München: Fink 1999, S. 11-22. 16 Am deutlichsten wird Eagleton, Terry: Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S. 138ff 17 Zondergeld: „Zwei Versuche der Befreiung“, S. 64-69, hier 66f. 18 Freund, Winfried: „Von der Aggression zur Angst.“ In: Phaicon 3, 1978, S. 9-31, hier S. 16. 19 Hager, Kurt: „Zu Fragen der Kulturpolitik der SED. Referat auf der 6. Tagung des ZK der SED am 6. Juli 1972.“ In: Hager, Kurt: Beiträge zur Kulturpolitik. Reden und Aufsätze 1972-1981. Berlin: Dietz 1981, S. 7-77, hier S. 34 20 Ulbricht, Walter: „II. Bitterfelder Konferenz.“ In: Neues Deutschland, 28.4.1964. 21 Auch die Existenz dieser Gattungen war jedoch keineswegs unumstritten und ist wiederholt und heftig diskutiert worden. Vgl. hierfür (in alphabetischer Reihenfolge) Brandis, Jewgeni: „Die wissenschaftliche Phantastik und der Mensch von heute.“ In: Kunst und Literatur 5, 1978, S. 495-518; Ebert, Günter: „Künstlerisch - aber mit mehr Wissen. Wie müssen Zukunftsromane sein?“ In: Sonntag 53, 1976, S. 10; Eichler, Gerhard: „Kein Perpetuum Mobile.“ In: Sonntag 45, 1962, S. 11; Entner, Heinz: „Mauserung einer Gattung. Utopische Literatur eines Jahrzehnts.“ In: Neue Deutsche Literatur 12, 1976, S. 137-153; Förster, Werner: „Die großen Reserven. Anmerkungen zur literarischen Phantastik der letzten Jahre.“ In: Neue Deutsche Literatur 31, 1983, S. 146-150; Hauswald, Gerd: „Propheten dringend gesucht. Eine Betrachtung über den Zukunftsroman.“ In: Sonntag 52, 1957, S. 8; Krauss, Werner: „Geist und Wiedergeburt der Utopien.“ In: Sinn und Form 5/6, 1962, S. 769-799; Rasch, Carlos: „Die Utopie ein Zauberspiegel. Über die Situation in der Zukunftsbelletristik.“ In: Sonntag 38, 1972, S. 3f.; Redlin, Ekkehard: „Atemlose Spannung und technische Abenteuer? Neues in der utopischen Literatur.“ In: Börsenblatt für den Deutschen Buch- handel 7, 1974, S. 101-141; Zschocke, Gerda: „Beweis des Möglichen durch das Unmögliche.“ In: Sonntag 1, 1978, S. 12. 22 Žižek, Slavoj: Die Pest der Phantasmen. Die Effi zienz des Phantasmatischen in den neuen Medien. Wien: Passagen 1997, S. 13f. 23 Kunert, Günter: Auf Abwegen und andere Verirrungen. München: Hanser 1988. Geschichtsschreibung 85 24 Eine instruktive Einführung in den Kontext bietet Durzak, Manfred: „Die Widerstandskraft der Literatur.“ In: Durzak, Manfred und Hartmut Steinecke (Hg.): Günter Kunert. Beiträge zu seinem Werk. München: Hanser 1992, S. 190-215. 25 Kunert, Günter: „Bericht des Zensors über die Begegnung mit einem gewissen G.“ In: Kunert, Günter: Auf Abwegen und andere Verirrungen. München: Hanser 1988, S. 138-153. 26 Ebd., S. 138. 27 Ebd., S. 139. 28 Durzak: „Die Widerstandskraft der Literatur“, S. 199. 29 Kunert: „Bericht des Zensors“, S. 140. 30 Ebd., S. 141. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 151. 33 Žižek: Die Pest der Phantasmen, S. 14. 34 Vgl. Anm. 7. 35 Heidtmann, Horst: Utopisch-phantastische Literatur in der DDR. Untersuchungen zur Entwicklung eines unterhaltungsliterarischen Genres von 1945-1979. München: Fink 1982. 36 Vgl. Beutelschmidt, Thomas: Sozialistische Audiovision. Zur Geschichte der Medienkultur in der DDR. Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg 1995. 37 Brehme, Helga: „Übersicht über die Stilepochen der Kunst.“ In: Aus Theorie und Praxis des Films, 14, 1984, S. 5-83, hier S. 78f. 38 Vogel, Peter: Produktionsakten zu ‚Leutnant Yorck von Wartenburg’. Potsdam: Deutsches Rund- funkarchiv (DRA), ohne Signatur, 15.9.1980. 39 Ebd. 40 Vogel, Peter: Leutnant Yorck von Wartenburg. Konzeption zur Inszenierung. Potsdam: DRA, ohne Signatur, 4.8.1980. 41 Außerdem war das erste Fernsehspiel des DDR-Fernsehens überhaupt am 22. Januar 1953 eine Szene aus Des Vetters Eckfenster. Leider ist es, wie die meisten Produktionen aus der Frühzeit, mangels Aufzeichnungsmöglichkeit nicht erhalten. Spärliche Auskunft gibt lediglich: Müncheberg, Hans: Blaues Wunder aus Adlershof. Der Deutsche Fernsehfunk - Erlebtes und Gesammeltes. Berlin: Das Neue Berlin 2000, S. 26f 42 Anregungen dazu gibt bereits Bordwell, David: Narration in the Fiction Film. London: Routledge 1985. Naiv ist hier nicht abwertend, sondern kennzeichnet die unmarkierte Form von Alltagsrezep- tion. 43 Raddatz, Fritz J.: Lukács in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek: Rowohlt 1972, S. 113f. 86 Geschichtsschreibung Jan Distelmeyer Vom auteur zum Kulturprodukt Entwurf einer kontextorientierten Werkgeschichtsschreibung I. Wer etwas in die Formel „von ... zu...“ einkleidet, will von einer Reise erzählen. Oder von einem Weg zwischen Zweierlei, bei dem es weniger auf die Ausgangs- oder Zielpunkte ankommt als vielmehr auf das Dazwischen, auf die Bewegung selbst. Die Bewegung, die hier gemeint ist, führt vom Konzept des auteur1 zum Kulturprodukt: Eine Art Wegbeschreibung von der Annahme des Filmkünstlers mit der eigenen Handschrift eines „ultimate creator“2 in der Filmindustrie hin zum Ergebnis unterschiedlicher Kräfte.3 Anstelle eines fi xierten Standpunktes, aus dem dann so etwas wie Sicherheit erwächst und von dem aus Autorität im Sinne der Akkumulation von symbolischem Kapital verliehen und gewonnen wird, werde ich also einen Prozeß vorstellen. Das Folgende stellt einen knappen Umriß meiner Dissertation dar, die ich unter dem Titel Vom Licht des Ich zur Wiedergeburt der Geschichte: Entwurf einer kontextorientierten Werkanalyse am Beispiel von Oliver Stone 2002 fertiggestellt habe. Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist ein Widerspruch, der die Frage nach der Autorenschaft im Kino bis heute begleitet. Ich möchte ein Beispiel geben: Vor wenigen Jahren besuchte ich ein Seminar der Universität Hamburg, das sich mit feministischer Filmtheorie beschäftigte. Eine der Grundlagen der darunter gefassten Ansätze ist die Abkehr von der auktorialen Analyse, von dem bloßen Nachspüren der Intentionen eines vermeintlich verantwortlichen Künstlers, um stattdessen andere Zusammenhänge zu diskutieren: zum Beispiel subjekt- und gesellschaftskonstitutive Elemente im fi lmischen Text, bzw. im fi lmischen Apparat. Der von Roland Barthes provokativ ausgerufene Tod des Autors - oder mit Michel Foucault: das Verschwinden des Autors - gehörte zu den Grundüberzeugungen, mit denen wir die Texte von Laura Mulvey, Mary-Ann Doane oder Kaja Silverman lasen, um u.a. ‚das Unbewußte des fi lmischen Tex- tes’ zu analysieren. Hegemoniale Muster der geschlechtlichen Rollenverteilung und gängige Identifi kationsangebote - diese und weitere Aspekte waren wichtige Zielpunkten dieser Analysen. Film gab so Auskunft über wesentlich mehr als nur den Regisseur oder die Regisseurin. Umso bemerkenswerter war es, dass man sich - und ich gehörte dazu - direkt nach Seminarende unverdrossen mit Freunden über den letzten Martin Scorsese-Film unterhielt. Oder man traf Verabredungen wie „Wollen wir noch ins Kino?“ - „Ja, wie wär’s mit dem neuen Woody Allen?“ - „Ach nein, dann schon lieber in’s Metropolis, da läuft eine Visconti-Reihe.“ Einerseits also war der Autor „tot“ oder „verschwunden“ - andererseits war er quasi nach Diskurs-Feierabend außerordentlich lebendig. Ich möchte diesen Widerspruch allgemeiner fassen: Auch wenn wir die autorenpolitische Reduktion auf das Schöpfer-Subjekt theoretisch ablehnen mögen, müssen wir uns dennoch mit der Präsenz des auteur sowie der damit verbundenen Filmrezeption und Geschichtsschreibung 87 -vermarktung auseinandersetzen, die sich auch in unsere eigene Filmwahrneh- mung eingeschrieben hat. Derzeit stehen derart viele Namen zur Disposition, ein auteur zu sein und als solcher rezipiert/verkauft zu werden (empfohlen sei hier ein Besuch der Internet-Seite www.auteur.de), dass sich die Filmwissenschaft diesem Phänomen stellen muß, wenn sie nicht an den realen Verhältnissen vorbei arbeiten will. Das Frage ist nun, wie das geschehen kann. II. Auf der Suche nach einer Antwort weitet sich dieser Widerspruch erst einmal vor den Augen der Suchenden aus. In der Filmwissenschaft hat er für einen regelrech- ten Bruch gesorgt zwischen der Filmtheorie auf der einen und den akademischen Werkanalysen auf der anderen Seite. Einerseits ist vor allem seit den 60er Jahren immer wieder massive und luzide Kritik am auteurism, an der Autorenpolitik, geübt worden. Frühe Kritiker sahen die Fokussierung auf den Regisseur und die „purity of personal expression“4 als Verkennung der industriellen Zusammenhänge an und bezeichneten sie als - wie Andrew Sarris 1962 schrieb - einen Mythos der Lehrbücher.5 Eine andere Kritik- Richtung hob auf das zugrunde liegende Subjekt-Verständnis eines kohärenten, autarken und selbstbestimmten Individuums ab, das sich ebenso unbeeinträchtigt seinem Publikum mitteile, welches sich gleichfalls aus derartig kohärenten Sub- jekten konstituiere. Hier wurde vor allem in den 70er und 80er Jahren aus der poststrukturalistischen und an Lacan und Althusser orientierten Perspektive die theoretische Grundlage des auteurism im Kern angegriffen. Eine der jüngeren Widersprüche gegen eine auteur-Orientierung und die impli- zite Annahme einer immanenten, vom Schöpfer nahezu festgelegten Bedeutung, besteht schließlich in der historisch-materialistischen Rezeptionsanalyse, wie sie in den neunziger Jahren von Janet Staiger6, Barbara Klinger7 und Richard Maltby8 vorgeführt worden ist. Sie zeigen, dass Bedeutung eine variable Größe ist: Ein postfi lmic event, der nicht eindeutig vom Regisseur und anderen Verantwortlichen intendiert und kontrolliert werden kann, sondern sich mit dem historischen und kulturellen Umfeld seines Publikums verändert. Diese exemplarisch herausgehobenen drei Kritikstränge bilden jedoch nur die eine Seite. Denn wenngleich in den letzten Jahrzehnten die Filmtheorie andere Wege jenseits auktorialer Intentions- und Einfl ußforschung einschlug, so lebt der auteur dennoch weiter. Nicht nur jedoch in den Diskursen, die sich im Rah- men theoriehistorischer Rückblicke bewegen oder in dem von Timothy Corrigan angeregten Ansatz, den „commerce of auteurism“9, den auteurism als industrielle und kommerzielle Strategie zu untersuchen. Darüber hinaus ist der auteurism wesentlich mächtiger und auf weniger refl ektierte Weise in der in der Werkanalyse wirksam. Wie zahlreiche jüngere und aktuelle Werkmonographien (gerade auch in der theoretisch so innovativen und einfl ußreichen englischsprachigen Filmwissen- schaft) belegen, sind die Grundzüge der politique des auteurs genau dann von kaum geminderter Bedeutung, wenn es um die Analyse eines Gesamtwerks geht. 88 Geschichtsschreibung Sobald also das Œuvre eines Regisseurs Gegenstand einer Untersuchung ist, so ließe sich verkürzt sagen, wird derzeit immer wieder der autorenpolitische Ansatz reaktiviert. Beispiele für die ansteigende Präsenz dieses Phänomens, das Courtney Lehmann Ende 2000 „the new auteurism“10 genannt hat, sind u.a. Kay Kirchmanns Stanley Kubrick - Das Schweigen der Bilder11, die von Marcus Stiglegger im Jahr 2000 herausgegebene Aufsatzsammlung Splitter im Gewebe: Filmemacher zwischen Autorenfi lm und Mainstreamkino12, Lawrence Friedmans The Cinema of Martin Scorsese13 von 1997, der 1996 erschienene Reader Howard Hawks. Ameri- can Artist14, Sumiko Higashis Studie Cecil B. DeMille and American Culture15 und Tom Gunnings 2000 veröffentlichte Werkmonographie The Films of Fritz Lang: Allegories of Vision and Modernity16. Bereits Mitte der neunziger Jahre haben Richard Maltby und Ian Craven zu diesem Phänomen bemerkt: „Hardly any academic critic, would now call himself or herself an auteurist. Nevertheless, the great majority of academic criticism continues to be written as if the director could be named as the author of the text […].“17 III. Dieses Phänomen der Widerständigkeit und gegenwärtigen Renaissance des auteu- rism wäre jedoch nur halb so interessant, würde es sich auf die Wissenschaft beschränken. Tatsächlich aber wirkt auch in der deutschen und englischsprachigen Filmkritik die Tradition, den Namen bestimmter Regisseure mit der Filmbedeu- tung ihrer Filme kurzzuschließen. Hier hat sich eine weitgehend ungebrochene Übernahme des auteurism durchgesetzt und prägt derzeit Kritiken, Portraits und Interviews. Zu den bereits seit Jahren als individuelle Filmkünstler kanonisch abgesegneten Instanzen wie z.B. David Lynch, Woody Allen, Martin Scorsese, Peter Greenaway, Pedro Aldomovar und Quentin Tarantino gesellen sich ständig weitere Namen wie etwa Ang Lee, David Fincher, Wong Kar-Wei, Spike Jonze und jüngst Wes Anderson. Der japanische Regisseur Takashi Miike wird als „Regisseur zwischen Auteur und Trash-Zeremonienmeister“18 verhandelt, Johnnie To als neuer „Action-Auteur des asiatischen Kinos“19 entdeckt und nach Steven Soderberghs Comeback erscheint einer seiner frühen Filme „als der unbeholfene Gehversuch eines ‚Auteur’, der eigentlich gar kein ‚Auteur’ sein will“20. Um den hierzulande weitgehend unbekannten japanischen Regisseur Hayao Miyazaki zu ehren, wird er als „Kurosawa des Animationsfi lms“21 und als von Hollywood- Stars verehrter „Anime-Auteur“22 vorgestellt. Der auteur ist nicht nur eine Kategorie akademischer Werkanalysen, sondern ebenso bis heute ein Adelstitel der Filmkritik. Exemplarisch für diese Verbindung von Filmkritik und Filmwissenschaft in der Erklärung der Filmbedeutung durch das Filmemacher-Subjekt schrieb der Filmwissenschaftler und Filmkritiker Nor- bert Grob vor drei Jahren in seinem Plädoyer für die auteur-Theorie: Die Frage ist nun, warum überhaupt das Beharren auf dem Begriff des Auteur, wenn der für die alltägliche Arbeit des Kritikers kaum eine Erleich- terung, sondern eher eine weitere Erschwernis darstellt. Meine Antwort darauf, so einfach wie naheliegend: Es ist eine notwendige Voraussetzung, um überhaupt zu verstehen, warum ein Film so und nicht anders ist.23 Geschichtsschreibung 89 In diesem Sinne also existiert eine erstaunliche und durchaus problematische Übereinstimmung zwischen Filmwissenschaft und Filmkritik. Erstaunlich und problematisch deshalb, weil damit die Grundzüge der Vermarktungsstrategie der Filmindustrie, die etwa „das neue Meisterwerk von Quentin Tarantino“, den „neuen Film vom Regisseur von Blue Velvet und Wild At Heart“ oder die „Fern- sehehserie von James Cameron“ anpreist, nahezu widerstandslos auch in Kritik und Wissenschaft transportiert werden. Das beste Beispiel für diese Übereinstimmung und auch für die grundlegenden Probleme derselben scheint mir die Rezeption des Hollywood-Regisseurs Oliver Stone zu sein. Ich möchte hier nicht die ganzen Schlagwörter wiedergeben, mit denen Oliver Stone zu Platoon, Wall Street, The Doors, JFK, Naturel Born Killers oder Nixon bedacht worden ist. Nur ein paar Zitate sollen das Bild umreißen, das durch akademische Werkmonographien und Filmkritiken erstaunlich rund und eintönig gezeichnet wird: Oliver Stone ist „der Regiestar“24, der „screen auteur“25, dessen Filme nicht nur über eine bestimmte Handschrift als Oliver-Stone-Filme zu erkennen seien, sondern der zugleich in seinen Filmen ein dezidiertes Anliegen formuliere: Exemplarisch für jene Sicht auf die Filme Oliver Stones als komplexe, Verstärker der Haltung ihres Regisseurs schreibt Frank Beaver in seiner Werk- monographie Oliver Stone: Wakeup Cinema, Stone sei ein „unique director with an evolved ‚mission’, that is, fi lmmaking dedicated to what in time he would refer to as ‚wakeup cinema’.“26 Unterstützt wird dieser Blick auf das Regisseur- Individuum, das mit seinen Filmen eine selbstgewählte Mission verfolge, durch Norman Kagan, der in seiner Werkmonographie The Cinema of Oliver Stone auf dessen Sonderstellung im Filmgeschäft verweist: „Stone is almost alone as a Hollywood fi lmmaker confronting and exploring with some realism serious social and political issues.“27 Susan Mackey-Kallis bezeichnet Stone in ihrer Werkanalyse Oliver Stone’s America: „Dreaming the Myth Outward“, als „crusader for his version of the truth“28. Das Schwert dieses ‚Kreuzritters’ aus Hollywood bestehe dabei aus einer ambitionierten Fusion aus Propaganda und Unterhaltung. Ganz ähnlich spricht Marcus Stiglegger in seiner Werkanalyse „Ein Auge für die Weisheit. Die fi lmischen Demonstrationen von Oliver Stone“ von der Mission des fi lmender Heilers - Stones Funktion gleiche der eines „archaischen Schamanen“29, der von Stiglegger als „Heiler und Chronist seiner Gesellschaft“30 defi niert wird. Die Mission Oliver Stones erscheint dadurch als eben jenes Aufwecken, von dem Beaver mit seinem Titel des wakeup cinema spricht und das Kagan als die ‚Konfrontation mit ernsten sozialen und politischen Themen’ bezeichnet. Womit wir es dieser Ansicht nach bei den Filmen von Oliver Stone zu tun haben, sind persönliche, politische Statements zur Lage der amerikanischen Nation. State- ments, Geschichten, die autobiographische Züge tragen: Denn Stones Filme, so heißt es, seien nicht nur persönlich, sondern auch biographisch motiviert und seine Protagonisten in der Regel Alter Egos des Filmemachers. Der Vietnamkrieg, auch darüber herrscht Konsens, nehme dabei die entscheidende Stellung ein: 90 Geschichtsschreibung Stones Filme sind politische Filme. Seit der Sohn eines jüdischen Börsenmaklers und einer französischen Katholikin als 21jähriger in Viet- nam verwundet wurde, dreht sich sein ganzes Denken und Schaffen um Mechanismen amerikanischer Politik und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft. Verbunden mit Stones Vorliebe für umstrittene, einsame und unpopuläre Helden summieren sich seine Filme allmählich zu einer Art subjektiver Anthologie der Ursachen und Verursacher jener Misere, unter der Amerika heute leidet.31 IV. Diese historiographische Verzahnung von Leben und Werk macht Oliver Stone zu einem Musterbeispiel jenes Typus auteur, der nicht nur an bestimmten Motiven und fi lmästhetischen Merkmalen erkannt wird, sondern dessen Biographie sich direkt in seine Filme einzuschreiben scheint und aus ihnen herausgelesen wird. Während Regiestars wie Wes Craven und John Woo eher formal und motivisch identifi ziert werden, wird Stone zu jenen Kino-Autoren gezählt, die wie Martin Scorsese und Steven Spielberg ihre eigene Geschichte in das Kino hinein zu tragen scheinen.32 „In his own story“, schreibt Don Kunz über Stone, „the auteur sees the story of his generation; anadolescent rebel’s quest for social reform and personal redemption continued into adult political life has become part of Stone’s cinematic signature.“33 Und Gavin Smith führt aus: „In a sense his movies are all about Oliver - his angst, his anger, his turmoil, his love, hopes and fears given free reign.“34 Der akademische und fi lmkritische Diskurs zu Oliver Stone prädestiniert folg- lich gerade diesen Filmemacher dazu, an ihm paradigamatisch eine Werkmono- graphie zu entwickeln, die einerseits dem auteurism antwortet und die andererseits refl ektiert, wie sehr diese Theorietradition die Filmwissenschaft, die Filmkritik und auch die Filmvermarktung prägt. Das Konzept der kontextbestimmten Werk- monographie, das ich im Folgenden skizzieren werde, ist zugleich die Antwort auf den persönlich erfahrenen Widerspruch, den ich zu Anfang geschildert habe: einerseits der auktorialen Analyse zutiefst skeptisch gegenüber zu stehen, sich andererseits aber doch aufgrund der persönlichen Filmsozialisation auf den neuen Martin Scorsese- oder Ken Loach-Film zu freuen. Der entscheidende Unterschied zwischen der kontextbestimmten Werkmono- graphie und einer auch im weiteren Sinne Regisseur-fi xierten Analyse in der Tradition des auteurism ist die Konzentration auf Zusammenhänge: Etwaige Ähnlichkeiten, Berührungspunkte und Differenzen zwischen den einzelnen Fil- men des Gesamtwerks werden hier nicht mit der Figur des Regisseurs und mit seiner Biographie verknüpft oder gar erklärt, sondern vor dem Hintergrund fi lm- historischer und kulturhistorischer Kontexte diskutiert. In diesem Punkte ist mein Verfahren der Diskursanalyse Michel Foucaults verwandt. Die Filme Oliver Stones werden demnach sowohl in ihren motivischen und fi lmästhetischen Beziehungen untereinander betrachtet als auch vor dem Hintergrund genrehistorischer Spezifi ka und dominanter Repräsentationsmuster in der US-amerikanischen Massenkultur. Geschichtsschreibung 91 Anstatt die einzelnen Filme anzubinden an die Figur des ultimate creator und damit die Bezugsmöglichkeiten zu minimieren, soll das Blickfeld erweitert wer- den. Es gilt, die Filme in Kontexte zu situieren, die andere Deutungen eröffnen als der Rekurs auf die Regisseurbiographie und -intention, die streng genommen stets dem verantwortlichen Künstler das letzte Wort lassen muß.35 Die kontextorientierte Werkanalyse bleibt im Hinblick auf Bezugsgrößen nicht auf das Werk beschränkt und geht schon gar nicht von einer prinzipiellen, kohärenten Geschlossenheit des Werkes aus. Zugleich ergeben sich die Kontexte, die ich in der Diskussion der Filme Oliver Stones berücksichtigt habe, keines- falls automatisch, sondern werden von mir gewählt, weil sie a) bislang im Stone- Diskurs eher vernachlässigt wurden und b) mir unverzichtbar erscheinen, wenn es um die Zusammenhänge von populärem Kino, seinen Bildern und Tönen und deren Verständlichkeit geht. Zwei theoretische Orientierungspunkte der Kon- textualisierung bilden dabei Rick Altmans Arbeiten zum Genre-Begriff sowie Stuart Halls Betrachtungen des Verhältnisses von Kultur, Stereotypen und Ideo- logie. Ich möchte u.a. nach den fi lmhistorischen Kontexten der jeweiligen Filme forschen und zugleich Repräsentationsmuster, dominante Fiktionen, innerhalb bestimmter Filme und Genres in ihren kulturhistorischen und ideologischen Zusammenhängen diskutieren. Der Rekurs auf Genres ist aus zwei Gründen für die Analyse der Filme Oliver Stones unverzichtbar: Erstens ist die Geschichte des Hollywood-Films untrennbar mit der Entwicklung unterschiedlicher Genres verbunden, und zweitens stehen alle Filme Oliver Stones in direkten Beziehungen zu bestimmten Hollywood- Genres: z.B. zum Thriller, zum Horrorfi lm, zum Roadmovie, zum Melodrama und zum Kriegsfi lm. Mit Rick Altman betrachte ich Genres - ebenso wie die Filmbedeutung - nicht als starre Größen, sondern untersuche die Beweglichkeit von Genres, ihren historischen Wandel, der an die wachsenden Möglichkeiten des Mediums und die Entwicklung von Publikumsmustern gekoppelt ist. Darüber hinaus ist es notwendig, Genres auch in einem anderen Punkt als relativ fl exibel zu betrachten: Sie sind keineswegs als strikt voneinander geschiedene Formen auf- zufassen, sondern üben gegenseitige Einfl üsse auf ihre jeweilige Entwicklung aus, die zu interdisziplinären Überschneidungen führen. Mit diesem genreorientierten Zugang lassen sich bislang unberücksichtigte Zusammenhänge und Widersprüche zwischen den Filmen Oliver Stones entdecken, die nicht zuletzt in bezug zum „postklassischen Kino“36 gesetzt werden können. Während Altmans „genre theory“37 weitgehend bekannt und akzeptiert ist, möchte ich an dieser Stelle kurz auf den weitaus umstritteneren Begriff der Ideo- logie eingehen. Zu den Kontexten, in denen Filme entstehen und rezipiert werden, gehört auch ein kultureller Rahmen, der als ideologische Bedingungen wirkt - als Bedingungen, die, vereinfacht gesagt, unser Verständnis der Welt und ihrer Erscheinungen (auch im Kino) zu organisieren helfen. Sichtbar wird Ideologie z.B. durch dominante Fiktionen, durch Repräsentationsmuster, die in besonderem Maße in Produkten der Populärkultur wie dem Hollywoodfi lm erkennbar sind. Um 92 Geschichtsschreibung über das fi lmische Produkt in seinen kulturellen Bezügen sprechen zu können, ist es insofern notwendig, die Analyse für diese Fiktionen zu sensibilisieren, die uns als Interpretations- und Bedeutungsangebote begegnen. Demnach ist Ideologie kein Extrakt, das vermittelt über kulturelle Produkte seine eindeutigen Effekte auf das Publikum hätte. Vielmehr ist Ideologie auch eine der Bedingungen, unter denen das Publikum das jeweilige Produkt aktiv benutzt. In diesem Sinne ver- wendet Stuart Hall in Anlehnung an Antonio Gramsci den Ideologie-Begriff, um sich damit „auf solche Bilder, Konzepte und Prämissen zu beziehen, durch die wir bestimmte Aspekte des gesellschaftlichen Lebens darstellen, interpretieren, verstehen und ihnen einen Sinn geben.“38 Zusammenfassend liegt der Grundgedanke einer kontextbestimmten Wer- kanalyse darin, stärker von und mit Filmen zu sprechen als von dahinter fest ruhenden Größen. Es geht um ein Nebeneinanderstellen, um ein Herstellen von Beziehungen und damit letztlich also um eine Form von Montage: Eine Montage, die mit Filmen arbeitet, mit fi lmhistorischen Kontexten und mit Zusammenhängen innerhalb der Massen- und Populärkultur, zu denen Ideologie ebenso gehört wie konkrete Stereotypen als „ordering concepts“39. V. Dabei drängt sich jedoch eine entscheidende Frage auf: Wie überhaupt kann denn von einem Gesamtwerk, einem Œuvre gesprochen werden, ohne anzunehmen, dieses Œuvre sei von dem Erzeuger des Werks geschaffen? Liegt hier nicht ein grundlegender Widerspruch vor? Oder anders gefragt: Wie kann ich von einem fi lmischen Gesamtwerk sprechen, ohne automatisch den Fokus auf seinen Regis- seur zu richten, der ein Gesamtwerk ja erst als ein solches konstituiert? Zur Beantwortung dieser Frage scheint mir eine terminologische Spezifi zierung not- wendig. Die Entwicklung der Filmwissenschaft ist eng mit literaturwissenschaftlichen Modellen, Konzepten und Termini verknüpft. Wie Greame Turner gezeigt hat, besitzt die politique des auteurs einen besonderen Stellenwert in dieser Tradition des ungleichen Abhängigkeitsverhältnisses von Film- und Literaturtheorie. Der Rekurs auf literaturwissenschaftliche Ansätze und Denkmuster sicherte der ver- gleichsweise jungen Filmtheorie die Akzeptanz im Sinne akademischer Traditio- nen: Hatte die theoretische Beschäftigung mit Film bis zum Aufkommen der Autorenpolitik eher als Disziplin einzelner „Amateure“ gegolten, so bedeutete der Einfl uß der politique des auteurs den Beginn einer neuen Wissenschaftlichkeit.40 Die Abhängigkeit der Filmwissenschaft von der Literatur- und der Sprach- wissenschaft setzte sich auch in den Filmtheorien fort, die in den siebziger Jah- ren in Europa entwickelt wurden. Die frühen Arbeiten von Christian Metz zur Semiologie des Films und Umberto Ecos Theorien zur Filmsemiotik seien hier als zwei der prominentesten Beispiele genannt, die sich mit einer Strukturierung der Filmsprache und des fi lmischen Codes befaßt haben. Das offensichtlichste Beispiel des Einfl usses literaturtheoretischer Kategorien ist der Begriff des fi lmic text. Bis heute ist das Verfahren, Filme als Texte zu begreifen, eine feste Größe fi lmwissenschaftlicher Analysemodelle. Geschichtsschreibung 93 Angesichts der Vielzahl der möglichen Defi nitionen des Textbegriffs in der Geschichte der Literaturtheorie und in Anbetracht der wesentlichen Unterschiede zwischen dem Lesen eines literarischen Textes und der audiovisuellen Wahrneh- mung eines Films, erscheint es mir sinnvoll einen anderen Begriff der Rede vom fi lmic text vorzuziehen. Ich möchte daher nicht vom Film als Text, sondern vom Film als Produkt sprechen. Im Gegensatz zum Textbegriff, wie er beispielsweise in der phänomenologischen Literaturkritik verwandt wird, grenzt sich meine Defi ni- tion des Produktbegriffs in dreifacher Weise von der Annahme einer immanenten, bzw. vom Autor intendierten Bedeutung ab. Erstens verweist er auf die industri- ellen Produktions- und Distributionszusammenhänge (z.B. beim Hollywood-Film) sowie auf den synkretistischen Charakter des Mediums. Film wird als Produkt einer Vielzahl Beteiligter und als Ware einer Industrie verstanden. Zweitens ist der Terminus Produkt ebenso hinsichtlich der gesellschaftlichen, fi lm- und kul- turhistorischen Bezüge zu verstehen. Film wird demnach zweitens als Produkt seines sozialen, politischen, medialen und kulturellen Umfeldes begriffen. Drittens deutet der Produkt-Begriff auch auf die interpretatorische Rolle des Publikums, bzw. der Analysierenden hin. Film und seine Bedeutung können also in einem dritten Schritt als Produkt der Rezeption betrachtet werden. Der Schritt vom Text- zum Produktbegriff ist dabei auch ein strategischer, der einem stärkeren Bewußtsein der Redeweisen über Film zuarbeiten soll. Keines- wegs soll aber der Eindruck erweckt werden, die Rede vom Produkt sei überhaupt nicht vereinbar mit Defi nitionen des Textbegriffs. Denn diese kontextorientierte Sicht auf den Film als Produkt korrespondiert durchaus mit einem Textverständnis, das als Folge des linguistic turn durch strukturalistische, semiotische und post- strukturalistische Einfl üsse zur Grundlage von z.B. Analysen im Rahmen der Cultural Studies geworden ist. Ausgehend von diesen Schwerpunkten bei der Rede von fi lmischen Produk- ten lässt sich so auch vom Gesamtwerk als einem Produkt sprechen. Hinter mei- ner Analyse des Œuvres von Oliver Stone steht demnach nicht die Annahme eines wirkenden, Einheit erzeugenden Schöpfers, sondern die Erkenntnis, dass in der Filmindustrie und im fi lmkritischen und fi lmwissenschaftlichen Diskurs ein bestimmter Korpus an Filmen als Œuvre - in diesem Fall als Oliver-Stone-Filme - geformt, verkauft und diskutiert wird. Sofern hier also vom Œuvre Oliver Stones und von Oliver-Stone-Filmen gesprochen wird, ist dies im materialistischen Sinne des Produktbegriffs zu verstehen. Der Name Oliver Stone fungiert hier somit als ein seit Mitte der 80er Jahre wirksam benutztes Markenzeichen, das ich mit dem Begriff „Etikett” fassen möchte. VI. Davon ausgehend arbeitet die kontextorientierte Werkanalyse in drei Schritten. Der erste gilt der bereits angesprochenen Analyse der einzelnen Filme, bei der im Besonderen fi lm-, genre- und kulturhistorische Kontexte berücksichtigt und den bisherigen Erkenntnissen der Werkgeschichtsschreibung zu Oliver Stone gegenüber gestellt werden. Dominante Fiktionen werden dabei nicht nur in den Filmen selbst sichtbar, sondern auch in den sie verhandelnden Diskursen. 94 Geschichtsschreibung Ich möchte ein kurzes Beispiel geben: Die in den akademischen Werkanalysen durchgesetzte Erkenntnis, Platoon stelle einen Paradigmenwechsel innerhalb des Vietnamkriegsfi lms dar, weil Stone mit seiner eigenem „handheld-camera- style“41 seine persönlichen Erfahrungen in Vietnam verarbeitet habe, erweist sich bei genauerem Hinsehen keineswegs als schlüssig und verweist als redundantes Ergebnis zu diesem „autobiographical fi lm“42 auf die eingeschränkte Perspektive des auteurism.43 Die Inszenierung des Krieges durch einen qua Handkamera und rough cuts erzielten Gestus von Konfusion und persönlicher Beteiligung hat vielmehr mit bereits präsenten Bildern, mit dominanten Fiktionen zu tun. Um die Traditionslinie der Repräsentation des Vietnamkriegs zu erkennen, in der Platoon steht, gilt es nicht zuletzt das Prinzip der Realismus-Inszenierung durch die amerikanische TV-Berichterstattung aus Vietnam zu beachten - also die sogenannte „‚bang bang’ aesthetic of the networks“44 in den 60er und frühen 70er Jahren bei der Übertragung des sogenannten living room war. Sie vermittelte eine Illusion der Realität, die für das Publikum sowohl den Krieg als auch das Land Vietnam zu, wie Rick Berg anmerkt, transparenten Zeichen machte. Vietnam, so Berg, „the war, and the country became for the American viewer a set of transpar- ent signs, signifying at one and the same time ‚reality’ and ‚Vietnam’.“45 Dass nun diese Inszenierungsstrategien von ‚Realität’ und ‚Krieg’ Mitte der 80er Jahre in Platoon übersteigert wiederkehren, ist weder ein überraschendes noch ein singuläres Phänomen. Anfang der 80er Jahre erlebte diese Augenzeugen- Repräsentation des Vietnamkrieges eine umfassende Renaissance im US-Fernse- hen. 1983 wurde die viel diskutierte 13stündige Dokumentation The Ten Thousand Day War ausgestrahlt, der im Herbst des gleichen Jahres die WGBH-Produktion Vietnam: A Television History folgte. 1984 erschienen weitere Dokumentationen wie Soldiers In Hiding, Televisions Vietnam und 1985 The Haunted Heroes, Inside Story: Vietnam, Vietnam Perspective und Witness To War. Die Frage nach der ‚Realität’ des Krieges stand im Mittelpunkt des Interesses, begleitet durch die zunehmende Popularität der Oral History, die sich als Mittel der Geschichtsfor- schung und -schreibung ebenfalls in den 80er Jahren etablierte. Wissen resultierte in dieser Logik aus Erfahrung - man mußte „dagewesen“ sein, um mitreden zu können. Der „authentische“ Blick aus persönlicher Perspektive war ausdrücklich erwünscht und bescherte z.B. Bernard Edelman’s Feldpostbrief-Sammlung Dear America: Letters from Vietnam 1985 einen immensen Erfolg. Die Folge war die nicht minder populäre Verfi lmung des Buches 1987, in der Hollywoodstars die Frontbriefe vorlasen, während dazu Dokumentarfi lm- und NBC-Nachrichten- material montiert wurde. Auch auf diese Weise feierte die Handkamera-Realis- mus-Illusion der TV-Berichterstattung im Kino Erfolge. Die in Platoon benutzte Ästhetik war also Mitte der 80er Jahre keineswegs ein abwegiges Prinzip oder ein individueller Kunstgriff. Im Gegenteil: das Augenzeugen-Prinzip der wack- ligen Handkamera und der rough cuts erfreute sich einer wiedergewonnenen Popularität. Inwiefern diese Ästhetik des transparenten Zeichens auch vor Platoon in Spielfi lmen zu beobachten war und zu welchen Konsequenzen die ideologi- schen Implikationen des transparenten Zeichens in Platoon führen, habe ich von diesem Punkte aus ebenfalls untersucht: Das Ergebnis ist, dass Platoon weniger Geschichtsschreibung 95 als einzigartiges, persönliches Werk eines Vietnamveteranen erscheint, sondern vielmehr als spezieller und prägender Teil jener Welle von Vietnamfi lmen der 80er Jahre zu sehen ist, die im Gegensatz zur eher verstörenden, die Öffentlichkeit spaltenden ersten Welle - der kleineren Zahl von Vietnamkriegsfi lmen Ende der 70er (mit u.a. Apocalypse Now, The Deer Hunter und Coming Home) - eine gleich- sam restaurative, sinnstiftende Aufarbeitung des Krieges forcierten. VII. Dieses Beispiel soll einen kleinen Einblick geben, wie im ersten Teil der kontex- torientierten Werkanalyse verfahren wird: Die Filme werden einzeln zunächst nach den Ergebnisse der Rezeption befragt, die sich - auch das ist ein Phänomen des auteurism - in ihren Grundzügen zumeist als erstaunlich einheitlich erweist. Danach wird die Analyse den jeweiligen Film in fi lm- bzw. genrehistorische, kulturelle und politische Kontexte stellen und damit andere Interpretationen anbie- ten, als jene, die in der autorenpolitischen Werkgeschichtsschreibung favorisiert werden. Nachdem auf diese Weise jener Korpus von Filmen untersucht worden ist, die als „die Oliver-Stone-Filme“ zusammengefasst werden, erfolgt der zweite Schritt der kontextorientierten Analyse. Er widmet sich nach dem Produkt „Œuvre“ nun dem Produkt „Etikett“, dem auteur selbst, und untersucht jene Strategien, mit denen das Bild/die Bilder der Medienfi gur Oliver Stone inszeniert werden. Das Image des Regiestars steht hier zur Disposition, die Mittel, mit dem es errichtet wird, und schließlich die Konsequenzen, die es auf die Rezeption der Filme hat. Es gilt, die autorenpolitischen Behauptung der hermeneutischen Geschlossenheit von Leben und Werk und von Intention und Bedeutung zu überprüfen. Meine Analyse der Medienfi gur Oliver Stone schließt mit dem vergleichenden Blick auf anderen Medienfi guren, die auf ähnliche Weise inszeniert worden sind, bzw. ein vergleichbares Bild von Genie und Männlichkeit (re-)produziert haben. Der dritte und letzte Schritt meiner Werkanalyse besteht schließlich darin, beide Produkte zusammenzuführen. Die Ergebnisse der jeweiligen Analysen werden einander gegenüber gestellt und die Spezifi ka der jeweiligen Inszenierung miteinander verglichen. Dabei klären sich im Falle von Oliver Stone u.a., folgende Fragen: In welcher Beziehung steht die Inszenierung der Filme zur Inszenierung der Medienfi gur? Inwieweit existieren Analogien oder Differenzen zwischen den beiden Produkten „Werk“ und „Etikett“? Ist das Gesamtwerk annähernd so kohärent wie dies die Rezeption und vor allem die akademische Werkanalyse behauptet? Und sind sich die Filme einander so ähnlich und bilden sie eine ebenso geschlossene Einheit wie die entworfenen Bilder zur Medienfi gur des Oliver Stone und deren Behauptung von Werk-Kohärenz? Anders gefragt: Ist das Produkt „die Oliver-Stone-Filme“ genauso einheitlich und selbstähnlich, wie das Produkt „Oliver Stone“? Die Strategie der kontextorientierten Werkanalyse besteht also verkürzt gesagt darin, zwei Bereiche prüfend voneinander zu trennen, die üblicherweise immer schon als Einheit verstanden und verkauft werden. „Schöpfer“ und „Werk“ werden getrennt voneinander analysiert, um sie dann aus einer kritischen Distanz wieder 96 Geschichtsschreibung zueinander in Beziehung zu setzen. Die Sensibilisierung für dominante Fiktionen scheint mir hier umso sinnvoller für den akademischen Diskurs, weil sie uns in letzter Konsequenz auch den auteur selbst als eine dominante Fiktion, als ein wirksames Ideologem des fi lmwissenschaftlichen und fi lmkritischen Diskurses und unserer eigenen Filmwahrnehmung vor Augen führt. Auf diese Weise können die Zusammenhänge zwischen Filmregisseur und Œuvre auf einer Grundlage erörtert werden, die nicht von Annahmen hinsichtlich der Intention eines auteur geprägt ist, sondern die zu Marktstrukturen und zu den Bedingungen unserer eige- nen Filmwahrnehmung führt - zu fi lmhistorischen Wurzeln, kulturellen Bezügen und zu einer problematischen Wechselbeziehung zwischen PR-Strategie, Film- kritik und Filmwissenschaft. 1 Kurz gesagt stellt der auteurism eine Antwort auf die Frage nach der Autorenschaft im populären Kino dar, entwickelt unter dem Titel politique des auteurs in der französischen Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma Mitte der fünfziger Jahre. Dieser hierzulande auch als Politik der Autoren, Auto- rentheorie und Autorenpolitik bekannt gewordene fi lmanalytische und -wertende Ansatz veränderte vor allem die Wahrnehmung und Einordnung von Hollywood-Filmen. Er propagierte einen ana- lytischen Zugriff auf das amerikanische Studiosystem, der einzelne Hollywood-Regisseure als auteurs, als kreative und wieder erkennbare Autoren ihrer Filme, herausstellt. Hollywood-Filme sollten nicht länger allein als Massenware einer uniformen Unterhaltungsindustrie verstanden und abgeurteilt/ignoriert werden, sondern wurden als Kinokunstwerke nachdrücklich einer näheren Betrachtung empfohlen. Wenn wir heute allein die Masse hiesiger Studien, Analysen und Seminaran- gebote zum vergangenen oder gegenwärtigen Hollywood-Kino betrachten, begegnet uns darin immer schon auch der Einfl uss der Autorenpolitik, die einen neuen Blick auf das Kino einforderte und in den eigenen Texten aufsehenerregend vorführte. Dazu gehörte eine Verve im Behaupten persönlicher Vorlieben, die sich nicht zuletzt in provozierenden Regisseur-Quervergleichen artikulierte. Aus der großen Zahl der Abhandlungen zur Begriffs- und Ideengeschichte des auteurism möchte ich hier auf ein Standardwerk und zwei jüngere Arbeiten verweisen. Vgl. dazu: Caughie, John (Hg.): Theories of Authorship. London, New York: Routledge 1981; Cook, Pam: „Authorship and Cinema“, in: Cook, Pam und Mieke Bernink (Hg.): The Cinema Book. Second Edition. London: British Film Institute 1999, S. 235-310; Crofts, Stephen: „Authorship and Hollywood“. In: Hill, John und Pamela Church Gibson (Hg.): The Oxford Guide to Film Studies. Oxford: Oxford University Press 1998, S. 310-324. 2 Turner, Greame: Film as Social Practice. London, New York: Routledge 1988, S. 31. 3 Die in der politique des auteurs und dem daraus entwickelten auteurism wirksamen Vorstellungen von Genie, starker Kreativität und künstlerischer Durchsetzungskraft sind eng an traditionelle Bilder von Männlichkeit gebunden. Diese künstlerische Potenz, darauf haben u.a. Kaja Silverman und Judith Mayne hingewiesen, wird auch darum in der auteur-Begriffsgeschichte in erster Linie Männern zugestanden. Weil also der auteurism bis heute vorwiegend als eine Politik von Männern für Männer funktioniert, werde ich, wenn von der traditionellen Praxis der Autorenpolitik die Rede ist, bewusst die männlichen Begriffsformen „Regisseur“ und „Kritiker“ wählen, sofern es nicht ausdrücklich um einzelne Regisseurinnen oder Kritikerinnen geht. 4 Sarris, Andrew: „Towards a Theory of Film History“, in: Bill Nichols (Hg.): Movies and Methods. Berkeley: University of California Press 1976, S. 247. 5 Ebd. 6 Staiger, Janet: Interpreting Films: Studies in the Historical Reception of American Cinema. Princ- eton, Oxford: Princeton University Press 1992. 7 Klinger, Barbara: Melodrama and Meaning: History, Culture, and the Films of Douglas Sirk. Bloomington: Indiana University Press 1994. 8 Maltby, Richard: „‚A Brief Romantic Interlude’: Dick and Jane Go to 3 1/2 Seconds of the Classical Hollywood Cinema“. In: Bordwell, David und Noel Carroll (Hg.): Post-Theory. Reconstructing Film Studies. Madison: University of Wisconsin Press 1996, S. 434-459. 9 Corrigan, Timothy: A Cinema Without Walls: Movies and Culture After Vietnam. New Brunswick: Rutgers University Press 1991, S. 101-136. 10 Vgl. dazu: Lehmann, Courtney: „Brave New Bard“. In: Cineaste, Nr. 12, 2000, http:// search.britannica.com/magazine/article?content_id=206755&pager.offset=40; 5.7.2001. 11 Kirchmann, Kay: Stanley Kubrick – Das Schweigen der Bilder. Bochum: Schnitt 2001. Geschichtsschreibung 97 12 Stiglegger, Marcus (Hg.): Splitter im Gewebe: Filmemacher zwischen Autorenfi lm und Main- streamkino. Mainz: Bender 2000. 13 Friedman, Lawrence S.: The Cinema of Martin Scorsese. Oxford, New York: Roundhouse 1997. 14 Hillier, Jim und Peter Wollen (Hg.): Howard Hawks. American Artist. London: British Film Institute 1996. 15 Higashi, Sumiko: Cecil B. De Mille and American Culture: The Silent Era. Berkeley, Los Angeles: University of California Press 1994. 16 Vgl. dazu: Gunning, Tom: The Films of Fritz Lang: Allegories of Vision and Modernity. London: British Film Institute 2000. 17 Maltby, Richard und Ian Craven: Hollywood Cinema: An Introduction. Oxford, Cambridge: Black- well 1995, S. 436. 18 Busche, Andreas: „Der Trash-Zeremonienmeister“. In: die tageszeitung, 6.9.2001, S. 16. 19 Horwath, Alexander: „Heroisches Trio“. In: Die Zeit, Nr. 41, 2000, http://www.zeit.de/2000/41/ Kultur/200041_johnnie_to.html; 8.1.2001. 20 Mihm, Kai: „Vom Wunderkind zum Mainstream-Regisseur“, in: epd Film, Nr. 4, 2000, S. 29. 21 Schifferle, Hans: „Prinzessing Mononoké“. In: epd Film, Nr. 5, 2001, S. 36. 22 Ebd. 23 Grob, Norbert: „Die List des »auteur«. Plädoyer für eine altmodische Kategorie der Filmkritik“. In: Schenk, Irmbert (Hg.): Filmkritik: Bestandsaufnahmen und Perspektiven. Marburg: Schüren 1998, S. 128. 24 Lang, Michael: „Heaven and Earth“. In: Zoom, Nr. 1, 1994, S. 33. 25 Beaver, Frank: Oliver Stone: Wakeup Cinema. New York: Twayne 1994, S. 6. 26 Ebd., S. xii. 27 Kagan, Norman: The Cinema of Oliver Stone. New York: Continuum 1995, S. 253. 28 Mackey-Kallis, Susan: Oliver Stone’s America: „ Dreaming the Myth Outward“. Boulder, Oxford: Westview 1996, S. 24. 29 Stiglegger, Marcus: „Ein Auge für die Weisheit: die fi lmischen Demonstrationen von Oliver Stone“. In: ders. (Hg.): Splitter im Gewebe. a.a.O., S. 59. 30 Ebd., S. 87. 31 Everschor, Franz: „Nixon“. In: fi lm-dienst, Nr. 4, 1996, S. 24. 32 Werden bei Scorsese dessen Beziehung zu New York, seine italo-amerikanische Herkunft und sein intensives Verhältnis zum Katholizismus als Referenzgrößen angeführt, so wird bei Steven Spielberg seit Schindlers Liste immer wieder auf seine jüdische Identität und den Holocaust verwiesen. 33 Kunz, Don: „Preface“. In: ders. (Hg.): The Films of Oliver Stone. Lanham: Scarecrow Press 1997, S. xviii. 34 Smith, Gavin: „Garbage Fan Club“. In: New Musical Express, 4. 3.1995, S. 33. 35 Eben dies – die Defi nitionsmacht des auteur – spiegelt sich in den vielen Zitaten Oliver Stones, die in den bislang erschienenen Werkmonographien angeführt werden. Regelmäßig dienen sie dort als Beweis für die Richtigkeit der geleisteten Analysen. Don Kunz’ The Films of Oliver Stone beginnt in diesem Sinne symptomatisch mit einem Oliver-Stone-Interview, das den bezeichnenden Titel trägt „Understanding Oliver Stone“. Nicht die Filme, sondern den Regisseur „dahinter“ gilt es zu verstehen. 36 Vgl. dazu: Distelmeyer, Jan: „Die Tiefe der Oberfl äche: Bewegungen auf dem Spielfeld des post- klassischen Hollywood-Kinos“. In: Eder, Jens (Hg.): Oberfl ächenrausch – Postmoderne und Post- klasssik im Kino der 90er Jahre. Münster, Hamburg: Lit Verlag 2002, S. 63-95. 37 Altman, Rick: „A Semantic/Syntactic Approach to Film Genre“. In: Grant, Barry Keith (Hg.): Film Genre Reader II. Austin: University of Texas Press 1995, S. 35. 38 Hall, Stuart: Ideologie, Kultur, Rassismus. Ausgewählte Schriften 1. Hamburg, Berlin: Argument 1989, S. 150-151. 39 Dyer, Richard: „The Role of Stereotypes“. In: Marris, Paul und Sue Thornham: Media Studies: A Reader. Second Edition. Edinburgh: University of Edinburgh Press 1999, S. 250. 40 Vgl. dazu: Turner, a.a.O., S. 24-41. 41 Mackey-Kallis, a.a.O., S. 63. 42 Kagan, a.a.O., S. 106. 43 Vgl. dazu: Beaver, a.a.O., S. 89. 44 James, David E.: „Documenting the Vietnam War“. In: Dittmar, Linda und Gene Michaus (Hg.): From Hanoi to Hollywood: the Vietnam War in American Film. New Brunswick, London: Rutgers University Press 1990, S. 249. 45 Berg, Rick: „Losing Vietnam: Covering the War in an Age of Technology“. In: Rowe, John Carlos und Rick Berg (Hg.): Vietnam War and American Culture. New York: Columbia University Press, 1991, S. 119. 98 Film / Literatur Daniela Casanova Literaturverfi lmung: Die Mär vom Abklatsch. Eine Verteidigung am Beispiel von Ian Softleys Henry James Verfi lmung The Wings of the Dove (1902 bzw. 1998) 1. Einleitung Sind Literaturverfi lmungen zwangsläufi g so schlecht wie ihr Ruf (‚Der Film mag dem Buch ja doch nicht das Wasser reichen.’) oder liegt dieser anscheinend ewig zweite Rang manchmal nicht am Unvermögen, Filme zu ‚lesen’? Verständlicherweise haben sich vor allem LiteraturkritikerInnen mit Romanverfi l- mungen beschäftigt, doch dies birgt die Gefahr, dass der Film als Film ‚übersehen’ und seine Qualität nur an der Umsetzungstreue, dem fi delity concept, gemessen wird. Es wird Zeit für eine Verteidigungsrede der Verfi lmung als Film. 2. Zweisträngige Analyse Verlagern wir das Gewicht von der Verfi lmung auf den Film. Philip Horne z. B. benennt die Problematik des Treue-Vergleichs folgendermassen: „If a long novel is being adapted, ruthless cuts and selections must be made and fi lm-makers need a radical interpretation and a structure of their own to retain direction, shape or dynamics. The result must stand as a work in its own right.“1 Vom herkömmlichen fi delity concept gilt es sich also zu verabschieden. (s. auch Robert B. Ray2, Walter Hagenbüchle3, Brian McFarlane4). McFarlane verlangt statt dessen nach einem intertextuellen Ansatz: „[T]he issue is not whether the adapted fi lm is faithful to its source, but rather how the choice of a specifi c source and how the approach to that source serve the fi lm’s ideology.“5 Ich schliesse mich diesen Stimmen an: eine Verfi lmung ist in erster Linie ein Film. Und ein stimmiger Film, das heisst ein Film, der seine Parameter wie Mise-en-Scène, Kostüme, Beleuchtung, Montage usw. gekonnt im Dienste seiner Geschichte verwendet, und der darüber hinaus auch noch eine gelungene Umset- zung der ursprünglichen Geschichte ist, hat den ‚ersten Rang’ verdient. The Wings of the Dove ist ein ‚erster-Rang’ Film. Zu diesem Schluss komme ich über eine parallel laufende, zweisträngige Analyse: a) Analyse der Stimmigkeit des Filmes in sich. b) Analyse der Übereinstimmung des durch Buch und Film hervorgerufenen Eindrucks. Mit Eindruck meine ich die vom Leser oder der Zuschauerin erfahrene und erinnerte Geschichte, und diese „[can] be inferred from a novel, a fi lm, a painting, or a play.“6 Die Geschichte, die fabula, wie das aktiv rekonstruierte Geschehen im russischen Formalismus benannt wird, entsteht im Publikum durch Synthese von syuzhet, dem dramaturgischen Konzept, und style, der Umsetzung der Film- sequenzen.7 Ereignisse und ihre Darstellung erwecken im Zuschauer oder der Leserin einen Eindruck, unabhängig von ihrem Quellmedium. Film / Literatur 99 3. The Wings of the Dove Nun kurz zur Inhaltsangabe des Romans und des Films.8 Es geht - wie so oft bei Henry James - um eine Dreiecksbeziehung, und zwar um eine reiche junge Ame- rikanerin (hier Millie Theale) und um verarmte, ‚korrupte’ europäische ‚Adelige’ (hier Kate Croy, Merton Densher sowie Lord Mark). Kurz gesagt, es geht um das viktorianische Heiratsgeschäft, den Tausch ‚Adelstitel und/oder Schönheit gegen Geld’. Unsere Halbwaise ‚Heldin’ Kate (gespielt von Helena Bonham Carter), deren Vermögen der nichtsnutzige Vater durchbrachte, steht vor der Wahl zwi- schen Liebe - dem bescheiden lebenden Journalisten Merton (gespielt von Linus Roache) - oder Geld - der Heirat mit einem von ihrer reichen Tante zugeteilten Hei- ratskandidaten (verarmter Adeliger Lord Mark). Die Lösung für Kates Dilemma scheint nahe: Die Ankunft der verwaisten, liebenswerten, steinreichen und tod- kranken Amerikanerin Millie (gespielt von Alison Elliott). Millie verliebt sich in Merton und nimmt sich Kates an. Doch obwohl der Plan aufgeht, dass Merton Millies Geld erben soll, werden Kate und er nicht glücklich. Der Roman schliesst mit den Worten: „But she [Kate] turned to the door, and her headshake was now the end. ‚We shall never be again as we were!’“9 4. Henry James’ Schreibstil Bevor ich zur fi lmischen Umsetzung komme, noch ein Wort zu James’ Schreibstil. Überspitzt lässt er sich durch ein fi ktives Beispiel illustrieren: ‚Ich sah, dass er sah, dass sie alles gesehen hatte.’ Einige wenige Charaktere, deren beobachtende und refl ektierte Haltung, lange Sätze und so aussageschwangere Worte wie ‚nothing’ und ‚everything’. James’ Stil könnte so beschrieben werden, wie er selbst Millies und Lord Marks Museumsbesichtigung beschreibt: Their progress meanwhile was not of the straightest; it was an advance, without haste, through innumerable natural pauses and soft concussions, [Hervorhebung, D.C.] determined for the most part by the appearance before them of ladies and gentlemen, singly, in couples, in clusters, who brought them to a stand with an inveterate ‘I say, Mark.’ What they said she never quite made out; it was their all so domestically knowing him, and his knowing them, that mainly struck her, while her impression, for the rest, was but of fellow strollers more vaguely afl oat than themselves, supernumeraries mostly a little battered, whether as jaunty males or as ostensibly elegant women.10 James’ Technik der restricted consciousness, also des teilweisen Eintauchens in seine Protagonisten, sowie seine Bevorzugung des Zeigens gegenüber dem Sagen, lässt Modus und Blickwinkel genauso zu Inhaltlichem werden wie die Ereignisse selbst. Sein Stil legt gemäss McFarlane „comparisons with cinematic technique“ nahe, und doch liegt gerade in dieser Nähe gemäss McFarlane die ‚Unverfi lmbarkeit’ der James’schen Romane: „but, paradoxically, the modern novel has not shown itself very adaptable to fi lm.“11 Eine Aussage, der ich das Beispiel von The Wings of the Dove entgegenstelle. 100 Film / Literatur 5. Stimmigkeit des Films Beispiele für die Stimmigkeit des Films The Wings of the Dove sind einmal das Plakat, das später auch als DVD-Hülle verwendet wurde, sowie die Farbe des Zifferblattes der Kirche in Venedig: royal blau. Es ist die Farbe, mit der Kate ganz zu Beginn eingeführt wird. Royal blau steht sowohl für ihren Ehrgeiz, in der sozialen Hierarchie höher zu steigen, als auch für Momente, in denen sie sich ihrem freien Willen gemäss benimmt; sie trägt meist royal blau, wenn sie sich mit Merton trifft. Abb. 1: Millie (Alison Elliot), 50. Minute Millies Höhepunkt an ‚Kraft’ kommt in der 50. Minute zum Ausdruck (s. Abb. 1), wenn sie - kurz vor dem dramaturgischen Umschwung, denn sie muss ins Spital - den Turm ersteigt. Der Hinweis, dass ihre Zeit abläuft, fi ndet sich in der Dominanz der Uhr, welche auf (fünf nach halb zwölf) steht. Obgleich die Uhr im Hintergrund und unscharf gehalten ist, nimmt sie die Hälfte des Bildes ein. Die Zeiger stehen zwar noch nicht auf fünf vor zwölf, aber die Farbe des Zifferblattes zeigt an, dass Kate später die Agentin sein wird, die Millies Ende beschleunigen wird: Sie trägt beim ‚Verrat’ - sie erzählt Lord Mark von ihrer heimlichen Verlobung mit Merton, dieser reist sofort nach Venedig, um es weiter zu erzählen - das royal blaue Kostüm. Der Schock, von ihren Freunden hintergangen worden zu sein, bricht Millies Lebenswillen, auch wenn sie ihnen verzeiht (im Film explizit in der 82. Minute: „I love you - both of you“). Das Plakat (Abb. 2) bringt den Plot auf den Punkt: Der Film handelt von einer unmöglichen Dreiecksbeziehung. Die Unmöglichkeit wird einmal darin codiert, dass diese ‚Dreisam- keitsszene’ im Film überhaupt nicht vorkommt. Zudem trägt Kate das rostrote Kleid, welches sie im ganzen Film nur einmal, nämlich im Moment grosser Angst und Zweifel - wird sie Merton an Millie verlieren? - an hat (s. Abb. 3). Die Entfremdung Kates von Merton, die schlussendlich eintrifft, wird formal durch die Spiegelbildaufnahme gestützt und inhaltlich durch den Wortlaut des Briefes, der als Voice- over über die Parallelmontage mit Merton und Millie gelegt wird (und dadurch erst die Zeit- gleichheit codiert). Abb. 2: Plakat / DVD-Hülle Film / Literatur 101 Das Plakat nimmt damit - retrospektiv betrachtet - das Melodrama vorweg. Aus der von Kate geplanten win-win-win-Situation (Millie erlebt eine Liebes- beziehung; Merton und Kate erhalten ihr Geld und können heiraten) wird ein lose-lose-lose-Ende (Millies Tod wird beschleunigt; Merton hat Skrupel, das Geld anzunehmen; Kate wiederum kann Mertons ‚Nostalgie’ für Millie nicht ertragen). Abb. 3: Kate (Helena Bonham Carter), 70. Minute 6. Selektion - Konzentration - Integration - Umsetzung Wie aber kommt eine Verfi lmung zu ihrem syuzhet und style, also zu ihrer Sequenzabfolge und deren cineastischer Umsetzung? Claudia Gladziejewski sieht dies als einen Dreistufenprozess:12 1) Selektion: Nach der Wahl der Quelle, hier James’ Roman, wird „innerhalb des Textes die Auswahl von Handlung, Personen und Erzählperspektive im Rah- men einer übergreifenden Struktur vorgenommen.“ (Beispiele hierfür sind das Weglassen von Kates Schwester sowie der Episode Mertons in Amerika, die Schwächung des Charakters der Tante und Kates Ablösung von ihr.) 2) Konzentration: „Die Strukturierung des ausgewählten Materials nach den Gegebenheiten des Mediums Film und den besonderen Ereignissen des jeweiligen Adaptionskonzeptes.“ (Beispiele hierfür sind der Ausbau der Sequenzen im cine- astisch attraktiven Venedig, die Wahl der Kostüme und damit zusammenhängend die Versetzung des Zeitpunktes von 1902 nach 1910, die Mise-en-scène.) 3) Integration: „Die Einarbeitung von Material, das sich nicht für die direkte Umsetzung eignet, für die Handlung aber notwendig oder reizvoll erscheint, bzw. von aussertextuellem Material.“ (Beispiele hierfür sind Informationen, die wir über Dialog erfahren wie über den Reichtum Millies oder die neuen Szenen, wie die im Pub oder die auf Lord Marks Schloss, sowie natürlich die Klimt Bilder.) Gladziejewski betont aber auch, dass diese drei Stufen nicht immer von einan- der abzugrenzen seien. Dies erklärt sich aus dem von ihr nicht genannten vierten Schritt, der Umsetzung. Im Drehbuch hat die Umsetzung, das heisst die Ver- schmelzung von Selektion, Konzentration und Integration, beziehungsweise von syuzhet und style, bereits stattgefunden. 7. Gallerieszene Ein Paradebeispiel für Selektion, Konzentration und Integration ist die Galleries- zene im Park in der 30. Minute. 1) Selektion: Diese Sequenz hat zwei Ursprungs- quellen. Das zufällige Aufeinandertreffen des Paares Merton/Kate mit Millie und die Idee eines ‚look-a-like’-Gemäldes. Die Seitenlinie, dass sich Merton und Millie aus Amerika kennen, wurde gekippt, Kate als Hauptakteurin des Liebesdreiecks 102 Film / Literatur wurde beibehalten. Im Film ist es nun jedoch Kate statt Lord Mark, welche Mil- lie zum ‚look-a-like’-Gemälde (ein Bronzino bei James) führt.13 Der Fakt der Ähnlichkeit wird im Gegensatz zum Roman aber gar nicht angesprochen. Abb. 4: 30. Minute 2) Konzentration: Beispielhaft ist zum einen der gelungene James’sche-Non- Dialog (‚die Dinge ja nur nicht beim Namen nennen’), nachdem Merton sich verabschiedet hat. Kate gibt ungefragt eine ‚Erklärung’ ab: Kate: „It’s not what you’re thinking.“ Millie: „ No?“ Kate: „No - He’s an old family friend.“ Beispielhaft sind auch die Kostüme (Abb. 5): Kate trägt natürlich royal blau bei ihrem heimlichen Treffen mit Merton. Ein Indiz dafür, dass sie noch immer nach einer Lösung aus ihrem Dilemma (Heirat für Geld oder aus Liebe?) sucht. Dass Millie und Merton später von ihr verkuppelt werden, zeigt sich einerseits in Mertons Krawatte (Rostrot, passend zu Millies Kleid, und die Farbe, die Kate nur einmal trägt, als sie verzweifelt ist, s. Abb. 3) und andererseits darin, dass Kate das Kader verlässt, nachdem sie die beiden vor Danae gesteuert hat (vgl. Abb. 4). Abb. 5: 30. Minute 3) Integration: Die Gemälde von Gustav Klimt. Sie bringen nicht nur den Hauch von Erotik und Dekadenz ins Bild, sondern sie sagen auch viel über die Charaktere aus. Die Sequenz beginnt mit dem Gemälde Der Kuss welches Millie betrachtet, kurz bevor sie überraschenderweise Merton sieht. Merton hingegen studiert die einfache Skizze von zwei nackten und verschlungenen Liebenden (s. Abb. 6). Meine Interpretation: Er möchte endlich die Beziehung mit Kate ‚vollenden’ beziehungsweise vollziehen und akzeptiert im Gegensatz zu ihr seine bescheide- nen fi nanziellen Mittel, deshalb die Farblosigkeit der Skizze und der dargestellte Liebesakt. Kate wiederum führt Merton und Millie vor dem Bild der Danae zusammen, das von Gold und Purpur überquellt und mit den roten Haaren Millie gleicht. Auf diesem Bild ist das männliche Glied als kleines schwarzes Quader dem Goldfl uss zwischen den Beinen ‚untergeordnet’: Luxus ist Kate wichtiger als die Liebe. Mit James’ Worten: [Kate] saw as she had never seen before how material things spoke to her. She saw, and she blushed to see, that if in contrast with some of its old Film / Literatur 103 aspects life now affected her as a dress successfully ‚done up’, this was exactly by reason of the trimmings and lace, was a matter of ribbons and silk and velvet. She had a dire accessibility to pleasure from such sources. She liked the charming quarters her aunt had assigned her.14 Zudem steht das Gemälde Die Hoffnung zwischen Merton und Millie. Obwohl die Kadrage die Totenköpfe abschneidet (vgl. Abb. 6), können wir das Gemälde einerseits als Indiz auf Millies unerfüllten Wunsch nach einer Familie mit Merton, andererseits als Hinweis auf Millies baldigen Tod lesen. Abb. 6: 29. Minute Eine weitere speziell nennenswerte Szene wäre die Liftszene zu Beginn des Filmes. Sie ist wiederum ein Zusammenzug zweier Quellen: Einerseits nimmt sie als dynamische Umsetzung die Leitermetaphorik der Kennenlernszene des Romans auf (Kate und Merton klettern dort je auf eine Leiter, um in den Nach- barsgarten zu schauen, und unterhalten sich). Ein statisches Bild, dessen Meta- phorik einerseits Aufwärtsstreben, das heisst Ehrgeiz codiert, andererseits mit dem über die Mauer nach verbotenen Früchten schauen die unerlaubte Verbindung codiert - im Film die ‚gestohlenen’ Küsse im vergitterten Lift. Darüber hinaus nimmt sie Bezug auf die zweite zufällige Begegnung Mertons und Kates, die in der U-Bahn stattfi ndet. Im Roman gibt Kate ihrem Impuls nach - obwohl sie nicht impulsiv sei - und lässt sich von Merton nach Hause begleiten. Der Film nutzt dieses „to make a fool of oneself“ noch ironisch, indem die Nachhause- Begleitszene bei Softley zwischen Millie und Merton in Venedig stattfi ndet. 8. Konventionelle Kodierung und neue Metaphorik Besonders schätze ich an der Verfi lmung das ‚organische Ineinanderübergehen’ konventioneller Kodierung mit neuer Metaphorik. So gibt es einerseits die Umset- zung der James’schen Kodierung von Millie als ‚Money bag’: Kate lässt beim Versöhnungskuss ihr Portemonnaie nicht los (s. Abb. 7). Abb. 7: 25. Minute Andererseits gibt es innovative Darstellungen der Dreiecksbeziehung, in der Millie mit Reichtum substituiert wird (s. Abb. 8, 9 und 10). Sie werden formal durch die identische Kameraeinstellung (overhead shot) aufeinander bezogen. Wie bei James sind die formalen Merkmale wichtig für den Inhalt der fabula. Wenn in der 17. Minute der dritte overhead shot erscheint, reiht er sich in die Dreiecksbeziehung 104 Film / Literatur ein, ohne dass Millie im Bild sein muss. Sie wird entpersonalisiert, ihr Reichtum steht im Vordergrund. Wie James Kate sagen lässt: „I shouldn’t care for her [Mil- lie] if she hadn’t so much.“15 Es ist für ein Melodrama nicht überraschend, dass die Liebenden im Regen ihren glücklichsten Moment erleben. Der Regen ist ein Indiz dafür, dass ihre Beziehung unglücklich enden wird. Aber die verdrehte Negativ-Positiv-Spiegelung (Regen steht für Glück und Zweisamkeit, Sonnenschein für Unglücklichsein und Einsamkeit) verstärkt die Einzelwirkung der Aufnahmen und bindet sie enger aneinander. Ausserdem wird so die Verknüpfung gefördert, dass das Publikum automatisch weiss, dass in der Phase der Trennung und von Kates Unsicherheit, Merton in Venedig bei Dauerregen aus dem Fester schauend an sie und umgekehrt Kate in London an ihn denkt (vgl. 75. Minute). Abb. 8: 7. Minute Abb. 9: 10. Minute Abb. 10: 17. Minute 9. Der Matchcut Bei einem stimmigen Film haben solche formalen ‚Spielereien’ wie der dreifach verwendete Overhead shot immer Bedeutung, man muss sie nur decodieren. Wood, dessen Monographie zu The Wings of the Dove ich sehr schätze und dessen Analyse ich weitgehend folge, nennt den auffallenden Matchcut nach Millies Arztbesuch unrespektvoll einen „shock effekt“: The camera tracks from [Millie] over what looks, today, like very primi- tive equipment, coming to rest on a glass sphere; there is an abrupt cut to another sphere, a football falling from the sky right into camera. It is the one moment in an otherwise delicate and subtle fi lm that seems a surrender to the temptation of an opportunistic ‚shock’ effect.16 Ich hingegen lese diesen Bruch im Filmfl uss als fi lmische Kapitelanzeige. Diese Lesart wird einerseits gestützt durch fi lmisch konventionelle Kapitelübergänge, z.B. der Übergang zu Kapitel zwei wird dreifach angezeigt: Kamerabewegung nach oben von der weinenden Kate weg auf das Kissen, gefolgt von einer Überblendung plus Texteinblendung „3 months later“. Die Kapitel werden aber auch durch die dramaturgische Struktur des Filmes angezeigt: Kapitel eins, Expo- sition, Millie kommt noch gar nicht vor. Kapitel zwei (ab 17. Minute), Millie Film / Literatur 105 kommt dazu, Kate wartet - Merton hinhaltend - auf eine Lösung; die Zuschaue- rInnen erhalten einen Wissensvorsprung über Millies Krankheit. Kapitel drei (ab 28. Minute), dass mit dem Matchcut beginnt (dies kann retrospektiv als Hinweis auf den Verkuppelungsplan gelesen werden). Kate fängt an, Millies und Mertons Wege zu kreuzen, Lord Mark enthüllt seinen Plan, Millie zu beerben und dann Kate zu heiraten. Kapitel vier (ab 41. Minute), Kate übernimmt Lord Marks Plan und manipuliert Merton. Dieses Kapitel endet mit Millies Beerdigung. Kapitel fünf (ab 87. Minute), zeigt die Entfremdung zwischen Merton und Kate, und Kapitel sechs (ab 96. Minute), schlussendlich beinhaltet Mertons Rückkehr nach Venedig. 10. Der Achsensprung Aber nicht jeder Bruch im Filmfl uss oder jede Texteinblendung muss ein Kapitelindex sein. So kommt es in der 58. Minute zu einem im westlichen Film relativ selten eingesetzten formalen Mittel: dem Achsensprung. Hier zeigt der ‚Stolperer’ im Filmfl uss wortwörtlich den Wendepunkt der Geschichte an. Millie, nachdem sie Merton zum Tanzen aufgefordert hat und im Dialog zu ver- stehen gibt, dass sie von Mertons Schwäche für Kate weiss, übersteigt die Grenze und küsst Merton während des Tanzens. Millie: „Would you rather be dancing with her?“ Merton: „With Kate?“ Millie: „Unless you’ve got a soft spot for Susan too.“ Merton: „I’m perfectly happy dancing with you.“ Millie: „You’re a beautiful liar.“ Kate wird prompt eifersüchtig (Millies Kostüm ähnelt stark einem Hochzeitskleid mit Schleier) und dadurch für Merton erpressbar (Merton: „Show me how you love“ - er zwingt Kate zum Vollzug des Liebesaktes, s. 61. Minute). Von nun an verliert der win-win-win-Plan seine und Kate ihre Unschuld. 11. Fazit Es gäbe noch viele Beispiele für die Stimmigkeit des Films an sich und für die gelungene Umsetzung der Romanvorlage anzuführen, so zum Beispiel die Ver- doppelungen ähnlicher Situationen oder von Dialogen, die auf einander verweisen und dadurch ihre Aussagekraft noch stärken, wie zum Beispiel die Make-up- Situationen (s. 3. und 54. Minute, vgl. die Positionierung der Protagonistinnen und die Kälte beziehungsweise Wärme der Lichtgebung sowie die Kameradistanz und -bewegung) oder die Bedeutung des lila Schals (vgl. 17. und 4. Minute; der lila Schal ist Symbol der fi nanziellen Abhängigkeit von der Tante) oder von Kates gestreiftem Kleid (welches die von ihr verinnerlichten gesellschaftlichen Regeln symbolisiert - s. 10., 14. und 19. Minute; diese Regeln zeigen sich auch in den trennenden äusseren Gittern, s. 6., 13. und 16. Minute) oder die Art und Weise, wie der Film uns Kates Handlungsweise verständlicher zu machen versucht (Produkte der Selektion-Konzentration-Integration und deren Verschmelzung, d.h. neue Szenen im Vergleich zum Roman wie die Grabsteinszene, 19. Minute, oder das 106 Film / Literatur Ultimatum der Tante, 15. Minute, oder das veränderte Verhältnis zum Vater, der die fürsorgeweckende Funktion der weggelassenen Schwester übernimmt), damit wir Kates Beweggründe nachvollziehen, wenn vielleicht auch nicht billigen können. Was sonst hätte Kate tun können? Der Roman bringt ihr Dilemma folgenderma- ssen auf den Punkt: „She might still pull things round had she only been a man. […] But what could a penniless girl do with it [= the family name] but let it go?“17 Kate trägt in der Karnevalsszene ein Männerkostüm (Matador) und ist doch in ihrer Frauenrolle gefangen (s. 58. Minute). In der viktorianischen Zeit war Heirat ein Geschäft, bei dem Liebe keinen Platz hatte, sondern die fi nanzielle Verantwortung gegenüber der Familie zählte - dies zeigen Roman und Film auf eindrückliche Weise. 1 Horne, Philip: „The James gang. The Wings of the Dove.“ In: Sight & Sound, VIII/1, Januar 1998, S. 16. 2 Ray, Robert B: „The Field of ‚Literature and Film’.“ In: Naremore, James (Hg.): Film Adaptation. London: Athlone 2000, S. 38-53. 3 Hagenbüchle, Walter: Narrative Strukturen in Literatur und Film. Bern: Peter Lang 1991. 4 McFarlane, Brian: Novel to Film. An Introduction to the Theory of Adaption. Oxford: Clarendon Press 1996. 5 McFarlane: Novel to Film, S. 10. 6 Bordwell, David: Narration in the Fiction Film. London: Methuen 1985. S. 51. 7 Bordwell: Narration, S. 50. 8 Meine Zitate der Primärquellen beziehen sich auf folgende Ausgaben: James, Henry: The Wings of the Dove. London: Penguin Classics 1986; Softley, Ian: The Wings of the Dove. Miramax Films/ Renaissance Films Production 1997. 9 James: Wings, S. 509. 10 James: Wings, S. 194. 11 McFarlane: Novel to Film, S. 6. 12 Gladziejewski, Claudia: Dramaturgie der Romanverfi lmung: Systematik der praktischen Analyse und Versuch zur Theorie am Beispiel von vier Klassikern der Weltliteratur und ihren fi lmischen Adaptionen. Alfeld/Leine: Coppi 1998, S. 176. 13 Das im Roman beschriebene Portrait (James, Wings, S. 196) zeigt sehr wahrscheinlich Lucrezia Pucci, s. http://www.uffi zi.fi renze.it/Dipinti/bronzlucreE18.html; 2.2.2003. 14 James: Wings, S. 71. 15 James: Wings, S. 283. 16 Wood, Robin: The Wings of the Dove: Henry James in the 1990s. London: British Film Insitute 1999. S. 39. 17 James: Wings, S. 56. Film / Literatur 107 Andreas Hauck Dialogische Inszenierung und Sympraktische Bewusstwerdung Die Übersetzungsproblematik zwischen Literatur und Film ist vielfach diskutiert worden.1 Dabei wird traditionell die Adaption eines literarischen Stoffes an der mimetisch-diskursiven Übereinstimmung mit der literarischen Vorlage gemessen. Entscheidend für einen sinnvollen Vergleich zwischen Film und Roman ist jedoch in erster Linie das Wirkungspotenzial, das vermittels des medial spezifi schen Zeichengebrauchs inszeniert wird, um den Leser bzw. Zuschauer zur Sympraxis2 anzuregen. Kunst, ob auf Zellulose oder Zelluloid, birgt das Potenzial in sich, den Menschen genussvoll zu bewegen und seine Einstellungen zu ändern. Im besten Falle treten der Rezipient und das Kunstwerk in eine Art zeichengesteuerten, sinnstiftenden Dialog, in dem prozesshaft ein Weltausschnitt wirksam werden kann. Dieser Vortrag ist jener Problematik gewidmet, die die intermediale Debatte um Roman und Film prägt: Wie können Literatur und Film unter Einbezug ihrer jeweils besonderen Kompositionsbedingungen wie auch ihrer Ansprüche systema- tisch miteinander verglichen werden, ohne im Voraus den Film der Literatur, das Populäre dem vermeintlich Erhabenen, unterzuordnen? Das Besondere der Sym- praxistheorie, die Teil der wirkungsästhetischen Debatte ist, liegt in dem Fokus der systematischen Entfaltung praktisch werdender Vermögen in und außerhalb der Literatur: Im Wechsel zwischen dem In-Spannung-Setzen des Lesers zu einem Weltausschnitt und der wiederkehrenden Bestätigung seiner sympraktischen, d.h. mithandelnden, Leistungen ist es möglich, sich der Welt und seinerselbst bewusst zu werden. Künstlerischer Kommunikation wird damit die Kraft zugesprochen, einen Lernprozess im Menschen anzuregen. Mit den Konzepten der Bachtinschen Dialogizität wird ein erkenntnistheoretisches Fundament aufgestellt, auf dessen Grundlage der Weg beschritten werden kann, Kunst als „Spielraum des Dialo- gischen“3 für die wechselseitige Konstitution von Selbst und Gesellschaft zu verstehen. Es lassen sich aus diesen semiotischen Ansätzen acht Hypothesen zum dialogischen Prozess in der Kunst herausbilden, mit deren Hilfe man das dialogische Potenzial analysieren kann, das ein literarisches bzw. fi lmisches Werk dem Rezipienten anbietet. Sie können in Analysefragen umformuliert werden, die man an Roman und Film gleichermaßen stellen kann. Eine solche Analyse wurde beispielhaft auf Tiempo de Silencio von Luis Martín-Santos angewendet, der als Roman 1961 erstmals erschien und 1986 in der Adaption von Vicente Aranda ins Kino kam. Beide bieten zwar eine annähernd vergleichbare mimetische Struktur an, mittels ihrer semiotischen Verfahren „provozieren“ sie jedoch eine qualitativ grundlegend verschiedene Mitarbeit des Rezipienten. Während der Roman kunst- voll die individuelle Geschichte eines Forschers mit der Historie einer Gesellschaft verknüpft, um im Leser die Bedingungen von Gewalt und Unmündigkeit in einer Diktatur aufzuführen, vereinfacht der Film die Wirklichkeit der aufrufenden Vorlage zum Abruf des Melodramas eines gescheiterten Liebenden. Um die Bedingungen zu veranschaulichen, unter denen insbesondere spani- sche Literaturverfi lmungen eine existentiell wichtige Rolle für den Fortbestand 108 Film / Literatur des Films gespielt haben, sei auf das „modelo cinematográfi co español“4 von Román Gubern verwiesen. Trotz großer politischer und wirtschaftlicher Schwie- rigkeiten sind es demnach insbesondere Literaturverfi lmungen, die die Men- schen immer wieder ins Kino locken und trotz aller Diskontinuitäten für eine nahezu kontinuierliche Filmproduktion sorgen. Die Verfi lmung literarischer Vor- lagen nährt die Filmkunst in Spanien bis heute.5 Die Besonderheit des spanischen Kinos besteht darin, dass es von unzähligen wirtschaftlichen und soziopolitischen Unbeständigkeiten geprägt ist und bis heute erfolgreich fort besteht, so dass diese Evolution weit hinaus über die werkimmanente Dimension im ‚Text’ des spani- schen Films gelesen werden kann. Gerade der spanische Filmkorpus scheint damit v.a. geeignet, exemplarisch die Verhältnisse zwischen Literatur und Film für die Adaptionsdiskussion zu systematisieren. Die sympraktische Kehrseite der Zeichenmedaille Mittels der vier Kategorien des Dialogischen6 (s. Abb. 1) kann die literarische bzw. fi lmische Kommunikation in einen fortschreitenden sympraktischen Prozess neu geordnet werden: Texte jeglicher Art sind genau dann sehr dialogisch angelegt, wenn sie in einer Wechselrede ( ) den Leser derart einbeziehen, dass dieser sich kraft seines vorbewussten und bewussten Vorwissens und seines sympraktischen Verhaltens in das Kunstwerk sinnfüllend investieren kann. Dabei wird ein pro- gressiver Lernprozess aktiviert, in dessen Verlauf vergangene Kommunikation immer wieder in die Gegenwart mit einfl ießt ( ). Es kommt im besten Fall zu einer reziproken Durchdringung von (Welt-)Bildern (2x ), die immer wie- der angesetzt werden, um Künftiges zu verstehen. Der Mensch erkennt in der Kunst nicht nur mit steigender Kompetenz immer mehr Bilder sprachlicher und nichtsprachlicher Art ( auf der Text-Seite), sondern durch die Teilhabe am ästhetischen Prozess insgesamt die Vielfalt der Welt und der eigenen Vermögen ( auf der Leser-Seite). Für die Theorie der Dialogizität ist vor allem wichtig, dass dieser fortschreitende Prozess ein lernender ist; das Erlernen der ‚Sprache der Welt’, d.h. der Sprache des Anderen (hier: des spezifi schen Texts), ermöglicht es uns, hieraus die eigene neue Sprache ( ) zu formulieren.7 Diese ist wiederum eine kreative Basis für das Anknüpfen an neue Zeichengebräuche - ästhetisch- künstlerischer oder alltäglicher Gestaltung. Kunst erweitert damit nicht nur die kreativ-künstlerischen Vermögen, sondern kann für den Umgang mit der Alltags- welt genutzt werden. Wichtig ist der Übertrag des künstlerisch Erlebten auf die eigene Lebenswelt; ein dialogisch angelegter Film „ [...] gibt dem Zuschauer durch den autoreferenziellen Umgang die Gelegenheit, sich des eigenen Lernens bewusst zu werden und eine dem Helden analoge Täuschung zu erleben und Selbstaufklärung zu leisten.“8 Der dialogische Sympraxis-Prozess kann in einer Grafi k zusammen gefasst werden: Film / Literatur 109 Abb. 1: Die Vier Kategorien des Dialogischen Dieser autodidaktische Prozess basiert auf der gegenseitigen Erweckung und Absicherung von Vermögen und kann als sich selbst potenzierender9 Prozess des Zeichengebrauchs beschrieben werden. Wie kann ein Text nun auf dieses dialogische Potenzial hin befragt werden? Wie lässt sich sowohl für den Roman wie für den Film ein Instrumentarium formulieren, mittels dessen man beide Werke über ihre technische Spezifi zität hinaus vergleichend analysieren kann? Es bedarf eines Fragenkatalogs, der die ästhetischen Bedingungen erörtert, die ein Autor mit einem Roman oder ein Regisseur in Zusammenarbeit mit Schauspielern und Kamera etc. anbietet, um den Menschen als gemeinschaftlich gebundenen und vielfach vermögenden Teilhaber einer Welt zu nutzen, mit der er im permanenten Dialog steht und in der er sich immer wieder neu entwirft. Es lohnt sich, dafür auf die dialogischen Thesen zu rekurrieren, die Kloepfer in Auseinandersetzung mit Todorov und Bachtin formuliert. Um sinnvolle Analysefragen an Film und Roman stellen zu können, werden sie in einer achtstufi gen Struktur neu systematisiert. Acht Dialogische Thesen Die Welt wird sinnlich wahrgenommen und im Prozess zeichenhaft vermittelt – sei es sprachlich, bildhaft, körperlich fühlend etc. Alle Sinne dienen dazu, die Welt zu erfahren, indem man mit ihnen ek-sistiert, d.h. in die Welt ‚heraustritt’. Erst dann ist sie für den Menschen wirklich. Erst über den Mitvollzug des Zeichenan- gebots der Welt, d.h. über die Sympraxis, reift Verstehen von Welt. Diese Welt ist nicht stets eins; für den Lernprozess ist es notwendig, dass der Mensch das verfremdende Gegenteil erfährt, das Zweifache. Dadurch entsteht der „Zwei“fel an den gewonnenen Überzeugungen, die neu erfasst wiederum als Grundlage für neues Verstehen gebraucht werden können. Das kann zum prag- matischen Bewusstwerden des Selbst führen, bspw. im Genuss von Kunst, die als Hyperpraxis der alltäglichen Praxis bezeichnet werden kann. In den folgenden Ausführungen werden in der hier gebotenen Kürze acht Hypothesen ausgebildet, 110 Film / Literatur um sie als Analysefragen für den wirkungsästhetischen Vergleich von Literatur und Film vorzuschlagen: These I: Verstehen und Antworten. Mit Bachtin kann man davon ausgehen, dass die kommunikative Grundlage des Dialogischen zu allererst das Sich-Einlassen ist, und zwar in dem Sinne, dass die Beteiligung an der besonderen Phatik, die ein Werk anbietet, zu Bedeutungen führt, auf die der Mensch antwortet. Die Leistung besteht in dem Sich-Anspre- chen-Lassen des Beteiligten durch das deautomatisierende Zeichen. Das wahr- nehmende Bewusstsein ist dazu befähigt, weil es unbewusstes und bewusstes Vorwissen aus der Vergangenheit integrieren kann. Das intellektuelle Fortschrei- ten ist nur möglich, weil Vergangenes in der Gegenwart als interpretatives Hand- werkzeug genutzt wird, um sich für Künftiges zu öffnen. Die Bewegung des Bewusstseins im besten Sinne ist also erste Grundvoraussetzung für das Dialo- gische. These II: Formung. Gliederungen, Intonationen, Gattungen etc. nehmen dabei die Antwort des Bewusstseins insofern vorweg, als dass sie als Formen des kollektiven Gedächtnisses kondensiert sind und die Wahrnehmung des Künftigen steuern.10 Kadrierungen, Schnitte, Zooms, Schwenks ebenso wie Farbgebung, Geräusche und Musik etc. formen als technische Mittel der Einstellung die Einstellungen des wahrnehmenden Bewusstseins, und zwar immer im Hinblick auf Künftiges. Kondensieren solche Formungen im kollektiven Gedächtnis, kann man bildhaft von Gefrorenen Formen sprechen, um gleichzeitig ihre Konsistenz für den Wahr- nehmungsapparat und ihre Vorläufi gkeit im potenziell infi niten, interpretativen Prozess zu verdeutlichen. These III: Ereignishafte Spannung und Kontextuelle Organisiertheit. Ist ein Leser/Zuschauer einmal beteiligt und lässt er sich auf erste Formungen seiner Wahrnehmung ein, kann der Text ihn ‚fesseln’: die ereignishafte Spannung im Bewusstsein kann aus dem Spiel zwischen narrativen Techniken und dem inner- und außertextuellen Kontext entstehen. „Innenpolitik“ und „Außenpolitik“ des Films greifen ineinander, so können Eindrücke für den Zuschauer abgesi- chert und eventuell sogar explizit bestätigt werden. Das ist keine simple Kondi- tionierung, sondern entsprechend Abb. 1 ein rhythmisches Ineinandergreifen von Bewusstsein und Welt. Dies setzt die Organisiertheit des Textes voraus: Die einzelne Äußerung wird nicht nur durch die umliegenden, nächsten Äußerungen kontextuell geprägt, sondern auch durch umfassendere Formungen wie Textgat- tung, Aufmerksamkeit in den Medien und Reputation von Verlag, Autor bzw. Regisseur und Verleih geformt. So lassen sich zwei Thesen in einer zusammen- fassen: die literarische bzw. fi lmische organisierte Komposition ermöglicht die Erweckung ereignishafter Spannung im Bewusstsein des Wahrnehmenden. Film / Literatur 111 These IV: Wertendes Grundverhalten und die zwei Gesten der Partizipation. Die Mitvollzug der Inszenierung eines Weltausschnitts ist ein wertender. Das evaluative Verhalten stützt sich auf in der Vergangenheit gelernte Werte, erlebte Formungen und empfundene Gefühle. Dieses sympraktische Grundverhalten der permanenten Wertung vollzieht sich in zwei Gesten: a) die Motivation des Geistes, d.h. die sinnstiftende Gemütsbewegung des Zuschauers/Lesers; und b) das Überschreiten des Dialogischen, womit das ‚Sich-Einlassen’ auf das Neue gemeint ist. Dieses Überschreiten kann auch rein visuell in der Abb. 1 wieder erkannt werden, wo das vierte Kriterium des Dialogischen die Formulierung einer eigenen neuen Sprache aus dem dialogischen Verhältnis heraus bedeutet hat. Der Dialog ist sozusagen das Sprungbrett für die Entfaltung des Selbst im Wir - und das geht nur über die Teilhabe am Gemeinsamen, d.h. der evaluativen Beziehung zwischen Werk und Wirkung im Menschen. Nun ist der Blickwinkel auf das jeweils spezifi sch Neue, das Gelernte vermit- tels der Eigeninvestition in den Text, gerichtet. These V: Dialogischer Mehrwert und Offenlegung der Verfahren. Mit dem „dialogischen Mehrwert“ wird jener Zugewinn an Welt und Selbst bezeichnet - d.h. an praktisch werdenden Vermögen - , der sich aus dem Ineinan- derwirken mit dem Gegenüber ergibt. Dabei darf es nicht zu einem Zusam- menfall mit dem Anderen kommen, da man sonst in ihm aufgehen würde. Das Dialogische erlaubt vielmehr das prozessuale Erschließen eines Dritten, und zwar durch die Fortführung der Kreativität des Autors vermittels der eigenen Kokreativität. Grundlegende Aktivität für die Entstehung einer Triade ist dabei das tastende Suchen nach Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung. Dieses Prinzip erlaubt es beispielsweise, auf eine gebrochene Norm negativ oder positiv (oder gar schwankend) zu antworten, seinen Gebrauch zu imitieren (oder abzu- lehnen) und langfristig ein Mehr an Vermögen zu entwerfen. Während dieses Prozesses legt der Text damit auch seine Machart, d.h. seine Techniken, offen. Denn fi lmische/ literarische Techniken sind wie Sprache nicht nur Mittel der Verständigung, sondern können sich auch selbst thematisieren; diese beiden Funktionen, Kommunikation und Autoreferenzialität, die der Sprache zugeord- net worden sind, erlauben in der Aufführung der Kodebedingungen auch das Durchdringen der technischen Komposition eines Textes durch den Leser. Dieser entwickelt an einem Werk also nicht nur Vermögen, die erkenntnistheoretisch seine Weltsicht und sein Eigenerlebnis betreffen, sondern auch Vermögen, die sich insbesondere auf den spezifi sch exemplarischen Zeichengebrauch beziehen. Das Dialogische Mehr ist doppelt: das Erfahren seines Selbst und der Verfahren der Kommunikation. Wie lässt sich der Zustand beschreiben, in dem sich Text und Leser in diesem Fall befi nden? Der Begriff der „Geistigen Dyade“, den auch Bachtin als das wirk- liche Objekt geisteswissenschaftlicher Forschung formuliert,11 umschreibt am 112 Film / Literatur besten die reziproke Durchdringung von Weltbildern, wie sie bereits in Abb. 1 angelegt ist. These VI: Komponierte Begegnung und Geistige Dyade. Wirken zwei Bewusstseine derart ineinander, dass sie zur Erkenntnis von etwas Neuem führen, vollzieht diese komplexe Interaktion die eigentliche dialogische Leistung. Im fortschreitenden Dialog vermehrt sich die Kompetenz des Lesers im gegenseitigen ‚Kitzel’ mit den Potenzialitäten des Textes; mehr Kompetenz ermöglicht mehr Erkenntnis und vice versa. Das Ineinanderwirken der Bewusst- seine, die Wechselrede, kann vor allem durch die sukzessive Bestätigung erlangter Vermögen immer enger werden, bis schließlich der Lernende aus der Komposi- tion heraustritt und mit neuen Vermögen an neue ästhetisch genussvolle Dialoge anschließen kann. Mit ‚neuen Vermögen’ ist stark verkürzt ein Prozess gemeint, den man als „Erkenntnisüberschuss“12 aus der Rede des Anderen beschreiben kann. Wird der Andere als potenzielle Eigenfremdheit erkannt, bzw. als eigene Fremdeigenheit, erschließen sich potenziell unendliche Möglichkeiten der Selbst- Werdung aus der Begegnung mit dem Du. These VII: Kommunikative Prinzipien. Die alltäglich angewendeten kommunikativen Prinzipien sind mit jenen vergleich- bar, die die Kunst nutzen kann. Umgekehrt können die im ästhetischen Genuss gewonnenen Erkenntnisse, wenn die Prinzipien in der Kunst qualitativ gesteigert angewendet werden, auf die ‚alltägliche’ Lebenswelt übertragen werden und zu einem Mehr an Menschwerdung führen. Dieser Transfer der Prinzipien ist die letzte Bedingung für den erfolgreichen, semiotisch komponierten und symprak- tisch geleisteten Lernprozess, der durch die Übertragbarkeit von Erkanntem in unterschiedlichste kommunikative Bedingungen ermöglicht wird: Zum Abschluss lässt sich eine letzte These aufgreifen, die aber über die spezi- fi sche dialogische Aktivität hinausgeht und die Wirkpotenz des dialogisch ange- legten Textes unabhängig von der Zeitkomponente betrifft. Daher soll sie hier die Darstellung der acht dialogischen Thesen abrunden: These VIII: Ahistorische Ereignishaftigkeit. Wie in den vorangegangenen Thesen deutlich geworden ist, dringt der Leser mit den eigenen Sinnen in das Wirkangebot des Textes ein. Je tiefer und umfassender dabei in letzter Instanz die Sinnfragen durchdrungen werden, desto größer und wirkungsvoller ist die Ereignishaftigkeit der Wechselrede. Ist das Angebot des Textes nun künstlerisch so gestaltet, dass diese Wirkung - zwar immer wieder anders, aber in ähnlicher ‚Tiefe’ - auch von weiteren Lesern noch Jahre später in anderen (kulturellen) Räumen erfahren werden kann, handelt es sich um einen wirksam dialogisch gestalteten Text, da er nicht nur die eine spezifi sche Ereig- nishaftigkeit vermitteln konnte, sondern darüber hinaus eine ahistorische Ereig- nishaftigkeit besitzt, die ein nahezu überzeitliches Prinzip, eine ursprüngliche Universalie, aufzuführen vermag (bspw. Lebensbedingungen unter einer Dikta- tur). Sinnhaftigkeit kann in diesem Fall auch über extreme zeitliche Distanzen hinweg prozesshaft kreiert werden. Film / Literatur 113 Fasst man diese neuen Hauptthesen I bis VIII zusammen, kann man sie als Maßstab für die ‚Qualität der Dialogizität’ in der Interpretation eines dialogischen Angebots etwa eines Romans oder eines Films nutzen. Sie beschreiben den fort- schreitenden Weg des wirkungsvollen Ineinandergreifens von Textangebot und Leserleistung. Damit kann der Weg versucht werden, die Güte der Adaption eines Kunstwerks von einem Medium in ein anderes an Hand des Wirkungspoten- zials zu ermessen; denn die Leithypothese ist es, dass der Vergleich der Kompo- sition eines Wirkungsangebotes mit einem zweiten Wirkungsensemble ungenutzte ästhetische Potenzialialitäten im einen oder anderen Kunstwerk aufdecken kann. Entwickelt ein Roman bzw. ein Film, jeweils mit den ihm spezifi sch inhärenten Techniken, systematisch ein ästhetisches Angebot, auf das man im Sinne Bachtins vielfach ‚antworten’ kann, um sich zu etwas Neuem aufzumachen, entspricht der Leser/ Zuschauer der sinnvollen Ansprache in der aufgeführten Vielfalt mit einer Potenzierung der eigenen Vermögen. Das Sich-Einlassen, die Eigenkreativität, die Investition von errungenem Vorwissen und Intuitionen sind unabdingbar für die sinnstiftende Fortführung der Autorkreativität. Grundlegende Voraussetzung für die qualitative Steigerung des Dialogs ist darüber hinaus die wiederkehrende Absicherung von Erkanntem, bzw. die Bestätigung der erlangten Vermögen durch den Text. Ohne solche ent-spannenden ‚Zwischenstopps’ könnte die Spannung nicht als solche in ihrer ganzen Qualität erfahren werden. Die acht dialogischen Hauptthesen, die sich aus der Dialogizität bei Bachtin entwickeln lassen, können nun in Analysefragen umformuliert werden, die an Roman und Film gleichermaßen gestellt werden können: 114 Film / Literatur Tab. 1: Dialogische Thesen – Teile 1 und 2 Wichtig dabei ist, dass den Dialogischen Thesen keine Linearität zu Grunde liegt, sondern sie vielmehr einen sich steigernden spiralförmigen Prozess beschreiben, der von der ersten Deautomatisation, dem ‚Aufhorchen’ des Rezipienten, bis zum orts- und zeitunabhängigen Nachvollzug der Ereignishaftigkeit dank des autodi- daktischen Prinzips voranschreitet. Dieser Prozess kann hier leider nur zweigeteilt dargestellt werden. Die abgeleiteten Analysefragen für das Wirkungsensemble in Roman und Film sind in einem größeren Rahmen vergleichend an beide Medien gestellt worden. Hier können die Ergebnisse der computergestützen Analyse (akira) nur verkürzt wieder gegeben werden. Zusammenführung der Ergebnisse Der Roman nutzt seine Verfahren und deren Offenlegung, um zur Sinnstiftung anzuleiten, bzw. um wirkungsvoll eine Gesellschaft zu entwerfen, deren Bedin- gungen wir beispielhaft in der Kunst empfi nden sollen - auch lange nach der Fran- codiktatur und jenseits Spaniens. Der Roman hat die erlernten Prinzipien genutzt, um sie weiter zu entwickeln. Dazu zählen vor allem die Erfahrung von Gewalt und Unterdrückung wie aber auch auf der technischen Ebene die Erkenntnis von der Vorläufi gkeit menschlichen Wissens (etwa im wertenden Prozess der Teilhabe an der Verurteilung des Halbjuden). Beides wurde ausführlich dargestellt. Der Roman macht zudem mehrere Angebote, die erkannten Prinzipien auf sich als Leser und den Menschen zu übertragen. All dies prägt die Rezeption des zweiten Schlüsselkapitels. Dieses verfährt dann wie folgt: Es formt das Bewusstsein des Film / Literatur 115 Lesers mit Hilfe eines vorgeschalteten Kapitels hin auf das Erleben der Span- nung des Menschen als Selbst und als Wir (These II). In diese Spannung ist man ausdrücklich aufgerufen, eigene Erfahrungen und Vorwissen zu investieren; die Komposition der Zeichen provoziert die Tiefenschichten des Lesers (fast an jedes einzelne Wort der freien Bewusstseinsströme des Inhaftierten können ganze Geschichten angebunden werden) - das entspricht These III. Der dialogische Mehrwert kann dort entstehen, wo Text und Leser derart ineinander wirken, dass erzeugte Ängste und Hoffnungen immer wieder wechseln. Das Erleben dieses Fremdeigenen kann genutzt werden, um es auf die eigenen Bedingungen zu übertragen und zu entscheiden, inwiefern es Übereinstimmungen mit ihnen gibt. Der gesamte Weg des Dialogs wird beschritten (Thesen IV-VII). Wie aber kann all das auch noch nach Jahren erlebbar gestaltet sein? Die strukturelle Klammer um diese Schlüsselszene verliert auch jenseits von Spanien in der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht an Wirkung, sie ist ein literarischer ‚Trick’ und spannt den Leser in das Zeichenangebot ein. Der besondere sympraktische Weg lässt sich zusammen fassen: 1. Spannung Selbst vs. Wir (schon im Kontext der Szene) 2. Absicherung des Gewaltparadigmas 3. Eröffnen von sprachlichen, wissenschaftlichen u.v.a. Registern 4. Aufforderung zur Verknüpfung der eigenen Geschichte mit der Erzählung 5. Sympraxisaufforderung und -leistung 6. Erfahren der Kristallisationsfi guren als den einen Pol 7. Geistige Ausbildung des anderen Pols: Alternativkultur 8. Explizites Verschließen von Potenzialitäten Insbesondere der letzte Schritt ist eine zeichengesteuerte Provokation, die den Hunger nach einem Austreten aus den Bedingungen der Unterdrückung noch verstärkt. Der Roman schlägt in einem kognitiven Rhythmus; der Film verharrt ins- gesamt auf der Ebene des ästhetischen Ansprechens, wo Bedeutungen beantwor- tet werden. Er hat die diegetische Welt weiter als fertiges Muster vorgeführt und bestätigt und lässt die zweite Schlüsselszene mit einem grundlegenden Kompetenzgefühl beginnen; der Fortgang der Geschichte erscheint durchweg logisch und vorhersehbar. Die Demontage der Autorität des Richters kann zwar eine gewisse erste Kritik an einem verknöcherten Spanien ermöglichen; dies ist jedoch unter den semiotischen Bedingungen eher unwahrscheinlich. Der Zuschauer ist auf die Muster einer Story hin geprägt, die die verhinderte Liebe eines Arztes zu einem Mädchen aus der Mittelschicht zeigt. Die Hauptfi gur Pedro wird durch die fi lmischen Verfahren wie ein märchenhafter Held inszeniert - selten unsicher, oft beherrscht. Empathie ist möglich, geht aber unter dem stere- otypen Melodrama zwischen Frau und Mann unter. Neuer Sinn kann nur bedingt entfaltet werden; es dominieren entsprechend genau jene Bedeutungen den Sinn, die dem Zuschauer ohnehin bekannt sind. Es herrscht Wieder-Erkennen. Aus 116 Film / Literatur diesem Grunde erscheint es nicht zu hoch gegriffen, von einer ‚Oberfl ächen‘- Komposition zu sprechen, legt man das dominante Stilmittel der amerikanischen Kadrierung dem Film zu Grunde. Das Angebot des Films kann zusammen gefasst werden als: 1. eigenes Kompetenzgefühl als Öffnung zu Neuem 2. Einfühlung in Leid des Helden möglich 3. Bestätigung des nüchternen Helden 4. Gewisses Kritikverhalten durch Dorita 5. Einfühlung aber auf Helden konzentriert 6. Erneute Absicherung von Ruhe & Ordnung 7. Abruf von Stereotypen 8. Absolute Vorhersehbarkeit 9. Kohärenz mit Ausgang der Story Das Wirkungsensemble des kohärenten Films konterkariert geradewegs den kognitiven Rhythmus des Romans. Darüber hinaus bestätigt schon die Inszenie- rung von Doritas Leichnam den Eindruck einer gestorbenen Prinzessin, wie er sich schon in der Gefängnisszene ergeben hat. Sie wird verträumt, vollbusig und mit roten Lippen gezeigt (eindeutig stärker geschminkt als unmittelbar vor dem Mord) und erscheint begehrenswert. Auch hierdurch wird die sinnstiftende Ansprache an den Leser reduziert auf das Entsprechen einer Bedeutung. Man empfi ndet Trauer ob des Verlusts der Schönen, ohne dass dies im letzten Teil des Films zu etwas genützt würde, wie z.B. zur Gesellschaftskritik. Im Gegenteil wird Dorita vom blutüberströmten Opfer des Romans zur lieblich anzusehenden Prinzessin im Film verkehrt. Der Film reduziert Wirklichkeiten, während der Roman eben diese eröffnet: die Vielfalt der Sinnebenen lässt den Romanleser kompetent eine Lebenswelt erfahren, die er aufgerufen ist, in sich aufzuführen. Die Adaption kommt zwar zum Ende dazu, fi lmische Möglichkeiten zu nutzen, vermag aber nicht, die semi- otische Führung des Zuschauers zur Inszenierung von wirksamen Bedingungen zu nutzen. Der Roman leitet zu einer umfassenden Kulturkritik an, die die selbst verschuldete Unmündigkeit anprangert, während der Film eher als theatrales „Märchen“ funktioniert. Beide ästhetischen Angebote beantwortet der jeweilige Rezipient entsprechend; jedoch ist es nur bei dem Roman möglich, auch nach (großer) zeitlicher und räumlicher Distanz die Ereignishaftigkeit durch das eigene sinnstiftende Mithandeln wirksam in sich aufzuführen und sich prinzipielle gesell- schaftspolitische Fragen über die eigenen Bedingungen zu stellen. Legt man dem wirkungsästhetischen Vergleich zwischen Text und Verfi lmung die Kriterien des Dialogischen zu Grunde, erkennt man am Beispiel des literarischen Wirkungsen- sembles, wie sich die Potenziale des Texts und die Kompetenzen des Lesers im Dialog wechselseitig stärken. Die Dialogischen Hypothesen, auf die sich diese Analyse stützt, lassen sich abschließend in das eingangs besprochene Modell zum Dialog integrieren: Film / Literatur 117 Abb. 2: Dialogizität am Beispiel des Romans „Tiempo de Silencio“ Der Roman bewegt das Bewusstsein, so dass sich der Leser zunächst auf ihn ein- lassen (I) kann, formt und prägt sodann die künftige Wahrnehmung (II), setzt den Leser gegenwärtig in Spannung zum Zeichengebrauch und vielfältigen Kontexten (III), so dass er schließlich aufgerufen ist, am Prozess der Sinnstiftung13 wertend teilzuhaben (IV). Diese ersten vier Schritte sind die Grundvoraussetzung für die Fortführung der Autorkreativität (V) qua Eigenkreativität (V). Es ergibt sich eine so genannte Geistige Dyade (VI), in der sich das Eigene und das Fremde im Dialog begegnen. Werden aus diesem Prozess neue kulturelle, soziale, anthropologische, ästhetische o.a. universelle Erkenntnisse erkennbar und auf die Bedingungen des Rezipienten übertragen, so werden durch den Genuss Kompetenzen erweckt, die in anderen Formen der Kommunikation wieder gebraucht werden können; man vollzieht den Transfer von Prinzipien (VII). Ist die mimetisch-diskursive Komposition nun derart angelegt, dass sie auch zu anderen Zeiten an anderen Orten vergleichbar ereignishaft empfunden werden kann, kann man von einer ‚ahistorischen’ Wirksamkeit des ästhetischen Angebots sprechen (VIII). Tiempo de silencio von Luis Martín-Santos bietet diesen Weg - insbesondere in den Schlüsselszenen - mehrmals an, so dass man auch heute einen künstlerisch model- lierten Weltausschnitt in sich selbst erfahren kann. Für diesen Lernprozess ist es notwendig, dass Erkanntes abgesichert wird. Die Form der Bestätigung, sei es in der Erfahrung von Kompetenz, in der Bekräftigung einer Vorahnung oder in der Absicherung von Wissen, begleitet systematisch die verschiedenen Handlungen der Sympraxis, so dass sich das Bewusstsein immer wieder zu Neuem aufmachen kann. Der Roman verfährt dabei ‚fi lmischer’ als seine Adaption. Das heißt, er nutzt die bedeutungsvolle Kontrastierung von Kapiteln ähnlich wie Rückblenden, Schnitte und Exkurse und montiert damit seine Zeichen bedeutungsvoll. Lange Satzgefüge wechseln beispielsweise mit verkürzter Syntax rhythmisch ab und fokussieren damit den Leser„blick“ immer wieder neu - ähnlich wie der Wechsel von Zoom und Totaler oder Fahrt und Stativ. Der Roman stilisiert sogar seine 118 Film / Literatur Aussagen mit der Hilfe redundanter, d.h. sich selbst verstärkender, Zeichencluster, um sie so noch wirkungsvoller zu gestalten, z.B. indem er Lexikon und Syntax sich - fast lyrisch - entsprechen lässt - wie im Rauschzustand der Nachtschwärmer. Die Bedeutungsfülle, in der wir Sinn schaffen sollen, wird vor allem durch die Erzähler-Monologe jenseits der eigentlichen Handlung sowie durch explizite Sym- praxisaufforderungen als zusätzliche Elemente abgesichert. Besonders die syn- kopische Erzählform, das gezielte Aussparen von Antworten und Satzendungen, provoziert und beschleunigt unsere Sympraxis enorm. In dem Versuch einer Soziologie der Literatur urteilt der spanische Soziologe Jorge Riezu Martinez in diesem Sinne über den ästhetischen Anspruch des Romans und qualifi ziert ihn als Werk, das den anonymen Leser in einen Dialog einführt, der ihn bekannte und neue Wirklichkeiten und Gefühle entdecken lässt, so dass der Leser zum sinnstiftenden Gesprächspartner des Romans14 wird. Der Leser wird zum teilha- benden Gegenüber. Das ist die eigentliche dialogische Leistung des Romans, die die Adaption offenkundig nicht erreicht. Die Dialogizität als Maßstab für die Literaturverfi lmung Der Ausgangsgedanke lautete: Je qualitativer ein Text oder ein Film ist, desto mehr geht er über abrufbare Formen der Respons hinaus, um grundlegende Potenzialitäten zu erwecken und den Rezipienten so zu ermöglichen, in sich die Erbauung eines größeren Selbst zu erleben - bspw. durch das Empfi nden dikta- torischer Bedingungen. In den Mittelpunkt der Diskussion um die Qualität von Filmadaptionen literarischer Vorlagen sollte entsprechend der Sympraxistheorie der Wirkungsgrad der aufgeführten Verfahren gestellt werden, die dazu aufrufen, selbst praktisch wirkend zu werden, indem man sich in einen Dialog mit dem Fremdeigenen begibt. Die Verfahren sichern Gelerntes ab und bestätigen Kom- petenz, damit man sich zu Neuem aufmachen kann. Nur auf diesem Wege ist nachvollziehbar, in welchem Maße sich die in der Kunst qualitativ gestei- gerten Prinzipien (der Kommunikation, der Gesellschaft, der Kunst und der Kul- tur selbst) wechselseitig mit den Kompetenzen des Rezipienten steigern. Diese wirkungsästhetische Perspektive erlaubt es, für die Debatte um Literaturver- fi lmungen ein systematisches Analysekonzept anzubieten, mit dem die Frage nach dem Was in Verbindung mit dem Wie keinesfalls ignoriert wird, sondern das Wozu in den Fokus der Analyse rückt. Legt man mit Bachtin die Theorie der Dialogizität solchen Untersuchungen zu Grunde, lassen sich dialogische Potenzialitäten im Roman identifi zieren, die im Verlaufe der Adaption übersetzt, evtl. besser entfaltet oder auch gar nicht genutzt werden - wie meistens im Falle von Tiempo de Silencio. Obwohl dieser Roman bereits relativ ‚fi lmisch’ angelegt ist, übersetzt der Film dieses Zeichenangebot nicht. Umgekehrt wird erkennbar, auf Grund welcher Techniken ein Film den Zuschauer mehr zur Mitarbeit auffor- dert, als es ein Roman vermag. Die dialogische Inszenierung in der Kunst bean- sprucht die sympraktische Bewusstwerdung in der Welt. Sie kann als Maßstab herangezogen werden, wenn es gilt, im intersubjektiven Austausch eben dieses Potenzial beim Vergleich verschiedener Aufführungsorte der Welt, d.h. in Kunst- Film / Literatur 119 werken, zu identifi zieren. Wenn bspw. wie in Héctor Babencos Verfi lmung von El beso de la mujer araña (1985 und 2001 Neuverfi lmung des gleichnamigen Romans von Manuel Puig) die Werte-Welten zweier Männer und mit ihnen zweier Gesell- schaftsschichten am Beispiel verschiedener sexueller Orientierungen aufeinander prallen und dies entsprechend der literarischen Vorlage durch eine Vielzahl sich einander potenzierender Filmtechniken unterstützt wird,15 dann wird vermittels der Erfahrung dieser synästhetischen Inszenierung auch ein Stück Selbst erkenn- bar, das erst dann für den ‚Rezipienten‘ wirksam ist. Was in einem Weltausschnitt dialogisch inszeniert wird, kann sympraktisch bewusst werden. 1 Die Arbeiten von Rudolf Rach: Literatur und Film. Köln/Berlin: Grote 1964, Alain Garcia: L’Adaptation du roman au fi lm. Paris: Diffusion 1990 und Michalea Mundt: Transformationsanalyse. Tübingen: Niemeyer 1993, sind dominant diskursorientiert, d.h. behandeln komparatistisch die technischen Dimensionen der beiden Medien. Alfred Estermann: Die Verfi lmung literarischer Werke. Bonn: Bouvier 1965, und Gabriele Seitz: Film als Rezeptionsform von Literatur. München: tuduv 1979, erarbeiten aber bereits früh verschiedene Modelle, um unterschiedliche Abstufungen von fi lmischen Übersetzungen zu beschreiben. Sie beschreiten damit eine Brücke zur dritten Perspek- tive, unter der sich die Übersetzungsproblematik zwischen Roman und Film betrachten lässt: Jan Marie Peters, „Sprechakttheoretische Ansätze zum Vergleich Roman-Film“. In: Paech, Joachim (Hg.): Methodenprobleme der Analyse verfi lmter Literatur. Münster: Nodus 1988, sowie Franz-Josef Albersmeier: Theater, Film und Literatur in Frankreich. Darmstadt: WBG 1992, und Wolfgang Gast: Literaturverfi lmung. Bamberg: Buchner 1993, stellen jeweils Ansätze vor, mittels derer die wirkungsästhetische Perspektive bewusst oder unbewusst in den Vordergrund gerückt wird. Hier wäre auch von Christiaan von Tschilschke: Roman und Film. Tübingen: Narr 2000, einzuordnen, der die Wirkpotenziale der fi lmischen Poetologie im Bewusstsein des Zuschauers in den Vordergrund rückt. Insgesamt kann man eine Diskussionsverschiebung vom Was und Wie, von „Inhalt“ und „Form“ - benutzt man diese vereinfachenden Kategorien -, hin zum Wozu, zur wirkungsästhetischen Dimension verzeichnen. 2 Die Sympraxistheorie zielt darauf ab, die Semiotik um die Dimension des Zeichennutzens sinnvoll zu ergänzen. Neben Mimesis und Diskurs legt sie den Akzent vor allem auf die Sympraxis als text- gesteuerte Pragmatik. Eine Grundlage hierfür sind Emotionen. Dieser vorausgehenden Affi zierung folgen komplexe innere Handlungsmuster, wenn man die Emotionen zulässt. Man vermutet, erkennt wieder, erinnert Vergangenes und schließt auf Künftiges, d.h. man versucht, das Wahrgenommene intuitiv zu strukturieren. Intuition gründet auf einem wertenden Grundverhalten, das den Menschen zwischen Möglichkeiten auswählen lässt: „Das komplexe Wertungssystem des Menschen [...] ist aufgrund der gleichen Prinzipien ‚schöpferisch’: Es (er-)fi ndet günstige Wahlmöglichkeiten, welche durch das Denken geprüft und verwirklicht werden können.“ (Rolf Kloepfer: Warum Gefühle für die ästhetische Kommunikation so wichtig sind. Univ. Mannheim: Manuskript 1999, S. 7). Dieses intuitive Raten ist notwendige Voraussetzung für das Lernen. Der Aufforderungscharakter der Welt zwingt förmlich (!) dazu, permanent zu vermuten, warum/wo und wann/wie/wozu etwas ist. Die Wirkung der Handlungen modifi ziert das Bewusstsein wiederum derart, dass entweder eine Einstel- lung beibehalten (Identität erlebt) oder geändert (Innovation erfahren) wird. Ist die zeichengelenkte Führung genüsslich gewesen, d.h. hat sie möglichst viele Sinne synästhetisch angesprochen und im günstigsten Fall an das Vorwissen des Zuschauers angeknüpft, ist die Wirkung um so größer. 3 Kloepfer, Rolf: „Grundlagen des dialogischen Prinzips in der Literatur“. In: Lachmann, Renate: Dialogizität. München: Fink 1982, S. 105. 4 Román Gubern unternimmt mit einer Reihe weiterer Historiker mit der Veröffentlichung der Histo- ria del Cine Español 1995 den ersten umfassenden Versuch, eine durchgängige Geschichtsschreibung des spanischen Films unter sozio-historischen Bedingungen vorzulegen. Der interdisziplinäre Ansatz ermöglicht das Verständnis der vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Film und Gesellschaft. 5 Gubern, Roman et al.: Historia del cine español. Madrid: Catedra ²1995, S. 16. 6 Kloepfer formuliert die Kategorien des Dialogischen erstmals in den Grundlagen des „dialogischen Prinzips“ in der Literatur (in Lachmann 1982). Hierauf gründet auch der Aufsatz „Intertextualität und Intermedialität oder die Rückkehr zum dialogischen Prinzip“. In: Roloff, Volker und Jochen Mecke (Hg.): Kino-/ (Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur, Siegener Forschungen zur romanischen Literatur- und Medienwissenschaft. Bd. 1, Tübingen: Stauffenberg 1999. 120 Film / Literatur 7 Diesen Prozess illustriert Kloepfer mit der Analyse des Films Toto der Held von Jaco von Dormael. Sie ist veröffentlicht in Kodias/Code 1994: S. 47-72 sowie in Auszügen in Kino-/(Ro)Mania I 1999: S. 43ff. 8 Kloepfer, Rolf: „Intertextualität und Intermedialität“, S. 45. 9 Diese Darstellung ist hier verkürzt, doch Semiose ist kein perpetuum mobile. Sie verlangt die Selb- stinvestition in den Zeichengebrauch, damit das Mangelwesen Mensch aus der Fülle des Zeichenseins Zeichenhaben, d.h. semiotische Kompetenz, generiert. Lernen ist eine un-/bewusste Aktivität im besten Sinne: man erfährt Wirkung und wirkt selbst. 10 Für den Film lässt sich mit Hickethier auf die Rahmen-Problematik verweisen: „Zum einen ist das, was im Bild gezeigt wird, eine in sich abgeschlossene Welt, die durch die Bildgrenzen ihr Ende fi ndet, durch sie defi niert wird, in der sich alles aufeinander bezieht. Zum anderen ist das Filmbild wie ein Fenster, durch das hindurch wir auf eine andere Welt sehen, die vor allem dann, wenn wir uns mit der Kamera zu bewegen beginnen, ein umfassendes Ensemble sichtbar macht.“ (Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart/Weimar: Metzler 1996, S. 50). Der Schirm kann im Umgang mit einem spezifi schen Weltausschnitt je nach Kontext als unterschiedliche gefrorene Form, als Grenze oder als Fenster interpretiert werden. 11 Bakhtin, Mikhail: Problems of Dostoevsky’s Poetics. Minneapolis: UMP 1984, S. 364. 12 Kloepfer umschreibt mit „Erkenntnisüberschuss“ das jeweils Neue, den Zugewinn aus einem Lernprozess, ebenso wie Bachtin in Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt: Suhrkamp 1979, S. 88. 13 Der Prozess der Wertung kann dabei nicht oft genug als grundlegender sympraktischer Anspruch hervorgehoben werden, der Verstehen und Lernen erst ermöglicht. Die desorientierende Welt Pedros erscheint dagegen als appellatives Antimodell: Hier liegt die Aktualität von Tiempo de Silencio, der zur Refl exion über eine Welt wird, in der der Mensch zunehmend an allgemein gültigen Ideologien und auch an Orientierung verliert (Rey, Alfonso: Construcción y Sentido de Tiempo de Silencio, Madrid: José Porrua 1992, S. 254). Der inszenierte Werteverlust und das Scheitern der Hauptfi gur sind um so mehr Aufruf, in der Gegenwart eigene Werte zu bilden und zu leben. Das ist der sozial- kritische Ansatz des Romans, der im Dialog empfunden werden kann. 14 Riezu spricht von „interlocutor“: Riezu Martinez, Jorge: Análisis sociológico de la novela . Salamanca: San Sebastian 1993, S. 118. 15 Eine ausführliche Beispielanalyse ist derzeit in Arbeit und wird mit dem Konzept der Acht Dialo- gischen Thesen 2003 unter dem Titel dieses Vortrags veröffentlicht werden. Film - Analysen / Rezeptionen 121 Catrin Corell Holocaustfi lme an der Schwelle zum 21. Jahrhundert - neue Wege des Umgangs mit der Vergangenheit 1. Einleitung Seit Kriegsende gibt es zahlreiche Filme, die sich mit dem Nationalsozialismus und der damit einhergehenden Judenvernichtung beschäftigen. Hierbei waren überwiegend ernste Formen der Umsetzung vorherrschend. Eine Gruppe von Spielfi lmen jüngeren Datums nähert sich dem gewichtigen Thema auf unkonven- tionelle Weise, wie Roberto Benignis Das Leben ist schön (Italien 1997), Radu Mihaileanus Zug des Lebens (Frankreich/Belgien/Rumänien/Niederlande 1998) sowie Peter Kassovitz’ Jakob der Lügner (USA/Frankreich/Ungarn 1999). Im Anschluß an einführende Überlegungen hinsichtlich des heutigen Holocaust- Gedenkens widmet sich dieser Artikel der Frage, inwiefern populäre Erinnerungs- formen - insbesondere der Spielfi lm - die Menschen angesichts dieses schwer vermittelbaren Themas erreichen können. Hierbei geht es einerseits um die Chan- cen künstlerisch geprägter Populärkultur im Vergleich zum historischen Diskurs, andererseits um die Prinzipien für das Gelingen künstlerischer Kommunikation in bezug auf die Vergegenwärtigung des Holocaust. Letztere sollen als Kriterien zur Analyse und Beurteilung der drei o.g. Spielfi lme dienen. 2. „Erinnerungsboom“ versus Erinnerungsresistenz Während nach der Befreiung der wenigen Holocaust-Überlebenden aus den Konzentrationslagern über lange Zeit eher Sprachlosigkeit in bezug auf dieses schwärzeste Kapitel deutscher Geschichte herrschte, ist das Thema - beinahe 60 Jahre danach - omnipräsent. Wie läßt sich diese „Diskurswucherung“1 erklären? Jan und Aleida Assmann sprechen in diesem Zusammenhang vom Übergang des kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis einer Gemeinschaft.2 Das Ausster- ben der Lagerinsassen steht unmittelbar bevor und damit auch die Möglichkeit, Zeitzeugen befragen zu können. Dieser zeitlichen Begrenzung des kommunikati- ven Gedächtnisses versuchen Kollektive durch eine verstärkte Erinnerungsarbeit zu begegnen. Primärerfahrungen, d.h. lebendige Erinnerungen, werden durch vielfältige mediale Speicherung in das kulturelle Gedächtnis überführt, so daß sie in vermittelter Form auch nachfolgenden Generationen zur Verfügung stehen. Diese gesteigerte Aufbewahrungsarbeit erleben wir heute - ein Blick in Zeitun- gen, Fernseh- und Kinoprogramme und das Verfolgen zahlreicher öffentlicher Debatten3 genügen, um festzustellen, daß der Holocaust in unterschiedlicher Form allgegenwärtig ist. Mit dem angesprochenen Übergang vom kommunikativen Kurzzeit-Gedächtnis zum kulturellen Langzeit-Gedächtnis geht eine zunehmende Refl exion über die „richtige bzw. angemessene“ Erinnerungsform einher.4 Ver- schiedenen Forschern drängt sich gar der Eindruck auf, „als lege sich dieses Inter- esse an den Verarbeitungsformen über die Aufmerksamkeit für das historische Geschehen selbst.“5 Parallel zur Allgegenwart des Holocaust in der öffentlichen Diskussion in der beschriebenen Weise oder in Form von Gedenkveranstaltungen, gibt es verschie- 122 Film - Analysen / Rezeptionen dene Indizien, die auf einen zunehmenden Überdruß weiter Teile der deutschen Bevölkerung im bezug auf Erinnerungsrituale schließen lassen. Anläßlich des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar 2001 gab der amtierende Bundespräsident Johannes Rau zu bedenken: „Es gibt ein Unbehagen, ja einen Unwillen gegenüber dem, was als staatlich verordnetes Erinnern empfunden wird.“6 Trotz aller Vorsicht gegenüber statistischen Erhebungen sei in diesem Zusammenhang auf eine vom Emnid-Institut Bielefeld 1997 durchgeführte Befragung zum Wissensstand über die nationalsozialistischen Verbrechen verwiesen. Von den Angehörigen der zwei- ten und dritten Nachkriegsgeneration „[...] hielten 26,4 Prozent die Erinnerung [an den Holocaust] für weniger wichtig oder sogar für völlig unwichtig. [...] Schließlich meinte fast jeder von ihnen, daß >irgendwann auch mal ‚Gras’ über die Dinge wachsen< müsse.“7 In einer vom Nachrichtenmagazin Der Spiegel im Januar 1992 durchgeführten Meinungsumfrage zum Verhältnis von Deutschen und Juden hatten sich 60 % der befragten Deutschen für einen Schlußstrich unter die Vergan- genheit ausgesprochen.8 In bezug auf diese Umfrageergebnisse deutet Elisabeth Domansky einen wohl nicht zufälligen Zusammenhang an: „Die Ergebnisse dieser Umfrage erschienen zur gleichen Zeit, als öffentliche Erinnerung in Deutschland wieder einmal einen ihrer auf >Jahrestage< fi xierten Höhepunkte erreichte.“9 Diese − von Domansky konstatierte − Kluft zwischen der „Erinnerungsresistenz einer Mehrheit der Deutschen [einerseits und der] demonstrierten Erinnerungs- willigkeit der deutschen Gesellschaft“10 und Öffentlichkeit andererseits, wird von Norbert Frei in vergleichbarer Weise beobachtet. Er spricht, neben zusätzlichen Differenzierungen, von der Unterscheidung zwischen „allgemeiner Erinnerungs- bereitschaft [und] individueller Diskretionswahrung.“11 Fraglich ist jedoch, ob dieser Unwille sämtliche Formen des Gedenkens bzw. der Erinnerung an den Holocaust gleichermaßen betrifft. Heute scheint das zentrale Problem hinsichtlich der Vergegenwärtigung des- selben zu lauten: Auf welche Art und Weise lassen sich die Menschen in einer Zeit erreichen und involvieren, wenn die Zeitzeugen bald nicht mehr selbst über ihre Erfahrungen berichten können, die Historiker allmählich ihr Deutungsmonopol verlieren, das normative „Erinnere dich!“ inzwischen kritisiert wird und immer häufi ger ein „Schlußstrich“ unter die Vergangenheit gefordert wird? 3. Chancen künstlerisch geprägter Populärkultur bei der Vergegenwärtigung Die Analyse des Holocaust-Gedenkens ergibt, daß mittlerweile nicht mehr nur nationalstaatliche, sondern - bedingt durch populärkulturelle Einfl üsse - zuneh- mend nationenübergreifende Erinnerungsformen existieren. In diesem Zusam- menhang stellen Levy/Sznaider eine allgemeine Visualisierung der Kultur durch Ausstellungen, Filme und Gedenkstätten fest und zeigen, wie sich der Holocaust in den vergangenen Jahren durch seine massenmediale Verarbeitung - v.a. durch die amerikanische TV-Serie Holocaust (1978) oder auch Spielbergs Spielfi lm Schindlers Liste (1993) - aus dem „nationalstaatlichen >Container<“12 herauslöste. Populärkultur sei demnach in der Lage, breite Bevölkerungsschichten zu errei- chen13 und mache der Geschichtswissenschaft das bisherige Deutungsmonopol Film - Analysen / Rezeptionen 123 streitig: „Damit verlieren die Historiker an Bedeutung, besonders wenn man deren momentane Marginalisierung mit ihrer erheblich prominenteren Rolle bei der Schaffung nationalstaatlicher Symbole während der Ersten Moderne vergleicht.“14 Wie läßt sich dieser Bedeutungsverlust der Geschichtswissenschaft zugunsten populärer Erinnerungsformen erklären, wenn inzwischen selbst Historiker ver- mehrt auf das deren Potential in bezug auf die Vergegenwärtigung von Geschichte aufmerksam machen?15 Im Folgenden wird den unterschiedlichen Schwerpunkt- setzungen der beiden Herangehensweisen hinsichtlich der Vermittlung historischer Ereignisse nachgegangen. Die traditionellen Formen des historischen Diskurses sind größtmöglicher Authentizität im Sinne einer historischen Rekonstruktion verpfl ichtet.16 Populärkultur - wie der Spielfi lm - will hingegen zur Vergegenwärtigung beitra- gen: „Das Vergangene muß eine Art neuer Gegenwart erhalten, zu neuem Leben erweckt werden [...], dessen Ort unser Bewußtsein ist. [...] Vergegenwärtigung heißt immer auch Vorstellbarmachen.“17 Gemeint ist - nach Rolf Schörken -, daß Vergangenes mit Leben erfüllt wird, mit Figuren, Lokalitäten, Handlung und Bedeutungen. Auf diese Art und Weise kann eine Aktivierung gespeicherten Wis- sens erreicht werden, d.h. eine Überführung von Inhalten aus dem unbewohnten Speicher- in das bewohnte Funktionsgedächtnis, das wiederum die Schnittmenge zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis einer Gemeinschaft bil- det.18 Populärkultur dient somit verstärkt der Erinnerung, Geschichtswissenschaft dagegen eher dem Aufbau eines umfassenden Gedächtnisses. Zentrales Anliegen des Historikers ist die Vermittlung von Fakten, während der Künstler dem Adressaten ein Erfahrungsangebot unterbreitet: „Es geht darum, der Vergangenheit die Qualität einer neuen (Bewußtseins-)Wirklichkeit zu geben und sie zu einem Erlebnis- oder Erfahrungsraum zu machen, in dem man sich wie in einer anderen Gegenwart aufhalten und verhalten kann.“19 Viele Nachgeborene, die den Holocaust im Rahmen des Schulunterrichts kennengelernt hätten, suchten - so Sven Kramer - nach einer „emotional involvierenden Aneignungsweise.“20 Vor diesem Hintergrund und in bezug auf das Holocaust-Gedenken sprechen sich Forscher unterschiedlicher Disziplinen, Künstler sowie Überlebende in großer Zahl zunehmend gegen den Versuch einer authentischen Darstellung und für künstlerische Herangehensweisen aus.21 Stellvertretend sei hier der Überlebende Jorge Semprún zitiert, der die Ausnutzung künstlerischer Freiheit als Chance betrachtet und die fi ktionale Herangehensweise in bezug auf Vergegenwärtigung betont: „Wie soll man eine so wenig glaubwürdige Wahrheit erzählen, wie eine Vorstellung von dem Unvorstellbaren wecken, wenn nicht dadurch, daß man an der Wirklichkeit arbeitet, ihr eine Perspektive gibt? Also mit ein paar Kunstgriffen.“22 Horst Denkler hebt in diesem Zusammenhang die mit künstlerischen Produkten einhergehende Rezeptionsfreiheit besonders hervor.23 Die künstlerische Umset- zung des angesprochenen „Faßbarmachens“24 geschieht häufi g über das Indivi- duum, d.h. Beleuchtung von Einzelschicksalen oder kleiner Gruppen, während in geschichtswissenschaftlichen Arbeiten das Augenmerk auf die Vernichtung 124 Film - Analysen / Rezeptionen von Menschenmassen gerichtet ist. Im Spielfi lm ist die Konzentration auf wenige Protagonisten vielfach mit dem Überleben derselben verbunden. Dieses Gegen- gewicht zu den Schrecken erleichtert die Annahme des Erfahrungsangebotes.25 Welche Ansprüche können demnach berechtigterweise an künstlerische For- men des Umgangs mit dem Holocaust gerichtet werden? In welchen Fällen - wie das in der Kritik von Holocaust-Spielfi lmen häufi g zu beobachten ist - führen unangemessene Erwartungshaltungen zu falscher Beurteilung? Künstlerische Pro- dukte können allgemein daran gemessen werden, inwieweit sie den Adressaten zu einem Dialog einzuladen vermögen. Gelingt es ihnen, die Brücke zum Rezipienten zu schlagen, ihn die Rolle des Ko-Autors einnehmen zu lassen?26 Dies können Künstler verwirklichen, indem sie sich auf die beschriebenen Möglichkeiten ihres Mediums konzentrieren, um diese in vollen Zügen auszuschöpfen. 4. Das Leben ist schön, Zug des Lebens und Jakob der Lügner Hinter der Analyse der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen von historischen und künstlerischen Bemühungen verbirgt sich die Hoffnung, Prinzipien für das Gelingen künstlerischer Kommunikation in bezug auf die Vergegenwärtigung des Holocaust ableiten zu können. Diese wiederum könnten als Kriterien zur Beurteilung von Holocaust-Spielfi lmen in bezug auf die Frage der Erreichbarkeit der Menschen herangezogen werden. Jede mediale Umsetzung des Holocaust läuft angesichts des Ausmaßes an Grausamkeit prinzipiell Gefahr, beim Adressaten auf eine kategorische Verwei- gerungshaltung zu stoßen bzw. eine solche oder ein allmähliches Abstumpfen auszulösen.27 Holocaustfi lme jüngeren Datums sind - jenseits der angesprochenen „Schlußstrich-Forderungen“ - darüber hinaus mit dem Problem konfrontiert, daß jede weitere fi lmische Behandlung dem Prozeß der Gewöhnung zu unterliegen droht.28 Dies gilt gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts in besonderem Maße, da Ende der achtziger bzw. Anfang der neunziger Jahre dem Darstellungsanspruch verpfl ichtete Spielfi lme dominierten.29 Benignis, Mihaileanus und Kassovitz’ Ziel war es daher, die Gestaltungskonventionen und die Sehgewohnheiten zu durchbrechen, um so das Publikum zu einem Wahrnehmen und Einlassen auf die Thematik zu bewegen.30 Als Mittel zu dieser sog. Deautomatisation des Zuschau- ers sowie als Gegengewicht zum Grauen setzten die drei Regisseure auf eine Kombination künstlerischer Verfahrensweisen. Welche Merkmale sind es, die ihre Spielfi lme mit gewissen Unterschieden kennzeichnen? Gemeinsam ist diesen drei Regisseuren, daß sie sich dem Holocaust - trotz dessen unstrittigen Ernstes - mit Komik zu nähern versuchen, was unterschiedli- che Auswirkungen hat. Zum einen werden dadurch die Wahrnehmungsgewohn- heiten der Zuschauer in bezug auf konventionelle Holocaustfi lme durchbrochen, insbesondere am Anfang des jeweiligen Werkes. Von Beginn an und über weite Strecken der ersten Hälfte von Das Leben ist schön dominiert fl ache Komik.31 Ebenso allmählich wie behutsam wird der Zuschauer in der Folge auf die Juden- vernichtung vorbereitet. In der zweiten Hälfte des Films konkurriert die nunmehr als abgründig zu bezeichnende Komik zunehmend mit tragischen Momenten.32 In Film - Analysen / Rezeptionen 125 Zug des Lebens wird der Zuschauer von Anfang an in die verrückte Situation der Selbstdeportation mit all ihren komischen Folgeerscheinungen33 hineingeworfen. Diese ändert sich nicht bis zur letzten Einstellung des Films, die den Erzähler Schlomo hinter Stacheldraht im KZ zeigt und ihn auf diese Weise als Träumer entlarvt. Kassovitz bereitet den Zuschauer schon mit dem Vorspann auf die Wich- tigkeit des jüdischen Humors für den gesamten Film vor, indem er den Erzähler und Protagonisten, Jakob Heim, einen jüdischen Witz erzählen lässt.34 Der Einsatz komischer Stilmittel erzeugt möglicherweise - jenseits der deau- tomatisierenden Funktion - die Wirkung, daß der Zuschauer aufgrund seines Vorwissens die historischen Tatsachen der fi ktionalen Welt entgegenhält und diese so aktiviert. Insbesondere in der zweiten Hälfte von Das Leben ist schön fordert die im Gewand ironischer Verkehrungen auftretende Komik den Zuschauer dazu auf, die von Guido dem Sohn unter Anstrengung vorenthaltene Lagerrealität mitzudenken35. Im Zug des Lebens stemmt sich der die Binnengeschichte beherr- schende Aberwitz derartig gewaltig gegen die damaligen Verhältnisse, daß der Zuschauer den Hintergrund der Parodie unterschwellig spürt. Wäre dies nicht der Fall, könnte er die Undenkbarkeit der erzählten Geschichte nicht so dankbar annehmen. Durch Jakob Heims Lügen in Jakob der Lügner scheint die zuneh- mende Hoffnungslosigkeit der Situation für die Ghettobewohner hindurch. Je schlimmer die Verhältnisse werden, desto vehementer wird Jakob aufgefordert, mutmachende Neuigkeiten zu berichten und desto lebensnotwendiger werden seine Lügen. Dies erklärt die vom Zuschauer verspürte Tragik jeder neuen Erfi n- dung. An anderer Stelle wurde gezeigt, daß die Verwendung von Komik im Zusam- menhang mit dem Holocaust einer Übernahme damaliger Verhaltensweisen ent- spricht.36 Ihrem Verständnis von Witz entsprechend, versuchten sich damals zahl- reiche Juden mittels „Unernst“ von der Unbegreifl ichkeit des Grauens zu distan- zieren, es als absurd zu entlarven.37 Diese übernommene Grundhaltung vermag beim Zuschauer eine analoge Einstellung auszulösen; die komischen Momente bieten ihm die Möglichkeit, sich vom Grauen zu distanzieren. Voraussetzung dafür ist jedoch, daß das angeführte Wissen um die historischen Fakten in den Hintergrund tritt, denn es würde eher zu Nähe und u.U. zu Kapitulation führen.38 Für Überlebende könnte es geradezu heilsam sein, die Situation lachend zu quittieren.39 Dies könnte erklären, weshalb die drei Spielfi lme von zahlreichen Überlebenden positiv aufgenommen wurden. Eng verbunden mit dem Einsatz von Komik ist die Entscheidung für eine fi ktionale Herangehensweise an den Holocaust. Der Frage nach dessen wirklich- keitsgetreuer Darstellbarkeit im Sinne einer authentischen Rekonstruktion erteilen die drei Regisseure eine Absage.40 Übereinstimmend und in Abgrenzung zu Elie Wiesels und Claude Lanzmanns gemeinsamer Ansicht41 betonen sie in ihren Werken die bewußt gewählte Freiheit im Umgang mit den historischen Fakten. Auf diese Weise kann dem Zuschauer das Einlassen auf die schwer erträgliche und ebenso schwierig vermittelbare Thematik erleichtert und Verweigerungshal- 126 Film - Analysen / Rezeptionen tungen bzw. „Schlußstrich-Forderungen“ umgangen werden. Die deutlich mar- kierte Fiktionalität fungiert als Gegengewicht zum tatsächlichen Grauen und entspricht auch in diesem Fall damaligen Verhaltensweisen.42 Den von zahlreichen Überlebenden mittels des Vergleichs mit einem Streich bzw. einem Schauspiel bekundeten Eindruck der Unwirklichkeit nimmt Benigni wörtlich.43 Um seinem Sohn die grausame Lagerwirklichkeit vorzuenthalten, erfi ndet Guido die Wettbe- werbsgeschichte und verteidigt sie gegenüber dessen kritischen Fragen. Während Benigni den Verhältnissen im Lager - zwar recht dezent, aber dennoch - Raum gewährt, zeigt Mihaileanu seinen Protagonisten nur in der letzten Einstellung als Häftling hinter Stacheldraht. Die allgemeine Bedrohung wird jedoch - jenseits der indirekten Präsenz aufgrund der Verfolgung - „lediglich“ in Gestalt des nie- dergebrannten Nachbardorfes sowie der Konfrontationen mit den Nazis während der Flucht thematisiert. Ansonsten steht der Film ganz im Zeichen von Schlomos sehnsüchtigem Tagtraum, der bewußt mit historischer Rekonstruktion nichts zu tun hat. Aus Jakobs anfänglicher Notlüge entsteht bei Kassovitz eine Folge von hoffnungsspendenden „Phantasie-Nachrichten“. Immer wieder wird er aufgefor- dert, seiner ersten Radionachricht neue folgen zu lassen. Wiederholt entfl üchtet Jakob dem tristen Alltag, indem er in seiner Vorstellung Zwiegespräche mit seiner verstorbenen Frau Hanna führt. Mit der Entscheidung für eine fi ktionale Herangehensweise geht eine beson- dere Diskretion in bezug auf die Darstellung der Schrecken einher. Schockierende Bilder, die abstumpfend auf den Zuschauer wirken könnten, werden bewußt ver- mieden. Obgleich sich das technische Medium Film v.a. durch die Möglichkeit der Visualisierung auszeichnet, ist es um so bemerkenswerter, daß die drei Werke dieses Potential nicht mißbrauchen. Auf die Inszenierung von Grauen und Gewalt verzichtet Benigni im zweiten Teil von Das Leben ist schön, obwohl dieser ausschließlich im Vernichtungslager spielt. Die Vergasung des Onkels wird ausge- spart und Guidos Erschießung fi ndet hinter einer Mauer statt. Abgesehen von den Gesprächen zwischen Vater und Sohn auf der Tonspur, verweist Benigni bildlich lediglich in Form eines verschwommen dargestellten Leichenberges auf die grau- same Wirklichkeit. Mihaileanu verzichtet beinahe gänzlich auf Visualisierung. Grausamkeiten werden - mit Ausnahme des niedergebrannten Nachbardorfes - durch die Konfrontationen der falschen Nazis mit den echten angedeutet. Kasso- vitz geht in seiner Darstellung von Gewalt relativ behutsam vor, führt sie uns im Vergleich zu Benigni und Mihailenau jedoch stärker vor Augen. Unmittelbar im Anschluß an den Vorspann stößt Jakob auf vier erhängte Juden, die gleichwohl von hinten sowie aus einiger Distanz zu sehen sind. Neben alltäglichen Grausamkeiten zeigt Kassovitz den Tod Herschels aus der Entfernung, während Jakobs Folterung und Erschießung Raum einnimmt. Wie die meisten Spielfi lme über den Holocaust erzählen die drei Regisseure die Geschichte einzelner Figuren. Auf diese Weise bieten sie dem Zuschauer die Möglichkeit der Identifi kation mit Einzelschicksalen, anstatt ihn mit massenhafter Vernichtung auf Distanz zu halten. Benigni konzentriert sich auf das Schicksal Film - Analysen / Rezeptionen 127 der Familie Orefi ce, wobei er dem Zuschauer eine intensive Nähe zu Guido und seinem Sohn Giosuè anbietet. Besonders verbunden fühlt man sich Guido, wenn er unter größter Anstrengung die grausame Realität von seinem Sohn fernzuhalten versucht. In Zug des Lebens begleitet der Zuschauer eine ganzes „Schtetl“ auf der Flucht vor den nach Osten vorrückenden Nazis. Dennoch rückt Mihaileanu einige Figuren in den Mittelpunkt,44 während andere eher im Hintergrund bleiben. Insbesondere zu Schlomo läßt der Regisseur eine besondere Beziehung entstehen. Zum einen fungiert dieser als Erzähler der Geschichte, zum anderen ist er Teil derselben und hat sich - seiner Rolle als Dorfnarr entsprechend - die verrückte Rettungsgeschichte erträumt, um der Lagerrealität zu entfl iehen. Kassovitz zen- triert seine Geschichte um den Protagonisten und eigentlichen Anti-Helden Jakob Heim. Zufällig gerät dieser in die Lage, seiner unmittelbaren Umgebung - dem neugierigen Frisör, dem kleinen Mädchen und dem verliebten Mischa - Hoffnung machen zu können und ihnen so Mut zum Durchhalten zu schenken. 5. Abschließende Bemerkungen Unter Punkt drei wurde gefragt, welches Potential populäre Erinnerungsformen verbunden mit künstlerischer Ausrichtung in sich tragen und woran sie dem- nach - im Unterschied zur historischen Arbeit - gemessen werden sollten. Beson- ders wirkungsvoll erschien die Ausnutzung künstlerischer Freiheit - bspw. durch Beschränkung auf Einzelschicksale - im Hinblick auf das Unterbreiten eines Erfahrungsangebotes und auf die Vergegenwärtigung des Holocaust. Die Analyse in Abschnitt vier ergab, daß die drei Spielfi lme diesen Ansprüchen nicht nur genügen, sondern darüber hinaus weitere wirkungsorientierte Besonderheiten auf- weisen. Einerseits bieten sie dem Zuschauer - nach anfänglicher Deautomatisation aufgrund der geballten Komik - zwei Formen des Umgangs mit der belastenden Thematik an und überlassen ihm auf diese Weise die Wahl zwischen Nähe und Distanz. Andererseits verzichten Benigni, Mihaileanu und Kassovitz auf eine Inszenierung des Grauens. Überträgt man Semprúns Aussage hinsichtlich der Literatur - „[...] das wirkliche Problem ist nicht das Erzählen, wie schwierig es auch sein mag... sondern das Zuhören.“45 - auf den Film, rückt die Erreichbarkeit der Menschen allgemein, v.a. aber die Frage nach der Visualisierung des Grauens, erneut ins Zentrum des Interesses. 1 Kramer, Sven: Auschwitz im Widerstreit. Zur Darstellung der Shoah im Film, Philosophie und Literatur. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 1999, S. 2. 2 Vgl. Assmann, Aleida und Jan Assmann: „Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis“. In: Merten, Klaus et al. (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikati- onswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 114-140, hier S. 119ff. 3 Man denke, die letzten 10 Jahre betrachtend, bspw. an die Rezeption von Steven Spielbergs Spielfi lm Schindlers Liste (USA 1993), die Goldhagen- bzw. Finkelstein-Debatte, die Frage der Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter, die Walser-Bubis-Kontroverse, die Debatte um die Wehrmachtsausstellung bzw. um das Mahnmal in Berlin, die zurückgezogene Plakat-Aktion >Den Holocaust hat es nie gegeben<, die Diskussionen um das Jüdische Museum in Berlin. 4 Vgl. bspw. Daniel Levy und Natan Sznaider: „Diese andauernden Kontroversen um angemessene Erinnerungsformen für den Holocaust tragen wesentlich zu einer selbstrefl exiven und letztlich kosmopolisierten Form der Erinnerung bei. In den politischen Kulturen Israels, Deutschlands und der USA geht es schon lange nicht mehr ausschließlich um die Ursachen und Konturen des Holocaust, 128 Film - Analysen / Rezeptionen sondern vor allem darum, wie man sich in der Vergangenheit an ihn erinnert hat, hätte erinnern sollen und sich dementsprechend zukünftig erinnern kann.“ (Levy, Daniel und Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 33). Hinsicht- lich der Selbstrefl exivität des kulturellen Gedächtnisses im Allgemeinen vgl. auch Assmann, Jan: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“. In: ders. und Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 9-19., insb. S. 15. 5 Frei, Norbert: „Einführung“. In: ders. und Sybille Steinbacher (Hg.): Beschweigen und Bekennen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und der Holocaust. Göttingen: Wallstein Verlag 2001, S. 7-10, hier S. 7. Vgl. auch Andreas Huyssen: „Seit den achtziger Jahren ist die Frage nicht mehr ob, sondern wie der Holocaust in Forschung und Literatur, Film und Kunst darzustellen ist.“ (Huyssen, Andreas: „Von Mauschwitz in die Catskills und zurück: Art Spiegelmans Holocaust-Comic Maus“. In: Köppen, Manuel und Klaus R. Scherpe (Hg.), Bilder des Holocaust. Literatur - Film - Bildende Kunst. Köln u.a.: Böhlau 1997, S. 171-189, insb. S. 171 f.). 6 In: Arning, Matthias: „Die bequeme Arbeitsteilung beim Erinnern des Holocaust. Antisemitis- musforscher Benz plädiert für neue Formen“. In: Frankfurter Rundschau, 27.01.2001, S. 7). Vgl. auch Sven Kramers weitaus drastischere Formulierung in bezug auf das ritualisierte Gedenken an Jahrestagen und in offi ziellen Verlautbarungen; er bezeichnet es als eine Art „ [...] Ablaßbitte, die man aus internationaler Rücksichtnahme noch eine Weile inszeniert“ (Kramer: Auschwitz im Widerstreit, S. 27). 7 Silbermann, Alphons und Manfred Stoffers: Auschwitz: Nie davon gehört? Erinnern und Vergessen in Deutschland. Berlin: Rowohlt 2000, S. 25 f., H.i.O. 8 Vgl. Domansky, Elisabeth: „Die gespaltene Erinnerung“. In: Köppen, Manuel (Hg.): Kunst und Literatur nach Auschwitz. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1993, S. 178-196, hier S. 178. 9 Ebd., S. 178, H.i.O. 10 Ebd., S. 179. 11 Frei (Hg.): Beschweigen und Bekennen, S. 8. 12 Levy/Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter, S. 30, H.i.O. 13 „Gerade populäre Darstellungen des Holocaust haben dazu beigetragen, die politischen Qualitäten von Erinnerungen und ihre vielfältige Interpretierbarkeit einem weiten Publikum zugänglich zu machen“ (ebd., S. 33). 14 Ebd., S. 30. 15 Vgl. bspw. Wolfgang Benz: „[Die schrecklichen Verbrechen] kann man nicht dokumentieren. Um es begreifl ich zu machen, was geschah, braucht es eben die literarische und dramatische Form.“ (Benz, Wolfgang: „Bilder statt Fußnoten. Anmerkungen eines Historikers zu Schindlers Liste“. In: Weiß, Christoph (Hg.): „Der gute Deutsche“. Dokumente zur Diskussion um Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ in Deutschland. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, S. 147). 16 „Die rekonstruierende Seite der historischen Bemühung besteht darin, diese vergangene Vergangen- heit so realitätsgetreu wie möglich wiederzugeben.“ (Schörken, Rolf: Begegnungen mit Geschichte: vom außerwissenschaftlichen Umgang mit der Historie in Literatur und Medien. Stuttgart: Klett- Cotta 1995, S. 11-14, hier S. 13). 17 ebd., S. 12. 18 Vgl. Assmann, Aleida und Jan Assmann: „Das Gestern im Heute“, S. 121ff. 19 Schörken: Begegnungen mit Geschichte, S. 14. Vgl. hierzu auch Jan Strümpel, der künstlerisches Vorgehen gegenüber den traditionellen Erinnerungsformen zu verteidigen sucht („Als mindestens ebenso wichtige Komponente des >Verstehens< gilt der affektive Bezug [...].“ (Strümpel, Jan: Vor- stellungen vom Holocaust. George Taboris Erinnerungs-Spiele. Göttingen: Wallstein Verlag 2000, S. 10; H.i.O.)) sowie Matthias Weiß, der im Zuge seiner Untersuchung der amerikanischen TV- Serie Holocaust (1978) und Spielbergs Schindlers Liste (1993) zu folgendem Schluß kommt: „Der Vorgang der Etablierung eines sinnlichen Erinnerungsdiskurses ließ also die Vergangenheit emotional näher an die lebenden Deutschen herantreten [...].“ (Weiß, Matthias: „Sinnliche Erinnerung. Die Filme >Holocaust< und >Schindlers Liste< in der bundesdeutschen Vergegenwärtigung der NS- Zeit“. In: Frei, Norbert und Sybille Steinbacher (Hg.): Beschweigen und Bekennen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und der Holocaust. Göttingen: Wallstein Verlag 2001, S. 71-102, hier S. 88 f.). 20 Kramer: Auschwitz im Widerstreit, S. 3. 21 Vgl. hierzu Micha Brumlik („Aus diesem Dilemma [der Erinnerungsrituale] gibt es keinen Ausweg. Aber vielleicht vermag letzten Endes doch die Kunst, als Form eines refl exiven, eines skeptischen, sich seiner Ausdrucksmittel bewußten Rituals, noch am ehesten sowohl unserer Skepsis und Distanz zu allen Ritualen, aber zugleich unserem Bedürfnis nach starken expressiven Ausdrucksformen zu genügen.“ (Brumlik, Micha: „Trauerarbeit und kollektive Erinnerung“. In: Köppen, Manuel (Hg.): Film - Analysen / Rezeptionen 129 Kunst und Literatur nach Auschwitz. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1993, S. 197-203, hier S. 203)) und Marc Ferro („Durch die innovative Auswahl von bestimmten historischen Details sind die Filmemacher sicherlich oft Träger dieser Verdeutlichung von Geschichte gewesen, während die traditionellen Formen des historischen Diskurses nicht dazu beitragen konnten.“ (Ferro, Marc: „Gibt es eine fi lmische Sicht der Geschichte”. In: Rother, Rainer (Hg.): Bilder schreiben Geschichte: Der Historiker im Kino. Berlin: Wagenbach 1991, S. 17-36, hier S. 21)). 22 Semprún, Jorge: Schreiben oder Leben. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 21995, S. 151. Vgl. auch Ruth Klüger, ebenfalls Befürworterin fi ktionalen Umgangs mit dem Thema; sie verteidigt denselben aufs Schärfste, wobei sie auf ihre eigenen Erfahrungen als unmittelbar Betroffene rekurriert: „So gut reden hab ich wie die anderen, Adorno vorweg, ich meine die Experten in Sachen Ethik, Literatur und Wirklichkeit, die fordern, man möge über, von und nach Auschwitz keine Gedichte schreiben. Die Forderung muß von solchen stammen, die die gebundene Sprache entbehren können, weil sie diese nie gebraucht, verwendet haben, um sich seelisch über Wasser zu halten.“ (Klüger, Ruth: Weiter leben. Eine Jugend. München: dtv 102001, S. 127). Hinsichtlich der ebenso regelmäßig wie harsch kritisierten Ästhetisierung verweist Ruth Klüger auf eine notwendige Unterscheidung: „Es gibt aber zwei Arten des Ästhetisierens, die eine ist Wahrheitssuche durch Phantasie und Einfühlung, also Interpretation des Geschehens, die zum Nachdenken reizt, die andere, die Verkitschung, ist eine problemvermeidende Anbiederung an die vermeintliche Beschränktheit des Publikums.“ (Klüger, Ruth: Von hoher und niedriger Literatur. Göttingen: Wallstein Verlag 1996, S. 38). 23 „[Künstlerische Produkte machen] ein Rezeptionsangebot [...], das die Adressaten am ehesten erreicht, wenn es freiwillig wahrgenommen und nicht in verordneten Pfl ichtlektionen verabreicht wird. [...] Diese Rezeptionsfreiheit setzt Rezeptionswilligkeit, Rezeptionsbereitschaft und Rezepti- onsarbeit voraus und ergibt sich aus ihnen [...].“ (Denkler, Horst: „Gedächtnisstütze. Binsenweisheiten über die bescheidenen Möglichkeiten der deutschen Literatur im Rückblick und in Hinsicht auf den Holocaust“. In: Köppen, Manuel (Hg.): Kunst und Literatur nach Auschwitz. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1993, S. 171-177, hier S. 173). 24 Strümpel: Vorstellungen vom Holocaust, S. 29. 25 Man denke hier u.a. an Filme wie Kornblumenblau (Leszek Wosiewicz, Polen 1988), Triumph des Geistes (Robert M. Young, USA 1989)und Schindlers Liste (Steven Spielberg, USA 1993). 26 Vgl. Kloepfer zum dialogischen Prinzip von Kunst (Kloepfer, Rolf: „Grundlagen des ‚dialogischen Prinzips’ in der Literatur“. In: Köhler, Erich und Henning Krauss (Hg.): Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte. Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 1982, S. 358-379) sowie Sartre zum Prinzip der Ko-Autorschaft (Sartre, Jean-Paul: Was ist Literatur? Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1981, S. 39 ff.). 27 Vgl. einen Auszug aus Grazielle Hlawatys Roman Filmbesuch in roter Bluse bzgl. der Reaktio- nen auf den Film Die Todesmühlen (USA 1945): „Sie blickte zu den anderen Zuschauern in ihrer Bankreihe, um deren Reaktion zu beobachten. Es kam ihr vor, als stemmten sich alle Kinobesucher von der Filmleinwand weg, als wären sämtliche Menschen im Saal plötzlich erstarrt, als wären sie leblos und zu Stein geworden.“ (In: Paech, Anne und Joachim Paech: Menschen im Kino. Film und Literatur erzählen. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. 162-172, hier S. 167ff.). Vgl. auch Joachim Kaisers Kritik an Peter Weiss’ Theaterstück Die Ermittlung: „Das Publikum muß den Fakten parieren, während sogar die guten >Dokumentationsstücke< des modernen Theaters dem Zuschauer eine Alternative bieten, ein Problem, eine Mitdenk-Freiheit, muß der Parkettbesucher sich in der Ermittlung ducken unter der Gewalt des Faktischen. Er wird um genau jene Freiheit betrogen, die Bühne und Kunst versprechen.“ (Kaiser zit.n. Strümpel: Vorstellungen vom Holocaust, S. 52, H.i.O.). Vgl. darüber hinaus Brink, Cornelia: Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotographien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945. Berlin: Akademie Verlag 1998. 28 „[...] jede Erzählung, die die Ikonografi e des Grauens benutzt, ist auch Teil eines Prozesses der Gewöhnung, der Trivialisierung.“ (Seeßlen, Georg: „Die Seele im System. Roman Polanskis Der Pianist oder: Wie schön darf ein Film über den Holocaust sein?“. In: Die Zeit, 24.10.2002, S. 56). Vgl. hierzu auch die Äußerung von Andreas Kilb: „Die Zeit [...] verändert die historischen Perspektiven, und so läßt sich nicht übersehen, daß The Pianist, der vor zwei Jahrzehnten ein Ereignis gewesen wäre, heute um ebenjene Jahrzehnte zu spät kommt, daß das, was er sagt und zeigt, bereits schlüssig gesagt und gezeigt worden ist - auch wenn man es nicht oft genug sagen und zeigen kann.“ (Kilb, Andreas: „Das Unzerstörbare“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.05.2002, S. 43). 29 Vgl. Fußnote 25. 30 „Ziel der Kunst ist es, ein Empfi nden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ‚Verfremdung’ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung 130 Film - Analysen / Rezeptionen steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden. [...] Dinge, die man mehrere Male wahrnimmt, beginnt man durch Wiedererkennen wahrzunehmen [...].“ (Sklovskij, Viktor: „Die Kunst als Verfahren“. In: Striedter, Jurij (Hg.): Texte der russischen Formalisten. München: Fink 1969, S. 4-35, hier S. 12 ff.). Vgl. auch Mihaileanu: „Die alte Form, die Shoa ausschließlich mit Tränen zu behandeln, hat das Publikum ein wenig ermüdet. Und wir haben nur eine neue Art gefunden, dieses Thema darzustellen.“ (zit.n. „Die Tränen hinter dem Humor“. In: Der Spiegel, 24/1999, S. 191). 31 Man denke hier hauptsächlich an folgende Szenen: die unzureichende Aufmerksamkeit des Pol- sterers bzw. des Ministerialrates, Ferruccios erbärmliche Kondition, erste „Entführung“ Doras und die drei „Zufälle“. 32 Vgl. Plessner, Helmuth: „Lachen und Weinen“ (1941). In: Dux, Günter et al. (Hg.), Helmuth Plessner. Gesammelte Schriften VII – Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 304. Vgl. hier und im folgenden die ausführlichere Analyse von Das Leben ist schön in Corell, Catrin: „Kompositorische und wirkungsästhetische Spannungsverhältnisse in dem Shoah- Film La vita è bella (1997) von Roberto Benigni“. In: Türschmann, Jörg und Annette Paatz (Hg.): Medienbilder. Dokumentation des 13. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums an der Georg-August-Universität Göttingen Oktober 2000. Hamburg: Kovač 2001, S. 81-91. bzw. Corell, Catrin: Kompositorische und sympraktische Spannungsverhältnisse in dem Shoah-Film >La vita è bella< von Roberto Benigni. Mannheim: Diplomarbeit 2000. 33 Man denke hier an das Rollenspiel bis hin zur Angleichung (Mordechai), den Kommunismus und Klassenkampf (Yossi und seine Genossen), das Spiel mit Stereotypen (Formen von „Rechthaberei“ unter Juden), die Verfolgung und das Entkommen (Nazis und Partisanen). 34 An dieser Stelle sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß Kassovitz’ Neuverfi lmung die Komik weitaus stärker hervorhebt, als dies in Frank Beyers gleichnamiger Erstverfi lmung (DDR 1974) der Fall ist. 35 „Wichtig ist [...], daß die geistigen Wendungen, die wir zeichengesteuert vollziehen (Sympraxen) sehr unterschiedliche geistige >Wendigkeit< trainieren können. [...] Und die Ironie zwingt uns, umzu- werten.“ (Kloepfer, Rolf, Prinzipien der Literatur. Heidelberg: Synchron 2001, S. 134, H.i.O.). 36 Vgl. Corell: Kompositorische und sympraktische Spannungsverhältnisse in dem Shoah-Film >La vita è bella< von Roberto Benigni, S. 109-117. 37 Zum jüdischen Humor vgl. Mihailenau („Der jüdische Humor war immer traurig, er war immer Tragödie und Komödie in einem. Vielleicht ist es das Leid und die Liebe, die diese Art von Humor erzeugen. Wir Juden sterben nicht an dem Leid, wir versuchen weiter zu leben und nicht ganz verrückt zu werden an der Welt, und unsere einzige Waffe, unser Überlebensmittel gegen die Tragödie, ist unser Humor.“ (Tegeler, Hartwig: „‚Größer als ein Bild’. Radu Mihaileanu und seine Komödie ‚Zug des Lebens’“, http//www.morgenwelt.de/kultur/000320-zugdeslebens-p.htm; 10.2.2003) sowie Benigni („Lachen rettet uns; die andere, unwirkliche und amüsante Seite der Dinge zu sehen oder sich vorzustellen hilft uns, nicht zertreten zu werden. Sie gibt uns Kraft zum Widerstand, die Nacht zu überleben, selbst wenn sie sehr lang ist. In diesem Sinne kann man die Menschen zum Lachen bringen, ohne sie zu verletzen: der jüdische Humor ist sehr unerschrocken.“ (Benigni, Roberto und Vincenzo Cerami: Das Leben ist schön. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 195)). Vgl. auch Kertész, Imre: Roman eines Schicksalslosen. Berlin: Rowohlt 1996, S. 159. Kertész’ Held beschreibt einen Witz über das eigene Schicksal, der im KZ kursierte. 38 Dem Weinen liegt, gemäß Plessner, ein – im Vergleich zum quittierenden Lachen – antagonistisches Prinzip zugrunde, das sich nicht durch unvermittelte Distanz, sondern vermittelte Nähe, ein “[...] Kapitulieren, Sich-besiegt-Geben, Sich-Loslassen, [einen] Akt der Selbstaufgabe“ auszeichnet (Ples- sner: „Lachen und Weinen“, S. 333). Das Gefühl der Ohnmacht ergibt sich aus dem Ausgeliefertsein gegenüber übermächtiger Gewalt, „[...] der Ergriffenheit von etwas Positivem bzw. einer Situation.“ (Kloepfer, Rolf: Theatralität, Dramatik, Inszenierung. Grundlagen einer Theatertheorie. Mannheim: ask 1996, S. 166). Nach Stern äußert sich im Weinen, das „[...] instinktive Werturteil über bedrohte, verlorene oder auch unverwirklichte und unverwirklichbare Werte.“ (Stern, Alfred: Philosophie des Lachens und Weinens. Wien, München: Oldenbourg 1980, S. 55). 39 Lachend begegnet der Mensch der Unmöglichkeit gewohnten Verhaltens aufgrund „[...] unaus- gleichbarer Mehrsinnigkeit der Anknüpfungspunkte, [quittiert er das] vital, spirituell und existentiell Widersinnige“ (Plessner: „Lachen und Weinen“, S. 363ff., H.i.O). „So erweist das Lachen sich als ein Werturteil, ein negatives Werturteil über eine Wertdegradation“ (Stern: Philosophie des Lachens und Weinens, S. 44). Vgl. auch Kloepfer zur kathartischen Funktion dieses Distanzverhaltens: „Welche Verfahren gibt es, das nicht zu erduldende Unerträgliche zeitweise annehmbar zu machen und sei es auch nur, um einfach zu überleben? [...] Historisch ist insbesondere die Lachkultur als Strategie der Bewältigung des eigentlich Unerträglichen nachweisbar. Die gemeinschaftliche Anerkennung Film - Analysen / Rezeptionen 131 dieses schwer oder überhaupt nicht Auszuhaltenden und seine Ab- oder Umwertung ist heilsam.“ (Kloepfer, Rolf: „Vorwort des Herausgebers“, in: ders. und Burckhard (Hg.): Kritik und Geschichte der Intoleranz. Heidelberg: Synchron 2000, S. XXII). Vgl. auch Bachtin zum karnevalesken Prinzip: „Das karnevalistische Leben ist ein Leben, das aus der Bahn des Gewöhnlichen herausgetreten ist. Der Karneval ist die umgestülpte Welt. Die Gesetze, Verbote und Beschränkungen, die die gewöhnliche Lebensordnung bestimmen, werden für die Dauer des Karnevals außer Kraft gesetzt. Das betrifft vor allem die hierarchische Ordnung und alle aus ihr erwachsenden Formen der Furcht, Ehrfurcht, Pietät und Etikette [...]“ (Bachtin, Michail M.: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1990, S. 48). 40 Vgl. auch einen Kommentar in Alain Resnais’ essayistischem Film Nacht und Nebel (Frankreich 1955) in bezug auf die Unmöglichkeit der wirklichkeitsgetreuen Vermittlung der Lagerrealität: „Wer übrigens weiß schon etwas davon; die Wirklichkeit der Lager? Die sie geschaffen haben, ignorieren sie und die sie erleiden, können sie nicht fassen. Und wir, die wir nun zu sehen versuchen [...] kein Bild, keine Beschreibung gibt ihnen ihre wahre Dimension wieder.“ (0:07:47-0:08:16). 41 Vgl. Elie Wiesel („[...] nicht Fiktion, sondern einzig und allein Dokumentation, ob im Film oder in der Literatur.“ (Wiesel, Elie: „>Wer einem Zeugen zuhört, wird selbst zum Zeugen<. Der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel im Gespräch mit Constantin von Barloewen“. In: Frankfurter Rundschau, 23.11.2000., S. 24)) und Claude Lanzmann („Die Fiktion ist eine Übertretung, und es ist meine tiefste Überzeugung, daß jede Darstellung verboten ist.“ (Lanzmann, Claude: „Ihr sollt nicht weinen. Einspruch gegen Schindlers Liste“. In:Weiß: „Der gute Deutsche“, S. 175.)) 42 Vgl. hierzu erneut Kertész, der u.a. die Kraft der Phantasie als überlebensnotwendig darstellt: „Tatsache ist, unser Vorstellungsvermögen bleibt auch in der Gefangenschaft frei. [...] meine Lieblingsbeschäftigung bestand darin, mir einen vollständigen, lückenlosen Tag zu Hause vorzu- stellen, immer wieder, möglichst vom Morgen bis zum Abend, und mich dabei nach wie vor in Bescheidenheit zu üben.“ (Kertész: Roman eines Schicksalslosen, S. 173 f.). 43 Dieses besondere Vorgehen erläutert er wie folgt: „[...] daß man am Rande des Abgrunds nicht hinunterschaut, weil der Schrecken unermeßlich ist. Wenn man ihn zeigt, ist er nur noch das, was man zeigt. Ich habe ausführliche Recherchen gemacht [...]. Und danach war mir ganz klar, daß nichts an die Wirklichkeit des tatsächlichen Geschehens heranreichen könnte...Es ist so unfaßbar, daß es fast wieder einfach ist, glauben zu machen, daß das alles nur ein Spiel war. Primo Levi spricht darüber in [...] Ist das ein Mensch?. Er beschreibt den Morgenappell im KZ Auschwitz; alle Häftlinge sind nackt, stehen stramm; Levi schaut sich um und denkt: >Und wenn dies nur ein Witz wäre? Das kann doch alles nicht wahr sein...<.“ (Benigni/Cerami: Das Leben ist schön, S. 195 f.). 44 Besonderes Interesse gilt hierbei - neben Schlomo - denjenigen Figuren, die typische Berufe innerhalb einer jüdischen Gemeinschaft ausüben (Rabbi, Buchhalter), deren Eigenschaften zu komi- schen Situationen einladen (der kommunistische Yossi, die verliebte Esther) bzw. die im Zuge der Selbstdeportation in andere Rollen geschlüpft sind (Mordechai). 45 Semprún: Schreiben oder Leben, S. 150. 132 Film - Analysen / Rezeptionen Karl Juhnke Vom Volks- zum Leidensgenossen: Formen der Viktimisierung in Nacht fi el über Gotenhafen Zielsetzung einer umfassenden Arbeit, woraus dieser Beitrag als Nebenaspekt sich entwickelt hat, ist die Untersuchung des Schiffsuntergangsmotivs im Spielfi lm. Dabei geht es wesentlich um seine jeweiligen Funktionalisierungen, um seine fi lmästhetischen Realisierungen und seine kulturellen Bedeutungen zwischen 1913 und heute. Dass sich bei einigen dieser Untergangsfi lme, en passant und in dieser Form nicht erwartet, sehr spannende fi lm- und kulturgeschichtliche Fragestellungen auftaten, mag Zufall sein oder der im Untergangsmotiv schon angelegten Bedeutungsschwere entspringen. Nacht fi el über Gotenhafen bezieht sich auf ein Ereignis in den letzten Kriegs- monaten des II. Weltkrieges. Bei der Massenfl ucht aus Ostpreußen vor der schnell vorrückenden Roten Armee war die Ostsee der letzte mögliche Fluchtweg. Daher zogen viele Flüchtlingstrecks in die Hafenstädte, so auch nach Gotenhafen, dem ehemaligen polnischen Gdingen, das 1939 annektiert und umbenannt worden war. Im Hafen warteten mehrere große Passagierschiffe, darunter die „Wilhelm Gustloff“, 208 Meter lang, für etwa 1500 Passagiere geplant. 1937 als erster Neubau eines Kraft-durch-Freude-Dampfers vom Stapel gelaufen, absolvierte das Schiff bis August 1939 viele Kreuzfahrten für die Deutsche Arbeitsfront, wurde dann Hospitalschiff und schließlich schwimmende Kaserne für die Ausbildung von U-Bootbesatzungen. Der Name Wilhelm Gustloff erinnerte an den Schweizer Naziführer, der 1936 bei einem Attentat erschossen wurde. Über 6500 Menschen auf dem für knapp 1500 Personen ausgelegten Schiff stachen am 30. Januar 1945 nach Westen in See, nachts, gegen 21.16 Uhr wurde das Schiff von drei Torpedos eines sowjetischen U-Bootes getroffen und sank eine Stunde später. Dabei starben über 5300 Menschen, 1200 konnten gerettet werden. Dies war nicht der einzige derartige Schiffsuntergang in den letzten Kriegsmonaten. Am 16. April 1945 sank der Frachter „Goya“ mit 7000 Flüchtlingen durch U-Boottorpedos, am 3. Mai wurde der Dampfer „Cap Arcona“ im Lübecker Hafen durch britische Bomber versenkt, 5000 Häftlinge starben, am gleichen Tag sank die „Thielbeck“ ebenfalls nach Bombardement mit 2800 KZ-Häftlingen an Bord. Das Drehbuch zu Nacht fi el über Gotenhafen basierte auf einem Fortsetzungs- bericht, der im Frühjahr 1959 im Stern erschienen war und von Regisseur Frank Wisbar1 zusammen mit Viktor Schuller geschrieben wurde. Frank Wisbar, geb. 1899 in Tilsit, gestorben 1967 in Mainz, Offi zier im Ersten Weltkrieg und der Weimarer Republik, kam über den Journalismus zum Film und arbeitete ab 1933 als Regisseur. Er inszenierte zwischen 1933 und 1938 acht Spielfi lme. Wisbar wurde von den Nationalsozialisten als Regisseur geschätzt, sein Film Hermine und die sieben Aufrechten bekam 1934 das Prädikat „staatspolitisch und künstlerisch besonders wertvoll“, eine Auszeichnung, die zwischen 1933 und 1945 nur 30 Filme erhielten. Auf der III. Biennale in Venedig 1935 wurde dieser Film prämiert. Film - Analysen / Rezeptionen 133 Auf Vorschlag von Goebbels sollte Wisbar Präsidialrat in der Reichsfi lmkam- mer werden, was dann aber an seiner Ehe mit der Jüdin Eva Wysbar, geb. Krojan- ker, scheiterte. Politischen Schutz genoss Wisbar durch seine Anwesenheit beim Hitler/Ludendorff-Putsch am 9.11.1923, was ihm den „Blutorden der Bewegung“ einbrachte. 1938 ging Wisbar in die USA, seiner Darstellung nach, um sich in Sicherheit zu bringen, andere Quellen nennen private Gründe2. Ab 1941 erhielt er seine Arbeitserlaubnis, drehte für PRC (Producer’ Releasing Corporation), „die armseligste aller Quetschen in der Poverty Row“3, einige Filme und produzierte ab 1946 Fernsehprogramm. 1957 kehrte er nach Westdeutschland zurück und traf den Chef der Deutschen Hansa Film (DHF), sie vereinbarten eine Trilogie von Kriegsfi lmen: 1957 Haie und kleine Fische über die U-Bootfl otte, 1958 Hunde wollt ihr ewig leben4 über die 6. Armee in Stalingrad und schließlich 1959 Nacht fi el über Gotenhafen. In diesen drei Kriegsfi lmen Wisbars fi ndet sich ein „von allen politischen Aspekten gereinigtes „Soldatentum“5. Nacht fi el über Gotenhafen war eine aufwendige Produktion (Außenaufnahmen auf der „Arosa Sun“, in Ostpommern und Bayern; Studio in Göttingen; mehr als 90 Drehtage) mit mehr als 2 Millionen DM Kosten, wovon das Gustloff- Modell allein 250 Tausend DM kostete. Die Produktionsfi rma Deutsche Hansa Film machte eine breitangelegte Öffentlichkeitsarbeit, so gab es schon während der Dreharbeiten Zeitungsberichte in den einschlägigen Organen (Filmblätter, Filmecho und Der Neue Film) durch große Anzeigen aufmerksam gemacht. Ein übriges sollte die Popularität der Hauptdarstellerin Sonja Ziemann tun, die vor allem aus Heimatfi lmen bekannt war. Premiere war am 25. Februar 1960 in Han- nover. In Nacht fi el über Gotenhafen werden mehrere Erzählmotive und Themen verwoben: eine Frau zwischen zwei Männern, der Gustloff-Stoff und die Kriegs- situation an der Ostfront. Wisbar schildert in einer Art Doppelbiographie den „Lebensweg“ des Passagierschiffs „Wilhelm Gustloff“ und der Rundfunkspreche- rin Maria Reiser6, deren Wege sich zweimal kreuzen: 1939 ist Maria Passagierin auf einer Norwegen Kreuzfahrt und 1945 ist sie als Flüchtling wieder an Bord. Dazwischen und das macht ungefähr 60 Minuten, d.h. 2/3 der Filmhandlung aus, begleitet der Zuschauer Marias Leben: sie wohnt in Berlin bei den Eltern ihres an der Ostfront kämpfenden Mannes Kurt, vermisst ihn und arbeitet beim Rundfunk. Während eines Bombenangriffs gibt sie den Nachstellungen eines alten Verehrers, des Marineleutnants Hans (gespielt von Erik Schumann), nach, wird schwanger und von der Familie ihres Mannes verstoßen. Sie folgt einer Freundin nach Ostpreußen, entbindet dort und muss schließlich mit ihrer Freundin und Bekannten vor den blutrünstig dargestellten Russen nach Westen via Gotenhafen fl iehen. Auf dieser Flucht trifft sie ihren Mann wieder, trotz aller Enttäuschung über ihren Ehebruch hilft er den Flüchtenden, wird dabei verwundet, von ihr versorgt und auf das Rettung verheißende Schiff geschleust. Hier schließt sich der Bogen, alle sind wieder an Bord, werden nachts von einem U-Boot torpediert, das Schiff sinkt dramatisch. In der 1960 gezeigten Fassung werden Maria und ihr Kind 134 Film - Analysen / Rezeptionen getrennt gerettet, ein bei aller Tragik versöhnlicheres Ende als in der TV-Fassung, die seit 1985 zu sehen ist. Hier endet der Film mit er Eröffnungseinstellung, die nachts im Wasser treibende Opfer und Treibgut zeigt. Ob Maria überlebt, bleibt hier unklar und eher unwahrscheinlich.7 Beim Publikum kam der Film mittelmäßig an, genaue Zuschauerzahlen liegen nicht vor, es gibt nur die auf Rückmeldungen der Kinobesitzer beruhenden Ran- kings des Filmechos und der Filmblätter. Aus der differenzierten Darstellung im Filmecho ergibt sich eine durchschnittliche Laufzeit von 10 Tagen in meist sehr großen Kinos. Dabei war die Resonanz z.B. in Berlin schlecht, in Stuttgart sehr gut, in Frankfurt am Main durchschnittlich, in Köln und München gut. Das Presseecho war groß, nicht zuletzt weil Wisbar im Vorjahr mit Hunde, wollt ihr ewig leben den Bundesfi lmpreis gewonnen hatte. Nacht fi el über Goten- hafen provozierte öffentliche Diskussionen, die Neue Presse (15.3.1960) erwähnt eine Matinee durch den DGB zu diesem Film und seiner Thematik. Die Kritiken in der Tages- und Branchenpresse waren überwiegend positiv. Der kriegs kritische Tenor wurde betont8, die Inszenierung des Untergangs und die schauspielerischen Leistungen, allen voran Brigitte Horney als „Generalin“ gelobt9, vor allem aber das zu Recht in den Blickpunkt gerückte Leid der Frauen im Krieg betont10. Bemängelt wurde die spürbare Illustriertenvorlage (reißerisch, episodenhaft)11 und aus katholischer Sicht (Filmdienst 1960, S. 99) die unzureichende Thematisierung des Ehebruchmotivs. Von gleicher Seite wurde die fehlende politische Dimension der Kriegsthematik moniert. Als Botschaft des Films wurden eine Abrechnung mit der Vergangenheit (Morgenpost 15.5.1960) und den Russen (Filmforum 4/1960) ausgemacht. Wisbars eigene Intention hatte er dem Spiegel verraten. Unter dem Stichwort „Antibolschewismus“ erschien in Heft 3/1960 ein Artikel12 mit dem Titel „Aus jenen Tagen“ und berichtete von den Dreharbeiten und Wisbars Zielsetzung. Im Vergleich zu sowjetischen Filmen, die Wisbar als sehr antideutsch empfand, stufte er Nacht fi el über Gotenhafen als „dezent“ ein. Gleichwohl ist das Ergeb- nis erheblich abgemildert im Vergleich zur Planung, wie sie im Spiegel-Artikel beschrieben wurde. Mehrere Szenen, die sowjetischen Soldaten als mordlüsterne Unholde zeigen sollten, fehlen. Wisbars eigentliches Credo kommt in einem Mono- log zum Ausdruck, den er die „Generalin“, eine Offi zierswitwe und Gutsherrin und die starke Persönlichkeit in Nacht fi el über Gotenhafen, am Filmende sprechen lässt: Alle Kriege werden auf unserem Rücken ausgetragen. Aber wir halten ihn immer wieder hin. Vorher machen wir keinen Finger krumm, um so was zu verhindern. Blind und taub und stumpf warten wir darauf, bis uns das Herz aus dem Leib gerissen wird ... Immer wieder, immer wieder ... bis dann so ein Schiff untergeht oder ein noch größeres - ein Schiff, so groß wie die ganze Welt ... . In diesem Sinne hatte auch die Filmwoche (10/1960) den Regisseur verstanden: „Wisbar klagt nicht an, er klagt.“ Frank Wisbar griff auf inszenatorische und dramaturgische Elemente zurück, die er schon früher eingesetzte. So verwendete Film - Analysen / Rezeptionen 135 er das Anfangsbild - ein Blick aufs offene Meer - in Haie und kleine Fische auch als Schlussbild, wie er nun auch in Nacht fi el über Gotenhafen die Anfangseinstel- lung von im Wasser treibenden Trümmern und Schiffbrüchigen am Ende wieder aufnahm - in der in den letzten Jahren ausgestrahlten TV-Fassung die Schlussse- quenz. Auch der Gebrauch von Wochenschaumaterial hatte er in früheren Filmen praktiziert. Nicht neu, aber im Kriegsfi lm selten war die zentrale Positionierung von Frauen. 1954 hatte Helmut Käutner eine Ärztin als Protagonistin zwischen die Fronten gestellt (Die letzte Brücke), ähnliches geschah in Kinder, Mütter und ein General (Laszlo Benedek, D 1955). Drei Textstrategien leiten die Rezeption von Nacht fi el über Gotenhafen: Entpolitisierung, Authentizität und Viktimizierung. Entpolitisierung meint, dass Wisbar bei allen konkreten Bezügen seiner Story den Krieg als Schicksalsschlag darstellt, der plötzlich, wenn auch nicht unbe- dingt überraschend, eintritt und dann durchlebt werden muss. Widerständige Äußerungen fehlen ebenso wie die Nennung von Gründen und Anlässen dieses Krieges. Krieg wird auf einige strukturelle Elemente reduziert: die Männer sind an der Front (Marias Ehemann Kurt), die Zivilbevölkerung leidet (Bombardements in Berlin, Evakuierung in die Provinz, Flucht vor anrückenden Gegnern, Tod auf der Flucht), soziale Beziehungen gehen verloren (Ehe Maria-Kurt, Heimatbezug, Familien getrennt), am Ende wartet meist der Tod. Der Krieg wird vom Off- Erzähler als „größenwahnsinnig“ bezeichnet, aber dass die Aktionen der Feinde, speziell der Sowjets, Reaktionen auf zuvor erlittenes Leid waren - was keine Entschuldigung, sondern eine Erklärung ist - bleibt ungesagt. Auch das Militär als im Kriegsfall wesentlich agierende und verantwortliche Größe wird er gan- zen Situation gegenüber ausgeliefert geschildert. Selbst ein „die da oben“ als Kennzeichnung von hierarchischer Verantwortlichkeit für Befehle und Zustände unterbleibt. Krieg ist ein Reiz-Reaktions-Schema, letztlich wird die dramatische Entwicklung durch den Feind ausgelöst: Seq. 16: Kurt erfährt vom Tötungsbefehl der Russen gegen alle Deutschen; Seq. 18-24: Flucht vor der sowjetischen Armee; Seq. 23: Versenkung eines „unschuldigen“ Flüchtlingsschiffs. Nacht fi el über Gotenhafen ist damit symptomatisch für die deutsche Kriegsfi lmp roduktion der fünfziger Jahre, die Reichswehr ist, bis auf individuelle Ausnahmen, eine positive Größe. Die Offi ziere Dankel, Hans und Kurt sind untadelig, im Ernstfall selbst- los und kommen dabei auch um. Dieses Bild des guten Soldaten wurde in der bundesrepublikanischen Geschichte konstant gepfl egt, die Reaktionen auf die Wehrmachtsausstellung 1999/2000 belegen dies nachdrücklich. Ausgenommen wurde von dieser Entpolitisierungsstrategie das klare Feindbild in Nacht fi el über Gotenhafen. Die Sowjets bzw. die Russen wurden als brutale und gefährliche Wesen gezeichnet, die nichts anderes im Sinn hatten, als gute Deutsche zu terro- risieren. Der „antibolschewistische“ Tenor ist deutlich eingebaut und programma- tisch gefasst im Zitat der Kampfanweisungen des Schriftstellers Ilya Ehrenburg: „Tötet, ihr tapferen Rotarmisten, tötet. Wo immer ihr auf einen Faschisten trefft. Folgt den Weisungen des Genossen Stalin und zertrampelt das faschistische Tier in seiner Höhle. Lasst es keine Gnade fi nden vor Euren Augen, tötet ihr tapfer vorwärtsstürmenden Rotarmisten, tötet.“ (Seq. 16) Nun entsprachen viele indivi- 136 Film - Analysen / Rezeptionen duelle Erfahrungen aus den Jahren 1944/45 durchaus der Darstellung bei Wisbar, aber er akzentuiert dies ausdrücklich, indem er z.B. den U-Boot-Kapitän, der die „Wilhelm Gustloff“ versenken wird, zeigt, die Piloten des nächtlichen Bom- benangriffs auf Berlin (Seq. 8) hingegen unsichtbar lässt. Die Personalisierung des Täters bediente die Stimmung in Westdeutschland ebenso wie die im Film betonten Verbrechen der Roten Armee. Dass dies ins politische Klima der jungen Bundesrepublik passte, ist offensichtlich. Der Abgrenzung zum Osten entsprach die Integration ins westliche Bündnis, dafür brauchte man unbelastete Soldaten und kompatible Feindbilder. Die Wiederaufrüstung war eine sehr umstrittene Frage, bei solchen Feinden aber wohl unumgänglich. Und so mag es auch kein Zufall sein, dass die Bundesmarine bei den Dreharbeiten half. Und ebenso wenig verwundert, dass die ostdeutsche Presse in Nacht fi el über Gotenhafen einen „Hetz-“Film (Forum 30.6.1960) sah, die Kontinuität des Regisseurs Wisbar von 1933 bis 1960 betonte und die idealisierte Darstellung des Fremdarbeiters auf dem ostpreußischen Gut der Generalin kritisierte. Deutlicher aber als dieser Aspekt fällt das Bestreben ins Gewicht, den Krieg als Schicksalsschlag zu charakterisieren. Schon der Filmtitel weist in diese Rich- tung, die Nacht fällt als naturhaftes Phänomen, vielfach negativ und angstbesetzt konnotiert, über die Beteiligten. Auch dieses „fallen“ ist unumkehrbar, es gehorcht der Schwerkraft. Die FilmRevue 3/1960 formulierte unter der Überschrift „Deut- sches Schicksal“: „ [...] wenn der heiße Atem des Krieges über sie hinwegfegt“, in der Stuttgarter Zeitung (15.1.1960) hieß dies „Todesmühlen des Krieges“. So wie schon direkt nach der Niederlage 1945 viele Autoren das Schicksal als Rechtferti- gung für den deutschen Weg ins ‚Dritte Reich’ bemühten, z.B. Friedrich Meinecke in seinem Buch: Die deutsche Katastrophe (1946), wurde es in vielen Filmen13 und speziell in Nacht fi el über Gotenhafen praktiziert. Dies meinte Schmieding mit seiner Formulierung „Urlaub von der Geschichte“14 über den deutschen Film der fünfziger Jahre. Selbst wenn der Krieg thematisiert wurde, wurde auf die Analyse seiner Ursachen und auf Refl exion verzichtet. „Die Entpolitisierung des Zweiten Weltkrieges in Richtung auf einen „imaginären Krieg an sich“ ist in „Gotenhafen“ so weit getrieben, wie bisher noch in keinem all jener misslichen deutschen Kriegsfi lme.“15 schrieb Theodor Kotulla 1960 in der Filmkritik. Authentizität: Im Zusammenhang mit dieser Entpolitisierung und zu deren Begründung setzte Wisbar verschiedene narrative und fi lmische Mittel der Erwek- kung eines authentischen Eindrucks ein. Ausgangspunkt der Verfi lmung war eine Illustriertenreportage, basierend auf einem historischen Ereignis. Das Wissen der Zuschauer um das katastrophale Ende dieser Geschichte wurde mit der Anfangs- szene (Trümmer und Schiffbrüchige treiben im Wasser) aufgenommen. Nicht dass das Schiff untergehen wird, wird dargestellt, sondern warum und wie. Damit wird auch dass tragische Ende der Protagonisten für die Zuschauer erträglicher.16 Zusätzlich wird den Rezipienten ein Erzähler aus dem Off zur Seite gestellt, der zwischen ihnen und dem tragischen Geschehen vermittelt, als allwissende, scheinbar unparteiische Person aus dem Hintergrunds kommentiert und dabei Film - Analysen / Rezeptionen 137 auch die entsprechenden Wertungen vornimmt: Seq. 6: „Das Jahr 1944 wurde das Jahr des Rückzuges an allen Fronten. Die verführten [Hervorhebung K.J.] Massen begriffen, dass der Krieg nicht zu gewinnen war.“ Und weiter in Seq. 6: „In epischer Wucht und Größe begann [sic! – dies spielt 1944. K.J.] der Marsch des deutschen Volkes in den nationalen Selbstmord.“ Ein weiteres Element der Strategie der Glaubwürdigkeit des Inszenierten sind Einmontagen von Wochenschaubildern. Diese Dokumentarbilder aus den Kame- ras nationalsozialistischer Kriegsberichterstatter dienen als Beleg, als Stärkung der eigenen Aussage: ‚So war es’. Als weiteres objektivierendes Mittel wird in Seq. 5 eine Datumseinblendung zur Orientierung der Rezipienten vorgenommen. In der zeitgenössischen Rezeption wurden diese Bemühungen um Authentizität registriert. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (7.3.1960) wertete dies als „hohes Maß an Objektivität“, die Freie Presse (Bielefeld) nannte es eine wirklichkeits- nahe Interpretation des Krieges, Wochenend (2/1960) ernannte Wisbar zum „Chronist“ der Zeitgeschichte. In diesem „Realismus“ wurde neben Ursache und Hintergründen des Weltkrieges auch verschwiegen, dass unter den wenigen Überlebenden des Untergangs der „Gustloff“ alle vier Kapitäne und ihre Offi ziere waren, was nicht zum traditionellen Bild des heroischen, sich für andere aufop- fernde deutsche Soldatentum und speziell nicht zum traditionellen und stilisierten Bild des Kapitäns passte, der das Schiff doch als Letzter zu verlassen hatte. Zudem wurde die militärische Funktion der letzten Gustloff-Fahrt verschwiegen, sie sollte unter anderem auch U-Boot-Soldaten verlegen. Viktimizierung: Durchgängig werden die Protagonisten in Nacht fi el über Gotenhafen als ihren Zeitumständen hilfl os ausgelieferte Personen gezeigt. Maria rutscht durch kriegsbedingte Trennung von ihrem Mann in ein eher ungewolltes Abenteuer mit postwendender Schwangerschaft und überlebt in der 1960 gezeigten Fassung von ihrem Kind getrennt, ihr Mann ertrinkt ebenso wie der Grossteil ihrer Begleiter. Die Generalin, Marias Kind und Offi zier Dankel zählen zu den wenigen Überlebenden, die meisten nun heimat- und besitzlos. Diese Betonung der Opferrolle und des Leids wurde 1960 gerne gesehen, im Leid wurden alle Kriegs- teilnehmer gleich, Täter und Opfer. Diese Strategie der Viktimizierung in Nacht fi el über Gotenhafen war kein Einzelfall: „Die Filme der fünfziger Jahre weisen den Deutschen symbolisch den Opferstatus zu“ konstatierte Rainer Rother17. Die Betonung der deutschen Leiden und Verluste ist eine bis heute gängige Strategie, die Grenzen zwischen Angreifern und Angegriffenen verwischt. Die Aktualität gerade im Fall der „Wilhelm Gustloff“ zeigt sich darin, dass in der jüngsten TV- Dokumentation (Die große Flucht - Teil zwei. Der Untergang der „Gustloff “. ZDF 2001, Guido Knopp) und in vielen Artikeln (Die Welt, Der Spiegel, Stern, Süddeutsche Zeitung) anlässlich der Veröffentlichung der Novelle Im Krebsgang von Günter Grass die Opferzahlen, die in Anlehnung an Heinz Schön18 bisher mit knapp 5000 geschätzt wurden, nun auf über 9000 korrigiert wurden. Auch auf der politischen Ebene erleben wir den Schulterschluss der deutschen Vertriebenen mit allen Kriegsopfern, vgl. dazu z.B. die Äußerungen von Erika Steinbach19 zur 138 Film - Analysen / Rezeptionen deutschen Vertriebenenfrage und zu den Ansprüchen der Sudetendeutschen. Nicht nur für die Opfer der damals okkupierten Länder ein zynischer Vorgang, auch im Kontext heutiger Asyldebatten. Martin Osterland20 charakterisiert in seiner Auswertung ihrer Gesellschafts- bilder 80,8% aller westdeutschen Filme der Jahre 1949 bis 1964 als unpolitisch. Dies muss umso mehr verwundern, als die Anfänge nach 1945 zumindest in der Gestalt der Trümmerfi lme einen konkreten Bezug zur gesellschaftlichen Situation in Deutschland aufwiesen. Eine Reihe von Erklärungen lassen sich für diese Entwicklung benennen: 1. Der Neuanfang nach 1945 bzw. 1949 in Westdeutschland ist an keiner Stelle durch radikale personelle Brüche gekennzeichnet. Das wirtschaftliche und kul- turelle Leben wird in vielen Fällen von denselben Personen bestimmt, die auch schon bis 1945 federführend waren. Zwar wurde die politische Führungsriege der NSDAP entmachtet, aber in vielen Bereichen (Justiz, Medizin, Schule, Polizei, Verwaltung) wurde der Wandel bis auf Einzelfälle nicht personell, sondern durch Anpassung an die neuen Erfordernisse, Stichwort Demokratie, vollzogen. Die Entnazifi zierungsmaßnahmen der Alliierten blieben sehr beschränkt, nicht zuletzt der neue alte gemeinsame Feind beschleunigte die Integration der Westdeutschen ins westliche Lager. Die Kontinuität des Antikommunismus war dafür die Ein- trittskarte. Nur im Umgang mit kritischen Stimmen und Filmen zeigte das fi lm- politische System der Bundesrepublik Engagement. Als Beispiel sei der DEFA- Film Sterne (Konrad Wolf, DDR/Bul. 1958) genannt. 1959 in Cannes ausgezeich- net bekam er von den westdeutschen Bewertungskommissionen das Prädikat „wertvoll“ nur, nachdem die abschließende Wandlung eines Unteroffi ziers zum Widerstandskämpfer herausgeschnitten wurde. Das Prädikat „wertvoll“ war aber eminent wichtig für die Verleihfi rmen, denn ohne Prädikat gab es keine Steuerermäßigung, die den Vertreib erst rentabel werden ließ.21 Auch bei Des Teufels General (Helmut Käutner, D 1955) wurde eine Szene am Filmende ent- fernt, um die Freigabe zu bekommen. 2. Die deutsche Filmbranche der fünfziger Jahre weist eine große Ähnlichkeit zu der vor 1945 auf. Hans-Peter Kochenrath22 hat die personelle Kontinuität der Regisseure und Drehbuchautoren aufgelistet und stellt fest: „Die personale Ver- fl echtung zwischen des Schöpfern des NS-Films und des westdeutschen Nach- kriegsfi lms ist so stark, dass man ohne Übertreibung von einer kontinuierlichen Fortführung des Films im Dritten Reich in Westdeutschland sprechen kann.“ Und obwohl Kochenrath nicht einmal alle Regisseure, die in beiden Systemen aktiv waren, einbezog23, liegt die Kontinuität bei durchweg mehr als 50%, wobei sie von 100% im Jahr 1946 kontinuierlich auf 57,6% 1960 sank. Parallel dazu ähnelt der deutsche Film der fünfziger Jahre in seiner manifesten Entpolitisierung dem Unterhaltungsfi lm der dreißiger und vierziger Jahre. Klaus Kreimeier24 sieht die Kontinuität auch fi lmästhetisch. 3. Offensichtlich war der Publikumsgeschmack der fünfziger Jahre durch diese Art von Spielfi lmen gut bedient, denn deutsche Produktionen stellten bei allem starken ausländischen, vorwiegend US-amerikanischen Filmangebot die Film - Analysen / Rezeptionen 139 Spitzenplätze in den Beliebtheitsskalen. Unverbindliche Unterhaltung erwies sich immer wieder als lukrativ und führte aus Rentabilitätserwägungen der Produzen- ten zur Perpetuierung dieses Angebots25. 4. Die Allianz von privater und staatlicher Vermeidung einer kritischen Vergangenheitsb ewältigung behinderte einerseits eine deutlichere Abgrenzung vom Nationalsozial ismus, seinen Bedingungen und Funktionen, andererseits eröffnete sie den Blick auf andere Ziele. Im realen Leben war dies die Wiederer- langung von Normalität und Wirtschaftswachstum, im Bereich des Spielfi lms wurden historische Szenarien mit stabilen politischen Systemen (Monarchien in den Sissy-Filmen), unverfängliche Autoritäten (Ärzte oder Förster) und die heile Welt der ländlichen Heimat entfaltet. Film und Gesellschaft der fünfziger Jahre verliefen also in wesentlichen Grund- linien parallel, die Filme entsprachen den verschiedenen Verdrängungsbedürfnissen und boten gleichzeitig Integrationsangebote für die differierenden Richtungen, die sich mit einer neuen deutschen Demokratie arrangieren mussten. Ulrich Gregor und Enno Patalas urteilen abschließend über den Film der Adenauer-Ära: Die künstlerische Belanglosigkeit und Antiquiertheit auch des ambitio- nierten Teils der westdeutschen Produktion ist die unablösbare Kehrseite ihrer ideologischen Fixierung: die rigorose Weigerung der Autoren und Regisseure, sich und ihr Publikum mit der Wahrheit über den herrschenden Zustand zu konfrontieren, produziert die Halbheiten des Kabarettstils und des Momentrealismus.26 Bei allen, zumal zum Ende der fünfziger Jahre in Gestalt des Fernsehens wachsenden Problemen, waren es gute Jahre für die deutsche Filmwirtschaft.27 Maßgeblichen Anteil daran hatten die Heimatfi lme, die etwa 20 bis 25% der deut- schen Produktion ausmachten.28 Die in ihnen vollzogene „Derealisierung“ kann als eine „Regression in frühere Zeiten“29 verstanden werden. Die augenfällige Diskrepanz realer Lebensverhältnisse und medial entfalteter Wunschwelten provo- ziert zwangsläufi g Vokabeln wie Eskapismus, Ablenkung oder Verdrängung. Die Heimat wurde zum sicheren Ort, den das vielfältig diskreditierte Vaterland nicht mehr bot. „Mach Dir ein paar schöne Stunden“ lautete der Slogan der deutschen Filmwirtschaft. Dies stützt Schmiedings Formulierung vom „Urlaub von der Geschichte“, obwohl es in diesen fünfziger Jahren eine deutliche Belebung der Militär- oder Kriegsfi lme gab, die sich drastisch auf die Geschichte bezogen. Begonnen hatte die Verbreitung dieses Genres 1949/50 mit Militärlustspielen aus den USA oder Nordeuropa, die „Reinwaschfi lme“30 brachten guten geschäftlichen Erfolg. Auch einige amerikanische Kriegsfi lme kamen zu Beginn des Jahrzehnts beim deut- schen Publikum gut an und regten deutsche Filmproduzenten zur Nachahmung an. Osterland geht für die Zeit von 1949 bis 1964 von 470 Kriegsfi lmen aus, die somit 6,8% des Gesamtfi lmaufkommens in Deutschland ausmachten.31 Da die Defi nitionen und Trennschärfe von Kriegsfi lmen wie aller anderer Genres sehr schwierig ist, sind diese Zahlen Annährungen, die aber deutlich den Trend in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre zeigen. 140 Film - Analysen / Rezeptionen Mit dem Ende der fünfziger Jahre war die Boomzeit des Kriegsfi lms vorbei, die Kinobranche schätzte das nachlassende Interesse des Publikums realistisch ein: „Nach Möglichkeit keine Kriegsfi lme“ war im Filmecho (98/1958, S. 1730) zu lesen. Dies erklärt zum Teil, warum Nacht fi el über Gotenhafen nicht der ganz große Erfolg wurde, obwohl seine Botschaft einer kollektiven Entlastung mit der Präsentation des alten und aktuellen Feindbildes Sowjet-Union einherging und damit der deutschen Mentalität in der Verarbeitung der Niederlage voll entsprach. Selbst in dieser Form, gespickt mit Stars wie Sonja Ziemann, wollte das Publi- kum nicht mehr an die jüngste Vergangenheit erinnert werden. Verdrängen und vergessen kam noch vor verschleiern und verklären. Denn die Schuldfrage ist das eigentliche Thema des Films, der kollektiven Schuld Deutschlands (=Krieg) wird die individuelle Schuld Marias (=Ehebruch) zur Seite gestellt. Beide, Deutschland, symbolisiert in der Schiffsmetaphorik, und Maria werden entschuldet durch das ihnen auferlegte Leid: Deutschland geht unter, Maria verliert ihre moralische Integrität, ihren Mann, ihre Heimat, in der TV-Fassung sogar ihr Leben. Damit entsprach Wisbars Aussage der deutschen Nachkriegsmentalität, von Verantwortung und Schuld wollte kaum einer etwas wissen. Und da jeder persönlichen oder materiellen Schaden genommen hatte, schien die Rechnung aus deutscher Sicht beglichen. Ralph Giordano hat diese kollektive Psychohygiene wie folgt beschrieben: Jede zweite Schuld setzt eine erste voraus – hier: die Schuld der Deutschen unter Hitler. Die zweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945. Sie hat die deutsche Kultur der Bundesrepublik Deutsch- land bis auf den heutigen Tag wesentlich mitgeprägt, eine Hypothek, an der noch lange zu tragen sein wird.“32 Selbst die Kollektivschuldthese bot Deckung, sich nicht mit der individuellen Rolle auseinanderzusetzen. Und letztendlich gab es immer nur die da oben, dämonische Überwesen wie Hitler, Goebbels oder Göring, die das alles gemacht hatten. Der Untergang, die Katastrophe, wird in Nacht fi el über Gotenhafen kathar- tisch verwendet. Bei aller Tragik dominiert nicht die pessimistische, apokalypti- sche Tendenz, die innerdiegetisch angebracht ist, sondern der Film zielt auf die Rezeptionsseite, auf die Davongekommenen und ihre Entlastung. Die Transfor- mation von Schuld oder Verantwortung in Leid, akzentuiert durch den fi nalen Untergang, erlöst, macht den Überlebenden frei für ein neues, anfangs entbeh- rungsreiches Leben, den Wiederaufbau. Dies ist 1960 keine individuell begrenzte Geschichte, es ist das kollektive Anliegen der westdeutschen Nachkriegskultur, die eigene Schuld, Niederlage und Verantwortung zu versenken.33 Dies geschah nicht nur in der Gestaltung der Opferrolle, sondern in verschiedenen Argumen- tationen: -Der Betonung des eigenen Widerstands (20.Juli), sofern er nicht politisch links war; -der strikten Unterscheidung zwischen Nazis und Deutschen und der damit ver- bundenen eindeutigen Schuldzuweisung an Hitler; Film - Analysen / Rezeptionen 141 -dem unverzüglich reanimierten Feindbild Sowjetunion; -der Betonung der eigenen Wiederaufbauleistung (Wirtschaftwunder: Wir Kel- lerkinder, Jochen Wiedermann, D 1960); -dem Misstrauen gegenüber der Politik (schmutziges Geschäft) -der verbreiteten Tendenz, über die Zeit vor 1945 zu schweigen; -der Restauration christlicher Werte und die Betonung der abendländischen Wur- zeln -und der Betonung der kulturellen deutschen Tradition (Dichter und Denker). Aktualisiert wird dieser Opferstatuts durch die, wenn auch anders intendierte Novelle Im Krebsgang von Günter Grass.34 Mit dem Erscheinen dieses Textes im Februar 2002 sind alle Argumentationen, die schon in Nacht fi el über Goten- hafen betont wurden, wieder in die öffentliche Diskussion geraten. Der Spiegel (6/2002) ortete auf seinem Titel eine „deutsche Titanic“, in der Welt wurde tage- lang über die Vertriebenen, ihre Ansprüche und Rehabilitierung diskutiert, viele TV-Literaturmagazine und alle großen Zeitungsfeuilletons berichteten über den Untergang der „Wilhelm Gustloff“. In der Zeit vom 14.2.02 wurde der sowjetische U-Boot-Kommandant zum „zwielichtigen Mariner“. Häufi g wurde in dieser Debatte formuliert, es gäbe ein Tabu, über deutsche Leiden zu berichten. Dies trifft im Fall der „Gustloff“ genau nicht zu. Es gab den Spielfi lm von 1960 und mehrere TV-Dokumentationen, die immer wieder ausgestrahlt werden, erst 2001 zeigte das ZDF eine mehrteilige Vertriebenen- dokumentation von Guido Knopp, es gibt Bücher zum Thema. Gerade die For- mulierung „Tabu“ verschleiert und arbeitet am Mythos „vergessenes deutsches Leid“. Wurde dies in den fünfziger Jahren noch als Schutz gegen Schuldvorwürfe funktionalisiert, so bedient es heute eine eigenartige Normalisierungsstrategie deutscher Mentalität. Alle sitzen in einem Boot, die Opfer und die Täter, denn alle haben gelitten. Grass hat auf die Kausalität dieser Leidesgeschichte hingewiesen, auf die Unterscheidung von Ursache und Wirkung. Dies verblasste schnell in den Diskussionen, denn es geht offensichtlich nicht um historische Aufarbeitung und Erinnerung, es geht um neuerliche Entsorgung deutscher Schuld und um Partikularinteressen (Vertriebenenverbände). So überraschend auf den ersten Blick also die neuerliche Aktualität von Nacht fi el über Gotenhafen ist - die UFA arbeitet an einer Neuverfi lmung und auch Agnieszka Holland (vgl. Die Welt 15.2.02) will in einem polnischen Film diese Ereignis einbauen - so gut passt die Transformation von Tätern zu Opfern 1960 und 2002 ins Bild. Wenn bei Grass in seltsamer Koalition mit der Welt (5.2.02: „Vertrieben. Verdrängt. Vergessen?“), den Vertriebenenverbänden und der CSU von Tabu oder „nicht zur Kenntnis nehmen“ der Leiden deutscher Kriegsopfer die Rede ist, dann drückt sich hier eine Bedürfnislage in der Mentalität deutscher Nachkriegsgenerationen aus. Vielleicht soll damit die jahrelange Diskussion um Entschädigung für Zwangsarbeiter und Errichtung von Holocaust-Gedenkstätten zurechtgerückt werden. Was 1960 in Nacht fi el über Gotenhafen im Verständnis der zeitgenössischen Filmkritik das Leid der Frauen war, wurde 2002 zum Leid der Deutschen. Nun 142 Film - Analysen / Rezeptionen darf man es endlich offen aussprechen, Grass meint es sogar aussprechen zu müssen, um das Thema den Rechtsradikalen zu entreißen. Was 1960 noch antibol- schewistisch und gesellschaftliche Psychohygiene war, wird nun, 2002, politisch korrekt. Einen besseren Beleg für die gesellschaftliche Bedeutung von Filmanalyse und -geschichte braucht es wohl nicht. 1 Es gibt zwei Schreibweisen: Bis 1938 schrieb er sich Wysbar, nach dem Wechsel in die USA Wisbar. 2 Das gestörte Verhältnis, das in den 50er Jahren und auch weiterhin in Westdeutschland zum Exil bestand, wird in Äußerungen deutlich, die im Zusammenhang mit Nacht fi el über Gotenhafen 1959/60 fi elen: Der Spiegel 3/1960, S. 59 sprach von „Exil im sonnigen Kalifornien“, die Abendpost formulierte am 14.11.1959: „[...] nach Amerika gegangen, weil es ihm bei uns nicht gefi el [...]“. Vgl. zu Wisbar und seiner Frau auch: Wysbar, Eva: „Hinaus aus Deutschland, irgendwohin...“ Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Lengwil: Libelle 2000. 3 Taylor, John Russel: Fremde im Paradies. Emigranten in Hollywood 1933-1950. Berlin: Siedler 1984, S. 97. 4 Für diesen Film bekam Wisbar den deutschen Filmpreis, die naturalistische Kriegsdarstellung wurde diskutiert. 5 Kreimeier, Klaus: Kino und Filmindustrie in der BRD. Ideologieproduktion und Klassenwirklichkeit nach 1945. Kronberg: Scriptor 1973, S. 124. 6 Schon in der zugrundeliegenden Stern-Reportage war Maria die zentrale Figur, in der Verfi lmung erfährt man nun auch etwas über ihr Leben vor dem Schiffsuntergang. 7 Wer warum die Kürzung des Films um die Schlusssequenz initiiert hat, konnte bisher nicht ermittelt werden, fest steht nur der dadurch differierende Tenor des Films. 1960 gibt es ein Danach der Protagonistin und somit Hoffnung, in der TV-Version gibt es zwar Gerettete, aber das Ende ist radikaler und dabei auch formal gelungener. 8 Filmblätter 9/1960; Die Zeit vom 11.6.1960; Freie Presse (Bielefeld) zog Parallelen zu Die Brücke (Bernhard Wicki, D 1959); der Evangelische Film-Beobachter (Nr. 182) sah ein „eindringliches Mahnmal“. 9 Filmblätter 9/1960; Filmecho 20/1960; Filmwoche 10/1960; Der Tag 15.5.1960; Frankfurter Allge- meine Zeitung 7.3.1960; Hamburger Abendblatt 2.3.1960. 10 Z.B. Filmwoche 10/1960; Der Tag 22.11.1959; Hamburger Abendblatt 2.3.1960; Telegraf 15.11.1959. 11 Süddeutsche Zeitung 5.4.1960; Deutsche Woche 16.3.1960; Filmdienst 12/1960. 12 Ähnliches stand in einem Artikel im Abend vom 20.11.1959. 13 „Der Krieg als Schicksalsschlag. Eine Spezialität des deutschen Nachkriegsfi lms“ (Bawden, Liz- Anne und Wolfram Tichy: rororo Filmlexikon. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1986, S. 370). 14 Schmieding, Walther: Kunst oder Kasse. Der Ärger mit dem deutschen Film. Hamburg: Rütten & Loening 1961. 15 Theodor Kotulla in: Filmkritik 4/1960, S. 102. 16 Auch James Cameron benutzt diese emotionale Krücke in seiner Titanicverfi lmung von 1997, um das Ausbleiben des Happy Ends konsumierbar zu machen. 17 Rother, Rainer: Vom Kaiserreich bis in die fünfziger Jahre. In: ders. (Hg.): Mythen der Nationen. Völker im Film. Berlin: Deutsches Historisches Museum 1998, S. 80. 18 Schön, Heinz: Die Gustloff Katastrophe. Bericht eines Überlebenden. Stuttgart: Motorbuch Verlag 1984. 19 Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), vgl. z.B. Die Welt 5.2.02. 20 Osterland, Martin: Gesellschaftsbilder in Filmen. Eine soziologische Untersuchung des Filman- gebots der Jahre 1949-1964. Stuttgart: Enke 1970. 21 Vergleiche dazu Barthel, Manfred: So war es wirklich. Der deutsche Nachkriegsfi lm. München Berlin: Herbig 1986, 260f. Ein anderes prominentes Beispiel ist Casablanca (Michael Curtiz, USA 1942), der 1952 nur in einer 20 min. kürzeren Fassung in der BRD freigegeben wurde und dabei der Zusammenhang zur Widerstandstätigkeit in dieser deutschen Version getilgt wurde. 22 Kochenrath, Hans-Peter: Kontinuität im deutschen Film. In: Bredow, Wilfried (Hg.): Film und Gesellschaft in Deutschland; Hamburg: Hoffmann und Campe 1975 (ursprünglich 1966), S. 287. 23 Es fehlt z.B. Frank Wisbar. 24 Vgl. Kreimeier: Kino und Filmindustrie. 25 Vgl. Spieker, Markus: Hollywood unterm Hakenkreuz. Der amerikanische Spielfi lm im Dritten Film - Analysen / Rezeptionen 143 Reich. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1999. 26 Gregor, Ulrich und Enno Patalas: Geschichte des modernen Films. Gütersloh: Sigbert Mohn 1965, S. 173. 27 Die Besucherzahlen in deutschen Kinos lagen 1950 bei 487,4 Mill., 1955 bei 766,1 Mill. und 1960 bei 605 Mill., im Jahr 2000 kommt das Kino im wiedervereinigten Deutschland gerade mal auf 25% davon, also knapp 150 Mill. Besucher. 28 Zwischen 1946 und 1960 wurden etwa 300 Heimatfi lme produziert. Jürgen Trimborn (Der deutsche Heimatfi lm der fünfziger Jahre. Köln: Teiresias-Verl. 1998, S. 20) zählt zwischen 1951 und 1958 240 neue Heimatfi lme. 29 Schenk, Irmbert: Erlebnisort Kino. Marburg: Schüren 2000, S. 124. 30 Schlinker, Heribert: Das Verhältnis der Jugend zum Kriegsfi lm. Ein Beitrag zur Pädagogik der Publizistik. Phil. Diss. Universität München 1965, S. 52. 31 Werner Jungblodt: (Kriegsfi lme – noch und noch (Beiträge zur Begegnung von Kirche und Welt Nr. 47). Rottenburg 1960) zählte 224 Kriegsfi lme zwischen 1951 und 1959, Eckhart Schmidt (Der Krieg im Kino. Zur Typologie einer Filmgattung. In: fi lm 7/1964, S. 6-9 und 8/1964, S. 15-17+53) nennt bis Ende 1963 737 Kriegsfi lme. 32 Giordano, Ralph: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein. Hamburg, Zürich: Rasch und Röhring 1987, S. 11. 33 Christopher Classen (Bilder der Vergangenheit. Die Zeit des Nationalsozialismus im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland 1955-1965. Köln: Böhlau 1999) kommt für die Thematisierung des Holocaust im deutschen Fernsehens der fünfziger Jahre zum gleichen Resultat. 34 Grass, Günter: Im Krebsgang. Göttingen: Steidl 2002. 144 Film - Analysen / Rezeptionen Mathias Wierth-Heining Auszüge empathischer Bewegungen einer Mädchen-Clique im Film 8mm Einleitung Aus verschiedenen Richtungen der - insbesondere medienpädagogischen - Rezepti- onsforschung geht hervor, dass Jugendliche (und Kinder) vor dem Hintergrund ihrer eigenen Entwicklung nach bedeutungsvollen Themen in Medien suchen. Diese so genannte „thematische Bezogenheit“ spielt besonders im strukturanalytischen Ansatz von Michael Charlton und Klaus Neumann eine wesentliche Rolle.1 Das „Thema“ stellt dabei eine besondere Art der „Lösung“ im Prozess der Rezeption dar: Eine „Lösung“ vollzieht sich hiernach über eine „Szene“, in der sich symbolisch eine Bewältigung entwicklungsbezogener Bedürfnisse - deren Realisierung noch aussteht - vorgestellt werden kann. Die Aneignung der medialen (hier: fi lmischen) Inhalte und somit die imaginäre „Bewältigung“ geschieht nach Neumann/Charlton im Spannungsfeld der Rezeptionsmodi „Identifi kation“ und „refl exiver Distanzierung“2: Die Zuschauer können sich in Handlungen einleben und sich illusionär mit Rollen identifi zieren, gleichzeitig dabei das Geschehen refl ektieren - sie wissen um die Scheinhaftigkeit des Fiktiven und genießen es als Spiel. Mit Blick auf die Rezeptionshaltungen „Iden- tifi kation“ und „refl exive Distanzierung“ drängt sich die Frage auf: Eignen sich diese Kategorien überhaupt zur Erläuterung rezeptiver Anteilnahme im Prozess der Rezep- tion? Das Konzept der Empathie als Dimension des Filmverstehens und der Film- Aneignung verspricht in bezug zum Rezeptionsmodus einen differenzierteren und tieferen Zugang zu gewähren. Empathische Prozesse in der Filmrezeption3 In den verschiedenen allgemeinen oder psychologischen Lexika zum Begriff „Empa- thie“ steht immer wieder die Fähigkeit zur „Einfühlung“ in eine Person im Zentrum der Defi nitionen.4 Teilweise ist spezifi scher die Rede davon, die Gefühle anderer nachbilden zu können.5 Aber was bedeutet das? Wird eine bloße „Kopie“ des Gefühls einer Person oder Figur erstellt? Oder wird ein Gefühl „wahrhaftig“ geteilt, genau und getreu nachgebildet?6 Schon Max Scheler wies 1913 darauf hin, dass „nur“ eine Annäherung vor dem Hintergrund individuellen Denkens und Fühlens und der eigenen Erfahrungen stattfi nden kann.7 Generell spricht vieles dafür, dass Empathie, die auf fi ktionale Gegenstände gerich- tet ist, eine andere Qualität besitzt als die „Alltagsempathie“. Dies liegt grundlegend an dem Bewusstsein der Fiktionalität von Filmen. Das „Paradox der Fiktion“ bezieht sich genau auf diesen Aspekt: Die Rezipienten lassen sich auf etwas ein, reagieren zum Teil sehr intensiv auf etwas, von dem sie wissen, dass es fi ktiv ist, nicht real exi- stiert.8 Das Paradox der Fiktion deutet auf eine Lücke hin: Bisher fehlt ein Bindeglied zwischen dem „Anlass der Empathie“ (hier: der Film) einerseits und der „Tätigkeit des Empathisierens“ (auf der Rezipientenseite) andererseits. Für Murray Smith9 ist diese vermittelnde und eine empathische Versetzung ermöglichende Operation die Tätigkeit der Imagination. Die Reaktion auf ein empathisierendes Geschehen erfolgt also nicht unvermittelt, nicht unmittelbar an der Figur, sondern ist Teil eines „imaginierten Szenarios“, das im Verlauf der Rezeption immer mehr aufgebaut wird. Film - Analysen / Rezeptionen 145 Das Modell der Empathie in der Filmrezeption Zur Veranschaulichung empathischer Bewegungen in der Filmrezeption dient die im folgenden entwickelte Modellvorstellung der Empathie. Grundlegend geht bei der Realisierung eines Filmes in der Rezeption um den Aufbau eines intentionalen Raumes, einer fi ktiven sozialen Handlungswelt. Dieser imaginierte Raum ist nicht bloß einer des tatsächlichen Geschehens, sondern ein Raum der Interpretationen, Absichten und Pläne. Der Aufbau des intentionalen Raumes enthält verschiedene Aspekte: - Zum einen wird die Geschichte als Raum der intentionalen Beteiligung von Figuren an einem Geschehen aufgebaut - die Geschichte bietet den umfassenden, allgemeinen Orientierungsrahmen. Nach Hans Jürgen Wulff10 ist die erste Operation der Rezipi- enten, von Handlungen auf Pläne bzw. Planstrukturen der Akteure zu schließen. - Weiter wird die Szene als intentionales Feld konturiert: Es wird ein soziales Feld aufgebaut, ein soziales System, ein Beziehungssystem, in dem die Figuren aufeinander bezogen sind, voneinander abhängig, sich gegenseitig unterstützen oder blockieren usw. Die Szene ist der nähere Kontext, in dem die Handlungsmöglichkeiten und Handlungserfolge (oder -misserfolge) empathisierter Figuren abgeschätzt werden. - Schließlich kommt es zur Aneignung und Ausformung der Figuren, die als „innere Attribuierung“ bezeichnet wird. Die Zuschauer ordnen den Figuren der Handlung bestimmte Merkmale zu, erstellen im Laufe der rezeptiven Aktivität eine Art „hypothetische Psychologie“ des Charakters - der Figur wird also eine innere Verfassung zugeschrieben.11 Sympathie (als „höherer“ Teil der Empathie, fokussiert auf die Intensität emo- tional-affektiver Anteilnahme) wiederum ist nicht bloß ein Prozess „intensiven Nachbildens“ von Gefühlen einer Figur im eigenen Horizont: Aber es geht [...] nicht um eine schlichte „Versetzung“, um einen schlichten Nachvollzug, um eine naiv verstandene „Identifi kation“, sondern um etwas anderes, Komplizierteres. Ich habe eine Leitfi gur gefunden, eine junge Frau, die fröhlich ist; die empathische Bindung ist aber nicht allein auf sie gerichtet, das nachlebend, was sie vorspielt. Ein einfaches Beispiel kann klären, dass die Zuwendung zu Figuren mehrdimensional ist: Ein Hai ist im Wasser, die Heldin in größter Gefahr, und ich bange um sie, obwohl sie fröhlich ist.12 Eine Reduzierung auf ein bloßes „intensives Nachbilden“ kann nicht den empathischen Affekt erklären, dass wir um die Frau bangen, denn sie ist ja fröhlich! Es handelt sich also nicht nur um ein „feeling-with“, sondern auch um ein „feeling-for“, das im Sympathisieren mit einer Figur enthalten ist.13 Die Zuschauer nehmen also eine Doppelposition ein, indem sie zum einen die Figur - bzw. deren Gefühle und Befi nd- lichkeiten - „von innen her“ erfassen (feeling-with), sie zum anderen „von außen“, als Teil eines bedrohlichen Kontextes, beurteilen (feeling-for). Das feeling-with ist in erster Linie von der Intelligibilität einer Figur abhängig. Sind den Rezipienten die Motive der Figur verständlich, dann haben sie eine Vorstel- lung davon bzw. einen Zugang dazu, wie eine Figur eine Situation einschätzt.14 Das feeling-for wiederum ist maßgeblich bestimmt durch die moralische Bewertung der Zuschauer. Hier wird deutlich, dass es sich um einen intentionalen Raum handelt, in 146 Film - Analysen / Rezeptionen dem es um Planstrukturen und aufeinander bezogene Personengefüge geht. Wenn in einer Szene in 8mm Nicolas Cage von Antagonisten bedroht wird, ich um diese mir sympathische Figur bange, so heißt das, dass auch die beteiligten antipathischen Figuren Teil meines Bangens sind, wenn sie der sympathischen Figur Schaden zufügen können. Das ist Konterempathie: das einfühlende Verstehen in Antagonisten, um deren Intentionen und Handlungsmöglichkeiten einschätzen zu können - dabei sind meine Gefühle mit den ihrigen aber nicht kongruent (ich will nicht, dass sie Nicolas Cage schädigen). Ich empathisiere die Antagonisten also mit Blick auf den sympathischen Protagonisten. Letztlich verdeutlicht das Modell, dass Empathie ohne Sympathie möglich ist, Sympathie demgegenüber aber notwendig auf der Fähigkeit basiert, sich empathisch in die Figuren einfühlen zu können. Auswertungen empathischer Bewegungen einer Mädchen-Clique im Film 8mm Die empirischen Daten stellen Auszüge aus der aktuell laufenden Dissertation dar, in der es um verschiedene Aneignungsformen von Filmen und die Konstitution von Bedeutungen durch Mädchen in ihren Cliquen (Peers) geht. Drei Mädchengruppen wurden unter Verwendung verschiedener quantitativer und qualitativer Methoden untersucht: - Fragebögen zur Erhebung soziostruktureller Merkmale; - Teilnehmende Beobachtung; - Einzel- und Gruppeninterviews; - Interviews nach den Rezeptionen von Kino- und Videofi lmen; - Medienbiografi e-Interviews und zusätzlich - Medientagebücher. Während der Videorezeptionen wurden von den weiblichen Jugendlichen „Pro- tokolle“ angefertigt - allerdings keine „Verlaufsprotokolle“ des Films, sondern viel- mehr „Gefühls-“ bzw. „Wahrnehmungsprotokolle“. Die Vorgabe war, dass sie ihren Gedanken und Gefühlen keinen verbalen Ausdruck verleihen, sondern alles auf- schreiben sollten, was sie dachten und fühlten.15 Die folgenden Auszüge aus den Wahrnehmungsprotokollen, die dann im Rahmen einer Diskussion vorgelesen und aufgezeichnet wurden, stammen aus der Videorezeption einer Clique des Films 8mm (USA 1999; Regie: Joel Schumacher). Diese Clique besteht aus vier Mädchen (Anna, Hanna, Katharina und Maria) - zwei waren zum Zeitpunkt der Untersuchung 16 Jahre alt, die anderen beiden 17. Sie stammen aus der Mittelschicht und gehobenen Mittelschicht und gehören zur bildungsbevorzugten Gruppe. In dem Thriller 8mm geht es um folgendes: Nach dem Tod des angesehenen Millionärs Christian fi ndet dessen Witwe im Safe einen Acht-Millimeter-Film, auf dem zu sehen ist, wie ein junges Mädchen von einem Mann mit lederner Gesichtsmaske brutal ermordet wird. Um ihr Gewissen zu beruhigen, engagiert die Witwe den Pri- vatdetektiv Tom Welles (Nicolas Cage), damit er herausfi ndet, ob die Szenen gestellt sind oder ob es sich um einen „Snuff Movie“ handelt. Welles kann das Mädchen iden- tifi zieren und sucht ihre Mutter auf, die sich sechs Jahre nach dem Verschwinden ihrer Tochter keine allzu großen Hoffnungen mehr macht. Mit Hilfe von Max California (Joaquin Phoenix), der als Verkäufer in einem Porno-Laden arbeitet, nimmt Welles Film - Analysen / Rezeptionen 147 schließlich Kontakt mit Dino Velvet auf, dem Tycoon der Snuff-Szene. Doch Velvet kommt dem Detektiv auf die Schliche, und es stellt sich heraus, dass Mr. Christian tatsächlich den Filmmord in Auftrag gegeben hat. Der Auszug der empathischen Episode16 der vier Mädchen gehört zu dem Film- segment (Szenen 21 bis 25), in dem sich Welles (Cage) mit Dino Velvet, Eddie (dem Hardcore-Porno-Agenten) und „Machine“ (demjenigen, der auf dem 8mm-Film das Mädchen brutal ermordete), unter dem Vorwand trifft, ein eigenes Porno-Projekt in Auftrag zu geben und bei dem Dreh mit dabei zu sein. Der Anwalt der Christians, Longdale, der offenbar auch in die Snuff-Machenschaften verwickelt war, kommt hinzu. Welles wird als Privatdetektiv entlarvt. Dann wird zusätzlich der misshandelte Partner Welles’, Max California, der eigentlich nicht mehr in der Stadt sein sollte, in die Szene eingeführt: Dino Velvet droht, California umzubringen, wenn Welles nicht augenblicklich den 8mm-Film holt. Welles willigt ein, holt mit Longdale den Snuff- Movie aus dem Auto und kehrt in die Lagerhalle, in der sich die Antagonisten mit California aufhalten, zurück. Der Film, das einzige noch verbliebene Beweisstück, wird von Velvet verbrannt, California getötet, Welles zusammengeschlagen und ange- kettet. Als sich herausstellt, dass der Anwalt seinen „Geschäftspartnern“ Velvet, Eddie und letztlich auch „Machine“ die wahre Summe für den Auftrag des Snuff- Films vorenthalten hat, eskaliert die Situation: Velvet erschießt den Anwalt mit einer Armbrust, dieser jedoch trifft auch Velvet mit einer Pistole tödlich. Welles wird von „Machine“ attackiert, kann aber letzteren mit einem Messer verletzen. Bevor Eddie zu einer Schusswaffe greifen kann, kann Welles sich befreien und fl iehen. Die Aussagen17 der einzelnen Mädchen zu diesem Segment werden im folgenden wiedergeben und im Rahmen des Modells der Empathie als Dimension des Filmver- stehens diskutiert. A. Katharina K: „Es wird wieder spannend, oho!“ I: Wo war das? K: ... Da ist der da zu diesem Treffen hingegangen. ... Mit diesen Typen.. „Oho, jetzt wird’s wieder spannend. Wie lecker. (Zynisch) So toll ist der Film aber echt nicht, ein paar ekelige Stellen, das war’s.“ ... (Weiter zynisch) Tolle Ausdrücke. Genau, da hat er so .. „Wichser“, und was hat er gesagt? „Leichenfi cker“, und .. „tot, tot, tot.“ Katharinas Rezeptionshaltung während dieser empathischen Episode ist exemplarisch. Ihre Bemerkungen während des gesamten Films sind fast immer ironisch-distanziert. Zwar bildet sie kognitiv nach, dass eine spannende Situation folgen wird, jedoch wird diese verstehende Bewegung nicht von kongruenten Gefühlen des „Gespannt- Seins“ begleitet. Bezogen auf das oben vorgestellte Modell befi ndet sich Katharina in ihren empathischen Bewegungen vornehmlich auf den grundlegenden Ebenen, ist also emotional-affektiv weniger intensiv beteiligt.18 Ihr „So toll ist der Film aber echt nicht, ein paar ekelige Stellen, das war’s“ bezieht sich auf die Stelle, als Max California mit einem Messer der Hals durchgeschnitten 148 Film - Analysen / Rezeptionen wird, nachdem Welles den Antagonisten den 8mm-Film gebracht hat und darum bittet, California nun frei zu lassen. In Katharinas Satz werden die Schattierungen in ihrer Rezeptionshaltung deutlich: Das „ekelig“ deutet auf das Empfi nden von Abscheu, also auf einen Affekt hin, ihr zynischer Ton dagegen zeigt an, dass sie sich distanziert. Offensichtlich kann und will sie sich nicht emotional intensiv in die Szene einfühlen, zu weit entfernt, zu unvertraut scheint ihr der brutale Mord zu sein. Oder anders ausgedrückt: Ein wesentlicher Faktor des (tieferen) empathischen (und sympatheti- schen) Nachvollzugs, nämlich die Intelligibilität, fehlt ihr. Der empathische Prozess wird blockiert, sie verhält sich hier antiempathisch. Als Welles Velvet, Eddie und „Machine“ nach dem Mord an California beschimpft, schreibt Katharina „„tolle Ausdrücke.“ Genau, da hat er so ... „Wichser“, und was hat er gesagt? „Leichenfi cker“ [...].“ Wiederum scheint sie jeden tieferen empathi- schen bzw. sympathetischen Prozess zu blockieren und distanziert sich auf ironisch- zynische Weise. Explizit wird selbst Welles als leidtragende Hauptfi gur in einer höchst bedrohlichen Situation nicht empathisiert, geschweige denn sympathisiert, sondern die zynischen Bemerkungen stehen im Vordergrund. Es ist nicht ersichtlich, inwieweit sie selbst rein kognitiv dieses Szenario nachbildet - aber den Ausdrücken Welles’ in dieser Situation überhaupt Bedeutung beizumessen, sie zu explizieren und somit als relevant zu setzen, heißt, dass sie sie mindestens im Kontext dieses Segmentes sieht. Offensichtlich empfi ndet Katharina Welles’ Äußerungen hier als lächerlich. Dazu muss kurz die Szene verdeutlicht werden: Welles bittet die Antagonisten um Freilassung von Max California, woraufhin dieser kalt und brutal ermordet wird. Die Bedrohung und somit eine mögliche Schädigung des Protagonisten steigt nicht nur damit, dass California getötet, Welles anschließend geschlagen und an das Bett geket- tet wird, somit hilfl os ist. Die Wahrnehmung einer bedrohlichen Situation wird viel- schichtiger evoziert. Da wären die Strategien der Subjektivisierung, die Perspektivität: Diese Szenerie ist gekennzeichnet durch subjektive Aufnahmen, sie ist vom Blick- punkt des Protagonisten Welles gefi lmt, darum ist es umso mehr seine Angst und seine Hilfl osigkeit und Ohnmacht, die hier angedeutet wird.19 Hinzu kommt, dass die bisherige Geschichte, Szenen, Figuren und Planstrukturen schon eine Zeit unter Aufwendung rezeptiver „Arbeit“ gestaltend nachvollzogen wurden - darauf gründet sich das Wissen um die Skrupellosigkeit und Unberechenbarkeit der Antagonisten, was in mehreren Szenen, nicht zuletzt durch den Mord im 8mm-Film, deutlich wird. Erst in diesem Zusammenhang ist zu verstehen, dass Welles’ Äußerungen lächerlich wirken können: Die Beschimpfungen erscheinen hilfl os und wirkungslos, Welles kann sie damit nicht verletzen. Vielmehr wirkt überhaupt der Versuch eines Verletzen- Wollens vor dem Hintergrund der Ohnmacht gegenüber den Antagonisten lächerlich. Es kann nicht eindeutig geklärt werden, inwieweit Katharina diese genannten Ebe- nen empathisch nachvollzogen hat. Dass diese Elemente aber zu ihrem teilnehmen- den Verstehensprozess gehören, liegt nahe. Ansonsten wäre ihre Empfi ndung des „Lächerlichen“ nicht zu verstehen. „Tot, tot, tot“ bezieht sich auf die drei Toten in diesem Segment, California, den Anwalt und Dino Velvet. Die eingenommene Distanz drückt sich hier weniger im expliziten Zynismus als in der nüchternen aneinanderge- Film - Analysen / Rezeptionen 149 reihten Feststellung (und somit in subtiler zynischen Weise) aus, dass alle drei tot sind. Eine Differenzierung zwischen Protagonisten und Antagonisten ist dabei nicht ersichtlich. B. Maria M: „... selbst dran Schuld gehabt, wenn man sich auf so was einlässt .. voll unbeholfen, der Rechtsanwalt .. halt’s Maul, du!“ ... „Ausnahmezustand, jetzt hetzen alle alle, jeder gegen jeden. (Zynisch) Ja, bist zu dick, um unter’s Auto zu kommen!“ ... „Das war clever“ .. Da hat er diese alte Patrone für die .. Dings genommen. Maria hingegen nimmt offenbar empathischer, emotionaler teil. Interessanter Weise richtet sich ihre Aufmerksamkeit in diesen Szenen auf den Anwalt der Christians. Ihr „selbst dran Schuld gehabt, wenn man sich auf so was einlässt“, „voll unbeholfen, der Rechtsanwalt“ und das auf ihn gerichtete (parasoziale) „halt’s Maul“ zeigen, wie intensiv sie diese Figur antipathisiert. Von Bedeutung ist Marias Perspektivwahl. Sie setzt (explizit) die Antipathisierung des Anwalts als relevant, nicht die Sympathisie- rung Welles’. Dennoch wissen wir vom Modell der Empathie, dass ein Antipathisieren, ja sogar der erkennbare Wunsch nach Schädigung dieser Figur als feeling-against zum feeling-for gehört, ihm komplementär gegenüber steht. Antipathie, oder im emotional höheren Fall das feeling-against, ist Teil des Empathie-Konterempathie-Komplexes. Mit Fokus auf Longdale seien kurz die Szenen beschrieben, die die textuelle Grundlage für ein Antipathisieren des Anwaltes bilden. Longdale möchte „die Sache schnell hinter sich bringen“, also Welles und California aus dem Weg räumen. Mit einer Pistole bewaffnet, „begleitet“ er Welles zu dessen Auto, in dem sich der 8mm- Film befi ndet. Auf dem Weg dorthin versucht Welles herauszufi nden, warum Mr. Christian den Snuff-Film in Auftrag gegeben hat. Er versucht, diese Tat zu verstehen, denn die Motive sind ihm, dem Ehemann und Vater einer kleinen Tochter, völlig unverständlich.20 Es zeigt sich, dass Longdale in erster Linie nüchtern aus Geldgier gehandelt hat, für ihn war es ein gutes Geschäft. Ohne emotional berührt zu wirken, erklärt Longdale Welles weiter, Christian hätte diesen Film in Auftrag gegeben, „weil er es sich leisten kann“, sowieso würde sich keiner mehr um das namenlose Mädchen kümmern. Mr. Christians Motive scheinen Longdale keine moralischen Bedenken zu bereiten, was Welles in Wut versetzt. Longdale wundert sich, dass Welles es überhaupt so weit geschafft hat, er hatte ihn ausgewählt, weil dieser Fall eigentlich „eine Nummer zu groß“ sein sollte, schließlich sei Welles „nicht sonderlich intelligent“. Dann gehen sie mit dem Film in das Lagerhaus zurück, den Welles nachfolgend übergibt. In dieser Szene zeigt sich besonders deutlich, warum Longdale emotionaler antipathi- siert werden kann: er ist menschlicher, durchschaubarer. Seine Motive der Geldgier, Überheblichkeit und Unterwürfi gkeit sind intelligibler als die „Machines“ oder Vel- vets. Das „voll unbeholfen, der Rechtsanwalt .. halt’s Maul“ weist auf zwei grundlegende Aspekte in der Empathisierung von Antagonisten hin. Der Agent Eddie und der 150 Film - Analysen / Rezeptionen Anwalt werden von allen vier Mädchen mehr oder weniger intensiv im Laufe der Rezeption antipathisiert, auch von Maria, die ihnen sogar eine Schädigung wünscht. Dino Velvet und der Maskenmann („Machine“) hingegen können meist viel weniger emotional antipathisiert werden, weil die Motive und Intentionen von Velvet und „Machine“ kaum nachvollziehbar sind. Wie schon angesprochen, ebnet genau diese Möglichkeit des Nachvollziehens den Weg für ein intensiveres Antipathisieren, bis hin zum feeling-against. Eine imaginative Erstellung einer Persönlichkeit auf dem Wege der inneren Attribuierung auf Grundlage von Erfahrungsnähe ist den Mädchen hier nicht möglich. Als dann der Anwalt getötet wird, Velvet stirbt und sich die beiden übrigen Ant- agonisten Welles zuwenden, schreibt Maria „Ausnahmezustand, jetzt hetzen alle alle, jeder gegen jeden“. Offensichtlich ist der weitere Verlauf der Handlungen für sie wenig vorhersagbar - ein Aspekt in der Rezeption, der das Erlebnis der Spannung maßgeblich erhöht21 und in direktem Zusammenhang mit der Intensität emotionaler Teilnahme steht. Zwar ist ein explizites Em- bzw. Sympathisieren nicht zu erkennen, liegt aber auf Grund des Erlebens der Spannung nahe, da Spannung, ebenso wie Sympathisieren, ein Kontexteffekt, Teil des Empathie-Konterempathie-Komplexes ist. Klar dagegen ist das Antipathisieren Eddies. „Ja, bist zu dick, um unter’s Auto zu kommen“ bezieht sie auf die Szene, in der Welles „Machine“ mit einem Messer verletzt und zeitweise handlungsunfähig gemacht hat. Dann versucht er, sich von den Handschellen mit Hilfe einer Pistole zu befreien. Eddie verfolgt dies mit, ver- sucht, unter das Auto des Anwaltes zu kriechen, um die darunter liegende Pistole zu bekommen. Interessanterweise ist Eddies Körper in der gesamten Rezeption - und nicht nur bei Maria - durchgängiger antipathischer Angriffspunkt. Zeigt sich bei Sympathisierungen auch der Wunsch nach psychischer Unversehrtheit von Figuren, bezieht sich insbesondere bei Eddie das feeling-against auf dessen Körper.22 C. Hanna H: „Wo ist er denn jetzt wieder? Ich fi nde, Nicolas Cage sieht zu lieb aus für so was .. ich peil’s nich’, aber clever clever.“ Eine ähnliche empathische Tiefe in der Rezeption weist Hanna auf. Allerdings sind bei ihr immer wieder Stellen zu verzeichnen, die sie „undurchschaubar“ fi ndet und somit Handlungserwartungen schwer einschätzbar sind. Dies zeigt sich u.a. im „wo ist er denn jetzt wieder?“, als Welles zu dem Treffen mit Velvet, Eddie und Machine geht. Zu einem späteren Zeitpunkt des Interviews fügt sie hinzu, dass sie kurz darauf an dieser Stelle dachte, Welles werde jetzt „arglos“. Sie nimmt emotional intensiv teil, sympathisiert Welles/Cage innerhalb beider Aspekte der Doppelposition: Das feeling- with drückt sich im „wo ist er denn jetzt schon wieder?“ aus, denn durch die o.a. Sub- jektivisierung des Blickwinkels und die Fokussierung auf Welles/Cages angespanntes Gesicht und seine ungewohnt hektischen Gesten werden innere Attribuierungen von „Angst“ und „Unsicherheit“ nahe gelegt, die Hanna mitfühlt. Auch Welles scheint nicht zu wissen, wo genau er sich befi ndet bzw. worauf er sich eingelassen hat. Im „arglos“ wird das feeling-for angedeutet, denn Hanna bangt um ihn, hält ihn für Film - Analysen / Rezeptionen 151 arglos und leichtsinnig, sich auf dieses Treffen eingelassen zu haben, eben weil eine Schädigung durch die in der Überzahl vorhandenen, gewalttätigen und unberechen- baren Antagonisten zumindest möglich ist. „Ich fi nde, Nicolas Cage sieht zu lieb aus für so was“ weist auf eine Schwierigkeit bei Hannas Em- und Sympathisieren hin, die mehrmals in der Rezeption auftritt. Sie sieht verstärkt im Protagonisten nicht nur die Figur „Welles“ als kontextuellen Teil der Geschichte, sondern vielmehr den Star Nicolas Cage als intertextuelles Phänomen. Dieser intertextuelle Bezug sorgt für einen dissonanten Effekt. Einerseits ist ihr Cage als Star sympathisch, andererseits erscheint sein „liebes Erscheinungsbild“ (sie spricht später im Interview von „lieben Augen“) mit der Ebene der Handlungen der dargestellten Figur oft schwer vereinbar. Hier bezieht sich das „er sieht zu lieb aus für so was“ auf den Kampf zwischen Welles und „Machine“, den er mit einem Messer in den Bauch verletzt. Im Laufe des Filmes kommentiert sie damit insbesondere den „Rachefeldzug“ Welles’, der Eddie und „Machine“ aufsucht und nachfolgend tötet. Tendenziell sympathisiert Hanna Welles in erster Linie, wenn eine Schädigung die- ser Figur wahrscheinlich ist, reagiert mit Dissonanz, wenn er anderen eine Schädigung zufügt. Bei ihr sind die sympathietragenden Figuren häufi g die Opfer, insbesondere Miss Christian oder die Mutter des im Film getöteten Mädchens. D. Anna A: “… er wird voll verarscht, oh Gott, ich hätte, ich hätt’ Schiss, oh Gott, nein.“ „.. Oh Gott, ich hätte Schiss, oh Gott nein!“ „.. Oh Gott der Maskenmann ist ekelig, oh nein .. er hätte den Partner behalten sollen, oh Gott, wie schrecklich, oh nein.. alle hängen mit drin, der arme Partner, jetzt muss er sich was überlegen.“ Also der arme Partner wurde dann ja dann halt da aufgehängt und jetzt muss er sich halt was überlegen .. „Oh nein, was ein Arsch!“ „.. die sind so krank“, und dann „Pech gehabt“ ... „oh Gott, alle sollen sterben .. der Ermittler muss es überleben“, also der Nicolas Cage in diesem Fall, „wegen der Frau und dem Kind und weil’s sonst zu schlimm wär’..“ Anna ist (bei fast allen untersuchten Filmrezeptionen) diejenige gewesen, die offen- sichtlich, explizit am emotional intensivsten rezipiert hat. „Er wird voll verarscht, oh Gott, ich hätt’ Schiss, oh Gott, nein“ bezieht sich auf den Anfang des Segmentes, in dem Welles, sichtlich verunsichert, zu dem Treffen geht, bei dem erst nur Velvet und „Machine“ anwesend sind. Velvet schoss zu diesem Zeitpunkt - ein „idealer“ Ansatz zur Wahrnehmung bzw. Antizipation einer bedrohlichen Situation - mit einer Armbrust auf eine Zielscheibe. Anna antizipiert eine höchst bedrohliche Situation. Schon in dieser frühen Phase der Szene sind die drei Elemente einer bedrohlichen Situation enthalten: 1. Es gibt eine empathietragende Hauptfi gur, 2. die Tatsache, dass sie in Gefahr schwebt bzw. ihr andere Figuren nach dem Leben trachten, ist bekannt, und 152 Film - Analysen / Rezeptionen 3. es sind Gegenspieler eingeführt, ohne dass klar wäre, wie sie zu handeln beabsich- tigen.23 Ihr niedergeschriebenes „oh Gott, ich hätt’ Schiss, oh Gott, nein“ zeigt zum einen die empfundene Steigerung einer Bedrohung, zum anderen die Intensität der emotio- nalen Beteiligung/des empathischen Nachvollzugs. Ihre Rede ist hier nicht von „der“ müsse doch Angst („Schiss“) haben, sondern sie schreibt explizit, „sie“ hätte „Schiss“, d.h. sie bildet die Gefühle Welles’ in ihrem eigenen Horizont intensiv nach. Es fi ndet eine große Annäherung statt innerhalb eines vorgestellten als-ob-Szenarios (als Teil des feeling-with). Der andere Teil der Doppelposition kündigt sich schon im „oh Gott“ an, im Bangen (feeling-for) um die sympathisierte Figur. Als der „Maskenmann“ deutlicher gezeigt wird, kommt „oh Gott, der Masken- mann ist ekelig, oh nein ... er hätte den Partner behalten sollen, oh Gott, wie schreck- lich, oh nein“. Hier steigt die Spannung bzw. die Wahrnehmung der Bedrohung weiter an, damit verbunden auch die Erwartung der Gewalt, der Schädigung der sympathi- schen Figur. In der Doppelposition, die sie zum fi lmischen Geschehen einnimmt, scheint das feeling-for zu überwiegen - Annas Affekte bestehen hier tendenziell weniger aus „Angst und Schrecken“, sondern eher aus „Sorge“. Ebenso ist das „er hätte den Partner behalten sollen“ Teil des Sorgens. Diese Stei- gerung des Sich-Sorgens/Bangens ist von Anna in expliziten Zusammenhang mit dem „Maskenmann“ gebracht: In dieser Einstellung steht er hinter Welles, der mittlerweile als Privatdetektiv aufgefl ogen ist, hält ihn fest, und der Zuschauer sieht ganz kurz ein Messer, das „Machine“ hinter Welles’ Rücken bewegt. Dann verschwindet es wieder aus dem Blickfeld und es ist eine kurze Zeit ungewiss, wo und wie er es hält, womit eine Abschätzung, was er mit Messer zu tun beabsichtigt, wenigstens erschwert wird. Zusätzlich bezeichnet Anna den Maskenmann als „ekelig“, sie antipathisiert ihn in einer gewissen Entfernung – denn zum einen ist sowohl die Figur „Machine“ generell wenig intelligibel, zum anderen sind seine konkreten Intentionen und weiteren Handlungen in diesem Segment undurchsichtig. „Alle hängen mit drin, der arme Partner, jetzt muss er sich was überlegen“. Annas vorgestelltes Szenario komplettiert sich, als der Anwalt unerwartet auftritt und sich als Geschäftspartner Velvets erweist. Die Funktion des Anwaltes als einer der Mittäter ist ein weiteres „Puzzle-Teil“ im Verständnis der Geschehnisse. War vorher Welles die empathietragende Figur, ist es nun California, um den sie sich sorgt. Innerhalb dieses feeling-for steht die (parasoziale) Interaktion mit Welles, die im „jetzt muss er sich was überlegen“ deutlich wird. Nachdem Welles den 8mm-Film aus dem Auto geholt hat, bittet er Velvet darum, California frei zu lassen. Hierauf folgt „oh nein, was ein Arsch“, als Velvet „Machine“ den Befehl gibt, California „von seinem Leid zu erlösen“, ihn also umzubringen. Annas feeling-for, ihre Sorge um California, schlägt um in deutliche Antipathie, Wut und Ärger, die sich auf Velvet richten. Der Mord an California löst eine Eskalation der Gewalt aus: Welles kann es nicht fassen, dass California umgebracht wurde (schließlich sind alle Beweise mit dem Film vernichtet worden, der Mord ergibt sich nicht notwendig aus der Situation), rennt fassungslos auf den Sterbenden zu. Dabei Film - Analysen / Rezeptionen 153 kommen „Machine“ und Eddie auf Welles zu und schlagen auf ihn ein, ketten ihn dann an das Bett mit Handschellen fest. „Die sind so krank“ bezieht sich darauf, dass Welles brutal zusammengeschlagen wird. Zwar ist diese Äußerung deutlicher Teil eines Antipathisierens, aber eher eines distanzierten, entrückten. Wiederum fehlt die Grundlage für ein emotionaleres Antipathisieren, weil die Handlungen und Motive, Welles so exzessiv Schaden zuzufügen, Anna viel zu fremd und undurchsichtig sind. Die Eskalation der Gewalt setzt sich weiter fort. An das Bett gekettet und in ohnmächtiger Wut beschimpft Welles Velvet, Eddie und „Machine“, fragt sie letztlich, warum sie noch „im Dreck wühlen“, wenn sie doch von Mr. Christian eine Million Dollar kassiert hätten. Die drei sind über die Höhe der Summe überrascht und erken- nen, dass der Anwalt sie hintergangen und ihnen nur einen geringen Teil der Summe ausgehändigt hat. Longdale erkennt die bedrohliche Lage (Velvet geht zu ihm mit „geladener“ Armbrust, „Machine“ mit einem Messer) und versucht, die drei mit seiner Pistole in Schach zu halten. Dann erschießt Velvet den Anwalt mit seiner Armbrust, der jedoch noch einen tödlichen Schuss auf Velvet abfeuern kann. Im Sterben sagt Velvet zu „Machine“, er solle „alle“ töten. Annas Äußerung „Pech gehabt“ bezieht sich auf den Tod Velvets. Sie hat keine moralischen Probleme mit der (tödlichen) Schädigung der Figur des Velvet. Auf der anderen Seite kommt aber auch kein tiefer emotionales feeling-against zustande.24 Als dann die Aufmerksamkeit wieder Welles zukommt, der dabei ertappt wird, dass er eine Kugel nachzuladen versucht, um sich von den Handschellen loszumachen, steht er auch für Anna wieder im Zentrum der Wahrnehmung. In dieser Perspektiv- Übernahme ist ihr „oh Gott, alle sollen sterben“ zu sehen, in der feeling-for und feeling-against deutlich werden: die Sorge um Welles auf der einen, der Wunsch nach Schädigung der Antagonisten auf der anderen Seite. Interessant ist, dass es hier zu einem so emotionalen, konkreten Wunsch nach Schädigung kommt. Schließlich ist der „Maskenmann“ nicht durchschaubarer, intelligibler geworden, was eine wesentliche Voraussetzung für das emotionale Antipathisieren ist. Vielmehr ergibt sich diese intensive emotionale Reaktion, weil sie mit Blick auf die Schädigung Welles – und vor dem Hintergrund aller bisherigen, brutalen Schädigungen – vollzogen wird, demnach Teil eines Bangens um Welles ist. Noch interessanter ist in diesem Zusammenhang das „der Ermittler muss es überleben, also der Nicolas Cage in diesem Fall, wegen der Frau und dem Kind .. und weil’s sonst zu schlimm wär’“. Die Sympathisierung des Protagonisten zeigt sich als Teil eines Beziehungskontextes - die Funktion des Ermittlers, der soziale, der Beziehungskontext „Ehemann“ und „Vater“ scheinen per se positiv bewertet zu sein. Cage ist für Anna hier offensichtlich austauschbar, sie spricht von „Nicolas Cage in diesem Fall“. Dieser beinah dissonante Effekt ist während des gesamten Films zu beobachten. Cage/Welles steht auf der Sympathieskala selten weit oben bei allen vier Mädchen - einige seiner Handlungen, insbesondere in bezug zur Mutter des ermordeten Mädchens oder in bezug zu seiner Frau, werden negativ bewertet. Seine Sympathien bezieht er zum einen aus der Wertschätzung seiner professionellen, kom- 154 Film - Analysen / Rezeptionen petenten Aktionen als Privatdetektiv, zum anderen daraus, dass er als Star positiv besetzt ist. Das zeigt einmal, dass Sympathie und Antipathie nicht zwei Pole, zwischen denen es Nullstufen gibt25, sind, sondern vielmehr Gewichtungen auf einer Skala. Schluss Im Vergleich zu den recht unspezifi schen Kategorien „Identifi kation“ und „refl exive Distanzierung“ bei Neumann und Charlton26 oder „involvierte“ versus „distanzierte“ Rezeption bei Peter Vorderer27, erweist sich das Modell der Empathie in der Film- rezeption als differenzierter und anwendungsorientierter. Es lassen sich nicht nur einzelne empathische Bewegungen kasuistisch aufzeigen, sondern allgemeiner auch Empathisierungsstile28 in der Filmrezeption. Katharina blockiert meistens den empathischen Prozess, weigert sich in ironischer und zynischer Weise, Figuren und Handlungen näher zu modellieren. Maria und Hanna nehmen tiefer empathisch teil als Katharina, lassen aber eine empathische Detailliertheit nur begrenzt zu. Gelegentlich blockiert Maria den empathischen Pro- zess, insbesondere bei emotionalen Szenen. Für Hanna wiederum gibt es immer wie- der Stellen, die sie „undurchschaubar“ fi ndet und somit Handlungseinschätzungen und innere Attribuierungen für sie schwer zu modellieren sind. Anna wendet die größte rezeptive Arbeit auf, sie bemüht sich regelrecht, das Empathisieren zu intensivieren. Die Empathisierungsstile verweisen auf zwei weitere, grundlegende Kategorien: Empathiefähigkeit und Empathiebereitschaft29, die den empathischen Prozess maßgeblich beeinfl ussen. Aussagen über die Empathiebereitschaft lassen sich hier ver- gleichsweise leicht treffen: Die Bereitschaft war bei Anna am größten, bei Katharina am niedrigsten und lag bei Maria und Hanna in der Mitte. Über die Empathiefähigkeit, die jeder Rezipient als Begrenzung in die Rezeption mitbringt, lässt sich weniger sagen. Größen wie Genre, Stars, Plot, Vorerwartungen, Medienverhalten generell und nicht zuletzt das gruppenspezifi sche Selektionsverhalten können so auf die Empathiebe- reitschaft wirken, dass verstehende Zugänge zur Empathiefähigkeit erschwert werden. Zum Beispiel wurde Katharina bei 8mm von Anna, Maria und Hanna überstimmt, sie wollte den Film nicht sehen. Entsprechend distanziert und skeptisch war ihre Haltung dem Film gegenüber schon lange vor dessen Rezeption. Dagegen berichtete sie in anderen Interviews, dass sie von The Sixth Sense (USA 1999) begeistert gewesen war: bei diesem Film mit der Konsequenz, dass sie noch drei Wochen nach der Rezeption jeden Abend vor dem Schlafengehen unter ihr Bett sehen musste, ob nicht ein Toter darunter lag (!). Das spricht deutlich für eine ausgeprägte Empathiefähigkeit. Weiterhin korreliert die Tiefe des empathischen Nachvollzugs signifi kant mit der Bewertung des Filmes einerseits und der Häufi gkeit relevant gesetzter Elemente andererseits.30 Anna gefi el der Film am besten, Katharina am schlechtesten. Verbunden damit geht mit einem tieferen empathischen Nachvollzug einher, dass auch Szenen, einzelne Handlungen und Figuren tendenziell bedeutungsvoller sind. Diese Aussage lässt sich aber nur für die aktualgenetischen Prozesse, nicht für die resultativen machen – erstere treten während der eigentlichen, der aktuellen Rezeption auf, letztere resultieren aus der Primärrezeption. Denn resultativ, nach der eigentlichen Rezeption des Filmes, können Figuren, Handlungen und Szenen besonders im Rahmen Film - Analysen / Rezeptionen 155 gruppenkommunikativer Prozesse deutlich tiefer nachmodelliert werden, als dies aktualgenetisch der Fall ist. Das ist jedoch ein weiterer, noch zu bearbeitender Teil der Untersuchung. In diesem Rahmen kann erst geklärt werden, ob es wirklich zu einer „Lösung“ im Prozess der (eigentlichen) Rezeption kommt, oder ob es in der Aktualgenese nicht eher um eine eng an die Rezeptionsvorgabe Film angelehnte erlebnishafte Ausgestaltung geht, die erst nachfolgend und innerhalb vorgestellter als-ob-Szenarien in Beziehung zu eigenen relevanten Themen gesetzt wird. Insgesamt eignet sich das differenzierte Konzept der Empathie als Dimension des Filmverstehens von Wulff hervorragend dazu, die Rezeptionshaltung allge- mein und konkrete Bewegungen insbesondere darzustellen. Der Verzicht auf das ohnehin strittige Modell der Identifi kation macht Platz für die oben veranschau- lichte Vielschichtigkeit empathischer Prozesse. Es ist allerdings nicht nur ein Konzept des Filmverstehens, sondern auch des Filmerlebens und die Grundlage für ein – resultatives – Film-Aneignen. 1 S. exemplarisch Charlton, Michael und Klaus Neumann: Medienkonsum und Lebensbewältigung in der Familie. Methoden und Ergebnisse der strukturanalytischen Rezeptionsforschung - mit 5 Falldarstellungen. München, Weinheim: Psychologie-Verlags-Union 1986. 2 Neumann, Klaus und Michael Charlton: „Strukturanalytische Rezeptionsforschung. Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele“. In: Baacke, Dieter und Kübler, Hans-Dieter (Hg.): Qualitative Medienforschung: Konzepte und Erprobungen. Tübingen: Niemeyer 1989, S. 180. 3 Die Ausführungen zur „Empathie“ stützen sich im Wesentlichen auf das Manuskript von Hans Jürgen Wulff: Empathie als Dimension des Filmverstehens. Kiel: Manuskript 2001. 4 Vgl. „Empathy“ in der Encyclopedia Britannica, Internet-Version, 2000. 5 Feshbach, Norma: „Fernsehen und Empathie bei Kindern“. In: Groebel, Jo und Peter Winterhoff-Spurk (Hg.): Empirische Medienpsychologie. München: Psychologie-Verlags-Union 1989. 6 Die Vorstellung einer Übernahme der Gefühle empathisierter Figuren wäre verführerisch, als Leitvor- stellung zu einer Wirkungstheorie des Kinos bzw. der Filme zu dienen! (S. Wulff: Empathie als Dimension des Filmverstehens, S. 2) 7 Scheler, Max: Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Hass. Mit einem Anhang über den Grund zur Annahme der Existenz des fremden Ich. Halle a.d.S.: Niemeyer 1913. 8 Wulff: Empathie als Dimension des Filmverstehens, S. 3. S. auch die Ausführungen von Gaut, Berys: „Identifi cation and Emotion in Narrative Film“. In: Plantinga, Carl und Smith, Greg M. (Hg.): Passionate Views: Film, Cognition, and Emotion. Baltimore, London: The John Hopkins University Press 1999, S. 202 ff., in denen es allerdings nicht um Empathie, sondern um mögliche Formen der Identifi kation in der Filmrezeption geht. 9 Smith, Murray: Engaging Characters. Fiction, Emotion, and the Cinema. Oxford: Clarendon Press 1995. 10 Wulff: Empathie als Dimension des Filmverstehens, S. 18. 11 Wulff: Empathie als Dimension des Filmverstehens, S. 17. 12 Ebd., S. 8; Hervorh. i. O. 13 S. Zillmann, Dolf: „Empathy: Affect from bearing witness to the emotions of others“. In: ders. und Jennings Bryant: Responding to the Screen: Reception and reaction processes. Hillsdale: Erlbaum 1991, S. 141. 14 S. a. Carroll, Noël: The Philosophy of Horror or Paradoxes of the Heart. New York: Routledge 1990, S. 95. 15 Die Wahrnehmungsprotokolle wurden zu einem Zeitpunkt eingeführt, zu dem ich von den Gruppen so weit akzeptiert war, dass der Faktor „soziale Erwünschtheit der Antworten“ keinen signifi kanten Einfl uss mehr hatte – dies zeigte sich im Vergleich mit den vorangegangenen Interviews. 16 Unter „empathischer Episode“ versteht Wulff jede in sich schlüssige und konsistente empathische Bewegung (Empathie als Dimension des Filmverstehens, S. 4). 17 Die Regeln der Transkription erfolgen nach Mayring, Philipp: Einführung in die qualitative Sozialforsc- hung: eine Anleitung zu qualitativem Denken. Weinheim: Psychologie-Verlags-Union 1996, S. 71. 18 Eine Bemerkung ist notwendig: Dieser Schluss vollzieht sich auf der Grundlage der expliziten 156 Film - Analysen / Rezeptionen Äußerungen! Genauso wäre denkbar, dass die ironisch-distanzierten Bemerkungen nicht primär-expliziter Teil einer nicht vorhandenen emotionalen Teilnahme sind, sondern eine sekundäre Reaktion auf innere, unerwünschte emotionale Prozesse darstellen. Eine - ohnehin problematische - Klärung dessen bedürfte weiterer Untersuchungen. 19 Zur Subjektivisierung siehe auch Wulff: Empathie als Dimension des Filmverstehens, S. 23. 20 Den (hier: weiblichen) Zuschauern ist es ein Leichtes, das Unverständnis Welles’ nachzubilden, denn es korrespondiert mit der mangelnden Intelligibilität der antagonistischen Figuren, deren Motive und Planstrukturen, die sich bei den vier Mädchen durch die gesamte Rezeption hindurch zieht. 21 Vgl. Wierth-Heining, Mathias: Filmgewalt und Lebensphase Jugend: ein Beitrag zur Faszination Jugen- dlicher an medialer Gewalt. München: KoPäd-Verlag 2000, S. 66ff. 22 Der Körper stellt besonders in Actionfi lmen und Thrillern (und deren Rezeption) einen zentralen Ort der Auseinandersetzungen und Konfl ikte dar, mit dem körperübergreifende Aspekte, bei 8mm insbesondere sexuelle, verbunden sind. (S. hierzu Tasker, Yvonne: Spectacular Bodies: Gender, genre and the action cinema. London, New York: Routledge 1993, S. 15ff., und Wierth-Heining, Mathias: Filmgewalt und Lebensphase Jugend, S. 71ff.) 23 S. Wulff: Empathie als Dimension des Filmverstehens, S. 24. 24 Ein intensives feeling-against ist erst in späteren Szenen erkenntlich, als Welles in seinem Rachefeldzug Eddie zur Rede stellt und schlägt. Hier sagt Anna explizit, dass Eddie nicht nur zusammengeschlagen werden, sondern insbesondere lange leiden solle! 25 Wulff: Empathie als Dimension des Filmverstehens, S. 9f. 26 Neumann und Charlton: „Strukturanalytische Rezeptionsforschung“, S. 180. 27 Vorderer, Peter: Fernsehen als Handlung: Fernsehfi lmrezeption aus motivationspsychologischer Per- spektive. Berlin: Ed. Sigma, S. 83ff. 28 Ebd., S. 8. 29 Ebd. 30 Es kann dabei nicht genug betont werden, dass es sich bei den relevant gesetzten Themen um explizite Thematisierungen handelt! Geld 157 Ulrike Bergermann Co-Branding: Genre- und Globalisierungsfragen an Nikes Clip „Freestyle“ Popmusik ist ein Markt, Pop ist eine Ware, sie verbindet sich mit anderen Pro- dukten, und andere Produkte werden Pop. Am Beispiel eines Nike-Spots läßt sich verfolgen, wie Kategorisierungen in Hochkultur, Popkultur und Kommerz ineinander verfl ochten sind. Holert und Terkessidis haben in ihrer „Einführung in den Mainstream der Minderheiten“ nachgezeichnet, wie sich Rock und Pop als Widerstandskultur der Jugend herausgebildet hat und wie sich die Musikindustrie diesen rebellischen Gestus einverleibte, wie gut die Love Parade in die etablierte Gesellschaftsordnung paßt, wie sich auch der amerikanische Underground etwa mit Nirvana 1992 als Mainstream wiederfand und die Industrie von den einge- kauften Bands geradezu Abweichung verlangte: „Hocherfreut präsentierte sich der Mainstream nun selbst als Minderheit“1, er kopierte selbst die Segmentierung der Szenen und Independent-Label. „Mittlerweile bemüht sich der Mainstream so vehement um das symbolische Kapital von ‚Minderheiten’, daß man sich fast nach den Zeiten zurücksehnt, als ein Major noch ein richtiger Major war.“2 Die falsche Kulturindustrie richtig zu gebrauchen, den Gegensatz von Subkultur und Kapital auch in postindustriellen Gesellschaften, daran arbeiten die Autoren und kämpfen mit den alten Dualismen: „Pop war nie unschuldig, sondern immer schon in die kapitalistische Reproduktion verstrickt. [...] Gerade deshalb kommt es dar- auf an, die kulturelle Leistung von Pop gegen seine ökonomischen Funktionen stark zu machen.“3 In jedem Satz ein Gegensatzpaar, entweder unschuldig oder kapitalistisch, Kultur oder Ökonomie, an anderer Stelle auch: affi rmativ oder oppositionell, und wo das nicht mehr so leicht zu unterscheiden ist, helfe die Frage danach, wer daran verdiene4 - wo doch gelegentlich schon angedeutet wurde, daß die alten Denkmuster hier nicht mehr greifen.5 Christian Höllers Konfrontation von Klassenmodellen und Dekonstruktion plädiert dagegen gegen starre Oppo- sitionsschemata mit Deleuze/Guattaris Plateau-Analyse beweglicher Segmentie- rungen.6 Wo aber bewegt sich Pop? Akademische Analyseversuche üben sich am Turnschuh. Denn Marketingstrategien der 1980er Jahre brachten das Konzept der brands hervor, der Marken, die nicht (mehr) für bestimmte Eigenschaften einer Ware stehen, sondern für einen Lebensstil, und das Branding, das diesen Stil in ver- schiedenen Elementen einer Szene zu verankern sucht. Neben Anzeigen und Spots treten Product placement und Sponsoring, und die bekannte Strategie, Prominente für eine Sache werben zu lassen, wird zielgruppengerecht ausgebaut. Letztendlich geht es weder darum, den Star zu zeigen noch das Produkt, sondern darum, „die Marke selbst zum Star zu machen“, schreibt Naomi Klein. „Es geht nicht mehr darum, Kultur zu sponsern, sondern Kultur zu sein. Und warum auch nicht? Wenn Marken keine Produkte, sondern Ideen, Attitüden, Werte und Erfahrungen sind, warum sollten sie nicht auch Kultur sein?“7 Parallel dazu entwickeln die benutzten kulturellen Ikonen allerdings auch selbst marketingreife Strategien für die Vermarktung ihrer Produkte und nutzen wiederum die Werbekampagnen 158 Geld dazu, damit bei ihnen fernen Zielgruppen bekannt zu werden (etwa wenn der Sound einer Jeans-Kampagne zum Hit wird, Sportstars eigene Konzerne aufbauen usw.). Wer dann auf wessen Image „trittbrettfährt“, wird zunehmend unentscheid- bar - aus dem Branding wird Co-Branding. Und das gilt ganz besonders für MTV, den Sender, der ausschließlich aus Werbung besteht - denn Videoclips werden zwecks Plattenverkauf bezahlt von Musikproduktionsfi rmen - und dabei der erste Sender ist, der selbst zum Marken- zeichen wurde, für eine bestimmte Ästhetik und Zielgruppe steht. Co-Branding und Cross-Promotion sind die wirtschaftlichen Aspekte dieser Politik; auch die ästhetischen liegen auf der Hand, wenn Werbespots und Clips sich nicht nur immer mehr ähneln, sondern sich auch konzeptuell angleichen: So zeigte etwa nach dem beliebten Format Making of..., mit dem MTV 2001/02 die Produktion einzelner Clips illustrierte, Lewis nach der Ausstrahlung eines spektakulären Spots als nächsten im Mai 2002 dessen Making of. Welche Konsequenzen hat das beim Klassifi zieren medialer Genres? Nach welchen Kriterien ordnen sich solche hybriden Gebilde, die z.B. kulturhistorisch refl ektierte Bezüge, semiotische Systeme wie Mode, Design u.a., sozialpoliti- sche Statements, technisch avancierte Präsentationen, kurz: anerkannte kulturell/ künstlerisch/medienwissenschaftliche Qualitätskritierien verbinden mit, nebenbei, einem Kaufangebot? Gibt es ein Co-Branding von Genres? Dieser Frage möchte ich am Beispiel einer Nike-Kampagne nachgehen, die 2001 mit dem ‚Godfather of HipHop’, Afrika Bambaataa, realisiert wurde und Sportartikel in einer Weise mit Filmgeschichte, Popkultur vom Ghetto bis MTV und artistischem Körperkult verbindet, die die Silbe Co- im Co-Branding nicht nur als parasitäres Trittbrettfahren, als gegenseitiges Ausbeuten, sondern als komple- xere Angelegenheit ausweist. Das „Brand-Manual“ referiert die Zeichenlehre, nach der Adidas für Sicherheit, Puma für Rebellion und Nike für Freiheit steht, und Freestyle8, so der Titel des Spots/Clips/Films, komprimiert Bezüge zum Ton- und-Bild-Verhältnis aus Experimental- und Musicalfi lm, die als Vorläufer von Musikclips gelten, mit der realness des Ghettos und Nike’s Konzernpolitik. Gibt es vergleichbar dem medienhistorischen Verhältnis von Ton und Bild eines von Kunst und Kommerz? Ist der Begriff des Co-Branding geeignet, solche formalen Überlegungen für ökonomische wie auch für kulturelle Muster zu beschreiben? Commercial Freestyle Ein Werbespot sollte aus seinem slot heraus und unter die Clips gemischt werden. In Freestyle werfen sich Basketballspieler derartig kunstvoll die Bälle zu, daß sie über dem Rhythmus ihrer Turnschuhe mit diesen Sounds Musik machen, aber schnell sieht man: nicht sie machen die Musik, sondern die ebenso kunstvolle Montage der Bilder. Anfang 2001 ließ Nike einen 60-Sekunden-Spot als Teil seines Sponsorings des „National Basketball Association All-Star Game“ pro- duzieren - und zwei Monate später wurde eine erweiterte Version (mit Frauen und mehr Amateuren, 2,5 Minuten lang) als „music video version“ auf MTV präsentiert.9 Die Frage nach der Reihenfolge in der technischen Herstellung - Geld 159 dirigiert der Ton die Bilder oder umgekehrt? - berührt auch die Frage nach den Hierarchien der beteiligten Szenen: Gibt Hiphop den Ton an, sind die Basketballer die Taktgeber oder die Bilder mit den Nike-Artikeln? Die Rekonstruktion gibt Rätsel auf. Nikes Werbeagentur Wieden & Kennedy beauftragte zunächst den Werbefi lm- und Clipregisseur Paul Hunter, Studioaufnahmen mit fünf NBA-Stars und ver- schiedenen Amateurspielern zu machen, die von Savion Glover choreographiert wurden, sowie Afrika Bambaataa und Steve Brown, einen Soundtrack zu kompo- nieren und aufzunehmen (mit „normalen“ Musikinstrumenten), dann den Musik- produzenten Jeff Elmassian, den Sound von beiden zusammenzubringen, um diesen schließlich von Hunter mit den Bildern zusammen produzieren zu lassen (editing).10 Die Kampagne wurde preisgekrönt, ein Making-Of -Special (30 min.) erstellt11, und Nikes Download-page verzeichnete Rekord-hits. Die Auswahl der Beteiligten spricht nicht für Experimentierfreude - alle sind vielfach ausgezeich- nete Experten, neben Elmassian12 und Glover13 auch der Clip- und Werbefi lmer Hunter, der Rock und Pop in die Anzeigen brachte bzw. die Musik rückwirkend zu Hits machte.14 Jeder Basketballer wurde auf einer Studiobühne (in New York, Toronto oder Los Angeles) beim Dribbeln, Werfen usw. aufgenommen. Elmassian benutzte die Geräusche der Turnschuhe, Bälle und Rufe und ersetzte mit diesen Sounds die Instrumente des Tracks von Bambaata und Brown (so sagt Nikes Werbesite für die eigene Werbung)15, oder erweiterte die Musik damit, wie die New York Times schrieb („augmented by sound effects produced by the players mixed in by Jeff Elmassian“).16 Oder er kaufte nur die Rechte an einem alten Stück, „using hip hop artist Afrika Bambaataa’s old hit ‚Planet Rock’ as inspiration“.17 Ersetzen, Ausleihen oder Ergänzen - diese Modelle berühren die Frage nach der Autorschaft am Sound und damit den Status der HipHop-Ikone Bambaataa im Verhältnis zum quasi-mythischen, „selbstentstehenden“, den Sport ästhetisch überhöhenden Rhythmus. Für alle hat Nike Verwendung, für das Adeln durch die Straße und das Faszi- nierende des Sports.18 Weniger imageträchtig wäre öffentliche Aufmerksamkeit für den Kommerzstar Hunter oder die Agentur Wieden & Kennedy, die seit lan- gem versuchen, Elemente aus Subkulturen als Werbekonzepte zu benutzen, was ihnen schon einigen Spott eingetragen hat.19 Denn hier soll es um die einfache Schönheit eines Sports gehen, der jeden zum Star machen kann, auch wenn er aus dem Ghetto kommt: HipHop-typische Elemente sind Breakdance (Moon- 160 Geld walk, Armbewegungen, Auf-dem-Kopf-Drehen, die Demonstration/battle vor der Gruppe und deren Anfeuerungen), die Kleidung, der Titel Freestyle (u.a. eine Bezeichnung für eine Art zu rappen), die Dominanz schwarzer Spieler und männlicher Spieler20, und nicht zuletzt das visuelle Stereotyp des In-die-Kamera- Sprechens. Der Raum hat keine sichtbare Begrenzung, aber der Ton gibt wie durch Brechung ein überschaubares Raumgefühl. Die Spieler sind ihren Teams und den Institutionen des Sports, sogar dem Publikum entrückt, Verkörperungen „allgemeine[r] Ideen von Ausdauer und Transzendenz des reinen Sports“.21 An Ballettformationen erinnern zwei-, vier- oder fünf-fi gurige Szenen, in denen sym- metrisch aufgestellte Spieler identische/spiegelverkehrte Bewegungen ausführen, auch einzelne Personen, die zwei Bälle symmetrisch bewegen, sowie der top shot, der in Musicalfi lmen der 1930er Jahre zum Einsatz kam. Der Zusammenhang von Bild (genauer: dem Bild der Tonerzeugung durch Ball und Schuh) und Ton wird erstaunlich wenig direkt ins Bild gesetzt, nach wenigen Sekunden ist die Verbindung eingeführt, dann geht es nur noch um akustische Zusatzeffekte (Fan- gen, Dribbeln, Rufe, Pfi ff, Pause, meist synkopisch) auf dem konstanten Beat. Insgesamt ist vor allem die eigene große Bereitschaft zu spüren, stets eine Ton- Bild-Kongruenz herzustellen. Geld und Underground Entsprechend der Konzernstrategie verkündete Hal Curtis von Wieden & Kennedy: „We wanted to communicate that basketball is a game about freedom and self-expression and individuality.“ Es gehe nicht zentral darum, die Turn- schuhe ins Bild zu setzen22, und auch nicht ums Gewinnen und Körbewerfen. Schwarze Basketballspieler, der Inbegriff der Aufsteiger vom Ghetto zum Super- star, sollen diese Befreiung verkörpern, die typisch ist für eine („Schwarze“) Kulturproduktion, die in Musik- und Unterhaltungsindustrie allgemein an das Kapital des Körpers gebunden bleibt, wenn Einkommen und Bildung in krassem Gegensatz zum sozialen Durchschnitt stehen (und gleichzeitig diese dem ‚Sinnli- chen’ zugeschlagenen Körper sexualisiert).23 Zu nennen wäre hier beispielhaft der „Godfather of Noyse“ Rahzel, den Star des Beat Boxing, bei dem „people us[e] their mouths and bodies to create musical rhythm“.24 Die Aufgabe des Musikma- chens mit dem Körper haben jetzt die Sportler übernommen, die nicht live wie an den Turntables scratchen und mixen - eher: im editing gescratcht und gemixt werden25, die ihr Aufstiegskapital Körper nicht in die eigenen Produktionshände nehmen, sondern das anderen überlassen. Die Kultur, die sich mit der Kritik an diesen Verhältnissen am deutlichsten identifi zieren läßt, ist HipHop; gleichzeitig gilt der Entstehungszusammenhang von HipHop, gelten schwarze Jugendliche möglichst aus der Bronx bei Nike als Trendsetter, die umworben werden müssen (obwohl gerade sie sich keine 150$-Schuhe leisten können26). Zudem ist das höchste Gut die street credibility, die Glaubwürdigkeit, die sich im Word Up des Rap dadurch Geltung verschaffte, daß der Rapper seine eigenen Texte über sein eigenes Leben schrieb („CNN des Ghettos“)27 und sich etwa in der Zulu Nation von Afrika Bambaataa einem Wertekanon anschloß, in dem der „Ausverkauf“ an die (Musik)Industrie zunächst Geld 161 nicht vorgesehen war. Bambaataa hat 1974 den Begriff HipHop defi niert (wie im heutigen Sinne als Kultur aus Mode, Breakdancing, Graffi ti, Ideologien, Auftreten, Geisteshaltungen) und gilt als umfassende Vaterfi gur der Szene: „Abgesehen von seinen musikalischen und technischen Ideen war es Bambaataa vor allem zu verdanken, daß Hip-Hop ein politisches und soziales Bewußtsein bekam“28; er unternahm den entscheidenden Schritt des DJs weg von den Turntables und hin zum Sampling. Auch heute gilt er wie Steve Brown immer noch als credible29, obwohl beide auch für Reebok gearbeitet haben. Vor zwanzig Jahren war es noch ein Skandal, daß der erste kommerzielle Erfolg eines HipHop-Stücks auf einer gecasteten Band und damit einer „Fälschung“ beruhte30; nach vielen Jah- ren wechselseitiger Inanspruchnahme von Ghetto und Majors scheint sich jetzt das eine nicht mehr ganz automatisch durch das andere ausschließen zu lassen. Vielleicht spricht das für die Übertragung der Einstellung zur Musikgeschichte auf deren kommerzielle Organisation: Wo HipHop ein sehr „positives Verhältnis zum Parasitentum“31 pfl egte und zitierte, sampelte und ehrte, was die Plattenkiste hergibt, wäre ja auch ein Parasitieren am Organismus großer Labels denkbar, sofern in Kauf genommen wird, daß man sich selbst mit der Aufnahme von deren Input (Geld und Ruhm) verändert. Parasitäres Schmarotzen oder auch Auffressen und Verdauen älterer Künste und Medien32 galt nun als charakteristisch für das ganzes Genre Musikvideo- clip. Ton und Bild Peter Weibel hat stellvertretend für die typische Reaktion der Kritik auf Clips in den 1980er Jahren das Verhältnis von Ton und Bild und dessen historische Kontinuität bis zurück in den Experimental- und Musikfi lm seit den 1920er Jah- ren zum Kriterium der Genrebestimmung von Musikvideos gemacht. „Wenn Musikvideos ‚the look of the sound’, das Gesicht des Klangs, das Kostüm des Tons sind [...], dann können wir von ihnen als visuelle Logos (Warenzeichen) für akustische Logos sprechen“, schrieb er 1987.33 Das Warenhafte geriet zunächst in den Hintergrund, und die „visuellen für die akustischen Logos“ wurden auf ihr Verhältnis von Ton und Bild hin betrachtet. Das erlaubte eine Aufwertung des pop- kulturellen Mainstream-Materials in die Gefi lde der Kulturgeschichte durch die alte Thematik der Synästhesie oder des Gesamtkunstwerks: „Die visuelle Musik hat einen synästhetischen Ursprung, ebenso ihre gegenwärtige populäre Form, das Musikvideo. Farbenhören und Musiksehen sind [... ein altes] künstlerisches Programm“34, das seine Fortsetzung im Experimentalfi lm gefunden habe.35 Maler wie Viking Eggeling, Hans Richter oder Walter Ruttmann propagierten mit Fil- men, die geometrische Figuren in Analogie zu Musik bewegten, ein universelle[s] Alphabet von Zeichen und Formen, die nach den Regeln einer Universalgrammatik zu allgemein-verständlichen Aussagen verknüpft wer- den könnten: Abstraktion als die Grundlage einer supranationalen Zeichen- Sprache, mit der zugleich die Wiederherstellung der sozialen Funktion von Kunst, ihrer spontanen Verständlichkeit, geleistet wäre [...].36 162 Geld Abstraktionen haben auch in einem anderen Filmgenre Furore gemacht, das sich ebenfalls mit der Bebilderung von Musik beschäftigte, mit dem Tanz im Musical. Die Choreographien von Busby Berkeley haben wie seine Bauten, Kamerafahrten und Special Effects besonders die tanzenden Körper in Mustern und Ornamenten37 in Szene gesetzt; legendär ist der „tunnel of love“ aus Dames (1934), gebildet durch die Beine hintereinander aufgestellter Tänzerinnen, durch die die Kamera fährt, Berkeleys top shots, die geometrisch angeordnete Frauen in identischen Bewegungen als Rosetten usw. zeigen, oder das Umklappen von zwei- in drei- dimensionale Räume durch Übergänge von Abbildungen in Realaufnahmen.38 Während in den USA nach der wirtschaftlichen Depression 1939 diskutiert wurde, ob die opulent ausgestatteten, verschwenderisch wirkenden Musicalfi lme dem verarmenden Publikum noch zumutbar seien, vollendete Berkeley seine im militärischen Exzerzieren eingeübte uniforme Massenbewegung im Überfl uß von Formen.39 In einer berühmten Szene aus Dames zieht eine schwarze Kugel die Tänzerin nach „oben“, wo sie in die Kamera strahlt40 - eine unübliche Einstellung: Ein Schauspieler ignoriert die Kamera und spricht bestimmt nicht hinein. Nicht umsonst ist das In-die-Linse-Sprechen heute ein Hiphop-typisches Element, das Authentizität durch bewußten Umgang mit dem Gefi lmtwerden codiert. Im Nike- Spot dient der Basketball, als visuelles Element betrachtet, ebenfalls dem Wechsel von Bildebenen, ruft allerdings nie räumliche Irritationen und Grenzverwischun- gen hervor, sondern bleibt stets horizontal, so wie auch die Akteure stets frontal gefi lmt zu sehen sind (mit der einzigen Ausnahme eines top shots auf den am Boden drehenden B-Boy). Wo man von der historischen Vorlage sagen kann, in ihr gewinne die Form selbst „Autonomie in der fortschreitenden Abstraktion von den Leibern der Girls“41, ist das bei Nike ganz sicher nicht der Fall, auch wenn die Idee von Sportlichkeit, Kraft und Eleganz und weniger einzelne Stars ins Bild gesetzt werden soll. Die Formensprache des Abstrakten Films war noch lesbar als politisch-ästhetisches Programm einer universellen Formensprache.42 Ist das das Verhältnis von Auge und Ohr heute? Auch Jody Berland hat versucht, den Clip als Genre auf die Geschichte des Tonfi lms zurückzuführen: Wo der Tonfi lm die „verlorene“ Einheit von Ton und Bild wiederherzustellen verspreche, dominiere doch die visuelle Ebene - genretypisch bliebe nur das Paradox, zwischen Musik und Bild hin- und herzuchangieren.43 Eine solche Lücke zwischen Bild und Musik hat Simon Reynolds vor allem für aktuelle Clipproduktionen im Dancefl oor- und Elektronikbereich konstatiert, denn in der aktuellen Clubkultur gehe es gerade um eine Umwertung der Sinne, um eine Aufwertung des Taktilen gegenüber dem Visuellen.44 Nike dagegen folgt dem alten Programm der Verschmelzung. Sound and music design seien „perfect mates“, wird Elmassian zitiert45, entsprechend der Idee der Entsprechung optischer und akustischer Eindrücke. Denn Nike nimmt die Schönheit des Sports wörtlich, so Dan Jones, „Business director for basketball operations“: „Basketball has a wonderful fl uidity and style. The inspiration for ‚Freestyle’ is that true basketball lovers, whether players or fans, are attuned to the rhythm, the music of the sport. And in our case, quite literally.“46 Wahre Gefühle erkennen die natürliche Flüssigkeit der Rhythmik, die im Clip „wörtlich Geld 163 genommen“ werde, nicht etwa artifi ziell überhöht oder gar hergestellt, sondern bei aller technischen Artistik treu der Seele des Sports sei. Diese Ideologie der größeren Einheit muß eine Größe voraussetzen, die ebenso natürlich wie spiritu- ell besetzbar, also am besten abstrakt ist - hier ist es ‚der Rhythmus’, der reale Bewegungen im Kulturgut Musik formt und der Ton und Bild zusammenbringt, wie schon in den fi lmhistorischen Vorläufern. Hans Emons hat gegenüber diesem totalisierenden Abstraktionsverständnis den Bezug auf die spezifi sche Materialität jeder Kunst gefordert.47 Und Joachim Paech hat in seiner Bezugnahme von Fil- mavantgarde und Videoclip einen anderen Begriff von Rhythmus entworfen, einen medien- und materialspezifi schen, der die technische Visualisierung mit dem Hörbaren verschaltet: Medien sind „getaktet“, sie haben ihren „Rhythmus“, um Bilder zu erzeugen (z.B. 24 pro Sekunde oder mehr im Kathodenstrahl), und diese „Taktung“ ist es dann, die dem musikalischen Metrum korrespondiert.48 Unsichtbare weil rein konzeptuelle ‚Rhythmen’ lassen sich allerdings nicht mehr werbewirksam besetzen und sind nicht halb so ideologisierbar wie Verschmel- zungsphantasien und Natürlichkeit. Eine andere „Verschmelzung“ ist ebenfalls Thema der Clipkritik gewesen, nämlich die „Gleichsetzung von Programm und Werbung“ des Senders MTV: beide seien „identisch“ und brächten so klassische Schemata zum „Umschlag“.49 Inwiefern kann hier von „Identität“ gesprochen werden, und lassen sich ähnliche Modelle wie die genannten für Ton und Bild auch für Geld und Kultur verfolgen? Kunst und Geld E.Ann Kaplan verurteilte 1987 die endlos aufgeschobene Befriedigung, die Dezen- trierung des durch pausenlose Werbung angereizten Konsumenten, den kein Kauf von dieser unendlichen Folge von Versprechen befreien könne.50 Während die Clipkritik der 1980er Jahre die kommerzielle Grundlage von Clips entweder verdammte oder, meistens, ignorierte, bezog die der 90er Jahre die kommerzielle Ökonomie zunehmend in die Betrachtung der kulturellen mit ein (teilweise ver- bunden mit dem Hinweis darauf, daß die Avantgardefi lmer ja auch berühmt für ihre Werbefi lme waren). 1999 sprach Gerd Hallenberger vom „Kräftedreieck“ Musik, Film/Fernsehen und Werbung.51 Die Verbreitung von Videorecordern und Satellitenfernsehen, die Einführung der CD und die politischen Deregulie- rungen der westeuropäischen Fernsehsysteme begünstigten die Annäherung der drei Ecken, etwa in der Überschneidung der Zielgruppen oder in gegenseitigen inhaltlichen Bezugnahmen (Anspielungen auf Filme in der Werbung, Bedeutung des Soundtracks im Kino, uvm.), und lassen sie im Musikclip tendenziell zusam- menfallen. Zu Ton und Bild tritt ein drittes Zeichensystem: Geld. In diesem chaotischen Kontext nimmt das Musikvideo eine ganz beson- derer Position ein: Hier wird Musik zu Film, Film zu Werbung, Werbung zu Musik - und umgekehrt. Eigentlich Unvereinbares wird vermählt - das akustische Ereignis wird zu einem visuellen, Werbung wird Programm - Umkehrungen ebenfalls eingeschlossen. Jedes Musikvideo präsentiert einen Musiktitel, offeriert eine visuelle Interpretation dieses Titels und ist 164 Geld gleichzeitig Werbung für beides - ohne aber den Aversionen ausgesetzt zu sein, mit denen Werbung üblicherweise zu kämpfen hat.52 Ein Grund mehr für Nike, diesen Kontext aufzusuchen. Im April 2001 wurde die 2,30 Min.-Version mehrfach auf MTV ausgestrahlt - und es gab Streit um die Plazierung des Spots als Werbung oder Musikbeitrag. Die Langversion endet nicht wie die kurzen mit einem Nike-Logo, sondern mit den Credits, dem Titel Freestyle, gefolgt von den Namen „Afrika Bambaataa & Hydraulic Funk“, wie in Clips üblich (und hier besonders irreführend, wenn man die Entstehungs- geschichte betrachtet). MTV weigerte sich, diesen Abspann auszustrahlen, um klar zu machen, daß es sich nicht um Musikprogramm, sondern um Werbung handelte.53 Der Sender blendet generell Logos und Markennamen aus seinen For- maten aus, um die eine Werbung streng getrennt von der anderen zu halten. Nike kommentierte, es sei MTVs Vorrecht, Freestyle als Werbung zu betrachten, aber man selber sehe stärker „den kreativen Aspekt“.54 Die New York Times wiederum kommentierte dieses Selbstverständnis als Versuch, die Ablehnung von Werbung durch das Verwischen der Grenzen zwischen gesponsertem und nichtgesponsertem Programm zu umgehen, und schlug vor, nicht mehr nur von Transformation der Werbung zu sprechen, sondern von „Mutation“.55 Metaphern aus dem Bereich der Biologie sind immer dann besonders beliebt, wenn es darum geht, die Natürlichkeit einer Ordnung, auch der Ordnung der Medien, in einer Argumentation mitzuschreiben.56 Mark Terkessidis hat den Begriff der „Hybridität“ als beliebtes Label der globalisierten Kultur um 2000 mit ihren Elementen des Crossovers, der Melange, des Samplings oder der Kreolisie- rung sehr kritisch beurteilt: Der Fremde werde in der europäischen Rezeption der postcolonial studies (etwa Bhabhas) zum postmodernen Kulturtyp, zum „neuen Ureinwohner des Weltdorfes“, die DJculture zum postkolonialistischen Recy- cling von allem.57 In dieser harmonistischen Verwendung des Hybriditätsbegriffs wird dieser zum Identitätskonstrukt der Mehrheit: alle wollen hybride sein. Damit sind ungleiche Machtverteilungen allerdings aus dem Blick gerückt. Und „selbstverständlich eignet sich ein Illegaler, der in einem Sweatshop arbeitet, eher nicht zur Identifi kation.“58 Unhybride Ein Sweatshop ist eine Produktionsstätte in einem Dritte-Welt- oder Schwellen- land, in dem die Arbeitslöhne niedrig und die Beschäftigungsbedingungen extrem schlecht sind. Das National Labor Committee veröffentlichte im März 1998 eine Studie über die Arbeitsbedingungen in verschiedenen Fertigungsstätten westlicher Konzerne u.a. in China. Nike-Turnschuhe etwa wurden bei der Wellco-Factory hergestellt, und zwar in 11- und 12-Stundenschichten, bei 77-84 Arbeitsstunden pro Woche (bei einer 7-Tage-Woche) und 0,16$ Stundenlohn.59 Die Arbeitsbedin- gungen werden wie folgt beschrieben: Entlassung bei Verweigerung von Überstunden, keine Überstundenzulage; große Mehrheit ohne gesetzlichen Arbeitsvertrag; Arbeitskräfte werden gedemütigt, angeschrieen, manchmal körperlich bestraft; willkürliche Geld 165 Bußgelder für Schwangere und ältere Frauen (ab 25 Jahren); Bußgeld für Reden bei der Arbeit; etwa 10 Kinder in der Nähabteilung beschäftigt.60 Ähnliches galt für Produktionsstätten in Indonesien, Pakistan, El Salvador, den Phillipinen usw. Im Juni 1996 rief die Zeitschrift Life eine neue Welle der Empörung her- vor, als sie Fotos von pakistanischen Kinderarbeitern abdruckte, die über Fußbällen mit dem unverkennbaren Swoosh von Nike kauerten. Die Kinder sahen schrecklich jung aus und verdienten gerade mal sechs Cent pro Stunde. [...] viele wurden als vertragsmäßige Sklaven an ihre Arbeitgeber verkauft und wie Vieh gebrandmarkt.61 Das Jahr 1995/96 wurde in den USA zum ‚Jahr des Sweatshops’ erklärt, und die zahlreichen medienwirksam inszenierten Kampagnen von Konzernkritikern, schwarzen Bürgerrechtlern, Gewerkschaftlern und Globalisierungsgegnern halten bis heute an.62 Nike reagiert darauf extrem empfi ndlich - denn wenn das Image die Ware ausmacht, ist Imagepolitik die Achillesferse eines Konzerns -, zunächst nur mit Verlagerungen. Wenn Enthüllungen über eine Produktionsstätte kamen, zog Nike in ein anderes Land, bis der nächste Skandal folgte.63 1998, als durch geringere Einschätzung des Börsenwerts starke Gewinneinbußen zu verzeichnen waren, kündigte Nike einen „Verhaltenskodex“ an, der die Subunternehmer an rechtliche und humanitäre Standards binden soll.64 Zwischen Februar 2000 und Juni 2002 hat sich der Wert der Nike-Aktien nach dem Ausbau des Modebereichs verdoppelt;65 der Anschluß an die realness wird weiterhin gesucht: Im Juli 2002 wohnte ein Mann mit dem neuen Turnschuhmodell Presto im Schaufenster am New Yorker Union Square („bringing the concept of ‚window shopping to a new level’“), ein Nachzügler der Reality-Shows;66 in europäischen Großstädten wurde derweil der urbane Raum besetzt.67 Die Geschichte der Kampagnen und Gegenkampagnen, der verbesserten Arbeitsbedingungen und der Kritik daran ist ebenso spannend wie vielsagend und verweist einerseits auf die Möglichkeit, mittels Medien (Culture-jamming, Adbu- sting, subvertising...68) Politik zu machen, andererseits auf ein mögliches Umgehen mit dem Problem, daß politische Entscheidungen zunehmend in wirtschaftlicher und damit nicht mehr öffentlich kontrollierbarer Hand liegen, die Wirtschaft aber auch nicht unangreifbar ist („[w]eil wir mehr Einfl uss auf einen Markennamen haben als auf unsere eigenen Regierungen.“).69 Zu kommentieren wäre weiterhin das Wechselspiel von versuchter Aneignung der Kritiker sowie verschiedenen Reaktionsformen darauf (bis zum ironischen oder auch unironischen Imitieren von Logos).70 Die als überwachende unabhängige Organisation von Nike benannte Global Alliance klagt weniger an als daß sie ihre Schulungen von Arbeitern und Leitungspersonal anpreist71, und Nike selbst demonstriert auf seiner immensen Website natürlich ausschließlich seine politisch korrekten Initiativen (u.a. ein Bewegungsprogramm für diabeteskranke Indianer, Basketballplätze aus geschred- derten Turnschuhen für arme Schulen oder den Ankauf organisch angebauter Baumwolle).72 Das neue Credo lautet: „[...] human rights and good business prac- tices can peacefully co-exist“.73 166 Geld Co-exist? Co-brand? Jetzt ist viel vom Zusammengehen verschiedener Dinge die Rede gewesen, von der Co-Existenz von Geld und Moral oder von Ton und Bild. Aber ebenso wie trotz aller Eine-Welt-Rhetorik diese Produktion die Aufrechterhaltung der Gren- zen zwischen Erster und Dritter Welt voraussetzt, setzt Synästhesie getrennte Wahrnehmungskanäle voraus. Die gegenseitige Bezugnahme verläuft über eine Abstraktion, den Rhythmus, die „Seele des Sports“, das Geld.74 Abstrakte Äquivalente sichern wenn nicht den Tausch, so doch die Vergleichbarkeit/ Beziehbarkeit, aber sicher keine Fusion, denn ihnen ist Differenz nicht nur per Materialität (etwa der Künste75), sondern auch ‚postkolonialen Identitäten’ inhärent. Bhabha spricht von einer „Alterität der Identität“, die dadurch entstehe, daß sich der/die ‚Fremde’ der hegemonialen Kultur angleiche, in dieser Mimikry aber verdoppele, „a subject of difference that is almost the same, but not quite“.76 Auch die Kommerzkritik spricht von „Mimikry“ als einer „unabhängige[n] Nut- zung der Produkte der Massenkultur“, wie das Magazin Hermenaut schrieb. „Im vollen Bewußtsein, wie lächerlich und übel das alles ist, nach Disney World zu gehen und sich trotzdem [...] zu amüsieren [...] Das ist es, was Certeau als ‚die Kunst dazwischen zu sein’ bezeichnet, und es ist der einzige Weg zu wahrer Freiheit in der heutigen Kultur.“77 Dazwischen sein, im Unterschied sein, das ist natürlich genausowenig ein Ort wie der des Co-, der Fusion, des Zusammenfallens von Gegensätzen. Freestyle jedenfalls hat wenig Freiheiten gezeigt und ermöglicht doch einen Blick auf artistische Künste, die eigene lustvolle Ton-Bild-Taktung und die Grenzen der Globalisierung, die nicht nur in Indonesien verhandelt werden, sondern auch zwischen (z.B. schwarzen und weißen) Künsten und Medien hier. „Hier wird es unmöglich, die widersprüchliche und verwirrende Vielfalt der Projektionen zu ignorieren“, kommentiert Ruth Mayer nicht nur Pop, sondern viel- leicht auch die Popkritik78; auch wenn sich, wie Holert vermutet, das „trendslum- ming“ nun zunehmend ins Web verlagert, werden „symbolische Kontinuitäten“ hergestellt im permanent erweiterten „Reservoir technokultureller Zeichen-Kom- binationen“, das auch LifeSciences, High-Tech-Materialien, Subkulturen usw. umfasst und für die ‚postindustriellen Technologien des Selbst’ mitgedacht werden muß.79 Genregrenzen implizieren Normen: „[M]an darf eine Grenzlinie nicht überschreiten, man darf das Risiko einer Unreinheit, Anomalie oder Mißbildung nicht eingehen“, eine illusionäre Reinheit, konstatiert Derridas „Gesetz der Gat- tung“.80 „Und wenn es unmöglich wäre, die Gattungen nicht zu vermischen? Und wenn es im Herzen des Gesetzes selbst ein Gesetz der Unreinheit oder ein Prinzip der Kontamination gäbe?“81 Dieses „Gesetz der Unreinheit, eine Ökonomie des Parasitären“82, liegt im Grenzzug selbst, der weder der einen noch der anderen Seite angehört, bildlich gesprochen: keine Linie, sondern einen eigenen Raum bildet, den Derrida „Invagination“ nennt. Das Nike-Häkchen kann nicht den ganzen Freestyle als Werbung brandmarken, seine Bilder und Töne sind auch Pop, sind auch Clip, diese Linie zieht keine saubere Grenze, gehört selbst nicht zum einen und nicht zum anderen Genre. Das enthebt nicht von der Kritik an Geld 167 der Ausbeutung in den Sweatshops, Freestyle basiert auf Unfreiheit. Aber es drängt rhythmisch auf parallele Reaktionen, auf vielschichtige Wahrnehmung, auf Infragestellung kapitalistischer Ungerechtigkeit und der eigenen Denkgrenzen: eine abstrakte Kunst, gekonnte Beweglichkeit, ein Sampling kritischer skills. 1 Holert, Tom und Mark Terkessidis: „Einführung in den Mainstream der Minderheiten“. In: Dies. (Hg.): Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Berlin, Amsterdam: Edition ID-Archiv 1997, 2. Aufl ., S. 5-19, hier S. 6. 2 Ebd., S. 9. 3 Anonym [Vorspann der Herausgeber] vor Gurk, Christoph: „Wem gehört die Popmusik? Die Kultur- industrie unter den Bedingungen postmoderner Ökonomie“. In: Holert, Terkessidis (Hg.): Mainstream der Minderheiten, S. 20-40, hier S. 20. 4 Holert, Terkessidis: „Einführung“, S. 18. 5 Ebd., S. 10. 6 Höller, Christian: „Widerstandsrituale und Pop-Plateaus. Birmingham School, Deleuze/Guattari und Popkultur heute“. In: Holert/Terkessidis (Hg.): Mainstream der Minderheiten, S. 55-71, hier S. 60. 7 Klein, Naomi: No Logo! Der Kampf der Global Players um die Marktmacht. München: Riemann 2001, S. 49. 8 Freestyle, Afrika Bambaataa & Hydraulic Funk [Hydraulic Funk: Afrika Bambaataa, Steven ‚Boogie’ Brown, Fred Fowler. Hier war Fowler nicht beteiligt], Director: Paul Hunter, Prod.: Endless Noise/Jeff Elmassian (Digihearit) (music production), Breakthru Prods./Steven ‚Boogie’ Brown (sound recording and mixing), 2,30 min., © Nike Inc. 2001. Die kurze Version (60 Sek.), uraufgeführt zum NBA All Star Game am 28.1.2001, zeigte die NBA-Spieler Vince Carter, Rasheed Wallace, Jason Williams, Darius Miles und Lamar Odom. Danke an Kiu Urban für Recherchen und Tips. 9 Von Choreograph und Tänzer Savion Glover, am 11.4.2001 bei MTV „V.J. for a day 10 Anonym/Nike: „Sounds of basketball are music to the ears in new nike television ad“, http:// nikebiz.com/media/n_bballad.shtml (18.3.2002) 11 „‚Top Spot of the Week’ by Shoot Magazine and is among AdWeek’s Best Spots of 2001.“ Anonym: „Grammy-Award Winner Jeff Elmassian Relaunches Endless Noise“, www.digitalprosound.com/ 2001/06_ jun/news/end_noise.htm (28.10.2002). Am 3.6.2002 gewann die Agentur mit Freestyle die Preise in den Kategorien Advertising Excellence, Editing und Sound Design bei „The Art & Technique of the American Television Commercial“ der Association of Independent Commercial Producers, New York. 12 Zu Jeff Elmassian (Musiker, Komponist, Musikproduzent mit seiner Firma Endless Noise) vgl. Anonym: „Grammy-Award Winner“. 13 Vgl. Anonym: „Sounds of basketball“. Vgl. auch seine Herkunft aus dem Ghetto und der Mythos, nach dem der Rhythmus ihm im Blut liegt, Anonym: „Savion Glover“, www.riverwalk.org/profi les/ glover.htm (28.10.2002) 14 Vgl. Hunter, Paul: „Videography“, www.geocities.com/SunsetStrip/Backstage/2220/phvideos.html (28.10.2002); ders.: „Video Clips Download“, www.geocities.com/SunsetStrip/Backstage/2220/ phclips.html (28.10.2002); ders.: „Awards“, www.geocities.com/SunsetStrip/Backstage/2220/ phawards.html (28.10.2002). 15 Anonym/Nike: „Sounds of basketball“. 16 Meine Hvh. Elliott, Stuart: „Advertising. Nike makes a commercial that resembles a music video, and hopes it is viewed as such“. In: New York Times, 10.4.2001, S. C8, www.geocities.com/ SunsetStrip/Backstage/2220/articles/ny010410.txt (28.10.2002) 17 Meine Hvh. Postell, Robin: „Endless Dreams“, www.ecreativesearch.com/news/01-06-15/noise.asp (28.10.2002) 18 Anonym/Nike: „Sounds of basketball“. 19 Klein: No Logo!, S. 311. 20 Frauen kommen als Rapperinnen kaum vor, dafür sind sie in Videos überproportional zu sehen. „[...] die Betonung von ‚street credibility’ läßt sich als Hinweis auf eine schwarze, maskuline Rapidentität interpretieren.“ (Grimm, Stephanie: Die Repräsentation von Männlichkeit im Punk und Rap. Tübingen: Stauffenburg 1998, S. 110). 21 „[...] des griechisch-römischen Ideals der perfekten männlichen Form.“ Klein: No Logo!, S. 68, vgl. S. 70. In anderen Kampagnen (mit Air Jordan u.a.) tritt dazu die Inszenierung des reinen Sports im Widerstand gegen regelbesessene Institutionen, etwa im Ambush-Marketing, der „Hinterhalt“- 168 Geld Strategie: „Man platziert eigene Werbung im Umfeld sportlicher Großereignisse, profi tiert vom imagemäßigen Mehrwert der Veranstaltung, ohne selbst Sponsor zu sein, und distanziert sich zugleich von der Veranstaltung.“ (Wieselberg, Lukas: „Das Just-Do-It-Marketing“. In: Jungle World, Nr. 24, 5.7.2002, S. 21). 22 Elliott: „Advertising“. 23 Vgl. Sidran, Ben: Black Talk. Schwarze Kultur - die andere Kultur im weißen Amerika. Hofheim: Wolke 1993, S. 17, S. 27; Rose, Tricia: Black Noise. Rap Music and Black Culture in Contemporary America. Hanover (NH): Wesleyan University Press 1994, S. 63ff.; Poschardt, Ulf: DJ Culture. Diskjockeys und Popkultur. Neuaufl . Reinbek: Rowohlt 1997, S. 265. 24 „The Roots: Organic Hiphop Line, Rahzel“, www.geocities.com/SunsetStrip/4549/rahzel.html (28.10.2002). Danke an Don Cecil Lorey für den Hinweis. 25 „Scratchen“ ginge vermutlich zu weit: Sequenzen werden nicht vor- und rückwärts gespielt, verzerrt oder geloopt, die Sportler sollen nicht als medial hergestellte Figuren inszeniert werden, sondern als echte Menschen. 26 Klein: No Logo!, S. 92. 27 Poschardt: DJ Culture, S. 155, vgl. ebd. S. 115, S. 151ff., S. 190 et passim. 28 Ebd., S. 179. Vgl. ebd. S. 236. 29 „RaverX: Godfather of Hiphop Culture, Afrika Bambaataa and Steven ‘Boogie’ Brown gear up“, www.raverx.com/html/article.php?sid=48 (28.10.02) 30 Die Rede ist von der Sugar Hill Gang, vgl. Poschardt: DJ Culture, S. 196. 31 Ebd., S. 208. 32 So das Kollektiv blutende Schwertlilie (alias Jutta Koether und Dietrich Diederichsen): „Wenn Worte nicht ausreichen. Was will das Video, und wer sind seine Eltern? “ In: Bódy, Veruschka und Peter Weibel (Hg.): Clip, Klapp. Bum. Von der visuellen Musik zum Musikvideo, Köln: Dumont 1987, S. 242-260. 33 Weibel, Peter: „Was ist ein Videoclip?“ In: Bódy, ders. (Hg.): Clip, Klapp, Bum, S. 274ff., hier S. 274. 34 Weibel, Peter: „Von der visuellen Musik zum Musikvideo“. In: Bódy, ders. (Hg.): Clip, Klapp, Bum, S. 53-163, hier S. 54. 35 Ebd., S. 84-89, S. 119 et passim. Vgl. Emons, Hans: „Das mißverstandene Modell. Zur Rolle der Musik im abstrakten Film der Zwanziger Jahre“. In: Behne, Klaus-Ernst (Hg.): fi lm - musik - video oder die Konkurrenz von Auge und Ohr. Regensburg: Bosse 1987, S. 51-63, hier S. 51.; vgl. dagegen Gehr, Herbert: „The Gift of Sound and Vision“. In: Red. ders.: Sound & Vision - Musikvideo und Filmkunst. Frankfurt a.M.: Deutsches Filmmuseum 1993, S. 10-27, hier S. 15. 36 Emons: „Das mißverstandene Modell“, S. 55, weiter S. 57-59. Vgl. Weibel: „Von der visuellen Musik zum Musikvideo“. 37 Vgl. Theweleit, Klaus: „Circles, Lines and Bits“. In: Crary, Jonathan und Sanford Kwinter (Hg.): Incorporations. New York: Zone 1992, S. 257-263: Berkeleys Frauen seien keine überschüssigen Luxusornamente, sondern funktionierten wie eine elektrische Reihenschaltung, ihre Glieder seien ähnlicher der Ornamentalität eines Chips als anderen zeitgenössischen mechanischen Maschinen und ähnelten dem Modus operandi eines Computers. 38 Vgl. Darian, Veronika: „. Busby Berkeley und sein Kamera-Auge“. In: Kaleidoskopien e.V. (Hg.): ‚383’. Kaleidoskopien. Theatralität - Performance - Medialität, Nr. 3, Leipzig: Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig 2000, S. 218-223. Die Attraktivität der Tänzerinnen wird dabei noch übertroffen von einer Erotisierung der Bilder. Kloos, Reinhard und Thomas Reuter: Körperbilder. Menschenornamente in Revuetheater und Revuefi lm. Frankfurt a.M.: Syndikat 1980, S. 92, vgl. S. 93. 39 Ebd., S. 14, vgl. S. 87. 40 Vgl. ebd., S. 13. 41 Ebd., S. 91. 42 Vgl. Mank, Thomas: „Im Mahlstrom der Bilder. Absoluter Film und Medienkultur“. In: Hausheer, Cecilia und Annette Schönholzer (Hg.): Visueller Sound. Musikvideos zwischen Avantgarde und Populärkultur. Luzern: Zyklop 1994, S. 14-25, hier S. 15f. Von manchen als „Subversion der Abstrak- tion“ interpretiert, seien im Clip die Restformen dieses Sinns ‚entleert’. Ebd., S. 17; vgl. S. 18, 20. 43 Berland, Jody: „Sound, Image and Social Space: Music Video and Media Reconstruction“. In: Frith, Simon et al. (Hg.): Sound And Vision. The Music Video Reader. London, New York: Routledge 1993, S. 25-43, hier S. 25. 44 Reynolds, Simon: „Seeing the Beat: Netzhautintensitäten in Techno- und Electronic-Dance-Vid- eos“. In: Höller, Christian (Hg.): Pop unlimited? Imagetransfers in der aktuellen Popkultur. Wien: Turia und Kant 2001, S. 93-107, hier S. 93ff. Geld 169 45 In Postell: „Endless Dreams“. 46 Anonym/Nike: „Sounds of basketball“. Meine Hvh. 47 Emons: „Das mißverstandene Modell“, S. 60. Vgl. weiter ebd. S. 54, 62. 48 Paech, Joachim: „Bilder-Rhythmus. Konzepte der klassischen Avantgarde“. In: Hausheer, Schönholzer (Hg.): Visueller Sound, S. 46-63, hier S. 49, detaillierter auf S. 47f., 63. 49 Gehr, Herbert: „The Gift of Sound and Vision“, S. 10-27, hier S. 14. 50 MTV „may be said to be about consumption“, Kaplan: Rocking Around the Clock. Music Televi- sion, Postmodernism and Consumer Culture. New York, London: Methuen 1987, S. 12. 51 Hallenberger, Gerd: „Das Fernsehen in der ‚Clip-Schule’. Musikvideos und neue Magazinformen“. In: Ertel, Dieter und Peter Zimmermann (Hg.): Strategien der Blicke. Zur Modellierung von Wirk- lichkeit in Dokumentarfi lm und Reportage. Konstanz: UVK/Öhlschläger 1999, S. 341-353, hier S. 343. Danke für den Hinweis an Andrea Nolte. Die bei Hallenberger genannte „ironische Bezugnahme“ hat sich auch schon für „Freestyle“ bewahrheitet: es wurde sofort parodiert (in einem Clip von Lil’ Bow und im Kino von Scary Movie 2). (RaverX: „Godfather of Hiphop Culture“). 52 Hallenberger: „Das Fernsehen in der ‚Clip-Schule’“, S. 343. 53 Elliott: „Advertising“. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Das „Parasitäre“ des Samplings scheint dieses allerdings nicht zu naturalisieren. Vielen Dank an Heinz Drügh und die DiskutandInnen der Tübinger Germanistik. 57 Vgl. auch die Agentur Bilwet 1997: „Der moderne Bastard strahlt selbstbewußt die Harmonie eines neuen genetisch-kulturellen Einverständnisses aus.“ Zit. in Terkessidis, Mark: „Globale Kultur in Deutschland - oder: Wie unterdrückte Frauen und Kriminelle die Hybridität retten“. In: Hepp, Andreas und Rainer Winter (Hg.): Kultur - Medien - Macht. Cultural Studies und Medienanalyse. Opladen: Westdeutscher Verlag, 2. erw. Aufl . 1990, S. 237-252, hier S. 240. 58 Ebd., S. 239. 59 Quelle: Company Profi les/Working Conditions: Factories in China Producing Goods of Export to the U.S.; Made in China ‚Behind the Label’, Charles Kernaghan, National Labour Committee, März 1998. Zit. in Klein: No Logo!, S. 492. 60 Ebd., S. 493. In anderen Sweatshops werden Frauen sofort entlassen, sobald sie schwanger wer- den. 61 Ebd., S. 338. 62 Ebd., S. 337. 63 Ebd., S. 339. 64 U.a. wollte der Konzern „bei der indonesischen Regierung keine Ausnahmegenehmigung für die Unterschreitung des gesetzlichen Mindestlohns mehr beantragen“. Ebd., S. 379. 65 Anonym/Nike: Nike News, 22.8.2002, www.nike.com/nikebiz/ (18.3.2002) 66 ... nachdem im Vorjahr der aktuelle Retro-Boom mit einer 70er-Funk-Hommage in die Werbung aufgenommen worden war. Zitat aus: Anonym/Nike: „Nike News“. 67 Vgl. Dauerer, Verena: „Den öffentlichen Raum neu formatieren“. 68 Klein: No Logo!, S. 289ff. 69 Washingtoner Gewerkschafter Jeff Ballinger, zit. ebd., S. 352. 70 Ebd., S. 78, 93, 94, 308, 309, 311. 71 Im sechsköpfi gen Leitungsgremium sind seit der Gründung im April 1999 auch Nike und Gap vertreten; die Berichte über ihre Arbeit listen Daten über die eigenen Erhebungs- und Schulungsmaßnahmen auf, die Alliance nimmt keine Bewertung der vorgefundenen Arbeitsbedin- gungen vor. Vgl. The Global Alliance. 72 Anonym/Nike: Code of Conduct, www.nikebiz.com/labor/code.shtml (18.3.2002) 73 Knight, Phil /Nike, o. Titel, 2002, www.nikebiz.com/labor/index.shtml (18.3.2002) 74 M.E. die plausibelste der drei Varianten für die Beteiligung von Bambaataa: der Verkauf der Rechte an einem alten Stück plus der Berechtigung, seinen Namen zu benutzen. 75 Vgl. Emons: „Das mißverstandene Modell“, S. 62. 76 Bhabha: „Location of Culture“ [1994], hier zit. in Terkessidis: „Globale Kultur in Deutschland“, S. 245. 77 Meine Hvh. Klein: No Logo!, S. 94f. 78 „Wo sich Bildproduktion und Bildaneignung so eindeutig überschneiden, wird die Universalität der Waren-Bilder unübersehbar, aber eben auch in ihrer Platitüdenhaftigkeit und beliebigen Reproduzi- erbarkeit bloßgestellt. [...] so daß wenigstens momentan die Haltlosigkeit der austauschbaren Zusch- reibungen und die Leere der kommerzialisierten Konzepte sichtbar wird.“ (Mayer, Ruth: „Schmutzige Fakten. Wie sich Differenz verkauft“. In: Holert, Terkessidis (Hg.): Mainstream der Minderheiten. 170 Geld Berlin 1997, S. 153-168, hier S. 164). 79 Woznicki, Krystian: „Ein Interview mit Tom Holert zum Themenkomplex IT-Business, Intelligenz- Rassismus, Nike und Sport: Brainware im Strukturwandel“. In: Die Springerin, „Outside Europe“, Nr. 4, Wien, 2000. Danke für den Hinweis an Jan Distelmeyer. 80 Derrida, Jacques: „Das Gesetz der Gattung“. In: ders., Gestade. Wien: Passagen 1994, S. 245-283, hier S. 249. 81 Ebd., S. 250. 82 Ebd., S. 252. Zu den AutorInnen 171 Ulrike Bergermann, Studium der Germanistik in Heidelberg und Hamburg, Promotion zu Theorien und Disziplinen um Bild, Schrift und die Notation der Gebärdensprache (Ein Bild von einer Sprache, Fink 2001), seit 1999 wiss. Mit- arbeiterin der Medienwissenschaft, Universität Paderborn. Lehraufträge und Veröffentlichungen zu Medientheorie und Gender Studies, vgl. www.upb.de/ ~bergerma; Arbeitsschwerpunkt zum Verhältnis von Wissenschaftsgeschichte und Medien. Daniela Casanova, geb. 1972, studiert als Zweitausbildung an der Universität Zürich Anglistik, Filmwissenschaft und Philosophie. Der in diesem Band enthal- tene Aufsatz zeigt einen Auszug einer Seminararbeit, die zur Lizentiatsarbeit (Magisterarbeit) ausgebaut werden soll. Catrin Corell, geb. 1975, Studium der „Diplom-Romanistik mit wirtschafts- wissenschaftlicher Qualifi kation“ an der Universität Mannheim, seit dem SS 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin am dortigen Fachbereich Romanistik (Prof. Dr. Rolf Kloepfer, französische und spanische Literatur- und Medienwissen- schaft), laufende Dissertation zum Thema „Holocaust im Film“; Kontakt: ccatrin@web.de. Jan Distelmeyer, geboren 1969 in Bielefeld. Studium der Theater-, Film-, und Fernsehwissenschaften , der deutschen Sprache und Literatur und der Philosophie in Bochum und Hamburg. Abschluß 1997 zur Bedeutung der auteur-Theorie für die Filmwissenschaft. Seitdem Seminare, Vorträge und Vorlesungen u.a. in Hamburg, Rostock, Köln, München. Freier Autor u.a. für epd Film, Spex, taz, Frankfurter Rundschau, Jungle World und Die Zeit. Buchbeiträge u.a. zu Kirk Douglas, Steven Soderbergh, zur auteur-Theorie, zum postklassischen Kino und zur Körperrepräsentation in der zeitgenössischen Populärkultur. Dietmar Götsch, Studium der Skandinavistik, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Münster, Kopenhagen und Stockholm; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Skandinavischen Seminar der Universität Göttingen und Lehrbe- auftragter im Bereich Medienwissenschaft; Veröffentlichungen: Aufsätze zu den Bereichen Film, Literatur und Philosophie. Elisabeth Gotto, geb. 1976, studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Anglistik und Germanistik in Bochum, Warwick und Köln. Sie arbeitet als Wis- senschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar. Veröffentlichung: Vaterfi ktionen. Zur Darstellung von Vaterfi guren im Hollywoodkino der 80er und 90er Jahre. Stuttgart: Ibidem 2001. Andreas Hauck, geb. 1975, Studium der Medien- und Literaturwissenschaft sowie Marketing an den Universitäten Mannheim und Paris III. Verfasser der „Anleitung zum Arbeiten mit akira“, einem Computerprogramm, das am Roma- nischen Seminar Mannheim zur systematischen Filmanalyse entwickelt worden ist. Seine Diplomarbeit „Dialogische Inszenierung und Sympraktische Bewusst- werdung“ erhielt den Preis der Stiftung für Kommunikations- und Medienwis- senschaften 2002. Seitdem berufstätig als Mediaplaner sowie Promotion mit dem Arbeitstitel „Funktionen der Filmproduktion - Zum medialen Gedächtnis des Films und der Zensur des Filmmarketing in Spanien“. 172 Zu den AutorInnen Jana Herwig, MA, Studium der Theater, Film- und Fernsehwissenschaft, Jour- nalismus und Medienwissenschaft in Köln und Grahamstown (RSA). Freie und feste Mitarbeit in den Bereichen Web-Development und Community-Management seit 2000. Schwerpunkte: Mediale Öffentlichkeiten und Dispositive, Computer- und Netzkultur. Karl Juhnke, geb. 1956, Studium Geschichte und Kunst, später Medien- und Kunstwissenschaft, Promotion über „Das Erzählmotiv des Serienmörders im Spielfi lm“, Lehrtätigkeit in Braunschweig (HBK und TU). Andrea Nolte, geb. 1971, Studium der neueren deutschen und englischen Lite- raturwissenschaft sowie Medienwissenschaft an der Universität Paderborn. Wis- senschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Medienwissenschaft an der Universität Paderborn. Oliver Scholle, arbeitet als Lehrbeauftragter und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Paderborn. Er promoviert über das Thema „Literatur und Pho- tographie“. Andreas Sudmann, geb. 1974, Studium der Sozialwissenschaften mit Neben- fach Rechtswissenschaften an der Universität Hannover. Lehrbeauftragter an der Georg-August-Universität Göttingen und Doktorand im Fach Medien- und Kommunikationswissenschaft. Promoviert zum Thema „Politik und Ideologie im US-amerikanischen Independent-Film“. Publikationen u.a.: Dogma 95. Die Abkehr vom Zwang des Möglichen, Hannover: Offi zin 2001. Henning Wrage, geboren 1973 in Magdeburg, ist Mitarbeiter im DFG-For- schungsprojekt „Programmgeschichte des DDR-Fernsehens“ an der Humboldt- Universität zu Berlin. Arbeit an einer Dissertation zur Mediengeschichte der DDR. Verschiedene Publikationen, zuletzt zu Technik und Mystik, Kanontheo- rie, narratologischen Implikationen des Computerspiels und zur Verfi lmung von Hermlins „Die erste Reihe“. Mathias Wierth-Heining, Dipl.-Päd., geb. 1971, Studium der Pädagogik, Psy- chologie und Soziologie. Zur Zeit Promotion in Marburg zum Thema „Jugendliche Positionen zum Film: Bedeutungskonstruktionen im Rezeptionshandeln weibli- cher Peer-groups“ (Arbeitstitel). Schwerpunkte: Jugend-/Jugendkulturforschung, Rezeptionsforschung. Caroline Zieger, Jahrgang 1974, studiert Sozialpädagogik an der Universität Bremen, zunächst mit den Arbeitsschwerpunken Geschichte der Frauenbildung und Frauenbewegung. Seit drei Jahren arbeitet sie zu fi lmwissenschaftlichen Themen (u.a. deutsche und französische Filmgeschichte, Geschichte des populären Films und der Starimagekonstruktion). Der in diesem Band enthaltene Aufsatz ist eine Zusammenfassung der in Arbeit befi ndlichen Diplomarbeit.