Filme sehen, Kino verstehen pauleit_korrektur4.indd 1 06.11.2008 13:19:24 Bremer Schriften zur Filmvermittlung, Band 2 Herausgegeben von Winfried Pauleit pauleit_korrektur4.indd 2 06.11.2008 13:19:25 Bettina Henzler / Winfried Pauleit (Hrsg.) Filme sehen, Kino verstehen Methoden der Filmvermittlung pauleit_korrektur4.indd 3 06.11.2008 13:19:25 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Schüren Verlag GmbH Universitätsstr. 55 · D-35037 Marburg www.schueren-verlag.de © Schüren 2009 Alle Rechte vorbehalten Gestaltung: Nadine Schrey Druck: fva, Fulda Printed in Germany ISBN 978-3-89472-538-9 pauleit_korrektur4.indd 4 06.11.2008 13:19:25 Inhalt Vorwort 7 Bettina Henzler Von der Pädagogik audiovisueller Medien zur Vermittlung des Kinos als Kunstform Alain Bergalas Konzepte und Methoden der Filmvermittlung 10 Claude und Francis Desbarats Filmstandbilder Für eine schulische Vermittlung des Kinos als Kunst 33 Sebastian Schädler Mit Schneewittchen lernen, dass Geschlechterrollen veränderbar sind Zum Potenzial des «pädagogisch wertlosen» Films 66 Christine Rüffert Lichtspiele unter der Lupe Filmvermittlung anhand von Experimentalfilmen 93 Winfried Pauleit Film als Handlungsfeld Oder: Wie «falsches Spiel» zu Bildungsprozessen führt 118 Jan Sahli Klingende Bilder, gemalte Töne Mediale Schnittstellen in der Film- und Kunstvermittlung 137 Bettina Henzler und Stefanie Schlüter Perspektivenwechsel Methodische Vorschläge zum Vergleich der Filme Angst essen Seele auf (R.W. Fassbinder) und Gegen die Wand (Fatih Akin) 154 Eugène Andréanszky Kino auf Augenhöhe mit Kindern Pädagogisches Arbeiten im Rahmen des französischen Grundschulprojektes «École et Cinéma» 189 5 pauleit_korrektur4.indd 5 06.11.2008 13:19:25 Inhalt Michael Loebenstein «Lebende Ausstellung», Wunderkammer, Notation Über das Filmmuseum als Ort der Filmvermittlung 201 Michael Baute und Volker Pantenburg Klassiker des «Filmvermittelnden Films» Ein Gespräch 216 Abbildungsnachweis 236 Autorinnen und Autoren 238 6 pauleit_korrektur4.indd 6 06.11.2008 13:19:26 Vorwort Dieses Buch ist der Filmvermittlung gewidmet. Filmvermittlung meint nicht die Vermittlung von Inhalten durch Filme, sondern vielmehr die Vermittlung des Films als eigenständige ästhetische und kulturelle Ausdrucksform. Ziel von Filmvermitt- lung ist das Erlernen des Umgangs mit Filmen, der bei grundlegenden Analysefä- higkeiten beginnt und bis zur eigenen kreativen Film- oder Theoriearbeit reichen kann. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Films, der seit mehr als 100 Jahren ein Leitmedium unserer Kultur ist. Ausgangspunkte für Filmvermittlung sind die Sensibilisierung der Wahrnehmung und die Etablierung von Orten, die ästhetische und kommunikative Erfahrungen mit Film ermöglichen. Diese Erfahrungen fördern die Fähigkeit, unsere Kultur und Gesellschaft kritisch zu reflektieren und sie gestaltend immer wieder neu zu entwerfen. Das zentrale Anliegen von Filmvermittlung besteht also darin, ein tieferes Verständnis des Me- diums, seiner Kulturgeschichte und seiner ästhetischen, sprachlichen und genuin filmischen Ausdrucksmöglichkeiten zu wecken – und darüber hinaus gesellschafts- politische und kulturelle Impulse zu geben. Wie kaum ein anderes Medium ist Film in der Lage, Gegenstände und Bewe- gungen, Emotionen und Ereignisse unmittelbar zur Anschauung zu bringen; man kann sie durch den Film begreifen und so direkt von ihm lernen. Der Film prägt unser Bild von der Realität und unser kommunikatives Handeln in der Gesell- schaft, heute und auch in Zukunft, wie Kulturstaatsminister Bernd Neumann im Interview mit der Süddeutschen Zeitung herausstellte: «Ich glaube, dass der Film noch stärker Abbild sozialer Realität werden kann, dass er in Zukunft noch mehr Orientierung und Identität schaffen wird.» Film ist allerdings nicht nur ein Aufzeichnungsmedium, das uns Realität ver- mittelt oder virtuell erfahrbar macht. Er lässt sich auch nicht auf ein Mittel sozialer Verständigung und Orientierung reduzieren. Film ist vielmehr eine eigene Kultur- technik, neben Text und Bild, die diese Ausdrucksformen gleichwohl integriert. Deshalb spricht man auch von Kinematografie oder kurz von Kino. Damit wird nicht nur der Kinosaal als Ort der Filmaufführungen bezeichnet. «Kino verstehen» nimmt vielmehr die Kulturtechnik der bewegten Bilder in ihrer Gesamtheit in den Blick, aus der Filme als konkrete kulturelle Produktionen hervorgehen. Aufgabe einer so ausgerichteten Filmvermittlung ist – wie oben bereits ausgeführt – die Förderung der ästhetischen Erfahrung, der kreativen Praxis und der Fähigkeit der Analyse. Um neben Lese-, Schreib- und Bildkompetenzen auch Filmkompetenzen zu vermitteln, die für das Verständnis des Films als eigenständiger Kulturtechnik 7 pauleit_korrektur4.indd 7 06.11.2008 13:19:26 Vorwort erforderlich sind, erscheint es überfällig Film und Kino in allen Bildungsinstitutio- nen auf die Agenda zu setzen und schon bei Schülern in der Grundschule mit einer gezielten Vermittlungsarbeit zu beginnen. Der vorliegende Band stellt aktuelle Ansätze der Filmvermittlung aus Deutsch- land, Frankreich, Österreich und der Schweiz vor, die einen breiten methodischen Horizont eröffnen. Die Autoren sind alle selbst in der Filmvermittlung tätig. Sie arbeiten in unterschiedlichen Institutionen wie Schule, Universität, Filmmuseum, Kino und in der freien Projektarbeit. Aus ihren Arbeitsfeldern heraus haben sie je verschiedene Ansätze der Filmvermittlung entwickelt. Sie arbeiten dabei mit unter- schiedlichen Medien und richten sich an verschiedene Zielgruppen. Das Spektrum reicht von detaillierten methodischen Ausarbeitungen einzelner Fragestellungen bis hin zu Texten, die größere theoretische, institutionelle und filmgeschichtliche Kontexte reflektieren. Claude und Francis Desbarats befassen sich mit dem methodischen Potenzi- al von Filmstandbildern, anhand derer sie Raumkonstruktionen im Film und die stilistischen Besonderheiten von Filmen des klassischen Hollywoodkinos und des modernen Kinos aufzeigen. Sebastian Schädler plädiert dafür, mit Ausschnitten aus Blockbustern wie Disneys Schneewittchenverfilmungen gegen die Konstruktion von Geschlechterklischees zu arbeiten. Dass experimentelle Filme besonders gut ge- eignet sind, um den filmischen Schaffensprozess bewusst zu machen, zeigt Christine Rüffert und gibt nebenbei einen Überblick über die Geschichte des Experimental- films. Ebenfalls von der filmischen Praxis geht Winfried Pauleit aus, der den Film als Handlungsfeld beschreibt und die Idee einer spezifisch filmischen Vermittlungs- logik skizziert. Und Ansatzpunkt für das Vermittlungskonzept von Jan Sahli ist die Intermedialität des Films, die er anhand von Musikvideos, Literaturverfilmungen und künstlerischen Produktionen der Avantgarde des 20. Jahrhunderts erläutert. Sind die meisten dieser Ansätze und Methoden weitgehend offen angelegt, so eignen sich manche besonders gut für eine zielgruppenspezifische Arbeit: Im Rah- men einer Vorstellung des französischen Grundschulprogramms École et Cinéma gibt Eugène Andréanszky Hinweise für die pädagogische Arbeit mit Kindern ab vier Jahren. Ebenfalls für Kinder geeignet ist Sebastian Schädlers Geschlechterpä- dagogik anhand von Märchenverfilmungen. Claude und Francis Desbarats haben die Arbeit mit Filmstandbildern im Rahmen ihrer Lehrtätigkeit an französischen Collèges (Mittelschulen) entwickelt. Für den Unterricht in der gymnasialen Ober- stufe bietet die detaillierte vergleichende Analyse der beiden Filme Angst Essen Seele auf und Gegen die Wand von Bettina Henzler und Stefanie Schlüter kon- krete methodische Anleitungen. Und Christine Rüffert skizziert beispielhaft die Arbeit mit Studierenden in der Universität. Neben dieser Fokussierung und Ausarbeitung konkreter Methoden der Film- vermittlung, ermöglichen einige der Artikel eine Öffnung auf größere kulturelle, 8 pauleit_korrektur4.indd 8 06.11.2008 13:19:26 Vorwort historische und mediale Kontexte. So widmen sich Claude und Francis Desbarats der kunsthistorischen Einordnung des Films in die Tradition der Renaissancemale- rei, während Sebastian Schädler sich mit den geistes- und bildungsgeschichtlichen Ursachen für die Bilderfeindlichkeit der Pädagogik auseinandersetzt, die er von der antiken Philosophie über Rousseau bis in die Gegenwart verfolgt. Winfried Pauleit zeigt Differenzen im Verständnis von «Film als Kunst» zwischen Erwin Panofsky, Siegfried Kracauer und Alain Bergala auf, die Konsequenzen für die Konzeption von Filmvermittlung haben. Das Filmmuseum als Ort, der Filmgeschichte lebendig macht, wird von Michael Loebenstein reflektiert, der auch auf das Potenzial der neuen Medien für die Filmvermittlung eingeht. Und bei Michael Baute und Volker Pantenburg, die eine Reihe sogenannter «Filmvermittelnde Filme» vorstellen, wird der Film selbst zum genuinen Medium der Vermittlung. 2006 erschien zum Auftakt der Bremer Schriften zur Filmvermittlung Alain Bergalas Essay Kino als Kunst. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass sich nahe- zu alle Texte der vorliegenden Publikation darauf beziehen, auch wenn es keine entsprechende Vorgabe an die Autoren gab und diese aus sehr unterschiedlichen Kontexten stammen. Bergalas Text ist nicht nur in Frankreich, sondern auch im deutschsprachigen Raum mittlerweile zu einem wichtigen theoretischen Bezugs- punkt geworden für all jene, die sich mit Fragen der Filmvermittlung beschäfti- gen. Dieses Buch kann folglich auch als eine differenzierte Auseinandersetzung mit Bergalas Thesen, als ihre Befragung und Weiterentwicklung gelesen werden. Aus diesem Grund steht dem vorliegenden Band ein systematischer Überblick über die wichtigsten, in Deutschland zum großen Teil noch unbekannten, pädagogischen Schriften und Medien Bergalas voran. Ein solches Buch kommt nicht ohne die Unterstützung von zahlreichen Perso- nen und Institutionen zustande. Unser besonderer Dank gilt an dieser Stelle dem Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik, dem Fachbereich Kulturwis- senschaften und dem International Office der Universität Bremen, sowie dem Ins- titut Français de Brême, die diese Publikation gefördert haben. Dank gilt auch der Übersetzerin Andrea Kirchhartz für die Übertragung der Texte aus dem Französi- schen, sowie dem Bremer Kommunalkino/Kino 46, das die Entstehungsgeschichte dieses Buches als Vortragsreihe im Kino mit einem Filmprogramm begleitet hat. September 2008 Bettina Henzler, Winfried Pauleit 9 pauleit_korrektur4.indd 9 06.11.2008 13:19:26 Bettina Henzler Von der Pädagogik audiovisueller Medien zur Vermittlung des Kinos als Kunstform Alain Bergalas Konzepte und Methoden der Filmvermittlung «In Hinblick auf die Schüler […] haben wir hoffentlich weder dazu beige- tragen, künftige Amateur-Techniker, -Regisseure oder -Fotografen, noch selbstzufriedene Zuschauer von Filmkunstfilmen heranzuziehen; unsere erste Priorität war, vielmehr scharfsinnige und bewusste Bilder-Leser auszubilden, die besser befähigt sind, sich gegenüber dem Realen, ihrem Imaginären und den großen sozialen Sprachen zu positionieren.»1 Pour une pédagogie de l’audiovisuel 1975 «Diese Studie ist vor allem eine (didaktische und pädagogische) Antwort auf die dominierende Ideologie […]»2 Initiation à la sémiologie du récit en images 1977 1 «Quant aux élèves […] nous espérons ne pas avoir contribué à reproduire les futures techni- ciens, cinéastes et photographes amateurs, ni les futurs spectateurs satisfaits des films d’art et d’essai, mais avoir donné la priorité fondamentale à la formation de lecteurs d’images plus lu- cides, plus conscients, plus aptes à se situer par rapport au réel, à leur imaginaire et aux grands langages sociaux.» Alain Bergala: Pour une pédagogie de l’audiovisuel. Paris 1975, S.118. 2 «Cette recherché se situe avant tout dans la perspective d’une réponse (didactique, pédagogi- que) à l’idéologie dominante […]» Alain Bergala: Initiation à la sémiologie du récit en images. Paris 1977, S.11. 10 pauleit_korrektur4.indd 10 06.11.2008 13:19:26 Von der Pädagogik audiovisueller Medien zur Vermittlung des Kinos als Kunstform «Der sprachliche (bzw. sinnbezogene) und ideologiekritische Ansatz ver- trägt sich nur selten mit einem sinnlichen Zugang zum Kino als Bild- und Klangkunst (ich spreche bewusst von Klängen, nicht nur von Dialogen als Sinnträger), bei der nicht nur die sprachlichen Parameter zählen, sondern zumindest ebenso sehr die Texturen, die Materialien, das Licht, die Rhythmen und Harmonien.» Kino als Kunst 2002/2006 Die pädagogischen Schriften des französischen Filmwissenschaftlers Alain Bergala umspannen mittlerweile einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren. So gehörte Berga- la zu den «Pionieren», die sich in den 1970er Jahren in Frankreich für eine Etablie- rung der «Éducation à l’image»3 – in Form einer bildorientierten Medienpädagogik – in französischen Schulen einsetzten. Und obwohl der ausgebildete Lehrer in den 1980er Jahren der Schule den Rücken kehrte4, um sich ganz dem Kino zuzuwen- den: als Kritiker, als Regisseur und später auch als Hochschullehrer, führte er sei- ne Auseinandersetzung mit Kindheit und Pädagogik kontinuierlich bis heute fort. 2000-2002 war Bergala Berater des französischen Bildungsministers Jack Lang, für dessen Bildungsprogramm «Les arts à l’école» (dt. «Die Künste an die Schule») er die Sektion Kino leitete. Er verarbeitete diese Erfahrung 2002 in L’hypothèse ciné- ma (dt. Titel Kino als Kunst)5, einer «Streitschrift» für die schulische Vermittlung des Kinos als Kunstform, die Bergala im Vorwort als Ergebnis seiner langjährigen Auseinandersetzung mit der Pädagogik vorstellt. Seither publizierte er 25 DVDs für Schulen, die im Rahmen der Kollektion Eden cinéma erschienen, sowie zwei weitere pädagogische Schriften: eine Einführung in das Werk des iranischen Regis- seurs Abbas Kiarostami und ein Kinderbuch mit dem Titel Mais où je suis, das das Filmmotiv der fremden Welten kindgerecht vorstellt. Die enge Wechselwirkung von theoretischen Überlegungen und filmischer Pra- xis, von persönlicher und pädagogischer Erfahrung prägen Bergalas Biografie und Arbeit: Filmvermittlung und Filmwissenschaft gehen Hand in Hand. Davon zeugt 3 Der Begriff «Éducation à l’image» (wörtl. «Bildung zum Bild») ist das französische Äquivalent zur Film- und Medienpädagogik, der treffend die stärkere Ausrichtung auf das Bild in der fran- zösischen Tradition reflektiert. Bergala selbst verwendet ihn zu dieser Zeit noch nicht, sondern spricht von den «audiovisuellen Medien». Francis Desbarats hat eine umfangreiche Disserta- tion zur Etablierung des Films an französischen Schulen vorgelegt Origines, conditions et per- spektives idéologiques de l’enseignement du cinema dans les lycées. Dissertation an der Universität Toulouse Le Mirail, École supérieure d’audiovisuel. Dezember 2001 (unveröffnetlicht). 4 Vgl. Alain Bergala: Mettre en contact ... In: Cahiers pédagogiques, 240/Januar 1986, S. 19. 5 Alain Bergala: L’hypothèse cinéma. Petit traité de transmission du cinema à l’école et ailleurs. Pa- ris 2002. Deutsche Fassung: Kino als Kunst. Filmvermittlung an der Schule und andeswo. Hrsg.: Bettina Henzler / Winfried Pauleit. Marburg 2006 (im Folgenden: Bergala 2006). 11 pauleit_korrektur4.indd 11 06.11.2008 13:19:26 Bettina Henzler nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit den pädagogischen Möglichkeiten der DVD, die auch neue Wege in der Filmanalyse und -theorie eröffnet.6 Es ist also lohnenswert, ausgehend von Kino als Kunst Bergalas bisheriges päd- agogisches Gesamtwerk ins Auge zu fassen. Dieser Text gibt einen Überblick über Bergalas Arbeiten zur Pädagogik, die zum großen Teil bisher nur in Frankreich veröffentlicht wurden. Im ersten Teil werde ich seine pädagogischen Schriften und Konzepte knapp systematisieren und historisch-biografisch einordnen, um danach im zweiten Teil ausführlicher einzelne von ihm entwickelte Medien und Methoden der Filmvermittlung vorzustellen und zu analysieren. Es geht darum, Grundlinien seines Denkens in ihrer Kontinuität und Entwicklung herauszuarbeiten und ihre konkrete Umsetzung zu beschreiben. So soll dieser Text dazu beitragen, Kino als Kunst im größeren Kontext von Bergalas Beitrag zur französischen Filmpädagogik zu verstehen. Vor allem aber können die vorgestellten Methoden der Filmermitt- lung, als Anregung für die pädagogische Praxis auch in Deutschland dienen. 1. Schriften und Konzepte Die pädagogischen Schriften Bergalas haben den Charakter von Interventionen, mit denen er auf von ihm konstatierte Mängel oder Missstände in der schulischen Bil- dung reagiert. Dabei fällt die Flexibilität seiner Positionierung auf: Je nach geänderter Sachlage passt er seine Forderungen und pädagogischen Ansätze an und scheut auch vor einer Revision früherer Positionen nicht zurück. Dies wird an den Eingangs auf- geführten Zitaten aus den drei selbstständigen Publikationen Bergalas zur Film- und Medienpädagogik deutlich: In den 1970er Jahren vertritt Bergala eine sprachorien- tierte und ideologiekritische Pädagogik, die er später in Kino als Kunst explizit zurück- weist. Zwar ist auch Kino als Kunst von dem ideologiekritischen Anliegen geprägt, der Dominanz der Massenmedien entgegen zu treten. Die pädagogische Strategie aber ist eine grundlegend andere: Statt einer Auseinandersetzung mit der Ideologie der do- minierenden Medien, fordert er nun die Begegnung mit dem Kino als Alterität. Statt kritische und bewusste Leser auszubilden, das erklärte Ziel seines ersten selbständi- gen Textes Pour une pédagogie de l’audiovisuel, möchte Bergala in Kino als Kunst den Schülern vor allem eine ästhetische Erfahrung ermöglichen. Um diesen signifikanten Perspektivenwechsel deutlich zu machen, unterteile ich Bergalas Filmpädagogik in zwei Phasen: die semiologische Phase, die vor allem von den Schriften Christian Metz’, 6 Beispielhaft dafür ist auch die intensive Auseinandersetzung mit dem Werk von Abbas Kiaro- stami, die wichtiger Bezugspunkt seiner jüngeren pädagogischen und wissenschaftlichen Arbeit ist. So schrieb Bergala u.a. eine Einführung in das Werk von Abbas Kiarostami und kuratierte 2007 für das Centre Georges Pompidou eine Ausstellung «Correspondances 2007/2008», die die Regisseure Victore Erice und Abbas Kiarostami in Dialog treten lässt. In diesem Rahmen wurde auch ein neues Computerprogramms zur Filmanalyse und Filmvermittlung «Lignes de temps» vorgestellt und von Bergala kommentiert. 12 pauleit_korrektur4.indd 12 06.11.2008 13:19:26 Von der Pädagogik audiovisueller Medien zur Vermittlung des Kinos als Kunstform Roland Barthes’ und Jacques Lacans beeinflusst ist, und die cinephile Phase, die an die pädagogische Tradition der französischen Filmkritik anknüpft.7 1.1 Semiologische Phase Mitte der 1970er Jahre, kurz nach seiner Ausbildung zum Französischlehrer, führte Bergala gemeinsam mit Jean-Pierre Limosin an einem integrierten Schulzentrum in Yerres ein über mehrere Jahre angelegtes Projekt zur Pädagogik der audiovisuellen Medien in 6. und 7. Klassen durch. Ziel dieses Projektes, das Bergala als sogenannter «Dritter», d.h. als Fachmann für audiovisuelle Medien, begleitete, war eine Öffnung der Schule: «Das Leben muss in die Schule eintreten und die Schule sich dem Leben öffnen.»8 Aktueller Schulunterricht sollte sich an der durch die Massenmedien ge- prägten Alltagsrealität der Schüler orientieren. Diese pädagogische Erfahrung verar- beitete Bergala in zwei Publikation, die kurz hintereinander erschienen: 1975 Pour une pédagogie de l’audiovisuel, ein detaillierter Erfahrungsbericht aus dem ersten Jahr des Projektes, und 1977 Initiation à la sémiologie du récit en images, eine theore- tische Einführung in die semiologische Analyse der «Bilderzählung». Beide Texte stehen unter dem Einfluss der Semiologie und der Psychoanalyse. Ihr Ziel ist die Befähigung zur Ideologiekritik: Durch die Kenntnis der «Sprache» der Bilder sollen Schüler und Schülerinnen eine kritische Distanz gegenüber den Massenmedien entwickeln und deren manipulative Wirkungsweise durchschauen lernen. Nur das «Beherrschen» (frz. «la maîtrise») der visuellen Codes9, das Wissen um ihre Funktionsweise und die Mechanismen der Bedeutungsproduktion, könne laut Bergala gegen den ideologischen Einfluss der Massenmedien wappnen. Im Zentrum der Pädagogik beider Texte stehen dabei das Bild und die Bildana- lyse. In Pour une pédagogie de l’audiovisuel, das eine Mischung aus Projektbericht, methodischen Vorschlägen, Unterrichtsmaterialien und theoretischer Reflexion ist, wird diese Bildanalyse anhand der verschiedensten Medien (Werbung, Fotografie, Fernsehen) vorgeführt. Sie beginnt beim einzelnen fixen Bild und führt systema- tisch über Bildfolgen bis hin zu größeren narrativen Einheiten, wie Comics oder Fotoromanen. Im Fokus der Analyse stehen die sozialen, kulturellen und ästheti- schen Konventionen, die Form und Inhalt der Bilder bestimmen. Ergänzt wird die 7 Diese Unterteilung ist inspiriert von der oben genannten Dissertation Francis Desbarats’, die drei große historische Traditionen der Filmpädagogik in Frankreich beschreibt: Die Semiotische Tradition, die sich vor allem im Rahmen des Literaturunterrichtes etabliert hat und im franzö- sischen Schulsystem dominiert, die Cinephile Tradition, die sich zunächst außerhalb der Schule in der Kinoklubbewegung der 50er Jahre entwickelt hat, und die Tradition der Kunsterziehung, die sich auf die kreative Praxis konzentriert. Vgl. Desbarats. 8 «La vie doit entrer dans l’école et l’école s’ouvrir à la vie», Bergala 1975, S. 9. 9 Code bezeichnet im Französischen ein Regelsystem oder Gesetzeswerk, in der Semiologie sind es die Konventionen, die die Funktionsweise einer Sprache regeln. In diesem Fall wird auch die visuelle Welt als Sprache begriffen. 13 pauleit_korrektur4.indd 13 06.11.2008 13:19:26 Bettina Henzler analytische Herangehensweise durch die Realisation eigener Projekte (von Diapo- sitivserien bis Super-8-Filmen). Allerdings steht auch die filmische Praxis allein im Dienste des «Spracherwerbs»: Statt kreativer Selbstentfaltung soll die Fähigkeit der Kommunikation mit Bildern gefördert werden. In Initiation à la sémiologie du récit en images verengt Bergala das Blickfeld: Er konzentriert sich auf eine theoretische Analyse von Erzählungen in Bildern, auf die Funktionsweise der sogenannten «narrativen Codes» und stellt Diaserien als pädagogisches Material zur Verfügung. Anders als in dem früheren Text, der unter- schiedslos alle Bild-Medien behandelte, steht hier implizit das Kino als Massenme- dium im Zentrum. Zwar werden keine konkreten Filme oder Regisseure genannt10, aber die Konventionen der Bilderzählung, die Bergala in Hinblick auf Einzelbild, Montage, Identifikation und Erzählinstanz analysiert und systematisiert, entstam- men dem klassischen Hollywoodkino. Dementsprechend greift Bergala in Initiation à la sémiologie du récit en images auch bereits auf Konzepte zurück, die Gegenstand intensiver Auseinandersetzung in der französischen Filmkritik waren: wie Tiefen- schärfe, suture (dt. «Nahtstelle») oder hors-champs (dt. «Off»)11. Zudem erweitert er das Blickfeld auf eine psychanalytisch begründete Theorie des Zuschauers, die er später in der in Frankreich kanonischen Einführung in die Filmästhetik Ésthé- tique du Film12 weiter systematisieren wird: Ausgehend von der Wirkungsweise der filmischen Narration und des Kinodispositivs13 versucht Bergala insbesondere die emotionale Wirkung von Filmen und die Mechanismen der Identifikation zu re- flektieren, um ihr ideologisches Potential auszumessen. Dennoch bleibt in Initiation à la sémiologie du récit en images – wie in Pour une pédagogie de l’audiovisuel – das Konzept des Zuschauers und des Kinos dominiert von der Vorstellung eines übermächtigen Code-Systems, einer sprachlichen Deter- minierung aller visuellen Formen: Es gibt kein (relevantes) künstlerisches Schaffen 10 Bis auf zwei Ausnahmen: Eisensteins Streik (1924) und Hitchcocks Die Vögel (1963) wer- den exemplarisch für zwei unterschiedliche historische Formen des Erzählens mit Montage genannt. 11 «Suture» (dt. «Nahtstelle»): Der Psychoanalyse entlehnter Begriff, der in Bezug auf den Film die Verknüpfung von Einstellungen in der Imagination des Zuschauers reflektiert. Vgl. Jean- Pierre Oudard: La suture. In: Cahiers du cinéma, 211/212 / 1969. Die Konzepte hors-champs und suture reflektieren u.a. die Präsenz des nicht unmittelbar Sicht- baren im filmischen Bild und dessen zentrale Bedeutung in der Produktion von Bedeutung. Vgl. hierzu auch Winfried Pauleit: Filmstandbilder. Passagen zwischen Kunst und Kino. Frank- furt am Main 2004, S. 112 – 123. 12 Jacques Aumont / Alain Bergala / Michel Marie / Marc Vernet: Esthétique du film. Paris 2004 (3. Auflage). 13 Das Konzept des «Dispositivs» wurde von Jean-Louis Baudry eingeführt, um das Kino als (räumliche und technische) Anordnung zu beschreiben (Situation der Projektion, der Rezep- tion im Kinosaal, Bedeutungsproduktion), die dem Zuschauer eine bestimmte Position und Rezeptionshaltung zuweist. Vgl. Ders.: L’Effet-cinéma. Paris 1978. 14 pauleit_korrektur4.indd 14 06.11.2008 13:19:27 Von der Pädagogik audiovisueller Medien zur Vermittlung des Kinos als Kunstform jenseits der Massenkommunikation und das (Zuschauer-)Subjekt erscheint weni- ger als Individuum, denn als eine Funktion der filmischen Narration. 1.2 Cinephile Phase Der Perspektivenwechsel bahnte sich Ende der 1970er Jahren an, als Bergala zu- nächst Redakteur, später Chefredakteur und dann Leiter der Publikationsabteilung der Cahiers du cinéma, der Institution der französischen Cinephilie14, wird. Die Cahiers du cinéma befanden sich im Umbruch: Unter der künstlerischen Leitung von Serge Daney wurde die ideologiekritische «maoistische» Phase der Zeitschrift beendet und wieder an die cinephile Tradition der Gründerzeit (der 1950er Jahre) angeknüpft, die mit einem forcierten Autorenbegriff die Legitimation des Films als Kunstwerk betrieben hatte15. Die cinephile Haltung, die «Liebe» zum Kino und die damit verbundene kulturelle Praxis wird Bergala später in Kino als Kunst auch als Ansatzpunkt für die Filmpädagogik einfordern. Das Buch zeugt von dem viel- fältigen Einfluss seiner Kollegen bei den Cahiers du cinéma: um nur Serge Daney, Philippe Arnaud, Jean Douchet und Jean-Louis Schefer zu nennen. Bergala selbst prägte die Zeitschrift durch eine verstärkte Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Filmproduktion: Gemeinsam mit seinem Kollegen Serge le Peron besucht er Regisseure am Set und führte ausführliche Interviews zu ihrer Produktionsweise. Diese wurden in den Cahiers publiziert, fanden aber auch Eingang in eine Vielzahl von Publikationen, die Bergala zu Regisseuren, Filmen und kinospe- zifischen Fragestellungen herausgegeben hat. Als Beispiel seien die beiden Interview- bände Jean-Luc Godard par Jean-Luc Godard und der kürzlich erschienene Bildband Godard au travail, dt. «Godard bei der Arbeit» genannt.16 Parallel dazu beginnt Ber- gala selbst Filme zu drehen: es entstehen im Laufe der 1980er Jahre vier Spielfilme17 und seit den 1990er Jahren eine Reihe essayistischer kunst-, literatur- und filmver- mittelnder Filme (u.a. zu Cesar Pavese, Fernand Léger, Marseille im 19. Jhd.).18 Auch 14 Zum Begriff der Cinephilie als kulturelle Praxis und historische Bewegung vgl. Antoine de Baeque: La Cinéphilie. Paris 2003. 15 Serge Daney hatte die Cahiers du cinéma gemeinsam mit Serge Toubiana 1974 übernommen. Bergala schrieb bereits seit Anfang der 1970er Jahre sporadisch unter Pseudonymen für die Zeitschrift, ab 1978 dann als fester Redakteur. Vgl. Antoine de Baecque: Les Cahiers du cinéma. Histoire d’une revue. Bd. 2: Cinéma, tours détours 1959-1981. Paris 1991. 16 Alain Bergala: Jean-Luc Godard par Jean-Luc Godard. 2 Bände. Paris 1998 (2. Auflage). Alain Bergala: Godard au travail. Paris 2006. 17 Faux Fuyants (1983) (Regie gemeinsam mit Jean-Pierre Limosin); Où que tu sois (1987); Incognito (1989); Pense à moi (1989). 18 Le temps d’un détour (1991), Filmessay über Marseille im 19. Jhd.; Cesare Pavese (1995); Les motifs de Fernand Leger und Les fiorettis de Pier Paolo Pasolini (1997). 15 pauleit_korrektur4.indd 15 06.11.2008 13:19:27 Bettina Henzler an der Universität, an der Bergala seit den 1980er Jahren lehrt, setzte er diese intensive Beschäftigung mit dem filmischen Schaffensprozess fort.19 Die Arbeit mit Filmstudenten, die zwar über ein fundiertes theoretisches Wissen verfügen, aber in der kreativen Praxis versagen, veranlasst Bergala dann Anfang der 1990er Jahre auch in der Filmpädagogik einen Richtungswechsel hin zum filmi- schen Schaffensprozess zu fordern. Sein eigener Beitrag ist zweiteilig: Zum einen entwickelt er Unterrichtsmaterial Le cinéma en jeu20, anhand dessen der Prozess der Montage im Unterricht kreativ nachvollzogen werden kann. Zum anderen entwirft er in einem Kolloquiums-Beitrag «Quelque chose de flambant neuf» die Grundzüge einer Pädagogik und Theorie des Schaffensprozesses.21 Gegenstand ist nun explizit das Kino als Kunstwerk, Ziel ist die Erfahrung und die Reflexion des künstlerischen Schaffensprozesses: Theorie und Praxis sollen zusammengeführt werden. Dabei möchte Bergala gerade gegen die seiner Ansicht nach an der Schule verbreitete Vor- stellung vom Filmkunstwerk als perfektem Ausdruck eines Künstler-Genies angehen und stattdessen das Verständnis für die Unkontrollierbarkeit und Komplexität der Entscheidungen, die bei der Filmproduktion getroffen werden müssen, wecken22. Im Vordergrund stehen – wie er es in «Quelque chose de flambant neuf» ausführt – die Auffassung vom Kino als «unreiner Kunst», die erst in der Konfrontation mit der Realität entsteht, und das Konzept der «Negativität», mit dem Bergala die subjekti- ven irrationalen, ja destruktiven Anteile des Schaffensaktes zu fassen versucht: Ge- rade diese sind für ihn Ausdruck der persönlichen Handschrift eines Künstlers und dienen ihm zur Abgrenzung des Films als «Kunst» von der konventionellen Massen- «Kommunikation», mit der sich seine frühen Schriften auseinandersetzten. Diesen neuen pädagogischen Ansatz entwickelte und erweiterte Bergala in den folgenden Jahren mit breitgefächerten Aktivitäten: in Lehre, Schriften und Materi- alien. Er versuchte ihn insbesondere im Rahmen des Bildungsprogramms Les arts à l’école von Jack Lang (2000-2002) zu verwirklichen und führte ihn in seiner Schrift Kino als Kunst theoretisch aus: Die Theorie vom Kino (und der Kunst) als Alterität, die sich dem regelgeleiteten Lernen entziehe, einen sinnlichen Zugang zur Welt eröffne und damit alternative Möglichkeiten der ganzheitlichen Persönlichkeits- bildung biete, setzt er darin explizit der vernunftorientierten Ideologiekritik sei- ner frühen Schriften entgegen. Im Folgenden sollen kurz die Schwerpunkte dieses 19 Seit den 1980er Jahren lehrt Bergala (mit Unterbrechungen) an der Universität Paris III. Es folgten später Lehraufträge in Lyon und Rennes. Derzeit ist Bergala Leiter der Abteilung für Filmanalyse an der Pariser Filmhochschule Fémis. 20 Alain Bergala: Le cinema en Jeu. Aix-en-Provence 1992. 21 Alain Bergala: Quelque chose de flambant neuf. In: Les colloques de Cinémémoire. Toulouse 1993, S. 19-30. 22 Der erläuternde Begleittext zu Le cinéma en jeu, lautet programmatisch: «Pour une pédagogie des possibles» (dt. Für eine Pädagogik der Möglichkeiten). Bergala 1992. 16 pauleit_korrektur4.indd 16 06.11.2008 13:19:27 Von der Pädagogik audiovisueller Medien zur Vermittlung des Kinos als Kunstform Vermittlungsansatzes in Bezug auf die seit den 1980er Jahren erschienen Schriften zusammengefasst werden, wobei ich insbesondere das von mir so genannte Prinzip der Subjektivität herausstellen möchte. Mit der Publikation Cet enfant de cinéma (dt. «Dieses Kind des Kinos»), eine Art Umfrage unter 136 Personen zu ihrer ersten Begegnung mit dem Kino und der Bedeutung des Kinos für ihre Kindheit, untersucht Bergala gemeinsam mit Natha- lie Bourgeois das Wechselverhältnis zwischen Kinoerfahrung und Biografie.23 Er selbst beginnt in diesem Rahmen erstmals über seine eigene Kinobiografie nach- zudenken, die Ausgangspunkt für seine späteren Schriften «Éloge de la liste» und Kino als Kunst sein wird24. Insbesondere die Erfahrungsberichte von Cinephilen wie Serge Daney und Philippe Arnaud bilden später die Grundlagen seiner in Kino als Kunst skizzierten Theorie von der persönlichkeitsbildenden Funktion des Kinos. Neben der Persönlichkeit des Künstlers und des Kindes gewinnt auch die Per- sönlichkeit des Lehrers an Profil. Bergala reflektiert den Vermittlungsprozess, das Verhältnis von Lehrer und Schüler auf der Basis einer intersubjektiven Beziehung. Dabei steht das Konzept des «Begehrens» als Motor eines Schaffensprozesses wie eines Vermittlungsprozesses im Zentrum: Das Begehren des Lehrers, der als passeur, seine persönlichen Vorlieben, seinen «Geschmack» einbringt, um eine Weitergabe seiner Erfahrungen und seines Wissens zu ermöglichen. Und das Begehren des Kindes, das Bergala in «Allein das Begehren bildet» als unabdingbare Vorrausset- zung eines echten Lernprozesses, einer disziplinarischen Pädagogik entgegensetzt, die seit der PISA-Studie in Frankreich wieder verstärkt gefordert wird.25 Dieses Prinzip der Subjektivität, das in den späteren Schriften zum Ausgangs- punkt seiner Pädagogik wird, reflektiert Bergala in «Éloge de la liste» insbesondere in Hinblick auf die Filmauswahl: Statt eines scheinbar objektiven Kanons, setzt er darin auf die subjektive Filmliste, Ergebnis eine dezidiert subjektiven Auswahl, die zur Orientierung dient, Wissen und Vorlieben des Auswählenden weitergibt (von passeur ist hier noch nicht die Rede) und so zu einem zentralen Medium der Film- vermittlung wird. Godards «Filmgeschichte(n)» Histoire(s) du cinéma, eine mo- numentale Montage von Filmausschnitten aus dem Korpus der Bewegtbilder, ist Bergalas Inspirationsquelle. Er wird das Prinzip selbst zur Grundlage seiner im Rah- men von Les arts à l’école entwickelten DVD-Kollektion für Schulen machen. Anschließend an seine Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Schaffens- prozess entwirft Bergala zudem eine Ästhetik des Kinos, die er – beispielsweise an- 23 Alain Bergala / Nathalie Bourgeois: Cet enfant de cinéma. Aix-en-Provence 1993. 24 Alain Bergala: Éloge de la liste. In: Allons z‘enfants au cinéma: Une petite anthologie de films pour un jeune public. Paris 2001, S. 8-21. 25 Alain Bergala: Allein das Begehren bildet. In: Ästhetik und Kommunikation, 125 / Juni 2004, S. 21-24.. 17 pauleit_korrektur4.indd 17 06.11.2008 13:19:27 Bettina Henzler hand des Kurzfilmgenres in «Freiheit und Regeln»26 – in dialektischer Abgrenzung von der sog. «Kommunikation», von konventionalisierten Formen der Massen- medien definiert. Zu den bereits Anfang der 1990er Jahre formulierten Aspekten der Negativität und der Realität tritt nun eine politische Dimension der Ästhetik hinzu. So wird der «Widerstand» gegen einfachen Konsum zum zentralen Begriff, um das Wesen der Kunst zu bestimmen. Zugleich verortet Bergala in Anlehnung an eine Debatte in den Cahiers du cinéma das Politische in der ästhetischen Form und folgt damit unter veränderten Vorzeichen dem gesellschaftskritischen Impuls seiner frühen Texte. 2. Medien und Methoden In den pädagogischen Methoden und Medien, die Bergala entwickelt hat, zeigt sich die Verschiebung des Fokusses von den ideologischen Massenmedien zum Kino als Kunst. In den 1970er Jahren erläutert er anhand von Diapositivserien, d.h. von fixen Bildern, die Prinzipien der Montage, die wie er in Initiation à la sémiologie du récit en images formuliert, besonders stark «grammatikalisiert», d.h. besonders stark normativ vorgeprägt und damit als Sprache am besten greifbar27 sei. Dagegen richtet sich in den 1990er Jahren sein Interesse auf die Einstellung, die als «kleinste lebendige Zelle»28 des Films von der Positionierung des Künstlers (und der Kamera) gegenüber der Realität zeugt. Produziert er das Bild- bzw. Filmmaterial für die Dia- serien aber auch für Le cinéma en jeu noch selbst, so arbeitet er in der Serie kurzer Videofilme Le cinéma, une histoire de plans29 und in den DVDs mit konkreten Filmen der Filmgeschichte, die er segmentiert, manipuliert und miteinander in Be- ziehung setzt. Dementsprechend weicht die sorgfältige Didaktisierung der frühen Materialien einer Öffnung sowohl in Hinblick auf größere filmgeschichtliche und kunsthistorische Kontexte als auch auf größere Spielräume im Umgang mit dem Material, die insbesondere das neue Format der DVD erlaubt. 26 Alain Bergala: Freiheit und Regeln. In: Medienkompetenz, 2 / 2007, S. 44-49. (Frz. Fassung: La liberté et le code. In: Cahier des ailes du désir, 9 / 2001, S. 2-5) 27 Bergala verweist in diesem Zusammenhang auf die detaillierten Regelwerke zur Montage, die insbesondere an den technischen Filmhochschulen vermittelt werden. Bergala 1977, S. 37. 28 Bergala 2006, S. 88. 29 Alain Bergala: Le cinéma, une histoire de plans (Zwei Videokassetten). Hrsg: Les enfants de cinema. Paris 1995. 18 pauleit_korrektur4.indd 18 06.11.2008 13:19:27 Von der Pädagogik audiovisueller Medien zur Vermittlung des Kinos als Kunstform 2.1 Die Analyse filmischer Narration anhand von Diapositivserien: Spiel und Anordnung «Damals habe ich ein erstes Instrument zur Annäherung an filmisches Erzählen entwickelt: Diapositivserien. Dass ein solches Werkzeug fehlte, war mir in meiner eigenen Unterrichtspraxis aufgefallen. Und wie sich herausstellte, entsprach es einem allgemeinen Bedürfnis, denn es fand eine weite Verbreitung (…) in ganz Frankreich. Auch heute noch (…) werde ich gelegentlich voller Nostalgie darauf angesprochen.»30 Kino als Kunst Initiation à la sémiologie du récit en images enthält als Unterrichtsmaterial sieben Serien von farbigen Dias mit einer ausführlichen Erläuterung des zugrundelie- genden theoretischen und pädagogischen Konzepts und Hinweisen zur konkre- ten didaktischen Verwendung. Das Prinzip der Diaserie ist einfach: Sie ermöglicht es, verschiedene Varianten des Erzählens in Bildern auszuprobieren und in ihrer Wirkungsweise zu reflektieren. Mit den Diaserien lassen sich einfache Geschichten erzählen, die dem alltäglichen Erfahrungshorizont von Kindern und Jugendlichen entsprechen: ein Konflikt mit den Eltern, ein Diebstahl, ein Unfall, ein Rendezvous usw. Jede Serie ist «offen» konzipiert, d.h. es können verschiedene Reihenfolgen gelegt und dementsprechend kann jede Geschichte unterschiedlich erzählt wer- den. So werden auf spielerische Weise formale Aspekte der filmischen Narration erarbeitet, wobei jede Diaserie eigene Schwerpunkte setzt: wie z.B. Anschlussprin- zipien, Perspektive, Zeitdehnung und -raffung, Aufbau von Spannung, Raumkon- struktion, Figurenkonstellationen usw. Zur besseren Anschaulichkeit möchte ich im Folgenden zwei Diaserien etwas ausführlicher beschreiben. Die Diaserie zum Unfall (ein Fußgänger wird von einem Autofahrer angefah- ren) erlaubt eine Untersuchung der Perspektive bzw. der Fokussierung der Auf- merksamkeit auf verschiedene Figuren. Zu diesem Zweck ist jeder «Moment» der Handlung aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen: Es gibt drei Bilder, die die drei beteiligten Figuren (Fußgänger, Motorradfahrer, Autofahrer) zunächst ein- zeln zeigen. Drei weitere Bilder stellen räumliche Zusammenhänge zwischen den Figuren her, indem sie diese je zu zweit an einer Kreuzung bzw. einem Fußgänger- überweg aufnehmen. Drei Nah- bzw. Detailaufnahmen suggerieren den Moment des Unfalls (schräg und unscharf aufgenommene Autolampe; stehendes Autorad; schreiender, am Boden liegender Fußgänger). Zwei Aufnahmen zeigen das Gesche- hen nach dem Unfall mit allen drei Figuren im Bild (je aus den Perspektiven des Autofahrers und des Motorradfahrers, die einander am Fußgängerüberweg ge- 30 Bergala 2006, S. 20. 19 pauleit_korrektur4.indd 19 06.11.2008 13:19:27 Bettina Henzler genüber stehen, zwischen ihnen liegt der Fußgänger). Zudem gibt es verschiedene Bilder, die nicht eindeutig einem bestimmten Moment der Handlung zugeordnet werden können (je drei Aufnahmen der drei Figuren am Telefonapparat; zwei Bil- der der roten Ampel je aus verschiedener Perspektive; eine Aufnahme eines Zei- tungsausschnitts und eine Großaufnahme des Motorradfahrers). Laut Bergalas Erläuterungen lässt sich die Geschichte anhand des Materials mit verschiedenen Schwerpunkten erzählen und somit die Aufmerksamkeit des Zu- schauers in verschiedene Richtungen lenken: mit Fokus auf eine der beteiligten Figuren (Unfallopfer oder Autofahrer) oder aus der Perspektive des unbeteiligten Beobachters (Motorradfahrer). Auch kann eine ganz andere Interpretation der Ge- schichte nahegelegt werden, indem der Motorradfahrer im «Duell» mit dem Auto- fahrer inszeniert und somit zum Mittäter wird. Zudem lässt sich die Handlung in unterschiedlicher Länge erzählen: Es gibt eine kurze Version, die für jeden Moment nur ein Bild enthält, oder längere Versionen, die Momente (z.B. den Zeitpunkt des Unfalls) durch das Hinzufügen weiterer Bilder (verschiedene Perspektiven, Detail- aufnahmen) verlängert und so Spannung aufbaut. Zudem können Handlungsele- mente hinzugefügt werden, die das Geschehen rahmen und interpretieren. Bilder der Telefonierenden vor dem Unfall würden dem Ereignis das Zufällige nehmen: Sie wären verabredet. Ein Bild des telefonierenden Motorradfahrers nach dem Un- fall, würde suggerieren, dass er die Polizei benachrichtigt. Neben solchen sehr stark fokussierten, symmetrisch konzipierten Anordnun- gen, gibt es auch komplexere Diaserien, in denen das konkrete Geschehen nicht eindeutig vorgegeben ist, sondern durch die Montage erst entsteht. So gibt es eine Diaserie, in der ein Kind eine Treppe hochsteigt, auf einem Speicher spielt, aus dem Bild schaut, horcht, schreit, ein Schatten eine Treppe hochgeht, eine Hand an einer Tür zu sehen ist, das Kind vor einer verschlossenen Tür steht, die Mutter am Bett des Kindes sitzt u.s.w. Je nach Anordnung entsteht daraus eine Traumerzählung: Das Kind hat einen Albtraum, den es der Mutter erzählt. Eine realistische Erzählung: Das Kind schließt sich auf dem Speicher ein, ruft nach der Mutter und wird von ihr befreit. Oder eine Gruselgeschichte: Jemand schließt das Kind im Speicher ein. Mit dieser Serie lässt sich die Manipulation der Emotionen durch Montage veranschau- lichen, beispielsweise wie Spannung oder Angst aus einer Differenz des Wissens von Zuschauer und Figur entsteht: Das Kind spielt ahnungslos, aber der Zuschauer sieht wie ein Schatten die Treppe heraufkommt und eine Hand die Tür schließt. Je nach Kontext wirken bestimmte Aufnahmen (z.B. die Hand an der Tür, das Bild einer Katze) neutral oder bedrohlich: neutral, wenn sie eindeutig einer bekannten Figur zugeordnet werden können; bedrohlich, wenn sie unvermittelt auftauchen. Zudem lässt sich die Dramatisierung des Raumes durch Aufnahmen, die nicht der «normalen» Perspektive entsprechen, erörtern: Wird das Kind schräg von oben oder schräg von unten an der Tür gezeigt, oder aus einer schiefen Perspektive in einer 20 pauleit_korrektur4.indd 20 06.11.2008 13:19:27 Von der Pädagogik audiovisueller Medien zur Vermittlung des Kinos als Kunstform Ecke kauernd, so setzt dies Assoziationen von Angst, Verlorenheit, Bedrohung usw. frei. Anhand dieser Serie können somit insbesondere Aspekte von genretypischen Inszenierungsweisen (v.a. des Horrorgenres) veranschaulicht werden. Bergala begleitet die Diaserien mit ausführlichen Vorschlägen zur pädagogischen Arbeit. Je nach Gruppengröße, Alter der Schüler oder Zielsetzungen des Lehrers bieten sich die verschiedensten Vorgehensweisen an. So können die Schüler selbst in Gruppen verschiedene Montagen realisieren und der Klasse präsentieren, oder der Lehrer gibt mögliche Varianten vor und diskutiert mit den Schülern die unterschiedliche Wir- kung. Die (vergleichende) Analyse kann anhand von Einzelbildern, durch den Aus- tausch von einzelnen Bildern innerhalb einer Sequenz oder die Permutation weniger Bilder erfolgen. Es kann über die Auflösung einer bestimmten vorgegebenen Szene31 oder eines vorgegebenen Drehbuchs diskutiert werden32. Oder es bieten sich intertex- tuelle Methoden an, beispielsweise eine Überführung der Bilderzählung in eine Tex- terzählung, die ein Bewusstsein für die unterschiedlichen Ausdrucksformen schafft. Nicht zuletzt schlägt Bergala auch die kreative Weiterentwicklung der Diaserien durch eine eigene Tonspur (Geräusche, Dialoge, Erzählstimmen aus dem Off, Musik) vor. Mit den Diaserien entwirft Bergala eine gleichermaßen einfache, wie auch sehr flexible Methode, um grundlegende Einsichten über das Erzählen mit Bildern und damit auch über das Kino zu vermitteln. Sie ermöglichen einerseits eine sehr prä- zise Bestimmung bestimmter Mechanismen und bieten zugleich Spielräume für eine vielfältige Nutzung und Weiterentwicklung. Dabei gelten als Grundprinzi- pien: die spielerische Herangehensweise an die Bildanalyse und die weitgehende Eigenständigkeit der Schüler in der Arbeit mit dem Material. Die Didaktik ist so- zusagen im Material selbst angelegt, seine Verwendung ist weitgehend offen. Sie ermöglicht dem Einzelnen durch beliebige Verknüpfungen und Anordnungen, die Wirkungsweise der Bilderzählung zu erproben und dabei einen Eindruck von den Entscheidungen zu gewinnen, die im Produktionsprozess zu treffen sind. Diese Entscheidungen und ihre Wirkungen begreift Bergala dabei – entsprechend sei- nes semiologischen Ansatzes – durch Konventionen der klassischen «Bildsprache» (d.h. des «Unsichtbaren Schnitts») determiniert. Freiräume eröffnet hier nur eine der Bildserien, die aus der narrativen Logik austritt und eine freiere, metaphorische und sinnliche Assoziation formähnlicher Bilder ermöglicht. Das Prinzip des Spiels und der Kombination von Bildern – das Bergala in Ini- tiation à la sémiologie du récit en images in Anlehnung an digitale Hypertextualität beschreibt – nimmt seine spätere Konzeption der DVD als Medium der Filmver- mittlung bereits ansatzweise vorweg: 31 «Auflösung» bezeichnet die Zergliederung einer Szene in Einstellungen. 32 So könnte man beispielsweise für die Unfallsequenz die Aufgabe vorgeben, dass der Unfall vor allem mit dem Fokus auf eine bestimmte Figur erzählt werden soll. 21 pauleit_korrektur4.indd 21 06.11.2008 13:19:28 Bettina Henzler «Die Didaktik manifestiert sich in jeder dieser Bildserien in der Pro- grammierung (im kybernetischen nicht im schulischen Sinne) einer bestimmten Anzahl von Verbindungen, von Kombinationen, von Per- mutationen; in einigen privilegierten Nutzungsstrategien in Hinblick auf präzise und eingegrenzte Ziele. Aber diese Programmierungen sind immer vielfältig (…) und offen für andere Strategien, andere Monta- gen, andere Nutzungsmöglichkeiten.»33 In diesem Sinne kann das Konzept der Diaserien, auch wenn diese hier und heute nicht mehr verfügbar sind, weitergedacht und -genutzt werden: Beispielsweise in- dem man Serien von Filmstills aus realen Filmsequenzen (die sich mittlerweile sehr einfach an jedem personal computer erstellen lassen) zum Spiel und zur Manipula- tion «frei gibt». Allerdings ist es in diesem Fall wichtig, möglichst offen angelegte Filmsequenzen zu nutzen bzw. eine mehrdeutige Auswahl an Filmstills zu treffen, die nicht zu eindeutig die «eine richtige» Handlung vorgeben. Eine andere Mög- lichkeit, die mehr Spielräume in der Gestaltung bietet, besteht darin, entsprechen- de Fotoserien gemeinsam mit Schülern zu produzieren und anhand des Spiels mit den Bildsequenzen die eigenen Entscheidungen zu reflektieren. 2.2 Spielerisch den Prozess der Filmmontage nachvollziehen: «Für eine Pädagogik der Möglichkeiten»34 Diese Pädagogik der Möglichkeiten, die vor allem auf einem Spiel mit verschiedenen Varianten der Verknüpfung von Bildern beruht, wird von Bergala 1992 in dem Unter- richtsmaterial Le cinéma en jeu (dt. «Das Kino im Spiel») aufgegriffen und weiterent- wickelt. Dabei stehen allerdings nicht wie bei den Diaserien die Bedeutungsproduktion durch Montage im Vordergrund, d.h. vor allem die Wirkung und Rezeption der Bilder- zählung; sondern der künstlerische Prozess der Montage, d.h. die filmische Produktion. Dementsprechend wird nicht mit fixen Bildern, sondern mit Filmaufnahmen gearbeitet: Le cinéma en jeu, das im Internet frei zugänglich ist35, stellt Rohaufnah- 33 «Programme» bezeichnet im Französischen gleichermaßen den Lehrplan wie das Compu- terprogramm: «Le lieu du didactisme, dans chacune de ces séries d’images est dans la pro- grammation (au sens cybernétique et non scolaire) d’un certain nombre d’articulations, de combinaisons, de permutations, dans quelques tactiques d’utilisation privilégiees par rapport à des objectifs précis et partiels. Mais ces programmes sont toujours multiples (…) et toujours ouverts à d’autres tactiques, à d’autres montages, à d’autres utilisations.» Bergala 1977, S. 80. 34 Der Titel des erläuterten Begleitmaterials lautet «Pour une pédagogie des possibles» (dt. «Für eine Pädagogik der Möglichkeiten»). «Possible» bezeichnet im Französischen «das Mögliche» und ist auch im Plural unbestimmter als die hier gewählte deutsche Übersetzung «Möglichkeiten»: Das Wort legt nicht nur die Idee von (festgelegten) Alternativen – wie sie in den Diaserien vorgegeben sind – , sondern einer grundlegenden Offenheit des Schaffensprozesses nahe. Bergala 1992. 35 Das Unterrichtsmaterial kann auf der Seite http://ecole-des-images.scola.ac-paris.fr/ (25.08.2008) heruntergeladen werden. 22 pauleit_korrektur4.indd 22 06.11.2008 13:19:28 Von der Pädagogik audiovisueller Medien zur Vermittlung des Kinos als Kunstform men eines kompletten Films zur Verfügung, den Bergala mit Laiendarstellern und Filmstudenten gedreht hat. Anhand dieser Rohaufnahmen, die dem beigefügten Drehbuch entsprechend in Szenen untergliedert sind, soll im Unterricht der Prozess der Montage nachvollzogen werden. Je nach technischen Möglichkeiten, Gruppen- größe und Lernziel kann dies entweder durch eine vergleichende Analyse verschie- dener bereits montierter Versionen einer Szene (die ebenfalls beigefügt sind) gesche- hen. Oder die Lehrer bzw. Schüler schneiden die Rohaufnahmen selbst zu einer oder mehrerer Varianten einer Szene und diskutieren gemeinsam ihre Entscheidungen. Um das Bewusstsein für die Bedingungen und Möglichkeiten des Schaffensprozes- ses zu schärfen, hat Bergala jeder Szene neben dem Drehbuch auch Produktionsnotizen hinzugefügt. Sie kommentieren das Material, sie reflektieren die Auflösung, begrün- den die getroffenen Entscheidungen und verweisen auf besondere Drehbedingungen: Beispielsweise wenn es Schwierigkeiten bei der Beleuchtung gab und daher manche Aufnahmen unbrauchbar geworden sind; wenn die Dialoge vom Drehbuch abweichen oder wenn die Arbeit mit einem Kind als Darsteller hörbare Regieanweisungen aus dem Off erforderlich macht. Auch die «missglückten» Aufnahmen werden bereitge- stellt, damit eine möglichst genaue Simulation des «realen» Filmschnitts möglich ist. Dabei sollen die zur Verfügung gestellten Aufnahmen die Schüler nicht nur möglichst authentisch in die Situation am Schneidetisch versetzen, sondern ihnen auch eine konzeptionelle Arbeit abverlangen, die normalerweise vor oder beim Drehen stattfindet, wenn über die Auflösung der Szenen entschieden wird. Zu die- sem Zweck stellt Bergala mehr Aufnahmen zur Verfügung, als es bei einem realen Produktionsprozess üblich wäre: Verschiedene Möglichkeiten eine Szene in Ein- stellungen zu zergliedern und die daraus resultierenden unterschiedlichen Erzähl- Perspektiven können damit erprobt und vergegenwärtigt werden. Das didaktische Begleitmaterial ist sehr knapp gehalten und beschränkt sich im Wesentlichen auf eine theoretische Einführung sowie auf allgemeine Hinweise, in welchen Schritten und mit welchen Aufgabenstellungen der Prozess des Schnitts (bis hin zur Vertonung) im Unterricht vollzogen werden kann. Detaillierte Analy- sen einzelner Montage-Varianten gibt es nicht. Gemäß seiner Überzeugung, dass es niemals den einzig möglichen, «perfekten» Film geben kann, verzichtet Bergala auf eine beispielhafte Montage des ganzen Films und bietet somit größtmöglichen Freiraum für eine individuelle Nutzung und Gestaltung. Mit der Wahl der inhaltlichen Motive (Schule, Liebe, Schwangerschaft, Diebstahl), der Figuren/Schauspieler (Jugendliche), des Dekors (Alltag) und der technischen Mit- tel (die sich an den reduzierten Möglichkeiten orientieren, die Jugendlichen beim Dre- hen selbst zur Verfügung stehen) möchte Bergala eine größtmögliche Nähe zu den Ju- gendlichen herstellen und diese emotional ansprechen. Ob die reduzierte Ästhetik, die nicht den besonderen Reiz von selbst gedrehtem Material, wohl aber dessen Mängel hat, tatsächlich zu einer solch umfangreichen Arbeit einlädt, sei jedoch dahingestellt. 23 pauleit_korrektur4.indd 23 06.11.2008 13:19:28 Bettina Henzler 2.3 Filmhefte aus der Perspektive eines Autors: Die Subjektivität des Vermittlungsstandpunktes Im Zuge seiner Hinwendung zum Kino als Kunstwerk und zum künstlerischen Schaf- fensprozess konzentriert sich Bergalas pädagogische Arbeit seit den 1990er Jahren auf «real existierende» Filmkunstwerke. So ist er beispielsweise an der Konzeption der Filmhefte für das französische Grundschulprogramm École et cinéma beteiligt, das sich insbesondere durch die hohe Qualität der Filmauswahl auszeichnet36. Auffallend – im Unterschied zu der Mehrzahl der Filmhefte, die in Deutschland produziert werden37 – ist zunächst, dass der persönliche Standpunkt eines Autors im Zentrum dieser Filmhefte steht: Weder die Sammlung scheinbar objektiver Fakten, noch eine Didaktisierung des Gegenstandes, sondern vielmehr die subjektive Analy- se eines Filmwissenschaftlers oder Kritikers – darunter in Frankreich sehr bekannte Autoren wie Jacques Aumont oder Jean Douchet – bietet den Zugang zum Film. Dieses Konzept verweist auf die aus dem Umfeld der französischen Filmkritik stammende, von Bergala für die Pädagogik entlehnte Figur des passeurs als Ver- mittler. Wissen über Film – dieser Gedanke scheint dahinter zu stehen – ist nicht objektiv vermittelbar, das Sprechen und Schreiben über Film kann nur aus einer Resonanz zwischen dem Werk und seinem Rezipienten entstehen. Jede Filmlektüre ist subjektiv und muss als solche auch weitergegeben werden. Vermittlung an sich basiert nicht auf der Weitergabe von objektivierbarem Wissen, sondern auf dem persönlichen Bezug, den der passeur und das Kind / der Lernende zum Gegenstand, aber auch zueinander herstellen können. So verweist Bergala beispielsweise in dem von ihm selbst verfassten Filmheft zu Moonfleet (Das Schloss im Schatten, Fritz Lang, USA 1955) explizit auf die zentrale Rolle, die der Film für ihn und seine Generation der in den 40er Jahren geborenen «vaterlosen» Cinéphilen spielte, um unter anderem das Motiv der Vatersuche in diesem Film zu thematisieren. Weiterhin bemerkenswert ist der Einstieg über werkbiografische und filmge- schichtliche Kontexte und über den Produktionsprozess. Der einzelne Film wird somit direkt in seiner Beziehung zu anderen Filmen und von den Bedingungen seiner Entstehung her gedacht. Zwar ist dieser Teil in manchen Heften sehr knapp und reduziert auf einige interessante Hintergrundinformationen. Er kann aber – wie Bergala es in seinem Filmheft zu Ponette (Jacques Doillon, F 1996) exempla- risch vorführt – auch für eine ausführliche Analyse des Schaffensprozesses genutzt werden: Bergala geht darin auf die besonderen Bedingungen beim Drehen mit der vierjährigen Hauptdarstellerin ein und begründet aus diesem Produktionsprozess die Einzigartigkeit des Filmes. Schließlich wird über die Filmgeschichte hinaus auch 36 Vgl. die Darstellung des Projektes durch seinen Leiter Eugène Andréanszky in diesem Band. 37 Zu einem Vergleich französischer und deutscher Filmhefte, siehe Bettina Henzler: Plaidoyer für eine filmspezifische Pädagogik. In: Buckower Mediengespräche, 10/2006, S. 149-158. 24 pauleit_korrektur4.indd 24 06.11.2008 13:19:28 Von der Pädagogik audiovisueller Medien zur Vermittlung des Kinos als Kunstform der kunsthistorische Kontext eröffnet. So enthält jedes Filmheft ein Bild (Foto, Ge- mälde, Filmstill), das sich zu einem Vergleich mit dem Film anbietet. Die Fokussierung auf einen subjektiven Standpunkt verbunden mit der Eröff- nung größerer biographischer, historischer oder kunstgeschichtlicher Kontexte ist geeignet, ein tieferes Verständnis für die Besonderheit und das Potential des je- weiligen Filmes zu wecken. Dies erscheint als unabdingbare Voraussetzung für die pädagogische Arbeit, auch mit kleinen Kindern.38 2.4 LE CINÉMA, UNE HISTOIRE DE PLANS: Die Arbeit am Ausschnitt Mit Les enfants du cinéma produzierte Bergala 1995 zudem zwei Videokassetten Le cinéma, une histoire de plans (dt. «Das Kino, eine Geschichte der Einstellun- gen») und beginnt damit auch den Videofilm als Medium der schulischen Film- vermittlung zu nutzen. Nach der früheren Auseinandersetzung mit der Montage als Grundelement des filmischen Erzählens rückt Bergala nun die Arbeit am Aus- schnitt, an der ungeschnittenen Einstellung ins Zentrum seiner Pädagogik. Er wird dies in Kino als Kunst später ausführlich begründen, sowohl in Hinblick auf den pädagogischen Nutzen, als auch auf seine ästhetische Auffassung. Zwar begrenztes, überschaubares Material, eröffnet die Einstellung doch auch das, was Bergala als wesentlich für das filmische Schaffen begreift: Sie ist ein historisches Zeugnis, Aus- druck einer persönlichen Handschrift und einer epochenspezifischen Ästhetik. An ihr lassen sich – so formuliert er es in Kino als Kunst – sowohl die «Parameter» der Filmsprache beobachten, als auch der Schaffensprozess nachvollziehen39. In einer simulierten Schneidetischsituation werden ausgewählte Einstellungen der Filmgeschichte40 manipuliert (d.h. angehalten, vor- oder zurückgespult, ver- langsamt oder beschleunigt) und von zwei Stimmen im Dialog kommentiert. Die Dialoge wurden von Bergala verfasst und von bekannten französischen Schauspie- lern (aus dem Umfeld der Nouvelle Vague) gesprochen. Sie «spielen» zwei Personen, die sich einen Filmausschnitt ansehen, sprechen über das, was sie (und mit ihnen die Zuschauer) sehen und über die Assoziationen, die das in ihnen weckt. Wie bei- läufig fließen dabei Betrachtungen und Wissen über die Produktionsbedingungen, 38 Neben den bereits genannten hat Bergala folgende Filmhefte selbst verfasst: Où est la mai- son de mon ami (zu Wo ist das Haus meines Freundes?, Abbas Kiarostami, Iran 1987), L’Argent de poche (zu Taschengeld, François Truffaut, F 1976), Le Voleur de bicyclette (zu Fahraraddiebe, Vittorio de Sica, I 1948, mit Co-Autorin Nathalie Bourgeois) und Young and Innocent (zu Jung und unschuldig, Alfred Hitchcock, USA 1937). 39 Siehe dazu auch Bergalas Text «Lob des Ausschnitts». In: Bergala 2006, S.84-89. 40 Unter anderem Fahrraddiebe (Vittorio de Sica, I 1948), La règle du jeu (Die Spielregel, Jean Renoir, F 1939), Vivre sa vie (Die Geschichte der Nana S., Jean-Luc Godard, F 1962), Le passager (Mosafer, Abbas Kiarostami, Iran 1974), Peau d’âne (Eselshaut, Jacques Demy, F 1979). 25 pauleit_korrektur4.indd 25 06.11.2008 13:19:28 Bettina Henzler die spezifische Ästhetik, über filmgeschichtliche oder historische Zusammenhänge ein, wie Michael Baute und Volker Pantenburg es sehr treffend beschreiben: «Man scheint es mit einer ganz unangestrengten Plauderei zu tun zu haben, jeder Didaktik unverdächtig. Flanierende, durch das Bild streu- nende Beobachtungen, wechseln sich ab mit überraschenden Ableitun- gen zum Kino. In der Folge zu Tatis Les vacances de M. Hulot etwa führt eine Beobachtung zu den Möglichkeiten von On- und Off in Bild und Ton überraschend zu Anmerkungen über die gesellschaftliche Be- schaffenheit Frankreichs in den 50er Jahren.»41 Der Dialog wird hier zum Prinzip der Filmvermittlung. Er tritt an die Stelle der scheinbar objektiven wissenden Stimme, die laut Bergala die französische Filmpäda- gogik, insbesondere die Filmanalysen auf Videokassetten, lange Zeit dominiert hat42. Der Dialog bricht die (vom Material bedingte) Lineartät des Wissensdiskurses und die Hierarchie zwischen der Wissen vermittelnden Autorität und dem passiven ler- nenden Zuschauer. Zwar wird en passant auch weitreichendes Wissen vermittelt, aber im Zentrum steht der Prozess der Wahrnehmung selbst. Er wird nicht nur inszeniert und vorgeführt, sondern zugleich auch im Zuschauer initiiert. Der Dialog zwischen zwei scheinbar gleichberechtigten Gesprächspartnern macht den Zuschauer zum be- teiligten Dritten, er ist eingeladen selbst mitzusehen und mitzudenken. Ganz im Sinne der intersubjektiven Vermittlung durch den passeur ist Le ciné- ma, une histoire des plans eine Inszenierung des Lernprozesses im Dialog mit Anderen: Das «Unterrichtsmaterial» wird zum Kunstwerk, der Schauspieler zum Vermittler, der Pädagoge zum Autor.43 2.5 DVD als Hyper-Medium der Vermittlung: Beziehungen knüpfen In seiner kontinuierlichen Suche nach alternativen pädagogischen Methoden, die einen linearen und autoritären Wissensdiskurs durchbrechen und «nichtdidak- tisch» funktionieren, findet Bergala in der DVD ein ideales Medium («l’outil parfait et absolu») der Vermittlung44. Die DVD ermöglicht (schnell und leicht) die hyper- textuelle Verknüpfung von Bildern und Filmausschnitten, die «Programmierung», die Bergala interessanterweise bereits in den 1970er Jahren im Zusammenhang mit 41 Michael Baute / Volker Pantenburg: Look at the way he rides with his legs streched up! Zum Filmvermittelnden Film. In: Kolik film, 8/2007, S. 7-15. Siehe auch die ausführliche Beschrei- bung der Stummfilmanalysen von Bergala durch Stefanie Schlüter (www.kunst-der-vermitt- lung.de, 26.08.2008). 42 Bergala 2006, S. 82. 43 Mit Le cinéma, une histoire de plans befasst sich auch der Beitrag von Baute / Pantenburg in diesem Band. 44 Vgl. Alain Bergala: Éloge des morceaux choisis. In: Cahiers du cinéma, Dezember 2003, S.74. 26 pauleit_korrektur4.indd 26 06.11.2008 13:19:29 Von der Pädagogik audiovisueller Medien zur Vermittlung des Kinos als Kunstform den Diaserien zum pädagogischen Prinzip erklärt hatte. Das Grundprinzip der Verknüpfung entspricht der von Bergala wiederholt formulierten Auffassung von Lernen und Wahrnehmen als nichtlineare, offene Prozesse, die individuell unter- schiedliche Wege einschlagen45. Bergala beschreibt in einem Interview sehr anschaulich, wie der Prozess der Rezeption von Filmen über das Prinzip der Verknüpfung funktioniert, des «In- Beziehung-Setzens» mit anderen, bereits bekannten Bildern und Filmen: «Ich war schon immer davon überzeugt, dass (…) das Schauen eines Films kulturell bedingt ist, dass es sich nie um ein Tête-à-tête zwischen einem Subjekt und einem Objekt handelt, sondern dass das Subjekt, das die Einstellungen des Films an sich vorüberziehen lässt, dies mit seinem kulturellen Gedächtnisses tut, und dass eine Einstellung das Phantom einer anderen Einstellung hervorruft, die es gut kennt und die aus ei- nem vollkommen anderen Kino-Kontext stammt […].»46 Umgekehrt begreift Bergala – wie er in Kino als Kunst ausführt – das Knüpfen von Verbindungen selbst als Ausgangspunkt für das Denken, er spricht von «denken- den», «zum Nachdenken über das Kino anregenden Beziehungen»47. Das Potential der DVD, Verbindungen zwischen Filmausschnitten und Bildern herzustellen und dadurch Ideen zu konstruieren, Denk- und Lernprozesse hervorzurufen, beschreibt er in dem Aufsatz «Éloge des morceaux choisis» dann konsequenterweise als spe- zifisch filmisches Prinzip: als Montage. Damit reiht er die DVD in eine Tradition «filmischer Reflexion» ein, die mit Eisensteins Montagetheorie Anfang des vergan- genen Jahrhunderts ihren Ausgang nahm und zu der später auch der von Bergala geschätzte Jean-Luc Godard wesentlich beitrug. Mit der im Auftrag des Bildungsministeriums herausgegebenen DVD-Kollek- tion für Schulen Eden cinéma konnte Bergala diese theoretischen Überlegungen in die Praxis umsetzten. Bereits die erste 2001 erschienene DVD Petit à petit, le cinéma basierte auf dem Prinzip der Verknüpfung. Unter der Leitung von Bergala wurde sie von Nathalie Bourgeois, der Leiterin der Pädagogikabteilung der Cinémathèque Française, konzipiert48. Die DVD enthält ca. 40 kurze Filme und Filmausschnitte aller 45 Vgl. Initiation à la sémiologie du récit en images, S. 6; Kino als Kunst, S. 84. 46 «[…] la traversée du film, elle est toujours culturelle, ce n’est jamais un face-à-face entre un sujet et un objet, c’est clair que quand le sujet traverse les plans du film, il les traverse avec toute sa mémoire culturelle et quand il arrive sur un plan, c’est clair qu’il y a le phantome d’un autre plan qu’il connaît bien qui arrive d’un tout autre cinéma [...]» (Interview mit Bergala auf http://web.iri.centrepompidou.fr/pop_site.html, 27.08.2008) 47 Vgl. Bergala 2006, S. 83. 48 Die DVDs können unter www.artsculture.education.fr/cinema bestellt werden. Insbesondere Petit à petit, le cinéma eignet sich auch für nicht französischsprachige Nutzer, da die Mehrzahl der Filme weitgehend ohne Dialoge sind. 27 pauleit_korrektur4.indd 27 06.11.2008 13:19:29 Bettina Henzler Genres und filmgeschichtlichen Epo- chen, die sich gerade in der Arbeit mit kleinen Kindern als besonders geeignet erwiesen haben: von wissenschaftlichen Chronophotographien Etienne-Jules Mareys und Stummfilmen der Gebrü- der Lumière aus der Frühzeit des Kinos, über experimentelle Filme von Len Lye oder Jonas Mekas, dokumentarische Ar- beiten wie Indien, Mutter Erde von Roberto Rosselini oder The Seasons von Arthur Pelechian, Hollywood- spielfilme wie King Kong von Cooper und Schoedsack, Zeichentrickfilme aus Tschechien oder Russland bis hin zu Filmen von Schülern, die im Rahmen des Filmprojektes Le cinéma, cent ans de jeunesse der Cinémathèque Française entstanden sind49. Die DVD stellt diese Filmausschnit- te einzeln zur Sichtung bereit, bietet motivische Gruppierungen an (Trick- filme, Zirkusfilme, Musik, Gefilmte Tiere, Andere Welten) und schlägt zu- dem eine Reihe von Verknüpfungen der Film(ausschnitt)e unter bestimmten the- matischen oder formalen Gesichtspunk- ten vor. Die motivischen Verknüpfungen Abb. 1–3: Verlangsamen und Beschleunigen reichen von Figurendarstellungen (Dar- – Sequenz von Filmausschnitten ... stellung von Pferden, Affen, Katzen, Jon- gleuren usw.), über Orte (im Wasser, im Marionettentheater), Bewegungsformen (Fallen, Laufen, Tanzen) bis hin zu Handlungsmotiven (Begegnungen). Die Verknüp- 49 Um einige der Filme auf Le cinéma, petit à petit zu nennen: Indien, Mutter Erde (Roberto Rossellini, I 1959), Le cirque de Calder (Carlos Vilardebo, F 1961), Zum Beispiel Baltha- sar (Robert Bresson, F 1966), Chronophotographien (Etienne-Jules Marey, F 1890), Hedg- hog in the Fog (Yuri Norstein, UDSSR 1975), Der Zirkus (Charlie Chaplin, USA 1829), The Incredible Shrinking Man (Die unglaubliche Geschicht des Mr. C., Jack Arnold, USA 1957), The Seasons (Arthur Pelechan, UDSSR 1975), Rainbow Dance (Len Lye, USA 1936), Notes on the Circus (Jonas Mekas, USA 1966), King Kong (Merian C. Cooper / Ernest B. Schoedsack, USA 1932/3). 28 pauleit_korrektur4.indd 28 06.11.2008 13:19:32 Von der Pädagogik audiovisueller Medien zur Vermittlung des Kinos als Kunstform fungen unter formalen Gesichtspunkten erlauben auf Basis einfacher, alltäglicher Begriffe die Analyse von Grundprinzipi- en der Filmästhetik: beispielsweise Ka- merabewegungen in «Caméra fixe ou en mouvement» (dt. «Fixe oder bewegte Ka- mera»), Perspektive in «Vu d’en haut/vu d’en bas» (dt. «Von oben gesehen / von unten gesehen»), Zeitmanipulation in «Ralentir, accélérer» (dt. «Verlangsamen, beschleunigen») oder Montage, Zerstü- ckelung von Raum und Zeit und Kad- rierung in «Morceaux» (dt. «Stücke»). Ergänzt wird der Filmkorpus durch ein Portefolio aus Bildern, Fotografien und Gemälden, die Verwandtschaften auf- weisen und ebenfalls in Beziehung zu den Filmausschnitten gesetzt werden können. Die Didaktik liegt bei dieser DVD nicht in der direkten Vermittlung von Informationen und Wissen, sondern in einer sorgfältigen Auswahl von Film- ausschnitten und in ihrer Anordnung50. Dies entspricht Bergalas Vorstellung von der Rolle des passeurs, der langsame Lernprozesse zwar nicht «übersprin- gen», aber beschleunigen kann, indem er für die Lernenden Verbindungen herstellt, die eine langjährige und um- fangreiche Beschäftigung mit Filmen voraussetzen51. Den Nutzern der DVD – ob Lehrern oder Schülern –, steht im Abb. 4–6: ... aus Le cinéma, petit à petit. Rahmen dieser Auswahl eine flexible Handhabung offen. Sie können die vorgeschlagenen Verkettungen unter den ge- nannten Aspekten untersuchen, sie können aber auch eigene Verknüpfungen her- 50 Vgl. Bergalas Konzept des künstlerischen Schaffensprozesses als Auswahl / Anordnung / An- satz in Kino als Kunst. Bergala 2006, S. 95. 51 Bergala 2006, S. 39f. 29 pauleit_korrektur4.indd 29 06.11.2008 13:19:36 Bettina Henzler stellen, frei zwischen den verschiedenen Ausschnitten und Bildern schweifen oder in einem weiteren Schritt eigene Film(ausschnitt)e und Bilder hinzufügen. Dass dieser Ansatz auch für Personen funktioniert, die kein oder nur ein be- grenztes Vorwissen in Filmgeschichte und -analyse mitbringen, zeigte sich im Rah- men eines Seminars zur Einführung in die Filmanalyse (Universität Bremen, Som- mersemster 2008). Allein durch die genaue Beobachtung und den Vergleich der Filmausschnitte gewannen die Studierenden ein Verständnis von filmischer Narra- tion und Ästhetik, obwohl ihnen selbst grundlegende Fachbegriffe wie Einstellung oder Zeitlupe zuvor noch weitgehend unbekannt waren. Diese Begriffe und Kon- zepte ließen sich anhand der Filmausschnitte anschaulich erarbeiten. Wenn man beispielsweise die langsam, zu wissenschaftlichen Zwecken sezierten Bewegungen von Pferden in Mareys Chronophotographien, mit der poetischen Verlangsamung der Bilder von Hirten, die mit ihren Schafen endlose weiße Berghänge hinabrut- schen, in The Seasons und den fröhlichen, springenden Bildstillständen in Len Lyes Rainbowdance miteinander vergleicht, wird intuitiv deutlich, welcher große Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten allein durch die Verlangsamung von Bildern im Kino zur Verfügung steht (vgl. Abb. 1–6). Mit der DVD als Medium hat Bergala Unterrichtsmaterial konzipiert, dass das Denken direkt aus der Anschauung heraus freisetzt, es entsteht unmittelbar aus der sinnlichen, ästhetischen Erfahrung. Eine Weiterentwicklung dieses Konzepts in Hinblick auf komplexere filmäs- thetische Fragestellungen, hat Bergala kürzlich in der DVD Le point de vue zur Perspektive im Kino vorgelegt. Die Auseinandersetzung mit der Erzählperspektive und Zuschauerhaltung in seinen frühen Schriften wird hier zusammengeführt mit seinen Überlegungen zum filmischen Schaffensprozess: Die Perspektive52 stellt für Bergala in der theoretischen Auseinandersetzung eine Schnittstelle zwischen Zu- schauer-Werk-Autor dar. Für ältere Schüler und Studenten konzipiert, besteht die DVD wie Petit à petit, le cinéma aus einer Sammlung von ca. 40 Filmausschnitten quer durch die Filmgeschichte. Diese Ausschnitte sind nach einem sehr komple- xen, ausdifferenzierten System von unterschiedlichen Aspekten und Kategorien der Perspektive verknüpft, die in einem beiliegenden Heft kurz erläutert werden. Beispielsweise sind dem Überbegriff «Permutabilité du Point de Vue» (dt. «Aus- tauschbarkeit der Perspektive») drei Verkettungen zum Schuss-Gegenschuss-Prinzip zugeordnet: der Schuss-Gegenschuss zwischen zwei einander gegenüber positionier- ten Personen, der Schuss-Gegenschuss zwischen zwei nebeneinander stehenden Per- sonen und der Schuss-Gegenschuss ohne zweite Person (d.h. Vögel oder Räume neh- men die Position der zweiten Person ein). Diese Anordnung ermöglicht zu verstehen, dass es nicht nur eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt, den Schuss-Gegenschuss in 52 Der französische Begriff für Perspektive lautet le point de vue, d.h. wörtlich der Stand- bzw. Blickpunkt, womit sowohl der konkreten Kamerastandpunkt als auch die Erzählhaltung asso- ziiert wird. 30 pauleit_korrektur4.indd 30 06.11.2008 13:19:36 Von der Pädagogik audiovisueller Medien zur Vermittlung des Kinos als Kunstform Hinblick auf verschiedene Figuren-Konstellationen, räumliche Anordnungen und Wirkungen einzusetzen. Sie vermittelt auch, dass die Konvention des Schuss-Gegen- schuss verwendet werden kann, um Räume oder Tiere als ein (bedrohliches) Gegen- über zu inszenieren. Solche die Mikroerzählebene betreffenden Verkettungen werden allgemeinen, grundlegenden Fragestellungen zugeordnet, wie beispielsweise dem Verhältnis von optischer und psychischer Perspektive, der Ton-Perspektive53 oder der Erzählhaltung innerhalb von Szenen bzw. in Bezug auf die Narration als Ganzes. Die DVD Le point de vue ist damit nichts weniger als der Entwurf einer Theorie der Perspektive im Kino, die unmittelbar am Material selbst ansetzt. Zwar werden – wie in jeder wissenschaftlichen Arbeit – Begriffe gesetzt, aber diese Begriffe konkretisie- ren sich erst in der Verknüpfung und der individuellen Anschauung des Materials. Sie werden nicht primär durch Sprache und Texte definiert, sondern durch das Medium des Films selbst. Damit wird die zwangsläufige Problematik der «Reduktion» eines Bil- des durch seine Transformation in Sprache umgangen: Der Filmausschnitt wird nicht beschrieben (und damit gedeutet), sondern er «spricht» für sich. Es ist der einzelne Nutzer, der seine individuelle Deutung aus der Anschauung generiert, die Begriffe für sich mit Leben füllen muss. Sein Verständnis ist nicht mehr von dem sprachlichen Niveau eines Textes abhängig: Schon ein kleines Kind kann eine Vorstellung vom Prin- zip des Schuss-Gegenschuss entwickeln, selbst wenn es das Wort noch nicht kennt. Allerdings bedarf es dabei vermutlich einer Vermittlung durch den Lehrer, der je nach Lerngruppe die geeigneten Verknüpfungen wählt und die Besprechung im Unterricht lenkt. Gerade weil die DVD von der Beobachtung des Einzelnen ausgeht und damit dem individuellen Auffassungsvermögen Raum gibt, ist sie geeignet auch in komplexe Zusammenhänge einen Einblick zu gewähren – sie zu vermitteln. Über diese spezifische neuartige Nutzung der Hypertextualität hinaus, dienen die mittlerweile 25 DVDs der Reihe Eden cinéma auch dazu, eine Vielzahl von un- terschiedlichen Formaten zu integrieren. So ist die Mehrzahl einzelnen Filmen oder Filmgenres (z.B. Dokumentarfilm, Kurzfilm, Animationsfilm) gewidmet und mit Bonusmaterialien ausgestattet, die das Potential der DVD ausschöpfen: Sie reichen von interaktiven Spielen, über Interviews mit Filmschaffenden, historisches Mate- rial (z.B. filmvermittelnde Filme, die für Video und Fernsehen produziert wurden), Analysefilme, die historische, kunsthistorische oder filmgeschichtliche Kontexte eröffnen, bis hin zu Kurzfilmen oder Filmausschnitten, die sich zum Vergleich an- bieten sowie dem jeder DVD beigefügten Portefolio an Bildern. Die Vielfalt der Bonusmaterialien ist sicherlich auch den verschiedenen Autoren zu verdanken, denen Bergala die Konzeption der DVDs anvertraut. Die Grundprinzipien seiner Pädagogik stellen dabei die Eckpfeiler dar: die Arbeit am Ausschnitt, das Herstellen von Verbindungen zwischen Filmen und Bildern und das Interesse für den Schaf- 53 Im Französischen wird auch die Positionierung des Mikrofons wie die Positionierung der Ka- mera unter dem Aspekt der Perspektive, des «Standpunktes» gedacht. 31 pauleit_korrektur4.indd 31 06.11.2008 13:19:36 Bettina Henzler fensprozess. So unterscheiden sich die Interviews mit den Regisseuren beispiels- weise von gängigen DVD-Bonusmaterialien dadurch, dass es keine oberflächlichen Anekdotensammlungen sind, sondern dass sie vielmehr differenziert den Produk- tionsprozesses thematisieren54. Die Bonusmaterialien haben nicht illustrativen Charakter, sondern eine ausgeprägte analytische Qualität, was die DVDs auch au- ßerhalb des schulischen Kontextes zu einer bereichernden «Lektüre» macht. Dieser Überblick über die von Bergala konzipierten filmvermittelnden Medien und Methoden ermöglichte es, die Entwicklung seines film- bzw. medienpädagogischen Ansatzes nachvollziehen. Er führt von der ideologiekritischen Auseinandersetzung mit den Konventionen der Bilderzählung bis zur cinephilen Analyse von Einstel- lungen herausragender Filmwerke der Geschichte. Dies entspricht dem Perspektiv- wechsel in seinen Schriften: von der semiologischen zur cinephilen Phase. Zudem hat die vergleichende Analyse ergeben, dass es wesentliche Gemeinsam- keiten in Bergalas pädagogischen Konzepten gibt. Hand in Hand mit der – vor allem in seinen Schriften manifesten – Gesellschaftskritik geht die Suche nach einer pädagogischen Alternative zu einem linearen, autoritären und scheinbar objekti- ven Wissensdiskurs, der nur «richtig» und «falsch» gelten lässt. Die Überzeugung, dass Lernprozesse offen, suchend und individuell verlaufen, dass sie nicht linear, sondern eher zirkular gestaltet sind, ist grundlegend für Bergalas pädagogische Konzepte und Methoden. Die von ihm entwickelte Strategie ist dabei eine doppelte. Einerseits folgt er dem Prinzip der Hypertextualität, d.h. dem Verknüpfen von Fragmenten (Bildern oder Filmausschnitten), das dem Nutzer eine unmittelbare Arbeit mit dem Material erlaubt und größtmögliche individuelle Freiräume im Lernprozess ermöglicht: Sei es im Spiel mit Anordnungen bei den Diapositivserien, in der Reflexion der Entscheidungsmög- lichkeiten bei Le cinéma en jeu oder in der freien Kombination der Filmausschnitte auf den DVDs. Andererseits stellt Bergala die Objektivität des Wissens auch durch eine Betonung der Subjektivität der Wahrnehmung und der Erfahrung in Frage. Dies geschieht indirekt, indem er die Auswahl der Filmausschnitte durch einen passeur zum Grundprinzip seiner DVDs macht. Und es ist offensichtlich, wenn in den Filmheften die Subjektivität der Filmrezeption betont wird und wenn in den filmvermittelnden Filmen der suchende Dialog die eine wissende Stimme ablöst. 54 Um einige Beispiele zu nennen: Die DVD zu Moonfleet enthält eine Sequenzanalyse von Bergala, für die DVD Mes petites amoureuses vergleicht Anne Huet verschiedene Filmausschnitte zu dem Motiv Geld und Bergala stellt via Splitscreen Verbindungen zwischen Mes petites amoureuses (Meine kleinen Geliebten, Jean Eustache, F 1974) und Pickpocket (Robert Bresson, F 1959) her. Die DVD zum Animationsfilm enthält ein Spiel, in dem Filmausschnitte mit unterschiedlicher Musik kombiniert werden können, und einen Film, der die Produktion eines Animationsfilms er- läutert. Die DVDs zu Wo ist das Haus meines Freundes?, Ponette und Azur et Asmar (Michel Ocelot, F 2007) enthalten ausführliche Gespräche zwischen Bergala und den Regisseuren. 32 pauleit_korrektur4.indd 32 06.11.2008 13:19:36 Claude und Francis Desbarats Filmstandbilder Für eine schulische Vermittlung des Kinos als Kunst Die Frage, ob das Kino eine Kunstform sei, wird in Frankreich bejaht, seit Zuschau- er, Filmliebhaber, Intellektuelle, kulturell und politisch Aktive um das Jahr 1920 zunächst in den schwedischen, amerikanischen und deutschen und bald auch in den sowjetischen Filmen, die sie zu jener Zeit im Kino sahen, eine schöpferische Gestaltungskraft entdeckten. Seitdem bemüht man sich in Frankreich immer wie- der um Methoden, die die bedeutenden Filme von früher und von heute zur Gel- tung bringen können. Die Auffassung vom Kino als einer dynamischen Kunst, die begeistern kann, hat die mittlerweile fast hundertjährige Blüte der französischen Filmkritik ausge- löst. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sie die Aktivitäten der Filmklubs getragen. Danach inspirierte sie die Bewegung der offiziell «Art et Essai» genannten Pro- grammkinos. Und schließlich begründet sie den Platz, den sich der Film ab 1984 im Kunstunterricht der französischen Gymnasien erobert hat. Wer die Aufmerksamkeit auf den Reichtum des Kinos lenken will, war immer schon in der Defensive, weil er die Argumente derjenigen bekämpfen muss, die der Filmkunst jegliche Qualität absprechen. Letztere begründen ihren Standpunkt da- mit, dass Filmemacher der Realität verpflichtet seien, die sie einfangen oder nach- bilden, dass sie abhängig seien von bereits vorhandenen Objekten, von ihrer Form, ihrem Umfang, ihrer Beschaffenheit, und dass es ihnen daher unmöglich sei, ein eigenes Universum zu erschaffen. Hinzu komme, dass selbst wenn es eine kreative Schaffenskraft des Filmemachers gäbe, sie durch den Einfluss anderer zunichte ge- macht werde: nämlich durch seine Auftraggeber und Mitarbeiter. Die Verteidiger der Filmkunst erarbeiten in zahllosen Streitgesprächen, in Leitar- tikeln und Grundsatzerklärungen eine Reihe von Gegenargumenten. Ohne die Ab- hängigkeit industriell erzeugter Bilder von der Materialität der Welt leugnen zu wol- len, heben sie hervor, dass Filmemacher seit den Gebrüdern Lumière gelernt haben, mit dieser Abhängigkeit zu spielen und sie spielend zu meistern. Sie haben gelernt, sie 33 pauleit_korrektur4.indd 33 06.11.2008 13:19:36 Claude und Francis Desbarats zur Bereicherung ihrer Filme zu nutzen. Man müsse, sagen sie, folgendes Paradoxon akzeptieren: Film ist zwar eine Hommage an die Welt, wie sie ist, Film bietet dem Zu- schauer aber gleichzeitig eine Lesart eben dieser Welt, die von einer Reihe von Effek- ten eines filmspezifischen Schreibens gelenkt wird. Man müsse anerkennen, sagen sie weiter, dass filmische Artefakte die Träger einer nuancierten Weltsicht sein können, einer Weltsicht, die sich somit zu einem guten Teil visuell manifestiert. Ausgehend von dieser Analyse wurde die «Autorschaft» beim Film eingeführt und etabliert. Die visuelle wie thematische Verwandtschaft der Werke eines Auto- renfilmers bringt es mit sich, dass man von einem Filmstil spricht. Man kann sagen, dass sich dieser in den drei Etappen des filmischen Schaffensprozesses (Schreiben, Drehen, Schneiden) konkretisiert, in welcher der Filmemacher eine Unmenge an Entscheidungen zu treffen hat. Als der kanadische Filmemacher David Cronenberg im November 2007 seinen neuesten Film in Paris vorstellte, spielte er auf dieses französische Verständnis des Autorenfilms an: «Während der Dreharbeiten müs- sen pro Tag dreitausend Entscheidungen getroffen werden. Sie sind mir eigen und einzigartig.»1 Der Stil eines Filmemachers ist für den aufgeklärten Filmliebhaber auf den ersten Blick erkennbar und steht in punkto ästhetischer Dichte und Kohä- renz einem Mal-, Schreib- oder Musikstil in nichts nach. Heute können Gymnasien beim französischen Bildungsministerium die Ein- richtung des Oberstufen-Faches Film beantragen – nicht anders als ein Fach Musik oder Bildende Kunst. Für das Fach Film müssen die Schulen nachweislich in der Lage sein, eine Partnerschaft herzustellen zwischen Lehrkräften, die fähig sind, das Funktionieren der Fachrichtung zu gewährleisten, und einem externen, von den Gremien des Kulturministeriums anerkannten Künstler (einem Regisseur, Video- filmer, Cutter usw.), der zusammen mit den Lehrkräften einen Großteil des päda- gogischen Vorhabens organisiert. In den über 20 Jahren, die es das Schulfach Film mittlerweile gibt, steht also der künstlerische Ansatz im Zentrum. Wir möchten hier eine Möglichkeit zeigen, dieses Konzept des Filmunterrichts schon von den ersten Schulstunden an umzusetzen. Dabei stützen wir unsere Überlegun- gen auf folgende Grundlinien: Durch das Herausarbeiten der plastischen und visuellen Aspekte des Stils bedeutender Filmemacher soll die Geschichte des Films zur Geschich- te der Malerei in Bezug gesetzt werden. Das verlangt von den Schülern konzentriertes Arbeiten, kann aber nach unserer Erfahrung auch ihre Begeisterung wecken. Die Arbeit vollzieht sich in erster Linie mithilfe eines speziellen Werkzeuges, das einfach aussieht, aber vielfältige Anwendung ermöglicht, einem Objekt, das dem professionellen Bereich des Kinos entstammt: dem Filmstandbild. Bekanntlich gibt es zwei Arten von Filmstandbildern: direkt vom Filmstreifen vergrößerte Abzüge oder, und das ist der häufigere Fall, Standfotos, die während 1 Interview mit David Cronenberg von Emmanuelle Frois, in Le Figaro, 7. Nov. 2007, S. 29. 34 pauleit_korrektur4.indd 34 06.11.2008 13:19:36 Filmstandbilder oder gleich nach den Dreharbeiten von bezahlten Fotografen aufgenommen wur- den2. Beide Formen sind Dokumente, die man a priori für armselig halten könnte, weil ihnen die Bewegung fehlt und sie insofern dem Wesen des Kinos nicht gerecht werden. Die Wirklichkeit ist jedoch komplexer. Talentierte Standfotografen kön- nen, wenn man ihnen die Möglichkeit gibt, hervorragend den Geist einer ganzen Sequenz auf den Punkt bringen, selbst wenn sie eine Kameraeinstellung wählen, die in keiner Einstellung der Sequenz vorkommt. Oder aber es gelingt ihnen, sich auf die eine Einstellung des Filmes zu konzentrieren, die die Gesamtsituation sym- bolisiert. Was die Abzüge vom Filmstreifen angeht, so verlangt deren Auswahl und Erstellung vergleichbare analytische Fähigkeiten und ein ähnliches Fingerspritzen- gefühl, allerdings erst im Nachhinein in der Stille eines Sichtungsraums am Schnei- detisch. Im Allgemeinen sind es Filmkritiker, Hochschullehrer und die Spezialisten der Kinematheken, die sie herstellen. Standfotos und Abzüge vom Filmstreifen werden in bestimmten Filmzeitschrif- ten, Sonderheften und Fachbüchern in guter Qualität und unter Berücksichtigung des Ausgangsformats veröffentlicht. Mit modernen Fotokopierern kann man sie akzeptabel reproduzieren. Kommen wir jetzt zur besonderen pädagogischen Bedeutung, die Filmstandbil- dern unseres Erachtens besitzen. Zunächst einmal sind sie greifbar, manipulierbar, abpausbar, schematisierbar und können mit einem Stift, einem Lineal und einer Schere bearbeitet werden. Zudem kann jeder Schüler selbst den Rhythmus bestim- men, in dem er sie verwendet. Während einer Vorführung, und sei es auch nur einer einzigen Sequenz, gibt dagegen der Film die Zeit vor, was die Aufmerksamkeit stark auf den narrativen Ablauf lenkt. Dabei gibt es vielfältige formale Parameter zur bewussten Erfassung einer Sequenz: Zum Bildausschnitt zu Beginn einer Ein- stellung kommen die Bewegungen der Darsteller, die Bewegungen der Kamera, die Zahl der Einstellungen, Schnitte und Anschlüsse, ihre Frequenz und schließlich die Art des Tons sowie das Verhältnis von Bild zu Ton. All das macht eine Filmanalyse zunächst schwierig. Das Filmstandbild reduziert diese Anzahl der Untersuchungsparameter auf fünf und zwar auf den Bildaufbau, die Gestaltung des Raums, die Position der Ka- mera, das Verhältnis der Personen zueinander und die Charakterisierung dieses Verhältnisses. Diese Vereinfachung ermöglicht uns – zumindest für eine erste An- näherung – eine vertiefende Betrachtung. 2 Die Gründe für die Existenz zweier Arten von Fotos ist historisch. Die sogenannten Standfotos dienen Kinobetreibern als Aushangbilder, da sie über eine längere Belichtungszeit und damit über eine bessere Auflösung verfügen als die Abzüge vom Filmstreifen. Für letztere liegt die maximale Belichtungszeit bei einer 1/48 Sekunde, was für den Ablauf des Films ausreichend, in der Regel aber zu kurz für eine angemessene Bildqualität von Aushangfotos ist. Alle im vorliegenden Text publizierten Filmstandbilder sind Standfotos. 35 pauleit_korrektur4.indd 35 06.11.2008 13:19:37 Claude und Francis Desbarats 1. Was der Film der Frührenaissance verdankt Anhand von einfachen Standbildern fangen wir zunächst mit einigen formalen Spielen an. Demonstriert wird die Verformung des Bildes durch kurze oder lange Brennweiten, die Auswirkungen, die ein Verschieben des Bildrahmens auf ein und denselben Raumabschnitt hat oder das Hinzufügen und Weglassen eines Elemen- tes innerhalb eines Bildrahmens. Wir wollen so anhand von Variationen deutlich machen, dass jedes Bild das Resultat einer Konstruktion und einer Auswahl ist. Nach einer kurzen Erläuterung, wie grundlegende technische Verfahren die plastische Gestalt des Bildes prägen (der Effekt, den die Veränderung der Größe eines Elementes auf das Bild hat, das Verhältnis von Oberfläche und Linien usw.), lenken wir das Interesse umgehend auf die historische Dimension dieser Verfahren. Dank der Analogien zwischen Malerei und Standfotografie können wir dies nahezu unmittelbar analysieren. Tatsächlich hat der Film von der Malerei viele grundle- gende Verfahren übernommen, denen er somit eine Art Fortbestand sicherte. Be- stimmte Effekte des filmischen Schreibens entstammen also einer Tradition, die deutlich älter ist als das 1895 erfundene Kino. 1.1. Die Grundlage der Szenografie im Film: Albertis Würfel Es ist von zentraler Bedeutung, dass die Filmkamera, wie zuvor die Fotokamera die Funktionsweise der von der Malerei der italienischen Renaissance schrittweise for- malisierten Camera obscura zu einem optischen System entwickelt hat3. Bekannt- lich entwickelte sich in der Toskana und in Umbrien zwischen 1420 und 1440 im Umfeld der Maler und Bildhauer Masaccio, Brunelleschi, Paolo Uccello, Piero della Francesca und des Baumeisters und Kunsttheoretikers Leon Battista Alberti eine neue Darstellungsform. Diese Darstellungsform löste die mystische Hierarchisie- rung der Figuren mittelalterlicher Malerei (Gott größer als die Heiligen, die Heiligen größer als gewöhnliche Menschen) durch eine profanere Anordnung der Wesen und eine körperlichere Darstellung ihrer Beziehungen zueinander ab. An der Decke der Sixtinischen Kappelle wird wenige Jahrzehnte später Michelangelos Adam in dem Moment, da ihm Leben eingehaucht wird, genauso groß sein wie Gottvater. Die Zentralperspektive, gleichzeitig Symptom und Instrument dieses Wandels, ermöglicht den Malern, die jeweilige Entfernung zwischen im Raum verteilten Ele- menten darzustellen, Maße und Größenordnungen sichtbar zu machen. Das Mit- 3 Leonardo da Vinci 1515 über die Camera obscura: «Wenn die Fassade eines Gebäudes – oder irgendein Platz oder ein Feld –, das von der Sonne beschienen wird, ein Wohnhaus zum Gegen- über hat, und wenn man in der Fassade, welche die Sonne nicht sieht, ein kleines rundes Loch macht, so werden alle beleuchteten Gegenstände ihre Bilder durch dieses Loch senden und im Innern des Gebäudes an der gegenüberliegenden Wand erscheinen, die weiß sein soll. Und sie werden da ganz genau erscheinen, aber umgekehrt.» Zitiert nach: David Hockney: Geheimes Wissen, aus dem Amerikanischen von Bernadette Ott und Rita Seuß, München 2006, S. 244. 36 pauleit_korrektur4.indd 36 06.11.2008 13:19:37 Filmstandbilder tel zur Systematisierung dieser Darstellungsform war die Entwicklung von Albertis Würfel mit seinen fünf sichtbaren Seiten: der Rückwand, der rechten und linken Seitenwand, der Decke und des Bodens. Die sechste Seite fehlt, um dem Betrachter den Einblick zu ermöglichen. Daraus folgt, dass die Parallellinien, die in die Tiefe des Blickfeldes hineinreichen, als auf einen einzigen Fluchtpunkt konvergierende Linien dargestellt werden. Die Verwendung der Camera obscura erlaubte die expe- rimentelle Bestätigung dieser Anordnung.4 Albertis Würfel kann nicht nur auf Innenräume angewandt werden. Im Freien reichen ein Stück Mauer, ein Gebäude, eine Baumgruppe, ein in die Ferne führen- der Weg, um den perspektivischen Würfel anzudeuten. Raffaels Die Vermählung Mariä in der Pinacoteca di Brera in Mailand (1504) ist hierfür ein charakteristi- sches Beispiel. Die räumliche Illusion betrifft aber auch gewölbte Elemente, wie Gesichter, Brüste und sonstige Objekte: So hat Paolo Uccello zum Beispiel seine theoretischen Überlegungen und sein Können auf eine geometrisch komplexe Hutform angewandt, den mazzocchio. Und Andrea Mantegna verlieh seinen Figu- ren als erster eine skulpturale Komplexität. Albertis Würfel hat nicht nur eine optische, sondern auch eine dramaturgische Funktion. Er ist Schauplatz der Worte und Blicke, das Theater der Begegnung oder des Konflikts. Er macht den dargestellten Raum zur Bühne. Diese Funktion hat der Film aufgegriffen und gemäß seinen eigenen narrativen Bedürfnissen weiterentwi- ckelt. Deshalb hat sich die französische Filmkritik in den 1970er-Jahren den Begriff Szenografie angeeignet, der aus der antiken römischen Malerei stammt und über das Theater vermittelt wurde5. Damit sollte erklärt werden, dass das Verhältnis von Ausstattung und Figuren zur Kamera einer Szene fiktive Tiefenwirkung verleiht, die durch das ständige Spiel mit dem Bildaufbau belebt wird. 4 Der Kunsthistoriker Daniel Arasse hat am Beispiel italienischer Verkündigungsszenen die Ver- breitung dieses Raumkonstrukts von Siena bis Florenz dargelegt (L‘Annonciation italienne. Une histoire de perspective (Hazan, 1999) In Geheimes Wissen begeistert sich der Maler David Hockney für die präzisere und tiefere Kenntnis der technischen Hilfsmittel dieses visuellen Abenteuers (Linsen, Spiegel, Camera obscura und Camera lucida). Indem Hockney der Ent- wicklung der «fotografischen» Wiedergabe in der Geschichte der Malerei nachspürt, findet er heraus, warum die Flamen in den 1430er-Jahren eine anderen Malstil entwickeln als die Italie- ner: Sie malen mithilfe von optischen Instrumenten, die sich nur für einen jeweils begrenzten Ausschnitt des darzustellenden Raumes eignen. Dadurch können sie mit größter Präzision die Details von Stoffen wiedergeben, müssen jedoch eine Perspektive mit zahlreichen Flucht- punkten bilden, die nach den ungefähr zur selben Zeit von italienischen Künstlern definierten Kriterien «falsch» ist. 5 Alain Bergala hat die Verwendung dieses Begriffes durch ein Scénographie betiteltes Sonder- heft der Zeitschrift Les Cahiers du Cinéma im Jahr 1980 systematisiert. Er definiert Szenografie als «die Kunst, gleichzeitig eine filmische Szene aufzustellen (Einrichtung und Einrahmung eines Raumes) und Figuren innerhalb dieser Szene anzuordnen.» (S. 7). Die Sondernummer stellt relevante Texte und 50 sorgfältig ausgewählte und edierte Standfotos zusammen. 37 pauleit_korrektur4.indd 37 06.11.2008 13:19:37 Claude und Francis Desbarats Anders als in Malerei oder Fotografie ist dieser Bildaufbau im Film nicht sta- tisch, sondern wird permanent in Bezug auf eine Vielzahl von Bewegungen umge- formt: durch die Bewegungen der Darsteller, und seien sie auch noch so minimal (die bloße Geste des Innehaltens einer Figur als Reaktion auf einen Blick kann schon ein Abenteuer für sich sein), durch weite oder begrenzte Bewegungen der Kamera (Schwenk, Fahrt, Zoom), sowie durch die «Sprünge» bei der Montage. Dennoch macht ein Film schon mit seinem ersten Bild auf Anhieb eine szenografische Vor- gabe (den räumliche Aufbau, die Grau- oder Farbwerte usw.), die er im weiteren Verlauf einhalten muss, will er nicht zusammenhanglos werden. Der Vergleich mit Malerei und Fotografie bleibt also zulässig, insofern der Raum eines Films zumin- dest im Hinblick auf eine Reihe von Merkmalen ebenfalls homogen bleibt. Man kann sagen, Szenografie im Film ist die Konstruktion eines Raumes mithil- fe der Ausstattung, der Requisiten, der Darsteller, der Kamera sowie der Schere des Cutters. Sie wird für jeden Film so angelegt, dass sie über die dargestellte dramatische Situation hinaus möglichst nachdrücklich das poetische Konzept des Filmemachers erkennen lässt. Sie ist demnach ein fundamentales Element des kinematografischen Stils eines Films, unter Umständen sogar des Gesamtwerks eines Autors. 1.2. Andere Szenografien Bevor man sich jedoch, ausgerüstet mit seinen Kenntnissen in volumetrischer Sze- nografie, an die Studie von Filmstandbilder macht, zunächst noch eine Warnung vor allzu großer theoretischer Strenge: Nicht alle szenografischen Effekte im Film haben mit Albertis Würfel zu tun. Sie sind (wie in der Malerei und Fotografie übri- gens auch) unendlich vielfältig, und neben Filmen oder Filmsequenzen, deren Sze- nografie auf Fluchtlinien aufbaut, gibt es viele andere Fälle, in denen die Darstel- lung der Volumina von Objekten und Körpern vernachlässigt, sie sogar zugunsten von Linie, Grafik, Glätte oder Kontrast ganz zum Verschwinden gebracht wird: Bei Eisenstein, dem Schutzpatron des sowjetischen Kinos beispielsweise, überlagern verschlungene Arabesken die Tiefenwirkung, wie man an den Knäueln aus den nackten, zur Schau gestellten Körpern gefolterter Bauern in Que Viva México! (1930) sehen kann. Und in Die rote Wüste (1964) verhindert Antonioni, Vertreter des modernen Kinos, eine Tiefenwirkung durch den systematischen Einsatz langer Brennweiten, welche den Abstand zwischen Vorder- und Hintergrund verwischen und die räumlichen Gegebenheiten vage und nicht lokalisierbar machen6. 6 Ein Objektiv mit langer Brennweite rückt ferne Objekte heran, verflacht aber die Perspektive und verwischt die Unterscheidung der Hintergrundebenen, indem es sie «aufeinanderhäuft» (dieses optische System findet man auch bei Fernrohren). Eine kurze Brennweite hat den ge- genteiligen Effekt: Sie betont und vergrößert das Volumen von dem Objektiv nahen Objekten, verleiht ihnen eine aggressive Dichte, verkleinert aber entfernte Objekte. 38 pauleit_korrektur4.indd 38 06.11.2008 13:19:37 Filmstandbilder Eine auf Raumwirkung angelegte Szenografie ist also nicht das A und O des filmischen Raums. Doch ihre historische Bedeutung ist unstrittig und bleibt selbst für diejenigen Maßstab, die von ihrem Vorbild abweichen. Überdies interessiert sie uns hier auch in pädagogischer Hinsicht. Sie erlaubt eine leichtere Heranführung an die Konstruktion des filmischen Raums: Die Regeln der Perspektive sind (durch das Zeichnen, den Mathematikunterricht, das Studium der Kunstgeschichte) sowohl vertraut als auch sehr einfach zu erkennen. Außerdem ist es nützlich, diese Regeln zu kennen, um wahrzunehmen, was von ihnen abweicht. 2. Vergleich zwischen einem Filmstandbild und einem Gemälde des 15. Jahrhunderts Um zu zeigen, wie der Film die Gesetze der Malerei aufgreift, wenden wir das Ge- lernte zunächst auf Filmstandbilder, in denen die volumetrische Szenografie deut- lich zu erkennen ist, an. Wir behandeln jedes Foto einzeln, ohne es in irgendwelche Reihen einzubinden. Darüber hinaus kombinieren wir es mit einem Gemälde, das eine szenografische Analogie aufweist. Gegebenenfalls erwähnen wir hierbei schon die Handlung des Films, ohne allerdings allzu sehr ins Detail zu gehen: Aushang- fotos sollen den potentiellen Zuschauer ja nur zu Spekulationen anregen, nicht die Handlung vorwegnehmen. Es kann allerdings vorkommen, dass man vorzeitig Elemente des Drehbuchs in die Bildanalyse einbinden muss, um Zeit zu sparen. Man bittet die Schüler zunächst, die Gesamtkomposition und den Aufbau des Raumes im Gemälde Madonna des Kanonikus Georg van der Paele von Jan van Eyck (1436, Groeningemuseum, Brügge) mit einem Foto aus Way Down East, einem Melodram von David Wark Griffith aus dem Jahr 1920, zu vergleichen7. 2.1. Jan van Eyck und David W. Griffith: Welche Analogien? Jan van Eycks Gemälde ist ein Marienbildnis mit dem hl. Donatian und dem hl. Georg. Letzterer präsentiert Maria Kanonikus van der Paele, den Stifter des Gemäl- des. Das Standfoto aus dem Griffith-Film zeigt im Hintergrund die Figur der Anna Moore, gespielt von Lillian Gish, und vor ihr eine Gruppe von vier sozial höherge- stellten Personen. Ihr selbstsicherer Auftritt setzt dem Geschwätz, das gerade über die junge Frau im Gange ist, ein Ende. Dieses Geschwätz betrifft ihre Vergangenheit als junges, armes Mädchen, das von einem Schurken verführt und mit einem Kind sitzen gelassen worden ist. Der Aufbau beider Bilder ist vergleichbar: Eine zentrale Figur steht auf der vertikalen Symmetrieachse des Bildes, die seitlichen Figuren ordnen sich dieser 7 Griffith ist einer der wichtigsten Filmemacher der 1910er-Jahre. Er gilt als Erfinder der Mon- tage und ist Regisseur des Films Intoleranz (1916). 39 pauleit_korrektur4.indd 39 06.11.2008 13:19:37 Claude und Francis Desbarats Abb. 1: Way Down East (David Wark Griffith) Symmetrie unter. Ein solcher Bildaufbau dient dazu, die Verteilung der Linien und Oberflächen klar auszutarieren und unmittelbar sichtbar zu machen. Aber dieser Bildaufbau hat noch eine weitere Funktion: Er verstärkt die Illusion eines Raumes. Die Ebene von Marias Körper nimmt bei Jan van Eyck die Richtung der Rückwand des Kirchenchores auf, wohingegen die Positionen des Stifters und der Heiligen an Seitenwände denken lässt, längs derer sich die drei Figuren vermutlich be- finden. Auch bei Griffith füllt Lillian Gish im Zentrum der Anordnung eine Lücke in der Rückwand – den Durchgang, dessen Vorhang sie mit ausgestreckten Armen öffnet –, während die vier anderen Figuren paarweise einen visuellen Korridor bilden, der parallel zu gedachten Seitenwänden verläuft. In beiden Fällen bilden die Anordnung der Körper und die Struktur der Ausstattung den szenografischen Würfel. Ein anderes Element, das der Tiefenwirkung Kohärenz verleiht, kommt hinzu: die Positionierung des Blicks des Betrachters und des Fluchtpunktes. Beide stehen in direktem Zusammenhang miteinander, da ein Fluchtpunkt, sofern es ihn gibt, immer den Blick des Betrachters darstellt. In beiden Bildern ist die Position dieses Blicks gleich: Er zielt horizontal auf ca. 1,20 m über dem Boden8. 8 Wie bestimmt man die Höhe des Blicks? Indem man auf dem Filmstandbild die Fluchtlinie untersucht, die auf der Mittellinie zwischen der Fluchtlinie der Taillen (oberhalb derer wir uns befinden) und derjenigen der Schultern (unterhalb derer wir uns befinden: denn die Un- 40 pauleit_korrektur4.indd 40 06.11.2008 13:19:38 Filmstandbilder Abb. 2: Madonna des Kanonikus Georg van der Paele (Jan van Eyck) Die Höhe des Betrachterblickwinkels entspricht damit der Augenhöhe einer sit- zenden Person. Das verschiebt die Köpfe stehender oder erhöhter Figuren leicht nach oben. Dadurch wird ihnen auf einfache Weise Expressivität verliehen, ohne dabei das Gefühl der Normalität der Perspektive zu zerstören: Die Augenhöhe der Figuren wird ganz unauffällig mit derjenigen des Betrachters gleichgesetzt, indem man sie ungefähr einander gegenüber platziert. Der räumliche Aufbau beider Bilder – die Verteilung des Gesamtvolumens sowie die Einbeziehung der Position des Betrachters – verstärkt die Wirkung der zentralen Stellung der jungen Frau. Als Zentrum des Bildes ist sie auch Zentrum des gesamten Wahrnehmungsraums. Ihre Sonderstellung rührt von der wesentlichen Bedeutung ihrer Mutterschaft her: Sie ist ihr Unglück wie ihr Ruhm. Ihr Unglück, weil Maria in der linken Hand Blüten der Passionsfrucht hält, die das Martyrium Christi ankün- digen, und weil Anna Moores Kind einige Jahre zuvor infolge ihrer Armut gestorben ist; ihren Ruhm, weil Maria die Mutter des menschgewordenen Gottes ist, und weil terseite des Kinns der Darsteller ist sichtbar) liegt, das heißt auf Höhe des Brustbeins, das im Durchschnitt bei ungefähr 1,20 m liegt. Auf dem Gemälde verläuft die Mittellinie zwischen der Ebene der Armlehnen des Thrones und derjenigen des Rades des hl. Donatian, was für den Blick des Betrachters so gut wie dieselbe «Höhe» ergibt. 41 pauleit_korrektur4.indd 41 06.11.2008 13:19:39 Claude und Francis Desbarats Anna den Verlust ihres Sohnes dadurch kompensiert, dass sie sich gegen die Ge- meinheiten, denen sie ausgesetzt ist, unter Einsatz ihres Lebens zur Wehr setzt. Verschiedene visuelle Elemente betonen und charakterisieren den zur verehr- ten Frau gehörenden Raum zusätzlich. Im Gemälde sind Baldachin, Mantel und Teppich ausschließlich Maria zugeordnet und setzen den Betrachter in direkten Kontakt zu ihr. Auf dem Foto bildet der Vorhang hinter Lillian Gish, der sich einige Meter weiter verdoppelt, eine zur Bildebene rechtwinklig in die Tiefe reichende Achse, die durch den Übergang des erleuchteten Teils der Fliesen – ihres Raumes – zum dunklen Holzfußboden – dem Raum der Anderen – verlängert wird. Diese Raumtiefe bildet einen Vektor, der sich zum Betrachter hin verlängert. Die verzierte Einfassung des Vorhangkastens des amerikanischen Films ist der gleichmäßig mit Röschen verzierten Baldachinkante des flämischen Gemäldes verblüffend ähnlich: Sie hebt den Raums der Heldin hervor und begrenzt den oberen Teil eines Rah- mens innerhalb des Bildrahmens. Beide Bilder ähneln sich auch in einer weiteren formalen Anlage: Sie vermei- den im Zentrum der Komposition einen vollkommen geraden Hintergrund, eine strenge Frontalität, die dem Bild Härte verleihen und seine Tiefe einer gewissen Schwingung berauben würde9. Zur Vermeidung dieses Effekts malt van Eyck ei- nen kreisförmigen Chorumgang, den er zudem durch zwei kleine Kirchenfenster zu beiden Seiten des Thrones öffnet. Bittet man die Schüler, diese beiden Fenster abzudunkeln, erkennen sie, dass das Bild platt wird und vornüberzukippen scheint. Deckt man die sich hinter Lillian Gish öffnende Zimmerflucht auf dem Griffith- Bild zu, empfinden wir etwas anderes: Ihre Figur verliert ihr Selbstbewusstsein, erscheint klein und schwimmt im Raum. Das Ziel, das beide Künstler dabei verfolgen, ist identisch. Die Kulisse ist so angelegt, dass die zentrale Figur verankert, erhöht wird, dadurch, dass die Luft um sie herum zirkuliert. 2.2. Jan van Eyck und David W. Griffith: Welche Unterschiede? Trotz ihrer zahlreichen Ähnlichkeiten weisen beide Bilder auch funktionale Unter- schiede auf, die wesentlich von ihrer jeweiligen Erzählform abhängen. Der erste Unterschied ist logischerweise dramaturgisch. Das Gemälde verwei- gert eine Dramaturgie. Zwar deutet Jan van Eyck Bewegungen und sogar eine klei- ne Geschichte an: Mit seiner Linken weist der hl. Georg die Jungfrau auf den Stifter 9 Von Frontalität spricht man, wenn die von der auffälligsten Wand (oder dem auffälligsten Mö- belstück, Objekt, Körper) markierte dominierende Linie parallel zur Wand des Hintergrunds und demnach parallel zur Ebene unseres Blickes platziert wird. Man spricht von einer Schräge, wenn die dominierende Linie des Bildes (die Wand, das Möbelstück usw.) schräg zu dieser Ebene unseres Blickes verläuft. Der Venezianer Tintoretto hat als erster in der Geschichte der Malerei systematisch mit diagonal geführten Tiefenräumen experimentiert. 42 pauleit_korrektur4.indd 42 06.11.2008 13:19:39 Filmstandbilder hin, mit seiner Rechten nimmt er seinen Helm ab und erschreckt dadurch das Kind. Aber der ganze Rest stellt eine unbewegliche Zeit dar: die entrückte Sanftmut der Muttergottes, die Darbietung des Rades mit den brennenden Kerzen durch den hl. Donatian, die zurückhaltenden Gesten des hl. Georg. Mehr noch: Van Eyck zeich- net jede einzelne Falte des zerfurchten Gesichts des in tiefer Andacht versunke- nen Kanonikus mit solcher Virtuosität, dass der Eindruck entsteht, die sichtbaren Zeichen seines Alters, die gesammelten Erfahrungen und Entbehrungen erstarrten hier auf einmal in der heiligen Kontemplation. Im Gegensatz dazu wählt das Standfoto einen präzisen und erkennbaren ent- scheidenden Augenblick, der eine Art Verdichtung verschiedener Zeitebenen dar- stellt: den Moment, als Anna den Vorhang öffnet und vor die Augen der erschro- ckenen Anderen tritt. Dieser Augenblick allein suggeriert einen Prozess, weil er sowohl ein Vorher (den Moment, da die vier Figuren sich bei geschlossenem Vor- hang ihrer Gegenwart noch nicht bewusst sind) als auch ein Nachher impliziert (in dem die Anderen akzeptieren müssen, dass Anna dank des Überraschungseffektes im Vorteil ist). An diesem Punkt unserer Analyse führt uns ein Detail des Standfotos zu ei- ner Vertiefung des Vergleichs. Die Bedeutung, die der Filmemacher der Handlung beimisst, manifestiert sich in einem weiteren Merkmal: Während Frontalität und Symmetrie des Dekors bei van Eyck zwingend vorgegeben sind, muss das Griffith- Bild diesbezüglich genauer untersucht werden, um zu verstehen, warum es sie nicht exakt respektiert. Tatsächlich steht die Kamera nicht völlig parallel zur Rückwand: Die Positionen weichen um zwei, drei Grad voneinander ab, was man daran sieht, dass die Schwelle zwischen Vorraum und Zimmer im Verhältnis zum unteren Bild- rand leicht schräg ist. Außerdem wurde die Kamera im Verhältnis zur Bildachse des Durchgangs nach rechts verschoben: Die linke Laibung ist sichtbar, die rechte nicht. Hinzu kommt noch die Position der Nebenfiguren: Sie stimmen nicht mit der Achse des Durchgangs überein und wurden ebenfalls leicht nach rechts ver- schoben, denn links verdeckt die Frau mit bloßen Armen den Vorhang, während auf der rechten Seite der Mann mit Krawatte nicht vor dem Vorhang steht. Diese sehr feinen Abweichungen – Filmregie vollzieht sich oft in einer Viel- zahl winziger Positionskorrekturen – haben eine subtile Funktion: Sie greifen die Symmetrie des Bildes auf (beide Figurengruppen sind an der Oberfläche fast gleich- wertig) und reduzieren die Symmetrie der Position der Figuren im Raum (die vier Statisten sind nicht exakt beidseits des Durchgangs aufgereiht). Was soll ein solcher Inszenierungsaufwand? Gerade der Vergleich von Film und Gemälde liefert hierfür eine Erklärung. Er macht den Unterschied deutlich zwi- schen der lediglich feierlichen Anmutung des entscheidenden Augenblicks im Foto, das die Gesamtheit aller möglichen Bewegungen kurzfristig fixiert, und der mehr als feierlichen, der zutiefst zeremoniellen Anmutung des Gemäldes mit seinen per- 43 pauleit_korrektur4.indd 43 06.11.2008 13:19:39 Claude und Francis Desbarats fekten Symmetrien und seinen zurückhaltenden Gesten. Hier hält das Bewusstsein Einkehr in die Stille des Gebets und die Verehrung Gottes. Die Suche nach narrativem Potential scheint bei Standfotos systematischer be- trieben zu werden als bei dem Aufbau von Gemälden. Allerdings sind für Aushang- bilder in dieser Hinsicht die Vorschriften auch klar: Auch wenn sie die Geschichte nicht vorwegnehmen sollen, so sollen sie doch so viel von deren Dynamik andeu- ten, dass man Lust bekommt, ins Kino zu gehen und sich den Film anzusehen. Eine letzte räumliche Differenz, die mit den spezifischen zeitlichen Besonderhei- ten der jeweiligen Kunstpraxis zu tun hat, müssen wir zuletzt noch ansprechen. Und zwar die Art, wie der Raum der Szene in sich geschlossen ist, oder nicht. Auf dem Gemälde wenden sich die Anbetenden Maria nicht wirklich zu: Der Maler erfindet sonderbare Haltungen für sie, um beide Augen zeigen zu können, oder zumindest ein Auge und beide Augenbrauenbögen, auch wenn er dabei die zu erwartende Körper- haltung verfremden muss. Es geht darum, verlorene Profile10 zu vermeiden. Beim Filmstandbild sieht die Sache anders aus. Aufgrund des Wunsches, zu er- zählen, muss stärker als im Gemälde erkennbar sein, dass die Figuren Blickkontakt haben und direkt aufeinander reagieren können. Innerhalb einer quasi frontalen Struktur wirft das jedoch gewisse Probleme auf. Weil Lillian Gish ihren Auftritt gegenüber der Kamera vollführt, stehen die vier anderen Figuren mit dem Rücken zur Kamera. Dadurch sind ihre Gesichter verborgen oder nur im verlorenen Profil zu sehen, d.h. beide Augen sind verborgen, was für ein Bild einen erheblichen Ver- lust an Ausdruckskraft bedeuten kann. Zum Ausgleich muss das Spiel der Darstel- ler, ihre Kopf- und Körperhaltungen die Intensität der Situation deutlich machen. Dies zeigt sich hier in den unterschiedlichen Schulter-, Arm- und Handhaltungen. Die zeitliche Dimension des Filmes hat für dieses Problem eine zusätzliche Lö- sung parat: Nach dem Prinzip von Schuss-Gegenschuss in einer zweiten Aufnahme diejenigen von vorne zu filmen, die zunächst in Rückenansicht zu sehen sind, d.h. die Szene unter zwei Blickwinkeln zu zeigen. Mit dieser Einstellung wollte Grif- fith jedoch zunächst einen Überblick über die Situation verschaffen, der seine volle Wirkung dadurch erhält, dass Aktion und Reaktion gleichzeitig dargestellt werden, bevor die Szene anschließend zerteilt wird. 2.3. Der Nutzen einer «Zeichnung in Aufsicht» Zum Abschluss unseres Vergleichs verteilen wir an die Schüler eine «Zeichnung in Aufsicht» (eine geometrische Zeichnung) des Fotos aus Way Down East (Abb. 3), um ihnen die Positionen von Kulissen, Figuren und Kamera sowie die Linien der Blicke bewusst zu machen. Mit anderen Worten: all jener Elemente, die die Szenografie bil- 10 Als verlorenes Profil wird die Dreiviertelansicht des Kopfes von hinten bezeichnet, die nur die Konturen der Wangenknochen erkennen lässt. (Anm. d. Hrsg.) 44 pauleit_korrektur4.indd 44 06.11.2008 13:19:39 Filmstandbilder den. Für das Gemälde von Jan van Eyck kann eine solche Zeichnung nicht erstellt werden, weil das Raumverständ- nis der flämischen Ma- lerei des 15. Jh.s nicht durch ein solches Sche- ma dargestellt werden kann. Anders als in Flo- renz gab es in Flandern nicht den Wunsch, die Größenverhältnisse von Körpern und Umge- bung mathematisch korrekt wiederzugeben. Das Volumen der Kir- che, beispielsweise, ist Abb. 3: Zeichnung zum Foto von Way Down East im Vergleich mit den Figuren zu klein. Ist eine geometri- sche Zeichnung, wie hier bei dem Foto aus dem Griffith-Film je- doch möglich, kann sie mehr leisten, als nur die szenografische Analyse zu untermauern. Sie entwickelt das Gespür der Schüler für das Off. Diese für den Film we- sentliche Dimension ermöglicht insbeson- Abb. 4: Zeichnung zum Foto von Sieben Chancen dere das Wechselspiel von Anwesenheit und Abwesenheit in der Montage. In einer geometrischen Zeichnung müssen nicht nur die im Blickfeld der Kamera befindlichen sichtbaren Elemente (Wände, Vorhänge, Böden, Möbel, Figuren), sondern auch diejenigen Elemente erfasst werden, die zwar wahrnehmbar, aber nicht sichtbar sind, über die wir ausgehend vom Bild nur Ver- mutungen anstellen können. Diese Elemente bilden das Off. In unserem Griffith-Bild 45 pauleit_korrektur4.indd 45 06.11.2008 13:19:40 Claude und Francis Desbarats sind das die Verlängerungen der sichtbaren Wände sowie der höchstwahrscheinlich rechtwinklig dazu verlaufenden Wände, und eventuell Türen und Fenster (wobei letztere nur aufgrund einer architektonischen Logik da sein müssen, die Beleuch- tung lässt nicht auf Fenster schließen). Die Zeichnung in Aufsicht bestätigt, wie eng Regie und Ausstattung für Griffith miteinander verbunden sind. Die Architektur konkretisiert und verdichtet hier die dem Melodram eigene Dynamik11: Nach lebensbedrohlichen Prüfungen triumphiert endlich die zurückhaltende, arme, junge Frau in ihrem sittsamen Kleidchen, mit ihren brav nebeneinander stehenden Füßen. In aller Bescheidenheit bringt sie die Missachtung der anwesenden Leute durcheinander, indem sie bildhaft die soziale Schranke öffnet, so, als berührte der Schauplatz eines Dickensromans denjenigen eines Theaterstücks von Oscar Wilde. Doch in der feinen Gesellschaft ist das Ein- geständnis eines Fehlurteils immer nur zaghaft und nicht von Dauer, folgt man dem «Wissen» der Melodramen. Es ist also nur logisch, dass Griffiths Szenografie das Aufeinanderprallen zweier getrennter sozialer Räume als kurzfristigen, kühnen Einbruch inszeniert. 3. Ein Beispiel für eine dramaturgische Nutzung der volumetrischen Szenografie Um die dramaturgische Bedeutung der volumetrischen Szenografie im Film noch besser begreiflich zu machen, schlagen wir ein Bild aus Sieben Chancen vor, einem Film von Buster Keaton aus dem Jahr 1925: Ein Mann im Hochzeitsanzug – die Fi- gur heißt Buster und wird von Buster Keaton gespielt – wartet alleine in einem pro- testantischen Kirchengebäude. Vergleichen kann man dieses Bild mit Verkauf der Hostie, der ersten Szene aus der Serie der Predellatafeln zum Hostienwunder (1469) des toskanischen Malers Paolo Uccello. Zwischen Tafel und Standfoto besteht kein narrativer Bezug, doch betonen beide auffällig das perspektivische Grundmuster. Ein Unterschied hierbei ist jedoch, dass es im Keaton-Film keine Decke gibt. Zu jener Zeit hatten Kulissen generell keine Decken, denn von oben war es am ein- fachsten, natürliches wie künstliches Licht einfallen zu lassen12. 11 Zum Melodram vergleiche auch den Beitrag «Perspektivenwechsel» von Bettina Henzler und Stefanie Schlüter in diesem Band. (Anm. d. Hg.) 12 Aufgrund der Schwierigkeiten mit der Beleuchtung bedarf es schon eines expliziten Aus- druckswillens (der sich meist in einer reichhaltigen Ausstattung zeigt), bevor Regisseure Dek- ken bauen und filmen lassen. In der Stummfilmzeit war das der Fall bei Erich von Stroheim. Später filmte John Ford Innenräume oft so, dass der Zuschauer in einer Einstellung sowohl Decke als auch Fußboden sehen kann. Wenn die Decke im Bild von Sieben Chancen auch fehlt, so ist sie dank eines Kunstgriffs gedanklich vorhanden. Die Spitzen der vier großen Bö- gen an der Rückwand stimmen exakt mit dem oberen Rand des Bildrahmens überein: Auf diese Weise wird der – täuschend echte – Eindruck vermittelt, der Raum ende bei dieser Höhe und die Decke setze genau darüber ein. 46 pauleit_korrektur4.indd 46 06.11.2008 13:19:40 Filmstandbilder Mit dem Bild aus Sieben Chancen sollen die Überlegungen in zwei sich ergän- zende Richtungen geführt werden: Die Schüler sollen erkennen, in welchem Maße der perspektivische Code hier eingesetzt ist, und andererseits die Auswirkungen die- ser Anlage auf die Inszenierung ausfindig machen. 3.1. Buster Keaton und der perspektivische Code Der erste Teil der Arbeit besteht in der Anwendung dessen, was wir schon beim Griffith-Bild behandelt haben. Wir bitten die Schüler, eine Zeichnung in Aufsicht zu machen und dabei die sichtbaren Elemente (die Bänke, die Rückwand, die Figur, den Brautstrauß, die Straße, das gegenüberliegende Fenster) von den wahrnehmbaren aber nicht sichtbaren Elementen (den Seitenwänden, der Verlängerung der Straße, dem Ort des Altars, an dem die Kamera aufgebaut zu sein scheint) zu unterscheiden. Meist erkennen und zeichnen die Schüler die absolute Frontalität rasch und bringen sie mit den Standards des schon bei van Eyck kennenge- lernten zeremoniellen Bildes in Verbindung. Größere Schwierigkei- ten haben sie jedoch mit der Darstellung des Mittelganges. Er muss in zwei vollkommen parallelen Linien aus- geführt werden, wird oft jedoch mehr oder weniger konvergierend Abb. 5: Sieben Chancen (Buster Keaton) gezeichnet: Die Schüler haben das Bedürfnis, die Aufsichtszeichnung mit einer perspekti- vischen Ansicht zu vermischen. Es bedarf mehrerer Beispiele, bevor sich ein klares Bewusstsein für den Unterschied zwischen beiden Darstellungs- formen einstellt. Die ersten Standfotos, die Abb. 6: Verkauf der Hostie (Paolo Uccello) 47 pauleit_korrektur4.indd 47 06.11.2008 13:19:41 Claude und Francis Desbarats wir auswählen, sollten also ermöglichen, die Perspektive zu erarbeiten. Die Schüler sollen mühelos erkennen, welche visuelle Umsetzung des «wirklichen» Raumes die Filmemacher vornehmen. Ein anderes häufiges Problem bei dem Bild aus Sieben Chancen ist die Zeich- nung der Straße. Wegen des geringen Platzes, den sie im Hintergrund des Fotos ein- nimmt, wird sie von den Schülern oft sehr schmal gezeichnet. Dies ist auch die ein- zige Kritik, die man an der beiliegenden Aufsichtszeichnung üben kann. Sie wurde von einer Schülerin der 10. Klasse im Fach Film und audiovisuelle Medien einzig auf der Grundlage des Fotos erstellt, also bevor die Sequenz vorgeführt wurde (Abb. 4). Wie die Skizze zeigt, ersetzen die sich wiederholenden Armlehnen entlang des Mittelganges in gewisser Weise die sich außerhalb des Bildfeldes befindlichen Seiten- wände. Ein diffuses szenografisches Wissen erlaubt es uns außerdem, diese Wände zu lokalisieren, ohne sie zu sehen: Sie befinden sich am Ende der beiden äußeren Reihen von Sitzbänken, die sicherlich gleich groß sind, wie die inneren Sitzbänke am Gang. Die Übung zur Perspektive kann jetzt in Gegenrichtung durchgeführt werden: So- bald die Schüler über eine brauchbare Aufsichtszeichnung verfügen, das Filmstandbild aber nicht mehr vor Augen haben, bittet man sie, das Foto zu skizzieren, zumindest die groben Linien der Ausstattung und den Standort der Figur. Es kann hilfreich sein, die- se Übung zunächst an der Tafel von Paolo Uccello auszuführen. Das Schachbrettmus- ter des Bodens sowie die Deckenbalken, die Tür und die seitlichen Fenster machen es dort leichter, das Prinzip des Fluchtpunktes zu erfassen, der im Keaton-Bild lediglich aus der Aufreihung der Sitzbänke und ihrer Bordüren ableitbar ist. Das Ziel dieser Übungen ist eine vollständige geistige Flexibilität der Schüler in Bezug auf die parallelen Linien, die so wenig der Definition entsprechen, die sie im Mathematikunterricht gelernt haben. 3.2. Buster Keaton und das Spiel mit dem Code Nachdem wir gesehen haben, wie das Bild den perspektivischen Code aufgreift, kommen wir nun zum zweiten und wichtigsten Teil der Betrachtung: die Art und Weise, wie die Regie unser Wissen um den Code benutzt, um daraus Bedeutung zu konstituieren. Auf die Schlüsselfrage: «Was überrascht an diesem Bild?» liefern die Schüler im Allgemeinen drei Antworten. Zunächst stellen sie fest, dass das Bild eine streng ge- gliederte, völlige Symmetrie etabliert, die jedoch im entscheidenden Punkt durch ein gewolltes Ungleichgewicht aufgehoben ist: Es gibt keine Braut auf dem symmetrisch zum Bräutigam liegenden Platz. Der zweite, schnell gefundene Punkt: Der Saal ist leer. Eine Hochzeit ist aber immer ein sozialer Akt, zu dem mindestens ein Vertreter des Staates oder der Kirche und zwei Zeugen gehören. Ein drittes Element verstärkt schließlich für die Schüler die Eigenartigkeit des Ensembles. Obwohl das Bild mit der im Zentrum liegenden weit geöffneten Flügeltür unsere Aufmerksamkeit auf 48 pauleit_korrektur4.indd 48 06.11.2008 13:19:42 Filmstandbilder einen bestimmten Punkt hin lenkt, scheint Buster in offensichtlichem Widerspruch zu unserer Erwartungshaltung weder beunruhigt noch besorgt zu sein. Er schaut vor sich hin, den Hut in der linken Hand und den Brautstrauß in der rechten Armbeuge, so als wäre er für die unmittelbar bevorstehende Zeremonie bereit. Dabei hält er aber nicht nach der Braut Ausschau, ohne die diese Zeremonie nicht denkbar wäre. Busters völlige Bereitschaft, den Dingen ihren Lauf zu lassen, ist paradox. Jetzt müssen wir in die Details des Drehbuchs einsteigen, um die sarkastische Funktion zu verstehen, die Keaton seiner Anwendung der Perspektive hier verleiht. Die Filmfigur Buster kann das Vermögen eines verstorbenen Onkels unter einer Bedingung erben: Sie muss innerhalb von 18 Stunden nach Testamentseröffnung heiraten. Die Erzählung beginnt an diesem Tag. Die Zeit drängt. Der beste Freund des Helden hat eine Idee: Eine Kleinanzeige im Nachmittagsblatt schlägt der erst- besten interessierten Frau die Ehe vor. Buster findet die Idee genial und begibt sich voller Zuversicht wie vereinbart ins Gotteshaus. Die Hochzeit, der die Figur entgegensieht, ist also nicht mehr als ein Vertrag, der beiden Seiten einen Vorteil verspricht. Gefühle spielen dabei keine Rolle und folglich äußert Buster auch keinerlei Neugier. Die Fortführung dieser quasi ma- thematischen Einstellung zur Ehe zeigen die nachfolgenden Einstellungen der von dem Foto eingeleiteten Sequenz: Wir sehen, wie Buster sich versichert, die beiden Fahrkarten zu den Niagarafällen, dem Standardziel einer amerikanischen Hoch- zeitsreise in der Tasche zu haben. Für den Fall, dass ihm seine unbekannte Braut zusagt. Danach überprüft er, ob er für den gegenteiligen Fall zwei Fahrkarten nach Reno dabei hat, der einzigen Stadt in den USA, in der damals Sofortscheidungen durchgeführt wurden. Durch die ungeschminkte Offenherzigkeit seiner Figur macht der Regisseur Ke- aton den zynischen Pragmatismus deutlich, zu dem uns die Gesellschaft ermuntert, wenn man einmal den Lack sentimentaler Ideologie von der Hochzeit abkratzt. Er zeigt auch, dass dieser Pragmatismus seinen Preis hat: die Verdrängung der Lust. Die Lust drängt schließlich mit Gewalt in die Geschichte, weil die Bräute in Massen kommen und denjenigen, der sie bestellt aber getäuscht hat, umbringen wollen13. Wenn wir mit den Schülern an diesem Punkt angekommen sind, führen wir ihnen die Sequenz vor. Sie führt aus, was das Standfoto schon hat spüren lassen. Keatons Figur betrachtet das Leben als eine einfache logische Anpassungsleistung. 13 Tatsächlich läuft nichts so wie geplant: Weil die erhoffte Braut auf sich warten lässt, legt Buster sich hin und schläft, aufgrund der Rückenlehne von der Tür aus nicht sichtbar, auf der Bank ein. Die Bräute kommen eine nach der anderen, setzen sich zunächst hinten, nahe der Türe hin und füllen langsam den Saal, ohne den Bräutigam zu sehen. Der erhebt sich erst, als ihn Nachzüglerinnen in seiner Nähe aufwecken. Es kommt zu Rivalitäten zwischen den Frauen, die um die Gunst des jungen Erben streiten. Als der vom Lärm herbeigerufene Priester erklärt, es handele sich wohl um einen schlechten Scherz, richtet sich ihr Frust gegen Buster, der bald vor der lynchwilligen wilden Meute fliehen muss. 49 pauleit_korrektur4.indd 49 06.11.2008 13:19:42 Claude und Francis Desbarats Probleme geht er mit einer Ernsthaftigkeit an, die Affekte ausspart. Das hat zur Folge, dass Situationen als bloße mathematische Probleme erlebt werden – «keine Frau» oder «zu viele Frauen» (denn am Ende füllen gut hundert Bewerberinnen den Saal). Busters Lösungen sind praktisch, einfallsreich und logisch, auch wenn diese Logik ihn an den Rand eines mörderischen Albtraums bringt. Das gleichzeitig von Komik und einer frostigen Traumatmosphäre geprägte Foto bildet somit eine Synthese einiger wesentlicher Merkmale der Filme, in denen Buster Keaton Regie geführt hat. 4. Serien von Filmstandbildern An den beiden Beispielen aus Way Down East und Sieben Chancen haben wir gesehen, in welchem Maße Standfotos die ästhetischen Anliegen der Filmemacher transportieren können. Doch ein einzelnes Foto ermöglicht eine große Freiheit bei der Analyse, weil man es nicht mit anderen Dokumenten in Verbindung bringt, die ihm widersprechen könnten. Daher müssen wir unsere Untersuchungsmethode jetzt auf die Probe der Serienbildung stellen. 4.1. Wie Stile und Formen des Kinos unterschieden werden können Diesmal vergleichen wir eine ganze Reihe von Fotos unterschiedlicher Filmema- cher, Epochen oder Genres: Damit die Übung wirklich spannend ist, muss sich die Differenzierung des Korpus auf ästhetische und sozio-ideologische Kriterien stüt- zen. Wir vergleichen beispielsweise Bilder aus amerikanischen und italienischen Western der 60er, oder den Einsatz der Farbe im amerikanischen Musical der Jahre 1945–1960 mit demjenigen der Jahre 1980–2000. Wir wollen hier teilweise auf eine Übung zurückgreifen, die anhand einer Serie von 30 gemischten Bildtafeln zu sechs Filmemachern, also fünf Fotos für jeden von ihnen, entwickelt wurde14. Dabei handelt es sich um Filmemacher, deren visuelles Universum leicht zu erkennen ist: Joseph von Sternberg, Alfred Hitchcock, Orson Welles, Robert Bresson, Jean-Luc Godard und Jean-Marie Straub. Beim Verteilen der Fotos an die Gruppen aus drei bis vier Schülern können die Namen der Regis- seure genannt werden, müssen aber nicht. Entweder die Fotos werden vermischt und ungeordnet ausgeteilt – dann wer- den die Schüler gebeten, zusammenhängende Untergruppen zu bilden. Sie grup- pieren nach Ähnlichkeiten und werden vom Betreuer aufgefordert, ihre Hypothe- sen zu erläutern. 14 Eigentlich handelt es sich um sieben Filmemacher, da Jean-Marie-Straub seine Filme gemein- sam mit seiner Frau Danièle Huillet gedreht hat. (Anm. d. Hrsg.) 50 pauleit_korrektur4.indd 50 06.11.2008 13:19:42 Filmstandbilder Oder aber es werden bereits vorsortierte Untergruppen verteilt und die Aufga- be läuft darauf hinaus, Ähnlichkeiten und Konstanten in ihnen zu entdecken. In jedem Fall aber besteht der erste Teil der Arbeit darin, zwei große Bereiche der Filmgeschichte (mit jeweils 15 Fotos) im Korpus zu entdecken: klassische Fil- memacher (die ersten drei) und moderne Filmemacher (die letzten drei). Erinnern wir kurz daran, dass das klassische Kino, das sich in den 20er-Jahren, aus- gehend von amerikanischen oder deutschen Filmen eines David W. Griffith, Charlie Chaplin, Ernst Lubitsch oder Fritz Lang entwickelte, die Geschichte der Hollywood- studios geprägt und in den 60er-Jahren seine letzte Blüte erlebt hat. Es verwendet eine auf Tiefenwirkung ausgerichtete Szenografie, in der das Dekor und die Körper der Darsteller ausgewogen auf der Oberfläche des Bildes verteilt sind. Das klassische Kino zeichnet sich zudem durch eine klare Erzählhaltung aus, seine Figuren bringen über ihren Blick eine unmittelbar erkennbare Intention zum Ausdruck. Im Gegensatz dazu präsentiert das moderne Kino, das nach dem Schock des Zweiten Weltkriegs in einigen Filmen des italienischen Neorealismus und dann in Frankreich im Umfeld der Nouvelle Vague entsteht, Figuren ohne eindeutige Moti- vation und mit unentschlossenem Blick15. Es produziert Bilder, die dazu neigen, die körperliche Einheit der oft mit einem seltsamen Mangel an Intensität ausgestatteten Figuren zu fragmentieren. Die Anordnungen von Dekor und Körpern zielen nicht auf eine räumliche Manifestation des Verhältnisses Träger-Bedeutung. Sie münden vielmehr in erstaunlichen Geometrien, in denen ein Objekt einen ebenso starken plastischen und symbolischen Wert haben kann wie ein körperliches Element16. Diese Unterscheidungskriterien zwischen klassischem und modernem Kino können unter Umständen zu Beginn der Übung dargelegt werden, aber die Erfah- rung zeigt, dass sie auch während der Arbeit aus den Beobachtungen erschlossen werden können. Als Beispiel behandeln wir hier zunächst nur drei (der erwähnten 30) Fotos, die den beiden gerade erläuterten ästhetischen Bereichen zugeordnet werden können. Ausgewählt wurden diese Fotos, weil sie alle auf folgender Situation basieren: Sie zeigen zwei Figuren, von denen die eine mit der Hand eine Geste andeutet, mit der sie eine andere Figur berührt oder berühren will (Abb. 7–9). Schnell wird deutlich, dass Abb. 7 anders angelegt ist als die beiden anderen. Sein Aufbau zielt darauf ab, eine normative Ausstattung und eine psychologisch klare Beziehung mit größtmöglicher Lesbarkeit darzustellen. Die beiden Protago- nistinnen befinden sich in einem Raum, der aus zwei rechtwinkligen, gut sichtba- 15 Das weiter oben schon erwähnte Werk Antonionis gehört zu dieser Filmrichtung. 16 Für Alain Bergala ist der Umbruch vom klassischen zum modernen Kino «der Übergang von der kinematografischen Szene als einer Volumensimulation zur Filmleinwand als glatter Flä- che». Er zitiert Roberto Rossellini und Robert Bresson als charakteristische Regisseure dieser nicht-volumetrischen Szenografie (Bergala, 1980, S. 8). 51 pauleit_korrektur4.indd 51 06.11.2008 13:19:42 Claude und Francis Desbarats ren Wänden gebildet ist. Dass diese unscharf sind, hebt ihre Träger-Funktion nicht auf: Sie bilden einen luxuriöser Salon mit verziertem Kamin und Stichen an den Wänden. Das Oberteil der Rückenlehne eines zum Schlafen einladenden Möbels beendet die absteigende Diagonale, die die beiden Köpfe miteinander verbindet. Diese Linie wird durch die Blickrichtung der stehenden Figur wie durch die Geste ihres bloßen Armes bestimmt. Die geschmeidige Rundung dieser Diagonale, die Umhüllung, die die Ausstattung bewirkt, sind wichtige formale Elemente. Aber sie treten hinter der Wirkung, die sie erzielen, zurück: Die Szenografie will nicht mehr, als die Vorstellung eines langsamen Aufwachens in der sanften Vertrautheit zweier Frauen zu evozieren, und das im Rahmen eines beruhigenden Wohnzimmers. Bei den beiden anderen Bildern scheint die Darstellung des Raumes und der Beziehung zwischen den beiden Figuren im Gegensatz dazu wie von einer bestän- digen Unsicherheit geprägt. Abb. 8 platziert ein verstohlenes «Nolimetangere»17 in der Öffnung einer Tür: Eine Frau scheint zaghaft darum zu bitten, nicht berührt zu werden. Bei dieser Si- tuation, die unter umgekehrten Vorzeichen an die Haltung von Christus gegenüber Maria Magdalena erinnert, sind die räumlichen Hinweise karg, die Oberflächen sind flach, ohne Plastizität oder Relief. Der Türpfosten ohne Zierleisten oder auch nur eine Kante schneidet das Bild der jungen Frau wie mit einer Schere ab. Visu- ell am irritierendsten ist der Platz des Hutes. Auf den ersten Blick scheint er den plastischen Aufbau zu stärken: Er kompensiert das Ungleichgewicht auf der linken Seite des Bildes, indem er ein zentriertes gleichschenkliges Dreieck vervollständigt. Dessen Ecken bilden somit drei Bereiche vergleichbaren Volumens. Aber die Kom- position unterläuft das suggerierte formale Gleichgewicht, weil sie eine verstörende Gleichwertigkeit zwischen einem Hut und einem Kopf herstellt. Angesichts der narrativen Situation wird die Ratlosigkeit nicht geringer. Man würde sagen, dass die Frau sich anschickt, die Tür zu schließen, während ihr Ge- sprächspartner ihr seine Zärtlichkeit bezeugen will (er streckt seine Hand behut- sam aus). Man stellt sich eine Wohnungs- oder Hotelzimmertür vor. Aber wo ist drinnen, wo draußen? Der Hut legt nahe, dass die Frau den von ihrem Gesprächs- partner bewohnten Raum verlässt: Der Ort ist ein Vestibül oder zumindest ein Eingangsbereich, in dem der Mann seinen Hut aufgehängt hat. Doch scheint die Kleidung des Mannes mehr als die der Frau dazu geeignet, das Haus zu verlassen (er trägt einen Anzug, sie ein Kleid). Und die Tür weist keinerlei architektonisches Merkmal auf, das sie als Eingangstür ausweist, nicht einmal wenn man die Nüch- ternheit moderner Hotels der 60er-Jahre in Betracht zieht. Schließt man daraus, dass es sich um eine Badezimmertür handeln könnte, zöge das nur weitere Un- 17 Nolimetangere (lat.), dt. «rühr mich nicht an», in der Kunstgeschichte Darstellung des auf- erstandenen Christus, der Maria Magdalena am leeren Grab erscheint (nach Joh. 20,14ff). (Anm. d. Hrsg.) 52 pauleit_korrektur4.indd 52 06.11.2008 13:19:42 Filmstandbilder Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 53 pauleit_korrektur4.indd 53 06.11.2008 13:19:44 Claude und Francis Desbarats klarheiten nach sich. Tatsächlich wurde der Ort widersprüchlich angelegt und in gewisser Weise dekonstruiert. Als solcher bildet er den Rahmen zur Verewigung des Moments, in dem beim Mann gefühlvoller Ernst und bei der Frau verlegene Zu- rückhaltung aufkeimt. Man kann das Bild daher als fast abstrakt bezeichnen. Die zu weiße, schmuck- lose Oberfläche der Wand steht für eine Kinoleinwand, wenn noch kein Film im Projektor ist. Auf dieser nackten, von einem männlichen Zuschauer betrachteten Oberfläche wird die Frau mit den stark geschminkten Augen und dem spitzenbe- setzten Kleid zu einer Erscheinung. Diese Mise en abyme18 erklärt den Ernst des Mannes: Die zögernde Geste seiner Hand möchte das Bild der erträumten Sphinx- Frau, der Kind-Frau festhalten. Aber auch hier bringt der Hut eine widersprüchliche Note hinein. Er erinnert da- ran, dass der gerührte Mann gleichzeitig im Begriff ist, zu gehen, bereit, seinen Hut zu greifen und sich der Außenwelt anstatt der Beziehung zu einer realen Frau zu stellen. So entspricht das Unbestimmte des Bildes den unbestimmten Gefühlen. Ein Hut und eine weiße Fläche machen die traditionelle Szenografie zweier Fi- guren an einer Tür zu einem graphischen Dreieck, in dem die Gesichter zu Masken unsteter Archetypen werden (der von Narben zerfurchte Haudegen, die rätselhafte Frau), ehe sie Menschlichkeit erlangen können. Das Bild muss sich erst selbst be- trachten, ehe es etwas bedeuten kann. Das Gleiche könnte man von Abb. 9 sagen. Auch dieses Bild hat bemerkenswert provozierende Komponenten: Die menschliche Figur ist in die rechte Bildhälfte verbannt, von einer zweiten Figur ist lediglich der rechte Arm angeschnitten, der Beckenrand wird durch die Anhäufung dreier nackter Arme fortgeführt. Die sich so abzeichnende zusammengestückelte Diagonale passt nicht zusammen, sie geht von Beton auf Fleisch über, von Hellgrau zu Dunkelgrau, und sie ist an beiden Enden stark gebogen. Das antike Kostüm und die aufwändige Frisur der sichtbaren Figur lassen auf einen wohlhabenden, mindestens aristokratischen wenn nicht gar fürstlichen Hintergrund schließen. Doch der moderne Beton und vor allem das Unkraut passen nicht zu dieser historischen und sozialen Zuordnung. Dieser Widerspruch verlangt nach einer Erklärung. Das Konzept der Filme- macher bestand darin, ein wenig bekanntes historisch-politisches Theaterstück von Corneille genau am Ort seiner Handlung, der römischen Kaiserresidenz auf dem Palatin, aufzuführen ohne den Ort während der Dreharbeiten in irgendeiner Weise zu verändern. Diese Entscheidung der Regie öffnet eine Kluft zwischen den Kostümen, die sich an die Spielregeln einer Theateraufführung halten, und der ar- 18 Mise en abyme: Begriff von André Gide, bezeichnet die Einbettung einer Erzählung in eine an- dere Erzählung, eines Bildes in ein anderes Bild als Gestus der Selbstreflexion. Vgl. Jacques Au- mont / Michel Marie: Dictionnaire théorique et critique du cinéma. Paris 2007, S. 127f. (Anm. d. Hrsg.) 54 pauleit_korrektur4.indd 54 06.11.2008 13:19:45 Filmstandbilder chäologischen Stätte im derzeitigen Zustand. Dadurch wird die Sehnsucht nach vergangenen Zeiten in scharfen Kontrast gebracht zu der schmerzlichen Erkennt- nis «dass es vorbei ist». Aufgrund dieser außergewöhnlichen Authentizität wird im Bild mit Nachdruck die Haltung des jungen Mädchens betont. Es hält den Kopf gesenkt und blickt die Figur nicht an, an die es sich richtet. Die eigenartige Geste des Gesprächspartners (zweifellos einer Gesprächspartnerin) gleicht den fehlenden Blick aus: Die gewölb- te Hand kann Zärtlichkeit andeuten oder aber Schweigen oder zumindest Mäßi- gung verlangen. Die Aufsicht in einem strengen 45-Grad-Winkel, die durch die Spiegelung des Himmels im Dreieck des feuchten Bodens blockierte Tiefenwirkung, der wie mit einem Skalpell gezogene Rahmen, das Metallische des Bildes verstärken durch den Kontrast die wilde Entschlossenheit der Sprecherin und die Energie, mit der ihre Lippen die Worte formen. Diese junge Frau wird nicht durch ihre gesellschaftliche Stellung bestimmt, sondern durch das was sie tut. Abb. 8 und 9 gehören zum modernen Kino. Sie entstammen zum Einen Al- phaville von Jean-Luc Godard (1965) und zum Anderen Othon von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet (1969). In den 60er- und 70er-Jahren galten diese Fil- memacher als die radikalsten Avantgardisten. Die Bilder ihre Filme beziehen ihre Kraft aus einem grafischen und nicht aus einem räumlichen Eindruck, sowie aus den überraschenden Bezügen, die sie zwischen Körpern und Objekten herstellen. Die Ausstattung hüllt die Figuren nicht ein. Sie ist gebrochen wie die Figuren, um sich mit ihnen in einer verstörenden Geometrie neu zusammenzusetzen. Indem die Figuren die Gefahr der Verdinglichung überwinden, beweisen sie ihren Selbst- behauptungswillen19. Das ändert jedoch nichts daran, dass bei modernen Filmemachern das Un- gleichgewicht ein unabänderlicher Bestandteil der Welt ist. Man könnte sagen, dass Persönlichkeiten wie Abbas Kiarostami im Iran oder Hou Hsiao-Hsien in Taiwan diese Linie heute in gewisser Weise fortführen. Abb. 7 stammt aus einem amerikanischen Film der 40er-Jahre, dessen Titel wir später nennen werden. Im Gegensatz zu den beiden anderen verbirgt es seine 19 Das Foto aus Alphaville entspricht tatsächlich keinem Moment des Films, auch wenn die Figuren in der zentralen Sequenz diese Kleidung tragen. Die Sequenz spielt in einem Hotel- zimmer, das der Mann bewohnt. Der Hut hängt an der Wand seines Badezimmers. Beim Hin- ausgehen setzt er ihn auf. Aber der Hut hängt weiter weg, er taucht erst in Halbnahaufnahmen auf, zu keinem Moment wie auf dem Foto in einer Nahaufnahme. Zeugt das Foto vielleicht von einer im Schnitt verworfenen Einstellung? Nein, denn in der Sequenz, in der man den Hut an der Badezimmerwand hängen sieht, hängt er weiter von der Tür weg. Das Bild wurde also, zweifellos unter der ausdrücklichen Anleitung des Filmemachers, als ein Emblem des Films aufgenommen... als ein Emblem der Filme Godards. – Beide Fotos, das aus Alphaville und das aus Othon wurden von Alain Bergala 1980 in «Scénographie» als Beispiele moderner Szenografie publiziert. Bergala,1980, S. 45f. 55 pauleit_korrektur4.indd 55 06.11.2008 13:19:45 Claude und Francis Desbarats Kunstgriffe, um sie besser zu «naturalisieren»: Die formalen Elemente (die Zentrie- rung der Gruppe mit den beiden Figuren, der Aufbau in einer Diagonalen, die Ein- bettung in den Dekor) werden von uns nicht bewusst wahrgenommen, denn bevor wir sie bemerken, sorgt die Regie dafür, dass wir sie der fortschreitenden Handlung unterordnen. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich auf Fragen der Narration, die das Bild enthält (so wirft hier vor allem der Blick und die Geste der stehenden Figur Fragen auf). Dies ist der Hauptunterschied zwischen dem klassischen Kino und dem modernen Kino, das sich weigert, seine Inszenierung zu verbergen und damit zu naturalisieren. 4.2. Vergleich zweier Filmemacher des klassischen Kinos Nachdem die Schüler gelernt haben, die großen stilistischen Formen zu erkennen, sollen sie in einer abschließend beschriebenen Übung entdecken, wie sich die Welt- sicht eines Filmemachers visuell manifestiert. Auf diese Weise kann die Idee des filmi- schen Stils für sie ihre anfängliche Undurchschaubarkeit verlieren. Damit die Übung für die Schüler wirklich aussagekräftig ist, bitten wir sie zwei Filmemacher zu unter- suchen, da wir wieder nach dem Prinzip vorgehen werden, Unterschiede zusammen- zustellen und zu diskutieren. Wir verteilen also ungeordnet je drei Fotos aus Filmen zweier klassischer Filmemacher. Die Schüler sollen sie beiden Regisseuren zuordnen und dann aus den zusammengestellten Fotos die jeweilige Ausdrucksweise ableiten. Im Rahmen einer Publikation können die Bedingungen der Übung, in der die Fo- tos vermischt sind, nicht reproduziert werden. Wir setzen hier daher gleich mit der zweiten Etappe ein, die beginnt, nachdem die Fotos korrekt aufgeteilt worden sind: mit der Analyse dessen, was von dem visuellen Universum der beiden Filmemacher erkennbar ist. Es handelt sich um Alfred Hitchcock und Orson Welles. Alfred Hitchcock und die Bewegung des Sturzes Die Fotos stammen aus Der Mann, der zuviel wusste (1934), Verdacht (1941) und Die Vögel (1963) (Abb. 10–12) Betrachtet man die drei Fotos, ist man von dem paradoxen Kontrast verblüfft, der ihnen zugrunde liegt: Mindestens eine (meist weibliche) Figur wird durch eine Gefahr bedroht und scheint von ihrem Wissen um diese Gefahr bzw. von der An- wesenheit des (männlichen) Trägers dieser Gefahr wie gelähmt. Diesen Eindruck vermittelt uns die Lage des Kindes auf dem Bild von 1934, die der reichen bürger- lichen Frau in Verdacht und die der Protagonisten in Die Vögel. Ihr starrer, wie angehaltener Blick lässt ein gerade noch kontrolliertes Entsetzen erahnen. Dabei ist die Gefahr jeweils präsent: im Mann mit dem Revolver ist sie offensichtlich; in der spöttischen Art des schicken Mannes ist sie angedeutet; für die Leute, die in ihrem Haus Zuflucht gesucht haben und hören, wie die nicht sichtbaren mörderischen Vögel das Dach ihres Hauses angreifen, ist sie im Off. 56 pauleit_korrektur4.indd 56 06.11.2008 13:19:45 Filmstandbilder In diesen Bildern organisiert sich somit alles über einen Blick, der auf ein Un- heil bringendes «Objekt» gerichtet ist, als käme eine Flucht nicht in Betracht. In- dem die Szenografie starre Blicke mit einem unsichtbaren, dem Blick versperrten Raum verbindet, vermittelt sie den Eindruck einer Gewalt, die durch ein kaum merkliches Timing rätselhaft wird: einer gefilterten Gewalt. Diesen allgemeinen Ansatz gilt es jetzt anhand der jeweiligen dramatischen Si- tuationen zu präzisieren. In Der Mann, der zuviel wusste ist das Mädchen die Geisel von Spionen. In der Sequenz, der das Foto entstammt, hat die Polizei gerade das Gebäude der Spio- ne angegriffen und einer von ihnen will sich mit der jungen Geisel seinen Weg über die Dächer bahnen. Sie ist ihm aber entwischt. Für eine doppelte Fluchtsituation, wirkt die dargestellte Situation verblüffend langsam. Es mag zwar logisch erschei- nen, dass der Schreck das junge Opfer lähmt, es überrascht aber, dass der Spion trotz seiner vorteilhafteren Position zögert, seinen Revolver auf sie zu richten. Die Situation hat mehr von einem sadistischen Katz-und-Maus-Spiel als von einer fie- berhaften Verfolgungsjagd über die Dächer. Diese angespannte Erwartung, diese Ruhe vor dem Sturm, findet sich auch in Verdacht wieder. Gemäß den Kodierungen Hollywoods ist die Frau durch ihre aus- gesucht elegante Kleidung (Stickereien, abgesetzte Schulterstücke) in Kombination mit der Abwesenheit von erotischen Merkmalen (hoher Kragen und unbetonter Bu- sen) zweifellos als verheiratet gekennzeichnet. Die Szene stellt den Moment dar, wo der Gatte nach einem friedlichen Abend die Haustür schließt und die Nacht aus dem ansehnlichen Heim aussperrt. Dabei blickt er nicht, oder nicht mehr, das Schloss an, an dem seine Hand noch verweilt, sondern seine Frau, wodurch er einem eigentlich banalen Akt plötzlich eine gewisse Bedeutungsschwere verleiht. Die Ehefrau kann ihm daher mit gutem Grund bedrohliche Intentionen unterstellen und damit eine Bestätigung ihres vorherigen, Titel gebenden «Verdachts» finden. Aber sie ist blo- ckiert, dazu verdammt, ihrem Mann nichts von ihrem Argwohn zu sagen: Täuscht sie sich, beleidigt sie ihn, und hat sie Recht, sollte sie besser schweigen. In dieser ausweg- losen Situation verkrampft sie sich und ist vorübergehend unfähig sich zu bewegen. Im Bild aus Die Vögel ist die den Augen verborgene Bedrohung besonders heimtückisch. Die Mutter, der erwachsene Sohn, die kleine Tochter sowie die Freundin des Sohnes lauschen wie gebannt in den Dachboden hinein und versu- chen, den Lärm, den sie von dort hören, zu deuten – dumpfe Stöße, Flügelschlagen, schrille Schreie. Bei dem Mann findet man die Geste der vor dem Schoß gefalteten Hände der Ehefrau aus Verdacht wieder: Anspannung als Anzeichen einer noch kontrollierten Beunruhigung. Welchen Anteil hat die Ausstattung an der Szenografie dieser Fotos? Auf den ersten Blick wirkt sie bescheiden. Sie scheint sich darauf zu beschränken, die Schau- plätze zu lokalisieren: eine knapp bemessene Bedachung, lediglich eine Wand mit 57 pauleit_korrektur4.indd 57 06.11.2008 13:19:45 Claude und Francis Desbarats Abb. 10: Der Mann, der zuviel wusste, (Alfred Hitchcock) einer Tür, der Winkel eines Wohnzimmers zur Teestunde. Die Kamera ist neutral: horizontale Ausrichtung (selbst für das Dach, was bemerkenswert ist), mittlere Brennweiten, weder kurz noch lang. Einzig die Ausleuchtung ist virtuos ausgear- beitet. Für den Mann, der zuviel wusste zählt man mindestens drei Arten von Schatten: das Tintenschwarz des Gesimses und des Reliefs der Ziegel, die verwisch- ten Kontraste auf der Bedachung und schließlich die Nuancen des Himmels20. In Verdacht gibt es nur einen einzigen, fließenden Schatten, eine große, gekrümmte Oberfläche, die die Ehefrau zu verschlingen scheint, ohne dass der Ehemann be- droht wäre. (Das Foto aus Die Vögel lassen wir hier außer Betracht, weil es die Schwarz-Weiß-Reproduktion eines Farbfotos ist.) 20 Die Schatten und Lichter dieses Fotos erfordern eine gesonderte Untersuchung ihrer techni- schen Quellen (wo stehen die Projektoren?), ihrer durch die Erzählung begründeten diegeti- schen Quellen (der Mond? Straßenlaternen?) und des semantischen Systems, das sie prägen (die Fassade: eine normale Zone mit klarem Licht? die Bedachung: eine pathologische Zone mit schwankenden Lichtern?). Fügen wir noch hinzu, dass das zwar seltene aber keineswegs außergewöhnliche Hochformat dieses Fotos anzeigt, dass es sich nicht um einen Abzug vom Filmstreifen handeln kann, weil das Filmbild immer im Querformat ist. 58 pauleit_korrektur4.indd 58 06.11.2008 13:19:46 Filmstandbilder Abb. 11: Verdacht, (Alfred Hitchcock) Abb. 12: Die Vögel, (Alfred Hitchcock) Doch vermittelt nicht nur das Licht Bedeutung. Das Verhältnis der Figuren zur Ausstattung verdient ebenfalls Beachtung. Es erweist sich, dass sich die Figuren in allen drei Fällen an die Oberfläche einer Wand drängen, um einen kaum mehr als illusorischen Schutz zu suchen. Dies zeigt sich in Der Mann, der zuviel wusste in der winzigen Handbewegung, die sich das Kind erlaubt, in Verdacht in der Starre, mit der die Ehefrau versucht, mit der weißen Wand zu verschmelzen, und schließlich in jener Kraft, die die Figuren in Die Vögel gleichzeitig gegen ihre Leh- nen und an den seitlichen Bildrand drängen. Wer mit tastender Hand hinter sich nach festem Halt sucht, gibt zu erkennen, dass er Angst hat, das Gleichgewicht zu verlieren. Ein Körper, der des Opfers, und eine Wand, diejenige des Hintergrunds, genügen dem Filmemacher, um eine Sze- nografie der Angst zu entwerfen. Der angedeutete vertikale Abgrund wird wichti- ger als die horizontale Tiefe des Raumes. Der Film von 1934 liefert mit dem starken 59 pauleit_korrektur4.indd 59 06.11.2008 13:19:47 Claude und Francis Desbarats Gefälle des Daches, der senkrechten Fassade und den beiden schmalen von einer Leiter verbundenen Trittflächen dafür ein Paradebeispiel. In dieser Inszenierung des Schwindelgefühls kommt die schlimmste Bedro- hung von oberhalb des Kopfes aus dem Punkt im Raum, von dem man die Gefahr am wenigsten erwartet. Und genau von dort kommen die Vögel: Sie brechen durch den Himmel, vernichten Dachböden und reißen die Menschen – und vor allem die Frauen – ins Verderben, ohne selbst jemals den Boden zu berühren. Man versteht, dass der Spion, der sich auf das Kind stürzen will, wie ein Raubvogel auf einem Baumwipfel auf dem Dachfirst steht. Aber in den Bildern steckt mehr als nur die Verheißung eines auf Angst ge- polten Kinos, und sei es auch noch so brillant. Das Schwindelgefühl, das die Op- fer befällt, rührt auch von einem Gefühl der Vertrautheit mit dem Angreifer her. Letzterer zeichnet sich durch Schwäche und Menschlichkeit aus: durch Zurückhal- tung und Unbeholfenheit im Falle des Spions, durch die betonte Zweideutigkeit des Ehemanns, und bekanntermaßen hat Hitchcock darauf bestanden, statt Geiern oder Adlern Möwen und Spatzen als Vögel für seinen Film zu nehmen. Das Unbehagen, das diese Bilder freisetzen, kommt also daher, dass die den Sturz ankündigende Erstarrung Bestürzung auslöst. Es entsteht weil die Opfer da- von überzeugt sind, dass ihre geheimsten Gedanken in der Figur des Henkers ihre exakte Verkörperung finden. Orson Welles und die Kreisbewegung Die Fotos stammen aus Citizen Kane (1941), Die Lady von Shanghai (1948) und Othello (1950) (Abb. 13–15) Versucht man, Hitchcocks Fotos «zuzuhören» – wozu man die Schüler auffor- dern kann –, «hört» man nur einige vereinzelte, gedämpfte Töne. Dieselbe Übung liefert bei den Fotos von Orson Welles ein ganz anderes Ergebnis: Sie bersten vor «sound and fury». Auf dem Foto aus Citizen Kane richtet sich eine Stimme ans Off und wird angereichert durch im Keim angelegte Objekt-Geräusche: die Flasche, das Glas oder die Schreibmaschine. Bei Die Lady von Shanghai antwortet das Klirren der Spiegel den Schüssen des finalen Duells zwischen der Ehefrau und ih- rem am Boden liegenden Mann im Spiegellabyrinth des Jahrmarkts. In Othello wird das Gespräch zwischen zwei Figuren zu einer Proklamation an die Menge, de- ren Echo zahllose Flügelschläge sind. Die außerordentlich aktive Präsenz des Tons bildet für Welles eines der Mittel, um das Bild mit Ereignissen zu bevölkern. Jedes Mal organisiert die Szenografie nämlich ein Karussell an Objekten, Bruchstücken, Splittern. Eine ungefähr zentrale Achse dient dieser offensichtlichen Unordnung als vermittelnder Dreh- und Angelpunkt, indem sie zwei Szenen mit- einander verbindet, die ihrerseits verschiedene Unter-Räume zusammenhalten. Es gibt in der Regel weder eine Wand im Hintergrund noch Frontalität. Maximal drei 60 pauleit_korrektur4.indd 60 06.11.2008 13:19:47 Filmstandbilder Abb. 13: Citizen Kane (Orson Welles) Abb. 14: Die Lady von Shanghai (Orson Welles) Abb. 15: Othello (Orson Welles) 61 pauleit_korrektur4.indd 61 06.11.2008 13:19:49 Claude und Francis Desbarats Seiten und drei nur zum Teil sichtbare Kanten genügen, um eine Vorstellung des Würfels zu geben: relativ präzise im Redaktionsbüro von Citizen Kane (die Decke und zwei Wände des Büros) oder kaleidoskopisch in Die Lady von Shanghai (die Linien auf dem Boden, die vertikalen Ebenen der Gläser und Spiegel). Bei Othel- lo ist eine der Seiten (die Decke, bzw. der Himmel) aufgebrochen und die beiden anderen Seiten streben in umgekehrter Richtung auseinander: die beiden Ebenen des Pfeilers ziehen das Bild mit Gewalt nach vorne. Die nach unten oder nach oben verschobene Position der Kamera und ihre Nei- gung (in Aufsicht oder in Untersicht) betonen das Zusammenlaufen der Linien und verwandeln dabei die Vertikalen in ein Netz sich verjüngender Linien. Im Bild von Othello, auf dem man den Markusplatz in Venedig erkennen kann, verengt Welles den oberen Teil des Pfeilers und lässt die Säulen rechts und den Campanile links von ihm sich zu ihm hin neigen: Die ruhige Anordnung des Renaissance-Stadtbildes wirkt durch die chaotischen Lichtkontraste und die Verzerrungen der Formen barock. In dieser von Bewegungen durchpflügten, in permanenter Rotation befindli- chen Welt, gehorchen die Körper der Darsteller der Szenografie und bilden ein Bündel an Richtungen. Othello spricht mit dem Gesicht gen Himmel, während die in rechtem Winkel zu ihm stehende Desdemona ihre Augen auf den Boden richtet. Die Lady von Shanghai und ihr Geliebter stehen zwar beide aufrecht und fixieren den erschossenen Ehemann, blicken aber ebenfalls in unterschiedliche Richtungen, weil sie unterschiedlich auf die visuelle Falle der Spiegel reagieren. Weitere technische Entscheidungen erhöhen die Anzahl der visuellen Ereignis- se. Die kurzen Brennweiten erweitern das Bildfeld seitlich und öffnen es dadurch auf die im Vordergrund angeordneten Objekte (in Citizen Kane auf das Glas, die Hand des Schläfers, den Rücken der Schreibmaschine...). Darüber hinaus schließt die enorme Schärfentiefe alle zwischen Vorder- und Hintergrund positionierten Elemente ein, es gibt keine Unschärfe mehr. Welles zeigt im Vordergrund die Ehe- frau mit der Waffe und mehrere Meter entfernt den verletzten Ehemann. Genauso lässt er uns im Redaktionsbüro sowohl das Etikett der Flasche als auch den Namen des betrunkenen Journalisten, «Jed Leland», lesen, der auf der geöffneten Tür ge- schrieben steht. Welles’ Bilder konstituieren lebendige Gräten, von denen ausgehend Linien und Oberflächen ihren Schwung über den gesamten Raum verteilen und allen Ele- menten Bedeutung verleihen. Es geht darum, folgendes zu zeigen: Der Mensch, der letztlich selbst nur aus Materie besteht, stürzt sich in das rege Treiben der Moleküle, um der eigenen Maßlosigkeit zu trotzen. Welles’ Figuren begreifen ihre Taten als begeisternde Herausforderungen und finden dadurch die nötige Kraft, die entge- genfächernde Luft und Materie zu durchmessen. Dieser lautstarke Stil, in dem jeder einzelne Moment zu einer Klimax werden kann, ist weit entfernt von der Zurückhaltung, die Hitchcocks Bilder kennzeichnet. 62 pauleit_korrektur4.indd 62 06.11.2008 13:19:49 Filmstandbilder Seine Vögel verkörpern einen nicht sichtbaren, rächenden Gott. Die auffliegenden Tauben in Othello sind hingegen eine aktive Materialisierungen der Luft, ein Anzei- chen für die beständige Bewegung der Atome. In der stroboskopischen Welt des Or- son Welles hat der Mensch niemand anderem als sich selbst Rechenschaft abzulegen. Er genießt die berauschende Freiheit, sich selbst zu erproben – oder zu vernichten. Die Standfotos haben uns zum Nachdenken über Bewegungen angeregt – über die verlangsamte Bewegung des Sturzes bei Hitchcock, über die abgehackten Kreisbe- wegungen bei Welles –, die für das visuelle Universum dieser Autoren fundamental sind. Wenn man den Schülern in der nächsten Phase die zu den Bildern gehören- den Filmausschnitte vorführt, haben sie daher keine großen Schwierigkeiten mehr, ihre Aufmerksamkeit auf den jeweiligen Stil eines Filmemachers zu richten. Sie un- tersuchen dann, wie die «Einstellung», die sie kennen, sich in das filmische Schrei- ben einfügt (Die Vögel, Citizen Kane), und wie die im Studium der Standfotos herausgearbeitete Grund-Szenografie sich dort verändert. Wenn der Standfotograf Aspekte verschiedener Einstellungen einer Sequenz zusammengefasst hat, hinter- fragen sie die Gründe und Wirkungen seiner Entscheidungen (Der Mann, der zuviel wusste, Die Lady von Shanghai). Sehr schnell sind sie in der Lage, diese Arbeit auch auf Ausschnitte aus anderen Filmen der beiden Filmemacher auszu- dehnen, von denen sie keine Fotos bekommen haben. 5. Zu den Vorzügen und Nachteilen der Arbeit mit Filmstandbildern Die Besonderheit von Filmstandbildern liegt darin, dass sie Bindeglieder darstellen. Es sind sowohl vermittelnde Objekte – das ist ihre Stärke – als auch unvollständige Objekte – darin liegt ihre Begrenztheit. Beide Aspekte müssen wir präzisieren. Wir haben gesehen, dass Filmstandbilder in zwei Richtungen vermitteln. Einer- seits hat das Filmstandbild Ähnlichkeit mit der Malerei. Beiden gemeinsam ist der entscheidende Einfluss einer ein für alle Mal gegebenen Komposition, die wohlüber- legte Wahl der funktionalen Ausrichtung des Bildes (narrativ, beschreibend, rätsel- haft), die Klarheit der szenografischen Ausrichtung. Diese Ähnlichkeit eröffnet einen wichtigen Zugang zur Kenntnis der Beziehungen zwischen Film und Malerei. Andererseits entstammt das Filmstandbild der Filmkunst. Es weist Spuren je- ner Bedeutung auf, die erst durch den zeitlichen Ablauf des Films entstehen. Diese Zeitlichkeit bleibt im Foto natürlich virtuell, doch vermittels des feinen Netzes nar- rativer, in das Standfoto eingeschriebener Elemente flößt die Zeitlichkeit dem Bild in punkto Raum und Zeit echte Dynamik ein. Zwar reduziert das Filmstandbild die Anzahl der szenografischen Parameter, steigert dadurch aber die Wirkung der- jenigen, die es beibehält und erleichtert somit ihr späteres Wiedererkennen beim Studium der Sequenzen. 63 pauleit_korrektur4.indd 63 06.11.2008 13:19:50 Claude und Francis Desbarats Doch bei allen Vorteilen, die die Verwendung von Filmstandbildern bieten, muss kurz auch ihre Unvollständigkeit zur Sprache kommen. Zwei Fragen stellen sich in diesem Zusammenhang, die nach der Auswahl der Fotos und die nach ih- rem Defizit in Bezug auf den Film. Da Filmstandbilder partielle Objekte sind, neigt man dazu, diesem Manko durch eine Anordnung in Reihen abzuhelfen: Wie soll man so eine Reihe gestal- ten? Wählt man bei einem Filmemacher Momentaufnahmen der Eintracht oder des Konflikts, Totalen oder Großaufnahmen, oder jedes Mal etwas von beidem? Egal, was man macht, es ändert nichts daran, dass eine vom Lehrer vorgeschlagene Lesart eine von ihm vorgegebene ist – übrigens genauso wie die Arbeit des Standfo- tografen oder wie jede andere Form der Auswahl. Das muss man so akzeptieren und bedenken, dass jede Lesart je nach den aus- gewählten Elementen etwas anderes integriert. Ein weiter oben untersuchtes Foto wird das zeigen. Das Foto der beiden Frauen in dem friedlichen Wohnzimmer, von denen die eine die andere behutsam weckt: Gehört es zu Hitchcock oder zu Welles? Welles kann schnell ausgeschlossen werden, da das Bild nicht zum formalen System seiner Filme passt. Es stammt tatsächlich aus Hitchcocks Kino (aus Verdacht, von dem wir das «Paar im Moment des Türschließens» gesehen haben). Aber treffen wir diese Zuschreibung nicht nur mangels eines besseren Kandidaten? Können wir dieses Bild eines liebevollen In-den-Arm-Nehmens als für Hitchcock typisch be- trachten? Dass es in diesem Bild keinerlei Gewalt gibt, beweist, dass nicht alle Bilder eines Filmemachers immer von gleicher Intensität sind, dass es starke und schwa- che Moment gibt. Vielleicht hat den Standfotografen aber auch die hartnäckige Traumverlorenheit der jungen Frau angezogen, die ihre schon geöffneten Augen noch immer ins Leere richtet und deswegen zögert, ihrer Freundin zu antworten. Hat der Fotograf somit nicht nur eine andere Form der tragischen Klarsichtigkeit Hitchcock’scher Figuren und ihres angsterfüllten Schwindelgefühls festgehalten? Die andere Begrenztheit der Fotoanalyse ist tiefgehender. Man kann ihr vor- werfen, scheinbar so zahlreiche Informationen zu liefern, dass die Kenntnis des Filmemachers als abgeschlossen betrachtet werden könnte. Filmstandbilder verschaffen dem Betrachter tatsächlich eine dominierende Position. Er betrachtet ein im Vergleich zum Film reduziertes Objekt, das es ihm ermöglicht, in aller Ruhe in die Welt des Filmemachers einzudringen und sie ohne Risiko in Besitz zu nehmen. Diese Reduktion hat ihre Vorteile. Die Schüler, die ihre Analysen und die Klas- sifizierung nach Filmemachern in Gruppenarbeit durchführen, können die Fotos zugleich studieren und in der Gruppe diskutieren. So können sie eine gemeinsame Sprache finden, die dem Werk gerecht wird. Ihre Analysen können allerdings all das nicht berücksichtigen, was mit der Handlung des Films und mit ihrer Zeitlichkeit zusammenhängt, mit der Rezeption 64 pauleit_korrektur4.indd 64 06.11.2008 13:19:50 Filmstandbilder der bewegten Bilder und des Tons: Sie kennen weder die Umwege der Narration, die Kontinuitäten oder Brüche im Tonfall, die Modalitäten der Montage. Schließ- lich stellt der Filmemacher eine auf die Dauer der Projektion ausgedehnte Sinnes- wahrnehmung bereit. Auf diese Weise ermöglicht der Film eine Infragestellung des Zuschauers: Er formt seine Affekte, spielt mit seiner Fähigkeit oder Unfähigkeit zur Vorausschau, gefährdet oder verstärkt seine narzisstische Abwehr, bestärkt seine ideologischen Überzeugungen oder stellt sie auf den Kopf. Im Gegenzug zu seiner Macht ist der Filmemacher verpflichtet, bei der emotionalen und intellektuellen Reise, auf die er den Zuschauer mitnimmt, konsequent zu sein. Die Modalitäten dieser Verpflichtung schreiben sich in den Ablauf des Films ein. Filmstandbilder bieten keinen direkten Zugang zu den komplexen Bedeu- tungsproduktionen der Filme. Sie zeigen weder, wie Hitchcock vom körperlichen Schwindel zu einer Hinterfragung der Verquickung von Lust und Schuld gelangt, noch wie Welles’ visuelle Maßlosigkeit Machtfiguren etabliert, um sie dann in eine Krise zu stürzen. Sie geben jedoch den Schülern die Gelegenheit, unmittelbar zu er- fahren, dass Film eine Summe aus Artefakten ist, an der die immer willensgesteuerte Konstruktion des Raumes großen Anteil hat. Dadurch vermitteln sie ihnen etwas von der Intensität, die jeder Filmemacher seinem charakteristischen Universum in räumlicher und plastischer Hinsicht mitgeben kann. Übersetzung aus dem Französischen von Andrea Kirchhartz 65 pauleit_korrektur4.indd 65 06.11.2008 13:19:50 Sebastian Schädler Mit Schneewittchen lernen, dass Geschlechterrollen veränderbar sind Zum Potenzial des «pädagogisch wertlosen» Films In einem Artikel über die pädagogische Relevanz von Kinder- und Jugendfilmen kommentierte Horst Schäfer, langjähriger Leiter des Kinder- und Jugendfilmzen- trums KJF in Remscheid1, die Liste der erfolgreichsten Filme des Jahres 2005 fol- gendermaßen: «(…) Bei den Top 10 Kinosommer 2005 Deutschland sind es beispiels- weise Titel wie Madagaskar, Star Wars: Episode 3 und Mr & Mrs. Smith. Allen Titeln ist gemeinsam. dass sie keinen Bezug zur Lebens- wirklichkeit deutscher Jugendlicher haben - es sei denn, dass sie ihrem Unterhaltungsbedürfnis entsprechen (…)»2 Dieses Zitat steht am Anfang dieser Ausführungen zum Potenzial des «pädagogisch wertlosen» Films, weil es Prototyp einer medienpädagogischen Position ist, welche Filme in zwei Gruppen einteilt: Entweder sind sie «pädagogisch wertvoll» oder sie entsprechen bloß einem «Unterhaltungsbedürfnis», sind womöglich gar manipulie- rend oder anderweitig negativ beeinflussend – also implizit «pädagogisch wertlos». Im ersten Teil dieses Textes soll diese Position historisch eingeordnet und im Zusammenhang der in Deutschland immer noch dominanten Skepsis gegenüber den Bildungsmöglichkeiten des Kinofilms problematisiert werden.3 1 Siehe http://www.kjf.de/presse/Neueleitung.htm (17.6.2008). 2 Horst Schäfer: Identifikation und Akzeptanz - Jugendfilme in der Medienpädagogik. Zum Krite- rium des Kinder oder «Jugendfilms». In: Werner Barg / Horst Niesyto / Jan Schmolling (Hrsg.): Jugend:Film:Kultur - Grundlagen und Praxishilfen für die Filmbildung. München 2006, S.100. 3 Zur Dominanz bewahrpädagogischer Ansätze siehe auch Horst Niesyto: Filmverstehen als Be- standteil des Pädagogikstudiums. In: Barg / Niesyto / Schmolling (Hrsg.), S.117. 66 pauleit_korrektur4.indd 66 06.11.2008 13:19:50 Mit Schneewittchen lernen, dass Geschlechterrollen veränderbar sind Der zweite Teil widmet sich einem konkreten Anwendungsfeld der Filmver- mittlung: der politischen Bildung zum Thema Geschlechtsrollen-Klischees. Auch hier lässt sich oft eine klare Aufteilung finden: Entweder gelten Filme als solche, die Stereotypen von «Männlichkeit» und «Weiblichkeit» reproduzieren, oder als solche, die diesen Stereotypen «andere» Filmbilder entgegenhalten.4 Diese Suche nach «besseren» Bildern wird folgend ebenfalls diskutiert. Im dritten Teil möchte ich ein Konzept erläutern, wie man prinzipiell mit allen Filmen arbeiten kann, also auch den Klischee-gesättigten Blockbustern, die den Hauptteil der Lieblingsfilme der Jugendlichen und damit der Zielgruppe einer möglichen Filmvermittlung ausmachen. Theoretisch bezieht sich dieses Konzept auf den Gedanken der Dekonstruktion nach Jacques Derrida und dessen feminis- tische Adaption durch Judith Butler. 1. Sehen Lernen oder Wegsehen lernen? Zum schwierigen Verhältnis von Pädagogik und Film in Deutschland Obwohl der Film als neues Medium seit den ersten öffentlichen Vorführungen durch die Gebrüder Lumière bzw. Skladanowski ab 1895 ein stetig wachsendes Pu- blikum faszinierte und aus heutiger Perspektive das Medium des 20.Jh. genannt werden kann, nimmt er im pädagogischen Umfeld und dort insbesondere im schu- lischen Kontext bis heute nur eine marginale Position ein. Diese Diskrepanz fußt nicht etwa auf gesicherten Ergebnissen der Medienwirkungsforschung, die dem Film negative Effekte nachweisen könnte, sondern auf drei kulturhistorischen Tra- ditionen: Erstens die Abwertung des «Bildes» in der abendländischen Medien-Hi- erarchie, zweitens die Abwertung des technisch reproduzierbaren Bildes im Kanon der humanistischen Bildung und drittens, mit einer besonderen Ausprägung in Deutschland, die Abwertung des Kinofilms als Instrument nationalsozialistischer, später US-amerikanischer «Propaganda». Auf jeden der drei Punkte möchte ich im Folgenden kurz eingehen. 1.1 Die Abwertung des Bildes in der westlich-abendländischen Hierarchie der Medien Diese Abwertung speist sich aus zwei Quellen: zum einen aus Teilen der griechi- schen Philosophie5 und zum anderen aus der ikonoklastischen Tradition der mo- notheistischen Religionen. Letztere hat ihren Ausgangspunkt im Bilderverbot des 4 Siehe beispielhaft FLIMMO - Fernsehen mit Kinderaugen. Vom Topmodel bis Einzelkämpfer - Mädchen und Jungen und ihre Programmvorlieben; Heft 3, Oktober 2007. 5 Dieser Bezug wird auch von Ralf Vollbrecht mit Bezug auf Dieter Baacke hergestellt, vgl. Ralf Vollbrecht: Filmwirkung und Filmsozialisation. In: Barg / Niesyto / Schmolling (Hrsg.), S. 96. 67 pauleit_korrektur4.indd 67 06.11.2008 13:19:50 Sebastian Schädler alten Testaments: «Du sollst dir kein Bildnis machen».6 Dieses Bilderverbot ist bis heute im Judentum und im Islam verankert. Im Christentum haben sich im Lauf der Jahrhunderte in der katholischen, den orthodoxen oder den protestantischen Kirchen unterschiedliche Ausformungen der jeweiligen Bilderpolitik entwickelt. Die orthodoxe Ostkirche fand z.B. für das Dilemma, dem Begehren nach Bil- dern trotz des Verbots gerecht zu werden, einen recht originellen Ausweg. Seit ei- ner Festlegung im 9.Jh. werden die allgegenwärtigen Ikonen per Definition nicht «gemalt», sondern «geschrieben».7 Die römisch-katholische Westkirche wechselte bei der Kategorisierung ebenfalls vom Visuellen ins Schriftliche und bezeichnete die Bilder als «Bücher der Laien». Die mit diesem Prozess verbundene kultische Verehrung von Heiligen- und Marienbildern wurde dann zwar in der Reformation abgelehnt, Luther empfahl jedoch ebenfalls einen pragmatischen Umgang und er- laubte die Verwendung von Bildern zu didaktischen Zwecken für die analphabeti- schen Gläubigen. Zwingli und am radikalsten Calvin lehnten jedoch alle bildlichen Darstellungen ab.8 Letzteres ist insofern von Bedeutung, als Jean Jacques Rousseau, einer der Begründer der modernen Erziehungswissenschaften, Calvinist war. Beispielhaft für die Hierarchie zwischen Sprache, Schrift und Bild in der grie- chischen Philosophie9 ist das Verhältnis zwischen Sokrates und Platon. Sokrates als «der, der nicht schreibt» (eine Formulierung von Nietzsche) befindet sich mit seinem Medium der Stimme – auf Grund der dieser unterstellten Authentizität – in einer überlegenen Position gegenüber der schriftlichen Aufzeichnung Platons. Dieser benutzt zwar zahlreiche Metaphern und Gleichnisse zur Erläuterung seiner Lehre, direkte visuelle Formen wie Skizzen wählt er allerdings nicht – weshalb es durchaus schwierig ist, beispielsweise die räumliche Anordnung seines Höhlen- gleichnisses zu zeichnen oder nachzustellen. Hier beginnt eine kulturhistorische Tradition, in der die Sprache als dem Wahrheitsgehalt einer Information am nächs- ten stehend, die Schrift schon als abstrakter und die Bilder als das am wenigsten zuverlässigste Medium gewertet werden. 6 «Du sollst dir kein Gottesbild machen, keinerlei Abbild, weder dessen, was oben im Himmel, noch dessen, was unten auf der Erde, noch dessen, was in den Wassern unter der Erde ist» (2. Mose 20, 4 und 5. Mose 5, 8), zitiert nach Horst Schwebel: Alles begann mit dem goldenen Kalb. In: Publik Forum EXTRA: Gott ist anders - Du sollst dir kein Bildnis machen. Februar 2007, S. 18. 7 Siehe Udo Marquardt: Der Überlebende . Heinrich Schmitt: Ikonen sind der Ort der Begeg- nung mit dem Himmel. In: Publik Forum EXTRA, S. 26. 8 Vgl. zum kirchlichen Bilderstreit Hans Belting: Nieder mit den Bildern. Alle Macht den Zei- chen - Aus der Vorgeschichte der Semiotik. In: Stefan Majetschak (Hrsg.): Bild-Zeichen - Per- spektiven einer Wissenschaft vom Bild. München 2005. 9 Siehe aber zur bei Aristoteles anders geordneten Hierarchie der Sinne - mit dem Sehsinn als höchstem Sinn - z.B. Christina von Braun: «Ceci n‘est pas une femme» - Blick und Berührung. In: nachdemfilm - internetmagazin, Nr.3, Oktober 2001. www.nachdemfilm.de/no3/bra02dts. html (18.3.2008), S. 15. 68 pauleit_korrektur4.indd 68 06.11.2008 13:19:50 Mit Schneewittchen lernen, dass Geschlechterrollen veränderbar sind Diese Hierarchisierung der Medien Sprache und Schrift in Bezug auf das Kriteri- um der Authentizität findet ihre Fortsetzung in der modernen Zeichentheorie u.a. bei de Saussure. Die Sprache kann demnach in ihrer Funktion als vermeintlich nur leicht abstrahierendes Lautbild (Signifikant) etwas bezeichnen, das als Bezeichnetes (Signifi- kat) in seiner Existenz unhinterfragt und unverhandelbar ist. Gemessen an dem hohen Authentizitätsgrad der Sprache fällt die Schrift jedoch zurück, da sie «nur» Signifikant des Signifikanten ist, also in einem abhängigen Verhältnis zur Sprache steht und diese weiter abstrahiert. Bilder kommen in dieser Hierarchie erst gar nicht vor. Daraus resul- tieren die bis heute andauernden, m.E. recht defensiven Versuche, Bilder als «Text» zu definieren, um sie auf diese Weise überhaupt in den Mediendiskurs zu integrieren.10 Diese vom alten Griechenland bis in die Moderne reichende Hierarchie medialer Vermittlungsformen wurde erst durch Jacques Derrida erschüttert. Er argumentierte, dass ihr metaphysische Annahmen über die «Wahrheit» des «Seins» zugrunde lä- gen. Mit der Abschaffung der «Wahrheit» der Signifikate wird aber auch die Sprache ihres Bezugs zu solch einer «Wahrheit» beraubt, sie kann sich nur noch auf andere Signifikanten beziehen. Da dies aber ein Hauptcharakteristikum der Schrift ist, wird Sprache zur Variante der Schrift.11 Zwar beschäftigt sich auch Derrida erst in späteren Werke mit visuellen Medien, er eröffnete jedoch mit dieser «Dekonstruktion» der Hierarchie von Sprache und Schrift ein Feld, dass im weiteren Verlauf des Textes auch für das Verhältnis von Pädagogik und Film noch fruchtbar gemacht werden soll. Vor dem Hintergrund dieser mächtigen Diskurse der abendländischen Philoso- phie und der monotheistischen Theologien ist es kein Wunder, dass sich auch in der pädagogischen Bezugnahme auf mediale Vermittlungsmöglichkeiten die skizzierte Hierarchie von Sprache, Schrift und Bild durchgesetzt hat. So wie in der Kirche die Bilder lediglich als minderwertiger, angesichts des Analphabetismus aber notwendi- ger didaktischer Ersatz für Wort und Schrift genutzt wurden, ist die Rolle der Bilder im pädagogischen Kontext auf die Funktion einer Illustration des Textes reduziert. Schon Johann Amos Comenius, Autor eines der frühesten uns bekannten pädago- gischen Werke aus dem 17.Jh., benutzte Bilder lediglich als zusätzliche Illustration.12 Jean Jacques Rousseau, der in seinem die Erziehungswissenschaften begründenden Werk Émile oder über die Erziehung (1776) schon die Schrift bzw. das damalige «Neue Medium» Buch als didaktisches Mittel verbannte, behandelte Bilder gar nicht.13 10 Für die Filmbildung siehe eine solche Position bei Alice Bienk: Filmsprache - Einführung in die interaktive Filmanalyse. Marburg 2006. 11 Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt am Main 2003 (franz. Orig.1967). 12 Comenius: Orbis sensualium pictus (1659), nach Björn Maurer: Filmbildung in der Sekundar- stufe I - Ein Überblick. In: Barg / Niesyto / Schmolling (Hrsg.), S. 170. 13 «Das Lesen ist eine Geißel für die Kinder.» Rousseau (œuvres complètes) Bd.4, S. 357, zi- tiert nach Georg Holmsten: Jean-Jacques Rousseau - mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbeck bei Hamburg 2005, S. 114. 69 pauleit_korrektur4.indd 69 06.11.2008 13:19:50 Sebastian Schädler Ihren konkreten Ausdruck findet diese pädagogische Hierarchie von Wort und Schrift in der schulischen Tradition des Frontalunterrichts, in der der Stimme des Lehrers die Schrift der Schüler nachgeordnet ist und ihre Wertschätzung in ers- ter Linie als Gegenstand von Benotungen erfährt. Visuelle Erzeugnisse dürfen bis heute lediglich im Kunstunterricht als «Leistungsnachweis» abgegeben werden. Für die Bildungsprozesse der Lernenden hat dieser Ausschluss der Bilder allerdings Konsequenzen. So stellte der Leiter der ersten PISA-Studie, Jürgen Baumert, einen Zusammenhang her zwischen den schlechten Ergebnissen des deutschen Schul- systems und dem linear gedachten Weg von den vermeintlich wahren bzw. nur auf eine einzige Art und Weise «richtig» zu erfassenden Lerngegenständen über die sprachliche Vermittlung des Lehrers zur schriftlichen Rezeption durch die Schüler. In Deutschland sei ein besonders stures Festhalten an dieser Sokrates-Platon´schen Tradition und eine dementsprechende Ablehnung von Differenz – der Inhalte, der Lösungswege, der medialen Vermittlung – zu beobachten.14 Zusammenfassend kann hier zunächst festgehalten werden, dass es aus ver- schiedenen, sehr wirkungsmächtigen kulturhistorischen Gründen eine Hierarchie von Sprache, Schrift und Bildern gibt, wenn es darum geht, junge Menschen zu erziehen und zu «bilden». Ironisch zugespitzt kann man sagen, dass es sich bei dem, was in schulischer Pädagogik passiert, somit weniger um Bildung als um Sprachung oder Schriftung handelt. Insofern erscheint es mir auch besonders problematisch zu sein, dass als dominante Form der Filmvermittlung in Deutschland immer noch das nach dem Film stattfindende Filmgespräch gelten muss.15 Im Folgenden sollen die Gründe skizziert werden, warum diese Hierarchie nicht nur die Bilder allgemein, sondern die bewegten Bilder insbesondere ausschloss. 1.2 Die Abwertung des technisch reproduzierbaren Bildes im Kanon der Kunst Der bürgerliche Diskurs um das künstlerische «Original» ist neben den bereits ge- nannten Traditionen der griechischen Philosophie und monotheistischen Religi- onen ein weiterer bedeutsamer Begründungszusammenhang. Hier geht es nicht um eine Abwertung aller Bilder, sondern um die der technisch reproduzierbaren in Fotografie und Film. Den nicht reproduzierten, sondern «originalen» Erzeugnis- sen der bildenden Kunst wird gerade aufgrund ihrer Verbindung von vermeintlich einzigartigem Werk und einzigartiger Künstler-Person ein hoher gesellschaftlicher 14 Zum Beispiel werde im Mathematikunterricht nur das »richtige» Ergebnis, nicht so sehr jedoch der Lösungsweg bzw. dessen Varianten bewertet. Jürgen Baumert: Deutschland im internationalen Bildungsvergleich. Vortrag anlässlich des dritten Werkstattgesprächs der In- itiative McKinsey bildet, 30. Oktober 2001, Köln, S. 34. http://www.mckinsey-bildet.de/down- loads/02_idee/w3_vortrag_baumert.pdf (09.06.2006). 15 Siehe Björn Maurer: Subjektorientierte Filmbildung an Hauptschulen. In: Horst Niesyto: film kreativ. Aktuelle Beiträge zur Filmbildung. München 2006. S. 34f. 70 pauleit_korrektur4.indd 70 06.11.2008 13:19:51 Mit Schneewittchen lernen, dass Geschlechterrollen veränderbar sind Status und ein entsprechender Wert auf dem Kunstmarkt zugebilligt.16 Den tech- nisch reproduzierbaren, also den Modus eines einzigartigen Originals verlassenden Bildern wurde hingegen ein qualitativ anderer, meist abgewerteter Status zuge- wiesen, wie dies z.B. Walter Benjamin mit seiner These vom Verlust der «Aura» formulierte. Fotografie (und Film) wurden lange nicht als «künstlerische» Erzeug- nisse angesehen. Diese bildeten ja lediglich ab und galten somit nicht als etwas, das gestaltet und inszeniert war und somit Gegenstand von kulturellen Techniken der Produktion und Rezeption oder von Bildungsprozessen sein könnte. Man musste nicht «lernen», ein Foto zu sehen, weil ja, wie umgangssprachlich formuliert wird, ein Bild«mehr als tausend Worte» sagt.17 Der bereits skizzierte Begründungszusammenhang aus abendländischer Philo- sophie und religiöser Tradition findet somit seine Unterstützung aus dem Bereich der ästhetischen Diskurse um «Kunst». Gegenstand eigenständiger Untersuchun- gen sind Fotos und dementsprechend Film im schulischen Lernprozess nur, wenn an ihnen die Möglichkeit von Manipulationen veranschaulicht werden soll. Die «Wahrheit» des eigentlichen, vermeintlich nicht manipuliert dargestellten histori- schen Prozesses wird dann durch Sprache (Richtigstellung durch die Information des Lehrers) und Schrift (Kommentar des Schulbuches) wieder hergestellt.18 Dass der Glaube an das künstlerische Original des Individuums und die Ab- wertung technisch reproduzierter Bilder von Anfang an auf einer falschen Alter- native beruhte, kann an Albrecht Dürer, einem der Heroen bürgerlichen Kunstver- ständnisses gezeigt werden. Dürer war erstens derjenige, der, indem er seine Bilder individuell signierte, ein neues künstlerisch-individuelles Selbstverständnis nach Deutschland und das Europa nördlich der Alpen brachte. Zweitens importierte er aber zugleich von der italienischen Rennaissance auch die technischen Verfahren der zentralperspektivischen Darstellung und ergänzte sie durch eine mechanische Konstruktion, ein gerastertes Tuch, das Velum. Es wurde in eine definierte Position zwischen Künstler und abzubildendes Objekt geschoben und sollte dafür sorgen, dass in der Abbildung von Dingen und Personen ein reproduzierbarer (!) Prozess möglich war. Dürer war, wenn man so will, der Begründer von Techniken der Auf- 16 Natürlich spielen Künstler seit Duchamps ready-mades mit diesem Glauben an das «Ori- ginal», aber auch diese Auseinandersetzungen kommen nur als individuell signierte in den Kunstmarkt hinein. Zur kunsthistorischen Begründung des Glaubens an das «Original» siehe z.B. Belting, S. 31. 17 Aus dieser Formulierung könnte allerdings auch das Gegenteil geschlussfolgert werden, dass nämlich die Künste der visuellen Techniken mindestens ebenso aufwändig zu lehren seien, wie z.B. ein Grundwortschatz von 1000 Wörtern. 18 Erst in den letzten Jahren sind Publikationen erschienen, die sich mit dem Status der Fotografi- en im pädagogischen Prozess beschäftigen und eine allgemeine »visual literacy» entsprechend der Alphabetisierung als Ziel nennen, vgl. Maurer 2006 und Holzbrecher / Domen-Welke / Schmolling (Hrsg): Foto + Text. Handbuch für die Bildungsarbeit. Wiesbaden 2006. 71 pauleit_korrektur4.indd 71 06.11.2008 13:19:51 Sebastian Schädler lösung von Bilden in rasterbare, maschinell reproduzierbare Punkte und damit gleichzeitig Begründer wie Totengräber des Mythos vom individuellen Künstler19. 1.3 Die Abwertung des Kinofilms als Instrument von «Propaganda» und Manipulation « (...) vor den Toren eurer hohen Akademie steht seit Jahr und Tag eine neue Kunst und bittet um Einlaß. Die Filmkunst bittet um eine Vertre- tung, um Sitz und Wort in eurer Mitte. Sie wünscht von euch endlich einer theoretischen Betrachtung gewürdigt zu werden, und ihr sollt ihr ein Kapitel widmen in jenen großen ästhetischen Systemen, in denen von den geschnitzten Tischbeinen bis zur Haarflechtkunst so vieles besprochen und der Film gar nicht erwähnt wird. Wie der entrechtete und verachtete Pöbel vor einem hohen Herrenhaus, steht der Film vor eurem ästhetischen Parlament und fordert Einlaß in die heiligen Hallen der Theorie.»20 Béla Balázs Béla Balász musste in seinem 1924 verfassten Aufsatz «Der sichtbare Mensch» noch fordern, dass sich die Kunsttheorie überhaupt mit dem neuen Medium Film be- schäftige. Allzu sehr galt das Kino in der öffentlichen Wahrnehmung als eine Vari- ante der Jahrmarkt-Attraktionen21. Die sich in Deutschland schließlich entwickeln- de theoretische «Würdigung» des Films stand allerdings unter dem Eindruck der Indienstnahme des Mediums für den Propaganda-Apparat Goebbels im National- sozialismus. Adornos und Horkheimers These der manipulierenden Kulturindus- trie und spezifisch auch Kracauers These eines Zusammenhangs von Caligari bis Hitler, so der Titel des 1947 im Exil der USA veröffentlichten Buches, prägten auch in der Ära nach dem 2.Weltkrieg lange die Beschäftigung mit dem Medium Film. Dem Kinofilm als vermeintlich bildungsfernem Spektakel und wenig künstleri- schem Massenprodukt wurde somit das Adjektiv «tendenziell bedrohlich» angehef- tet. Diese Kritik, die bezogen auf die Alb-Traumfabrik der UFA vor faschistischer Propaganda bewahren wollte, wurde dann m.E. nach 1945 recht unreflektiert auf 19 Zur Kritik an Dürer siehe Karl-Josef Pazzini: Bilder und Bildung. Vom Bild zum Abbild bis zum Wiederauftauchen der Bilder. Münster 1992. Zur Auseinandersetzung mit dieser Position Pazzinis Sebastian Schädler: Pädagogisches und ästhetisches Arbeiten mit Film und DVD – mit Schneewittchen lernen, was [Dekonstruktion] ermöglicht. Kopaed-Verlag, München 2008 (Ar- beitstitel, in Vorbereitung), Kapitel III. 20 Béla Balázs: Schriften zum Film, Band 1. Berlin 1982 (DDR), S. 45. Zitiert nach Werner Barg: Filmästhetik, Filmsprache, Filmanalyse. In: Barg / Niesyto /Schmolling (Hrsg.), S. 14. 21 Vgl. Tom Gunning: Das Kino der Attraktionen. Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde. in: Meteor. Texte zum Laufbild, Nr. 4 / 1996. 72 pauleit_korrektur4.indd 72 06.11.2008 13:19:51 Mit Schneewittchen lernen, dass Geschlechterrollen veränderbar sind die neue «Traumfabrik Hollywood» mit ihrem «Popcorn-Kino» übertragen22. Auch einem Autor wie Karl Heinz Roller, der sich um andere Wege des pädagogischen Arbeitens mit Film bemüht und explizit auch mit Blockbustern arbeitet, unterlau- fen Formulierungen wie folgende: «Auf dieser Ebene prägt der Hollywood-Film immer noch Sehgewohn- heiten mit seiner brillianten Fotografie, einer schnellen Montage voller Reize auch auf der Tonebene und mit Darstellerinnen und Darstellern, die einen langen Weg des Castings (wer und was kommt an?) hinter sich haben. Es ist auch kritisch zu sehen, wie dieses industriell ungemein aufwendige dramaturgische Feuerwerk an Sinnesreizen auch Kinder und Jugendliche überrumpeln kann.»23 Soll man denn schlecht fotografierte, langweilig montierte, schäbig vertonte und mit schlechten Schauspielern gedrehte Filme machen, um Jugendliche nicht mehr zu «überrumpeln»? 1.4 Die Konsequenz: Parallelwelten der Filmrezeption In der Konsequenz dieser skizzierten Traditionen kommt der Film im pädagogi- schen Kontext in der Regel in dreierlei Varianten vor: als zusätzlicher Film als authentischer Film als pädagogisch wertvoller Film. Mit zusätzlichem Film ist der Film gemeint, der typischerweise in Ergänzung eines bereits mit anderen Medien behandelten Inhalts gesichtet wird, also z.B. die histori- sche Dokumentation im Geschichtsunterricht oder die Literaturfverfilmung. Auch den «wissenschaftlichen» Film im naturwissenschaftlichen Unterricht kann man dazu zählen. Der – meist mit Klischees heterosexuellen Familienglücks gesättigte24 -«wissenschaftliche» Tierfilm ist hier wahrscheinlich die populärste Variante. Der authentische Film ist seit den 70er Jahren die Domäne der außerschulischen Medienpädagogik. Seit es die billiger werdende und einfach zu handhabende Video- technik erlaubte, gibt es eigentlich kein Jugendzentrum mehr, das nicht über eine 22 Auch der im weiteren Teil des Textes gewürdigte Alain Bergala benutzt leider diesen Begriff pauschal, um schlechte Filme zu kennzeichnen. Bergala: Kino als Kunst (2006), S. 41. 23 Karl-Heinz Roller: Zur Faszination populärer Filme für Jugendliche. In: Barg / Niesyto / Schmolling (Hrsg.), S. 56. 24 Siehe dazu Deutsches Hygiene Museum Dresden (Hrsg.): Sex – Vom Wissen und Wünschen. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 7.11.2001-11.8.2002 in Dresden. Ostfildern-Ruit 2001, S. 102ff. 73 pauleit_korrektur4.indd 73 06.11.2008 13:19:51 Sebastian Schädler technische Grundausstattung zur Produktion kleiner Filme verfügt. Den Massen- medien und Kinofilmen wird vorgeworfen, die Realität nicht vollständig abzubilden: Bestimmte Personengruppen, realistische Lebensverhältnisse usw. würden entweder überzeichnet, stereotyp, bewusst verfälschend oder gar nicht repräsentiert. Es wird von einem Verständnis des Films als Abbildungsmedium ausgegangen, das aus mo- ralischen oder politischen Erwägungen heraus auch dazu verpflichtet sei, die ganze Welt mit einem «ganzen Bild» zu bebildern. Da man aber aufgrund der ungleichen Machtverteilung nicht dazu in der Lage sei, die Filmindustrie oder gar Hollywood zu besseren Filmen zu zwingen, müsse man eben das «eigene» oder auch «authenti- sche» Bild selber herstellen. In dieser Tradition der authentischen «Gegeninformati- on» oder auch «Gegenöffentlichkeit» werden dann Filme, aber auch andere Medien wie Zeitungen, Internet-Auftritte in Form von homepages, blogs usw. mit den Ju- gendlichen zusammen hergestellt. Auf Filme bezogene «Medienkompetenz» ist in diesem Verständnis nicht viel mehr als eine Art Anti-Manipulationskompetenz. Wenn es jedoch auch professionellen Filmemachern gelingt, Themen, Perso- nengruppen oder Einzelschicksale in origineller Weise zu verfilmen und diese Fil- me dann auch noch in gewissem Maße Kinoerfolge sind, spricht man vom «päda- gogisch wertvollen» Film25. Der jüngste Prototyp dieser Gattung war in Deutschland der Film Rhythm is it! mit den Berliner Symphonikern unter Leitung von Sir Simon Rattle. In diesem Film wird «dokumentiert», wie eine multikulturell zusam- mengesetzte Gruppe von Schülern, die im deutschen Schulsystem marginalisiert und mit Ausschlussmechanismen in vielerlei Hinsicht konfrontiert ist, durch die gezielte Initiative eines Stars der Hochkultur doch noch integriert werden könne. Damit bedient dieser Film mehrere in aktuellen Bildungsdebatten formulierte Be- dürfnisse: Arbeiten mit «schwierigen» Jugendlichen, Heranführung proletarisch- migrantischer Niedrigkultur an die Hochkultur, Werbung für ein gesellschaftlich gerade nachgefragtes pädagogisches Konzept namens «Lob der Disziplin», Legiti- mation der Hochkultur in Zeiten von Spardebatten und vieles mehr – insgesamt ein für die pädagogische Profession wertvoller Film, aber für Jugendliche auch? Diese etwas zynische Kommentierung soll provozieren, denn allzu großes Vertrau- en auf solche «wertvollen» Filme übersieht folgende Probleme, und diese sind m.E. Anlass genug, auch über die ausgeschlossenen, «wertlosen» Filme nachzudenken: 1. Es gibt einen tiefen Graben in der Filmrezeption. Die «wertvollen Filme» der Lehrerinnen und Lehrer sind meistens nicht die Lieblingsfilme der Schülerin- nen und Schüler. Karl Heinz Roller fasst das sehr prägnant zusammen, wenn er formuliert: 25 Eine CD-ROM mit einer Liste empfohlener Titel gibt es beim Bundesverband Jugend und Film BJF (www.bjf.info) oder auch beim Institut für Filmkultur in Köln IKF. 74 pauleit_korrektur4.indd 74 06.11.2008 13:19:51 Mit Schneewittchen lernen, dass Geschlechterrollen veränderbar sind «Mal grenzen sich Jugendliche von pädagogischen Räumen in Schule und Jugendarbeit mit Urteilen wie «der pädagogisch-wertvolle Film ist langweilig» ab, mal verachten Pädagoginnen und Pädagogen das popu- läre Kino, etwa indem sie es mit dem Etikett Gewaltfilme versehen.»26 2. Die «wertvollen Filme» der Lehrerinnen und Lehrer sind manchmal auch nicht ihre eigenen Lieblingsfilme. Denn auch Lehrer und Lehrerinnen gucken Bruce Willis, Julia Roberts, Horror- und Sexfilme an. Sie können darüber aber im pädagogischen Kontext nicht reden, weil dies für eine Lehrperson tabuisiert ist. Damit ist aber ein wesentliches Moment der pädagogischen Beziehung, der persönliche Kontakt zwischen Lehrperson und Lernperson, an der wichtigen Stelle der biografischen (Film-)Erfahrung ausgegrenzt. 3. Der Glaube, dass man mit aktiver Filmarbeit der klischeehaften Massenwa- re echte, originelle und authentische Bilder der Jugendlichen entgegensetzen könne, ist – hier berufe ich mich auf meine eigenen Erfahrungen in der so- zialpädagogischen Medienarbeit27 – in der Regel ein Irrglaube. Die Bilder der Jugendlichen sind in ähnlicher Weise sowohl klischeehaft als auch voller iro- nischer Anspielungen auf die Klischees (von Geschlechterrollen, von Identität und kultureller Herkunft, von Gewalt als Lösung von Problemen usw.) wie es die Hollywood-Blockbuster selbst schon lange sind.28 4. In der Wahl von klischeehaften und stereotypen Inszenierungen durch die Ju- gendlichen drückt sich nicht immer notwendigerweise mangelnde Phantasie, falsches Bewusstsein oder gar kulturell bedingte Perspektivenverengung aus. Diese Klischees können auch als Feld der Re-Inszenierung und Wiederholung gewählt werden, gerade weil sie von biografischer Bedeutung sind.29 Schließlich sind Jugendliche (wie Erwachsene auch) in ihrer biografischen Erfahrung in ihren Familien, in der Schule, in der peer-group und nicht nur in den «Medien» mit Klischees konfrontiert: mit heterosexueller Normativität, mit der ethnisie- renden Inszenierung sozialer Konflikte als «Kampf der Kulturen» oder mit po- litischen Vorstellungen von erfolgreich und effizient einzusetzender Gewalt, die als «Konkurrenzkampf» verbrämt wird. 26 Roller, S.49. 27 Der Autor ist Mitgründer des Vereins Pat-Ex e.V. (www.pat-ex.de) und hat seit 1994 Erfahrun- gen in der Medienarbeit mit Jugendlichen. 28 Der von Horst Schäfer im Eingangszitat abgewertete Mr.&Mrs Smith (Dough Liman, USA 2005) ist – abseits der Action-Oberfläche – eine ironische Satire auf das Klischee des Traualtar- Happy-Ends. Eine der intelligentesten Auseinandersetzungen mit den Klischees des Action- Filmes kommt von einem Star des Genres selber: Last Action Heroe mit Arnold Schwarze- negger (John Mc Tiernan, USA 1993). 29 Vgl. Maurer, S. 31 mit einer ähnlichen Warnung, die von Klischees gesättigten Produktionen der Jugendlichen vorschnell abzuwerten. 75 pauleit_korrektur4.indd 75 06.11.2008 13:19:51 Sebastian Schädler Vor dem Hintergrund dieser vier Punkte möchte ich folgende Kriterien für eine Weiterentwicklung der Filmpädagogik formulieren: Erstens, dass die Unterschei- dung in vermeintlich wertvollere und wertlose Filme aufgegeben wird und zwei- tens, dass die bisher mit dieser Unterscheidung verbundene Entscheidungsmacht des Medienpädagogen demokratisiert wird. Welche Gründe für diese Forderungen sprechen, soll im folgenden Abschnitt beispielhaft an der Arbeit mit Filmen im Kontext politischer Bildung zu Geschlechterklischees gezeigt werden. 2. ‹Anderes› Sehen oder anders Sehen? Zum Verhältnis von Feminismus und feministischer Bild-Politik Im vorherigen Abschnitt des Textes ging es um den Stellenwert, den Bilder und insbesondere Filmbilder im allgemeinen pädagogischen Kontext zugewiesen be- kommen. In diesem Abschnitt wird es um den Kontext der im weitesten Sinne feministisch orientierten Pädagogik und deren Verhältnis zu Bildern gehen30. 2.1 Die traditionelle Analyse: Eine sexistische Gesellschaft produziert sexistische Bilder In der feministischen Analyse, wie sie sich in den westlichen Ländern seit den 1970er Jahren herausgebildet hat, werden Machtgefälle entlang einer Einteilung der Men- schen nach Geschlecht als patriarchal bzw. «sexistisch» angeprangert31. Entsprechend werden Bilder, die in dem, was sie darstellen, aber auch in ihrer Produktions- oder Rezeptionsstruktur auf diesem Machtgefälle aufbauen, insbesondere aber wenn sie die Assoziationskette Frau-Körper-Natur-Sex-Nacktheit-Verfügbarkeit usw. bedie- nen, als «sexistisch» gebrandmarkt. Ein Beispiel eines Versuchs, sich gegen in diesem Sinne «sexistische Werbung» zu wehren, ist die folgende Situation aus der Fernseh- sendung «Das Streitgespräch»32: In dieser Sendung diskutiert die feministisch engagierte Autorin und Kunstleh- rerin Heide Hering mit dem Vertreter der Werbeindustrie Uwe Albrecht darüber, ob 30 Von einer »im weitesten Sinne» feministischer Pädagogik wird gesprochen, weil es eine solche im Sinne eines klar umrissenen pädagogischen Konzepts nicht gibt. Vielmehr sind seit den 70er Jahren zahlreiche Projekte durchgeführt und ebenso zahlreiche konzeptionelle Begriffe entworfen worden wie z.B. Reflexive Koedukation, feministische Mädchenarbeit, Rollenerwei- terung für Jungen, geschlechtersensible Bildungsarbeit, geschlechterreflektierte Pädagogik, pa- triarchatskritische Bildungsarbeit usw. Siehe Edith Glaser u.a. (Hrsg.): Handbuch Gender und Erziehungswissenschaft. Bad Heilbrunn/OBB 2004 und www.pat-ex.de. 31 Siehe zur Definition von »sexistisch» z.B. Gitta Mühlen-Achs: Frauenbilder: Konstruktionen des anderen Geschlechts. In: Bernd Schorb (Hrsg.): Geschlecht und Medien. München 2003, S. 13-37. 32 Das Streitgespräch. Knackig oder beknackt – Das Bild der Frau in der Werbung (WDR-Sendung, BRD 1983). 76 pauleit_korrektur4.indd 76 06.11.2008 13:19:51 Mit Schneewittchen lernen, dass Geschlechterrollen veränderbar sind und warum Anzeigen, in denen nack- te Frauen für Sachgegenstände werben, «sexistisch» seien. Ihre Argumente bezie- hen sich dabei vor allem auf die Ebene der Darstellung, in der Frauen qua bio- logischer Natur als Beigabe, als Ding, als Blickfang usw. instrumentalisiert würden. Weitere Argumente sind, dass auch die Produktionsweise und Rezeptionsstruk- tur sexistisch seien und dass diese Bilder Abb. 1: Das Streitgespräch (WDR 1983) vor allem auf den «souverän» und «auto- nom» gedachten männlichen Betrachter zielten. Was mit letzterem gemeint ist, zeigt m.E. etwas unfreiwillig auch das Setting der Studioarchitektur, in der dem Vertreter der Werbeindustrie genau diese Position belassen wird. Die Kritik an sexistischen Bildern bezieht sich jedoch nicht nur auf die direkt mit Sexualität oder Nacktheit verbundenen Darstellungsweisen, sondern zielt all- gemein auf Bilder, die Klischees von «Frauen» und «Männern» entlang typischer Zweiteilungen wie Privat/Öffentlich, Reproduktion/Produktion oder Abhängig- keit/Autonomie produzieren. Als ein Beispiel für solche Klischees sollen im wei- teren Verlauf dieses Textes die Geschlechterbilder des Schneewittchen-Märchens ausführlicher diskutiert werden. In diesem Märchen können klischeehafte Geschlechtsdarstellungen an drei zen- tralen Strängen der Erzählung festgemacht werden: In der Beziehung zwischen der «bösen Königin» und Schneewittchen geht es – Spieglein Spieglein an der Wand… – um das Thema der größtmöglichen Schönheit als vermeintlich weibliches The- ma. Im Verhältnis von Schneewittchen und dem Prinzen, der sie am Ende küsst und mit auf sein Schloss nimmt, geht es um die klassische Geschlechterdichoto- mie von weiblicher Abhängigkeit und Passivität sowie männlicher Schöpfungskraft und Virilität. Hier soll es um den dritten Strang gehen, das Aufeinandertreffen von Schneewittchen und den 7 Zwergen. Thema ist hier weniger Erotik und Sexualität als vielmehr die klassische Aufteilung von männlich-produktiver Arbeit «draußen» in der Mine und weiblich-reproduktiver Arbeit «zu Hause»: Eine feministische Kritik an dieser Art Bildpolitik lautet, dass sie einerseits Ab- bild der sexistischen Gesellschaftsstrukturen ist, ohne diese zu kritisieren, und dass sie zweitens im Sinne eines Vorbildes die Weltbilder und damit die stereotype Ent- wicklung der eigenen Identität von Kindern und Jugendlichen wiederum im Sinne sexistischer Geschlechterklischees prägt und formt.33 33 Siehe in diesem Sinne Mühlen-Achs. 77 pauleit_korrektur4.indd 77 06.11.2008 13:19:52 Sebastian Schädler Abb. 2 & 3: Schneewittchen «macht» den Haushalt (und weiß qua Geschlecht, wie das geht), die Zwerge «arbeiten» weil sie sich nichts anderes vorstellen können. 2.2 Keine, andere oder bessere Bilder statt ambivalenter Bilder Die pädagogischen Konzepte, mit denen dieser Bildpolitik begegnet werden soll, möchte ich hier wieder in drei Gruppen einteilen: An erster Stelle steht die Vorbild-Pädagogik, die gar nicht auf Bilder sondern den direkten, «authentischen» Kontakt zu realen Menschen setzt. Frauen und Män- ner, die sich mit den Geschlechter-Klischees reflektierend und kritisch auseinander gesetzt haben, sollen in «direktem» Kontakt Kinder und Jugendliche motivieren, ebenfalls alternative Wege der Ausbildung einer Geschlechtsidentität einzuschla- gen. Dieser Glaube, es könne einen medienlosen direkten, authentischen Kontakt in der pädagogischen Beziehung geben, lässt sich in der eingangs skizzierten abend- ländischen Abwertung der Bilder verorten. Denn im engeren Sinne wird ja nicht ohne Medien sondern mit den Medien des Körpers und der Stimme gearbeitet. Die Voraussetzungen dieses Konzeptes sind erstens, dass sich in der realen Person des Vorbildes quasi eine zweite Realität außerhalb der ansonsten allmächtigen sexis- tischen Realität manifestieren ließe; und zweitens, dass diese zweite, unabhängige Realität eine Differenzierung der Geschlechterrollen ermögliche, die Medien nicht bieten könnten. Diese Prämissen sind m.E. wegen der impliziten Annahmen eines «guten Außerhalb» problematisch.34 Die zweite Gruppe möchte ich hier die Echtbild-Pädagogik nennen. Wie bereits oben unter dem Stichwort «authentischer Film» beschrieben geht es um verschie- dene Konzepte, in denen Kinder und Jugendliche ihr «eigenes» Bild den manipu- lierenden und verfälschenden Massenmedien entgegensetzen sollen. In der Praxis werden also eigene kleine Videofilme, Fotos, homepages usw. angefertigt, die die normalerweise nicht abgebildete Realität der Kinder bzw. Jugendlichen abbilden 34 So scheitert geschlechtsspezifische Jungenarbeit, in der ein Mann mit einer Jungengruppe ar- beiten soll, immer wieder daran, dass sich keine Männer finden lassen, die ein differenziertes Selbstbild ihrer «Männlichkeit» haben. 78 pauleit_korrektur4.indd 78 06.11.2008 13:19:53 Mit Schneewittchen lernen, dass Geschlechterrollen veränderbar sind und damit zur Geltung bringen sollen. Hier wird davon ausgegangen, dass Medi- en, insbesondere auch Bilder und Filmbilder, gerade aufgrund ihrer Möglichkeit, Realität abzubilden, Differenz gegenüber den Geschlechter-Klischees herstellen könnten. Die Annahme ist also, dass Kinder und Jugendliche in ihrer Realität den Geschlechterklischees nicht entsprechen sondern nur aufgrund von Manipulatio- nen sich entsprechend inszenieren. Die Medienpädagogik hat somit die Aufgabe, den Kindern und Jugendlichen zum (Ab)Bild des in ihnen steckenden eigentlichen Kerns zu verhelfen. Auch diese Annahmen sind wegen der impliziten Dichotomie von «Wahrheit» versus «Manipulation» problematisch. Die dritte Gruppe der pädagogischen Konzepte, die sich zum Geschlechterver- hältnis im weitesten Sinne feministisch positionieren, ist die der Utopie-Bild-Päda- gogik. Typischerweise werden hier fiktionale Filme mit «pädagogisch wertvollem» Gehalt vorgeführt und anschließend in Filmgesprächen besprochen. Beispielsweise wird ein Film wie Billy Elliot – I will Dance (Stephen Daldry, GB 2000)35, in dem ein Junge Ballett tanzt, gerne gezeigt, wenn es um alternative Männlichkeiten gehen soll. Das Pendant hierzu sind Filme wie Kick it like Beckham (Gurin- der Chadha, GB/D 2002), die alternative Weiblichkeitsmodelle, hier ein Fußball spielendes Mädchen, inszenieren. Diese Konzepte beruhen auf der Annahme einer direkten medialen Wirkung durch Identifikation mit den Hauptfiguren des Films. Da allerdings Identifikation auch mit «pädagogisch wertlosen» Filmhelden und -heldinnen möglich ist, muss ein solches Konzept notgedrungen auf quantitative Aspekte hoffen: «Schlechte» Filme sollen also durch Auflagen verschiedenster Art zurückgedrängt, «gute» Filme gefördert werden. Das gemeinsame Problem aller drei genannter Gruppen ist m.E., dass sie die Bilder, die vermeintlich eindeutig die Klischees der patriarchal-sexistischen Ge- sellschaftsstruktur (re)produzieren, aus dem Feld der Arbeitsmöglichkeiten aus- grenzen. Es sollen entweder ganz ohne sie, oder gegen sie, oder alternativ zu ihnen pädagogische Felder eröffnet werden. Ein Beispiel dafür, wie problematisch diese Ausgrenzung ist, ist das folgende Filmstill aus dem Musik-Film Evita (Alan Parker, USA 1996). In diesem Film spielt die Figur Madonna36 die Titelfigur Evita Peron, die in der fiktionalen Handlung des Films mit sieben Männern einer jeweils höheren sozi- 35 Siehe zum Film und einem entsprechenden pädagogischen Konzeptvorschlag Renate Luca: Filmerleben und Medienkompetenz von Jungen. Ein Unterrichtsprojekt mit Jugendlichen in der Haupt- und Gesamtschule zum Thema ‚Männliche Adoleszenz im Film Billy Elliot – I will dance’. In: Petra Josting / Heidrun Hoppe /Hrsg.): Mädchen, Jungen und die Medienkom- petenzen. München 2006, S. 206-225. 36 Madonna wird hier als «Figur» bezeichnet, weil ja bei ihrer Figur/Person das Problem der Trennung von Realität und Fiktion bereits auftritt. 79 pauleit_korrektur4.indd 79 06.11.2008 13:19:53 Sebastian Schädler Abb. 4: Madonna als Evita (Alain Parker) alen Schicht schläft/schlafen muss, bis sie an General Peron gelangt37, als dessen Partnerin sie dann zum nationalen Mythos Argentiniens wird. Das Filmstill zeigt sie am Ende, einer unbekannten Krankheit erlegen, in einem Glassarg liegend. Ist diese Darstellung einer Frau, die nur aufgrund ihrer sexuellen Attraktivität «nach oben kommt», sexistisch? Oder emanzipatorisch, weil Evita/Madonna selbstbe- wusst Herrin ihrer Sexualität ist? Ist das Bild der ewig schönen, mythischen Frau im Glassarg eine Reproduktion nekrophiler männlicher Phantasien? Oder gelungene Metapher für das Gefühl jugendlicher Mädchen, in den gesellschaftlichen Erwar- tungen von Schönheitsidealen eingesperrt zu sein wie in einem Schaukasten? Oder hat der Film, um mit dem eingangs zitierten Horst Schäfer zu sprechen, als absolut popkulturelles Produkt «nichts mit der Lebensrealität deutscher Jugendlicher» zu tun und ist insofern für die Pädagogik irrelevant? Ich denke, dass an diesem Beispiel deutlich wird, dass es keinen «objektiven Gehalt» von Bildern gibt, der eine eindeutige Antwort auf solche Fragen zuließe. Die Argumente der Kunst- und Filmwissenschaft, dass ein Bild nicht ein Bild «ist» sondern im Prozess der Rezeption erst ein solches «wird», gelten auch für die fe- ministische Untersuchungsperspektive. Auf perfide Weise hat somit der Vertreter der Werbeindustrie in dem oben angedeuteten Film «Das Streitgespräch» recht, wenn er im Verlauf des Films zu dem Argument greift, die von seiner Gegnerin gebrachten Werbebeispiele bedeuteten gar nichts, außer dass sie etwas über den Geisteszustand derjenigen verrieten, die darin unbedingt etwas Frauenfeindliches sehen wollten. Perfide insofern, als er nicht zu dem Analyseschritt übergeht, dass seine ignorante Weigerung, in diesen Bildern nackter Frauen, die für Motoröl usw. 37 Wegen dieser Konstellation von einer Frau, sieben untergeordneten Männern und einem «Prinzen» am Ende kann dieser Film auch als Variante des Schneewittchen-Märchens gelten. 80 pauleit_korrektur4.indd 80 06.11.2008 13:19:53 Mit Schneewittchen lernen, dass Geschlechterrollen veränderbar sind werben, auch nur den Anschein eines Problems zu sehen, natürlich auch etwas über ihn selbst als Rezipienten verrät. Bei Madonna als Evita handelt es sich m.E. in Hinsicht auf Produktion, Rezep- tion und Bildgehalt um ein höchst ambivalentes Bild. Meine These lautet nun, dass dies im Prinzip für alle Bilder gilt38 und dass deshalb prinzipiell mit allen (Film) Bildern gearbeitet werden sollte, auch wenn sie zunächst in die Kategorie «pädago- gisch wertlos» fallen. Dass aus diesem «auch» sogar ein «insbesondere» werden kann, dass diese aus dem traditionellen pädagogischen Kanon ausgeschlossenen Bilder vielleicht sogar ein besonderes Potenzial entfalten können, soll im Folgenden gezeigt werden. 3. Das Potenzial des «pädagogisch wertlosen» Films Ich möchte diesen Teil mit zwei Vorbemerkungen beginnen: Als Beispiel für das Ar- beiten mit pädagogisch «wertlosen» Filmen dienen mir Verfilmungen des Schnee- wittchen-Themas. Das mag insofern verwundern, als Märchen und im engeren Sin- ne auch die Grimmschen Märchen gemeinhin keineswegs als pädagogisch wertlos gelten. Ganz im Gegenteil werden sie, obwohl sich angesichts der zum Teil drasti- schen Strafen für böse Hexen usw. durchaus eine Diskussion über «Mediengewalt» anbietet, weltweit Kindern zur Einübung moralischer Kategorien erzählt.39 Das Urteil «wertlos» richtet sich also nach dem jeweiligen pädagogischen Kontext. Da es hier um feministische Pädagogik zu Geschlechterklischees geht, ist jedoch ein Märchen, in dem es um «Prinz und Prinzessin» und ein heterosexuelles Happy-End geht, aus dem Katalog der einzusetzenden pädagogischen Medien normalerweise gestrichen. Zweitens möchte ich darauf hinweisen, dass es inzwischen eine ganze Reihe von Medienpädagoginnen und -pädagogen gibt, die sich mit dem Potenzial des Hollywood-Blockbusters bzw. dem Potenzial der «Lieblingsfilme der Jugendli- chen» beschäftigen.40 Im Unterschied zu diesen Ansätzen bzw. auch als Unterstützung soll hier jedoch eine explizit theoretische Begründung erfolgen, die aus einer bild- und filmwissen- schaftlichen Sicht für den pädagogischen Einsatz von Klischee-behafteten Filmen plädiert. Es geht also nicht nur darum, den Kindern und Jugendlichen ab und zu einen Gefallen zu tun und auch mal «ihre» Filme mit anzuschauen. Zu diesem Zweck soll zunächst die Dekonstruktion nach Jacques Derrida im Allgemeinen und 38 Siehe zur generellen Ambivalenz von Filmbildern auch Luca. 39 Die Grimmschen Märchen waren allerdings wegen dieser Gewaltdarstellungen und dem an- genommenen Zusammenhang zum NS-Faschismus nach dem zweiten Weltkrieg in der ame- rikanischen Besatzungszone für kurze Zeit verboten. Siehe Theodor Ruf: Die Schöne aus dem Glassarg – Schneewittchens märchenhaftes und wirkliches Leben; Würzburg1995, S. 41. 40 Siehe z.B. beide Bände von Niesyto. 81 pauleit_korrektur4.indd 81 06.11.2008 13:19:53 Sebastian Schädler dann die darauf aufbauende Dekonstruktion der Dichotomie von sex und gender nach Judith Butler im Besonderen skizziert werden. 3.1 Dekonstruktion als Methode des parasitären Einnistens Jacques Derrida hat keine schematisch darstellbare Medientheorie entworfen. Er hat vielmehr ein Konzept entwickelt, sich in die Widersprüche bestehender Mo- delle wie z.B. der Hierarchie zwischen Sprache und Schrift wie ein Parasit einzu- nisten und sie von innen heraus produktiv zu wenden.41 So muss er in seinem die «Dekonstruktion» begründende Werk Grammatologie (1967) keine eigene, neue Theorie der Schrift entwerfen. Es genügt ihm, in den verschiedenen Theorien des Verhältnisses von angeblich authentischer Sprache und angeblich nur abgeleiteter Schrift Widersprüche derart durch deren Destruktion und anschließender Neu- Konstruktion aufzubereiten, dass er am Ende mit den Argumenten der jeweiligen Autoren deren eigene Theorien widerlegen kann.42 In die feministische Debatte um Strategien zur Veränderung des Geschlechter- verhältnisses ist die «Dekonstruktion» insbesondere durch die Aneignung Judith Butlers eingegangen. Sie kann in entsprechender Weise darauf verzichten, eine eigene Theorie über die «wahre Natur» der Geschlechter aufzustellen. Ihr genügt es, den An- nahmen über das vermeintlich «natürlich» gegebene binäre System aus «Mann» oder «Frau» innere Widersprüche, fragwürdige historische Annahmen, wissenschaftsthe- oretisch kritisierbare Zirkelschlüsse usw. nachzuweisen, um zum Ergebnis zu kom- men, dass nicht nur das Gefüge der sozialen Geschlechterrollen («gender») sondern auch das «biologische» Geschlecht («sex») eine kulturelle Konstruktion sei.43 Für eine feministisch orientierte Bilder-Politik hat dies weitreichende Konsequen- zen. Denn nun macht es keinen Sinn mehr, für das jenseits patriarchaler Klischees liegende «wahre», aber unterdrückte «Wesen» der Frau bzw. nicht klischeehafter Männer entsprechende Bilder zu suchen oder «authentisch» zu produzieren. Denn nicht nur die Bilder sind ambivalente, kontextabhängige «Konstrukte» der jeweili- gen Situation aus Produktion und Rezeption, auch die «realen» Personen, egal ob «Mann» oder «Frau» sind es. Damit kommt den skizzierten Strategien des Vor-Bildes, des Echt-Bildes und des Utopie-Bildes die Grundlage abhanden. Auch quantitative Konzepte, die der vermeintlich allgegenwärtigen «Bilderflut» Dämme aus bilderfrei- en Zonen oder zumindest pädagogisch wertvollen Bildern entgegenstellen wollen, sind obsolet geworden. Denn es gibt streng genommen keinen Unterschied mehr zwischen «Original» und «Abbild». Sowohl die Menschen mit ihren Körpern und 41 Den Begriff des Parasitären entnehme ich der Einführung zu Derrida von Jörg Lagemann und Klaus Gloy: DEM ZEICHEN AUF DER SPUR – DERRIDA. Eine Einführung. Aachen 1998. 42 Näheres siehe in Schädler, Kapitel I. 43 «…möglicherweise ist das Geschlecht (sex) immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewe- sen». Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main 2003, S. 24. 82 pauleit_korrektur4.indd 82 06.11.2008 13:19:54 Mit Schneewittchen lernen, dass Geschlechterrollen veränderbar sind Biografien als auch die medialen Vermittlungen lassen sich nicht mehr klar unter- scheiden. Auch die Körper sind Effekte sozialer und medialer Konstrukte. Judith Butler wurde der Vorwurf gemacht, mit den «wahren» Körpern auch die Subjekte, insbesondere die Subjektivität der Frauen abgeschafft zu haben und selbst politisch ohnmächtig geworden alles Konkrete in «postmoderne Beliebig- keit» zu entlassen. Doch ähnlich wie Derrida es gelingt, sich in die Widersprüche der von ihm kritisierten Theorien einzunisten und damit auch handlungsrelevant zu wirken, ohne sich selbst die Position eines autonom Handlungsmächtigen ge- ben zu müssen, hat Butler u.a. die Strategien des «performativen Aktes» und des «Zitats» vorgeschlagen.44 Um zu verdeutlichen, dass es sich bei diesem «Zitat» der vermeintlichen «Originale» immer um eine Praxis der verfremdenden Aneignung handelt, wird im Folgenden von «falschem Zitat» gesprochen. Es wird nun am Bei- spiel der Schneewittchen-Filme darum gehen, was die Strategie des «falschen Zi- tats» im medienpädagogischen Kontext m.E. bedeuten könnte. 3.2 Das «falsche Zitat» oder auch die Pädagogik des «Von-der-Seite-Sehens» Der folgend beschriebene Vorschlag45, mit «pädagogisch wertlosen» Filmen zu ar- beiten, resultiert aus meiner Unzufriedenheit mit der eigenen medienpädagogi- schen Praxis. In den von mir seit Mitte der 90er Jahre in verschiedenen pädagogi- schen Settings durchgeführten Projekten patriarchatskritischer Arbeit mit Jungen wurden die von mir oben beschriebenen Strategien des Vor-Bildes, des Echt-Bil- des und des Utopie-Bildes eingesetzt. Zu kurz kamen dabei die medienbiografisch vorhandenen Erfahrungen, Vorlieben und Kompetenzen der Jungen, zu kurz kam meine eigene, durchaus Blockbuster-gesättigte Medienbiografie und zu kurz kam die Behandlung der Ambivalenz der Filmbilder. Im Rahmen der Beschäftigung mit Konstruktionen von Geschlechterrollen im Grundschulalter sowie in Folge der Aneignung poststrukturalistischer feministi- scher und «queerer» Theorie setzte eine Auseinandersetzung mit den Klischees der Grimmschen Märchen ein. Als sich bei der Recherche immer mehr Verfilmungen des Schneewittchen-Themas aus allen möglichen filmhistorischen Epochen und vielen Herkunftsländern fanden, entstand die Idee, sich auf eins der drei Grundthe- men des Schneewittchen-Märchens (s.o.) zu konzentrieren, das Aufeinandertreffen von Schneewittchen und den 7 Zwergen. Dieses Grundthema wurde weiterhin ab- strahiert zur Konstellation eines «girl meets boys», also dem Aufeinandertreffen von einer Frau und 7 Männern, zu denen bisweilen noch ein achter (der «Prinz») hinzukommen kann. Der daraus entstehende Film-Korpus umfasst somit nicht 44 Judith Butler: Körper von Gewicht. Frankfurt am Main 1997, S. 47. 45 Es handelt sich nicht um ein vielfach erprobtes Konzept, da die praktische Durchführung der Grundidee bisher nur zweimal, in einem Berliner Schülerladen und einem Bremer Gymnasi- um in Ansätzen möglich war. 83 pauleit_korrektur4.indd 83 06.11.2008 13:19:54 Sebastian Schädler mehr nur die direkten Verfilmungen des Märchens, sondern auch Filme wie Evita, Die Spur der Steine (Frank Beyer, DDR 1966), Die Sieben Samurai (Shichinin no samurai, Akira Kurosawa, Japan 1954), Die glorreichen Sieben (The Mag- nificent Seven, John Sturges, USA 1960), Institute Benjamenta or this Dream People Call Human Life (Brothers Quay, UK/BRD/J 1995) und andere.46 Es ging darum, die jeweiligen Szenen dieser Grundstruktur sich selbst «zitie- ren» und damit kommentieren zu lassen. Prinzipiell ermöglicht dieses Konzept, mit allen Filmbildern zu arbeiten, unabhängig vom qualitativen Status. Somit wird ermöglicht, dass die Kinder und Jugendlichen Filmszenen eigener Filme, die sie kennen und mögen, mit in das Projekt einbringen. Die Filmausschnitte des Päda- gogen sind nicht mehr die besseren oder «anderen» Bilder zum Geschlechterthe- ma, sondern nur noch die Bilder, die dem Pädagogen letztendlich aufgrund seines subjektiven Geschmacks oder seiner subjektiven moralischen Positionierung gefal- len. Einzige Voraussetzung für alle ist, dass sie etwas mit der Grundkonstellation, hier «7+1» zu tun haben. Der Pädagoge verlässt somit seine Position des Wächters über die Medienqua- lität und wird zu dem, was Alain Bergala mit einem Zitat Serge Daneys fordert47: Er wird zum passeur, zum Fährmann oder Begleiter in der Auseinandersetzung mit den Bildern, die immer und für alle, also auch für den Pädagogen, eine persönlich- biografische Erfahrung ist und als solche transparent gemacht wird. Durch das Arbeiten mit Filmausschnitten wird eine spezifische Auseinanderset- zung mit den Bildern möglich. Es ergibt sich die Situation, die Alain Bergala als eine «neue Praxis des Schauens» prognostiziert. Denn es wird nicht mehr nur danach gesucht, was «das» Bild vermeintlich zeigt oder gar abbildet, sondern im Prozess des – bei Bergala metaphorisch gemeinten – «von der Seite Sehens» wird deutlich, dass eine Rezeption eines Bildes immer schon mit der Rezeption anderer Bilder einhergeht.48 So «bildet» sich vielleicht anhand der Klischees der «7+1»-Szenen ein Bewusstsein dafür, dass man «Geschlecht» nur noch in Form eines «falschen Zitats» zeigen, sehen bzw. darüber reden kann. Das «Original», das «Wesen» der Geschlechter ist abhanden ge- kommen. Es bleibt die Differenz49 zwischen den Bildern als Möglichkeitsraum der 46 Filmangaben siehe am Ende. Weitere Filme lassen sich leicht finden, in dem man als Suchwort in Filmdatenbanken «Sieben» eingibt. 47 Siehe Bergala, S. 18. Alain Bergala vertritt in seinem Buch durchaus widersprüchliche Positi- onen. Der Impuls für die Berücksichtigung der filmbiografischen Erfahrungen der Jugendli- chen und die Kritik an der allwissenden Position des klassischen Lehrers ist jedoch eindeutig. 48 Bergala, S. 23 und S. 88. Bergala ist sicher kein Theoretiker der Derrida´schen différance. In seinen praktischen Vorschlägen und in den von ihm konzipierten didaktischen DVDs kommt er dessen Ideen aber m.E. recht nahe. 49 Diese Differenz wird von Jacques Derrida zur différance zuspitzt, um die treibende Kraft dieses Möglichkeitsraums zu fassen. Vgl. Schädler, Kapitel I. 84 pauleit_korrektur4.indd 84 06.11.2008 13:19:54 Mit Schneewittchen lernen, dass Geschlechterrollen veränderbar sind Produktion und Rezeption – sowohl von Bildern als auch von Handlungsoptionen für die Ausbildung der eigenen vergeschlechtlichten Biografie. Die besonderen Möglichkeiten der aktuellen digitalen Techniken werden in- sofern genutzt, dass die verschiedenen Filmausschnitte, einmal herausgefiltert, in ganz verschiedenen Kombinationen neu verknüpft werden können. So wird deut- lich, dass ein und dieselbe Szene, je nach Anordnung gegenüber der vorherigen und nachfolgenden, ganz verschiedene Geschlechterklischees «zeigt». Zwei dieser mög- lichen Neuanordnungen, die vom Autor als fünfminütige Found-Footage-Kurz- filme erstellt wurden50, sollen im Folgenden vorgestellt werden. Dabei wird in den Beschreibungen die Ebene der exakten Wiedergabe jedes «Original»-Ausschnitts verlassen und stattdessen die paradoxe Ebene der immer wieder neu konstruierten «wahren» Erzählung der jeweils verknüpften «falschen Zitate» gewählt: Anordnung 1: «Mutter» Diese Anordnung bündelt Filmausschnitte zur Konstruktion von sex und gender als Konstruktion von weiblicher Mutter und kleinen Jungen. Schneewittchen kommt in die Zwergenhütte und findet sie verlassen. Sie findet je nach Filmausschnitt Ord- nung oder Unordnung in der Hütte vor, bemerkt aber in jedem ausgewählten Bei- spiel, dass es sich um «Kinder» handeln müsse. Anschließend überlegt sie, dass diese Kinder, da es kein Anzeichen für Erwach- sene im Haus gibt, vielleicht keine Mutter haben, vielleicht seien es «Waisenkin- der». Sie beschließt, sich selbst den Zwergen gegenüber in der Rolle der Mutter zu präsentieren - und behandelt sie entsprechend ihres Verständnisses einer solchen Rolle: sie erzieht sie zu «gutem Benehmen». Die Geschlechtsrolle der Zwerge wird auf subtilere Weise konstruiert. Sie wer- den nicht als «Jungen» angesprochen, obwohl sie in der Art der Grafik bzw. der schauspielerischen Darstellung in den Filmen als Männer bzw. Jungen erscheinen sollen. Vor Schneewittchens Ankunft haben sie die Tätigkeiten, die die neue «Mut- ter» ausübt, beherrscht. Jetzt werden sie, weil sie sich nicht zu helfen und auch nicht zu benehmen wissen, explizit nicht als Männer oder Jungen, sondern als kleine Kinder angesprochen, sie werden infantilisiert. Einer der Zwerge reagiert jedoch ablehnend darauf, er bezeichnet es als Fehler, eine «Frau» ins Haus gelassen zu ha- ben. Aufgrund dieser Reaktion wird in dem Anordnungsvorschlag des Autors eine Verknüpfung zu einer Szene des Films Spur der Steine gelegt. Denn auch in diesem Film halten es die sieben anarchistischen Bauarbeiter für einen Fehler, eine Frau – die junge Architektin – auf eine Baustelle zu lassen. Und ähnlich wie Schneewittchen in den Märchenfilmen sieht es die Architektin als Teil ihrer Aufgabe an, die «wilden» Bauarbeiter zu erziehen. Mit Spur der Steine wird 50 Die DVD mit den fünf Kurzfilmen liegt der Publikation von Schädler bei. 85 pauleit_korrektur4.indd 85 06.11.2008 13:19:54 Sebastian Schädler Abb. 5–7: Schneewittchen zählt «sieben ordentliche» (Standbilder links) und «sieben unor- dentliche» Kinder (Standbild rechts). Die «Zitate», die unter den Filmstand- bildern dieses Abschnittes wiedergege- ben werden, sind zum Teil schon neu ver- knüpfte Tonspuren, also ‹falsche› Zitate aus den betreffenden Filmausschnitten. Abb. 8–10: Die neuen «Mutter» agiert als solche. 86 pauleit_korrektur4.indd 86 06.11.2008 13:19:55 Mit Schneewittchen lernen, dass Geschlechterrollen veränderbar sind Abb. 11: «Die Sache hat einen Haken ...» der Raum geöffnet. So ist es möglich einerseits eng beim Thema zu bleiben und dennoch ein weites Feld an Filmen verschiedenster Herkunft mit hinzunehmen zu können. «Mütterlichkeit» als weibliches Klischee und «Unordnung» bzw. «Uner- zogenheit» als Klischee «kleiner und großer Jungen» konstituieren sich im Sinne einer gegenseitigen Relation nicht nur in Schneewittchen-Filmen, sondern werden als Zitate und Muster in der Filmgeschichte ständig weiter fortgeschrieben. Anordnung 2: «Suppe» Eine andere Anordnung bündelt Filmausschnitte zur Konstruktion von sex und gender in Hinblick auf die Konstruktion von weiblichem und männlichem Arbeitsvermögen. Schneewittchen kommt in die Zwergenhütte und findet in den unterschiedli- chen Filmausschnitten jeweils einen gedeckten Tisch vor, auf dem allerdings Suppe steht, die längst kalt geworden ist. Sie bemerkt, dass sich offensichtlich niemand darum kümmert, ein warmes Essen – für wen auch immer – bereitzuhalten und denkt: «Das könnte ich doch tun». Dabei geht es nicht mehr nur um «Suppe kochen». Denn in einem weite- ren Ausschnitt ist dieser Gedanke nur noch der Startimpuls für eine ganze Kette von Tätigkeiten. Sie sinkt ins Bett, träumt von einer sicheren Zukunft im neuen zu Hause und sagt sich dabei: «Ich werde waschen, putzen, nähen kochen …». Das Pendant dieser Szenen sind die verschiedenen Szenen mit den Zwergen im Bergwerk: Typisch für diese Szenen ist, dass die Zwerge bei der Arbeit singen. Einer der Refrains dieser Lieder bezieht sich auf das Ziel ihrer Arbeit und lautet: 87 pauleit_korrektur4.indd 87 06.11.2008 13:19:56 Sebastian Schädler Abb. 12–14: «Kalte Suppe» Abb. 15–17: «Aber das könnte ich doch tun ...» 88 pauleit_korrektur4.indd 88 06.11.2008 13:19:57 Mit Schneewittchen lernen, dass Geschlechterrollen veränderbar sind Abb. 18–20: Das Arbeitsvermögen der Zwerge «Wir rackern und wir plagen uns den lieben langen Tag, wir graben hacken pausenlos, so geht es Schlag auf Schlag Wir rackern und wir plagen uns denn das ist unsre Pflicht, wir wissen nicht warum wozu es lässt uns halt keine Ruh.»51 Anschließend kommen die Zwerge nach Hause und stellen fest, dass dort jemand aufgeräumt hat. Sie vermissen geradezu ihren Staub, ihr dreckiges Geschirr und ihre Unordnung. Schließlich ist es der Geruch einer kochenden Suppe, der alle Bedenken über- windet – und die Geschlechter entlang zweigeschlechtlicher Grenzen konstituiert. Denn aufgrund der Suppe als «Bewerbungsschreiben» bzw. «Qualifikationsnach- weis» kommt es beim Aufeinandertreffen Schneewittchens mit den Zwergen zu einer Aushandlung eines Arbeitsvertrages: In diesem Arbeitsvertrag wird festge- halten, dass Schneewittchen «kochen, waschen, nähen, die Strümpfe stopfen, die Blumen gießen» muss und dass sie «nicht viel Platz» braucht - dann kann sie bei den Zwergen bleiben. In der Neuanordnug «Suppe» wurden Szenen aus Die Sieben Samurai und Die Glorreichen Sieben eingebunden. Auch hier geht es um Ordnungsvorstellun- gen der Männerwelt – ein «Samurai» bzw. ein «Glorreicher» darf sich nicht durch 51 Deutscher Text des Liedes in der Walt Disney-Verfilmung von 1937. 89 pauleit_korrektur4.indd 89 06.11.2008 13:19:58 Sebastian Schädler Abb. 21–23: «...jemand hat uns unseren Staub geklaut!» Abb. 24–26: «Du musst für uns kochen … – dann kannst du bei uns bleiben.» 90 pauleit_korrektur4.indd 90 06.11.2008 13:20:01 Mit Schneewittchen lernen, dass Geschlechterrollen veränderbar sind Frauen von seinem Kampf ablenken lassen – und die «Unordnung», die durch die Liebe eines der Samurai/Westernhelden zur Tochter eines Bauern entsteht. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass in den Filmausschnitten Arbeiten und Arbeitsvermögen, die vorher keinesfalls eindeutig zugeordnet sind, nach dem Zusammentreffen von Schneewittchen und den Zwergen entlang geschlechtsspe- zifischer Grenzen zugewiesen werden. Ab diesem Zeitpunkt gilt, dass, was Schnee- wittchen macht, die Zwerge nicht mehr machen – sie kochen jetzt gar nicht mehr. All diese geschlechtsspezifischen Zuweisungen müssen allerdings, so die These, nicht wie in diesem Text schriftlich oder im Filmgespräch ausschließlich mündlich erläutert werden. Denn die Szenen kommentieren sich selbst als Zitate, denen das Original, die «echte» Geschlechterrolle längst abhanden gekommen ist. Gerade in ihrer Vervielfachung und Abhängigkeit vom Kontext in Bild und Ton zeigen die kli- scheehaften Darstellungen, dass sie ambivalente Konstruktionen und nicht Abbil- der einer vermeintlichen «Realität» der Geschlechter sind. Ein und dieselbe Szene zeigt nun nicht mehr eindeutig die «schöne Prinzessin und die 7 Zwerge», sondern je nach Verknüpfung eine Mutter mit ungezogenen Kindern, eine Hausangestellte in einer Männer-WG oder auch – um weitere Verknüpfungen anzudeuten – die von sieben «outlaws» geraubte Frau, die zu haushälterischen und sexuellen Diens- ten gezwungen wird. Die Grundidee lautet, dass dieses notwendig falsche, also ein- zig mögliche Zitieren einen Möglichkeitsraum eröffnet, den auch die Jugendlichen selbst emotional spüren wie kognitiv erkennen und durch ihre eigenen Filmszenen gestalten und erweitern. Ein Möglichkeitsraum, in dem auch sie selbst (wie auch die Pädagog/innen) ihre eigene Identität im Sinne der Möglichkeiten des falschen Zitats jenseits der vermeintlichen Wahrheiten weiterentwickeln können. Darüber kann man sich dann selbstverständlich auch schriftlich und mündlich austauschen, die Ebene des den Inhalt oder die Ästhetik des Films üblicherweise bloß nachvoll- ziehenden «Filmgesprächs» wird jedoch verlassen. 4. Resüme Etwa 100 Jahre nach Erfindung des Films und m.E. nicht zufällig vor dem Hinter- grund der möglichen Ablösung als Leitmedium durch die Computerspiele gibt es in Deutschland eine neue Diskussion um Filmpädagogik. Die dabei vertretenen Positi- onen wehren sich in der Regel dagegen, in einen bewahrpädagogischen Zusammen- hang gestellt zu werden. Dennoch wird im Gegensatz zu dem hier von mir vertrete- nen Ansatz ein Großteil der Filme aus der pädagogischen Arbeit ausgeschlossen. In der Regel 91 pauleit_korrektur4.indd 91 06.11.2008 13:20:01 Sebastian Schädler halten die veröffentlichten Konzepte an einer Unterscheidung in pädago- gisch wertvolle und andere Filme fest; bauen sie damit implizit oder explizit auf der Definitionsmacht eines Film- pädagogen auf, die nicht subjektiv biografisch sondern objektiv «filmkom- petent» begründet ist; schließen diese Konzepte die von den Kindern und Jugendlichen einzu- bringenden Filmbilder (wenn überhaupt) nur aus Gründen der besseren Arbeitsmotivation, aber nicht aufgrund des prinzipiellen Potenzials als Filmbilder ein; verschließen sie sich somit einem radikalen Zugang zur Ambivalenz der Bilder, welcher der Ambivalenz der «Realität», der «Körper» und der «Ge- schlechter» in Folge Derridas und Butlers entspräche. Die historisch begründete Kritik an der Abwertung der Bilder im abendländischen Medienkontext sowie die ästhetisch begründete Kritik am Glauben an die Abbild- haftigkeit der Bilder, ob im Geschlechterkontext oder in anderen gesellschaftlichen «Realitäten», sollte m.E. jedoch dazu führen, sich den Einteilungen in «solche» und «andere» Bilder, egal nach welchen Kriterien, zu verweigern. Damit ist die Möglichkeit einer Positionierung nicht verschlossen, nur muss ich dann als Pädagoge subjektiv begründen, warum ich bestimmte Relationen in der Realität oder in Bildern z.B. für «sexistisch» usw. halte. Und ich muss einen Streit darüber aushalten, ohne ihn durch meine potenzielle Definitionsmacht als Pädagoge, der nicht nur gerne «das letzte Wort» sondern auch «das letzte Bild» für sich beansprucht, jemals beenden zu können. 92 pauleit_korrektur4.indd 92 06.11.2008 13:20:01 Christine Rüffert Lichtspiele unter der Lupe Filmvermittlung anhand von Experimentalfilmen «Ich begann über das so genannte Filmvokabular nachzudenken ... Was sind das alles für Mittel und wie kann man sie sichtbar machen, statt sie einfach nur zu benutzen?»1 Michael Snow Filmbildung steht auf der europäischen Agenda. Auch in Deutschland sind in den letzten Jahren eine Reihe von Positionen zur Vermittlung von Filmkompetenz for- muliert worden, die sich in verschiedenen Projekten und Initiativen abbilden. Neue Ansätze, die die ästhetische Erfahrung und die Persönlichkeitsbildung zum Aus- gangspunkt nehmen, treffen dabei auf eine überkommene Form von Medienpäd- agogik. Die alltägliche Praxis im schulischen Kontext besteht vor allem im Einsatz von Film zur illustrativen Fiktionalisierung von Geschichte oder als emotional sti- mulierendem Diskussionsanreiz. Der Film ist dabei vorwiegend Mittel zum Zweck. In den Filmvermittlungsansätzen, wie sie in Frankreich im Umfeld Alain Ber- galas entstanden sind, werden Filme dagegen als eigenständige Kunstwerke gese- hen und wertgeschätzt: «Um Kunst handelt es sich immer dann, wenn Gefühl und Denken durch eine Form, einen Rhythmus angeregt werden, die nur dank dem Kino existieren.»2 Die kanonische Filmauswahl für die unterschiedlichen Schulstu- fen in Frankreich umfasst aktuelle und klassische Werke der Kinematografie unter ausdrücklicher Einbeziehung anderer als der üblichen Länder und Genres, wobei 1 «I started to think about the so-called film vocabulary…You know, what are all these devices and how can you get to see them, instead of just using them?» Interview mit Scott MacDonald 1963, zit. in: Peter Wollen: Knight’s Moves. In: Public 25, 2002, S. 62. 2 Bergala: Kino als Kunst (2006), S. 42. 93 pauleit_korrektur4.indd 93 06.11.2008 13:20:01 Christine Rüffert der narrative Spielfilm den Löwenanteil stellt. Der Experimentalfilm kommt in der Filmvermittlung bislang selten vor.3 Dabei ist er aus mehreren Gründen besonders geeignet, das Verständnis von Film als eigenständiger Kunstform zu vermitteln. Da Experimentalfilme dem Kunstkontext wesentlich näher sind als dem kommerzi- ellen Kino, können sie teilweise mit den aus der Kunstpädagogik vertrauten Betrach- tungsweisen erschlossen werden. Experimentalfilme sind in der Regel nicht narrativ im Sinne einer Spielfilmlogik und verführen nicht als Erstes zu einer nacherzählen- den Inhaltsdebatte, sondern geben den Blick auf die ästhetische Form frei. Indem die Filmemacher diese selbst thematisieren, werfen sie Fragen auf, die über das Einzel- werk hinausgehende Erkenntnisse über die Grundlagen filmischer Produktion und Rezeption initiieren können. Die Mittel und Methoden, mit denen sie dies erreichen, sind so vielfältig wie die Filme selbst. Eine besondere Art dieses experimentellen Filmschaffens, das sich selbst zum Gegenstand macht, ist das strukturelle Kino, das ein dekonstruktivistisches Anliegen hat. Strukturelle Filme stellen auf ganz explizite Weise den von Bergala so genannten «Schaffensprozess» zur Schau, indem sie die Entscheidungen betreffend «Auswahl/Anordnung/Ansatz»4 vortragen, hinterfragen und auf ihre Wirkungen hin untersuchen. Diese besondere Art der Selbstreflexion, bei der die Grundkonstituenten des «Handlungsfeld(es), das den Film als Materiali- tät und Möglichkeit gleichzeitig untersucht und reflektiert»5 in den Blick genommen werden, machen sie geeignet als «filmvermittelnde Filme».6 Das besondere Potenzial für die ästhetische Bildung liegt in der experimentel- len Herangehensweise an die Produktion der Filme: Sie kann als Modell für eine ästhetische pädagogische Praxis dienen. Wie das Experiment des Künstlers den filmischen Raum für neue Formen und Wahrnehmungen öffnet, so bietet dessen Thematisierung Gelegenheit zu einer ästhetischen Erfahrung, die in der unerwar- teten Differenz zum bisher Erlebten die Grenzen der fest gefügten Welterkenntnis überschreitet. In ergebnisoffenen Lernsituationen gilt es, sich dem Material auszu- setzen, seiner Wahrnehmung zu trauen, ohne sich auf ein Inventar von fest gefüg- ten Analysekriterien zurückziehen zu können. Dabei ist es wichtig, dem Werk ohne voreilige Zuschreibungen zu begegnen. In Lernsituationen wirkt ein Insistieren auf der genauen Beobachtung der Gefahr entgegen, Imaginiertes und Interpretiertes mit Gesehenem und Gehörtem zu verwechseln. Ansatzpunkt dafür sind die auffäl- 3 Das Österreichische Filmmuseum liefert in seiner für Lehrer angebotenen »Summer School« unter der Überschrift »Film als Kunst« filmvermittelnde Zugänge zu nicht-narrativen Avant- gardefilmen. Auch das Berliner Filmhaus bezieht in seinem Filmvermittlungs-Pilotprojekt »Was ist Kino« den experimentellen Film in die kinematographische Früherziehung mit ein. 4 Vgl. Bergala: Kino als Kunst, S. 95. 5 Vgl. Beitrag von Winfried Pauleit in diesem Band. 6 Vgl. Beitrag von Michael Baute / Volker Pantenburg in diesem Band. 94 pauleit_korrektur4.indd 94 06.11.2008 13:20:01 Lichtspiele unter der Lupe ligen Besonderheiten eines Werkes, die mit der Methode der beschreibenden Be- obachtung und einem jeweiligen Befragen der Beobachtungen auf die zu Grunde liegenden Entscheidungen und Operationen des Filmemachers untersucht werden. Die Reflexion dieser ästhetische Erfahrung wird zur Grundlage für die Herausbil- dung von Kompetenz im Umgang mit filmischen Werken jeglicher Art. Im Folgenden stelle ich einen Ansatz vor, der Film nicht im anfangs ausgeführten Sinn als Mittel zum Zweck pädagogisiert. Vielmehr wird »Film als Film«, wie Birgit Hein und Wulf Herzogenrath den Untersuchungsgegenstand ihres gleichnamigen Stan- dardwerks7 bezeichnen, als Ausgangspunkt filmvermittelnder Praxis herangezogen. Um den Lerngegenstand Experimentalfilm näher zu charakterisieren, benen- ne ich zunächst unter Einbeziehung einiger historischer Entwicklungslinien seine wichtigsten Merkmale, soweit sie für diesen Rahmen relevant sind. Ausgehend von dieser Bestimmung erläutere ich das ästhetisch-bildende Vorgehen, bevor ich ab- schließend an drei ausgewählten Filmen beispielhaft die Eignung der Filme für den Unterricht didaktisch-methodisch reflektiere. Da Experimentalfilme nicht so leicht verfügbar sind wie Spielfilme, gebe ich in Fußnoten die Webseiten von Verleihern an. Diese haben in der Regel 16mm Kopien archiviert, deren Aufführung die Zu- sammenarbeit mit einem (kommunalen) Kino erforderlich macht. Vereinzelt gibt es auch DVD-Editionen. Für die Zukunft steht zu erwarten, dass die Werke über Online-Portale für Studienzwecke zugänglich werden, es gibt derzeit bereits meh- rere, teils internationale Projekte, die mit Mitteln der Kulturstiftung des Bundes oder der Europäischen Union um den Aufbau von Netzplattformen bemüht sind.8 Derzeit kann man mit etwas Glück einzelne Titel/Künstler über Internet-Suchma- schinen finden und sich in einem stream ein Bild von dem Werk machen. 1. Terminologie und Charakteristika des Experimentalfilms Will man den Experimentalfilm differenziert beschreiben und zieht man dazu ver- schiedene Quellen heran, so fällt auf, dass jeder darunter etwas Anderes zu verste- hen scheint. Darüber hinaus sind eine ganze Reihe alternativer Begriffe in Umlauf (z.B. Avantgardefilm, Undergroundfilm, Absoluter Film oder das Andere Kino). Deren Gebrauch verrät nicht nur, welcher Richtung und Ausprägung die Autoren 7 Birgit Hein / Wulf Herzogenrath: Film als Film | 1910 bis heute. Vom Animationsfilm der zwan- ziger zum Filmenvironment der siebziger Jahre. Köln 1978. 8 Beispielsweise «Mediaartbase.de», ein Kooperationsprojekt des European Media Art Festival (emaf), des documenta Archiv Kassel mit dem Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest sowie des ZKM | Zentrum für Kunst- und Medientechnologie in Karlsruhe oder «GAMA Gateway to Archives of Media Art», ein interdisziplinäres Projekt mit 19 teilnehmenden Organisati- onen aus dem europäischen Kultur-, Kunst- und Technologiesektor: www.gama-gateway.eu (22.8.2008). 95 pauleit_korrektur4.indd 95 06.11.2008 13:20:01 Christine Rüffert sich verbunden fühlen, sondern auch, welche sie damit auszuschließen gedenken. Es gibt keinen allgemein gültigen, unmissverständlichen Begriff. Stefanie Schulte Strathaus versucht diesem Dilemma mit der Begriffswahl «Der Film, von dem die Rede ist« zu entkommen und stellt ihrem gleichnamigen Aufsatz ein Zitat der Fil- memacherin Germaine Dulac aus dem Jahr 1926 voran: «Die Zukunft gehört dem Film, der nicht benannt werden kann.»9 Gleichwohl versuche ich, für den Kontext dieser Ausführungen «Experimen- talfilm» im Sinne eines Arbeitsbegriffs zu umreißen. Als Ausgangspunkt soll Birgit Heins Definition von 1971 gelten: «Auf den Film bezogen heißt experimental die neue unkonventionelle Handhabung der technischen Mittel und die Aufhebung der etablierten Regeln von Form und Inhalt».10 Obwohl sich bereits der 2. Internationale Experimentalfilmwettbewerb in Knokke/Belgien 1958 kritisch mit der Definitions- frage beschäftigt, ist der Begriff Experimentalfilm bis heute einer der gebräuchlichs- ten, aber auch umfassendsten. «Spricht man vom Experimentalfilm, meint man ein Genre, das keines ist», konstatiert 1996 Heins ehemaliger Meisterschüler Matthias Müller über die Situation des Experimentalfilms in Deutschland: «…gewöhnlich werden Materialfilme und Found-Footage-Filme, Handmade Films und Strukturel- le Filme, eine Vielzahl surrealistischer Filme, persönliche und tagebuchartige Pro- jekte sowie unzählige hybride Formen unter diesem schwammigen Sammelbegriff subsumiert.»11 Eine kurze historische Verortung einiger anderer gebräuchlicher Be- grifflichkeiten soll den Blick freigeben auf Besonderheiten und Gemeinsamkeiten, um dem «Sammelbegriff» etwas von seiner «Schwammigkeit» zu nehmen. In der Übertragung des Begriffs »Avantgarde« aus der Bildenden Kunst auf den Film offenbart sich bereits in den 1920er Jahren in Deutschland und Frankreich die Sichtweise, dass es sich bei dieser Art Film um eine künstlerische Praxis handele, die außerhalb des industriellen Produktionszusammenhangs entsteht und von an- deren Herstellungsmotivationen geprägt ist als der Verwertung von Kapital. Es sind vor allem Künstler, die sich für den Film interessierten, wie z.B Salvador Dali, Mar- cel Duchamp, Viking Eggeling, Man Ray, Hans Richter, Walter Ruttmann.12 Diese grundsätzliche Abgrenzung kennzeichnet bis heute die verschiedenen Formen des Experimentalfilms, mal als Ausdruck künstlerischen Selbstverständnisses, mal in oppositioneller Haltung als »Gegenkino«. 9 Stefanie Schulte Strathaus: Der Film, von dem die Rede ist. In: Ästhetik & Kommunikation 6, 2004, S. 53. 10 Birgt Hein: Film im Underground. Von seinen Anfängen bis zum Unabhängigen Kino. Frankfurt am Main 1971, S. 8. 11 Matthias Müller: Das Kino der Differenz. In: epdFilm. Zeitschrift des Evangelischen Pressedien- stes 9, 1996, S.10-12. 12 Vgl. Beitrag von Jan Sahli in diesem Band. 96 pauleit_korrektur4.indd 96 06.11.2008 13:20:01 Lichtspiele unter der Lupe An diese europäische Avantgarde knüpfen Ende der 1950er Jahre amerikani- sche Filmkünstler an, für die das Filmemachen ein ebenso persönlicher Akt wie der anderer Künstler ist. Parker Tyler vergleicht 1958 den Gebrauch der Kamera im Experimentalfilm mit dem des Federhalters durch den Lyriker oder des Pinsels durch den Maler.13 Christine N. Brinckmann charakterisiert die Arbeitsweise von Filmern wie Kenneth Anger, Jonas Mekas, Jack Smith und Stan Brakhage folgen- dermaßen: «Jeweils wurde mit individuellem, spontanem Gestus gefilmt und ge- schnitten; Empfindung, Atmosphäre, Empathie, Improvisation und Performanz, Radikalität, Lebensgefühl und Sensualität… [kennzeichnen die Arbeiten].»14 Auf der Suche nach einem eigenen Zugang zur Welt nehmen die Filmkünstler radikal subjektive Positionen ein. Tabubrüche, das Verletzen von Sexualnormen und das Aufzeigen von Grenzerfahrungen etablieren die Filme als «anti-bourgeois, anti-pa- triotic, and anti-religious».15 Die «transgressive»16 Motivation ist generell eine we- sentliche Triebkraft des unabhängigen Filmschaffens. Sie äußert sich nicht nur als Affront der politisch, ethisch oder religiös Andersdenkenden, sondern erfasst auch den gesamten Formkörper des Films. Die Filmsprache hat im narrativen Main- streamkino relativ feste Formen entwickelt, die die Seherfahrungen bestimmen. Die Zuschauererwartungen in Bezug auf grundlegende filmische Konventionen zu (ent-)täuschen bedeutet ebenfalls einen Tabubruch, der unter Umständen zu größerer Verstörung führen kann als die Abbildung einer roten Fahne oder eines erigierten Penis’. Die subversive Kraft der Filme findet ihren Ausdruck in dem seit dieser Zeit gebräuchlichen Begriff «Underground». Im Gegensatz dazu entwickelt sich vor dem Hintergrund der Konzeptkunst und des Minimalismus Ende der 1960er Jahre eine filmische Avantgarde, die eher Formalismus und Selbstreflexion zu ihrem Anliegen macht. Der Theoretiker P. Adam Sitney erfindet dafür in der 1969 in der Sommerausgabe der Film Culture den Begriff »structural«, der fortan bestimmend bleibt für Filme, die die struktu- rellen Elemente des filmischen Schaffensprozesses ins Zentrum einer ästhetischen Untersuchung stellen. 13 «…imaginative work that used the camera the way a poet uses his pen…If, in the art of paint- ing, the brush is traditionally the indispensable instrument of work, in the art of film, this instrument is the camera.» Parker Tyler: A Preface to the Problems of the Experimental Film. In: P. Adams Sidney: Film Culture Reader. New York 2000 (1970), S. 42/43. 14 Christine N. Brinckmann.: Die anthropomorphe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration. Zürich 1997, S. 233. 15 J. Hoberman: Introduction to Parker Tyler: Underground Film. A Critical History. New York 1995 (1969), S. V. 16 Der Begriff wird in Anlehnung an das «Cinema of Transgression» verwendet, wie er von Nick Zedd 1985 für eine Gruppe von Filmemachern in New York geprägt wurde, die in der Nachfol- ge des Underground der 1960er Jahre vor allem Tabugrenzen in der Darstellung von Sexualität und Gewalt überschritten. 97 pauleit_korrektur4.indd 97 06.11.2008 13:20:02 Christine Rüffert Die Charakteristika des experimentellen Filmschaffens, namentlich die ama- teurhafte Produktionsweise, die Tabubrüche, die radikale Subjektivität und die un- konventionelle Form, marginalisieren die Filme im Kinokontext von vorneherein. Als Sub- und Gegenkultur deklariert, wendet sich der amerikanische Experimen- talfilm aber auch bewusst gegen die Einmischung von Produzenten und Verleihern. Die 1960 gegründete «New American Cinema Group» erzeugt eine Bewegung der Selbstbehauptung, der Film wird «independent»: Filmemacher etablieren ihr ei- genes Vertriebssystem, in den Hochschulen entstehen Filmclubs, Lehrstühle und Filmklassen. Diese Form der Gegenkultur breitet sich auch in Europa aus. In Großbritan- nien gründet sich 1966 die künstlergeführte Organisation der «London Film-Ma- kers’ Co-operative», die weit reichenden Einfluss in Praxis und Theorie gewinnt. In Deutschland rückt die von Birgit Hein und Wulf Herzogenrath für den Kölnischen Kunstverein kuratierte Ausstellung «Film als Film» 1977 den Experimentalfilm ins Bewusstsein der Kunstwelt und verknüpft die fruchtbaren Ansätze der späten 1970er Jahre17 mit der klassischen Avantgarde der 1910/1920er Jahre. Die in den 1980er Jahren in Deutschland einsetzende Blüte des Experimentalfilms verbreitert neben der inhaltlichen auch die formale Vielfalt, in der strukturelle Werke nur noch eine Randposition einnehmen. Der spontane, humorvolle Umgang mit der Super-8 Kamera18 ist ebenso erfrischend neu wie die Impulse von Frauen, die ihre Rolle in der patriarchalischen Gesellschaft reflektieren oder explizit weibliche Sexualität the- matisieren.19 Die Digitalisierung schließlich vereint die scheinbar unversöhnlichen Lager von Videokunst und Experimentalfilm unter dem Dach der Medienkunst. Die veränderten Produktions- und Präsentationsformen werfen nunmehr die Frage auf, ob der Begriff Experimentalfilm zukünftig womöglich nur noch historisierend für eine archaische Produktionsform gebraucht wird oder als Sammelbegriff für alle Arbeiten Geltung behält, die sich inhaltlich und ästhetisch der experimentellen Tra- dition verpflichtet fühlen, unabhängig von Herstellungsart und Trägermaterial. Wenn ich im Folgenden einige Filme vorstelle und ihre Eignung als filmvermitteln- de Filme ausführe, benutze ich den Begriff Experimentalfilm als Sammelbegriff für die historischen Spielarten der Avantgarde, des Underground, des Independent und Strukturellen Films bis hin zu den individualistischen Formen, wie sie seit den 1980ern stärker ausgeprägt sind. Dabei betrachte ich folgende verbindende Merk- 17 U.a. Arbeiten von Werner Nekes, Dore O., Klaus Wyborny, Heinz Emigholz, Bastian Cleve, Ingo Petzke, Bernd Upnmoor, Lutz Mommart. 18 U.a. Arbeiten von Uli Versum, Markus, Uli Sappok, Martin Hansen, Alte Kinder, Die Tödliche Doris. 19 U.a. Arbeiten von Claudia Schillinger, Miaja-Lene Rettig, Monika Funke-Stern, Gerda Gross- mann, Birgit Hein. 98 pauleit_korrektur4.indd 98 06.11.2008 13:20:02 Lichtspiele unter der Lupe male von Experimentalfilmen als konstitutive Eigenschaften, die unterschiedlich stark ausgeprägt auftreten können. Experimentalfilme sind im herkömmlichen Sinn einer Spielfilmerzählung nicht narrativ. Sie sind aus einem subjektiven, individuell geprägten Interesse heraus entstanden, nicht aus dem Verwertungsinteresse von Produktionsfirmen. Sie ent- stehen «an den Rändern»20 der etablierten Filmproduktion und finden Verbreitung in alternativen Aufführungskontexten; oder sie werden von der Bildenden Kunst subsumiert und finden ihren Platz in Museen und Galerien. Sie sind «transgressiv», indem sie inhaltliche Abbildungstabus verletzen oder formale Darstellungskonven- tionen unterlaufen. Sie sind von formalästhetischem Erkenntnisinteresse getrie- ben, das die grundlegenden Charakteristika von Film in den Fokus nimmt. Sie sind vorwiegend kurz. 2. Die Vermittlung grundlegender Eigenschaften des Films an Experimentalfilmen Das weite Feld der Film- und Medienkunst jenseits des von Hollywood dominier- ten Erzählkinos bietet eine reiche Anzahl an Filmen, die sich selbst zum Gegen- stand haben. Die Auswahl für den filmpädagogischen Einsatz richtet sich natürlich nach dem Alter, dem Erfahrungshintergrund und dem Anspruchsniveau der Ler- nenden. Als Einstieg sind solche Arbeiten geeignet, deren ästhetische Bearbeitung sich auf wenige Aspekte konzentriert. Sehr komplexe Werke, die zudem teilweise Handlungsstränge ausbilden, inhaltliche Interpretationswege andeuten und emo- tional stimulierend wirken, sind zwar für den Betrachter unterhaltsamer und leich- ter zugänglich. Sie können jedoch dazu verleiten, in vertraute Betrachtungskate- gorien abzugleiten und doch wieder nur über den Inhalt zu sprechen. Je weniger «Fleisch» die Narration bietet, umso deutlicher tritt das «Skelett» der filmischen Funktionsweise hervor. Rein strukturelle Arbeiten vermitteln am Anfang die ein- drücklichsten Erkenntnisse über Film als kulturelle und mediale Form, so wie die von mir ausgewählten Beispiele 1 und 2. Sie stammen aus dem Kontext der frühen London Film-Makers’ Co-op. Wie ihre amerikanischen Kollegen kommen auch in London viele der Filmema- cher zunächst aus dem Kunstkontext, aber man unterhält nicht nur einen Selbst-Ver- leih und eine eigene Abspielstätte, sondern auch eigene Produktionsräume mit Labor und Schneidetisch. Dies ist einer der Gründe, dass sich die strukturelle Londoner Schule auffällig intensiv mit der Materialität von Film und seiner Vorführsituation beschäftigt. Die Möglichkeiten der Entwicklung im eigenen Labor und des Kopierens 20 Der kanadische Filmemacher Mike Holboom etabliert in den 1990er Jahren den Begriff «frin- ge film», um damit auf die Vielfalt der persönlichen Ausdrucksformen jenseits der Verwer- tungskontexte von Kino oder Kunst hinzuweisen. Vgl. Schulte Strathaus, S. 54. 99 pauleit_korrektur4.indd 99 06.11.2008 13:20:02 Christine Rüffert an der optischen Bank werden ein fundamentaler Bestandteil des kreativen Prozes- ses: man kann durch Filter, veränderte Blenden etc. direkt Einfluss nehmen auf die Belichtung, durch wiederholte Kopiervorgänge loops bilden, Mehrfachbelichtungen erzeugen oder die Körnung des Materials erhöhen, durch Veränderung der Chemi- kalien Einfluss auf die Filmschicht gewinnen. Mit der Möglichkeit, Filmbilder auf andere Weise als durch fotografische Aufnahme zu erzeugen, verzichten manche Fil- memacher gänzlich auf den Einsatz einer Kamera. Dieser rege Produktionszusam- menhang wird von theoretischen Debatten und Reflexionen begleitet. Mark Webber, der 2002 eine umfassende Retrospektive mit frühen Arbeiten der Co-op kuratiert, definiert daher aus diesem Zusammenhang heraus: «Struktureller Film beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen dem physikalischen Filmstreifen, seinem immateri- ellen projizierten Abbild und der Wirkung, die es auf den Zuschauer hat.»21 Mit der Erforschung der Gesetzmäßigkeiten von Materialität und Projektion und der Thematisierung von Wahrnehmungsvorgängen verfolgen strukturelle Fil- memacher – ob unreflektiert oder theoretisch fundiert – explizit didaktische Ab- sichten in Bezug auf ihre Zuschauer. Die Filme bringen ihre Didaktik sozusagen mit und sind damit in besonderem Maße geeignet für einen Filmvermittlungs- ansatz, der die nachvollziehende Erfahrung des Schaffensprozesses in den Mittel- punkt rückt. Strukturelle Filme zwingen den Betrachter in eine solche Haltung, indem sie seine Mitarbeit einfordern. Wie Christine N. Brinckmann ausführt, ist die Rezeption von strukturellen Werken ein kreativ nachvollziehender Akt: «Man wird ein Stück weit selbst zum Filmemacher, zur Filmemacherin, da man über filmische Parameter, künstlerische Entscheidungen, funk- tionale Wechselwirkungen oder konzeptionelle Schritte nachdenkt, bleibt jedoch RezipientIn, da es um Beobachten eines gestalteten Wer- kes geht und um die ästhetische Erfahrung, die greifen muss, bevor sie reflektiert werden kann. In vieler Hinsicht forciert der strukturelle Film hier ein Rezeptionsverhalten, das im Grunde jeder Experimentalfilm (und eigentlich alle Kunst) verlangt…»22 Oft liegt den strukturellen Filmen ein konzeptuelles Programm zugrunde, mit de- nen ein bestimmter Parameter des Mediums augenfällig gemacht werden soll. Zu den häufig untersuchten Parametern gehören Licht, Raum und Zeit. 21 «Structural Film is concerned with the relationship between the physical film strip, its im- material projected image and the effect it has on the viewer.» Mark Webber: The London Film-Makers’ Co-Operative. In: Shoot Shoot Shoot. British Avant-Garde Film of the 1960s & 1970s. London 2002. dvd-booklet. www.lux.org.uk (29.05.2008). 22 Brinckmann, S. 236. 100 pauleit_korrektur4.indd 100 06.11.2008 13:20:02 Lichtspiele unter der Lupe Dem Licht kommt im Filmschaffen gleich mehrfach Bedeutung zu: zunächst bei der Beleuchtung des Sets, bei der Belichtung des Negativmaterials, und schließ- lich in der Projektion.23 Zeit ist eine Grundkonstituente des Films, die ihn wesentlich von anderen Küns- ten wie Malerei oder Plastik unterscheidet. In vielfältigen Variationen werden die Er- lebenszeit des Zuschauers, die Zeit eines abgebildeten Vorgangs oder einer Aufnahme und die Projektionszeit des Films zueinander in Beziehung gesetzt. Manipulationen wie Zeitraffer oder Zeitlupe sind auch für ungeübte Zuschauer leicht erkennbar.24 Aber auch aus komplexeren Bearbeitungen lassen sich durch einfache Beobachtung wesentliche filmische Mittel herausfiltern und die grundsätzliche Bedeutung des Umgangs mit Zeit für das Medium verdeutlichen. Die so gewonnen Erkenntnisse über Echtzeit und Filmzeit können später bei der Betrachtung von Spielfilmen oder Dokumentarfilmen als Referenzwissen in Anwendung gebracht werden. Über die Untersuchung des Umgangs von Film mit Zeit hinaus behandeln an- dere Arbeiten die Verbindung zeitlicher Strukturen mit denen des Raumes, indem sie Kameraoperationen wie Tiefenschärfeverlagerungen, Kameraschwenks und -fahrten einsetzen. Hier empfiehlt es sich, zunächst solche Arbeiten auszuwählen, die Einzelaspekte der Kameraarbeit in den Mittelpunkt stellen.25 Im Anschluss bieten sich komplexere Versuchsanordnungen von Zeit-Raum-Korrelationen an.26 Manche der Parameter ähneln denen der Bildenden Kunst, so dass ähnliche Me- 23 Zwei Filme scheinen mir zur Einführung von Licht als filmischem Gestaltungsmittel beson- ders geeignet: Leading Light von John Smith (GB 1975, 11 Min.) oder Blind Sight von Sarah Pucill (GB 2007, 22 Min.), beide www.lux.org.uk (02.06.2008). In beiden Fällen wird Lichteinfall in einen persönlichen Innenraum beobachtet. In Leading Light spielt das durch ein Fenster im Verlauf des Tages einfallende Sonnenlicht die Hauptrolle: in einem wiederhol- ten Rundumschwenk der Kamera und mithilfe des Zeitraffers werden Variationen der Be- leuchtung einzelner Einrichtungsgegenstände vorgeführt. Ebenso langsam und kontemplativ ist Blind Sight, in dem die Filmemacherin das einfallende Licht durch Öffnen und Schließen von Jalousien und die Verwendung verschiedener Kameraobjektive kontrolliert, wobei sie die- se Aktionen aus dem Off erläutert, also ihren eigenen Schaffensprozess kommentiert. 24 Surface Tension von Hollis Frampton (USA 1968, 10 Min.) zeigt verschiedenen Umgang mit Zeit in drei Teilen: einer statischen Einstellung eines sprechenden Mannes, dessen digitale Uhr läuft, eine Zeitrafferkamerafahrt durch die Stadtarchitektur New Yorks und eine Zeitlupen- aufnahme eines Fisches in einer Seelandschaft (www.lightcone.org, 13.06.2008). 25 In einigen kann der Betrachter aufgrund des «Versuchsaufbaus» die Operationen des Schaffens- prozesses sogar in Echtzeit nachvollziehend miterleben: The Man with the Moving Camera von David Crosswaite (GB 1973, 8 Min.) www.lux.org.uk (02.06.2008) zeigt den Kameramann durch einen Spiegel ins Bildfenster gerückt, so dass gleichzeitig sein Adjustieren von Blende und Tiefenschärfe wie auch der erzielte Effekt beobachtet werden können. Holding the Viewer von Tony Hill (GB 1993, 1:20 Min.) handelt von einem Protagonisten (=Filmemacher), der die Kamera (=Zuschauer) an einer Stange über der Schulter trägt und sie/ihn allerlei Bewegungs- experimenten unterzieht, wodurch der Film in prägnanter Form auf den Punkt bringt, was es heißt, «den Zuschauer [gefangen] zu halten» (www.kurzfilmverleih.com, 02.06.2008). 26 Strukturalistische Raum- und Bewegungsstudien, die die Wirkungsweise von Zooms und Fahrten untersuchen, sind z.B. Wavelength von Michael Snow (CAN 1967, 45 Min.; www. 101 pauleit_korrektur4.indd 101 06.11.2008 13:20:02 Christine Rüffert thoden der Betrachtung eingesetzt werden können, beispielsweise bei der Thema- tisierung der Wahl des Bildausschnitts.27 Weitere Ausführungen zum Einsatz struktureller Filme im Besonderen wie auch eine allumfassende Darstellung experimenteller Filmpraxis im Allgemeinen verbieten sich an dieser Stelle. Stattdessen skizziere ich eine vorsätzlich grob verein- fachende Rubrifizierung von Charakteristika, die einen Eindruck davon vermitteln soll, wie groß die Bandbreite der Aspekte sein kann, unter denen Experimentalfil- me rezipiert und für die Vermittlung nutzbar gemacht werden können. Film ist Licht. Film ist Material Film ist Raum. Film ist Zeit. Film ist Bewegung. Film ist Perspektive. Film ist fotografische Abbildung. Film ist Ausschnitt. Film ist Montage. Film ist Erzählung Film ist Darstellung. Film ist Ton. Film ist Wahrnehmung. Film ist Intertextualität. Film ist Sinnproduktion… Eine mögliche didaktisch-methodische Vorgehensweise möchte ich im Folgenden an drei Beispielen zu einzelnen Themenkomplexen vorführen. Hierbei lasse ich Erfahrungen aus verschiedenen Veranstaltungen mit einfließen, deren Adressa- tenkreis sich von Schülern über Universitätsstudierende bis hin zu Kinopublikum erstreckt. fdk-berlin.de/de/arsenal-experimental, 02.06.2008.) oder Vertigo Rush von Johan Lurf (A 2007, 19 Min.; www.sixpackfilm.com, 02.06.2008). 27 Experimentalfilmer haben immer wieder die Begrenztheit der Kadrage veranschaulicht, in- dem sie vorsätzlich die Bildränder (Perforation, Tonspur und Bildstrich) als Störfaktoren in den Film integrieren oder sich der üblichen ausgewogenen Bildgestaltung eines Kaders ver- weigern. Bei entsprechender Filmauswahl lässt sich in Bildaufbau und Motivwahl auf Prin- zipien des Kompositionsaufbaus in der Tafelmalerei verweisen und von dort Unterschiede herausarbeiten. So weisen die Filme von Werner Nekes eine große Nähe zur Malerei auf, die Fenstermotivik in Hynningen (D 1973, 21 Min., Teil 5 von Diwan). www.wernernekes.de (02.06.2008) zeigt ikonografische Bezüge zu Vermeer und Magritte. Still Life von Jenny Okun (GB 1976, 6 Min.; www.lux.uk.org, 05.06.2008) bezieht sich auf Konventionen der Still- lebenmalerei des Barock. 102 pauleit_korrektur4.indd 102 06.11.2008 13:20:02 Lichtspiele unter der Lupe Beispiel 1: Film ist Licht Dass das Kino ein Ort der Verzauberung und Entrückung ist, der rein technisch durch das Auftreffen eines Lichtstrahls auf eine Leinwand entsteht, erfährt der Betrachter auf sinnliche Weise in Line describing a Cone von Anthony McCall (GB 1973, 30 Min.), der im Kontext Abb. 1: Line describing a Cone (Anthony McCall) der britischen Struktu- ralisten entstand.28 Der für gewöhnlich als bloßer Bote fungierende Lichtstrahl, der erst beim Auftreffen auf eine weiße Leinwandfläche seine codierten Informationen in einem Bild preisgibt, wird hier selbst zum Thema. Entlang eines sich immer weiter ausdehnenden Kreises, der in das Filmmaterial eingeritzt ist, bricht das Licht sich seine Bahn: der Strahl ist beim Verlassen des Projektors noch geldmünzenklein und weitet sich zu einem Leinwand füllenden Kegel. Sichtbar gemacht wird der Projektionsstrahl auf seinem Weg zur Leinwand durch Rauch. Zur Entstehungszeit des Werks wurde der Effekt durch den Zigarettenkonsum des Publikums erzeugt (heute zwangsläufig durch Nebelmaschinen).29 Die physische Anwesenheit des Zu- schauers im Raum wird durch diese Projektion nicht nur thematisiert, sondern ist notwendiger Bestandteil des Vorgangs und gestaltet das Filmerleben mit. Als Han- delnder verlässt der Zuschauer seine gewohnten festen Betrachterstandpunkt ge- genüber der Leinwand und geht im Raum frei umher, wobei der Projektionsstrahl für ihn sinnlich erfahrbar wird, weil er ihn nicht nur durch Rauch entstehen lassen, sondern auch »betasten« und durchschreiten kann. Die Projektion bezieht sich auf nichts als sich selbst. «Abgebildet» wird die Anordnung einer Kinoprojektion.30 Bei Aufführungen im Galerie- wie im Kinokontext ließ sich bei vielen teilnehmenden 28 www.lux.org.uk (02.06.2008) und www.fdk-berlin.de/de/arsenal-experimental (02.06.2008) 29 Nicht nur die notwendige Nebelmaschine macht das Aufführen des Films recht aufwändig und daher für kleine Gruppen nicht geeignet: Das so genannte «Expanded Cinema» thema- tisierte zwar die Vorführsituation des Dispositivs Kino, erforderte aber häufig komplexe über das einfache Kino als Ort hinausgehende Versuchsaufbauten, die auch für Galeriekontexte gedacht waren, die in der Regel unbestuhlt waren. 30 Als konzeptionellen Ausgangspunkt nennt MacCall die Frage: «What would a film be if it was only a film?», zit. in: Pressematerial zu Shoot Shoot Shoot. The first Decade of the London Film-Makers’ Co-operative & British Avant-Garde Film 1966-76. London 2002. 103 pauleit_korrektur4.indd 103 06.11.2008 13:20:05 Christine Rüffert Zuschauerakteuren eine fast poetische Nachdenklichkeit beobachten, die ich auf die völlige Reduktion und daraus resultierende Verlangsamung der Wahrnehmung zurückführe. Line describing a cone wirkt wie eine Installation zum Thema «Was ist Kino?». Die Erkenntnis, die über eine der Grundkonstituenten des Kinos gewonnen werden kann, lautet: Film ist Projektion. Film ist Licht. Beispiel 2: Film ist Material Ein Jahr nach Line describing a cone entstand ebenfalls im Kontext der London Film Makers’ Co-op ein weiterer Film, der Zugang bietet zur Welt des «anderen Kinos». Die Darstellung der folgenden Vorgehensweise bezieht sich auf den Einsatz in einem Seminar zur Medienästhetik an der Universität Bremen. At the academy von Guy Sherwin (GB 1974, 5 Min.)31 enttäuscht die Seher- wartungen seines Publikums sehr gründlich, besteht er doch ausschließlich aus dem Material des Startbandes (engl. «academy leader»), das dem Kinovorführer des Films Gelegenheit bieten soll, die Schärfe zu korrigieren. Bei korrekter Vorführung bleibt dieser Teil des Films dem Kinozuschauer normalerweise verborgen, dennoch ist an den Publikumsreaktionen auf Sherwins Arbeit zu erkennen, dass er vertraut ist. Die rückwärts laufenden Zahlen, oft weiß auf schwarzem Grund und von einem weißen Kreis gerahmt, lösen aufgrund der Vorerfahrung beim Betrachter die Erwartung aus, nun werde gleich der eigentliche Film beginnen. So berichtet ein Studierender im Seminar, trotz der andauernden Länge und der vielfältigen Veränderungen im Bild bis zum Ende des Experimentalwerks an dieser Erwartung festgehalten zu haben. Die Enttäuschung der Zuschauererwartung bietet Gelegenheit, über die grundsätzlichen Charakteristika des Dispositivs Kino nachzudenken, die in dem ritualisierten Auftakt einer Kinoveranstaltung aufscheinen: Der Einzelne in der Masse des versammelten Publikums und das Verlöschen des Lichts im «Kinotheatersaal» beim gleichzeitigen Öffnen des Vorhangs bilden das Setting, bevor der academy leader (üblicherweise nur im Testvorlauf sichtbar) den Startschuss gibt für das Filmerleben. Mit seiner Arbeit markiert Sherwin gleichsam diesen Auftakt. Das Versprechen auf Entführung in das Reich der Illusion geht ins Leere, die vertraute Ziffernfolge bildet keinen rituellen acte de passage ins Reich der kinematographischen Träume, sondern steht für nichts anderes als sich selbst. Diese Selbstreferenzialität macht At the academy zu einem grundlegenden Beispiel für das gesamte Genre des strukturellen Films. Vor dem Hintergrund der zumeist durch die Kinokultur des Mainstream ge- prägten Seherfahrungen von Schüler/innen und Studierenden evoziert diese Arbeit jedoch auch hohen Widerstand. Ein Auftakt mit Filmen, deren Abbildungsgegen- stand so völlig aus der Norm des Erzählkinos fällt, wirkt ähnlich provokant, als begänne man einen Kurs in moderner Malerei nicht mit der Abkehr vom Natura- 31 www.lux.org.uk (02.06.2008) 104 pauleit_korrektur4.indd 104 06.11.2008 13:20:05 Lichtspiele unter der Lupe lismus durch den Impressionismus, sondern konfrontierte die Lernenden unver- mittelt mit der Konsequenz von Malewitschs weißem Quadrat auf weißem Grund. Manche Betrachter sind sogar richtig verärgert. Was und wie Film zu sein habe, ist durch den konventionellen Filmkonsum ge- prägt. Im Hollywood-dominierten Illusionskino wird der Zuschauer an die Hand ge- nommen und in eine Geschichte entführt, deren Verlauf durch unsichtbare Schnitte und unterstützende Filmmusik emotional mit-erlebbar wird. Riesige Leinwände und mehrkanaliger Dolby Surround zielen darauf ab, das physische Hier und Jetzt des Zuschauers vergessen zu machen. Irritationen werden in der Regel vermieden oder sparsam verwendet, da sie die zumeist lineare Logik des standardisierten Erzählkinos gefährden. Für die Künstler des strukturellen Kinos sind Irritationen jedoch gerade- zu Ziel ihres filmischen Handelns. «Seht her!», scheinen sie dem Zuschauer zuzuru- fen, «lasst euch nichts vormachen. Dies ist alles nur Film!». Vorsätzlich verletzen sie die Konventionen von Kadrage, Belichtung, Tiefenschärfe und Bild-Ton-Korrelation. 24x mal pro Sekunde zeigen sie dem Zuschauer: «Du sitzt im Kino!» und vermitteln ihm damit eine Distanz, die zu nachdenklicher Erkenntnis führen soll. In der Gegenüberstellung wird dieser wesentliche Unterschied von narrativem Erzählkino und strukturellem Independentkino deutlich. Vor der Projektion von At the Academy stelle ich den Studierenden eine einleitende Frage nach dem letz- ten Kinobesuch und veranlasse sie, ihr letztes Filmerlebnis zu beschreiben. Im An- schluss an die Projektion wird dann sehr schnell deutlich, wie wenig die gängigen Beschreibungskategorien zum Vermitteln des gerade gesehenen Filmes geeignet sind. Wo kein konsekutives «und dann» den Fluss der Handlung vorantreibt, kein Schauspieler seine Rolle «hervorragend verkörpert», versiegen die Worte, Sprach- losigkeit setzt ein. At the Academy besteht ausschließlich aus Abbildungen von Zahlen und gra- fischen Zeichen in hartem Schwarz-Weiß Kontrast, die sich überlagern, gegenein- ander verschieben und eine Vielfalt von abstrakten Mustern erzeugen, während die Soundebene aus einem variierenden Brummton, gelegentlich unterbrochen von einem hellen Signalton, besteht. Erste ungelenke Beschreibungsversuche der Studierenden verdeutlichen die Un- geübtheit im Sehen und Benennen des Beobachteten. Ohne sich wie beim Erzählkino auf die Nacherzählung eines Plots stützen zu können, gehen sie direkt zu geschmack- lich ausgerichteten Wertungen (von «langweilig» bis «interessant») über. In Bezug- nahme auf die Konventionen des narrativen Kinos wird dem abstrakten Film sogar ein «Happy End» zugesprochen. Aber dann werden auf der Suche nach Beschrei- bungskategorien Ähnlichkeiten mit anderen Medien und Künsten hervorgehoben und die Erkenntnis formuliert, dass diese Art von Film möglicherweise von einer an- deren Absicht getragen sei als der Spielfilm und dass man möglicherweise eine Hal- tung «wie vor einem Kunstwerk» einnehmen müsse, um daran Gefallen zu finden. 105 pauleit_korrektur4.indd 105 06.11.2008 13:20:06 Christine Rüffert Dieser Perspektivwechsel ermöglicht es dem Erzählkino-Zuschauer, die ver- traute Erwartungshaltung hinter sich zu lassen. Plötzlich ist es leicht, die ästhe- tischen Entscheidungen, die in den Film eingeflossen sind, nachzuvollziehen und Wirkungen zu beschreiben. Gleichzeitig wird deutlich, dass es unmöglich ist, das Gesehene «Was» ohne die Beantwortung des «Wie» zu beschreiben. Beginnt man etwa mit der Aussage: «At the Academy besteht ausschließlich aus Abbildungen von Zahlen und grafischen Zeichen ...», so gerät man mit der Fortführung «... in hartem Schwarz-Weiß Kontrast, die sich überlagern, gegeneinander verschieben ...» sogleich in Formulierungen, die sich auf die Herstellungsweise beziehen. Es drängen sich Fragen auf, deren Beantwortung ein Nachvollziehen des Produkti- onsprozesses erfordert: Woher rühren die harten Kontraste und was ist mit den Grautönen passiert? Wieso sieht man mehrere Zahlen übereinander; wieso gibt es mal mehr, mal weniger Überlagerungen? Wieso stehen manche Zahlen länger als andere? Wie und wieso verändert sich der Zählrhythmus? Wie kommt es zu den reliefarteigen Effekten? etc. In detektivischer Arbeit werden die Entscheidungen des Schaffensprozesses nachvollzogen. Einige Phänomene können aus der Photographie rück geschlossen werden wie der Wechsel von Negativ- und Positivbildern, der Effekt von Doppel- belichtungen, die körnige Oberfläche und die «Verschmutztheit» des von Hand entwickelten Materials. Hier wird deutlich, dass es sich um die grundlegend andere filmische Praxis handelt, die nicht selbst gedrehtes, sondern aus fremden Produk- tionszusammenhängen entliehenes, so genanntes «found footage» (dt. gefundenes Material) benutzt, um daraus sogenannte «handmade films» (dt. handgemachte Fil- me) zu schaffen. Die entsprechenden ästhetischen Erscheinungsformen lassen sich nur über Zusatzinformationen erschließen. Das Prinzip der optischen Bank, einer – in diesem Fall selbst gebauten – optischen Kopiermaschine für diverse Trickarbeiten, muss eingeführt werden, um die Mehrfachbelichtungen zu erklären. Das anfänglich konventionelle Startband mit Buchstaben, grafischen Mustern und den rückwärts laufenden Zahlen (12, 11, 10, 9, …) verdichtet sich durch die sukzessive zunehmende Überlagerung mit weiteren bis zu zwölf Schichten desselben loops, wobei zu beob- achten ist, dass die Zahlen unterschiedlich lange im Bild stehen und dadurch teilwei- se mit den Zahlen anderer Schichten verschmelzen. Die präzise Beschreibung der unterschiedlichen Dauer der Einstellungslängen einzelner Zahlen führt auf die Spur der Einzelbildes und dessen Bedeutung für den Zeitverlauf einer Handlung: So kann erschlossen werden, dass sich der Rhythmus eines jeden Zähldurchgangs von 12 bis 3 durch die Wiederholungsquote einzelner Filmkader verändert. Aus der zunehmen- den Verdichtung der ästhetischen Struktur treten einzelne Zahlen, Buchstaben und grafische Zeichen wie plastische Elemente in den Vordergrund. In den Beschreibun- gen der reliefartigen Effekte und deren Verwandtschaft zu skulpturalen Arbeiten blitzt ein erweitertes Verständnis des filmischen Werkes als materielles Objekt auf. 106 pauleit_korrektur4.indd 106 06.11.2008 13:20:06 Lichtspiele unter der Lupe Auch die Tonebene bedarf einer Er- läuterung, die die spezifische Produk- tionsweise von Film vergegenwärtigt. So muss zunächst erklärt werden, dass ein Teil des Filmstreifens für die Auf- zeichnung von Lichtton reserviert ist. Da Guy Sherwin diesen Teil während des Produktionsprozesses aber nicht geschützt, sondern im selben Belich- tungsvorgang wie die Bilder mitbelich- tet hat, ergibt sich daraus ein ebenso experimentell geschaffener Grundton. Der Sound wird angereichert durch eine Reihe von elektronischen beeps, die darauf beruhen, dass der Signal- ton, der beim Startband dem Vorführer eigentlich den Punkt der Tonsynchro- nisation anzeigt, in mehrfache Echos aufgefächert wurde. At the Academy ist ein extremes Beispiel eines Films, dessen Inhalt gleichsam in seiner Form besteht. Da sich diese wiederum nur aus der Analy- se seiner Machart heraus erklären lässt, gerät man als neugieriger Zuschauer Abb. 2: At the Academy (Guy Sherwin) zwangsläufig auf die Spuren des Schaf- fensprozesses. Sherwin selbst reflektiert diesen Zusammenhang, wenn er sagt: «Wenn ich Filme mache, versuche ich nicht, etwas zu sagen, sondern etwas herauszufinden. Aber was man versucht herauszu- finden, und wie man versucht, es herauszufinden, enthüllt, was man sagt.»32 Im Befragen der «materiellen Spuren der Operationen Auswahl und Anordnung»33 (z.B. reliefartige Struktur der Zahlen) erschließt sich nicht nur der Schaffensprozess in seinen Entscheidungen und Ausführungen (z.B. Mehrfachbe- lichtung vermittels einer optischen Bank), sondern es entfaltet sich auch das fil- mische Handlungsfeld als eine Potenz von Möglichkeiten. Eine Vorführung ver- 32 «In making films, I am not trying to say something, but to find out about something. But what one tries to find out, and how one tries to find it out, reveals what one is saying.» Guy Sherwin, zit. in: Pressematerial zu Shoot Shoot Shoot. The first Decade of the London Film-Makers’ Co-operative & British Avant-Garde Film 1966-76. London 2002. 33 Vgl. Beitrag Winfried Pauleit in diesem Band. 107 pauleit_korrektur4.indd 107 06.11.2008 13:20:07 Christine Rüffert mittels Video- /DVD-Player oder Computer erlaubt (anders als die ursprüngliche 16mm-Projektion) Änderungen in Geschwindigkeit und Richtung der Vorführung bis hin zu Einzelbildschaltungen. Diese technischen Steuerungsmöglichkeiten sind nicht nur bei der Analyse hilfreich, sondern ermöglichen dem Betrachter, in der Veränderung der ursprünglich vom Künstler gewählten Form selbst andere, alter- native Formen zu erkunden, deren einfachste ein Beschleunigen, Verlangsamen oder Rückwärtslaufen der Bilder wäre. Gerade weil das Spezifische des filmischen Kunstwerks darin liegt, dass es erst in der Aufführung sichtbar wird, verändern alle Eingriffe in den Vorführprozess seine Gestalt. Die digitalen Möglichkeiten ermög- lichen einen Brückenschlag zur ästhetischen Praxis.34 Als Lernerfahrung stehen am Ende grundlegende Erkenntnisse: Film ist das Ergebnis eines Schaffensprozesses. Die Entscheidungen, die in Bezug auf die formale Gestalt eines Films ge- troffen werden, rufen bestimmte Wirkungen hervor. Die formale Gestalt lässt sich ausgehend von genauer Beobachtung durch eine reflektierte Wortwahl beschreiben. Die Wirkung der ästhetischen Entscheidungen lässt sich dagegen nicht konsensfähig darstellen, da die Rezeption individuell unterschiedlich aus- fällt: Der Film entsteht im Kopf. Darüber hinaus macht die Analyse von At the Academy deutlich, dass Filmerstel- lung und Filmerleben auf einer materiellen Grundlage und dem strukturierten Umgang mit Zeit basieren. Damit sind zwei wesentliche Parameter des Filmschaf- fens benannt: Film ist Material. Film ist Zeit. Wenn Sherwins Film schon die Erwartung des Zuschauers an einen «richtigen» Film enttäuscht, so löst diese «Lehrstunde in Filmschaffen» dann doch noch das Versprechen des Titels At the Academy ein.35 34 Hieran könnte sich auch eine ästhetische Praxis anschließen, die verschiedene Varianten ei- nes filmischen Experimentes durchspielt, sei es mit dem vorliegenden oder mit selbst neu gedrehtem Material. Dabei können rekonstruktive, nachvollziehende sowie dekonstruktive, verändernde Praktiken zum Einsatz kommen. 35 Zur Behandlung des Aspektes der Materialität vom Film, aber auch zu Fragen von Abbildcha- rakter und der Bedeutung des Schaffensprozesses eignen sich weitere Materialfilme und ab- strakte Filme, die es seit den frühen 1910er Jahren gibt. Dazu zählen Filme, die eigentlich nicht für die Projektion vorgesehene Filmbestandteile wie Start- bzw. Endbänder, Perforationslöcher, Tonspuren, Stanzlöcher aus dem Labor etc. sichtbar machen, z.B. Rohfilm von Wilhelm und Birgit Hein (D 1968, 20 Min.; www.lux.org.uk & www.fdk-berlin.de, 3.6.2008). Unter dem Be- griff «direct film» finden sich die ohne Gebrauch einer Kamera entstandenen Filme, z.B. der le- gendäre Mothlight von Stan Brakhage (USA 1963, 4 Min.; www.lux.org.uk & www.lightcone. org, 3.6.2008), für den Brakhage Mottenflügel auf den Film aufbrachte oder der zeitlose Free 108 pauleit_korrektur4.indd 108 06.11.2008 13:20:07 Lichtspiele unter der Lupe Beispiel 3: Film ist Intertextualität Seit den 1980er Jahren entstand eine Bewegung, «die den klassischen Experimen- talfilm alt aussehen ließ, der nach wie vor über neue Sehweisen zu belehren und sei- nen Grammatikkurs durchzuführen gedachte».36 Theoretische und konzeptionelle Ansätze rücken stärker in den Hintergrund, eine neue Art von subjektiv orientier- ter Arbeit nimmt die historischen Positionen in sich auf und bestimmt die expan- dierende Produktion. Auch mit neuen Formen von Narration wird experimentiert. Die Person des Autors, seine Lebenssituation und Befindlichkeit, rückt stärker ins Zentrum, wobei der Rückgriff auf die Super 8-Technik oder der Einsatz von Spiel- zeugvideokameras den Filmen einen fast intimen Look verleiht. Die einstigen Mittel der strukturellen Untersuchung von Film sind längst zu einer ästhetischen Klaviatur geworden, auf der die Filmkünstler nach Belieben spielen: Dazu gehören die von den Strukturalisten bewusst gesetzten Konventions- verstöße37 ebenso wie die Verwendung von found footage, das in den 1990er Jahren eine Renaissance erlebt. Das ursprünglich für andere Aufführungszusammenhän- ge belichtete und aus diesen Kontexten «entliehene» Filmmaterial ruft in neuen Zusammensetzungen ungewohnte Assoziationsketten auf oder gibt in der gnaden- losen Dekonstruktion seine Subtexte frei, kann aber auch – wie im folgenden 3. Beispiel – mit selbst gedrehtem Film zu einem neuen Kunstwerk verschmelzen. Die Arbeit mit gefundenem Material ist seit 1979 eine Konstante im Schaffen des inzwischen als Professor an der Kunsthochschule für Medien in Köln lehren- den Experimentalfilmers Matthias Müller. Ihm dient, wie er selbst ausführt, «das angeeignete Material der Erweiterung des Autobiographischen, der Einbindung der Introspektion in eine kollektive Bildwelt. Diese Verknüpfung in einer hybriden Form erlaubt es, Eigenes im Fremden zu erkennen und das Fremde im vermeint- lich Eigenen aufzuspüren.»38 Radicals von Len Lye (GB 1957/79, 4 Min.; www.lightcone.org, 3.6.2008), der durch direktes Bemalen der Filmschicht entstand und der wegen seiner rhythmischen Musikalität auch bei jüngeren Schülern gut ankommt. Farbige musikalische Abstraktionen finden sich auch bei den Klassikern der 1920er Jahre, u.a. von Hans Richter, Walter Ruttmann, Viking Eggeling. (Vgl. Beitrag von Jan Sahli in diesem Band.) Daneben gibt es Filmkünstler, die abstrakte Filmbil- der durch biochemische Reaktionen entstehen lassen, indem sie das Ausgangsmaterial kochen, vergraben oder anderweitig dem Bakterienverfall aussetzen wie z.B. das Produktionskollektiv Schmelzdahin aus der Mitte der 1980er Jahre (www.lightcone.org, 3.6.2008). 36 Dietrich Kuhlbrodt, zit. in: Matthias Müller: Das Kino der Differenz. In: epdFilm. Zeitschrift des Evangelischen Pressedienstes 9, 1996, S.10. 37 Die Zurschaustellung der Materialität von Film (durch Hervorhebung des Korns, Verschmut- zung der Oberfläche etc.) wird so sehr als Teil der experimentellen Filmsprache gesehen, dass einzelne, auf Video oder digital produzierende Künstler diese Qualitäten nachzuahmen versu- chen und ihre Arbeiten z.B. mit künstlich generierten Laufstreifen versehen. 38 Matthias Müller: Thieves like me. Bemerkungen zu einem diebischen Vergnügen. In: Schnitt, Nr. 18, 2/2000, S.25. 109 pauleit_korrektur4.indd 109 06.11.2008 13:20:07 Christine Rüffert Diese Wechselbeziehung zwischen Privatem und Öffentlichem und die damit einher gehenden intertextuellen Bezüge des filmischen Werks stehen im Mittel- punkt der Auseinandersetzung mit Alpsee (D 1994, 15 Min.)39, einem der bekann- testen Filme Matthias Müllers. Im Folgenden schildere ich detailliert Teile eines Seminarverlaufs und verknüpfe sie jeweils mit methodischen Anmerkungen, um die eingangs beschriebene Methode des offenen beobachtenden Vorgehens exem- plarisch vorzuführen. Die Studierenden haben den Film in voller Gänze und eingebettet in einen Pro- grammkontext bereits im Kino erlebt, bevor wir uns ihm im Seminar erneut zu- wenden. Aufgrund der Vielschichtigkeit und der ästhetische Dichte des Werks entscheide ich mich zu einem «close viewing»,40 bei dem die Beamerprojektion vom Laptop immer wieder unterbrochen oder eine einzelne Einstellung wiederholt wird, um Details besser erfassen und benennen zu können. Dieses kleinschrittige Vorhaben verlangsamt gewissermaßen die Wahrnehmung, erhöht die Distanz zum Gesehenen/Gehörten und schärft die Aufmerksamkeit für die differenzierten Ent- scheidungen und Operationen, die dem Film zu Grunde liegen. Die Anfangssequenz von Alpsee zeigt unvermittelt das Eintreffen von Gästen bei einer Familienfeier, vermutlich einer Hochzeit. Die verwaschen wirkenden Bil- der des Super-8-Materials weisen eine seltsame, unruhig fließende Bewegung auf; bei genauerer Betrachtung offenbart sich, dass Müller sie offenbar auf einen Vor- hang projiziert und abgefilmt hat. Das rhythmische Rattern der Tonebene entpuppt sich bei schnellem Vorlauf als verlangsamtes Projektorgeräusch, wie es den Vorfüh- rungen im Familienkreis eigen war. Diese Rückschlüsse führen zu Vermutungen über die Absichten des Filmemachers, die zu diesen Entscheidungen geführt haben. Müller stellt auf diese Weise deutlich heraus, dass es sich bei diesen ersten Bildern um ein home movie handelt. Als Wirkung lässt sich konstatieren, dass die Zuschau- er wie in einem Prolog in die Erwartung versetzt werden, im Folgenden einem persönlichen Film beizuwohnen. Im anschließenden Titelvorspann wird diese Er- wartungshaltung thematisch aufgenommen: Während auf der Tonebene Streicher zu hören sind, die wie vor einem Konzert ihre Instrumente stimmen, erscheint auf einem blauen Bühnenvorhang der Filmtitel. Der andauernde Einzelton ist mit Geräuschen unterlegt, die eine Atmosphäre voll unruhiger Anspannung schaffen.41 Den Zuschauern wird so suggeriert: Gleich geht es los! In der nächsten Einstellung zieht sich eine Frau bedächtig ein Hochzeitskleid an, im Bildausschnitt ist nur ihr in ein Mieder gehüllter Torso zu sehen. Stoff und 39 www.fdk-berlin.de/de/arsenal-experimental und www.emaf.de (3.6.2008). 40 Ich gebrauche den Begriff «close viewing» als Provisorium in Abgrenzung zum «close reading». 41 Den kongenialen Soundtrack hat wie bei vielen Filmen Müllers der Komponist Dirk Schaefer kreiert. 110 pauleit_korrektur4.indd 110 06.11.2008 13:20:07 Lichtspiele unter der Lupe Schnitt deuten die 1950/60er Jahre an, das überdeutliche Rascheln des edlen, weiß glänzenden Stoffes auf der Tone- bene erzeugt einen fast haptischen Ein- druck und die exaltierte Gestik der Hän- de bestärkt die Vermutung der zeitlichen Datierung. Glockengeläut weckt erneut Erwartungen, dieses Mal die der Braut auf den Hochzeitsakt. Es folgt allerdings eine Sequenz mit zwei Einstellungen aus Hollywoodfilmen, die jeweils ein Paar männliche und ein Paar weibliche Hände beim Abstreifen von Eheringen zeigen. Das anhaltende Glockengeläut scheint hier den Vorgang zu konterka- rieren. (Oder hat der Filmemacher keine Found-Footage-Bilder von Händen, die Ringe aufsetzen, gefunden?) Dann ist da wieder der blaue Vorhang, und man meint, das erwartungsvolle Hüsteln des Publikums zu vernehmen. Die bisheri- gen Anfänge relativierend erkennt der Zuschauer: Jetzt geht es offenbar tat- sächlich los! Hände teilen den Vorhang, ein Junge tritt hervor auf die Bühne; der Vorgang wird in mehrere Einstellungen aufgelöst, die ihn vervielfachen und damit seine Bedeutung steigern. Das schwere Rascheln des Bühnenvorhangs und die Atmo (Geräuschkulisse) erwar- tungsvoller Zuschauer verklingen, eine Abb. 3–5: Alpsee (Matthias Müller) weiche Überblendung lässt den blauen Vorhang zum ebenso blauen, in Falten liegenden Rock eines Petticoatkleides werden. Seine Trägerin bewegt sich von der ka- derfüllenden Nahaufnahme des Rocks ausgehend in die Tiefe des Bildes hin zu einer altmodischen Musiktruhe, wo sie eine Platte auflegt. (Der Junge trat also gar nicht aus dem Vorhang: er wurde geboren!) In dieser Phase des Seminars wechselt die beschreibende Beobachtung immer wieder zu Vermutungen oder in die Interpretation des Gesehenen/Gehörten. Es entspinnen sich Streitgespräche: Werden die Ringe in den Found-Footage Aus- 111 pauleit_korrektur4.indd 111 06.11.2008 13:20:09 Christine Rüffert schnitten aus Hollywoodfilmen abgestreift oder aufgesetzt?42 Je mehr gesehen wird, desto eher bilden sich Argumentationsstränge, Vermutungen werden laut, Deutun- gen geäußert («Die Frau wurde von ihrem Mann verlassen.»). Diese können im weiteren Gespräch auf ihre Plausibilität hin geprüft werden, indem nach Belegen dafür im weiteren Film gesucht wird. Nachdem auf diese Weise wie in einer Exposition ein Thema des Films in den Blick genommen ist, werden aus der Anschauung heraus in einem zweiten Schritt auf das Gesamtwerk bezogen Auffälligkeiten gesammelt. Dazu läuft der Film ab der letztgenannten Einstellung (Musiktruhe) bis zum Ende durch. Die anschließende Sammlung ergibt folgende Beobachtungsergebnisse: Anfang und Schluss des Films bestehen aus Super 8-Aufnahmen. Neben den offensichtlich selbst gedrehten Sze- nen gibt es eine große Menge verschiedenen Found Footage Materials: neben den Ansammlungen ähnlicher Bildmotive (z.B. Plattenspieler, Armbanduhren), die einzelne erzählerische Momente verdichten, finden sind Dokumentaraufnahmen von der ersten Herz-Transplantation, sowie Ausschnitte aus bekannten Fernsehse- rien mit Kindern und aus Hollywoodspielfilmen. Die Hauptfiguren der von Mül- ler selbst gedrehten Szenen sind offenbar eine Mutter und ihr Sohn. Verschiedene Motivkomplexe ziehen sich durch den ganzen Film: Hochzeit / Hausarbeit / Kind- heitserlebnisse / Himmel und Weltraum / das Schließen von Türen, Fenstern und Schubladen / Flüssigkeiten. In den selbst gedrehten Szenen herrscht eine auffällige Dominanz der Farben Rot und Blau. Die Bilder wirken seltsam kühl und glatt. Die Musik besteht aus relativ kurzen Melodien, die auf die Bilder abgestimmt in loops unterlegt sind. Sie verstärkt die Monotonie der gezeigten Hausarbeiten, erzeugt aber auch eine Spannung und Bedrohung, die eigentlich gar nicht zu den Bildin- halten passt. (Diese Liste ließe sich weiter fortsetzen.) In einem nächsten Schritt lässt sich daran anknüpfend ein Fragenkatalog ent- wickeln, mit dessen Hilfe die Betrachtungen differenziert und miteinander in Be- ziehung gesetzt werden können. Davon ausgehend können Rückschlüsse auf die ästhetischen und inhaltlichen Entscheidungen des Filmemachers gezogen werden. Der folgende Fragenkatalog ist nicht im Sinne des vorgefertigten Analyseschemas einer methodisch-didaktischen Handreichung zu verstehen, sondern hat sich aus den konkreten Fragen ergeben, die von den Studierenden an den Film gestellt wur- den. In einem anderen Kontext könnten andere Lernende in Abhängigkeit von ih- rem Erkenntnisinteresse andere Fragen entwickeln. Der Katalog dieses Seminars beinhaltete folgende Fragen: 42 Interessanterweise spiegelt die uneindeutige Wahrnehmung den Produktionsprozess: Es sind tatsächlich Aufnahmen des Aufsetzens von Ringen, die rückwärts laufend einmontiert. 112 pauleit_korrektur4.indd 112 06.11.2008 13:20:10 Lichtspiele unter der Lupe Was zeigen die Super 8-Aufnahmen von Anfang und Schluss? Haben sie etwas gemeinsam, gehören sie zusammen? Welche Funktion haben Sie? Was hat es mit dem Found Footage Material auf sich? Warum wurde gerade dieses Material ausgewählt? Wie stehen Mutter und Sohn zueinander? Was lässt sich aus den Bildern über ihr Verhältnis erschließen? Wieso kommt kein Vater vor? Gibt es erklärende Hinweise auf die Abwe- senheit des Vaters? Welche Einzelbilder oder Sequenzen lassen sich den gefundenen Motiv- komplexen zuordnen? Sind sie den Personen zugeordnet? Wie sind die ver- schiedenen Themen miteinander verbunden? Lassen sich den einzelnen Farben bestimmte Personen / Gegenstände / Si- tuationen / Gefühle zuordnen oder nicht? Ist die Farbdramaturgie symbo- lisch gemeint? Wie kommt die Wirkung einer glatten Bildoberfläche zustande? Woher kennt man solche Darstellungskonventionen? Gibt es Spannungsbögen und Höhepunkte in der Musik? An welchen Stellen? Die Fragen der Lernenden können dabei paraphrasiert werden, z.B. ein «Was soll das…?» in ein «Welche Funktion hat… ?». Was jedoch auch in der unbeholfensten Formulierung deutlich durchscheint, ist ein Erkenntnisinteresse, eine Neugier, die durch die ungewohnte Form des Experimentalfilms hervorgerufen wird. Der Fra- genkatalog muss keiner vorgegebenen Richtung oder Hierarchie folgen. Mal wird von der sachlich beobachteten Beschreibung ausgehend (Dominanz der Farben Rot und Blau) nach weiteren ästhetischen Indizien (Verknüpfung mit Bildmoti- ven) gesucht, um auf Wirkungen und mögliche Absichten schließen zu können. Mal wird ausgehend von einer beobachteten Wirkung (seltsam glatte und kühle Bilder) nach den Ursachen für diese Wirkung gefahndet (wie kommt das zustan- de?). Oder es werden intertextuelle Verknüpfungen vorgenommen (woher kennt man diese Art der Darstellung?). Bei der Sammlung der Fragen kann es sinnvoll sein, auf die unterschiedlichen Ebenen hinzuweisen und die Ergebnisse in verschie- dene Rubriken aufzuteilen. In einer anschließenden längeren Erörterungsphase können in größeren Ge- sprächsbögen Antworten auf die selbst gestellten Fragen gefunden werden. Sie münden in eine Werkanalyse, wie sie aus der Kunstpädagogik bekannt ist. Zusätz- lich stellt der Lehrende Kontextwissen zur Verfügung. Kurz gefasst erbringen die Fragen folgende Ergebnisse: Die Super 8-Rahmenhandlung bettet den Film ein und lässt auf autobiogra- fische Bezüge schließen. Wie Müller in Interviews angibt, handelt es sich bei dem 113 pauleit_korrektur4.indd 113 06.11.2008 13:20:10 Christine Rüffert Material um Aufnahmen seines Vaters bei dessen eigener Hochzeit (Anfangsszene) bzw. bei einer Urlaubsfahrt (Schlussszene). Die letzten Bilder des Films zeigen die Mutter, wie sie in dem Titel gebenden Alpsee ein Bad nimmt, phantomhaft ent- rückt im gleißenden Sonnenlicht, bis die Führung des Films im Projektor schein- bar versagt, der Bildstrich sich wiederholt ins Bildfenster schiebt und das Bild (und damit die Erinnerung) schließlich entschwindet. Die zeithistorische Verortung ist Müller wichtig. Sie zeigt sich in der Datierung durch die Nachrichtensendung über die erste Herz-Transplantation einerseits, die zudem auch noch in einem zeittypischen verschließbaren Fernsehschrank präsen- tiert wird, sowie in der Ausstattung und dem Nachvollziehen der glatten Ästhetik der Werbefilme jener Zeit andererseits. Das Zeitkolorit der 1960er Jahre ist das Ta- bleau, auf dem sich das dialoglose Drama der kontaktgestörten Mutter-Sohn Be- ziehung abspielt. Die beklemmende Enge ihren häuslichen Alltags wird durch den Suspense erzeugenden Soundtrack mit der Erwartung einer ständig dräuenden Ka- tastrophe unterlegt, wobei die eher surreal anmutenden Missgeschicke des Alltags, wie die scheinbar endlos überlaufende Milch, Höhepunkte setzen. In Zusammen- hang mit der «überflutenden» Milch und einer im Bett ausgelaufenen Wärmflasche schleichen sich sexuelle Untertöne ein, zu denen die Träume des Jungen ebenso wie sein schuldbewusstes Schließen verbotener Schubladen gehören. Das manchmal wie im Stakkato wiederholte Schließen von Schränken, Fenstern und Türen durch die Mutter verstärkt nicht nur das Gefühl von unbestimmter Bedrohung, sondern auch von alptraumhaft anmutender Einsamkeit des Protagonisten. Was steckt hin- ter der blank gescheuerten Lieblosigkeit dieser Wirtschaftswunderkindheit? Ist die Abwesenheit des Vaters individuell bedingt oder gibt es einen zeithistorischen Be- zug zu den fehlenden Vätern der Nachkriegszeit? Die hier anknüpfenden Fragen erweitern den Betrachtungskontext. In der Auswahl und Anordnung des spezifischen Materials setzt Müller einen Bezugsrahmen, der eine über seine individuelle Welt-Erfahrung hinausgeht. Mit seiner sinnlichen, the- matischen und metaphorischen Vielschichtigkeit weist Alpsee eine Erscheinungs- form auf, die auf generelle Qualitäten des Filmischen verweist. Entsprechend seiner Eigenschaft als »Hypermedium«43 bezieht Film sich auf andere ästhetische Erschei- nungen und Produkte, die er sich anverwandelt und mithilfe derer er seine eigene spezifische Form im Zuschauer verankert. Je geglückter diese Anverwandlungen dem Zuschauer erscheinen, desto eindrücklicher ist die Wirkung des Films. Bei deutschen Zuschauern, deren Kindheit in den 1960er Jahren liegt, findet Alpsee daher einen anderen Widerhall als bei Angehörigen anderer Kulturkreise oder mit 43 Winfried Pauleit: Kino | Museum. Film als Sammlungsobjekt oder Film als Verbindung von Archiv und Leben. In: Viktor Kittlausz / Winfried Pauleit (Hrsg): Kunst – Museum – Kontext. Perspektiven der Kunst- und Kulturvermittlung. Bielefeld 2006, S.113. 114 pauleit_korrektur4.indd 114 06.11.2008 13:20:10 Lichtspiele unter der Lupe späteren Geburtsdaten. Dies zeigen auch Reaktionen von Studierenden, die auf- grund ihres geringeren Alters eine andere Sozialisation als die im Film gezeigte erlebt haben und denen die dargestellte zeittypische Lebenswelt nicht vertraut ist, sondern nur aus den Medien bekannt. Die Filmwissenschaftlerin Robin Curtis an- dererseits ist nur wenige Jahre jünger als Müller, verbrachte aber ihre Kindheit in Kanada. Sie nimmt eine deutlich distanzierte Sichtweise ein, wenn sie die in dem Film zeittypischen deutschen Themen wie die Verdrängung der Schuld am Natio- nalsozialismus angesprochen sieht: «Alpsee ist die ergreifendste Darstellung der affektbezogenen Verwick- lungen, die im Zentrum aller mir bekannten Filme und Videos aus Deutschland stehen, welche versuchen, die Verantwortung bzw. Schuld der Familienmitglieder eines Filmemachers anzusprechen – zerrissen zwischen dem Verlangen nach Nähe zu ihren Eltern, sogar Immersion oder Symbiose, und dem Begehren nach Distanz von ihnen als histori- schen Subjekten aufgrund ihrer Verantwortung als Agenten der deut- schen Vergangenheit.»44 Ein Weg, jenseits der eigenen Betroffenheit solche intertextuellen Bezüge herzustel- len, ist es, wiederum am Werk anzusetzen und aus ihm heraus Ähnlichkeitsspu- ren zu folgen. Diese führen z.B. in die mediale Welt der 1960er Jahre, die im Film entweder direkt (Plattenspieler, Fernseher, Found-Footage-Ausschnitte, Tonzitate aus Filmen) oder indirekt durch die ästhetische Aufbereitung anklingt. Es lohnt die Vergegenwärtigung von damaligen Werbesendungen und Fernsehserien. Müllers perfekt ausgeleuchtete und kunstvoll arrangierte Reinszenierungen zeigen weibli- che Hände vorzugsweise in Nah- und Großaufnahmen, sei es bei der Verrichtung von häuslichen Arbeiten wie Putzen, Bügeln, Nähen, Brot schneiden, Dosen öffnen, Pudding garnieren, sei es beim erwartungsvollen Ankleiden zur Hochzeit. In diesen emblematischen Bildern schwingt die Erinnerung an eine kleine Französin mit, die 1965 für das erste fettlösende und gleichzeitig hautschonende Geschirrspülmittel mit dem Slogan warb: «Das neue Pril schützt ihre Hände wie ein Handschuh.» Mit einem zeitweisen Marktanteil von 50% hatte die charmante Französin einen ähnlich hohen Bekanntheitsgrad wie die Lenor-Dame mit dem guten Gewissen und wie Ariels Clementine. Die weißbeschürzte Mutter in Alpsee rekrutiert sich aus einer Armee von Müttern, die sich fortschrittsgläubig im Einsatz modernster Chemikali- en rund um die Uhr für die keimfreie Sauberkeit ihres Haushalts aufopferten. Müller inszeniert diese Tätigkeiten in genauestens arrangierten Kompositio- nen, die wie aus einem Warenästhetik-Katalog der Wirtschaftswunderzeit wirken 44 Vgl. Robin Curtis: Leben im Präsens. Matthias Müller und die Peripherien der autobiogra- fischen Ästhetik, in: Stefanie Schulte Strathaus (Hrsg): The Memo Book. Filme, Videos und Installationen von Matthias Müller. Berlin 2007, S. 188. 115 pauleit_korrektur4.indd 115 06.11.2008 13:20:10 Christine Rüffert und auf die Werbeästhetik der Zeit rekurrieren. Vergleicht man allerdings Mül- lers selbst gedrehte Bilder dieser Kinderzeit, so fehlen die in der zeitgenössischen Werbung durchaus vorhandenen Momente familiärer Nähe. Die offensichtliche Sehnsucht des Jungen nach Zuneigung kommt im Film in einer Found-Footage- Montage zum Ausdruck, die als Traumsequenz gedeutet werden kann: In einer Aneinanderreihung von Ausschnitten aus US-amerikanischen Kinomelodramen und Fernsehserien sinken Kinderprotagonisten ihren Filmmüttern in die Arme, die sie zu Tränen gerührt auffangen und an sich drücken. Für die narrative Logik des Films wäre es irrelevant, woher diese Fundstücke stammen. Für die historische Datierung und als Ansatzpunkt einer autobiografischen Zuweisung (Müller ist Jahrgang 1961) ist das Wiedererkennen der Szenen wesentlich. Die an dieser Stel- le im Seminar vernehmbaren spontanen Ausrufe von Studierenden «Fury!» und «Lassie!» zeigen die Reminiszenz an die Geborgenheit versprechende heile Welt der eigenen kindlichen Fernsehsozialisation, die durch die wiederholte Ausstrahlung offenbar auch für jüngere Jahrgänge Gültigkeit hat. Andere Spuren und Stränge, die aus dem Film hinausführen und die zu ver- folgen sich lohnen könnte, sind die Technologiegläubigkeit, die Raumfahrt- und Himmelsmetaphorik, die Naturbegeisterung des Jungen oder die Science-Fiction Elemente. In der hier skizzierten Auseinandersetzung mit dem Werk lassen sich folgende Er- kenntnisse gewinnen: Film ist (re-)konstruierte Wirklichkeit. Film ist Intertextualität. Film lässt einen assoziativen Raum entstehen, der je nach Betrachter unterschiedliche Gedanken und Emotionen hervorruft. Wie unterschiedlich diese sein können, zeigt sich auch an Alpsee: Während Robin Curtis den Film als Bearbeitung des nationa- len Traumas der postnationalsozialistischen Ära sieht, konstatiert Peter Tscherkassky über den Film: «…wenngleich Referenzen an die NS-Zeit ausgeblendet bleiben…»45. 3. Experimentalfilm als kunstpädagogisches Experiment: Plädoyer für einen ergebnisoffenen Versuch Die Mehrdeutigkeit des künstlerischen Werks zwingt in ästhetisch bildenden Pro- zessen dazu, die eigene Person einzubeziehen. Analog zum Experiment des Fil- memachers, das sich zwischen strukturellen und persönlichen Aussagen bewegt, rezipiert der Betrachter das Ergebnis des Experiments ebenfalls einerseits auf einer strukturellen, die formalen Grundlagen von Film betreffenden Ebene und anderer- seits auf einer persönlichen, die eigene Identitätsbildung betreffenden Ebene. Bei der Behandlung von Experimentalfilmen als filmvermittelnden Filmen möchte ich 45 Peter Tscherkassky: A Poet of Images. Pesaro 2000. 116 pauleit_korrektur4.indd 116 06.11.2008 13:20:10 Lichtspiele unter der Lupe daher für einen möglichst offenen Diskurs plädieren, der das Vertrauen in die eige- ne Wahrnehmung stärkt. Gerade weil viele experimentelle Filme irritierend anders sind als das Mainstreamkino, bietet es sich an, diese Andersartigkeit in den Blick zu nehmen und beschreiben zu lassen. In Folge dieser Beobachtungen treten Fra- gen nach dem «Wie ist das gemacht?» (strukturelle Ebene) und dem «Was macht das mit mir?» (persönliche Ebene) auf, deren Beantwortung die Operationen des Filmemachers offen legt. Die Befassung mit dem Für und Wider der Entscheidun- gen, die einer jeden Operation vorangehen, zeigt, wie mit filmästhetischen Mitteln Weltsichten konstruiert und vermittelt werden. Experimentalfilme fördern im fast wörtlichen Sinn die Fähigkeit, die Welt aus mehreren Blickwinkeln zu sehen. Die britische Filmemacherin Jenny Okun formuliert: «Für mich ist Film eine Sprache, mit der wir unsere eigenen visuellen Gedankenprozesse erforschen können.»46 Darüber hinaus kann ein Zuwachs an Schlüsselkompetenzen erreicht werden, wie sie der Deutsche Kulturrat als Nebenprodukte Ästhetischer Bildung ausweist: Offenheit für das Neue und Fremde, konstruktiver Umgang mit Unsicherheiten, ge- naue Wahrnehmung der veränderten Realität, Bewertung dieser Realität, Auswahl von relevanten Informationen und Optionen, Zusammenführen von Elementen, Kommunikation und Produktion von Ideen, Reflexionsvermögen, kreative Prob- lemlösungskompetenz und Steuerungskompetenz.»47 Bei der Betrachtung von Ex- perimentalfilmen lässt sich weit mehr erlernen als «nur» etwas über den Film. 46 For me, film is a language with which we can study our own visual thought processes.» Jenny Okun, in: Arts Council Film-Makers on Tour catalogue, 1980. 47 Staatsministerin Doris Ahnen: Wie engagieren sich die Länder in der kulturellen Bildung? Tagung des deutschen Kulturrates. Berlin 29.9.2004. 117 pauleit_korrektur4.indd 117 06.11.2008 13:20:10 Winfried Pauleit Film als Handlungsfeld Oder: Wie «falsches Spiel» zu Bildungsprozessen führt Was ich im Folgenden vorstellen möchte, ist das Konzept von Film als Handlungs- feld. Darauf aufbauend lässt sich zum einen ein neuer Ansatz der Filmanalyse skiz- zieren. Zum anderen will ich damit die Idee einer Filmbildung weiter entwickeln, die im Film eine spezifische Vermittlungslogik ausmacht. Ich werde meine Thesen in fünf Schritten vorstellen. Den Einstieg bilden einige allgemeine Überlegungen zum Film als Handlungsfeld (1). Ausgehend von der Filmproduktion lassen sich in diesem Zusammenhang zwei grundlegende Organisationsprinzipien des Films her- ausstellen, die gesondert in den Blick genommen werden: Auswahl und Anordnung (2). Beide beschreiben Handlungsprozesse, die charakteristisch sind für die unter- schiedlichen Ebenen der Filmproduktion. Sie sind ebenfalls Handlungsoptionen in der Filmrezeption, sofern man diese als einen aktiven Prozess versteht. Kulturhis- torisch lassen sie sich als zwei Prinzipien des Spiels (und insbesondere auch des Kartenspiels) begreifen, an die im 20. Jahrhundert der Film anschließt. Aus dieser Konstellation lässt sich zum einen ein neues Modell der Filmanalyse ableiten, wel- ches Rezeption und Filmpraxis zusammen denkt (3). Zum anderen lässt sich zeigen, wie aufbauend auf die spielerische Gestaltung von Auswahl und Anordnung eine filmische Vermittlungslogik in Gang gesetzt wird, die Bildungsprozesse initiieren kann (4). Dabei greife ich die Überlegungen von Alain Bergala zur Filmvermitt- lung auf, der für den Prozess des Filmemachens drei geistige Operationen benennt, zu denen Auswahl und Anordnung gehören.1 Ebenfalls von Bergala stammt die Idee, ausgehend vom Prozess des Filmemachens die Filmanalyse als «Analyse des Schaffensprozess» neu zu denken und dabei Prozesse der Produktion mit denen der Rezeption zu verbinden. Bergalas Gedanken werden von mir im Sinne eines struk- turellen Ansatzes weiter gedacht, der nicht vom geistigen Schaffensprozess in einem (Künstler)Subjekt ausgeht, sondern von einem Handlungsfeld außerhalb des Sub- 1 Bergala: Kino als Kunst (2006). 118 pauleit_korrektur4.indd 118 06.11.2008 13:20:10 Film als Handlungsfeld jekts, das der Film als Kulturtechnik konstituiert. In diesem Handlungsfeld lassen sich sowohl kreative als auch bildende Prozesse initiieren. Beide sind im Sinne einer ästhetischen Bildung bzw. einer bildnerischen Ästhetik aufeinander bezogen. Die besondere Qualität des Handlungsfeldes Film besteht darin, dass sich dort unter- schiedliche Register wie Symbolisches, Imaginäres und Reales überlagern, sodass ein «falsches Spiel» gleichwohl zu echten Bildungsprozessen führt. Zusammenfassend will ich diese Überlegungen an einem Filmbeispiel darstellen: Die Falschspielerin (The Lady Eve, USA 1941) von Preston Sturges (5). 1. Handlungsfeld Film Film ist zu einem kulturellen Archiv der Kunst- und Kulturgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts geworden.2 So wie einst das Diapositiv mit seiner Fähigkeit zur Reproduktion von Standbildern die Kunstgeschichte und ihre Methoden der ver- gleichenden Bildanalyse prägte, so ist es heute der Film als bewegtes, audio-visu- elles Bild, das uns die Prozesse der Kunst- und Kulturgeschichte zur Anschauung bringen kann. Gerade weil der Film noch ein analoges Aufzeichnungsmedium ist, fungiert er in besonderer Weise als Archiv. Fotografie und Ton-Aufzeichnung ha- ben den materiellen Charakter einer abgeschlossenen Einschreibung, die nur im Spiel erneut prozessierbar wird.3 Dies stellt Siegfried Kracauer bereits 1927 her- aus, als er die Fotografie als Generalinventar, Riesenfilm und Sammlung materiel- ler Erscheinungen bezeichnete und sie mit einem Konzept des Films konfrontiert, 2 Vgl. Winfried Pauleit: Kino / Museum. Film als Sammlungsobjekt oder Film als Verbindung von Archiv und Leben. In: Viktor Kittlausz / Winfried Pauleit (Hrsg.): Kunst – Museum – Kon- texte. Aktuelle Positionen in der Kunst- und Kulturvermittlung, Bielefeld 2007, S. 113–135. 3 Glaubt man dem Medienwissenschaftler Hartmut Winkler, dann ist das Einzige, was der Com- puter und die elektronischen Medien Neues bringen, die Loslösung der Zeichen vom phy- sischen Transport, also die Logik der Telekommunikation beim Speichern, Übertragen und Prozessieren von Zeichen. Vgl. Hartmut Winkler: «Medium Computer. Zehn populäre Thesen zum Thema und warum sie möglicherweise falsch sind». In: Lorenz Engell / Britta Neitzel (Hrsg.): Das Gesicht der Welt. Medien in der digitalen Kultur. München 2004, S. 203 – 213. Hieraus gewinnt der Begriff der Interaktivität seine entscheidende Bedeutung für die Künste, der nichts anderes meint als eine Prozessierbarkeit von Zeichenfolgen auch nach Abschluss des Werks. Beim interaktiven Video basiert sie beispielsweise auf spezifischen Wahlmöglichkeiten aus einem vorgegebenen Archiv, bei algorithmischen Bildern sind es Bildserien oder Filme, die aufgrund von programmierten Rechenoperationen immer wieder neu generiert werden. Für die Ästhetik bedeutet Interaktion die Auflösung der klassischen Grenzziehung von Produktion und Rezeption. Diese Auflösung ist aber kein Privileg der Neuen Medien. Sie zeigt sich vielmehr auch im Happening und in anderen performativen Strategien der bildenden Kunst des 20.Jhs. Für den Film lässt sie sich bereits in dessen Frühzeit nachweisen; vgl. Paul Young: Cinema Dreams its Rivals. Media Fantasy Films from Radio to the Internet. University of Minnesota Press 2006; heute zeigt sie sich in zahlreichen künstlerischen Strategien, die die Archive Hollywoods plündern und recyceln, um aus diesen Bildern neue ästhetische Formen zu generieren. 119 pauleit_korrektur4.indd 119 06.11.2008 13:20:10 Winfried Pauleit welches darin besteht, im Spiel die einzelnen Elemente neu zusammenzusetzen.4 Fotografie und Film werden von Kracauer zunächst im weiten Sinne als Medium und Ort des Sammelns und Speicherns gefasst. Erst in einem zweiten Schritt zeigt sich der Film bei Kracauer als Spiel und als spezifisches Handlungsfeld, dessen be- sondere Kennzeichen Auswahl und Anordnung sind. Dem entsprechen ähnliche Strategien der Aneignung, wie sie die Filmpraxis der künstlerischen Avantgarde in der Ästhetik des Found-Footage entfaltet hat.5 Konkret zeigt sich darin, dass mit den Organisationsprinzipien Auswahl und Anordnung Zeit- und Raumfragmente im Handlungsfeld Film bearbeitbar werden. Wenn ich hier von Film spreche, dann meine ich nicht nur seine Ausformungen im engeren Sinne, den Mainstreamfilm, den Autorenfilm und die Filmavantgar- de, sondern die Kulturtechnik Film, die sich andere Künste und die Alltagskul- tur aneignet und diese in Form von Montagen oder Synthesen transformiert, und zu einem Gemisch oder Amalgam zusammenfügt.6 Dieses Verständnis des Films als Kulturtechnik beleuchtet eine weitere Facette des Films als Handlungsfeld. Be- schreibungen davon finden sich bereits bei Walter Benjamin.7 Die letzte Stufe der technischen Reproduzierbarkeit, die Benjamin beschreibt, ist der Tonfilm. Benja- min stellt zwei Merkmale heraus: Zum einen erlaubt der Tonfilm die audiovisu- elle Reproduktion von im Grunde allen bis dahin bekannten Künsten (also alle Bildkünste einschließlich der Architektur, aber auch Musik, Literatur, Theater, und schließlich auch die angewandten Bereiche wie Design, Mode und die gesamte All- tagskultur). Zum anderen hat der Film auf der Basis seiner Fähigkeit zur techni- schen Reproduktion eine eigene Ästhetik ausgebildet, eine kulturelle Form und Vielfalt, die die bis dahin existierenden Künste gewissermaßen verarbeitet und dadurch etwas Neues generiert. Medientheoretisch formuliert heißt das: Der Film ist ein erstes technisches Hypermedium. Hypermedium aber nicht im Sinne einer 4 Siegfried Kracauer: «Die Photographie» (1927). In: Ders. Das Ornament der Masse. Frankfurt am Main 1977, S. 21–39. 5 Zum Verfahren des Found-Footage siehe Artikel von Christine Rüffert in diesem Band. 6 Das, was ich hier kurz Film nenne hat sich als Kulturtechnik weit verzweigt. Es umfasst im Grun- de auch die Absolute Radiokunst der 1920er Jahre und all das, was wir heute unter sound art verstehen, deren Ästhetik sich historisch gesehen explizit am Film ausgebildet hat; vgl. Wolfgang Hagen: Das Radio. München 2005. Sicherlich gehören auch die Videokunst und die performance art dazu, insofern die Performances uns heute in Form von Film oder Video überliefert sind, oder sofort für die Kamera aufgeführt wurden. Zudem gibt es Rückwirkungen in die klassischen Künste: Das postdramatische Theater ist nicht mehr ohne Film und Video zu denken, und die gegenwärtige Architektur basiert z.T. auf filmischen Visualisierungen, die am Computer errech- net wurden. Und auch die Computerspiele, die gerne als neue Konkurrenz zur Filmindustrie herangezogen werden, weil ihr Marktanteil inzwischen den des klassischen Films überflügelt hat, basieren in der Regel auf einer Verbindung von: Audiovisionen des Films und Spiel. 7 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main 1963. 120 pauleit_korrektur4.indd 120 06.11.2008 13:20:11 Film als Handlungsfeld übergeordneten Meta-Struktur, die alles vereint, sondern im Sinne eines Ortes, an dem Unterschiedliches miteinander in Beziehung treten kann.8 Eine solche Film- konzeption wird in den 1970er Jahren beispielsweise von Peter Wollen beschrieben, wobei der Film als Ort für die Begegnung und gegenseitige Befruchtung unter- schiedlicher Künste und Codes gedacht wird.9 2. Auswahl und Anordnung Alain Bergala beschreibt das Filmemachen als «Schaffensprozess». Er versteht den kreativen Akt des Filmemachens analog zu den Prozessen in anderen Künsten. Sein Bezugspunkt ist Leonardo da Vinci, der die Malerei als eine cosa mentale, als eine Sache des Geistes bezeichnete. Bergala formuliert dies wie folgt: «Der Schaffenspro- zess ist also, im Kino wie anderswo, zuerst eine cosa mentale, bevor er in konkrete Handlungen umgesetzt wird und auf die Realität trifft – obwohl die Realität beim Kino mehr als in jeder anderen Kunst immer ein Wort mitzureden hat».10 Weiter skizziert Bergala für das Filmschaffen «drei einfache geistige Operationen», die er Auswählen, Anordnen und Ansetzen nennt. Obwohl Bergala im Folgenden weitere Einschränkungen macht, was das Geistige des Schaffensaktes beim Film angeht, und demgegenüber das spezifische Verhältnis des Films zur Wirklichkeit betont, so bleibt er doch der klassischen Idee eines primär und ursprünglich geistigen Schaffens treu, das der Materialität ihren Stempel aufdrückt.11 Die Taktik, die dahinter steht – so lässt sich vermuten – besteht darin, den Film an die Kunst anzuschließen, um damit die Konzeptualisierung des Regisseurs als Künstler wie in der Autorentheorie weiter zu schreiben und den Film insbesondere vom Audiovisuellen des Fernsehens abzu- grenzen. Und so ist auch Bergalas Filmbildung darauf ausgerichtet, bei den Schülern diesen geistigen Schaffensakt als mentale Erfahrung zu initiieren. 8 Das Englische fasst unter hyper- auch das Exzessive und unter hype sowohl die Injektion, als auch Trick, Betrug und Täuschung. 9 Peter Wollen: «The Two Avant-Gardes» (1975). In: Ders.: Readings and Writings. Semiotic Coun- ter-Strategies. London 1982, S. 92–104. Vgl. auch Winfried Pauleit: «Riddles of the Sphinx. Die Arbeit von Laura Mulvey und Peter Wollen zwischen Counter-Strategie und Dekonstruktion». In: Gregor Stemmrich (Hrsg.): Kunst / Kino. Jahresring 48 Jahrbuch für moderne Kunst, Köln 2001, S. 177–193. 10 Bergala 2006, S. 95. 11 «Was zugleich die Besonderheit, die Schwierigkeit und den Reiz des Kinos ausmacht, ist, dass diese geistigen Operationen, ohne die es keine Schöpfung gibt, niemals ganz abstrakte oder intellektuelle Entscheidungen sind, die nur im Himmel der Ideen bestand haben. Die tatsäch- lichen Entscheidungen werden zwangsläufig mit der rauen Wirklichkeit ausgehandelt, in tas- tenden Versuchen und durch reuiges Umkehren, bis man ein Gleichgewicht für erreicht hält, das der Idee und der ursprünglichen Vorstellung nicht allzu untreu ist, auch wenn man sich aufgrund der berühmten ‚Sachzwänge‘ weit davon entfernt hat». Vgl. Bergala, S. 97. 121 pauleit_korrektur4.indd 121 06.11.2008 13:20:11 Winfried Pauleit Dieser Auffassung stehen einige inzwischen klassisch zu nennende Theoriepositio- nen gegenüber, die den Film – wenn schon als Kunst – in ihrer spezifischen Eigen- heit beschreiben, die ihren Ursprung gerade nicht in einem primär geistigen Akt hat. Hier ist zuerst Erwin Panofsky zu nennen, auf dessen Charakterisierung des Films später auch Siegfried Kracauer seine Theorie des Films aufbaut. Panofsky stellt die Differenz der Filmkunst gegenüber den anderen bildenden Künsten heraus: «Die Verfahrensweisen aller früheren bildenden Künste entsprechen, mehr oder weniger, einem idealistischen Weltbild. Diese Künste agieren sozusagen von oben nach un- ten. Sie beginnen mit einer Idee, die in die gestaltlose Materie projiziert werden soll, nicht mit den Objekten, aus denen die äußere Welt besteht … Der Film und nur der Film wird jenem materialistischen Weltverständnis gerecht, das die gegenwärtige Kultur durchdringt, ob es uns gefällt oder nicht. Von der Sonderform des Zeichen- films abgesehen, gibt der Film materiellen Dingen und Personen, nicht neutralem Stoff, einen Sinnzusammenhang, der seinen Stil und sogar seine Phantastik oder unbeabsichtigte Symbolqualität weniger durch die Vorstellung des Künstlers erhält als durch die Arbeit mit den äußeren Objekten und der Aufnahmeapparatur».12 Auch wenn sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in der bildenden Kunst ebenso eine Aufmerksamkeit für das Material durchsetzt, so unterscheidet sich der Film doch darin, dass er durch seine Fähigkeit zur Reproduktion die ganze Vielfalt der mate- riellen Welt zu seinem Gegenstand machen kann und dabei auch das Leben selbst integriert, worauf besonders Kracauer in seiner Theorie des Films verweist.13 Panofskys Ausführungen werfen ein anderes Licht auf Bergalas «geistige Opera- tionen», weil sie gerade nicht als geistige charakterisiert werden, die zuerst in einem Künstlersubjekt stattfinden und dann ihren Abgleich mit der Welt suchen, sondern unmittelbar im Handlungszusammenhang mit der Welt verankert sind: «…die äu- ßere Realität von Maschinen und Tieren, von Edward G. Robinson und Jimmy Cagney. Alle diese Objekte und Personen müssen in einem Kunstwerk zusammen- geordnet werden. Sie können in jeder beliebigen Weise angeordnet werden, wobei ‚Anordnung‘ natürlich Schminke, Beleuchtung, Kameraarbeit usw. einschließt». Panofsky stellt also heraus, dass der Film von der Materialität der Dinge und Per- sonen ausgeht und dass gerade die Operation des «Anordnens» – und man kann hier die anderen von Beragla genannten Operationen Auswählen und Ansetzen mit einschließen – eine Handlung darstellt, die das spezifische Handlungsfeld Film konstituiert. Und so sind auch bei genauer Lektüre von Bergalas Ausführungen seine Konkretisierungen der Operationen allesamt Handlungen, die sich direkt auf die dinglich materielle Welt beziehen: «Auswählen: Dinge unter allen möglichen 12 Erwin Panofsky: Stil und Medium im Film & Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Küh- lers. Frankfurt am Main 1999, S. 53f. 13 Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. (1960). Frank- furt am Main 1996. 122 pauleit_korrektur4.indd 122 06.11.2008 13:20:11 Film als Handlungsfeld anderen in der Realität aussuchen … Anordnen: Dinge im Verhältnis zueinander platzieren … Ansetzen: über den Ansatzpunkt oder die Perspektive auf die ausge- wählten und angeordneten Dinge entscheiden».14 Diese grundlegende Differenz des Films zu den anderen Künsten lässt sich bis heute in den unterschiedlichen Theoriekonzepten zum Film nachweisen. Auch Bergala greift diese Differenz immer wieder auf, wenn er z.B. in diesem Kontext auf Pasolinis Konzept des Films als geschriebene Sprache der Wirklichkeit verweist,15 oder wenn er die besondere Bedeutung der «Wirklichkeit» beim Filmemachen her- ausstellt.16 Der entscheidende Punkt ist allerdings das Subjekt- und das Objektver- ständnis, das dabei zugrunde gelegt wird. Auf der einen Seite (bei Bergala) wird das Subjekt als primär singuläres, geistiges Wesen gefasst, als Künstlerfigur und Regis- seur. Auf der anderen Seite bildet sich das Subjekt erst in der Interaktion mit der materiellen Welt heraus und ist selbst Teil der materiellen Welt (wie bei Panofsky und Kracauer). Diesem Subjekt stehen bei Bergala die einzelnen Filme als Werke und gute Objekte gegenüber. Mit Panofsky und Kracauer gedacht wäre das gute Objekt demgegenüber nicht ein einzelner Film, sondern die Vielzahl konkreter Ob- jekte eines Films («die äußere Realität von Maschinen und Tieren, von Edward G. Robinson und Jimmy Cagney») oder aber das Kino selbst als Meta-Objekt, in dem Sinne wie Christian Metz vom cinéma, vom Kino als Summe aller Filme spricht.17 Mein Vorschlag, den Film als Handlungsfeld zu konzipieren, in dem die Opera- tionen Auswählen und Anordnen vorgenommen werden, bildet in gewisser Weise eine Synthese aus diesen Positionen. Die «geistigen Operationen» werden gleich- zeitig als «materielle» gefasst, die im Handlungsfeld Film, also in der dinglichen Welt stattfinden und folglich auch physisch nachvollziehbar sind. Es geht also um einen Denken, das in materiellen (filmischen) Spuren begreifbar wird – und um materielle Anordnungen (des Films), die wiederum das Denken erst generieren. Und auch Bergala gibt in seinen Beschreibungen des Filmschaffens immer wieder eine ähnliche Haltung zu erkennen, wenn er seine geistigen Operationen gerade nicht als Entscheidungen im Ideenhimmel verstanden wissen will, sondern sich beispielsweise auf nicht-sprachliche Entwürfe und Entscheidungen beruft, die sich allein anhand der materiellen Ausführungen beim Filmemachen bzw. an der mate- riellen Ausführung des Films (re)konstruieren lassen. Bergala entwickelt aus diesen Überlegungen schließlich nicht nur ein Konzept praktischer Filmbildung, sondern auch einen Vorschlag für die Filmanalyse als 14 Panofsky, S. 54. 15 Bergala, S. 95. 16 Bergala, S. 93. 17 Bergala, S. 107ff. 123 pauleit_korrektur4.indd 123 06.11.2008 13:20:11 Winfried Pauleit «Schaffensanalyse».18 Dabei geht er explizit nicht vom Film als abgeschlossenem Werk aus, sondern von den konkreten Entscheidungen des Auswählens, Anordnens und Ansetzens beim Filmemachen. Er versucht also zunächst in der Analyse den Prozess der Produktion zu rekonstruieren. Gegenstand seiner Rekonstruktion ist gleichwohl der fertige Film, den er aber imaginativ zerlegt in mögliche andere Anordnungen, in mögliche andere Entscheidungen der Auswahl. Damit wird der Film zu einem strukturellen Handlungsfeld aufgefächert. Allerdings bindet Bergala diese Form der Filmanalyse, die von möglichen materiellen Entscheidungen ausgeht, zurück an ein problematisches Subjektverständnis, an die Person des Regisseurs, die uns dadurch gleichsam als fiktives Leitbild seiner Filmbildung erscheint. Die alte Vorstellung vom Künstlergenie droht dann die produktive Öffnung des Films als strukturelles Handlungsfeld zu überlagern und auch seine Pädagogik zu durchkreuzen. In Be- zug auf das Objektverständnis lässt sich anmerken, dass auch hier bei Bergala einige Ambivalenzen auffallen. So zeugt seine Vermittlungsmethode des «Fragmente-in- Beziehung-setzens» gerade nicht von einem Verständnis des Films als Einzelwerk, sondern eher als Sammlung und Archiv vielfältiger disparater Objekte, die zwar Teil eines Films, aber in erster Linie doch Teil der Kunst des Kinos sind. 3. Strukturelle Filmanalyse Ausgehend von den Überlegungen Bergalas lässt sich das Filmemachen gleichwohl als ein Prozess des Denkens und Handelns begreifen. Folgt man Bergalas Vorschlag der Übertragung dieser Herangehensweise auf die Filmrezeption und -analyse, so lässt sich daraus das Konzept einer strukturellen Filmanalyse ableiten. In den Hori- zont der Analyse gelangen dann nicht mehr die imaginäre oder fiktive Rekonstruk- tion des Schaffens eines Regisseurs und die Analyse von dessen geistigen Entschei- dungen, wie es bei Bergala heißt. Stattdessen steht vielmehr das Kino bzw. der Film als Handlungsfeld im Zentrum der Analyse, in dem die materiellen Spuren der Operationen Auswahl und Anordnung untersucht werden. Sprich: man analysiert die faktische Realisierung eines Films, z.B. die Entscheidung für die Besetzung eines Schauspielers nicht auf dem Hintergrund der (fiktiven) Rekonstruktion der Ent- scheidung eines Regisseurs (Godard hat den Schauspieler XY ausgewählt), sondern betrachtet sie auf dem Hintergrund der strukturellen Möglichkeiten der Auswahl: Welche anderen Besetzungen wären möglich gewesen? Und welche unmöglichen Besetzungen sind aus heutiger Perspektive denkbar? Eine solche Herangehensweise fasst zudem nicht den einzelnen Regisseur oder einen einzelnen Film ins Auge, sondern die Filmgeschichte als «Zusammenhang», 18 Vergleichbar ist die Rede davon, dass man die Literatur oder die Malerei liebt. Vgl. Christian Metz: Der imaginäre Signifikant: Psychoanalyse und Kino. Münster 2000. 124 pauleit_korrektur4.indd 124 06.11.2008 13:20:11 Film als Handlungsfeld so wie dies Helmut Färber formuliert hat.19 Im Zusammenhang der Filmgeschichte erscheint jede Auswahl und Anordnung dann wie eine Akzentuierung, die auf dem Hintergrund anderer Entscheidungen und anderer Filme vorgenommen wird. Und jede Akzentuierung macht wieder neue Entscheidungen denkbar, sodass es nicht nur um Rekonstruktionen des Vergangenen geht, sondern auch um das konkrete Entwerfen im Handlungsfeld Film, um zukünftige oder auch nur mögliche Filme. Der sich daran anschließende Modus einer Rezeption besteht folglich nicht im Nachvollziehen der Filmgeschichte oder dem Nachfühlen der Entscheidungen des Regisseurs und seines Schaffensprozesses, sondern eher im Verwerfen einer Regis- seur zentrierten Ordnung zugunsten eines Denkens von Film als Handlungsfeld, das den Film als Materialität und Möglichkeit gleichzeitig untersucht und reflektiert. Eine solche strukturelle Filmanalyse hat es folglich nicht mit einem Film im Sinne einer isolierten Faktizität oder eines einzelnen Produkts zu tun, sondern mit Film als Struktur. Struktur ist hier keineswegs a-historisch gedacht. Sondern Struktur ist hier im Grunde mit Geschichte im materiellen Sinne des Geschich- teten kongruent. Die ästhetische Praxis, die diese Analyseform flankiert, besteht darin, Vergangenheit und Geschichte (in Form von fragmentierten Bild- und Ton- aufnahmen) neu zu bearbeiten und das gegebene Material immer wieder neu im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft und mit Blick auf die strukturellen Möglich- keiten anzuordnen – ähnlich wie bei einem Kartenspiel, das immer neue Blätter und Spielmöglichkeiten auf der Basis von Auswahl und Anordnung produziert.20 Das Prinzip, das hier zum Tragen kommt, ist mit der Dekonstruktion verwandt, insofern es sich auf Spuren stützt und jenseits der Präsenzlogik agiert. Allerdings stützt es sich nicht allein oder in erster Linie auf Textlektüren.21 Es besteht vielmehr aus einer Arbeit im Handlungsfeld Film und zwar ästhetisch-praktisch (materiell), theoretisch (denkend) – und pädagogisch (vermittelnd). Gerade mit Blick auf die Metapher des Kartenspiels lässt sich der Ansatz der strukturellen Analyse als eine Form der Interaktion fassen. Interaktion erscheint tref- fend, weil die Unterscheidung von Produktion und Rezeption aufgelöst ist und da- mit das Konzept eines abgeschlossenen Filmwerks zugunsten von Film als Struktur, in der spielerisch agiert werden kann, ersetzt wird. Interaktion und die damit einher- gehende Auflösung der Trennung von Produktion und Rezeption ist aber keineswegs eine neue Erfindung oder voraussetzungslose Basis des hier vorgestellten Ansatzes. Sie findet sich historisch betrachtet schon in frühen filmtheoretischen Schriften, z.B. 19 Bergala, S. 92. 20 Helmut Färber: Das unentdeckte Kino. In: Alexander Kluge (Hrsg.): Bestandsaufnahme : Uto- pie Film. Frankfurt am Main 1983, S. 16 – 29. 21 Ein Unterschied zum Kartenspiel ist, dass es dabei ein festes Set an Karten gibt, die Filmge- schichte sich aber ständig verändert. Wobei sich aber einwenden lässt, dass sich auch Karten- spiele im Laufe der Geschichte immer wieder verändert haben. 125 pauleit_korrektur4.indd 125 06.11.2008 13:20:11 Winfried Pauleit in der oben skizzierten Form von Film als Spiel bei Siegfried Kracauer. Später ange- deutet in den Filmkonzeptionen von Roland Barthes oder Peter Wollen.22 Beim Film nimmt die Interaktion und die Auflösung der Unterscheidung von Produktion und Rezeption allerdings eine spezifische Form an. Sie folgt nicht der Präsenzlogik, die wir der Interaktion mit dem Computer oder dem Computerspiel unterstellen.23 Sie arbeitet vielmehr mit einer Schichtung unterschiedlicher Zeit- und Raumebenen und der Kombination unterschiedlicher Register. Fotografie und Tonaufnahme ermöglichen es, unterschiedliche Zeitebenen miteinander zu verbin- den und ebenso bildnerische oder akustische Repräsentationen mit Realitätsver- weisen zu kreuzen. Das Modell für dieses ästhetische Verfahren ist der Schneide- tisch, der gleichzeitig als Sichtungstisch fungiert, an dem also sowohl produziert als auch rezipiert werden kann – an dem Bilder und Klänge gesichtet und von (vergangenen) Realitätsschichten überlagert werden. Imaginär kann diese Position jeder Zuschauer einnehmen, um den Film an jeder beliebigen Stelle anzuhalten und mit anderem Bild- und Tonmaterial zu verknüpfen.24 Der Computer und die Digitalisierung des Films liefern schließlich den allgemeinen und virtuellen Zugriff auf diesen Ort spielerischer Interaktion.25 4. Filmische Vermittlungslogik Der Film ist aufgrund seiner Fähigkeiten zur technischen Reproduktion und zur Kombination und Aneignung unterschiedlicher Medien auch ein komplexes Medi- um der Vermittlung. Film fungiert dabei weniger als künstlerisches Werk denn als Archiv, ähnlich wie ein Museum oder eine Bibliothek.26 In der Verbindung unter- schiedlicher Elemente, in der Zusammenstellung von Heterogenem, entwickelt das Medium Film seine spezifische ästhetische Vermittlungslogik. Diese zeigt sich we- niger in konsistenten Narrationen oder Bildkompositionen und also nicht in den Aushandlungen eines common sense auf der Basis kommunikativen Handelns. Son- 22 Die Abgrenzung vom Textbegriff erfolgt hier zur Unterscheidung von Text im engeren oder buchstäblichen Sinne und Bild- bzw. Tonaufzeichnungen im Sinne der Notation von materi- ellen Spuren. 23 Vgl. Roland Barthes: Der dritte Sinn: Forschungsnotizen über einige Fotogramme S. M. Eisen- steins. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays II. Frankfurt am Main 1990, S. 47 – 66; Wollen sowie Pauleit 2001. 24 Sie weist auch eine Differenz zur Präsenzlogik von Strategien in der bildenden Kunst auf, wie z.B. der Performance oder dem Happening. 25 Winfried Pauleit: Filmstandbilder. Passagen zwischen Kunst und Kino. Frankfurt am Main 2004. 26 Dies ist bereits beim Video möglich, allerdings benötigt man dazu mindestens zwei Videore- corder. Der Computer liefert in seiner Logik der Überlagerung verschiedener Fenster bereits das Potential umfangreicher Schnitt- und Montageoptionen. 126 pauleit_korrektur4.indd 126 06.11.2008 13:20:12 Film als Handlungsfeld dern sie ist gekennzeich- net von einem Hand- lungsfeld Film, in dem Anordnungen gerade diesen common sense (den gemeinsamen, so- zialen Sinn) überschrei- ten. Im Handlungsfeld Film können Elemente gegenläufig und im Dis- sens positioniert werden und gerade darin liegt m.E. die Stärke seiner Vermittlungslogik.27 Besonders deutlich tritt die Vermittlungs- logik bei der Darstel- Abb. 1 & 2: Sie küssten und sie schlugen ihn lung von Unterrichts- (François Truffaut) szenen im Film hervor. Die Kamera wird in solchen Szenen zu einer dritten Instanz, die sich in das soziale Verhältnis von Lehrern und Schülern einmischt. Sie wird zum Dritten im Unter- richtsgeschehen und macht dabei den Dissens oder die unverständliche Begegnung mit dem Anderen sichtbar. Zahlreiche Filme zeugen davon, so z.B. François Truffauts Sie küssten und sie schlugen ihn (Les quatre cents coups, F 1959).28 Gleich in der ersten Szene werden die unterschiedlichen Perspektiven von Schülern und Lehrer zueinander ins Verhältnis gesetzt. Der Klassenraum wird von der Kamera als diskursiver und ästhetisch erfahrbarer Raum vermessen. Dem sprachlich getragenen Wissensdiskurs des Lehrers wird eine weitgehend stumme ästhetische Erfahrung der Schüler gegenübergestellt. In der ersten Einstellung ist die Kamera auf der Seite der Schüler, wir schauen ihnen sozusagen über die Schul- ter und teilen mit ihnen eine subjektive Schulerfahrung, eine spezifische Erfah- rung des Klassenraums: Es geht ums Schreiben. Konkret befinden wir uns in einer Klassenarbeit, der Blick der Schüler ist gesenkt; es gibt zunächst keinen Kontakt zum Lehrer. Diese erste Einstellung ist gleichzeitig der establishing shot, der als Ba- sis des ganzen Films funktionieren wird: Einer der Schüler, Antoine Doinel, wird 27 Marc Ries hat skizziert, dass in der medialen Logik des Films das Archiv bereits angelegt ist; vgl. Marc Ries: Archiv Museum Dispositiv. In: Ästhetik & Kommunikation 137, 2007, S. 55 – 58. 28 Vgl. Winfried Pauleit: Kinematograph und Zeigestock. Ähnlichkeit und Differenz der visuel- len Anordnungen von Kino und Schule. In: Helene Decke-Cornill und Renate Luca: Jugendli- che im Film – Filme für Jugendliche. München 2007, S. 59 – 71. 127 pauleit_korrektur4.indd 127 06.11.2008 13:20:12 Winfried Pauleit noch in dieser ersten Einstellung vom Lehrer herausgepickt und später bestraft werden. Mit dieser Szene beginnt die Karriere des Antoine Doinel, die schließlich im Erziehungsheim endet. Mit dieser Szene beginnt aber auch die Karriere von François Truffaut und dem damals 11-jährigen Schauspieler Jean-Pierre Léaud, die mit diesem Film nicht nur die Nouvelle Vague mitbegründen, sondern auch die Lebensgeschichte des Antoine Doinel, die sich in weiteren Filmen fortsetzen wird.29 Die zweite Einstellung zeigt den Klassenraum aus der Position des Lehrers, d.h. sie zeigt die Schüler von vorne. Allerdings wechselt die Kamera erst in dem Moment in die Lehrerposition, als der Lehrer seinen Platz am Pult verlässt, um durch die Klasse zu schlendern. Es handelt sich also nicht um eine subjektive Lehrerperspektive, sondern um eine strukturelle, die mit einem Schienenwagen aufgenommen ist und die ihren Blick durch die Fluchten der Sitzanordnung der Schüler wirft. Bereits mit diesen zwei Kameraeinstellungen gelingt es dem Film, eine Begegnung zwischen zwei unterschiedlichen «Stimmen» als Dissens in Szene zu setzen und damit ganz konkret den Handlungsraum des Films aufzuspannen.30 Auch Gus van Sants Elephant (USA 2003) und sein aktueller Film Paranoid Park (USA 2007) arbeiten mit einer ähnlichen Gegenüberstellung von sprachli- chen und visuellen Handlungs- und Diskursfeldern. Wobei es van Sant stärker um die auf einem rationalen Diskurs aufbauende Institution Schule geht, der eine vi- suelle und zeitlich fragmentierte ästhetische Erfahrung gegenübergestellt wird, die den Schülern nahe zu stehen scheint. Das Vermittlungspotential von Film ist also keineswegs auf den Lehr- oder Unterrichtsfilm beschränkt, auf eine einfache Logik des Wissens und der Anschauung. Es zeigt sich vielmehr dort produktiv, wo das auf sprachliche Vermittlungslogik aufbauende kommunikative Handeln an seine Grenzen stößt und eine ästhetische Erfahrung des Anderen, des Fremden und Un- bekannten virulent wird.31 Den Film als Handlungsfeld zu denken, in dem sich unterschiedliche Stim- men, Diskurse und ästhetische Erfahrungen begegnen, skizziert die Basis für ein Konzept von ästhetischen Bildungsprozessen, in dem Selbst- und Weltentwürfe in Frage gestellt werden können und in dem darüber hinaus eine Begegnung mit dem Anderen möglich wird.32 Film wird damit zu einem besonderen Ort der Erfah- 29 Die Lebensgeschichte von Antoine Doinel wird über einen Zeitraum von 20 Jahren weiter er- zählt in: Antoine et Colette (1961/62), Geraubte Küsse (Baisers volés, 1968), Tisch und Bett (Domicile Conjugale, 1970), Liebe auf der Flucht (L‘Amour en Fuite, 1978/79). 30 Zur Mehrstimmigkeit vgl. Pauleit: Der Kinematograph, 2007. 31 Insofern liegt es nahe, dass sich der Film immer wieder dem Thema der «Passage» als Thema wid- met, sei in der klassischen coming of age story, der midlifecrisis oder der Darstellung des Todes. 32 Bildungsprozesse werden hier in Anlehnung an Rainer Kokemohr gedacht. Im Unterschied zu Lernprozessen zielen Bildungsprozesse darauf, Selbst- und Weltentwürfe zu reflektieren und zu modifizieren, um dadurch eine Begegnung mit dem Fremden zu ermöglichen: «In der 128 pauleit_korrektur4.indd 128 06.11.2008 13:20:12 Film als Handlungsfeld rung kultureller Differenz. Ähnlich formuliert auch Bergala seine Idee von Kino als Kunst als eine Begegnung mit dem Anderen, mit Alterität. Allerdings besteht m.E. die spezifische Vermittlungslogik des Films gerade nicht darin, als Kunstwerk den Schülern gegenüberzutreten und in seiner spezifischen Widerständigkeit und Fremdheitserfahrung als Werk nachhaltig Bildungsprozesse zu initiieren (wie es bei Bergala formuliert ist), sondern darin, ein Handlungsfeld zu etablieren, in dem die Erfahrung des Anderen bearbeitbar wird – und zwar nicht im kognitiven Sinne des kommunikativen Handelns, sondern im Sinne der Verbindung von ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Praxis. D.h. nicht der Film tritt als fremdes Objekt auf und dem Subjekt gegenüber, sondern Film bildet die Folie, die Bühne, die es dem Anderen erlaubt aufzutreten, (ebenso wie dem Selbst oder auch dem Anderen im Selbst). Dieses Auftreten von Eigenem und Anderem lässt sich in Truffauts Film in den ersten zwei Einstellungen nachvollziehen: Antoine Doinel wird vom Leh- rer zum Anderen gestempelt (und wir als Zuschauer mit ihm). Gleichzeitig wird der Lehrer, dadurch dass die Kamera dies aus der Perspektive der Schüler zeigt, ebenfalls zum Anderen erklärt. Dieser Dissens bleibt nicht auf einen schulischen Konflikt und auch nicht auf die fiktive Biografie Antoine Doinels beschränkt (also auf ein filmisches Werk). Er ist vielmehr emblematisch für einen gesellschaftlichen Konflikt zwischen den Generationen im Frankreich Ende der 1950er Jahre, aus dem heraus die Nouvelle Vague ein ästhetisch-diskursives Handlungsfeld etabliert. Gerade in diesem Sinne möchte ich Film als Handlungsfeld verstanden wissen, in dem Interaktionen, ästhetische Erfahrungen und Diskurse stattfinden können, die den Rahmen kommunikativen Handelns überschreiten und die dennoch gesell- schaftlich wirksam sind.33 Einsicht in das, was den möglichen Bildungsprozess blockiert, bewährt und spezifiziert sich jedoch, wenn ich recht sehe, die Auffassung, dass Bildung als Prozess der Be- und Verarbeitung widerständiger Erfahrungen möglich ist … Bildung wird dann als Prozess eines Handelns begreifbar, das auf ein Problem, verstanden als Anspruch eines original Unzugänglichen, mit dem Entwurf eines anderen Welt- und Selbstverhältnisses antwortet, eine Antwort, die das auslösende Problem im Referenzrahmen der verschiedenen Ordnungen durch eine andere Kon- und Refiguration zu lösen verspricht und sich im nie abgeschlossenen Bildungsprozess als ein Zugang, als, mit einem Begriff Ricœurs, als ‚Neuschreibung‘ (vgl. Ricœur 1986:235) zu bewähren hat, die das original Unzugängliche achtet.» Vgl. Rainer Kokemohr: «Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Anspruch des Fremden. Eine theoretisch-empirische Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie». In: Hans-Christoph Koller, Winfried Marotzki, Olaf Sanders (Hrsg.): Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatori- scher Bildungsprozesse. Bielefeld 2007, S. 13 – 68, hier: S. 25 u. 65. 33 Die Begegnung mit dem Fremden und Anderen ist hier explizit nicht nur im üblichen trans- kulturellen Sinne zu verstehen, sondern auch als Begegnung mit dem Fremden und Anderen im Selbst, worauf zahlreiche Filme verweisen auch Truffauts Film, dort wo Antoine Doinel vor einem Kino Ingmar Bergmans Monika begegnet. Vgl. hierzu meine Diskussion des Films in Winfried Pauleit: «Filmfotografie als falsche Spur. Das Kinematografische zwischen Fotografie und digitaler Videoüberwachung». In: Maske und Kothurn. Heft 53/2-3, 2007, (Falsche Fähr- ten in Film und Fernsehen), S. 243 – 254. 129 pauleit_korrektur4.indd 129 06.11.2008 13:20:12 Winfried Pauleit 5. DIE FALSCHSPIELERIN (THE LADY EVE, USA 1941) Jeder Film eröffnet ein Handlungsfeld zunächst in dem einfachen Sinn, dass er einen Raum erschließt, in dem Zeichen und Körper zueinander in Beziehung tre- ten.34 Im Falle von Die Falschspielerin sind es zunächst zwei Namen, die auf der Seite der Filmproduktion eine erste Handlung als Auswahl dieser Namen dar- stellen: Barbara Stanwyck und Henry Fonda. Diese Namen leiten unterstützt von der Vielstimmigkeit der Instrumente eines Orchesters (auf der akustischen Ebene) den Vorspann des Films ein und schneiden damit den filmischen Handlungsraum von Anfang an auf die Anordnung einer Paarbeziehung zu. Im weiteren Verlauf des Vorspanns tritt zunächst eine animierte (gezeichnete) Schlange mit Zylin- derhut auf, die an ihrem Schwanz einen klappernden Geldsack trägt und uns wie ein Zirkusdirektor das Spiel ankündigt und den Titel des Films präsentiert. Dann werden die weiteren Namen der Besetzung (Cast and Crew) des Films vorgestellt. Dieser Vorspann endet mit dem Namen des Regisseurs, Preston Sturges, wobei die Schlange den Buchstaben O dieses Namens wie einen Ring (Ehering) stolz über den Körper streift, bevor ihr ein Apfel mit dem Schriftzug «Eve» auf den Zylinder fällt. Mit diesem kleinen Unfall nimmt der Vorspann bereits den ersten Gag, das erste Zusammentreffen der beiden Schauspieler vorweg – aber auch das wechsel- weise Auftreten von Schriftzeichen und Körpern und deren wechselnde Lagebezie- hungen im Handlungsfeld Film. Das ist die Didaktik des Vorspanns,35 der uns das Handlungsfeld in allgemeiner und spezifischer Form als ein zukünftiges, vor uns liegendes Spiel mit seinen Grundregeln von Auswahl und Anordnung erläutert. Der Auftakt des eigentlichen Films – die erste Szene – ist gekennzeichnet vom hohen Pfeifen eines kleinen Bootes vor dem Ablegen. Von diesem akustischen Si- gnal des Aufbruchs ausgehend wird die Anordnung der Szene konturiert, die ihre Koordinaten als postkoloniale Mission der Schlangenforschung am Amazonas und als Szenario einer Erziehung deklariert. Die erste szenische Handlung fasst dies kon- kreter und allgemeiner zugleich: Einige Männer treten zusammen und gruppieren sich zum Arrangement von Lehrer und Schülern, bzw. von Professor und Mitar- beitern. Der Professor gibt einem seiner Mitarbeiter (Henry Fonda) Instruktionen für den Transport einer Schlange nach Nordamerika. Die Anweisung des Professors strukturiert die Anordnung dieser ersten Szene als Schulszenario und skizziert damit das Feld für die Rolle Henry Fondas als Charles Pike, einem ganz der Wissenschaft 34 Georg Seeßlen hat diesen Bild-Raum in einem «grammatischen Modell» gefasst, das einer ein- fachen Matrix entspricht. Bei ihm ist dieser Bildraum als Handlungsraum einerseits zwischen Angst und Lust (Horizontale) und andererseits zwischen Vergangenheit und Zukunft (Vertikale) angesiedelt, vgl. Georg Seeßlen: «Orbus Pictus oder warum Bilder kein Gegenüber mehr sind». In: Daniela Kloock (Hrsg.): Zukunft Kino. The End of the Reel World. Marburg 2008, S. 168 – 185. 35 Zum Vorspann vgl. Alexander Böhnke, Rembert Hüser, Georg Stanitzek (Hrsg.): Das Buch zum Vorspann. Berlin 2006. 130 pauleit_korrektur4.indd 130 06.11.2008 13:20:12 Film als Handlungsfeld verpflichteten Schüler und Millionärssohn. Das allgemeine dieser Anordnung ist: Der Schüler wird nun – wie zur Initiation – ohne den Lehrer in die Welt entlassen. In dieser ersten Szene kommen aller- dings drei unterschied- liche Stimmen zu Wort. Dem Professor steht der gelehrige Schüler Abb. 3: Die Falschspielerin (Preston Sturges) gegenüber, dessen Fa- milie das wissenschaftliche Unternehmen finanziert. Die dritte Stimme ist eigentlich ein Störfaktor. Sie agiert jenseits der verschworenen Gruppe männlicher Wissen- schaft. Es handelt sich um den Bodyguard und Diener von Charles Pike, Muggsy, der in Arbeitsteilung mit dem Professor für das leibliche Wohl und die körperliche Un- versehrtheit des Millionärssohns zuständig ist. Die Dialoge dieser Szene sind viel- schichtig und mehrdeutig angelegt. Bereits in die wissenschaftlichen Instruktionen mischen sich Untertöne und Subtexte. So ist z.B. die Anweisung des Professors, die Schlange auf der langen Reise gelegentlich aus ihrem Korb herauszunehmen, um mit ihr zu «spielen», einerseits emblematisch für den Film und andererseits sexuell konnotiert und anzüglich. Während der Dialogpart von Charles Pike den homo- erotischen Subtext einer «Gesellschaft von Männern» aufscheinen lässt, «die sich ganz der Wissenschaft verschrieben hat». Und schließlich der nichts sagende Satz von Muggsy, der (als einziger von einer Frau Abschied nehmend) formuliert: «So long Lulu, I’ll send you a postcard». Ein Versprechen, das am Amazonas (jenseits der Zivilisation) nicht einzuhalten ist. Gleichzeitig kündigt dieser Satz aber eine andere «Postkarte» an, die Muggsy tatsächlich später in Umlauf bringen wird, die sich an Charles Pike richtet und die auch einen homoerotischen Subtext enthält. Die zweite Szene beginnt ebenfalls mit einem akustischen Element. Diesmal ist zunächst der Bass eines Ozeandampfers zu hören, der ein Warn- oder Begrüßungs- signal aussendet. Im Folgenden werden nun die beiden Schiffspfeifen im Schuss- Gegenschussverfahren montiert. Es entsteht eine erste Kommunikation der Schiffs- pfeifen, die der Begegnung der zwei Hauptfiguren vorausgeht und diese als eine Begegnung von Ungleichen kennzeichnet. Das Hupen des Ozeandampfers repräsen- tiert gleichzeitig das touristische Vergnügen einer Kreuzfahrt. Es verweist zudem auf den kulturellen Kontext der Anbahnung von Bekanntschaften, die den Aufstieg in 131 pauleit_korrektur4.indd 131 06.11.2008 13:20:15 Winfried Pauleit höhere Gesellschafts- schichten versprechen – bzw. auf die betrü- gerischen Absichten, die mit solchen Ver- sprechen einherge- hen können, womit die Rolle von Barbara Stanwyck bereits an- gedeutet ist. Die An- ordnung der zweiten Szene ist gleichzeitig komplex und einfach: Abb. 4: Die Falschspielerin (Preston Sturges) Die kleine wissen- schaftliche Mission wird vom großen Ozeandampfer an Bord geholt. Die dramaturgische Strategie des Films besteht darin, daraus einen Konflikt und anschaulichen Stoff für den Film zu generieren. Der Schüler und Wissenschaftler – ein forschender Beobachter – wird in dieser Begegnung selbst zum Blickobjekt der touristischen Reisegesellschaft. Weil er Millionärssohn ist, wird er zur Attraktion und wie ein «Fang» an Bord geholt. Die Reisegesellschaft hat sich dazu an der Schiffsreling aufgestellt und kommentiert das Geschehen. Bereits in dieser Szene nimmt Barbara Stanwyck eine Sonderstellung ein. Schaut sie doch als einzige zusammen mit ihrem Vater und einem Komplizen vom Deck der ersten Klasse auf den ankommenden «Fang» herunter und wirft ihm zudem noch spottend einen Apfel auf den Kopf. Zur Begrüßung also eine Frucht vom Baum der Erkenntnis, die jenseits der Wissenschaftlichkeit die Betrugsabsich- ten der Protagonistin emblematisch herauskehrt. Damit wird die Rolle von Barbara Stanwyck als Jean Harrington charakterisiert, die als Spielkartenbetrügerin Jagd auf reiche Männer macht. Auch die zweite Hauptfigur wird im Kontext einer Dreier- gruppe vorgestellt. Jean Harrington steht ihr Vater als klassische Erziehungsperson zur Seite und ein Komplize, der die Rolle des Dieners übernommen hat. Damit ste- hen sich zwei Zöglinge gegenüber, deren weiteres Schicksal der Film verfolgen wird. Die dritte Szene zeigt einen gesellschaftlichen Abend an Bord des Ozeandamp- fers. Sie wird von einem Walzer begleitet. Wenn sich das durch den Vorspann und die ersten zwei Szenen eingeführte Paar bereits hier zum Tanz einfände, könnte der Film gleich zu Ende sein und in den Abspann übergehen. Aber zunächst tanzt nie- mand. Stattdessen sieht man, wie eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Frauen auftritt und versucht, mit dem Millionärssohn Kontakt aufzunehmen. Und man sieht, wie Jean Harrington dieses Geschehen durch einen Handspiegel beobach- tet. Dann hört man auch ihre boshaften Kommentare über die anderen Frauen. 132 pauleit_korrektur4.indd 132 06.11.2008 13:20:17 Film als Handlungsfeld Abb. 5–10 (v.l.n.r.): Die Falschspielerin (Preston Sturges) Der indirekte Blick von Harrington (sie schaut sich selbst über die Schulter) zu- sammen mit den Kommentaren transformiert die Szene in ein imaginäres Casting. Der Film reflektiert an dieser Stelle seine eigenen Bedingungen von Auswahl und Anordnung und seine Struktur als Handlungsfeld. Er spielt sozusagen sein eigenes Casting, indem er so tut, als suchte er noch das passende weibliche Pendant zur männlichen Hauptfigur. Von Barbara Stanwyck und ihrer Rolle – in diesem Film Jean Harrington/The Lady Eve – kann man lernen, wie man in betrügerischer Absicht von der Zuschauerin 133 pauleit_korrektur4.indd 133 06.11.2008 13:20:31 Winfried Pauleit zur Kommentatorin und von der Kommentatorin auf die Seite der Regie wechselt. Denn Harrington ist eine Falschspielerin und zwar nicht nur im motivischen Sinne des Spiels mit falschen Karten, das sie und ihr Vater professionell beherrschen – das wird erst später erzählt und gezeigt. Sie ist zu allererst eine Falschspielerin, weil sie als Zuschauerin eingreift und die Regie des Geschehens zu übernehmen versucht, um sich als die «falsche Herzdame» an die Seite der männlichen Hauptfigur zu stellen. Die erste Lektion des Films ist also die: Jeder Zuschauer und jede Zuschauerin kann ein falsches Spiel spielen – kann das, was er oder sie sieht, kommentieren – und damit in den Verlauf der Handlung eingreifen. Sicher, man kann an dieser Stel- le einwenden, als Zuschauer oder Zuschauerin kann man nicht wirklich handelnd im Film agieren. Allerdings genau das behauptet auch der Film: Die handelnde Einmischung bleibt ein Betrug, ein falsches Spiel. Wenn man wirklich eingreifen würde, um sich den Film als Zuschauer anzueignen, um sich selbst an die Stelle der Hauptfigur zu setzen, dann entsteht ein ganz anderer Film. Man wäre selbst der Regisseur eines neuen Films.36 Und in genau dieser Richtung nimmt der Film seinen Lauf. Er zeigt, wie das falsche Spiel zu einem echten wird, wie der Film – von un- terschiedlichen Regiepositionen angetrieben – seine Richtung wechselt und wie die Falschspielerin schließlich doch die Hauptrolle bekommt. Dies geschieht zunächst durch Betrug – aber durch einen Betrug, wie ihn Thomas Mann in seinem Felix Krull skizziert hat.37 Der Film zeigt, dass der anfängliche Betrug an einer bestimm- ten Stelle umschlägt in Authentizität oder Wirklichkeit. Und gerade in diesem Sin- ne zeigt sich der Film als Spiel. Denn Jean Harrington schlüpft in weitere Rollen, sodass man irgendwann nicht mehr weiß, ob es sich um Betrug handelt oder nicht, bzw. auf welcher Ebene der Film seine (fiktive) Wirklichkeit konstituiert, die durch ein falsches Spiel betrogen wird. Nicht wirklich, aber imaginär kann man von die- sem Film als Zuschauer lernen, die Regie zu übernehmen – um dann festzustellen, wie die Kraft der Imagination sich tatsächlich in der Realität niederschlägt. Weil die Position der Regie umkämpft ist, kann sie auch von anderen bean- sprucht werden. Auch davon erzählt der Film in seinem weiteren Verlauf. Der Bo- dyguard und Diener Muggsy mischt sich ein, um seine Position an der Seite von Charles Pike zu verteidigen, die er durch das Spiel von Harrington bedroht sieht. Er übernimmt nun seinerseits die Regie, indem er die Rolle von Harrington als falsches Spiel diskreditiert. Dazu bringt er eine Fotografie von den Harringtons in Um- 36 Was hier gezeigt wird, ist eine zweistufige Emanzipation, die später die Regisseure der Nouvel- le vague durchlaufen, Zunächst sind diese selbst Zuschauer, dann wechseln sie auf die Seite der Kritiker und schließlich auf die der Regie. 37 «Nur der Betrug hat Aussicht auf Erfolg und lebensvolle Wirkung unter den Menschen, der den Namen des Betrugs nicht durchaus verdient, sondern nichts ist als die Ausstattung einer lebendigen, aber nicht völlig ins Reich des Wirklichen eingetretenen Wahrheit mit denjenigen materiellen Merkmalen, derer sie bedarf, um von der Welt erkannt und gewürdigt zu werden», Thomas Mann, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Frankfurt am Main 1999, S. 39. 134 pauleit_korrektur4.indd 134 06.11.2008 13:20:31 Film als Handlungsfeld lauf (seine «Postkarte» an Charles Pike), die auf der Rückseite mit einem polizeilichen Steckbrief beschrif- tet ist. Die Fotografie im Film ist aber nicht nur polizeiliches Fahn- dungsfoto, sondern auch ein Filmstand- bild von Barbara Stan- wyck. Und das zentrale Merkmal eines Film- standbildes ist gerade nicht der Beweis, son- dern die Fälschung.38 Denn beweisen kann eine solche Fotografie – wie jedes Filmstand- bild – nur die Existenz der Schauspielerin Barbara Stanwyck. Ein Filmstandbild ist eine Fälschung deshalb, weil es den Film fälsch- lich mit dem Glauben an die Fotografie und damit an die Existenz Abb. 11 & 12: Die Falschspielerin (Preston Sturges) von Filmfiguren wie Jean Harrington aus- stattet, die ein fiktiver und im doppelten Sinne betrügerischer Charakter ist. Das ist die zweite Lektion des Films. Die dritte Lektion des Films besteht darin, Film als kulturelle Praxis des Kar- tenspiels zu imaginieren. Der zentrale Gedanke dabei ist, den Film nicht als abge- schlossenes Werk zu begreifen, sondern als einen Prozess von Entscheidungen, als ein spielerisches Handlungsfeld. Betrachtet man Film von der Produktionsseite her, so leuchtet dies ein. Die Produktionsseite des Films ist von vielen Unwägbarkeiten bestimmt, sodass das Filmemachen nur allzu leicht zu einem Gamble werden kann, 38 Vgl. Pauleit 2004. 135 pauleit_korrektur4.indd 135 06.11.2008 13:20:36 Winfried Pauleit welches zu Geld und Ruhm oder in den Ruin führt. Die Falschspielerin erwei- tert diese Perspektive für die Rezeptionsseite. Der Film zeigt, dass man auch als Zuschauer und Zuschauerin etwas riskieren muss, sich gegebenenfalls verdoppeln muss, dass man selbst (als Zuschauer) einen Januskopf besitzt, so wie Spielkar- ten im Grunde auch janusköpfig sind, zwei Gesichter haben – und dass man seine Trümpfe zu gegebener Zeit ins Spiel bringen muss. Die Falschspielerin ist also ein Film der Lektionen erteilt. Allerdings nicht im Sinne eines Lehrfilms. Er ist vielmehr ein typisches Beispiel für Film als Massenkul- tur, der ausdrücklich keinen Bildungsauftrag hat und in erster Linie auf Vergnügen ausgerichtet ist, selbst wenn er ein Schüler-Lehrer-Verhältnis zum Ausgangspunkt nimmt. Dennoch kann man von Lektionen sprechen, da man vom Film (als Film) etwas über Film lernt, etwas über den Zusammenhang seiner Elemente: Auswahl und Anordnung, Imagination und Wirklichkeit, Spiel und Authentizität usw. Ge- rade darin zeigt sich das persönlichkeitsbildende Moment von Film jenseits zu ver- mittelnder Themen, bzw. jenseits von Inhalten, die für Bildungszwecke «aufberei- tet» werden müssen. Die Falschspielerin ist gleichwohl ein besonderes Beispiel, weil dieses persönlichkeitsbildende Moment des Films anschaulich vorführt bzw. selbstreflexiv ausstellt. 136 pauleit_korrektur4.indd 136 06.11.2008 13:20:36 Jan Sahli Klingende Bilder, gemalte Töne Mediale Schnittstellen in der Film- und Kunstvermittlung Wie nahe Bilder und Töne zueinander in Beziehung treten können, wie sie in pulsierendem Rhythmus zu verschmelzen scheinen, lässt sich am besten mit ei- nem sinnlichen Erlebnis vermitteln. Eine audiovisuelle Zugfahrt des Musikvideo- Künstlers Michel Gondry führt mit beeindruckender Rasanz mitten ins Thema der medialen Schnittstellen von Film, Bildender Kunst und Musik hinein: Zu den Klängen des Stücks Star Guitar der Gruppe The Chemical Brothers (2001) platziert uns der Regisseur als imaginäre Reisende in einem Zugabteil und lässt den (Kamera-)Blick zunächst ganz unspektakulär nach Draußen schweifen.1 Wir bemer- ken erst nach einer gewissen Zeit, dass wir, aus dem Zugfenster blickend, eine visuelle Struktur der gehörten Musik vorbeiziehen sehen. Je länger die Zugfahrt dauert, desto mehr begreift man, dass die optischen Elemente der Landschaft den überwiegend elek- tronisch erzeugten und bearbeiteten musikalischen Elementen des dynamischen Mu- sikstückes entsprechen und, gemäss ihrer Dauer und Abfolge, in loops Auftauchen und wieder Verschwinden. Zugleitungs- und Elektromasten, Wassertürme, Brücken und Industriegebäude entsprechen bestimmten Tonfolgen und musikalischen Motiven. So werden etwa satte Beats in der schnellen Abfolge der markanten Leitungs- masten visualisiert, die als vertikale Striche von rechts nach links über die Bildfläche wischen. Oder die unvermittelt kreuzenden Züge fallen jeweils durch ein helles und schnelles Erklingen eines Akkordes auf einer Elektrogitarre auf. Was man zunächst als filmische Wiedergabe einer tatsächlichen Landschaft identifiziert, entpuppt sich zusehends als visuelle Manipulation der Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die zunehmend abstrakt wahrgenommen wird. Denn als fast 1 Star Guitar ist – zusammen mit ebenso gelungenen Beispielen für die Visualisierung von Musik in Videoclips – greifbar auf der 2003 erschienenen DVD The Work of Director Michel Gondry: A Collection of Music Videos, Short Films, Documentaries and Stories, in der von Chris Cunningham, Spike Jonze und Gondry etablierten Musikvideo-Serie Directors Label. 137 pauleit_korrektur4.indd 137 06.11.2008 13:20:36 Jan Sahli genauso synthetisch wie die Erzeugung und Bearbeitung der elektronischen Töne durch die Chemical Brothers, erweisen sich hier die Möglichkeiten der Bearbeitung der digitalen Bildinformationen, die gleichsam zu einer Notenschrift werden. Aber eben nur fast, denn es ist festzuhalten, dass hier gerade deshalb die inter- mediale Wechselwirkung zwischen Bildern und Tönen, zwischen Musik und Film, so spannungsvoll wird, weil mit der ansonsten für das Medium Film so charakte- ristischen Abbildungsfunktion gespielt wird: Der Regisseur war sichtlich darauf be- dacht, zuweilen die Spiegelung des Interieurs im Zugfenster zuzulassen. Es war ihm offensichtlich wichtig, den Eindruck eines bestimmten menschlichen Blicks und da- mit die wohlbekannten visuellen Eindrücke einer Zugfahrt zu wahren und nicht das Ganze in die vollständige Abstraktion grafischer Zeichen abgleiten zu lassen. Dies lässt sich neben vielen anderen zeitgenössischen Videoclips zu elektronischer Musik auch in den frühen Experimenten des sogenannten «Absoluten Films» in den 1920er Jahren des letzten Jahrhunderts beobachten. Um das Musikvideo als heute evidente mediale Schnittstelle von Musik und Film nicht als singuläres Phänomen darzustel- len, sondern auch eine historische Perspektive auf intermediale Wechselwirkungen zu eröffnen, soll hier später auf die absoluten Filmwerke eingegangen werden. Mit Gondrys Musikvideo lässt sich zunächst einmal zeigen, wie eine Art Zwi- schenbereich zwischen Seh- und Hörerlebnis gestalterisch so dargestellt werden kann, dass die Medien Film und Musik scheinbar ineinanderfließen. Für die Film- bildung auf allen Aus- und Weiterbildungsstufen (Schüler/innen, Studierende, Lehrpersonen) ist es ein idealer sinnlicher Ausgangspunkt im Prozess des Kennen- lernens von Film und Musik: Denn es verweist darauf, dass eine Filmgattung wie das Musikvideo geradezu danach verlangt, unter intermedialen Gesichtspunkten betrachtet zu werden. Und es regt sogleich dazu an, weiter über medienspezifische Fragestellungen nachzudenken: Mit welchen visuellen Mitteln wird Musik sichtbar gemacht? Dies ist bei Musikvideos die vordringlichste Frage, weil hier im Gegensatz zu anderen Filmgattungen der explizite Auftrag lautet, Filme für Musik zu machen und nicht Musik für Filme. Damit geht man im Unterricht einmal ganz bewusst nicht von der klassischen Vorstellung der funktionalen Filmmusik als unterstüt- zendes Gestaltungsmittel aus, sondern konzentriert die Aufmerksamkeit auf das ästhetische Zusammenwirken beider Medien und schärft damit die Wahrnehmung für ihre spezifischen Beiträge zur Gesamtwirkung des Werks. Die ästhetische Verbindung von filmischen Bildern mit Musik macht die Film- gattung Musikvideo aus. Nicht immer treten aber dabei, das wissen alle aus eigener Fernseh- und Videocliperfahrung, die Strukturen von auditiver und visueller Ebe- ne in ein derart enges Wirkungsverhältnis. In den meisten Musikvideos haben die Bilder einen illustrativen Charakter: Es wird die Performance der Interpreten ge- zeigt; es werden mit Bezug auf den Liedtext narrative Elemente in die Performance eingefügt, oder es wird mit den Bildfolgen sogar eine durchgehende Filmhandlung 138 pauleit_korrektur4.indd 138 06.11.2008 13:20:37 Klingende Bilder, gemalte Töne Abb. 1a–b: Star Guitar (Michel Gondry) mit passender Story erzählt. Es gilt also, wenn man sich weitergehend mit Musikvi- deos beschäftigen will, nicht nur die Wechselwirkungen von Bild und Musik zu be- achten, sondern auch diejenigen von Liedtext und filmischer Umsetzung – wobei man schon bei der nächsten intermedialen Bezugnahme angelangt wäre... Was sich bei Musikvideos, wie gesagt, geradezu aufdrängt, ist bei der Begeg- nung mit anderen filmischen Erzeugnissen nicht auf den ersten Blick ersichtlich und deshalb in der Filmvermittlung einiges erklärungsbedürftiger: Es gilt nämlich zu erklären, dass nicht nur Musikvideos, sondern alle Arten von Film nicht für sich alleine bestehen, sondern sich in einem reichen und komplexen Kontext vieler Medien befinden und dadurch stets auf andere Medien bezogen sind. Genauso wie auch Bildende Kunst oder Musik keine singulären Phänomene darstel- len, sondern in ihren Entwicklungsgeschichten immer wieder stark von ästhetischen Wechselwirkungen mit anderen Künsten, wie etwa dem Film, geprägt wurden. Warum sollen solche medialen Schnittstellen in der Filmvermittlung überhaupt nützlich sein und angesprochen werden? Zum Einen kann damit ein direkter Bezug zu den traditionellen Schul- und Stu- dienfächern wie Literatur, Musik und Kunst geschaffen und das schon vorhandende Wissen in diesen Bereichen genutzt und bereichert werden. Film mit im Bildungs- bereich etablierteren Künsten in Berührung zu bringen ist hier keinesfalls als Legiti- mierungsstrategie für die in den Augen vieler Pädagogen immer noch minderwertige Kunstform Film beabsichtigt. Auch soll es nicht die Bestrebungen unterlaufen, Film- bildung wie die Medienbildung überhaupt endlich als eigenständigen schulischen Bereich zu entwickeln. Pädagogisch gewinnbringend und zeitgemäss ist es aber si- cherlich nicht nur für die Filmbildung, sondern auch für die anderen Fächer, über die mitunter künstlichen Fachgrenzen hinaus zu blicken und einmal von den me- dialen Schnittstellen auszugehen. Wie sich in der Lehrpraxis auf verschiedenen Aus- bildungsstufen schon gezeigt hat, ist eine solche Zugangsweise für Studierende sowie Schülerinnen und Schüler ohnehin selbstverständlicher als für viele Dozierende: 139 pauleit_korrektur4.indd 139 06.11.2008 13:20:37 Jan Sahli Gerade in den Medienbiografien jüngerer Generationen ist, wohl nicht zuletzt durch die Nutzung des Internets und multimedialer Kommunikationsmittel wie dem Han- dy, die Auffassung separierter (Mono-)Medien schon länger in Auflösung begriffen. Zum Zweiten lassen sich über die Analyse der Gemeinsamkeiten und Differen- zen mit anderen Medien die spezifischen Merkmale des Films – und nebenbei auch der anderen Künste – sehr einleuchtend aufzeigen. Das bedeutet für den Unterricht, dass sich der Film nicht mehr nur als massenmedialer Zusatz und Unterhaltungs- mittel – etwa beim beliebten Thema «Literaturverfilmungen» – in den Fächerka- non einfügt. Sondern dass gerade die Vermittlung der Schnittstellen Möglichkeiten bietet, Film in seiner Eigenständigkeit als Kunstform sichtbar und verständlich zu machen. Ich werde darauf weiter unten nochmals zurückkommen. Im Folgenden soll mit der knappen Darstellung der Intermedialität zunächst ein theoretischer Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit medialen Schnittstel- len vorgeschlagen werden. Dabei handelt es sich bei der Theorie der Intermedialität eher um Hintergrundwissen für Dozierende und Lehrpersonen und weniger um konkreten Unterrichtsstoff. Hingegen sollen die thematisch möglichst weit gestreu- ten Filmbeispiele durchaus konkrete Anregungen für die Behandlung im Unterricht bieten und letztlich zur Sensibilisierung für intermediale Phänomene beitragen. Zum Schluss dieses Aufsatzes geht es, wie gesagt, darum, das eingangs ange- schnittene Thema der Visualisierung von Musik nochmals aufzugreifen und mit dem Absoluten Film ein besonders geeignetes historisches Beispiel für die Schnitt- stellen von Film, Musik und Malerei vertiefend zu behandeln. 1. Intermedialität als Ansatz der Filmvermittlung? Unter Intermedialität werden, um dies gleich vorauszuschicken, zuweilen verschie- dene Dinge verstanden: Zum einen wird damit eine neuere medienwissenschaftliche Forschungsrichtung bezeichnet, die die Beziehungen zwischen Medien reflektiert. Zum anderen werden mit dem Begriff auch die Prozesse und Wechselwirkungen, die sich zwischen Medien ergeben, benannt. Es wird also von der Intermedialität als Theorie und von intermedialen Bezugnahmen gesprochen. Auf der Basis von Jens Schröters Begriffsdiskussion könnte man den Kernpunkt der Intermedialität für die Filmvermittlung folgendermaßen formulieren:2 2 Vgl. Jens Schröter: Intermedialität: Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftli- chen Begriffs, In: Montage a/v, 7/2 1998. S. 129–154. Auf diesem grundlegenden Aufsatz basieren die folgenden Darstellungen und Überlegungen zur Intermedialität. Ein wichtiger Hintergrund bilden auch die Publikationen von Jürgen E. Müller: Intermedialität: Formen moderner kulturel- ler Kommunikation. Münster 1996; Ders.: Intermedialität und Medienwissenschaft: Thesen zum State of the Art. In: Montage a/v, 3/2 1994. S. 119–138. Sehr empfehlenswert als Einführung in das Thema ist auch das Kapitel zu Intermedialität und Intertextualität in: Nils Borstnar / Eckhard Pabst / Hans Jürgen Wulff: Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft. Konstanz 2002, S. 74–83. 140 pauleit_korrektur4.indd 140 06.11.2008 13:20:37 Klingende Bilder, gemalte Töne Die Intermedialität fordert dazu auf, den Film nicht als Einzelphänomen zu betrachten, sondern ihn innerhalb medialer Konfigurationen, also in Bezug auf andere Medien, zu denken. Gerade audiovisuelle Produkte wie Musikvideos oder auch viele digitalisierte Medientexte haben uns in den vergangenen Jahren mit Erzeugnissen konfrontiert, die sich längst von den althergebrachten medialen und gattungspezifischen Ein- grenzungen gelöst haben und in neuen intermedialen Dispositiven zu situieren sind. Diese Prozesse sind nicht zuletzt ein Grund dafür, dass der Begriff der Inter- medialität in den medientheoretischen Diskussionen in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts auftaucht und seither zunehmend wichtiger wird. Trotz der häufigen aktuellen Verwendung des Begriffs im groben Einverständ- nis, dass Medien stets auf andere Medien bezogen sind, muss deutlich gesagt werden, dass keine einheitliche Theorie der «Intermedialität» auszumachen ist. Entsprechend ihrer noch jungen Geschichte, aber auch entsprechend ihrer Kom- plexität ist die Theorie der Intermedialität als Baustelle zu bezeichnen. Als Baustelle auf der einige Fundamente für Theoriegebäude vorhanden sind. Eine kohärente und etwa für pädagogische Zusammenhänge anwendungsbereite Theorie der In- termedialität kann hier also nicht vorgestellt werden. Nach Jürgen E. Müller geht es in der Praxis einer intermedial orientierten For- schung vor allem darum, anhand von konkreten Beispielen und deskriptiven Re- konstruktionen Aufschlüsse über die Art und Qualität intermedialer Prozesse zu gewinnen. Was die Geschichte des Films anbelangt, ist der Blick von vielen For- scherinnen und Forschern nach rückwärts gerichtet. Das heißt, es geht in vielen intermedialen Studien darum, den Film im Kontext der klassischen audiovisuellen Medien der Moderne, Radio und Fernsehen, zu untersuchen. Oder es geht noch häufiger um die Wechselwirkungen des Films mit den traditionellen Künsten wie Theater, Malerei, Architektur, Literatur, Musik und nicht zu vergessen auch der Fo- tografie als mediale Voraussetzung des Dispositivs Film. Hauptsächlich aus diesen Forschungsfeldern lassen sich daher ergiebige pädagogische Ansatzpunkte für die Filmvermittlung in Schule und Studium gewinnen. Als allseits vertrautes Beispiel intermedialer Bezugnahmen soll hier nicht von ungefähr die schon vieldiskutierte Literaturverfilmung herausgegriffen werden. Man denkt dabei sofort an Werke der Weltliteratur, die kunstvoll ins Medium Film trans- formiert wurden: Tod in Venedig (Luchino Visconti, I 1970), Das Parfüm – Die Geschichte eines Mörders (Tom Tykwer, D/F/Spanien 2006), Sinn und Sinn- lichkeit (Sense and Sensibility, Ang Lee, GB/USA 1995). Um die ganze Bandbrei- te der Intermedialität bewusst zu machen, müssen aber auch Produktionen genannt werden wie The Shining (Stanley Kubrick, GB 1980, nach Stephen King), Harry Potter und der Gefangene von Askaban (Harry Potter and the Prisoner of Azkaban, Alfonso Cuarón, USA 2004) oder Winnetou und sein Freund Old Fire- 141 pauleit_korrektur4.indd 141 06.11.2008 13:20:37 Jan Sahli hand (Alfred Vohrer, BRD/Jugoslawien 1966). Denn egal auf welchem Niveau von Literatur oder Film man sich befindet, es handelt sich auch bei den letztgenannten Filmwerken um Verfilmungen von Literatur. Es sind alles Adaptionen bei denen es in der Analyse der intermedialen Bezugnahme zu berücksichtigen gilt, dass zwischen dem Prä- und Folgetext, zwischen literarischem Werk und Spielfilm, ein Wechsel des Mediums stattfindet und der literarische Text mit den spezifischen Mitteln des Film umgesetzt wird. Es können sich bei solchen Studien verschiedene Modi der Umsetzungen zei- gen, die Borstnar, Pabst und Wulff folgendermaßen zusammengefasst haben: Illustrierte Version der Vorlage: Der Film versucht, möglichst dicht an der literarischen Vorlage zu bleiben, indem er Bilder und Kernaus- sagen nachbildet. - den für zentrale Aussagen übernommen, oberflächentextuell können deutliche Abweichungen realisiert sein. Elemente und Strukturen übernommen werden und auch neue hinzu- gefügt sind.»3 Ein bekanntes Beispiel für eine eher illustrative Umsetzung ist die Verfilmung des autobiografischen Romans Out of Africa der dänischen Autorin Karen Blixen. Es ist auch ein Beispiel dafür, dass ein Film weit populärer als seine literarische Vorlage werden kann und damit dem Absatz des Buches einen späteren Schub verleiht: So findet Karen Blixens Out of Africa durch die Verfilmung von Sidney Pollack (Jen- seits von Afrika, USA 1985) nachweislich ca. 100.000 Leserinnen und Leser mehr – so viel zu den ökonomischen Wechselwirkungen zwischen den Künsten. «I had a farm in Africa.» mit diesen Worten lässt Blixen ihr Buch beginnen. Der Film dagegen zeigt in der ersten Einstellungen traumartige Bilder von retrospekti- ven Lebenseindrücken, die offensichtlich von der Hauptfigur des Films kommen- tiert werden. Nachdem wir sie zunächst im Bett liegend als Träumende identifiziert haben, sehen wir in den nächsten Aufnahmen, dass sie auch die Schreibende, die Schriftstellerin Karen Blixen, selbst ist, die ihre Geschichte niederschreibt. Und sie schreibt, was sie uns gleichzeitig als Erzählstimme sagt: «I had a farm in Africa». Mit diesen Worten wechselt die Perspektive des Films: Wie um die medialen Un- terschiede von literarischem und filmischem Erzählen zu demonstrieren, entfernt sich die Kamera an dieser Stelle von der Schriftstellerin in der Schreibkammer und eröffnet uns einen Blick zum Fenster hinaus. Ein Blick, der zum Rückblick wird 3 Nils Borstnar / Eckhard Pabst / Hans Jürgen Wulff: Einführung in die Film- und Fernsehwis- senschaft. Konstanz 2002, S. 78. 142 pauleit_korrektur4.indd 142 06.11.2008 13:20:38 Klingende Bilder, gemalte Töne und das Publikum erst jetzt in die eigentliche Filmerzählung eintauchen lässt: Wir begegnen der Protagonistin abermals, jetzt aber als junge Dame inmitten einer no- blen Jagdgesellschaft in der verschneiten dänischen Landschaft. Für einen Moment wird uns durch das Fenster bewusst gemacht, dass wir ab jetzt gleichsam die Geschichte sehen und hören: Sie wird uns nicht mehr nur durch Wort-Sprache als einziges Mittel der literarischen Erzählung vermittelt, sondern von der Kamera als zentraler Instanz erzählt, wir sollen uns auf die audiovisuellen Mittel des Films einlassen. Wenn man so will, kann dieses kleine Beispiel als Aufforderung verstanden und auch weiterverwendet werden, bei der Analyse von Literaturverfilmungen die spe- zifischen medialen Bedingungen der Umsetzung in Bilder und Töne zu berück- sichtigen. Denn bei einer Adaption von Literatur entsteht in jedem Fall eine neue mediale Form der Erzählung. Die Überwindung der im Literaturunterricht oftmals nur inhaltsbezogenen Analysen kann daher nicht zuletzt auf Basis eines Bewusstsein für die Intermedia- lität stattfinden: So beinhaltet nach Jürgen E. Müller die Produktion von Spielfil- men seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts grundsätzlich einen medialen Transformationsprozess: Den Transformationsprozess vom Text des Szenarios in filmische Bilder und Einstellungen.4 Die Tatsache, dass wie die Literatur viele andere Medien von Anfang an ihre Spuren im Medium Film hinterlassen haben und dieser seinerseits viele andere Medien ebenso lange schon beeinflusst hat, ist nicht nur beeindruckend. Sie zeigt vor allem auch, dass die Entwicklung des Films als intermediale Konstitution auf- gefasst werden muss und nicht ohne intermediale Bezugnahmen beschrieben wer- den kann. Mit den Worten von Jürgen E. Müller: «Die Geschichte der modernen Medien ist keine Geschichte isolierter, einzelner Medien und medialer Monaden; die Entwicklung von Foto- grafie, Phonograf und Film ist untrennbar miteinander verbunden – und dies gilt ebenfalls für deren Verhältnis zu den alten Schrift- und Druckmedien, sowie zur Malerei und zum Theater.»5 Zu den «Allianzen» des Films mit Literatur, Theater, Malerei, Fotografie und Musik schreibt Müller weiter: «Seine mediale Gestalt hat sich in beständigem Wechselspiel zwischen und mit diesen anderen Medien entwickelt.»6 4 Vgl. Jürgen Müller: Intermedialität: Formen moderner kultureller Kommunikation. Münster 1996, S. 52–53. 5 Müller 1996, S. 38. 6 Müller 1996, S. 52. 143 pauleit_korrektur4.indd 143 06.11.2008 13:20:38 Jan Sahli Die Frage, die sich nun angesichts dieser regen intermedialen Wechselwirkungen stellt ist: Lassen sich gewisse Typen oder Ansätze von Intermedialität unterscheiden? Auch hier muss konstatiert werden, dass keine einheitliche Auffassung von dem was die Intermedialität als unterschiedliche Kategorien bezeichnet und untersucht, auszumachen ist: Während die einen beispielsweise nur die Fusion mehrerer Me- dien zu einem neuen Medium – ein «Intermedium» – als intermedialen Prozess bezeichnen, verstehen andere in komparativen Studien auch strukturelle Formho- mologien zwischen verschiedenen Kunstformen als Intermedialität. Hier soll kurz die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Typen von Intermedi- alität von Jens Schröter in seinem schon erwähnten Aufsatz vorgestellt und auch probeweise als Raster für die Ausbreitung von weiteren Beispielen intermedialer Wechselwirkungen benutzt werden. Weil es sich um ein Modell handelt in dem gerade die Klassifizierungen nicht immer einfach und trennscharf vorgenommen werden können, scheint mir die Diskussion der Zugehörigkeit der verschiedenen Typen nur auf höheren Ausbildungsstufen sinnvoll, wo man zugleich das Raster thematisieren und hinterfragen kann. Ansonsten vermögen die Überlegungen Schröters vor allem das Bewusstsein der Dozierenden für mögliche theoretische Ausdifferenzierungen der Intermedialität zu schärfen. In seinem Aufsatz unterscheidet Schröter vier Typen von Intermedialität: «Syn- thetische Intermedialität», «Formale oder Trans-mediale Intermedialität», «Trans- formationale Intermedialität» und «Ontologische Intermedialität». Der erste Typus der Synthetischen Intermedialität ist für die Filmvermittlung als eher marginal zu bezeichnen. Mit synthetischer Intermedialität bezeichnet Schrö- ter Modelle von Intermedialität, bei der es um die Fusion mehrerer Medien zu einem neuen Medium geht, einem eigentlichen Intermedium, das mehr wäre als die Summe seiner Teile. Was den Filmbereich anbelangt, wäre beispielsweise die Fluxus-Bewegung der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts zu nennen, deren Künstler versuchten mit intermedialen Ereignissen, sogenannten Kunst-Happe- nings, neue Inhalte zu erreichen. Bei diesen Happenings kam es zum Einsatz aller möglichen Medien: Musik, Skulptur, Malerei, Fernsehen, Telefon und auch Film mit dem erklärten Ziel die Grenzen zwischen den einzelnen Medien aufzuheben. Bekannte Fluxus-Künstler, die mit Film gearbeitet haben sind: Nam June Paik, Yoko Ono, George Maciunas, Paul Sharits oder John Cale. Auch im heutigen Kunstbetrieb sind Installationen mit Film, Musik und an- deren Medien etwa in den Werken von Pipilotti Rist und Christoph Schlingensief sehr häufig anzutreffen. Beim Typus der Formalen oder Trans-medialen Intermedialität geht es vornehmlich um vergleichende Betrachtungen von übergreifenden formalen Strukturen und 144 pauleit_korrektur4.indd 144 06.11.2008 13:20:38 Klingende Bilder, gemalte Töne Abb. 2a–b: Menschen am Sonntag (Robert Siodmak u.a.) Verfahren in verschiedenen Medien. Dabei wird in filmwissenschaftlichen Studien davon ausgegangen, dass im Medium Film Strukturen, Konzepte und Prinzipien anderer Medien ästhetisch realisiert sein können: «Auf diese Weise können forma- le, strukturelle Homologien zwischen Artefakten verschiedener medialer Proveni- enz [...] analysiert werden.»7 In einem breiteren film- und kunstgeschichtlichen Kontext betrachtet, sind solche faszinierenden trans-medialen Prozesse von besonderer Bedeutung, wenn man sich etwa mit der historischen Avantgarde zu Beginn des Zwanzigsten Jahr- hunderts beschäftigt: Kunstbewegungen wie der Konstruktivismus, Dadaismus, Surrealismus, Expressionismus oder die Neue Sachlichkeit verbreiten sich über angestammte Grenzen mehrerer Kunstformen hinweg und lassen gleiche ästheti- sche Strukturen, sozusagen transformiert durch die ontologischen Differenzen, in einem neuen medialen Kontext erscheinen. Trotz ihrer ursprünglichen medialen Fixierung auf einen einzigen momentanen Zeit- und Raumausschnitt in Fotografi- en oder Gemälden kommen so etwa Bildgestaltungen der Neuen Sachlichkeit, mit ihren neuen ästhetischen Konzeptionen, in der Konstruktion der zeitlichen und räumlichen Ausdehnung des Films deutlich zum Vorschein. So zeigt sich etwa die Bildsprache eines Films wie Menschen am Sonntag8 von 1929, der zu den Filmwerken der Neuen Sachlichkeit gezählt wird, stark von den neusachlichen Konzeptionen in Fotografie und Malerei geprägt. Den sachlich reportierenden Gestus des Films betonen die pseudo-dokumen- tarische Herangehensweise mit vornehmlich an Originalschauplätzen agierenden Laienschauspielerinnen und -schauspielern, wie auch die unspektakuläre Hand- lung an einem arbeitsfreien Sonntag. Anders als die rhythmisch durchgestalteten 7 Schröter, S. 140. 8 Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Billy Wilder, Fred Zinnemann, Edgar G. Ulmer und den Brüdern Robert und Curt Siodmak. 145 pauleit_korrektur4.indd 145 06.11.2008 13:20:39 Jan Sahli Großstadtsymphonien wie Berlin. Die Sinfo- nie der Grossstadt (Walter Ruttmann, DE 1927), die von einem konstruktiv ist isch- modernistischen Blick geprägt sind, beobach- tet in Menschen am Sonntag die Kamera von Eugen Schüfftan unaufgeregt aber prä- zise das sonntägliche Leben der Menschen Abb. 3: Die Nibelungen (Fritz Lang) in der Großstadt. Mit viel Sinn für sprechen- de Details – für die Materialität und Textur der Dinge genauso wie die unverstellten Ansichten der menschlichen Antlitze und Figuren – unterstützt die Kamera die spielerische Inszenierung sowie die scheinbare Zufälligkeit der Dramaturgie. Man kann somit sagen, dass es gerade die Eigenschaften der neusachlichen Fotografie sind, die sich auch auf das Filmschaffen ausbreiten und das visuelle Konzept dieses Films wesentlich prägen. Bei der transformationalen Intermedialität besteht die Bezugnahme, nach Schröter, darin, dass ein Medium ein anderes repräsentiert. Das klingt zunächst einfacher und weniger problematisch als es ist: Es fragt sich nämlich, ob schon von Interme- dialität gesprochen werden kann, wenn beispielsweise ein Gemälde in einem Spiel- film vorkommt. Denn: «Ein Gemälde in einem Film oder ein Gebäude auf einem Foto sind kein Gemälde oder Gebäude mehr, sondern integraler Teil des sie reprä- sentierenden Mediums – sie werden repräsentiert wie andere Objekte auch.»9 Schröters Ausführungen stark abkürzend muss hier konstatiert werden, dass die bloße filmische Repräsentation eines Gemäldes noch keinen intermedialen Prozess darstellt, sondern nur eine einfache Gegenstandsreferenz. Entscheidend ist für die Intermedialität und für eine interessante intermedia- le Untersuchung oder Gegenüberstellung im Unterricht, die Adaption des Kunst- werks in den filmischen Aussagenzusammenhang.10 Und dies hängt immer mit einer mehr oder weniger deutlichen Transformation des künstlerischen Primärtex- 9 Schröter, S. 144. 10 Vgl. hierzu das Kapitel «Film und Bildende Kunst» in: Borstnar/Pabst/Wulff (wie Anm. 2), S. 75–76. 146 pauleit_korrektur4.indd 146 06.11.2008 13:20:40 Klingende Bilder, gemalte Töne Abb. 4: Ein Z und zwei Nullen (Peter Greenaway) tes – eines Gemäldes zum Beispiel – zusammen. Manchmal kommt es zu Übertra- gungen der Ikonografie von Gemälden in die filmischen Bilder. So orientiert sich Fritz Lang für seine filmischen Siegfried-Darstellungen in die Die Nibelungen (D, Teil I 1922/Teil II 1924) an Vorbildern aus der Malerei: Wie in Arnold Böcklins Gemälde Das Schweigen im Walde von 1885 lässt er seinen Drachentöter durch die eng stehenden magisch-mächtigen Baumreihen reiten, die folgerichtig eher an Steinsäulen, denn an natürlich gewachsene Pflanzen denken lassen.11 In anderen Fällen werden zusätzlich explizit Prinzipien der Bildkomposition, der Farbgebung oder der Lichtführung im Film nachgebildet. So in Derek Jarmans Ca- ravaggio (GB 1986) der die Biografie des berühmten Meisters des sogenannten Chiaroscuro, der Helldunkelmalerei, sozusagen in dessen Gemälden erzählt. Äußerst attraktive Ansätze cineastische und malerische Erzähl- und Bildkunst zu verschmelzen finden sich immer wieder in den Filmen Peter Greenaways. Wie in den meisten seiner späteren Werke liegt schon in Der Kontrakt des Zeichners (The Draughtman’s Contract, GB 1982) eine ebenso spannungsvolle wie rätselhafte Mord- und Komplottgeschichte vor, deren wirkliche Aufklärung meist über die Bilder und weniger über Worte stattfindet. Die Bilder dazu liefert in diesem Film die Figur des Zeichners Neville, der in einer englischen Grafschaft des 17. Jahrhunderts den Auftrag erhalten hat, zwölf exakte Ansichten des Herrensitzes anzufertigen. Diese 11 Siehe zu Fritz Langs vielen konkreten Transformationen von Bildender Kunst und Architek- tur: Heide Schönemann: Fritz Lang: Filmbilder: Vorbilder. Berlin 1992. 147 pauleit_korrektur4.indd 147 06.11.2008 13:20:41 Jan Sahli Figur bildet mit ihren ausführlich gezeigten Zeichnungen einen erzählerischen An- knüpfungspunkt für die durchgehende gemäldeartige Gestaltung des Films. Ähn- lich statische Bilder und vergleichbar distanzierte Perspektiven, wie sie auf Nevilles Zeichnungen zu sehen sind, gehören zur offensichtlichen filmischen Umsetzung der Malweisen des 17. Jahrhunderts in Der Kontrakt des Zeichners. Filmische Gestaltungsmittel wie Lichtführung, Farbgestaltung, Ausstattung und Kompositi- on werden dabei so eingesetzt, dass die malerischen Effekte nicht mehr zu über- sehen sind. Fast scheint es, als ob Greenaway uns zeigen will, dass der Blick des Zeichners – zumal er das optische Hilfsinstrument des Zeichengitters gebraucht – seinem Blick durch den Sucher der Kamera gleichkommt. Zur Vorbereitung des Films Ein Z und zwei Nullen (A Zed and Two Noughts, GB/Netherlands 1985), hat Peter Greenaway zusammen mit seinem Kameramann Sacha Vierny 26 Gemälde Jan Vermeers sorgfältig untersucht und festgestellt, dass das Licht meistens von der linken Seite und in eineinhalb Metern Höhe über dem Boden einfällt. Aus diesem Befund haben sie für die Ausleuchtung ihres Films die Regel aufgestellt, dass das Filmlicht meistens von links kommt, und zwar aus ein- einhalb Metern Höhe. Auch wenn dies in der Realisation nicht durchgängig mög- lich war, orientierten sie sich damit in fast obsessiver Weise an konkreten maleri- schen (Vor-)Bildern, die weit in die Kunstgeschichte zurückgreifen: Die Gemälde des berühmten Malers Vermeer stammen aus dem 17. Jahrhundert und ragen als Meisterwerke von ebenso hoher handwerklicher Qualität wie künstlerischer Inno- vationskraft aus dem Goldenen Zeitalter der holländischen Malerei hervor. Obwohl Greenaway den von ihm bewunderten Vermeer als «visuellen Zere- monienmeister des Films» bezeichnet hat, handelt es sich nicht einfach um eine filmische Verbeugung. Über die systematische Imitation der Lichtführung hinaus, entwickelt sich in Ein Z und zwei Nullen eine mehrschichtige filmische Ausei- nandersetzung mit der Malerei des alten Meisters. So erinnern weitere filmische Gestaltungsmittel wie die Wahl der Perspektiven und die Bildkomposition stark an dessen Gemälde. Es geht sogar soweit, dass bestimmte identifizierbare Bilder szenisch nachgestellt und sozusagen filmisch animiert werden. Im Vordergrund steht hierbei aber nicht die exakte Rekonstruktion, sondern die spürbare Freude an spielerischen Umwandlungen und Neukombinationen von vormals statischen Figuren, Gesten und Motiven in bewegte Bilder. Die ontologische Intermedialität ist schließlich der am schwierigsten zu fassende Typus von Intermedialität bei Schröter, weil er sich nicht an einzelnen Beispielen festmachen lässt, sondern die Entwicklung von Medien an und für sich betrifft. Die ontologische Intermedialität beschreibt nämlich den Prozess der Formation eines Mediums in Abgrenzung zu anderen Medien. Mit anderen Worten, das was an einem Medium spezifisch erscheint, ist abhängig von umliegenden Bezugs- 148 pauleit_korrektur4.indd 148 06.11.2008 13:20:41 Klingende Bilder, gemalte Töne punkten, sprich anderen Medien. Schröter bemerkt dazu, dass auch dieser Typ von Intermedialität die Vorstellung klar voneinander separierbarer medialer Segmente unterläuft. Und darüber hinaus ist für ihn sogar anzuerkennen, «dass nicht die ein- zelnen Medien primär sind und sich inter-medial aufeinanderzu bewegen, sondern dass die Intermedialität ursprünglich ist und die klar voneinander abgegrenzten ‹Monomedien› das Resultat gezielter und institutionell verankerter Zernierungen, Einschnitte und Ausschlussmechanismen sind.»12 2. Der Absolute Film «in der Mitte von Malerei und Musik» Walter Ruttmanns Avantgardefilm Lichtspiel Opus I von 1921 markiert in der Filmgeschichte den Anfang einer damals revolutionären und damit im besten Sin- ne avantgardistischen Entwicklung. Eine Entwicklung, deren bildnerisches Prinzip nicht mehr von den Dingen der sichtbaren Wirklichkeit ausgeht, sondern das Ab- bildende ganz verlässt und nach dem Beispiel der abstrakten Malerei der Moderne die ungegenständliche Bildsprache aus abstrakten Zeichen formuliert. Wir haben es hier also nicht mehr mit abstrahierenden Tendenzen zu tun, wie Sie am Anfang dieses Textes noch im Musikvideo Star Guitar von Michel Gondry auszumachen waren, sondern mit vollständiger Abstraktion. Trotzdem sollen hier die mit diesem Musikvideo eingeführten medialen Schnittstellen von Film und Musik in einem weit zurückliegenden historischen Kontext nochmals aufgegriffen werden. Diese Art Vorgeschichte des Musikvideos unter dem Gesichtspunkt transmedialer Inter- medialität führt zunächst über die Malerei. Die Avantgardefilmkünstler der in Deutschland zu Beginn der 1920er Jahre entstehenden Bewegung des Absoluten Films kommen fast ausnahmslos aus der Malerei und begreifen das Medium primär als Bildende Kunst. Anders als bei den französischen Filmemacherinnen und Filmemachern, die zu dieser Zeit bewusst die filmspezifischen Mittel weiterentwickeln wollen, werden in dieser Ausrichtung des Weimarer Avantgardefilms die fotografischen Ausdruckmöglichkeiten des Films radikal reduziert. Ruttmann und seine Kollegen nehmen mit der Filmkame- ra ihre zunächst gemalten abstrakten Zeichen und Kompositionen auf und geben damit in der Projektion ein ebenso abstraktes Bild als Filmbild wieder. Dies geht natürlich nicht mit einem einzigen statischen Bild, dafür bedarf es meist hunder- ter oder tausender von Bildern und Formen, die durch die spezifischen Mittel des Films in Einzelbildschaltung am Tricktisch «animiert» werden. Walter Ruttmann, der sich – nicht als einziger – schon in den 1910er Jahren Gedanken zur Zusammenführung von Malerei und Kino gemacht hat, spricht in diesem Zusammenhang explizit von «Malerei mit Zeit». Im gleichnamigen Ma- 12 Schröter, S. 149. 149 pauleit_korrektur4.indd 149 06.11.2008 13:20:41 Jan Sahli nifest von 1919/20 gibt er eine Definition der «Malerei mit Zeit» und somit des Absoluten Films: «Eine Kunst für das Auge, die sich von der Malerei dadurch unterschei- det, dass sie sich zeitlich abspielt (wie Musik), und dass der Schwerpunkt des Künstlerischen nicht (wie im Bild) in der Reduktion eines (realen oder formalen) Vorgangs auf einem Moment liegt, sondern gerade in der zeitlichen Entwicklung des Formalen. [...] Es wird sich deshalb ein ganz neuer, bisher nur latent vorhandener Typus von Künstler heraus- stellen, der etwa in der Mitte von Malerei und Musik steht.»13 Es ist bemerkenswert, dass Ruttmann hier, vor allem wenn es um Bewegung geht, nur implizit vom Film spricht. Der Künstler der Zukunft steht bei ihm nicht etwa zwischen Malerei und Film, sondern in der Mitte von Malerei und Musik. Denkt man an Ruttmanns Lichtspiel Opus I, an die von ihm gemalten or- ganisch-biomorphen Formen und die geometrischen Elemente, die im virtuellen Raum in rhythmischen Kompositionen Aufscheinen und wieder Verschwinden, ist die behauptete Nähe zur Musik durchaus nachvollziehbar. Laut und leise, hell und klar oder dumpf und brummend treten diese bewegten Farbflächen nicht nur mit der zum Film komponierten Begleitmusik von Max Butting in einen ästhetischen Dialog, sondern lassen sich als eigenständige Klangbilder erleben. So wird in der filmischen Gestaltung mit abstrakten Zeichen die Analogie zu Tö- nen – das Abstrakteste, was man sich vorstellen kann – zu einem musikalischen Gestaltungsprinzip gemacht. Der Film Ruttmanns und auch die anderen absoluten Werke dieser Zeit, sind visuelle Kompositionen mit fein ausgearbeiteten Rhyth- musstrukturen und formalen Themata, die sich in einer bestimmten zeitlichen Ab- folge abspielen. Wenn überhaupt von Dramaturgie gesprochen werden kann, ist es sicherlich keine narrative, sondern eine formalästhetische, eine musikalische. Mit der Betitelung ihrer abstrakten Filme verweisen die Künstlers selbst immer wieder auf die (Visualisierung von) Musik: Lichtspiel Opus I, Rhythmus 21 (Hans Rich- ter, D 1924), Diagonal Symphonie (Viking Eggeling, D 1925). Neben Walter Ruttmann gehören der zu dieser Zeit in Deutschland lebende Schwe- de Viking Eggeling und der deutsche Avantgardist Hans Richter zu den wichtigsten Vertretern des absoluten Films. Die beiden Maler gelangen Ende der 1910er Jahre durch eine intensive Zusammenarbeit zum bewegten Bild. Sie versuchen das zeitli- che Element zuerst mit längeren Bildabfolgen auf langen Papierrollen, sogenannten 13 Walter Ruttmann: Kunst und Kino / Malerei mit Zeit. In: Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann: Eine Dokumentation. Berlin 1989, S. 74. Die Veröffentlichung des Aufsatzes «Malerei mit Zeit» um 1919/20 lässt sich nicht exakt datieren. 150 pauleit_korrektur4.indd 150 06.11.2008 13:20:41 Klingende Bilder, gemalte Töne Abb. 5a–d: Lichtspiel Opus I (Walter Ruttmann) Rollenbildern, zu entwickeln, auf denen sich eine grafische Komposition sukzessi- ve verändert. Von diesen Experimenten ausgehend ist es kein großer technischer Schritt mehr zum Film. Interessant ist es in einem kurzen Vergleich zu beobachten, wo die Unterschiede zwischen den Bildlösungen dieser beiden Filmkünstler liegen. Im Unterschied zu Ruttmanns «Opus- Filmen» mit ihrer unfassbaren ständig veränderlichen biomor- phen Formenwelt arbeiten Eggeling und Richter vorwiegend mit einer konstruk- tiv-konkreten Formensprache, die aber ihrerseits ganz verschiedene formale Ge- staltungsansätze aufweist.14 Während Richter in seinen absoluten Werken wie Rhythmus 21 vor allem mit sich im Raum bewegenden geometrischen Bildflächen arbeitet, versucht Eggeling mit dem Auf- und Abbau eines komplizierten Liniengefüges in Diagonal Sym- phonie in der Fläche seine Effekte zu erzielen. Richter experimentiert in der Tiefe und in der Fläche mit dem Bildfeld und auch mit der Durchlässigkeit der Bildbe- 14 Zur eingehenden vergleichenden Analyse von Ruttmanns und Eggelings Filmen sowie ihrer theoretischen Konzeptionen des Absoluten Films vgl.: Brinckmann, Christine N.: «Abstrakti- on» und «Einfühlung» im deutschen Avantgardefilm der 20er Jahre. In: Dies.: Die anthropo- morphe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration. Zürich 1997, S. 247–275. 151 pauleit_korrektur4.indd 151 06.11.2008 13:20:42 Jan Sahli Abb. 6: Rhythmus 21 (Hans Richter) Abb. 7: Diagonal Symphonie (Viking Eggeling) grenzung, die er nicht so hermetisch wie Eggeling auffasst: Seine Quadrate und Rechtecke drängen an die Bildränder und bewegen sich darüberhinaus oder kom- men von Aussen herein. Auch wird zuweilen mit einer Art Wischblende das ganze Bildfeld flächendeckend weiss oder schwarz abgedeckt. Eggeling widerum tastet, wie gesagt, den Bildrahmen nicht an. Er konzentriert sich auf die sich sinfonisch wandelnde, komplexe Struktur seines diagonal ausge- richteten Liniengebildes. Aus einem bestimmten Arsenal von Zeichen, die, musika- lisch gedacht, als widerkehrende Motive bezeichnet werden können, formiert sich im wahrsten Sinne des Wortes eine Abfolge von unhörbaren Klangbildern. Am 3. und am 10. Mai 1925 findet im UFA-Palast in Berlin eine legendäre Mati- née unter dem Titel «Der absolute Film» statt. Sie markiert gleichzeitig Höhepunkt und Ende dieser Richtung der Avantgarde in der Weimarer Republik. Die Werke von Eggeling, Richter und Ruttmann, werden im Rahmen dieser größten Veran- staltung des deutschen Avantgardefilms vorgeführt.15 An der Matineé waren aber nicht nur die erwähnten Filme der deutschen Avantgardisten zu sehen, sondern auch Entr’Acte von René Clair (F 1924) so- wie Ballet mécanique (unter dem Titel Images mobiles) von Fernand Léger und Dudley Murphey (F 1924).16 Dies ist deshalb erwähnenswert, weil die deut- sche Avantgarde von diesem Zeitpunkt an auch mit Realaufnahmen zu arbeiten beginnt. Der Einfluss der beiden französischen Produktionen dürfte daher nicht unwesentlich zu diesem Umbruch beigetragen haben. Es sind aber sicherlich auch andere Faktoren wichtig: So die Entwicklung in der Fo- tografie mit dem Aufkommen der sogenannten Neuen Fotografie in den 1920er Jahren mit ihren unterschiedlichen Richtungen der Neuen Sachlichkeit und des Neuen Se- 15 Zur Filmmatinée vgl. Holger Wilmesmeier: Deutsche Avantgarde und Film: Die Filmmatinée «Der absolute Film» (3. Und 10. Mai 1925). Münster/Hamburg 1994. 16 Von Ruttmann wurde nicht Lichtspiel Opus I gezeigt, sondern seine drei folgenden Opus- Filme. Richters Rhythmus 21 wird unter dem Titel «Film ist Rhythmus» angekündigt. 152 pauleit_korrektur4.indd 152 06.11.2008 13:20:43 Klingende Bilder, gemalte Töne hens. Ein entscheidender filmischer Impuls für die Neuorientierung war auch die gro- ße Beachtung, die in Berliner Avantgardekreisen dem Sowjetischen Revolutionsfilm, insbesondere Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (UdSSR 1925) zukam. Christine N. Brinckmann schreibt zu diesem Umbruch: «Der Entschluss, sich als Maler des Mediums Film zu bedienen, war zwar radikal und modern und schien eine neue Ästhetik zu verspre- chen; doch er bildete eher eine Art Kulmination malerischer Bewe- gungstendenzen und künstlerischer Grenzüberschreitungen, wie sie die ersten beiden Dekaden des Jahrhunderts geprägt hatten. Im Medium Film lagen dagegen Möglichkeiten der Fotografie und der Montage be- schlossen, die in ganz anderer Weise, auf einer ganz anderen Ebene die zeitgenössische Ästhetik herausforderten.»17 Der einzige, der über 1925 hinaus die Bewegung der «absoluten» Animation wei- terführen wird, ist Oskar Fischinger. Obwohl Fischinger, der Ruttmann bei den ersten «Opus-Filmen» assistierte, ein Nachzügler der eigentlichen Avantgarde ist, wird er für die Verbreitung und Weiterführung des abstrakten experimentellen Filmschaffens und insbesondere für deren Visualisierungen von Musik zu einer tragenden Figur. Dies vor allem durch die Fortsetzung seiner Arbeit in Hollywood, wo es ihm ab 1936 sporadisch gelingt, für seine Filme Verträge bei den großen Stu- dios abzuschließen. Zum Beispiel finanziert MGM An Optical Poem von 1938 als Vorfilm. Und Walt Disney nimmt Fischinger 1939 für die Ausführung bestimmter Sequenzen in Fantasia, einem der ersten langen Zeichentrickfilme unter Vertrag. Fischingers Filme und Zeichenkünste haben ihm keine große Hollywoodkar- riere ermöglicht. Trotzdem hat sein Werk einen nachhaltigen Einfluss entfaltet. Zu Beginn der 40er Jahre lässt sich nämlich eine Gruppe von jungen Künstlern und Künstlerinnen, die in Fischingers Haus verkehren, von seiner Arbeit inspirieren: Dazu gehören für die spätere amerikanische Experimentalfilmgeschichte so ge- wichtige Namen wie die Brüder Whitney, Maya Deren und Kenneth Anger und der Musiker John Cage.18 Auch taucht Fischingers Name immer wieder in Untersu- chungen auf, die nach historischen Vorformen der Musikvideos suchen. So wird in einer historischen Perspektive leicht ersichtlich, dass die Geschichte intermedialer Schnittstellen von Film, Musik und Bildender Kunst die Entwicklung dieser Medien damals wie heute – von der visuellen Musik zum Videoclip – nicht nur begleitet, sondern bedeutende Impulse beinhaltet. Impulse, die sich auch auf die Film- und Kunstvermittlung auswirken könnten. 17 Brinckmann, S. 274. 18 Zu Fischinger vgl. Herbert Gehr,: Optische Poesie: Oskar Fischinger – Leben und Werk. Frank- furt am Main 1993; Birgit Hein / Wulf Herzogenrath: Film als Film: 1910 bis heute: Vom Animationsfilm der zwanziger zum Filmenvironment der siebziger Jahre. Stuttgart 1979. 153 pauleit_korrektur4.indd 153 06.11.2008 13:20:43 Bettina Henzler und Stefanie Schlüter Perspektivenwechsel Methodische Vorschläge zum Vergleich der Filme ANGST ESSEN SEELE AUF (R.W. Fassbinder) und GEGEN DIE WAND (Fatih Akin)1 Dass der Zuzug von Gastarbeitern seit den 1950er Jahren das Gesicht der deut- schen Gesellschaft nachhaltig verändert hat, wurde im deutschen Kino erst verzö- gert sichtbar. Rainer Werner Fassbinder war einer der ersten, der im Rahmen sei- ner kritischen Auseinandersetzung mit der deutschen Nachkriegsgesellschaft auch Migration thematisierte: erstmals 1969 in Katzelmacher, später dann in Angst Essen Seele auf (1973). Es folgten in den 1970er und 1980er Jahren weitere Filme – beispielsweise Shirins Hochzeit von Helma Sanders-Brahms (1975/6), 40 qm Deutschland (1985/6) von Tevfik Başer oder Yasemin von Hark Bohm (1987/8) –, die Migration vor allem unter einem sozialkritischen Blickwinkel behandelten. Einwanderer erschienen in diesen Filmen vor allem als Opfer der Ausgrenzung in einer fremdenfeindlichen Gesellschaft oder eines unüberwindlichen Konfliktes zwi- schen den Kulturen.2 Seit den 1990er Jahren treten vermehrt Filmemacher hervor, die selbst aus der zweiten oder dritten Einwanderergeneration stammen. Damit ergibt sich ein si- gnifikanter Perspektivenwechsel: Migration wird im deutschen Kino nicht mehr vorwiegend als gesellschaftliches Problem behandelt, sondern als selbstverständ- lich vorausgesetzt. Das Bild von Migranten, ebenso wie die Genres, Identitäten und Konflikte vervielfältigte sich: vom Alltag türkischstämmiger Jugendlicher in 1 Entwickelt für eine Lehrerfortbildung im Rahmen der Schulkinowochen in Hessen 2007. 2 Laut Deniz Göktürk geriet vor allem die Situation der Frau als «doppeltes Opfer» in den Blick: Opfer der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland und Opfer der patriarchalen Verhältnisse ih- rer Herkunftskultur. Vgl. Deniz Göktürk: Migration und Kino – Subnationale Mitleidskul- tur oder transnationale Rollenspiele? In: Carmine Chielo (Hrsg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Stuttgart 2000, S.333 154 pauleit_korrektur4.indd 154 06.11.2008 13:20:44 Perspektivenwechsel der Kreuzberg-Trilogie Geschwister (1996), Dealer (1998/9), Der schöne Tag (2001) von Thomas Arslan oder in den Dokumentarfilmen Ein Mädchen im Ring (1996) und Die Hochzeitsfabrik (2004/05) von Aysun Bademsoy, über türkisch- stämmige Transvestiten in der Tragikomödie Lola und Bilidikid (Kutluğ Alt- mann, 1999) bis zu Hamburger Straßen-Gangs in Fatih Akins Milieustudie Kurz und Schmerzlos (1997). Nicht nur thematisch, sondern vor allem auch formal haben diese Filme, Georg Seeßlen zufolge, das «Kino der Fremdheit» überwunden und zeugen von einer Mischung der Kulturen: von einer Métissage.3 So war es Akins Gegen die Wand, der als Wettbewerbsgewinner auf der Berlinale 2004 und mit seinem durchschlagenden Erfolg beim Publikum erstmals ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit brachte, dass die «deutsche» Kultur heute auch von «Mi- granten» geprägt wird.4 Dazu Fatih Akin: «Unser Blick auf die deutsche Gesellschaft ist ein anderer. Und dadurch auch der auf das Kino. Wir haben noch einen zweiten Blick, den un- serer Herkunftsländer. Dann sehen wir das Land durch ganz andere Augen. Wir sehen Sachen, die andere Leute nicht mehr wahrnehmen. Das macht unsere Filme anders. Nicht, dass sie dadurch besser würden, das ist keine Frage der Qualität. Aber wir bringen einfach eine andere Perspektive ein.»5 In der Gegenüberstellung der Filme Angst essen Seele auf und Gegen die Wand lässt sich dieser Perspektivenwechsel anschaulich nachvollziehen. Denn neben ihrer ästhetischen Qualität spricht der große Erfolg der beiden Filme6 auch dafür, dass sie zu ihrer jeweiligen Zeit neuralgische Punkte der Gesellschaft und ihres (kultu- rellen) Selbstverständnisses getroffen haben. Die folgenden methodischen Vorschläge für einen Vergleich der beiden Filme im Unterricht orientieren sich an Alain Bergalas pädagogischem Ansatz.7 Entspre- chend Bergalas Forderung, das Kino als Kunst zu betrachten und die ästhetische Wahrnehmung zu schulen, werden dabei Form und Inhalt in ihrer engen Wechsel- 3 Georg Seeßlen: Das Kino der doppelten Kulturen / Le cinéma du métissage / The cinema of inbetween. Erster Streifzug durch ein unbekanntes Kino-Terrain. In: epd-Film 12, 2000. Siehe auch Klaus Löser: Berlin am Bosporus. Spielarten und Hintergründe des deutsch-türkischen Kinos. In: Filmdienst 17, 2006. 4 Zur Presseresonanz siehe Fatih Akin: Gegen die Wand. Das Buch zum Film mit Dokumenten, Materialien, Interviews. Köln 2004. 5 Vgl. Michael Ranze: «Heimat ist ein mentaler Zustand» ‹Solino›, Scorcese und die Globalisie- rung: Fatih Akin im Gespräch. In: epd-Film 11, 2002. 6 Angst essen Seele auf war Fassbinders erster großer Publikumserfolg und wurde auf den Internationalen Filmfestspielen in Cannes ausgezeichnet. 7 Bergala: Kino als Kunst (2006). 155 pauleit_korrektur4.indd 155 06.11.2008 13:20:44 Bettina Henzler und Stefanie Schlüter wirkung analysiert. Denn gerade die Form bestimmt die Wirkung einer Geschichte und lässt die politische Haltung der Regisseure erkennen. Dabei steht die Arbeit mit Filmfragmenten im Vordergrund, ein Verfahren das auch den engen zeitlichen Rahmenbedingungen im Schulunterricht entge- genkommt. Durch die genaue Analyse und den Vergleich von Standbildern, durch exemplarische Sequenzanalysen, einen Sequenzvergleich und das In-Beziehung- Setzen mit Ausschnitten aus anderen Filmen werden wir uns schrittweise den bei- den Filmen nähern. Beginnend beim Detail wird so sukzessive das Blickfeld auf das Ganze, die Filme und ihre Kontexte, erweitert. Dabei dienen drei Leitmotive als Wegweiser: (1) Die in beiden Filmen dramaturgisch zentralen Motive der Hochzeit eines ungleichen Paares, (2) das Motiv des Verstoßes durch die Familie sowie (3) der Fernseher als Einsamkeitsmotiv, das einen Blick in die Filmgeschichte erlaubt. 1. Die Hochzeit als zentrales Motiv 1.1 Hochzeitsinszenierungen – Einstieg in die Analyse mit Filmstills Es bietet sich an, mit dem Hochzeitsmotiv in den analytischen Vergleich der Filme einzusteigen, weil im kollektiven kulturellen Gedächtnis stark konventionalisierte Vorstellungen und Ikonografien vom Heiraten verankert sind, zu denen die bei- den Filme in einer produktiven Dissonanz stehen.8 Mit dem Heiraten verbinden sich nach wie vor Bilder von einer Braut im weißen Kleid mit Schleier und Braut- strauß, vom Bräutigam im schwarzen Anzug, zwei goldenen Ringen und einem Fest im Kreis von Freunden und Familie. Dass diese konventionellen Bilder auch gegenwärtig noch wirkmächtig sind, lässt sich u.a. aus der Tradition der Hoch- zeitsfotografie begründen, denn Hochzeitsfotos wirken an der Konstruktion und Reproduktion von Konventionen mit.9 Um zu veranschaulichen, wie Rainer Werner Fassbinder und Fatih Akin in ihren Filmen Hochzeiten inszenieren und gleichzeitig kulturelle Codes subvertieren, eig- net sich als Einstiegsmethode die Analyse von Standbildern. Anhand exemplarisch ausgewählter Filmstills zum Motivkomplex Heiraten lassen sich die ästhetischen Strategien der Hochzeitsinszenierungen bei Fassbinder und Akin beschreiben, die stilistischen Unterschiede herausarbeiten und auf die Filmanalyse vorbereiten. Diese Verfahrensweise soll im Folgenden vorgeführt werden. 8 Gemeint ist ein west-europäisch geprägtes kulturelles Gedächtnis. 9 In der Filmgeschichte lassen sich viele Beispiele für die kritische Auseinandersetzung mit der Tradition der Hochzeitsfotografie finden. Stellvertretend sei hier auf die experimentelle Vi- deoarbeit Promises (2003, Matthias Müller) verwiesen, welche die Konventionen stiftende Rolle von Hochzeitsfotografien in subversiver Weise ausstellt. Promises ist eine Found-Foot- age-Arbeit aus 16 Hochzeitsfotografien aus der umfangreichen Fotosammlung des Künstlers. 156 pauleit_korrektur4.indd 156 06.11.2008 13:20:44 Perspektivenwechsel Der Vorteil des Ar- beitens mit Stand- ge- genüber Bewegtbildern besteht in der Genauig- keit, mit der sie wahr- genommen werden können, was u.a. auch deshalb gilt, weil der Fokus der Aufmerk- samkeit einzig auf die Bildebene gerichtet ist.10 Die Wahrnehmung lässt sich leicht auf die ästhe- tische Form des Bilds Abb. 1: Angst Essen Seele auf (R. W. Fassbinder) lenken, d.h. auf Grund- prinzipien der Bild- kompositionen etwa die Kameraposition, Wahl des Bildausschnitts (Kadrierung), Ein- stellungsgröße, den dargestellten Raum inklusive Dekor, Farb- und Lichtgebung und die Anordnung der Figuren im Raum. So weckt die analytisch geschulte Beschreibung von Filmstills ein Bewusstsein für die Untrennbarkeit von Form und Inhalt und beugt einer rein inhaltsbezogenen, interpretativen Herangehensweise vor. Mit der Analyse von Filmstills lässt sich Alain Bergalas Forderung, dass der Film im Unterricht als Kunstwerk betrachtet werden soll, in die Praxis umsetzen, insbesondere dann, wenn der Film mit anderen Künsten, wie der Fotografie oder der Malerei, in Beziehung gesetzt wird. 1.1.1 Isolation von Außen – Isolation nach Innen Auf dem ersten Filmstill (Abb. 1) aus Angst Essen Seele auf ist ein Paar im Foy- er eines Gebäudes zu sehen. Die Partner schauen sich an und wirken einander nah. Farblich ist das Bild, mit Ausnahme des roten Blumenstraußes im Arm der Frau, in Grautönen gehalten; das betrifft sowohl die Kleidung der beiden Figuren als auch den Innenraum des Gebäudes. Die Kamera befindet sich in einigem Abstand zum Paar au- ßerhalb des Raums. Zur Hälfte wird das Geschehen durch den Türbogen im Bildvor- dergrund gerahmt, dessen Form sich im Bildhintergrund wiederholt. Im Rücken des Paars bilden zwei Säulen einen weiteren Rahmen. Die Partner sind in der Halbtotalen aufgenommen und wirken klein im Kontext dieser Architektur. Kameraposition wie Bildrahmungen halten den Zuschauer auf Distanz zum Geschehen und weisen ihm die Rolle eines Beobachters zu. Was sich beobachten lässt: ein inniges Paar, ganz bei sich. 10 Zu den Vor- und Nachteilen des Arbeitens mit Filmstills, siehe auch der Beitrag von Claude und Francis Desbarats in diesem Band. 157 pauleit_korrektur4.indd 157 06.11.2008 13:20:45 Bettina Henzler und Stefanie Schlüter Im zweiten Filmstill (Abb. 2) befindet sich das Paar außerhalb des Gebäudes. Die Kamera ist in einiger Entfer- nung seitlich zu den Fi- guren positioniert und der Blick des Zuschau- ers auf das Paar wird durch einen schwarzen Teerhaufen gestört. Der Vorplatz des Gebäudes, das wahrscheinlich ein Standesamt ist, ist men- schenleer. Das Paar, auf das niemand gewartet hat, wird von der un- gastlichen Szenerie einer Baustelle in Empfang genommen. Die beiden Figuren haben nur we- nig Raum im Bild; es sieht so aus, als beweg- ten sie sich rechts aus dem Bildkader heraus. Dabei blickt die Frau geradeaus, während der Mann ihr weiterhin zu- Abb. 2 & 3: Angst Essen Seele auf (R. W. Fassbinder) gewandt ist und sie mit einem Schirm vor dem Regen schützt. Dass hier eine Hochzeit gefeiert wird, drückt sich einzig durch die festli- che Haltung des Paares aus; die Umgebung steht in einem trostlosen Kontrast dazu. An der Bildkomposition fällt im Vergleich zum ersten Filmstill auf, dass die Distanzierung des Zuschauerblicks durch die Schrägstellung der Kamera und die Sicht-Blockaden zwischen Kamera und Paar noch forciert wird. Das dritte Filmstill (Abb. 3) zeigt das Paar aus einer halbnahen Einstellung. So werden erstmalig die Unterschiede zwischen den beiden erkennbar: Haut- und Haarfarbe sowie ein dichter, schwarzer Bart lassen auf eine arabische Herkunft des Mannes schließen, während die Frau möglicherweise Deutsche ist. Bei genauerer Betrachtung lässt sich auch ein Altersunterschied ausmachen; der Mann wirkt wesent- 158 pauleit_korrektur4.indd 158 06.11.2008 13:20:50 Perspektivenwechsel lich jünger als die Frau. Erstmals erscheint das Paar getrennt vonein- ander im Bild: Sie befin- det sich im Innenraum einer Telefonzelle, wäh- rend er draußen wartet. Der gelbe Rahmen der Zellwand verläuft wie eine vertikale Trennli- nie zwischen den bei- den Partnern. Obwohl ihr Körper und Ge- sicht dem Zuschauer Abb. 4: Angst Essen Seele auf (R. W. Fassbinder) zugewandt sind, ist die Frau nicht deutlich er- kennbar, weil eine spiegelnde Glaswand zwischen ihr und dem Zuschauer liegt. Draußen lehnt der Mann mit dem Rücken an der geöffneten Tür der Telefonzelle. Sein Körper ist zum Zuschauer gewandt, sein Gesicht zur telefonierenden Frau. Von den Augen des Mannes ließe sich eine Horizontale zu den Augen der Frau ziehen: Sein Blick hält die Verbindung zu ihr, während sie telefonierend die Verbin- dung zur Außenwelt sucht. In diesem Filmstill gibt es Vertikalen als verbindende und Horizontalen als trennende Linien. Für beides finden sich im Bildhintergrund, in der Architektur einer Kirche, Entsprechungen. Das geometrische Linienspiel un- terstreicht den Prozess der sukzessiven Abwendung der beiden Partner voneinan- der, die sich anhand der vier Filmstills nachvollziehen lässt. Auf dem vierten Filmstill (Abb. 4) ist das Paar allein in einem rustikal einge- richteten Gasthaus zu sehen. Die Figuren sitzen, aus der Totale gefilmt, in einem großen Raum nebeneinander an einem leeren Tisch. Ihre Körper sind nun gänz- lich voneinander abgewandt und auf die Kamera ausgerichet, ihre Haltung wirkt unnatürlich steif. Dies entspricht der insgesamt statischen Wirkung des Bildes: Ein Türrahmen dient als Durchblick aus dem Vorraum und rahmt das Paar wie ein Bilderrahmen ein Bild. Der dunkelgrüne Vorhang, der im Türrahmen hängt, und die massive, dunkle Holzvertäfelung rechts und links davon lassen weniger an ein Hochzeitsfoto denken als an ein Triptychon. Ein Landschaftsgemälde bil- det das großflächige Panorama, vor dem das Paar Platz genommen hat.11 Dieses Dekor weckt Assoziationen von «deutscher Gemütlichkeit» und steht im Kontrast 11 Das in Öl gemalte Landschaftspanorama könnte als ironische Brechung mit der Konvention der Hochzeitsfotografie verstanden werden: Brautpaare werden häufig in Parklandschaften oder Gärten fotografiert. 159 pauleit_korrektur4.indd 159 06.11.2008 13:20:51 Bettina Henzler und Stefanie Schlüter zur augenfälligen Absenz einer Hochzeitsgesellschaft. In dem leeren Raum wirkt das Hochzeitspaar deplaziert. Das Bild weist als einziges von den vier Filmstills eine streng zentralperspektivische Komposition auf, bei der die Spiegelachse wie eine Trennlinie zwischen den Partnern verläuft und durch Vertikalen im Dekor wieder aufgegriffen wird: in der hölzernen Wandvertäfelung im Hintergrund und in den Streben der leeren Stühle vor dem Paar, die sich im gebohnerten Fußboden spiegeln. Die Tische und Stühle im Vorraum sind wie Fluchtlinien aufgestellt, die den Blick kanalisierend lenken. Diese zentralperspektivische Anordnung macht das Paar ähnlich wie in einem Renaissancegemälde zum Wahrnehmungsobjekt, wo- hingegen dem Zuschauer die Rolle des erkennenden Subjekts zugewiesen wird.12 Nicht zuletzt wegen der Alters- und Kulturunterschiede steht diese Hoch- zeitsinszenierung in einem Spannungsverhältnis zu konventionellen Vorstellungen vom Heiraten. Neben der Isolation des Paars von Außen wird auch eine sukzessive Isolation nach Innen erkennbar. Schließlich stellt Fassbinder nicht nur die Figu- ren isoliert dar, sondern er versetzt auch die Zuschauer in eine isolierte Wahrneh- mungssituation , indem sie stark vom Geschehen distanziert werden: Der Zuschau- er soll sich nicht identifizieren, er soll reflektieren. 1.1.2 Spiel mit Konventionen In Gegen die Wand weisen, im Gegensatz zu Angst essen Seele auf, alle äußeren Zeichen auf eine Hochzeit: Das erste Filmstill (Abb. 5) zeigt frontal und in Groß- aufnahme das in einen Brautschleier gehüllte Gesicht einer schönen, jungen Frau. Gesicht und weißer Schleier füllen das Bild beinahe vollständig aus und könnten idyllisch wirken, wenn nicht der Gesichtsausdruck der Braut einen Zweifel an ih- rem Glück aufkommen ließe. Ihr irritierter Blick richtet sich auf ein unscharf auf- genommenes Gesicht am linken Bildrand, das vermutlich zum Bräutigam gehört. Es ist nur im Profil zu sehen und blickt geradeaus. Die Unschärfe spiegelt die Irrita- tion der Braut in der Wahrnehmung des Zuschauers. Während der Bräutigam dem Zuschauer fremd bleibt, wird die Braut durch die Großaufnahme zur Identifikati- onsfigur. Die Verwendung der Großaufnahme bei Akin verweist auf einen grund- legenden stilistischen Unterschied gegenüber Fassbinder: Indem Akin die Distanz zu den Figuren verringert, involviert er seine Zuschauer emotional. Das zweite Filmstill (Abb. 6) eröffnet den Blick in einen Raum und zeigt die Unei- nigkeit zwischen den Partnern in vollem Ausmaß: Braut und Bräutigam, sie im weißen Kleid mit Schleier und er im schwarzen Anzug, bewegen sich getrennt voneinander im Gang eines Amtsgebäudes, wahrscheinlich des Standesamtes. Die gestörte Har- monie zwischen den Partnern schlägt sich deutlich in ihrer Körperhaltung nieder; der 12 Zu der kunsthistorischen Tradition der Zentralperspektive und deren Einfluss auf das Kino siehe die Ausführungen von Claude und Francis Desbarats in diesem Band. 160 pauleit_korrektur4.indd 160 06.11.2008 13:20:51 Perspektivenwechsel Bräutigam schaut starr nach vorn, während die Braut, den Kopf leicht geneigt, nach un- ten blickt. Die Kamera filmt in die Tiefe des Gangs, wobei die Un- schärfe des Bildvorder- grunds auf Bewegun- gen im Bild schließen lässt. Das flatternde, rote Band am Kleid der Braut unterstreicht das Tempo, mit dem das Paar auf die Kamera zuläuft. Die zwischen den Partnern klaffende Lücke dient der Kame- ra als Blickachse, sodass der Eindruck entsteht, als schiebe sie sich zwischen die beiden. Abb. 5 & 6: Gegen die Wand (Fatih Akin) Statt das Brautpaar ins Zentrum zu stellen, nimmt die Kamera ein anderes Paar im Bildhintergrund in den Blick: eine große Frau und einen kleinen Mann. Die Blicke dieser beiden Figuren, bei denen es sich vermutlich um die Trauzeugen handelt, richten sich von hinten auf den Bräutigam, als wollten sie nach ihm greifen. Neben der offensichtlichen Disharmonie des Paars wird in diesem Filmstill ein weiterer stilistischer Unterschied zu Fassbinder erkennbar: Das Bild vermittelt den Eindruck einer starken Dynamik und bildet einen Kontrast zur Statik vor allem des letzten Stills (Abb.4) aus Angst essen Seele auf. Auf dem nächsten Filmstill (Abb. 7) sitzt das Brautpaar in einem festlich ge- schmückten Raum wie ein Königspaar auf einem Thron. Dabei wird erkennbar, dass die beiden sich äußerlich voneinander unterscheiden, wenn auch weniger signifikant als bei Fassbinder: Der Bräutigam wirkt um einige Jahre älter als die junge, attraktive Braut, sein leicht ergrautes, langes Haar trägt er zurückgekämmt. Das Bild ist zentral organisiert, aber anders als bei Fassbinder (Abb. 4), wo durch die Totale die Ein- samkeit des Brautpaares im menschenleeren Wirtshaus betont wird, deutet bei Akin die kitschige, gleichwohl festliche Hochzeitsdekoration darauf hin, dass die halbnahe Aufnahme einen Ausschnitt aus einer Hochzeitsfeier zeigt: Mit dem rot-weißen Blu- mengesteck, dem rot-golden gemusterten Sofa und dem weißen Vorhang mit roter 161 pauleit_korrektur4.indd 161 06.11.2008 13:20:56 Bettina Henzler und Stefanie Schlüter Schleife13 weckt diese Einstellung Erinnerun- gen an die Ikonografien der Hocheitsfotografie, denn Schwarz, Weiß und Rot sind auch hier die Grundfarben.14 Das Verhalten der Figuren bricht ähnlich wie im ersten Filmstill mit der festlichen Grundstim- mung, die im Bild an- gelegt ist: Während die Braut ihren Mann ver- legen von der Seite an- schaut, blickt der Bräu- tigam starr geradeaus in den Raum. Spürbar ist der Erwartungsdruck, der auf ihm lastet. Wie schon auf den anderen Abb. 7 & 8: Gegen die Wand (Fatih Akin) Filmstills aus Gegen die Wand zu sehen war, wird der Bräutigam immer wieder den Blicken der anderen Figuren ausgesetzt. Er selbst scheint nur eine Richtung zu kennen: Die Flucht nach vorn. Steht in den ersten Filmstills die gestörte Harmonie des Paars im Kontrast zur prächtigen Hochzeitsfeier, zeigt das letzte Filmstill (Abb. 8), wie Akins Figuren durch ihr Verhalten bewusst mit Hochzeitskonventionen brechen. Das Hochzeits- ritual, das Tragen der Braut über die Schwelle der gemeinsamen Wohnung, wird durch einen Akt der spielerischen Umwidmung seiner romantischen Vorstellungen beraubt: Der Bräutigam trägt seine Frau nicht auf Händen, sondern schultert sie wie einen Mehlsack. Die Wohnung des Paars, aus der heraus die Szenerie an der Eingangstür gefilmt wird, ist nur schummrig beleuchtet. Rechts neben der geöffne- 13 Das Dekor gibt Aufschluss über das Sujet des Films: Bei genauerer Kenntnis des Films gibt es sich als stereotypes Bild von einer türkischen Hochzeit zu erkennen. Darin steht es im Kon- trast zum Dekor der deutschen Gaststube in Angst essen Seele auf. 14 Die typische Farbdramaturgie lässt sich anhand der Hochzeitsfotografien in Matthias Müllers Videoarbeit Promises eindrücklich nachvollziehen. Zur Farbdramaturgie (schwarz/weiß/rot) in Gegen die Wand siehe: 2.1.2. 162 pauleit_korrektur4.indd 162 06.11.2008 13:20:59 Perspektivenwechsel ten Eingangstür ist die Wand mit Farbe besprüht, links von der Tür hängt ein Pos- ter der britischen Punk-Band U.K. Subs schräg an der Wand, ein paar Gegenstände stehen oder liegen herum. Auch das Dekor bricht mit den Zuschauererwartungen: Weißes Brautkleid und ungastliche Wohnung wollen nicht zusammen passen. Die vergleichende Gegenüberstellung der Filmstills aus beiden Filmen lässt grundlegende stilistische und dramaturgische Unterschiede zwischen Fassbinder und Akin erkennbar werden. Während die gesellschaftlich isolierten Partner in Fassbinders Film sich zunehmend auch voneinander entfernen, inszeniert Akin ein Paar, das von vornherein getrennt ist und vermutlich erst zusammen finden muss. In seiner ästhetischen Umsetzung setzt Akin auf Nah- und Großaufnahmen, die das Verhalten und die Gefühle der Figuren ausstellen und den Zuschauer in eine identifikatorische Haltung versetzen. Dagegen wirkt Fassbinders Inszenierung auf eine emotionale Distanzierung des Zuschauers und zwingt zur Reflexion. Fass- binders meist statische Bildkompositionen beziehen häufig den ganzen Raum in die Inszenierung ein und stellen so das Handeln der Figuren in einen größeren Zusammenhang: die Gesellschaft ist nur scheinbar abwesend. Das Heiraten gerät bei Fassbinder wie bei Akin als gesellschaftlicher Akt in den Blick, denn in beiden Hochzeitsinszenierungen werden die verschiedenen institutionellen Etappen des Hochzeitsrituals beinahe vollständig gezeigt: Standesamt, Kirche, Hochzeitsfest.15 1.2 Hochzeit als Brennpunkt von Liebe, Familie, Kultur und Gesellschaft – Die Dramaturgie der «vorgezogenen Hochzeit» Die Hochzeit ist eines der häufigsten klassischen Erzählmotive. In Märchen und populären Romanen, in Theaterkomödien oder romantic comedies aus Hollywood steht sie meist am Ende der Geschichte. Die Hochzeit ist das Ziel aller Wünsche, sie belohnt für die Überwindung der Hindernisse und das Bestehen der Prüfungen, sie markiert die Lösung aller Konflikte: «Und sie lebten glücklich bis an ihr Ende…». In den beiden Filmen Angst Essen Seele auf und Gegen die Wand wird diese klas- sische Dramaturgie durch eine «vorgezogene Hochzeit» umgekehrt. Die Hochzeit steht in diesen Filmen am Anfang, sie ist nicht die Lösung, sondern der Auslöser der zentralen Konflikte. Sie gibt das familiäre und gesellschaftliche Spannungsfeld vor, in dem sich die individuellen Beziehungen der Figuren entwickeln werden. Die in der Analyse der Filmstills bereits in den Grundzügen erarbeiteten Konfliktlinien beider Filme, sollen hier mit Blick auf die Gesamtdramaturgie kurz ausgeführt werden. In Fassbinders Angst Essen Seele auf heiraten zwei einsame Außenseiter, die deutsche Witwe Emmi und der marrokanische Gastarbeiter Ali. Zwar finden beide im anderen einen liebenden Partner, aber ihre Ehe stellt einen doppelten Tabubruch 15 Die Kirche ist in Angst essen Seele auf nur durch ein Gebäude im Bildhintergrund (Abb. 3) repräsentiert. 163 pauleit_korrektur4.indd 163 06.11.2008 13:20:59 Bettina Henzler und Stefanie Schlüter dar: aufgrund des Altersunterschiedes (Emmi ist ca. 20 Jahre älter als Ali) und auf- grund der kulturellen Differenz. Die daraus resultierende gesellschaftliche Isolation wird von Fassbinder wie in einem Lehrstück, in einer streng symmetrischen Struk- tur durchexerziert. Die erste Hälfte des Films zeigt Etappen der Ausgrenzung durch verschiedene soziale Gruppen (Emmis Familie, den Lebensmittelhändler, Emmis Nachbarinnen und Arbeitskolleginnen). Nach einem dramatischen Höhepunkt, findet in der zweiten Hälfte des Films über dieselben Etappen eine Reintegration Emmis statt – um den Preis einer Spaltung des Liebespaares.16 Die gesellschaftliche Isolation und die gegenseitige Entfremdung des Liebes- paares deutete sich – wie die Analyse der Filmstills gezeigt hat – bereits in der In- szenierung der Hochzeitssequenz an: Der Utopie einer Liebe, die Altersunterschie- de und kulturelle Differenzen überwindet, steht bei Fassbinder die Tatsache einer fremdenfeindlichen, ausgrenzenden Umwelt gegenüber. In Gegen die Wand sind es zwei Selbstmörder, die den Bund der Ehe schlie- ßen: Sibel, deren unbändiger Lebenswillen im Widerspruch zu den Werten ihrer türkischen Familie steht, geht mit dem selbstzerstörerischen ebenfalls türkisch- stämmigen Außenseiter Cahit eine Scheinehe ein, denn: «Ich will leben, ich will tanzen, ich will ficken. Und nicht nur mit einem Typen». Die türkische Hochzeit stellt hier im Gegensatz zu Angst essen Seele auf keinen Tabubruch dar, sondern dient vielmehr dazu, die kulturellen Konventionen scheinbar zu erfüllen: Sie zeugt von dem Versuch Sibels, einen Kompromiss zwischen Tradition und Selbstverwirk- lichung herzustellen. Dass sich das Paar nicht liebt, ja kaum kennt, stellt dagegen einen Bruch mit romantischen Liebesvorstellungen dar. Die Analyse der Filmstills hat diese Widersprüche bereits offen gelegt: Die Hochzeit ist in Gegen die Wand Kristallisationspunkt für die Identitätskonflikte ihrer Protagonisten. Die tragische Liebesgeschichte zwischen Cahit und Sibel, deren (auto-)destruktive Tendenzen sich in ihrer Beziehung potenzieren, findet hier ihren Anfang. Das Hochzeitsmotiv bietet gewissermaßen eine Folie, vor deren Hintergrund das Geschehen sich entfal- tet. Akin spielt dabei mit Versatzstücken der gesellschaftlichen wie narrativen Kon- ventionen, die er auf den Kopf stellt: So findet die Eheschließung statt, bevor sich die Liebe entwickelt; der erste Ehebruch ereignet sich schon in der Hochzeitsnacht, die wiederum erst ganz am Ende vor der endgültigen Trennung von Cahit und Sibel nachgeholt wird. Der unkonventionelle Umgang der Figuren mit den Konventionen (siehe Analyse Abb. 8 ) wird in der narrativen Struktur reproduziert. So nutzen beide Regisseure das Hochzeitsmotiv, um Konflikte zwischen Indi- viduum und Gesellschaft zu inszenieren, die aus dem Aufeinandertreffen verschie- dener Kulturen resultieren. 16 Dieselben «Repräsentanten gesellschaftlicher Ausgrenzung» werben nun – wenn auch aus ei- gennützigen Motiven – um Emmis Gunst. Indem sich Emmi den gesellschaftlichen Ansprü- chen stellt, übernimmt sie jedoch selbst deren ausgrenzendes Verhalten gegenüber Ali. 164 pauleit_korrektur4.indd 164 06.11.2008 13:21:00 Perspektivenwechsel 2. Inszenierung von Blicken und Beziehungen – Exemplarische Sequenzanalysen «Man könnte sogar daran denken, anders als die klassische Filmpädagogik mit einer Untersuchung von Fragmenten anzufangen, bevor man Filme als Ganzes sieht.»17 Alain Bergala Bergala empfiehlt die Arbeit an Filmausschnitten, indem er sie als in sich geschlos- sene Erzähleinheiten versteht und als Teile, die auf das Ganze verweisen. An gut gewählten Ausschnitten, hier Filmsequenzen, lassen sich exemplarisch dramaturgi- sche Grundkonstellationen und ästhetische Eigenheiten ganzer Filme erschließen. Dabei erweist sich die Arbeit an überschaubarem Material gerade im Unterricht als vorteilhaft, sei es zur Vor- oder Nachbereitung des Kinobesuchs. Statt den Film nur aus der Erinnerung und damit fast zwangsläufig vor allem in Hinblick auf Hand- lung und Thematik zu behandeln, ermöglicht die (erneute) Sichtung und Arbeit an einem Ausschnitt, sich die Gestaltung des filmischen Inhaltes genauer vor Augen zu führen. So sollen anhand exemplarischer Sequenzanalysen im Folgenden die Insze- nierungen der zentralen Konflikte in den beiden Filmen nachvollzogen werden. 2.1 GEGEN DIE WAND als Tragikkomödie – Die Hochzeitssequenz 2.1.1 Eine tragikkomische Inszenierung von Identitätskonflikten «Der größte Einfluss, wenn es denn einen gab, war vielleicht das türkische Kino. Wenn es ein Merkmal gibt, welches das türkische Kino auszeichnet, dann ist es die Verkettung von Tragödie und Komödie. Dass man inner- halb von fünf Minuten lachen und weinen muss.»18 Fatih Akin Die von Fatih Akin mit Bezug auf das türkische Kino angesprochene «Verkettung von Tragödie und Komödie» tritt besonders deutlich in der Hochzeitssequenz her- vor. Diese eignet sich daher gut, das dramaturgische Grundprinzip der Tragikkomik und die Techniken ihrer Inszenierung aufzuzeigen. Ausgehend von der emotionalen Wirkung der Szene können die als komisch oder tragisch empfundenen Momente 17 Bergala 2006, S. 86 18 Auszug aus einem Interview mit Fatih Akin in der TAZ, 11.03.2004. 165 pauleit_korrektur4.indd 165 06.11.2008 13:21:00 Bettina Henzler und Stefanie Schlüter lokalisiert und in ihrer Wirkungsweise analy- siert werden. Die Tragikkomik in Gegen die Wand basiert auf einem Ko- mödienschema, das auch im europäischen Theater weit verbreitet ist: der Inszenierung Abb. 9: Cahit tritt vor die Tür seines Hauses ... des Widerspruchs zwi- schen Sein und Schein, die ein Spiel mit Iden- titäten ermöglicht und bestehende Zuschrei- bungen und Grenzzie- hungen unterwandert. In der Hochzeitse- quenz von Gegen die Wand sind die bereits genannten Widersprü- Abb. 10: ... und stößt zur Hochzeitsgesellschaft. che offenkundig. Beide Figuren stehen mit ih- ren Wünschen und Verhaltensweisen grundsätzlich in mehr oder weniger offenem Widerspruch zu den mit der Hochzeit besiegelten kulturellen Traditionen.19 Je nachdem wie eklatant diese Diskrepanzen hervortreten, kippt die Stimmung in der Hochzeitsequenz von der Komik ins Tragische: insbesondere wenn die des- truktiven Tendenzen Cahits und sein Schicksal als Witwer in den Vordergrund rü- cken. Diesem Wechselspiel von Komik und Tragik entspricht ein ständiges Schwan- ken des Paares zwischen Annäherung und Abstoßung. So deutet sich bereits in der Hochzeitssequenz die Liebestragödie an, die im weiteren Verlauf der Handlung zunehmend in den Vordergrund rückt. Akin nutzt die unterschiedlichsten ästhetischen Verfahren, um diese Widersprü- che besonders wirkungsvoll in Szene zu setzten. Im Folgenden einige Beispiele: Schärfe / Unschärfe: Auf dem Standesamt wird die Fremdheit des Paares durch ein Wechselspiel von Schärfe/Unschärfe inszeniert (siehe Analyse Abb. 5). 19 «Soll ich Dich jetzt küssen oder was?» fragt Cahit Sibel direkt nach seiner Ankunft bei der Hochzeitsgesellschaft. «Du falsche Fotze» ist sein Kommentar zu Sibels Wunsch, den rituellen Hochzeitstanz vor den Gästen vorzuführen. 166 pauleit_korrektur4.indd 166 06.11.2008 13:21:02 Perspektivenwechsel Dekor, Kostüm und Mienenspiel: Cahit tritt am Anfang der Hochzeitsse- quenz zwar festlich gekleidet, aber mit finsterer Miene und Bierdose in der Hand aus der graffitibeschmierten Tür seines Hauses (Abb. 9). Kameraperspektive und -bewegung: Durch die Vogelperspektive wird her- ausgestellt, wie Cahit als Einzelner zu der Hochzeitsgesellschaft stößt (Abb. 10). Im Flur des Standesamtes fährt die Kamera zwischen das Brautpaar, trennt dieses bildlich und setzt so den Streit der frisch Getrauten dyna- misch in Szene (siehe Analyse Abb. 6). Dialoge: Ein komisches Missverständnis: Auf Selmas Frage, ob er denn kein Deutsch verstehe, antwortet Seref scherzhaft ausweichend: «Ich möchte fünf Köfte».20 Handlung: Sibel und Cahit koksen im Hochzeitszimmer statt, wie ihnen der Bruder vorher deutlich zu verstehen gibt, der Tradition gemäß zu essen. Sibel ist am Ziel ihrer Träume angelangt, denn sie verbringt die Hochzeits- nacht mit einem anderen Mann ... Die Funktionsweise der Tragikomik soll im Folgenden an zwei Szenen der langen Hochzeitssequenz genauer aufgezeigt werden, die sich darüber hinaus auch dazu eignet, andere formale Merkmale des Films, wie die Figurenkonstellation, die In- szenierung von Beziehungen, die Farbdramaturgie sowie Kamera- und Schnitt- techniken herauszuarbeiten. 2.1.2 Sibel und ihre Familie – Wie die Kamera die Figuren im Raum zueinander in Beziehung setzt «Ich habe mich auf Hochzeiten nie wohl gefühlt. Ich hatte immer das Gefühl ei- ner kollektiven Spannung. Warum ist das Licht so hell, warum gucken sich alle so an? Warum laufen türkische Hochzeiten immer gleich ab, wie in einer Fabrik?»21 Fatih Akin Das Hochzeitsfest ist eine der wenigen Szenen, in denen die räumliche Anordnung der Figuren in einem vollständig ausgeleuchteten Raum deutlich zu sehen ist. Meist lässt die Nähe der Kamera zu den Figuren, der Einsatz von Reallicht und die Bevor- zugung von (desorientierenden) Detailaufnahmen gegenüber Establishing Shots22 den Raum in Gegen die Wand in den Hintergrund treten. 20 Seref und Selma waren ursprünglich als komisches Liebespaar im Kontrast zum tragischen Paar Sibel und Cahit geplant. Diese dramaturgische Idee wurde aber im Schnitt fallen gelassen. 21 Interview mit Fatih Akin: Daniel Bax: «Ey, das ist nur eine Geschichte». In: die tageszeitung, 01.03.2004. 22 Bereits die erste Szene des Films (nach dem Auftritt der türkischen Folkloregruppe) startet beispielsweise mit Detailaufnahmen von Deckenflutern. Die Szene im Wartezimmer, nach Ca- 167 pauleit_korrektur4.indd 167 06.11.2008 13:21:02 Bettina Henzler und Stefanie Schlüter Die Funktion dieser Rauminszenierung der türkischen Hochzeit lässt sich im Unterricht gut anhand einer Zeichnung veranschaulichen, die den Raum in der Aufsicht zeigt. Indem dort die Positionen der Figuren und Kameras mit ihren verschiedenen Aufnahmewinkeln eingezeichnet werden, lässt sich die Auflösung, d.h. Zergliederung der Szene und des Raumes in verschiedene Einstellungen, die Anordnung der Figuren zueinander und die Inszenierung ihrer Blicke durch die Kamera sehr plastisch vor Augen führen. Ein solches Verfahren lenkt zudem die Aufmerksamkeit auf den Produktionsprozess: Nicht nur das fertige Bild, sondern die Art und Weise wie es ensteht, kann so reflektiert werden. Laut Bergala ist eine Analyse des Schaffensprozesses für ein tieferes Verständnis des Films grundlegend und kann einen späteren Schritt in die eigene filmische Praxis vorbereiten. Analog der folgenden Analyse der Szene in zwei Teilen (Teil 1 Streit vor dem Tanz, Teil 2 Blickwechsel Sibel-Eltern während des Tanzes) bietet es sich an, zwei getrennten Zeichnungen zu erarbeiten. Dabei hat es sich als sinnvoll erwiesen, die Grundzüge des Raumes (Position des Sängers, Tür, Anordnung der Tische, Po- dest des Brautpaares) am Anfang vorzugeben und gemeinsam die Figuren und die Kamerapositionen einzuzeichenen, um im Einzelnen die jeweilige Wirkung und Funktion der Anordung zu diskutieren. Im Folgenden soll dies anhand einer zu- sammenfassenden Analyse geschehen, die sich im Unterricht immer wieder an das Schaubild rückbinden lässt. Die Szene im roten Festsaal beginnt mit einer Einstellung auf den Sänger, der den Tanz des Brautpaares ankündigt. Von dort ausgehend gibt ein langsamer, kreisför- miger Kameraschwenk den Blick auf den Raum frei. Man sieht Personen zu einer Tür hereinkommen und rundum an Tischen angeordnet die Hochzeitsgäste. Erst ganz am Ende gerät auch das Brautpaar auf dem rotweißen thronartigen Podest in den Fokus der Kamera. Entgegen der Ankündigung des Sängers bleibt dem Zu- schauer der Blick auf das Brautpaar zunächst vorenthalten. Stattdessen hört man es auf der Tonebene streiten: Sibel bittet Cahit zu tanzen, er weigert sich. Mit dieser Diskrepanz zwischen Bild- und Tonebene23 wird ein komischer Wi- derspruch inszeniert: Der festlichen, erwartungsvollen Hochzeitsgesellschaft im Bild (Schein) steht die «reale» Paarbeziehung, die Ablehnung des Rituals durch Cahit im Ton (Sein) kontrastierend gegenüber. Zudem wird eine räumliche An- ordnung präsentiert, die die Situation des Brautpaares charakterisiert. Sie sind den Erwartungen einer kulturellen Gemeinschaft «ausgesetzt», deren Traditionen sie hits Selbstmord wird durch Detailaufnahmen von Notausgangsschildern eingeleitet. 23 Dies wird erreicht durch eine unterschiedliche Positionierung von Kamera und Mikrophon: Während die Kamera den Raum in der Totalen aufnimmt, erfasst das Mikrophon das Braut- paar in einer Nahaufnahme. 168 pauleit_korrektur4.indd 168 06.11.2008 13:21:03 Perspektivenwechsel erfüllen sollen, ohne dass sie diese teilen. Die Blicke der Anderen zwingen sie förm- lich zum gemeinsamen Tanz. Nach einer halbnahen Aufnahme des streitenden Brautpaars (Abb. 7) geht die Kamera auf Distanz, um auch die beiden Trauzeugen ins Bild zu rücken, die links und rechts daneben sitzen und zu vermitteln versuchen. Diese optische «Brücken- funktion» entspricht der Rolle, die ihnen im Film zukommt: Der alleinstehende Seref, Cahits einziger Freund, und die emanzipierte Selma, Sibels Istanbuler Cou- sine, stellen als einzige Vertraute eine Verbindung zu der türkischen Gemeinschaft her und werden dem Paar auch nach der Katastrophe beistehen. Als das Paar schließlich widerwillig die Tanzfläche betritt, zieht sich die Kamera kurzzeitig zurück und filmt die Tanzenden aus der Perspektive der Hochzeitsgäste. Der zweite Teil der Tanzszene zeigt einen stummen Blickwechsel zwischen der tanzenden Sibel und ihren Eltern. Er wird in einer Kombination von Schuss-Ge- genschussverfahren und Kamerafahrt inszeniert. Zunächst ist die ernst blickende Abb. 11–16 (v. l. n. r.): Sibel und ihre Eltern: Blicke sagen mehr als Worte ... 169 pauleit_korrektur4.indd 169 06.11.2008 13:21:10 Bettina Henzler und Stefanie Schlüter Sibel zu sehen, es folgt der Gegenschuss auf den ebenfalls ernsten Vater, der an einem Tisch unter den Hochzeitsgästen sitzt, verbunden mit einer leichten Kame- rafahrt weg von ihm. Danach folgt ein Schnitt auf die allein am Eingang stehende Mutter, der sich die Kamera in einer leichten Fahrt nähert, bevor im Gegenschuss wieder Sibel gezeigt wird, die sich mittlerweile einmal um ihre Achse gedreht hat. Abschließend erneut ein Schnitt auf das sorgenvolle Gesicht der Mutter, jetzt in einer halbnahen Einstellung. Die Kamera fährt die Achse zwischen den Personen (Vater – Sibel – Mutter) ab und nimmt dabei den Blick von der meist in halbnaher Einstellung zu sehenden Sibel auf. In diesem stummen Dialog mit Blicken scheint das zur Sprache zu kommen, was hinter der prachtvollen Feier verborgen liegt: Dass Sibel nicht aus Liebe heiratet, sondern um sich dem Einfluss ihrer Eltern zu entziehen und ihr eigenes Leben zu leben. Die anfangs komische Situation kippt an dieser Stelle ins Tragische (Abb. 11–16). Die Bewegung der Kamera, die den Gefühlen Sibels zu folgen scheint, führt vom Vater weg hin zur Mutter. Während der Vater als Teil der türkischen Commu- nity präsentiert wird, steht die Mutter hervorgehoben durch ihr rotes Kleid und durch eine auf sie weisende Naheinstellung isoliert. Dies kann als Kommentar auf die Situation der Frau innerhalb einer patriarchalisch geprägten Kultur gelesen werden, oder wie ein Fingerzeig auf die Entwicklung der Handlung: Der Vater, als «Vertreter des Gesetztes», wird Sibel später verstoßen, die Mutter wird versuchen, dies zu verhindern. Sibel steht räumlich und symbolisch zwischen den beiden. In diesem Zusammenhang ist auch die Farbsymbolik bedeutsam. Die das Dekor des Festsaals dominierende Farbe Rot verbindet die beiden Frauen miteinander – Sibel trägt an ihrem weißen Brautkleid einen rotes Bändchen, traditionelles Zeichen ihrer Jungfräulichkeit – und setzt sie in Kontrast zu den schwarzen Anzügen der an- wesenden Männer. Schwarz-weiß-rot sind die Farben mit denen der Film auf dem Plakat angekündigt wird, sie prägen die Gestaltung der Liebestragödie: Schwarz, Farbe der Todessehnsucht, kleidet vor allem Cahit zu Anfang es Films; in der zwei- ten Hälfte dann auch Sibel, als sie die verzweifelt-destruktive Haltung Cahits über- nommen hat. Weiß, traditionell die Farbe der Unschuld, wird von Akin in der ersten Hälfte des Filmes ironisch Sibel, der «falschen Unschuld», zugeordnet. Das Rot der Frauen und des Blutes steht für Liebe und Leiden, Leidenschaft und Lebenswillen. Mit der Inszenierung des Raumes und der Blicke durch die Kamera gelingt es Akin, der eingangs erwähnten «kollektiven» Spannung Ausdruck zu verleihen und zugleich komprimiert die Figurenkonstellation und die zentralen Konfliktlinien zwischen Individuum, Familie und kultureller Gemeinschaft herauszustellen. Die Inszenierung der Blicke, als Indikator für menschliche Beziehungen, ist ein wesent- liches ästhetisches Merkmal des Films: Auch die Liebe zwischen Cahit und Sibel wird sich zunächst über Blicke anbahnen. 170 pauleit_korrektur4.indd 170 06.11.2008 13:21:10 Perspektivenwechsel 2.1.3 Wie durch die Montage Gefühle vermittelt und Figuren charakterisiert werden Die Szene in Cahits Wohnung beginnt, wie bereits bei der Analyse von Abb. 8 he- rausgestellt wurde, mit einem parodistischen Spiel mit den Hochzeitskonventio- nen: Cahit trägt Sibel über die Schwelle. Im Kontrast zu der vorangehenden Szene im Hochzeitsfest fallen die Unordnung, die Dunkelheit und Schatten auf, die den Raum authentischer erscheinen lassen. Akin arbeitet hier, wie in den meisten Sze- nen, mit realen Lichtquellen. Der Raum wird nicht mit zusätzlichen Scheinwerfern ausgeleuchtet und ist nur schemenhaft erkennbar. Die Kamera bleibt nahe an den Figuren, deren Dialog im Schuss-Gegenschussverfahren gezeigt wird. Der Stimmungsumschwung von Komik zu Tragik erfolgt schnell und heftig. Als Sibel – die auf dem Standesamt erfahren hat, dass Cahit Witwer ist – ihn hier nach dem Namen seiner verstorbenen Frau fragt, wird sie von ihm erst mit einer Bierdose beworfen und dann aus der Wohnung geschmissen. Auf Sibels Annäherung erfolgt die sofortige Abstoßung. Schnelle Schnitte in Kombination mit einem plötzlichen Schwenk, der die Bewegung Cahits zur Tür hin aufnimmt, betonen die Heftigkeit. Nachdem Sibel die Tür zugeschlagen hat, bleibt Cahit in sich zusammengesun- ken an den Türrahmen gelehnt zurück, man sieht sein Profil in Nahaufnahme. Sein differenziertes Mienenspiel und ein Jump Cut24 in dem Moment als er den Namen Katharina ausspricht verleihen dem Augenblick eine besondere Intensität. Akin setzt die irritierende, dynamisierende, diskontinuierliche Wirkung des «springen- den» Schnitts in Gegen die Wand systematisch für die Charakterisierung Cahits ein. Die Jumps Cuts, die in dieser Szene bereits zu Anfang zu sehen sind, verleihen seiner Impulsivität und Widersprüchlichkeit Ausdruck und übertragen seine erup- tiven Gefühle auf den Zuschauer. Dass Cahit durch die Liebe zu Sibel auch die Freude am Leben wiederfindet, äußert sich im Verzicht auf schnelle Schnitte. Die Liebe der beiden wird in langen, ungeschnittene Einstellungen festgehalten, Cahits Warten in Istanbul mit dem Mit- tel der Überblendung spürbar gedehnt. Steht der Jump Cut, mit dem Cahit bereits in der Selbstmordszene am Anfang eingeführt wird, für die Verzweiflung und kul- turelle Entwurzelung der Figur, so findet mit seiner zunehmenden Reifung auch die Form zur Ruhe. Mit dem tragikomischen Wechselspiel von Schein und Realität in der Hoch- zeitssequenz inszeniert Akin die Identitätskonflikte der beiden Protagonisten, die im Spannungsfeld von Werten der türkischen Kultur und den Freiheitsansprüchen 24 Jump Cut (engl. «springender Schnitt»): Aus einer längeren, kontinuierlich gedrehten Auf- nahme werden Stücke herausgeschnitten und so die Aufnahme in mehrere Einstellungen zer- gliedert. Die Schnitte zwischen den Einstellungen wirken springend, weil sich die Perspektive nicht ändert. Der Jump Cut, im Spielfilm erstmals von Jean-Luc Godard in Ausser Atem (A bout de souffle) (1959) als Bruch mit der filmischen Konvention des «unsichtbaren Schnitts» eingesetzt, gehört heute zu den gängigen Mitteln des Erzählkinos. 171 pauleit_korrektur4.indd 171 06.11.2008 13:21:10 Bettina Henzler und Stefanie Schlüter der deutschen Gesellschaft entstehen: Auf der Suche nach einem Kompromiss zwischen Tradition und individueller Selbstverwirklichung verstrickt sich Sibel in unauflösbare Widersprüche, während Cahits völlige Ablehnung seiner kulturellen Wurzeln ein wesentlicher Grund für seine selbstzerstörerische Einsamkeit ist. Aus dem zunächst scheinbar souveränen Spiel mit den Identitäten und Konventionen wird Ernst, als sich die beiden ineinander verlieben. Wenn Sibel sich ihren Ex-Ge- liebten mit den Worten: «Ich bin eine türkische Frau und wenn Du mir zu Nahe kommst, bringt mein Mann Dich um» vom Leib hält und Cahit in tragischer Er- füllung des Dahingesagten diesen tatsächlich totschlägt, fallen die beiden ungewollt in die von ihnen abgelehnten Verhaltensmuster zurück. Sie werden zum Klischee nicht nur der türkischen Gemeinschaft, deren Ehrauffassung durch das Verhalten von Cahit bestätigt wird, sondern auch einer deutschen Öffentlichkeit, deren Mei- nung von Schlagzeilen der Boulevardzeitungen bestimmt wird: Die tragische Lie- besgeschichte wird zum «Eifersuchtsdrama in St. Pauli».25 2.2 ANGST ESSEN SEELE AUF als melodramatisches Lehrstück – Die Eröffnungssequenz 2.2.1 Wie eine Gesellschaft Ausschluss produziert In der ersten Sequenz26 von Angst essen Seele auf wird expliziter noch als in der Hochzeitssequenz die gesellschaftliche Dimension der Liebesbeziehung zwischen Emmi und Ali herausgestellt, denn hier zeigt der Film die gesellschaftlichen Aus- schluss-Mechanismen im Vollzug. Vor diesem Hintergrund ließe sich die Hochzeits- sequenz des Films bereits als Effekt der Ausgrenzung verstehen: Ein Paar, das sich über Konventionen hinwegsetzt, begibt sich in die Isolation. Die Isolation stand auch in Fassbinders Film Fontane Effi Briest im Zentrum der Inszenierung: «Über die Einhaltung [der sozialen Normen] wacht die Umwelt. Die Verletzung der Ordnung wird durch Sanktionen bestraft: durch Ausschluß aus der Gemeinschaft.»27 25 So der Titel des Leitartikels einer Boulevard-Zeitung, mit dem das Geschehen kommentiert wird. Akins durchaus kritische Haltung gegenüber der deutschen Gesellschaft und ihrer Li- beralität zeigt sich in der Mordszene: Die Eskalation der Situation scheint auch durch die eigenartige Gleichgültigkeit bedingt, mit der die Anwesenden auf die chauvinistischen Provo- kationen und Beleidigungen von Niko reagieren. Eingegriffen wird erst, als es zu spät ist. 26 Fassbinders Film ist wie ein Theaterstück in Szenen geschrieben und inszeniert, daher wäre der Begriff der Szene, verstanden als Einheit von Raum und Zeit, zutreffender als der der Sequenz. Die Dialoge des Films sind abgedruckt in: Rainer Werner Fassbinder: Angst essen Seele auf. In: Michael Töteberg (Hrsg.).: Fassbinders Filme. Bd. 3. Frankfurt am Main 1990. S. 52-96. 27 Michael Töteberg: Rainer Werner Fassbinder. Reinbek bei Hamburg 2002. S. 73-86: S. 86. Die Entstehung der Filme Angst essen Seele auf und Fontane Effi Briest überschneidet sich zeitlich. Mit der Arbeit an Fontane Effi Briest hat Fassbinder 1972 begonnen; der Film wird nach einjähriger Unterbrechung 1974 fertiggestellt. 172 pauleit_korrektur4.indd 172 06.11.2008 13:21:10 Perspektivenwechsel Abb. 17–20: Emmi betritt die Kneipe: Show-Down der Blicke Anhand der Analyse der ersten Sequenz aus Angst essen Seele auf werden auf formeller Ebene auch Korrespondenzen zu den filmischen Verfahren erkennbar, die in Akins Hochzeitsinszenierung zur Anwendung kommen. Methodisch gespro- chen heißt dies: Filmausschnitte lassen sich nicht nur miteinander vergleichen, wenn sie motivische Ähnlichkeiten aufweisen, sondern auch, wenn sich stilistische Vergleichspunkte finden lassen.28 2.2.2 Trennende Schnitte, verbindene Bewegungen Am Anfang der Sequenz betritt Emmi allein eine Gastarbeiterkneipe, in der auslän- dische Männer und junge deutsche Frauen versammelt sind und in der arabische Musik aus der Musikbox tönt. Schon die räumliche Anordnung lässt erkennen, wie Fassbinder hier eine Miniaturgesellschaft inszeniert, in der Emmi als die älteste Person zur Außenseiterin wird: Auf der einen Seite des Raums sind wie in einem Gruppenbild mehrere jüngere Menschen am Tresen versammelt, auf der anderen Seite steht Emmi allein, unsicher an der Kneipentür. Der schlauchförmige Raum 28 Bergala zufolge lassen sich zwischen Filmausschnitten «Beziehungen aller Art – analytische, poetische, den Inhalt oder die Form betreffende» herstellen. Bergala, S. 84. 173 pauleit_korrektur4.indd 173 06.11.2008 13:21:12 Bettina Henzler und Stefanie Schlüter wird in seiner Tiefe inszeniert, die eine große Distanz zwischen den Figuren schafft. Auch die Kamera muss diese Distanz zu Emmi überwinden: Über mehrere Tische hinweg nimmt sie Emmi aus der Totalen ins Visier. Hier wird, wie auch in der Analyse der Filmstills deutlich wurde, dem Zuschauer die Rolle des unbeteiligten Beobachters zugewiesen, der Einsicht in die Verhältnisse erlangen soll. Charakteristisch für die Sequenz ist der Austausch von Blicken zwischen verschie- denen Figuren, der in Schuss-Gegenschuss mit teilweise auffällig langen Einstellungen aufgelöst wird, sodass die Blicke förmlich an ihren Objekten haften bleiben. Die über- wiegend statischen Kameraeinstellungen, die reglos wirkenden Figuren und ihre einge- frorenen Mienen haben eine verfremdende Wirkung. Der hier dargestellte Austausch von Blicken schafft statt einer kommunikativen Situation eine konfrontative: Die Schuss- Gegenschuss-Montage lässt im buchstäblichen Sinn an einen Show-Down denken. Gegen diese starren, exkludierenden Blickkonstellationen setzt Fassbinder einen bewegten Blickaustausch, der eine Verbindung zwischen zwei Figuren knüpft: Wenn die Wirtin Barbara zu Emmi an den Tisch geht, folgt die Kamera nicht ihrer Bewegung, sondern bleibt bei den beiden Männern an der Theke und fährt langsam, nah an Ali heran: Während die Kamera Ali fokussiert, nimmt dieser wiederum Emmi ins Visier. Es folgt ein Umschnitt auf Emmi, die sich an ihrem Tisch mit der Wirtin über die fremd- artige, arabische Musik unterhält, die aus der Musikbox tönt. Wie zuvor auf Ali fährt die Kamera nun langsam auf Emmi zu, bis sie allein und nah im Bild ist. Der kurze Dialog zwischen Emmi und Barbara endet mit einem abschließenden Blick Emmis zu Ali. Mit diesen beiden akzentuierten Kamerafahrten und dem wechselseitigen Blickaustausch wird die Beziehung der Protagonisten angebahnt. Wie bei Fassbinders Vorbild, dem Melodramen-Regisseur Douglas Sirk, für den die Kamera «wichtigstes Stilelement» des Films war, dient auch die Bewegung der Kamera in Angst essen Seele auf der Inszenierung von Gefühlen: «Motion is emotion».29 In ganz ähnlicher Weise erzählt die Kamera auch in Fatih Akins Hochzeitsinszenierung durch zwei akzentuierte Fahrten die emotionale Beziehung zwischen Sibel und ihren Eltern (siehe: 2.1.2). Im weiteren Verlauf der Sequenz knüpft Fassbinder noch stärker an den Stil des amerikanischen Melodramas an, indem er die sich anbahnende Liebe zwischen Emmi und Ali nun explizit ins Bild setzt. Eine junge Frau wird zur unfreiwilligen Kupplerin zwischen den beiden, als sie Ali mit den spöttischen Worten «Was is – willst nicht mal mit der Alten tanzen?»30 zu Emmi schickt. Daraufhin fordert Ali Emmi zum Tanz auf. Die beiden gehen zur Tanzfläche und beginnen, sich langsam im Takt des deutschen Lieds «Du schwarzer Zigeuner»31 wiegend zu tanzen. Diese Szene wird weniger stark 29 Vgl. Töteberg 2002, S. 82f. 30 Zitiert nach: Fassbinder 1990, S. 55. 31 Das populäre Tanzstück ist 1932, gesungen von Paul Dorn, in Berlin für Woolworth Deutschland aufgenommen und verschiedentlich gecovert worden, etwa 1953 von Vico Torriani: www.youtu- be.com/watch?v=ao4qZuGeAhI (10.06.08). 174 pauleit_korrektur4.indd 174 06.11.2008 13:21:12 Perspektivenwechsel Abb. 21–24 : Emmi und Ali: Das Paar findet im ersten Tanz zusammen als der Filmanfang durch die Montage zergliedert. Vielmehr sind die Tanzenden nun längere Zeit zusammen im Bild zu sehen. Auch die zunächst distanzierte Kameraein- stellung, bei der die Sicht auf das Paar durch eine ins Bild ragende Musikbox verstellt wird, ersetzt Fassbinder nach kurzer Zeit durch eine Nahaufnahme. In Emmis und Alis erster Liebesszene ist das Paar in rotes Licht gehüllt, das gewissermaßen einen Raum im Raum schafft und die beiden gegen feindselige Blicke immunisiert. Text und Melodie des Tanzstücks «Du schwarzer Zigeuner» lassen sich in verschiedene Richtungen deuten: Hinter dem rassistischen Titel, der sich auf das ausgrenzende Verhalten der umstehenden Figuren wie auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft ins- gesamt beziehen ließe, verbirgt sich ein melancholisches «Lied von Lieb und Leid», das auf Emmis und Alis Situation wie auf das Genre des Melodramas verweist. Der Dialog, den Emmi und Ali in der Tanzszene führen, steht in enger Korrspondenz dazu: Indem sie einander ihre Einsamkeit mitteilen, teilen sie auch ihr Leid; und schließlich stiftet das geteilte Leid die Liebesbeziehung zwischen den beiden. In der Tanzszene kommen Stilmittel des Melodramas zur Anwendung, die ei- nen Liebesdiskurs suggerieren: Farb- und Lichtdramaturgie, nostalgische Musik, Bewegungen im Bild – im Kontrast zur versteinert dastehenden Figurengruppe –, Nahaufnahmen statt Totalen, emotionale Dialoge. Auch die dargestellte Grund- 175 pauleit_korrektur4.indd 175 06.11.2008 13:21:15 Bettina Henzler und Stefanie Schlüter konstellation, die Inszenierung einer «unmöglichen Liebe»32 zwischen zwei Außen- seitern, verweist auf das Genre des Melodramas. Nach der Tanzszene knüpft Fassbinder wieder an die verfremdende Inszenie- rungsweise vom Beginn der Sequenz an: Aus einer Distanz schaffenden Totalen ist zu sehen, wie Emmi und Ali nun als Paar die Theke passieren, wo sie den Blicken der anderen Figuren ausgesetzt sind.33 Auf diese Weise wird der gesellschaftliche Spießrutenlauf vorausgedeutet, dem die beiden nach der Hochzeit ausgesetzt sein werden. Die Ausgrenzung richtet sich jetzt nicht mehr allein gegen Emmi, sondern gegen das Paar Emmi und Ali. Vor den bohrenden Blicken der anderen schützt sie sich, indem sie jetzt mit dem Rücken zu ihnen platznimmt. Die Kamera ist nun bei der Tür positioniert und zeigt das Paar in Nahaufnahme, während die anderen Figuren in der Tiefe des Raums zu sehen sind. Gegenüber dem Anfang der Sequenz bedeutet diese Neupositionierung der Kamera eine Umkehrung der Blickrichtung: Die unmögliche Liebesbeziehung ist eine Möglichkeit geworden. Die Sequenz en- det damit, dass Emmi und Ali zusammen die Kneipe verlassen. Das Schlussbild zeigt in einer langen Einstellung, wie die Wirtin einen missbilligenden Blick in Richtung Kneipentür wirft. In der Inszenierung des Filmanfangs spiegeln sich zwei stilistische Spielarten wider, die den Stil des gesamten Films repräsentieren. Fassbinder verknüpft in Angst essen Seele auf zwei einander zuwiderlaufende ästhetische Konzepte, die sich, zugespitzt formuliert, als analytisch-distanzierend und emotional-aufladend beschreiben lie- ßen. Anfang und Ende der ersten Sequenz zeichnen sich durch eine verfremdende Inszenierung aus, die der Brechtschen Theatertradition nahe steht. Durch die Insze- nierung von Blicken führt Fassbinder in beinahe lehrstückhafter Weise vor, wie gesell- schaftlicher Ausschluss produziert wird. Dagegen wird die emotionale Annäherung zwischen Emmi und Ali in der Tanzszene, die im Zentrum der ersten Sequenz steht, nach dem Vorbild des amerikanischen Melodramas von Douglas Sirk inszeniert. 2.2.3 Melodrama und Utopie Die Umkehrung der Blickrichtung, die in der ersten Sequenz aus Angst essen Seele auf ins Bild gesetzt wird, vollzieht sich in den 1970er Jahren in Fassbinders Schaffen überhaupt. Eine Retrospektive mit Filmen von Douglas Sirk, die Fassbin- 32 «Das ist ein Film über die Liebe, die eigentlich unmöglich ist, aber eben doch eine Möglichkeit.» Fassbinder über Angst essen Seele auf zitiert in: Robert Fischer und Joe Hembus: Der Neue Deutsche Film 1960-1980. Mit einem Vorwort von Douglas Sirk.München 1981. S. 89-91: 89. 33 Um die Stilmittel der Verfremdung genauer in den Blick zu nehmen, sollten auch Schauspiel und Dialog stärker in die Analyse einbezogen werden: z.B. typisierte Figurenzeichnungen und Dialoge, wenn beispielsweise Emmi zu Ali sagt: «Ich habe auch viel Arbeit. Arbeit ist das halbe Leben.» Töteberg, 1990, S.56. 176 pauleit_korrektur4.indd 176 06.11.2008 13:21:15 Perspektivenwechsel der 1970 im Münchner Filmmuseum gesehen hatte, beeinflusste ihn nachhaltig: «Wurde früher der Kleinbürger mit grimmigem Humor entlarvt, so zeichnete Fass- binder jetzt die Menschen mit Liebe und Sympathie.»34 In Angst essen Seele auf werden die Figuren Emmi und Ali mit der gleichen «Zärtlichkeit»35 inszeniert, die Fassbinder an Sirk so bewunderte. Dagegen wird das gesellschaftliche Umfeld des Paares verfremdet dargestellt, um dem Zuschauer eine Einsicht in die Mechanismen der Ausgrenzung durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft zu vermitteln. In einem Interview, das vor den Dreharbeiten zu Angst essen Seele auf geführt wurde, verknüpft Fassbinder seine gesellschaftskritische Perspektive mit einer utopischen. Vor dem Hintergrund dieser Aussagen wird auch die Wahl der inszenatorischen Mittel – die Verbindung Brechtscher Verfremdung, die Fassbinders früherem In- szenierungsstil näher steht, mit dem Sirkschem Melodrama – nachvollziehbar: «Ich könnte mir halt vorstellen, dass die Filme, die ich künftig fürs Kino drehe, nicht mehr ganz so pessimistisch sind. Ich hab da zum Beispiel Stoff für einen Film, eigentlich eine Tragödie, aber dahin darf sich der Film nicht entwickeln: Es handelt sich um eine ältere deutsche Frau, die um die sechzig ist, und einen jungen türkischen Gastarbeiter. Die heira- ten, und eines Tages wird sie ermordet. Man weiß nicht, wer der Mörder ist, ob es ihr Mann war oder einer seiner türkischen Kollegen. Ich hab die Geschichte schon einmal in einem Film verwendet, sie wird nämlich in einer einzigen langen Einstellung, wo das Mädchen auf dem Bett sitzt, erzählt. Aber ich will die Geschichte nicht so erzählen, wie sie stattgefunden hat. Ich will dem jungen Türken und der alten Deut- schen die Möglichkeit geben zusammenzuleben. Früher hätte ich die Geschichte sicher so erzählt, wie sie eigentlich ist, nämlich, dass die alte Frau stirbt, weil die Gesellschaft nicht zulässt, dass eine alte Frau und ein junger Gastarbeiter zusammenleben. Aber jetzt geht es mir darum zu zeigen, wie man sich wehren kann und es trotzdem irgendwie schafft. Heute glaub ich eher, dass man, wenn man diese deprimierenden Ver- hältnisse nur reproduziert, sie damit verstärkt. Deshalb sollte man eher die herrschenden Verhältnisse so durchschaubar darstellen, dass sie be- wusst werden, und zeigen, dass sie überwunden werden können.»36 34 Töteberg: 2002. S. 75f. 35 Töteberg: 2002. S. 75f. Zum Verhältnis Fassbinders zu Sirk siehe auch: 4.1. 36 Christian Braad Thomsen: Die Ästhetik der Hoffnung. Rainer Werner Fassbinder über Die bitteren Tränen der Petra von Kant, Acht Stunden sind kein Tag, Welt am Draht und ein Projekt, aus dem Angst essen Seele auf werden wird. In: Robert Fischer (Hrsg.): Fassbinder über Fassbinder. Die ungekürzten Interviews. Frankfurt am Main 2004. S. 257-265: S. 263f. Fassbinder hatte die Geschichte von Emmi und Ali bereits in seinem Film Der ameri- kanische Soldat (1970) erzählen lassen. 177 pauleit_korrektur4.indd 177 06.11.2008 13:21:16 Bettina Henzler und Stefanie Schlüter 3. Der Verstoß aus der Familie – Ein Sequenzvergleich Neben der Hochzeit ist der Verstoß aus der Familie ein weiteres, für die Dramatur- gie wesentliches Motiv in beiden Filmen. Bezeichnenderweise ahnden sowohl die türkische Gemeinschaft in Gegen die Wand als auch die deutsche Gesellschaft in Angst essen Seele auf den Tabubruch mit einem Verstoß der Frau. Begründet wird dies in beiden Fällen mit dem Verlust der Ehre: «Das hättest du nicht tun dür- fen, Mutter. Das nicht. Diese Schande das... Jetzt musst du vergessen, daß du Kinder hast. Ich will mit einer Hure nichts mehr zu tun haben.»37, sagen Emmis Kinder, bevor sie die Mutter wegen ihrer Eheschließung mit Ali verlassen. «Wir mussten unsere Ehre retten», begründet Sibels Bruder gegenüber Cahit den Verstoß Sibels durch den Vater, nachdem ihr Ehebruch durch den Tod ihres Ex-Geliebten publik wird. Ausschlussmechanismen gibt es offenbar in jeder Gesellschaft. Ein Vergleich dieser beiden motivgleichen Sequenzen eignet sich, um die sti- listischen und formalen Unterschiede beider Filme und die sich darin äußernde unterschiedliche Haltung der Regisseure zu ihrem Sujet herauszustellen. Auch Ber- gala schlägt in «Kino als Kunst» vor: « [...] eine Filmsequenz einer anderen Sequenz aus einem anderen Film gegenüberzustellen, besonders, wenn sie ästhetisch und historisch sehr weit auseinanderliegen.»38 3.1. Wie inszenieren beide Regisseure das gleiche Motiv? Der auffälligste Unterschied beider Sequenzen betrifft die Tonebene. Während Fass- binder ausschließlich mit Dialogen und realer Atmo arbeitet und keine Musik ein- setzt, verzichtet Akin auf Geräusche und Dialoge, bei ihm gibt die Musik den Ton an: So beginnt die Sequenz demonstrativ mit einer Detaileinstellung auf eine Hand, die eine CD einlegt, gefolgt von einer Großaufnahme auf das weinende Gesicht Si- bels. Melancholische türkische Popmusik gibt die Stimmung vor, sie wird zunächst als On-Musik der Trauer Sibels zugeordnet, um dann aus dem Off die gesamte Se- quenz zu untermalen und zu dramatisieren. Dieser Umgang mit Musik ist für beide Filme charakteristisch: Fassbinder setzt sehr sparsam und gezielt, neben einem wie- derkehrenden Liebesmotiv für Emmi und Ali vorwiegend im Handlungsraum ver- ortete Musik ein. Akin bedient sich dagegen einer Fülle verschiedener musikalischer Stilrichtungen (im On und im Off), um die Figuren zu charakterisieren und ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen: Punkrock und Gothic für Cahit, (türkischer) Pop für Sibel, traditionelle türkische Arabeskmusik oder Soul für die Liebe usw. Die Reduktion der Tonebene auf die Musik in der Verstoß-Sequenz bewirkt zudem eine Loslösung von linearen raum-zeitlichen Zusammenhängen und eine collagear- 37 Fassbinder 1990, S. 73. 38 Bergala 2006, S. 88 178 pauleit_korrektur4.indd 178 06.11.2008 13:21:16 Perspektivenwechsel Abb. 25–36 (v. l. n. r.): Der Verstoß Emmis: Theaterhafte Distanzierung tige Verdichtung des Geschehens. Mit der emotionalen und formalen Klammer der Musik führt Akin auch zwei parallele Handlungsstränge in extremer zeitlicher Raf- fung zusammen: Sibels erneuten Selbstmordversuch und den Verstoß durch den Va- ter, die in der abschließenden Verfolgung Sibels durch den Bruder zusammengeführt werden.39 Dieser Heterogenität von Handlung, Ort und Zeit in Gegen die Wand, steht in Angst essen Seele auf eine an die Theatertradition erinnernde konsequen- 39 Folgende Handlungseinheiten und Orte werden zusammengführt: Sibels Trauer, ihr erneuter Selbstmordversuch und die anschließende «Heilung» (Wohnung, Krankenhaus); die Infor- mation des Bruders über eine Boulevard-Zeitung (Abeitsplatz), die Trauer der Familie, der Verstoß durch den Vater, den die Mutter zu verhindern versucht (Wohnung der Familie), schließlich die Verfolgung Sibels durch den Bruder (Straße vor Sibels Haus). 179 pauleit_korrektur4.indd 179 06.11.2008 13:21:22 Bettina Henzler und Stefanie Schlüter te Einheit gegenüber: Emmi hat ihre Kinder bei sich zu Hause versammelt, stellt ih- nen ihren neuen Mann vor und wird infolgedessen beschimpft und verlassen. Dieser Konzentration auf eine Einheit der Handlung entspricht in Angst essen Seele auf auch eine konsequente Reduktion der kamera- und schnitttechnischen Mittel. Wie in der Eingangssequenz des Films wird die Situation als Konfrontation im Schuss-Gegenschussverfahren inszeniert, wobei Fassbinder in einer eindrückli- chen Abwandlung des «Overshoulder-Shots» Emmi und Ali immer im Bild behält: Ihre oder seine Hand «rahmen» von links die Aufnahmen der sitzenden Kinder, als wolle Fassbinder betonen, dass sich die beiden Parteien nicht «auf Augenhöhe» begegnen. Wie bereits bei der Analyse der Filmstills erarbeitet wurde, filmt die Ka- mera das Geschehen meist aus der Distanz. Es dominieren unbewegliche, halbnahe bis halbtotale Einstellungen.40 Sogar als Emmi am Ende weinend auf das Sofa sinkt, wird dies diskret, fast unbeteiligt aus einer Totalen gefilmt. Die Großaufnahme, die üblicherweise eingesetzt wird, um den Gefühlen der Figuren Ausdruck zu verleihen und eine identifikatorische Nähe herzustellen, ver- wendet Fassbinder nur einmal, mit einer verfremdenden Wirkung: Indem die Ka- mera langsam die versteinerten Gesichter der Kinder abfährt, um ihre Reaktion auf die Neuigkeit einzufangen, wird wie durch ein Vergrößerungsglas ihre groteske Starre und Emotionslosigkeit, Kälte und Lieblosigkeit deutlich. Bei Akin dagegen ist die Kamera ständig in Bewegung. Es wechseln lange ruhige Einstellungen (z.B. auf Sibels erneuten Selbstmordversuch) mit dynamisierenden Reißschwenks (z.B. zur Einleitung der Verfolgungsjagd) sowie die verschiedensten Einstellungsgrößen von Detailaufnahme bis zur Totalen. Großaufnahmen auf die weinenden Gesichter von Sibel und ihren Vater stellen eine starke emotionale Nähe zu den Figuren her, die in ihrer Trauer wieder vereint werden. Die Kamera begibt sich aber buchstäblich auf Distanz zu ihren Handlungen, wenn sie Sibels Selbst- mordversuch und den Streit zwischen den Eltern nur verdeckt durch einen Tür- rahmen aus einer halbtotalen Einstellung filmt.41 Detailaufnahmen dienen einer starken Emotionalisierung und Dynamisierung, aber auch einer symbolischen Deutung des Geschehens: So wird dem Zuschauer bei- spielsweise durch das plötzliche Einblenden der blutigen Rasierklinge schockartig die Grausamkeit der Handlung vor Augen geführt wird. Das darauffolgende Nähen der Wunde (ebenfalls in Detailaufnahme) erzählt nicht nur zeitlich extrem gerafft von Sibels mit einem Ortwechsel ins Krankenhaus verbundenen Rettung, sondern ver- weist explizit darauf, dass sich Sibel diesmal – zum ersten Mal – selbst rettet. Sie wird im Folgenden keinen Selbstmordversuch mehr unternehmen, sondern Cahits auto- 40 Genau genommen sind die oben beschriebenen Einstellungen eine Kombination aus Detail- aufnahme und halbtotalen bzw. halbnahen Einstellungen. 41 Akin verzichtet im ganzen Filme auf eine voyeuristische Darstellung der Gewalt. Auch die Vergewaltigung Sibels wird beispielsweise aus der Distanz gefilmt. 180 pauleit_korrektur4.indd 180 06.11.2008 13:21:22 Perspektivenwechsel Abb. 37–48 (v. l. n. r.): Der Verstoß Sibels: Collageartige Verdichtung agressives Verhalten übernehmen.42 Das in Detailaufnahme gezeigte Verbrennen von Sibels Kinderbildern durch den Vater kommt einer symbolischen Auslöschung der Tochter gleich: So wird der Verstoß Sibels in seinem identitätszerstörerischen Aus- maß wortlos verdeutlicht. 3.2. Die Gewaltverhältnisse in ANGST ESSEN SEELE AUF und GEGEN DIE WAND Die Verdichtung der Bilder und Töne in einem emotional und symbolisch intensiven Moment ermöglicht die Herstellung von Zusammenhängen, die für das Verständnis von Gegen die Wand zentral sind: Zwischen in kulturellen Ehrbegriffen latenter, vom Bruder explizit angedrohter und auch ausgeübter misogyner Gewalt auf der ei- nen und Sibels selbstzerstörerischen Verhalten auf der anderen Seite. Zwischen dem Verstoß aus der Familie, der als symbolische Vernichtung inszeniert wird, und dem Verlust ihrer sozialen Identität. So ist die z.T. exzessive Gewaltdarstellung in Gegen die Wand nicht Selbstzweck, sondern expliziter Ausdruck der gesellschaftlichen 42 Sibel beginnt exzessiv Drogen zu nehmen, wird im Rausch Opfer einer Vergewaltigung und beleidigt daraufhin in einer paradoxen Selbstbehauptung pöbelnde Männer solange, bis diese sie brutal niederstechen. 181 pauleit_korrektur4.indd 181 06.11.2008 13:21:30 Bettina Henzler und Stefanie Schlüter Gewaltverhältnisse43, die sich u.a. auch in der Gewalt der türkischen Männer gegen Cahit und Sibel äußert, und in den selbstzerstörerischen Identitätskonflikten ihrer Protagonisten, die mit ihrem individuellem Glücksanspruch buchstäblich immer wieder Gegen die Wand der realen Lebensbedingungen stoßen. In Angst Essen Seele auf taucht Gewalt dagegen in latenter Form auf. Nur in der Verstoßszene kommt es einmal zu einem in seiner Unvermitteltheit und Hilflo- sigkeit grotesken Gewaltausbruch: Er richtet sich gegen Emmis Fernseher, den ihr Sohn reichlich ungeschickt, nach mehrmaligen Anläufen eintritt. Die gesellschaft- liche Ausgrenzung führt dagegen zu Alis psychosomatischer Erkrankung, einem Magengeschwür, das der Arzt am Ende des Films explizit als Folge der erlittenen Diskriminierung erklärt. Diese Diagnose lässt sich auch auf die gesellschaftlichen «Gewaltverhältnisse» beziehen: Sie werden, dem Titel Angst essen Seele auf fol- gend, verinnerlicht, Gewalt wird als strukturelles Phänomen erkennbar. Die Kälte und Erstarrung der Mehrheitsgesellschaft spiegelt sich in der statischen ästheti- schen Form des Films wider. 3.3. Emotionale Distanzierung vs. emotionale Verdichtung Mit seiner Technik einer emotionalen Distanzierung inszeniert Fassbinder die aus- grenzenden Blicke der Deutschen auf das ungleiche Liebespaar, er übt aus der Dis- tanz Kritik an der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Akin dagegen bedient sich ei- ner Technik der emotionalen Verdichtung: Er zieht alle Register, um an die Gefühle der Zuschauer zu appellieren und den extremen Gefühlsschwankungen seiner Pro- tagonisten Ausdruck zu verleihen. So inszeniert Akin aus identifikatorischer Nähe die Identitätskonflikte seiner eigenen Generation türkischstämmiger Einwanderer: Der Film ist, wie er in einem Interview sagt, wie ein Pickel, den er sich einmal hätte ausdrücken müssen.44 Jenseits dieser fundamentalen ästhetischen und politischen Differenz haben beide Regisseure für ihre Filme Mischformen gewählt, um der Komplexität des Gegenstands gerecht zu werden: Fassbinder verbindet ein Lehrstück über die ge- sellschaftlichen Missverhältnisse mit Elementen des Melodrams, um auch für die Liebesgeschichte eine Form zu finden. Und Akin versucht durch eine Mischung zwischen Komödie und Tragödie sowie durch die Zwischenspiele einer türkischen Folkloregruppe, die wie der Chor einer griechischen Tragödie den Film in fünf 43 «Analog setzt der Film Blut ein. Er versucht, seine Geschicht über die Wunden zu vermitteln, die sich die Figuren zufügen oder die ihnen zugefügt werden. (…) rot ist die Farbe und der gewaltsam geöffnete Körper ist die Grammatik des Films.» Cristina Nord in: TAZ, 13.02.2004. Allerdings ist diskussionswürdig, ob Akin mit dieser exzessiven Gewalt gegenüber seiner Prot- agonistin nicht einer eher problematischen Bestrafungslogik folgt. 44 «Ich hab mal gesagt, Gegen die Wand zu drehen, das war wie einen Pickel auszudrücken. Der Film wollte aus mir heraus. Ganz viel an diesem Film war intuitiv.» Interview mit Fatih Akin in: TAZ, 26.09.2007. 182 pauleit_korrektur4.indd 182 06.11.2008 13:21:31 Perspektivenwechsel Akte teilen, Distanz zu seiner emotionalen Wucht herzustellen. Während in Angst Essen Seele Auf die gezielte Reduktion formaler Mittel, ihr durchgehend konse- quenter Einsatz und die fast starre Symmetrie in der Struktur auffällt, kennzeichnet Gegen die Wand das Spiel mit vielfältigen Stilrichtungen und kulturellen Einflüs- sen, eine ikonoklastische Öffnung der Formen. So besteht die Liebestragödie aus zwei Erzählsträngen mit zwei tragischen Höhepunkten: Jede der beiden Figuren er- lebt ihre Höllenfahrt, dafür gibt es am Schluss statt der Katastrophe ein versöhnli- ches Ende. Während in Angst essen Seele auf eine an die Vernunft appellierende Haltung dominiert, scheint die Form von Gegen die Wand in letzter Konsequenz von Gefühlen (der Figuren, der Zuschauer, des Autors) diktiert. In seiner Hybridi- tät ist der Film selbst Ausdruck einer Mischung der Kulturen und Identitäten. 4. Wie es zu dem zertretenen Fernseher kam – Ein motivgeschichtlicher Ausblick Mit diesem abschließenden Exkurs soll der Blick für die filmgeschichtlichen Zu- sammenhänge geweitet werden, in denen Fassbinder und Akin sich verorten las- sen. Indem die Geschichte eines wiederkehrenden Motivs in verschiedenen Filmen nachvollzogen wird, lassen sich Aussagen über das Motiv selbst treffen und Film- geschichte anschaulich erfahrbar machen. Es wird nachvollziehbar, wie Regisseure im Lauf der Filmgeschichte an Vorbilder anknüpfen, wie ein Film andere Filme im Gefolge hat. Auch Bergala schlägt vor, in der Schule «Filme als Glieder einer ganzen Kette von Werken zu betrachten», «zwischen Werken der Gegenwart und Vergan- genheit rote Fäden zu ziehen, Verbindungen zu knüpfen und auf Verwandtschaften hinzuweisen». Bildung, so Bergala, entstehe mit der «Fähigkeit, das Gemälde oder den Film, die man gerade sieht, oder das Buch, das man gerade liest, zu anderen Gemälden, Filmen und Büchern in Beziehung zu setzen.»45 Die Methode, eine Ket- te von Beziehungen zwischen unterschiedlichen Werken der Film- und Kunstge- schichte herzustellen, wird hier anhand von Filmbeispielen vorgestellt. Zwischen dem Motiv des Fernsehers, wie es in Angst essen Seele auf und in Gegen die Wand vorkommt, lässt sich hier nur dann eine sinnvolle Verbindung herstellen, wenn der historische Kontext geklärt ist. Dazu wird zunächst die Funk- tion des Motivs in den Filmen All That Heaven Allows (Was der Himmel er- laubt, Douglas Sirk, USA 1955), Angst essen Seele auf und Far From Heaven (Dem Himmel so fern, Todd Haynes, USA 2002) zu klären sein. 45 Bergala 2006, S. 54. 183 pauleit_korrektur4.indd 183 06.11.2008 13:21:31 Bettina Henzler und Stefanie Schlüter 4.1 Das Fernsehermotiv im Original und seine Remakes Angst essen Seele auf ist ein Remake46 von Douglas Sirks Melodrama All That Heaven Allows und das Motiv des zertretenen Fernsehers in der Verstoßsequenz (siehe 3.2) stellt eine direkte Referenz an Sirks Film dar. In All That Heaven Al- lows verliebt sich die bürgerliche Witwe Cary Scott (Jane Wyman) in den jungen Gärtner Ron Kirby (Rock Hudson). Anders als bei Fassbinder, wo die Ehe bereits vollzogen ist, bevor die Kinder eingreifen können, üben Carys Kinder einen so gro- ßen Druck auf ihre Mutter aus, dass sie schließlich der nicht standesgemäßen Heirat mit einem jüngeren Mann entsagt. Es ist Weihnachten, Carys Kinder kommen zu Besuch und schmieden Zu- kunftspläne: Die Tochter will heiraten, der Sohn nach Paris gehen. Außerdem solle das Haus verkauft werden, weil es für die Mutter allein zu groß ist. Es läutet an der Tür, das Weihnachtsgeschenk wird geliefert. Zusammen mit dem Lieferanten trägt der Sohn das Geschenk herein: ein Fernseher! Während der Verkäufer noch die Funktion des Apparats erklärt: «All you have to do is turn that dial and you have all the company you want, right there on the screen […]»47, bewegt sich die Kame- ra langsam auf den Fernseher zu, bis Carys Spiegelbild ganz auf dem Bildschirm zu sehen ist. Vor dem Fernseher sitzt Cary gewissermaßen sich selbst gegenüber – gespiegelt und gerahmt im Fernsehschirm: eine einsame Witwe, die wegen ihrer Kinder die große Liebe aufgegeben hat. Der Fernseher, in den 1950er Jahren als neue gesellschaftliche Errungenschaft begriffen, wird bei Sirk gleich zu Beginn der Fernsehgeschichte zum Einsamkeits- motiv. Bei Fassbinder verfehlte Sirks Film und insbesondere dieses Motiv seine Wirkung nicht: «Nach dem Film ist die amerikanische Kleinstadt das letzte, wo ich hin- wollte. Das sieht dann so aus, daß Jane irgendwann zu Rock sagt, daß sie ihn jetzt verläßt wegen der depperten Kinder und so. Rock wehrt sich nicht sehr, er hat ja die Natur. Und Jane sitzt am Heiligen Abend da, die Kinder werden sie verlassen und haben ihr einen Fernsehapparat geschenkt. Da bricht man zusammen im Kino. Da begreift man was von der Welt und was sie macht an einem.»48 46 Vgl. auch: Töteberg 2002, S. 78f, S.80. 47 Zur sozialen Funktion des Fernsehers siehe auch: Vrääth Öhner: Talking Heads. In: Meteor 7, 1997. S. 59f: «Als eine der wesentlichsten Aufgaben, die das Fernsehen in den westlichen Industrieländern zu erfüllen hat, wird allgemein seine soziale Funktion angesehen, die den Verlust gemeinschaftli- cher Bindungen im Gefolge der Modernisierung aller Lebensbereiche ausgleichen soll.» 48 Rainer Werner Fassbinder: Imitation of Life. Über die Filme von Douglas Sirk. In: Ders.: Filme befreien den Kopf. Hrsg. von Michael Töteberg. Frankfurt am Main 1984. S. 13. 184 pauleit_korrektur4.indd 184 06.11.2008 13:21:31 Perspektivenwechsel Das Zerstören des Fernsehers in Angst essen Seele auf lässt sich vor die- sem Hintergrund als Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft, ihre Entsa- gungs- und Kompensationsstrategien, verstehen. Ironisch gewendet ließe sich Fassbinders Adaption des Motivs so kommentieren: Im Gegensatz zu Cary braucht Emmi den Fernseher nicht mehr; sie hat sich selbst Gesellschaft ins Haus geholt. Mit seinem Film Far From Heaven, der im Stil der 1950er Jahre gehalten ist, hat der amerikanische Regisseur Todd Haynes ein weiteres Remake von All That Heaven Allows gedreht, das so- wohl an Sirks als auch an Fassbinders Film anknüpft. In Haynes’ Version ver- lässt der erfolgreiche Geschäftsmann Frank Whitaker Frau und Kinder, um seinen homosexuellen Neigungen nachzugehen. Zusätzlich zu den Kate- gorien «race» und «class» rückt Haynes in dem neuesten Remake explizit die Abb. 49–51: «... you have all the company Kategorie «gender» in den Fokus der you want, right there on the screen ...» Aufmerksamkeit. Die Figur des Ehe- manns in Far From Heaven verweist implizit auch auf die tatsächliche Homose- xualität von Rock Hudson, der bei Sirk die männliche Hauptrolle spielte, wie auf die Homosexualität von Fassbinder und seinem Partner El Hedi ben Salem, der in Angst essen Seele auf die Rolle des Ali verkörpert.49 Die verlassene Mrs. Whita- ker (Julianne Moore) in Far from Heaven verliebt sich in den schwarzen Gärtner Raymond Deagan (Dennis Haysbert), in dessen Rolle sowohl Fassbinders Figur Ali als auch Sirks Figur Ron aufscheinen. Zu Beginn des Films gibt Mrs. Whitaker ein Interview für ein Society Magazin und wird durch die Journalistin zu einer Figur des öffentlichen Lebens stilisiert: Mrs. Whitaker, stolze Ehefrau des Verkaufsleiters der Fernsehfirma «Magnatech», soll ein Portrait gewidmet werden, weil sie an der Seite ihres Mannes als «Mr. & 49 Zu Hudsons Homosexualität siehe auch den filmvermittelnden Film: Rock Hudson’s Home Movies (Mark Rappaport, USA 1992). 185 pauleit_korrektur4.indd 185 06.11.2008 13:21:33 Bettina Henzler und Stefanie Schlüter Mrs. Magnatech» auf den Werbeplaka- ten der Firma posiert.50 Haynes kadriert das Bild in dieser Szene so, dass es Mrs. Whitaker immer zusammen mit ihrem Fernseher zeigt, während eine Magna- tech-Werbung, die in einem Bilderrah- men über dem Fernseher hängt, meist nur im Anschnitt zu sehen ist. In einer eigenen Einstellung wird das Werbebild gesondert hervorgehoben und mit einer Fahrtaufnahme wird zusätzlich die Ver- bindung zwischen Fernseher und Mrs. Whitaker hergestellt. Anders als die Kamerafahrt bei Sirk, die zum Fernse- her hinführte, um Fernseher und Frau in einem «Bild im Bild» festzuhalten, führt die Fahrt bei Haynes vom Fernse- her weg hin zur Frau. Haynes geht so- gar noch einen Schritt weiter: Mit der Abwendung vom Fernseher findet eine Verschiebung der Aufmerksamkeit auf ein anderes Objekt statt: den schwarzen Gärtner Raymond, der während des In- Abb. 52–54: Die stolze Ehefrau des Ver- terviews unerwartet erscheint. kaufsleiters der Fernsehfirma «Magnatech» Das Fernsehermotiv in Far From Heaven stellt die bürgerliche Ehe als Institution infrage: Der Film entlarvt die Ehe von Mr. & Mrs. Whitaker als Farce, so wie auch ihr Werbeimage als «Mr. & Mrs. Magnatech» von vorneherein eine Farce ist. In Haynes’ Remake wie in Sirks Original ist das Fernsehermotiv mit Einsamkeit konnotiert: Nachdem ihr Ehemann sie verlassen hat, bleibt Mrs. Whitaker auch das Zusammensein mit Raymond verwehrt. 4.2 Das Fernsehermotiv bei Akin Aus filmhistorischer Perspektive gehört Fatih Akins Film Gegen die Wand nicht in die mit Fassbinder und Haynes begründete Serie von Remakes des Sirk-Me- 50 Die Journalistin zu Mrs. Whitaker: «You are the proud wife of a successful sales executive, planning the parties and posing at your husband’s side on the advertisements.» Der Werbes- logan der Firma lautet: «MR. & MRS. MAGNATECH CHOOSE NOTHING BUT THE BEST FOR THEIR HOME!» Zitiert nach: Todd Haynes: Far From Heaven, Safe, and Superstar: The Karen Carpenter Story. Three Screenplays. New York: Grove Press 2003. S. 14f. 186 pauleit_korrektur4.indd 186 06.11.2008 13:21:36 Perspektivenwechsel lodramas All That Heaven Allows. Aus motivgeschichtlicher Sicht jedoch lässt sich die Reihe mit Akin durch- aus fortsetzen, denn auch in seinem Film wird das Fernsehermotiv mit der Einsamkeit des Protagonisten in Ver- bindung gebracht. Anders jedoch als in der Tradition des amerikanischen Melodramas wird in dieser Szene nicht von der Einsamkeit einer Ehefrau oder Witwe gehandelt, sondern von der des Witwers Cahit, in dessen Schicksal der Zuschauer durch diese kurze Szene ein- geweiht wird: Heimgekehrt aus dem Krankenhaus, wo Sibel ihm die Heirat angetragen hat, holt Cahit seinen schon einmal getragenen Hochzeitsanzug aus einer Truhe hervor. Dabei fallen ihm Fotos seiner verstorbenen Frau Katha- rina in die Hände. Bei der Anprobe des Anzugs muss der Fernseher als Spiegel herhalten: Cahit stellt ihn aufrecht hin, wischt mit einem Ärmel den Staub und ein Anarchie-Zeichen von der Matt- Abb. 55–57: Cahit betrachtet sein Spiegel- scheibe und betrachtet sich prüfend in bild: Komische Zweckentfremdung des Fernsehers der spiegelnden Oberfläche. Das tragi- sche Schicksal des Protagonisten wird auch hier mit komischen Mitteln – der Zweckentfremdung des Fernsehers – er- zählt. Anders als bei Sirk, wo das Spiegelbild auch das Schlussbild der Szene war, endet Akins Szene mit einer Großaufnahme auf das Gesicht des Protagonisten, das sich vom Fernseher abwendet. Wie bei Haynes, nur mit Mitteln der Montage, voll- zieht sich hier eine Hinwendung zum Protagonisten bei gleichzeitiger Abwendung vom Fernseher. Führte Sirk mit der Selbst-Spiegelung im Fernsehschirm das Einsamkeitsmotiv ein, liegt in Fassbinders destruktiver Variante eine vehemente Ablehnung der ge- sellschaftlichen Implikationen, die in diesem Motiv angelegt sind. Haynes gibt in seiner überzeichneten Inszenierung die identifikatorische Geste mit dem Fernseher («Mr. & Mrs. Magnatech») zugunsten einer Hinwendung zu seiner Protagonistin auf. In Akins Inszenierung schließlich verbinden sich synthetisch die verschiede- nen Darstellungstechniken von Sirk und Haynes: die Selbst-Spiegelung und die 187 pauleit_korrektur4.indd 187 06.11.2008 13:21:39 Bettina Henzler und Stefanie Schlüter Abwendungsbewegung vom Fernseher. Bei Akin wie bei Sirk und Haynes findet der Protagonist eine neue Liebe, die aber nicht von Dauer sein kann. Mit Auf der anderen Seite (D 2007), dem nach Gegen die Wand zweiten Film in seiner Trilogie zu «Liebe, Tod und Teufel», schreibt Akin sich, Thomas El- saesser zufolge, nun explizit in die hier bereits ansatzweise nahe gelegte melodra- matische Tradition von Sirk und Fassbinder ein.51 Dabei ergibt sich die Nähe von Akins neuem Film zu Fassbinder nicht allein durch die Besetzung von Hannah Schygulla, die durch ihre zahlreichen Rollen in Fassbinders Filmen bekannt ge- worden ist. Vielmehr liegt sie in der politischen Dimension der Arbeiten beider Regisseure begründet, die sich in jeweils unterschiedlicher Weise als intensive Aus- einanersetzung mit den «deutschen Verhältnissen» zu erkennen gibt: «Um noch den letzten Zweifel auszuräumen, wurde Auf der anderen Seite in Deutschland (nachträglich) zum zweiten Teil einer Trilogie er- klärt, was als Anlehnung, so der Regisseur, an Fassbinders BRD-Trilogie (Die Ehe der Maria Braun, Lola, Die Sehnsucht der Veronika Voss) gedacht sei. Was für Fassbinder das schwierige Verhältnis West- deutschlands zu seiner nationalsozialistischen Vergangenheit war, sind für ihn, Akin, so scheint dieser zu verstehen zu geben, die nicht minder komplizierten Verhältnisse, in die Türken zwischen ihrer ‹Assimilie- rung› in Deutschland und ihrem Heimatland verstrickt sind.» 52 51 Thomas Elsaesser über Auf der anderen Seite: «[T]he dense plotting is in keeping with the genealogy of Sirk-Fassbinder melodrama into which Akin is inscribing himself.» Thomas Elsaesser: Ethical Calculus: The cross-cultural dilemmas and moral burdens of Fatih Akin’s The Edge of Heaven. In: filmcomment. May/June 2008. http://www.filmlinc.com/fcm/mj08/ heaven.htm (20. Mai 2008) 52 «Just to remove any doubt, in Germany The Edge of Heaven was billed (retroactively) as the second film of a trilogy meant to respond, according to the director, to Fassbinder’s BRD Trilogy (The Marriage of Maria Braun, Lola, Veronika Voss). What the troubled rela- tionship between West Germany and its Nazi past was to Fassbinder, Akin seems to imply, is to him the no less troubled negotiation between ‹assimilated› Turks in Germany and their homeland.» Elsaesser 2008. 188 pauleit_korrektur4.indd 188 06.11.2008 13:21:39 Eugène Andréanszky Kino auf Augenhöhe mit Kindern1 Pädagogisches Arbeiten im Rahmen des französischen Grundschulprojekts ‹École et Cinéma› Der Verein Les enfants de cinéma (dt. «Die Kinokinder») wurde vor 14 Jahren in Frankreich von Filmregisseuren, Lehrern, Cineasten und Filmtheoretikern gegrün- det, die den ehrgeizigen Wunsch hatten, Kindern im Alter von 4 bis 11 Jahren in der Vor- und Grundschule die Filmkunst nahezubringen. Von Anfang an war die Bildung des kindlichen Zuschauers das Hauptziel des Vereins. Finanziert wird er (über das CNC2) vom Ministerium für Kultur und Kommunikation sowie vom Bildungsministerium. Seine Tätigkeiten konzentrieren sich auf zwei Bereiche: Wir wollen ein Ort des Nachdenkens und des Austausches sein für alle auf das junge Publikum ausgerichteten Maßnahmen im Bereich Film. Anders gesagt: Wir wollen dem jungen Publikum nahebringen, dass Film eine Kunstform ist, die es entdecken, lieben und miteinander teilen kann. Diese Grundeinstellung ist die Basis all unserer Vereinstätigkeiten. Und wir organisieren die Durchführung des Projekts École et Cinéma (dt. «Schule und Kino»). Das bedeutet, wir überwachen seine Umsetzung in ganz Frankreich, und wir betreuen und beurteilen es vom pädagogischen Standpunkt aus. Darüber hinaus geben wir die sogenannten Cahier de notes sur ... (dt. «Notizhefte») heraus, die jeden Film des École-et-Cinéma-Kata- logs begleiten. Und nicht zuletzt richten wir jährlich ein frankreichweites Treffen von École et Cinéma aus. Les enfants de cinéma garantieren die Um- 1 Übersetzung des Vortrags «Filmklassiker an die Schulen!», der im Rahmen der Veranstal- tungsreihe «Filme sehen, Kino verstehen» der Universität Bremen am 7. Mai 2008 im Institut Français Bremen stattfand. (Anm. d. Hrsg.) 2 Das Centre nationale de la cinématographie (CNC), die französische Filmförderanstalt, ist dem Kulturministerium angegliedert. (Anm. d. Hrsg.) 189 pauleit_korrektur4.indd 189 06.11.2008 13:21:39 Eugène Andréanszky setzung der Philosophie des Projekts École et Cinéma, das heißt die pädago- gische und künstlerische Verantwortung liegt beim Verein. An dieser Stelle scheint ein Exkurs zu École et Cinéma angebracht. École et Cinéma er- möglicht Schülern vom Vorschulalter bis zum Ende der Grundschule (4 bis 11 Jahre) sowie ihren Lehrern im Kinosaal Filme oder besser: Werke von Qualität zu entdecken. Das Projekt will Kino und Schule zusammenbringen und verfolgt dabei zwei Ziele: Wir wollen die Kinder dazu ermuntern, ins Kino zu gehen und sich diesen Ort des kulturellen Austausches und der kollektiven Erfahrung anzueignen. Und wir wollen in ihnen die Liebe zur Filmkunst wecken. Die Kunst des Kinos ist ein Gefühl, ein Gedanke, die aus einer Form, einem Rhythmus entstehen und nur durch das Kino existieren können. 1. Das Projekt Jeder Lehrer entschließt sich freiwillig, ein Schuljahr lang, also von September bis Juni, über Film (als Kunstform) zu arbeiten. Dabei ist er in Hinsicht auf den pädagogischen und künstlerischen Ablauf der Schulstunden natürlich an einen anspruchsvollen Lehrplan gebunden. Er wählt jedoch selbst die Gesichtspunkte, unter denen er sich dem Kino nähern will – also z.B. die Anfänge des Kinos, den Stummfilm, Literaturverfilmungen, Filmgenres, Filmberufe, Zeichentrickfilm oder einfach die Entdeckung großer Werke der Filmgeschichte – und bereitet sein Pro- jekt für das Schuljahr vor. Die Grundlage seiner Arbeit ist der Katalog von École et Cinéma, der ungefähr 60 Titel in neuen 35-mm-Kinokopien bereithält. Jedes Jahr wird dieser Katalog um vier weitere Titel ergänzt. Er enthält Filme aus allen Ländern, allen Genres und allen Epochen, vorausgesetzt, es handelt sich um echte Filmwerke und nicht einfach nur um illustrative Filme. Dabei macht das filmische Erbe der Welt selbstverständlich einen großen Teil aus. Die Lehrer, die sich für das Projekt eingetragen haben, müssen sich mit ihren Klas- sen im Kino zwischen drei und sechs Filmen anschauen, um eine Art Kino-Parcours zu durchlaufen. Für die Umsetzung des Projekts braucht der Lehrende einen Kino- Partner, d.h. einen Kinosaal. In Frankreich beteiligen sich heute mehr als 950 Kinos (überwiegend Programmkinos) an École et Cinéma. Sie empfangen die 550.000 Kin- der und mehr als 23.000 Lehrer in den 91 Departements (Verwaltungsbezirken) und 2.800 Kommunen, die sich in ganz Frankreich jährlich an dem Projekt beteiligen. In jedem Departement hat École et Cinéma zwei Bezirkskoordinatoren, die vor Ort die treibende Kraft des Projektes sind. Ein Angehöriger des Schulwesens wird vom Direktor der Schulbehörde bestimmt und betreut im gesamten Departement die Lehrer, die sich an École et Cinéma beteiligen. Der zweite Koordinator ent- 190 pauleit_korrektur4.indd 190 06.11.2008 13:21:39 Kino auf Augenhöhe mit Kindern stammt dem Kultur- und Kinobereich, der das Projekt in enger Kooperation mit dem Koordinator der Schulbehörde im ganzen Departement durchführt. Gemein- sam betreuen sie den Ablauf des Projekts: Sie stellen das jährliche Filmprogramm zusammen, organisieren den Kopientransport und die Vorabsichtungen der Lehrer und verteilen die Begleithefte zu den Filmen. Ohne die beiden Koordinatoren gäbe es das Projekt vor Ort nicht, sie sind unsere unentbehrlichen Vermittler. 2. Das pädagogische Begleitmaterial Im Folgenden möchte ich ein paar Worte zu dem begleitenden Cahier de notes , das manchmal auch «pädagogisches Dossier» genannt wird, sagen. Diese «Notizhefte» zu den einzelnen Filmen werden von Les enfants de cinéma verfasst, zusammenge- stellt und herausgegeben. Sie sind das Herzstück des Projekts École et Cinéma und sind alles andere als eine pädagogische Gebrauchsanweisung. Wir suchen einen Autor aus und seine «Perspektive»3 auf den Film steht im Mittelpunkt des Hefts. Dabei ist es natürlich wünschenswert, dass der Autor den Film mag... Die Hefte enthalten zunächst die Stabangaben des Films, so wie sie im Vor- oder Abspann aufgelistet werden, eine Filmografie des Regisseurs sowie eine Rubrik, in der der Autor des Heftes über einen speziellen Aspekt des Films, über den Regis- seur, die Entstehungszeit oder das Filmgenre schreibt. Im Heft zu Hayao Miyazakis Chihiros Reise ins Zauberland (Japan 2001) hat zum Beispiel der Autor Hervé Joubert Laurencin4 in dieser Rubrik über japanische Animes und das berühmte Studio Ghibli geschrieben. Als nächstes folgt der schon erwähnte Standpunkt des Autors, ein detaillierter «Ablauf» der einzelnen Sequenzen des Films sowie eine vertiefende Analyse einer einzelnen Sequenz. Danach kommen «pädagogische Spa- ziergänge», in denen einige «Fährten» angedeutet werden, die in der Klasse ausge- arbeitet und weiterverfolgt werden können. Das Heft zu Chihiros Reise ins Zau- berland gibt Hinweise zu den Bezügen zwischen Miyazaki und Paul Grimault, dem bedeutendsten französischen Zeichentrickfilmer, und zwischen Miyazaki und Lewis Carroll sowie zum Verhältnis von «groß» und «klein» in diesem Film. Und zwei wesentliche Dinge sollen nicht vergessen werden: ein «image-ricochet», wo- mit ein Filmbild gemeint ist, das an ein anderes Bild erinnert – in unserem Fall an Hiroshige Utagawas Brücke unter südlichem Regen (1857); und eine umfangreiche Bibliografie einschließlich Internetadressen, anhand derer der Lehrer weiterfüh- rende Recherchen anstellen kann. 3 Der französische Titel dieser Rubrik «Point de vue» spielt mit der doppelten Bedeutung im technischen Sinne als Kamerastandpunkt (=Perspektive) und im weltanschaulichen Sinne als persönlicher Standpunkt (=Meinung). (Anm. d. Hrsg.) 4 Hervé Joubert Laurencin ist Hochschullehrer und ausgewiesener Kenner des Zeichentrick- films sowie der Filme von Pier Paolo Pasolini. 191 pauleit_korrektur4.indd 191 06.11.2008 13:21:40 Eugène Andréanszky Die einzelnen Filmhefte folgen diesem Grundgerüst, sind aber gleichzeitig of- fen für Abweichungen. 3. Der Film-Katalog Ich komme jetzt auf den Filmkatalog von École et Cinéma zu sprechen, der an die 60 Titel umfasst und die Basis des Projektes und unserer gesamten Filmerziehungsarbeit in Frankreich bildet. Vorher möchte ich aber noch darauf hinweisen, dass das gerin- ge Alter der Schüler für den Erfolg unseres Projekts entscheidend ist. Kleine Kinder (von 4 bis 11 Jahren) sind nämlich noch nicht vorgeprägt und somit empfänglich für Erfahrungen, wie sie École et Cinéma ermöglicht. Zwar unterliegen auch sie natür- lich schon allen möglichen Einflüssen, doch werden besondere Anforderungen noch positiv aufgenommen. Auch Stummfilme, Schwarz-Weiß-Filme, Filme mit langsa- mem Tempo oder zerrissener Erzählstruktur und sogar experimentelle Filme sind willkommen. Die Aufnahmefähigkeit der Kinder und ihre Neugier sind so groß, dass alles oder fast alles möglich ist. In diesem Alter besitzen sie noch eine ganz wunder- bare Aufgeschlossenheit, eine vorurteilsfreie Offenheit ohne vorgefasste Ansichten. An ihre Spontaneität kommt nur die Freude heran, mit der sie entdecken und lernen. Ihre Augen und Ohren sind weit geöffnet, aufmerksam und empfänglich. Wir haben unseren Filmkatalog «Tout un programme» (soviel wie «ein Pro- gramm für sich») genannt, was schon einiges über die dahinter stehende Philoso- phie sagt. Er ist Ergebnis einer bewussten Auswahl, nach dem Kriterium der Qua- lität (der Regie, des Drehbuchs, der Darsteller...) als unabdingbare Vorbedingung, um in unseren Katalog aufgenommen zu werden. Die fortschreitende Entwicklung eines Programms, die unterschiedlichen Möglichkeiten, sich dem Film zu nähern, die Vielfalt der Genres, Farbfilm, Schwarz-Weiß-Film, Spielfilm, Dokumentarfilm, Kurzfilm, Trickfilm, das filmische Erbe, alte oder zeitgenössische Filme, französische Synchronfassung oder untertitelte Originalfassung – alle diese Aspekte müssen be- rücksichtigt werden, will man einen Katalog erstellen, der Kindern gleichermaßen den heutigen Film wie das filmische Erbe vermitteln will. Der Katalog durchquert, ich würde sogar sagen: er entwirft die Filmgeschichte von ihren Anfängen bis hin zum zeitgenössischen Kino. Wie und nach welchen Grundlinien ist der Katalog aufgebaut? Es handelt sich zunächst vor allem um eine Auswahl von Werken (oder genauer gesagt von Meis- terwerken) der Filmkunst. Wir weisen immer darauf hin, dass es nicht speziell für Kinder gemachte Filme sind, sondern vielmehr Filme, die man Kindern zeigen kann. Womit wir bei Alain Bergala und seiner Idee sind, dass die Annäherung an Film als Kunst für die Schule ein lohnendes Ziel darstellt. Da wir versuchen wollen, den Geschmack der Schüler allmählich zu entwickeln, ist es umso wichtiger, Filme von unbestreitbarer künstlerischer Qualität auszuwählen. 192 pauleit_korrektur4.indd 192 06.11.2008 13:21:40 Kino auf Augenhöhe mit Kindern Ein erstes Beispiel hierfür könnte unser Programm mit fünf amerikanischen Slapstick-Komödien sein: zwei Filme des großen Charles Bowers (Egged on und Now you tell one5, 1926), zwei Filme von Charlie Chaplin (Die Kur und Der Abenteurer, 1917) sowie ein Film von Buster Keaton (The Blacksmith, 1922). Dieses einstündige schwarz-weiße Programm kurzer Stummfilme zeigen wir seit vielen Jahren Kindern ab 4 oder 5 Jahren. Die Vorführungen sind ein großartiges Erlebnis voller Aufregung, Nervenkitzel und Vergnügen! Erwähnen wir noch einige weitere Filme des Katalogs, quer durch alle Länder, Epochen und Genres: Aus den 20er/30er Jahren: Von der Nordpol-Doku-Fiktion Nanuk, der Eskimo (1926) von Robert Flaherty bis zur drückenden Hitze des philippinischen Dschungels in Chang (1927) von Cooper / Schoedsack. Von der poetischen Burleske Das Mädchen mit der Hutschachtel (1927) von Boris Barnet bis zum amerikanischen Slapstick in Charlie Chaplins Der Zirkus (1928) und Buster Keatons epischem Der General (1926). Vom französischen Aufruf zur Revolte Betragen ungenügend (Zéro de conduite, 1933) von Jean Vigo bis hin zur komischen, japanischen Welt aus Ich wurde geboren, aber... (1932) von Yasujiro Ozu. Aus den 30er/40er Jahren: Von der Spannung der ersten Filme Alfred Hitchcocks in Jung und unschul- dig (1937) bis zum eigenartigen Der Unsichtbare (1933) von James Whale. Von dem gesungenen Fantasy-Film Der Zauberer von Oz (1939) von Victor Fleming bis hin zum orientalischen Fantasy-Film Der Dieb von Bagdad (1940) von Michael Powell. Vom anarchischen Landstreicher Boudu – aus den Wassern gerettet (932) von Jean Renoir zum sozialen Nachkriegselend im Italien der Fahr- raddiebe (1948) von Vittorio de Sica. Aus den 50er/60er Jahren: Von Jacques Tatis komischem Humanismus in Tatis Schützenfest (1949) und Die Ferien des Monsieur Hulot (1953) bis zum gewalttätigen Ras- sismus des amerikanischen Westens in Die Spur des Falken (The Sear- chers, 1956) von John Ford. 5 Diese Filme von Charles Bowers sind überwiegend in französischen Fassungen überliefert, sie sind in Deutschland weitgehend unbekannt. (Anm. d. Hrsg.) 193 pauleit_korrektur4.indd 193 06.11.2008 13:21:40 Eugène Andréanszky Von der Hollywood-Piratenfilm-Parodie Der rote Korsar (1951-52) von Robert Siodmak bis hin zu Charles Laughtons Furcht erregendem, eigen- willigem Die Nacht des Jägers (1955). Vom märchenhaften Musical Singing in the Rain (1951) von Gene Kelly und Stanley Donen zur großartigen Initiationserzählung Moonfleet (Das Schloss im Schatten, 1955) von Fritz Lang. Aus den 60er/70er Jahren: Von Jacques Demys märchenhaft musikalischer Welt in Die Mädchen von Rochefort (1966) und Eselshaut (1970) bis zur freien und poetischen Welt von Vera Simková und Jan Kucera in Katja und das Krokodil (1966). Aus den 90er/00er Jahren (wir überspringen ein paar Jahrzehnte): Vom magischen Traum von Alice (1988) des Tschechen Jan Svankmajer zum Fiebertraum Das weisse Zauberpferd (Into the West, 1993) des Engländers Mike Newell. Von den traumhaften und nahezu perfekten japanischen Animes von Ha- yao Miyazaki, Mein Nachbar Totoro (1988) und Chihiros Reise ins Zauberland (2001), über Michel Ocelots poetische Trickfilme Princes et princesses (2000) und Kiriku und die Zauberin (1998) bis hin zu den wunderbaren, im Programm «Contes de la mère poule» (2000) zusammen- gefassten kurzen, iranischen Trickfilmen und zu Tim Burtons und Henry Selicks Trickfilm-Fantasy The Nightmare Before Christmas (1993). Vom phantastischen Edward mit den Scherenhänden (1990) von Tim Burton bis zu Niki Caros poetischer Fantasie aus Neuseeland Whale Rider (2002). Unser Katalog enthält natürlich auch unmittelbar zeitgenössische, in der Alltagsre- alität verankerte Werke. Zum Beispiel einen Dokumentarfilm: La vie est immense et pleine de dangers (1995) von Denis Gheerbrant, der die Krankheitsgeschichte des achtjährigen Cédric schildert. Daneben gibt es Kurzfilmprogramme: ein Programm mit sechs Kurzfilmen des russischen Puppenanimationsfilmers Garri Bardine; ein Kurzfilmprogramm für die Allerjüngsten, Petites z’escapades (dt. Kleine Fluchten), und zwei Programme mit internationalen Kurzfilmen. Es gibt Filme von François Truffaut, Luigi Comencini, Paul Grimault oder Gaston Kaboré, barocke Experimentalfilme wie Le monde vivant von Eugène Green oder amerikanisches Independentkino wie Sidewalk Stories (1989) von Charles Lane. Der Katalog ist lebendig und vielfältig und entwickelt sich mit jedem neuen Film weiter. 194 pauleit_korrektur4.indd 194 06.11.2008 13:21:40 Kino auf Augenhöhe mit Kindern 4. Die pädagogische Arbeit Kommen wir noch einmal auf Alain Bergalas «Hypothesen»6 zurück, die gut zu École et cinéma passen: Dem Kind soll eine Begegnung mit dem Film, mit dem Kunstwerk ermög- licht werden. Die Aufgabe der Lehrer und Eltern, der Erwachsenen, besteht darin, auf Werke hinzuweisen, sich zum Passeur zu machen.7 Das Kind soll den häufigen Umgang mit Filmen lernen, sie als aktiver und empfindsamer Zuschauer betrachten und dabei akzeptieren, dass es nicht alles versteht. Zwischen den Filmen sollen Verbindungen geknüpft werden, Filme bezie- hen sich aufeinander. Das Kind soll seine Beurteilung nicht auf «gefällt mir, gefällt mir nicht» beschränken. Es soll keine Konsumhaltung einnehmen, sondern sich darauf einlassen, von einem Werk verunsichert zu werden und daran sogar Gefallen zu finden! Aber bis dahin ist es ein langer Weg. Seit École et Cinéma existiert, begleiten wir die Filmarbeit der Lehrer mit ganz jun- gen Schülern. Diese Arbeit, die sich auf die begleitenden Notizhefte stützt, bleibt relativ bescheiden, da die Lehrer an der pädagogischen Hochschule selbst keine Filmausbildung erhalten. Der Mangel an geeigneten Lehrern ist eine der größten Schwierigkeiten von École et Cinéma. Deshalb versuchen wir, in jeder Region Leh- refortbildungen, und seien sie noch so kurz, zu etablieren. Doch reicht das noch lange nicht aus. Faktisch bilden sich die Lehrer zum größten Teil mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, wie DVDs, Büchern und natürlich die von École et Cinéma zur Verfügung gestellten Materialien, selbst weiter. Die in den Schulklassen entwickelten Arbeiten mit den jungen Schülern sind überwiegend künstlerische und praktische Arbeiten, Zeichnungen, Modelle... Darüber hinaus findet man in so gut wie jeder Klasse «Cahiers de Cinéma» (dt. «Filmhefte»). Damit ist nicht die berühmte französische Filmzeitschrift Cahiers du cinéma gemeint, sondern ein einfaches Heft, in das die Schüler ihre Eindrücke, manchmal auch ihre Analysen, Teile von Drehbüchern, Themenstellungen (Mär- chen, Film und Literatur, Filmgeschichte, Filmtechniken, Filmberufe, Filmwirt- 6 Bergala: Kino als Kunst (2006) Bergala hat u.a. auch an der Konzeption der Notizhefte mitgewirkt. (Anm. d. Hrsg.) 7 Der Begriff «passeur» bezeichnet den Fährmann, der andere von einem Ufer zum anderen übersetzt, den Schmuggler, der Waren oder auch Menschen heimlich über Grenzen führt, oder im Sport, denjenigen, der den Ball weitergibt. Er wurde von dem Filmkritiker Serge Daney auf den Pädagogen als Vermittler übertragen. Vgl. Bergala: L’hypothèse cinéma, dt., S. 18 u. 52. (Anm. d. Hrsg.) 195 pauleit_korrektur4.indd 195 06.11.2008 13:21:40 Eugène Andréanszky schaft, Kinosäle...) eintragen. Oft wird der Film somit trotz der Einfachheit der durchgeführten Arbeiten zum vermittelnden Element in der Klasse. Ein Kind, das heutzutage von Bildern und Bildschirmen umgeben ist, muss sich ohne Orientierungspunkte seinen Weg bahnen. Die Filmkunst kann dabei ein ausgezeichnetes Tor zur Welt sein, weil sie die unglaubliche Fähigkeit besitzt, einem Kind aus seiner Einsamkeit herauszuhelfen, es ihm zu ermöglichen, seine Angst, seine Freude, seinen Enthusiasmus oder seine Furcht zu artikulieren und in den Bereich des Menschlichen einzutreten. Filmkunst integriert nicht gewaltsam. Sie schenkt Vertrauen. Sie ermutigt dazu, das Risiko einzugehen, sein Wort an den An- deren zu richten und ihm zu begegnen. Sie hilft einem dabei, sein Schneckenhaus zu verlassen, sich der Welt zu öffnen und seinen Platz in ihr zu finden. Wie jede Kunstform verfügt auch das Kino über diese großartige Gabe! 5. Jacques Demys ESELSHAUT (PEAU D’ÂNE) als Beispiel für die pädagogische Arbeit mit Kindern Ich werde versuchen, einen groben Arbeitsrahmen für diesen Film vorzuschlagen: Wie kann ein Lehrer mithilfe des «Notizhefts» die Arbeit in der Klasse angehen? Eine unverzichtbare Vorbedingung ist, dass der Lehrer, bevor er den Film gemein- sam mit der Klasse sieht, ihn zunächst im Rahmen von Lehrer-Previews in einem Kinosaal und unter Kinobedingungen sichtet. Die Dunkelheit, die große Leinwand und das ganze Zeremoniell des Kinobesuchs fördern eine größere Konzentration auch auf einen schon bekannten Film. Einen Film wieder zu sehen bedeutet, ihn besser kennenzulernen, ihn zu erfassen, ihn in gewisser Weise zu bezwingen, um dadurch besser auf die oft sinnvollen, manchmal aber auch überraschenden und verblüffenden Fragen der Schüler vorbereitet zu sein. Nach der Filmsichtung mit der Klasse sammelt der Lehrer als erstes die Ein- drücke der Kinder zum Film. Idealerweise vergeht ein wenig Zeit zwischen dem Kinobesuch und dem Austausch mit den Kindern, z.B. morgens Kinobesuch und erst am Nachmittag die Diskussion darüber. Was hat sie beeindruckt oder berührt? Die Geschichte, die Figuren, die Ausstattung, die Kostüme, die Farben, die Lie- der... Bei diesem Gedankenaustausch können die Kinder sich ganz frei und in aller Ausführlichkeit über alle Aspekte des Films, den sie gesehen haben, äußern. Aufga- be des Lehrers ist es, jeden zu Wort kommen zu lassen und die unterschiedlichen Meinungen, Kritikpunkte, die positiven Äußerungen oder Ablehnung zu notieren. Dann folgt eine stärker gelenkte, strukturierte Etappe: 196 pauleit_korrektur4.indd 196 06.11.2008 13:21:40 Kino auf Augenhöhe mit Kindern Auf welchem Werk beruht der Film? Auf einem Märchen von Charles Perrault, dessen erste Versi- on auf das Jahr 1694, also auf das Ende des 17. Jh.s zurückgeht. Das erlaubt es uns, das Thema der Wer- kadaption anzugehen: vom Buch zum Film, oder vom geschrie- benen Märchen zum gefilmten Märchen. Man kann eine Defini- tion des Märchens vor- schlagen oder eventuell weitere Märchen und Märchenfilme finden. Man kann auch vom Œuvre Jacques Demys sprechen, einem unty- pischen Filmemacher, der neben Eselshaut Abb. 1 & 2: Eselshaut (Jacques Demy) mit seinem weniger bekannten Film Der Rattenfänger von Hameln (1971) ein weiteres Märchen verfilmt hat. Leben und Werk des Regisseurs Man kann den Kindern die Geschichte des achtjährigen Jacques Demy erzählen, der im Jahr 1939 mit seinen Eltern in einer Werkstatt wohnte, in der nur gesungen wurde. Der das Puppenspiel und die Operette liebte, später das Kino, von seinem Vater aber zum Automechaniker ausgebildet werden sollte. Trotz des bevorstehenden Krieges hatte er eine glückliche Kindheit. Dann zeigte sich allmählich seine «Berufung» für den Film und im Jahr 1956 dreht der junge Jacques Demy seinen ersten Kurzfilm, Der Holzschuhmacher vom Loire-Tal. In 27 Jahren dreht er 13 Spielfilme8. Im 8 Die in Frankreich bekanntesten Filme Demys sind: Lola, das Mädchen aus dem Hafen, Die schöne Sünderin, Die Regenschirme von Cherbourg, Die Mädchen von Rochefort, Das Fotomodell, Die Umstandshose, Ein Zimmer in der Stadt und Trois places pour le 26. 197 pauleit_korrektur4.indd 197 06.11.2008 13:21:41 Eugène Andréanszky Grunde haben alle Filme Jacques Demys etwas von einem Märchen, sei es Lola, das Mädchen aus dem Hafen, sein erster Spielfilm, in dem eine Bartänzerin durch ei- nen unwahrscheinlichen Zufall ihre in die USA ausgewanderte große Liebe wieder- trifft (1961), seien es Das Fotomodell (1969), Die Regenschirme von Cherbourg (1964), Die Mädchen von Rochefort (1967) oder auch Ein Zimmer in der Stadt (1982), einer seiner letzten Filme. Die Welt des Jacques Demy ist melancholisch und voller Musik und Gesang. Nicht alle seine Filme sind Musicals, aber der Erfolg von Die Regenschirme von Cherbourg kam damals einer Revolution des französischen Kinos gleich. Seit- dem unterscheidet man Musicals im amerikanischen Stil (wie Die Mädchen von Rochefort oder Eselshaut), in denen sich gesprochene und gesungene Parti- en abwechseln, und die sogenannten Filme «en chanté» (dt. «in Gesang»)9 – der Ausdruck stammt vom Regisseur selbst – in denen bis hin zu den banalsten und alltäglichsten Dialogen alles gesungen wird (wie in Die Regenschirme von Cher- bourg oder Ein Zimmer in der Stadt). Anschließend sollte über das gesprochen werden, was an dem Film am auffälligsten ist: die Magie, das Fantastische und natürlich die Trickaufnahmen. Dabei sollten wir bei der Fee verweilen, die eine Brücke zwischen der Realität und dem Fantastischen bildet. Jacques Demy adaptiert ein realistisches Märchen, in dem die Wirklichkeit, die Armut und die Not des 17. Jh.s enthalten sind. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Es ist die Rede von «Schmutzmägden», die im Schweine- stall arbeiten, und von der «Liebeskrankheit» des Prinzen, die im 17. Jh. offiziell als Krankheit anerkannt war. Gleichzeitig bricht mit der Figur der Fee das Fantastische ein. Im Vergleich zu Perraults Märchen verleiht Demy der Fee eine besondere Be- deutung. Sie braucht und missbraucht ihre Magie nicht nur, Demy lässt sie auch anachronistische, dem 17. Jh. unbekannte Elemente einführen, man könnte auch von poetischen Elementen sprechen. Wenn sie die Prinzessin das erste Mal besucht, benutzt sie ein Telefon. Sie spricht davon, dass ihre Zauberkräfte sich aufbrauchten wie eine Batterie. Und am Ende, auf der Hochzeit, hat sie einen großen, spektakulä- ren Auftritt im Hubschrauber. Die Fee ist der Motor der Handlung. Sie ist die Rat- geberin der Prinzessin, die ihre Anweisungen wortwörtlich befolgt. Selbst, wenn das bedeutet, den Goldesel ihres Vaters zu opfern, der dem Königreich Reichtum und Wohlstand beschert. Die Fee spricht die inzestuöse Liebe des Königs zu seiner Toch- ter ziemlich offen und direkt an und setzt alles in Bewegung, um das Schlimmste zu verhindern. Letztendlich setzt sie ihre Magie nur im äußersten Notfall ein. 9 Es handelt sich um ein Wortspiel mit dem gleichlautenden Begriff «enchanté», was im Franzö- sischen «verzaubert» heißt. Demys Filme sind gesungen und wollen verzaubern. «En chanté» ist analog zu «en couleur» (dt. «in Farbe») konstruiert, was im Französischen den Farbfilm bezeichnet. (Anm. d. Hrsg.) 198 pauleit_korrektur4.indd 198 06.11.2008 13:21:41 Kino auf Augenhöhe mit Kindern Wir sprechen auch über die einfachen, schlichten Filmtricks, die an Es war einmal (La belle et la bête, 1946) erinnern und eine Hommage an den großen, von Jean Demy außerordentlich ver- ehrten Jean Cocteau sind: Türen, die sich von alleine öffnen; Sta- tuen, die Kerzenleuch- ter halten; Spiegel, die sich in Fernsehbild- schirme verwandeln; Menschen, die in die Luft aufsteigen ... Die Lieder Jacques Demy hat alle Liedtexte des Films mit dem Komponisten Michel Legrand selbst geschrieben. Wir kön- Abb. 3 & 4: Eselshaut (Jacques Demy) nen mit den Schülern die Texte dieser in Frankreich populären Lieder einstudieren und sie singen. Die Filmpädagogik – Erklärung der «Einstellung» Es gibt zwei Definitionen des Begriffs «Einstellung». Beim Drehen bezeichnet man mit Einstellung den belichteten Film zwischen dem Moment, an dem die Kame- ra an-, und dem Moment, an dem sie ausgestellt wird (also die Aufnahme). Es handelt sich also um eine ununterbrochene Einheit. Bei der Montage bezeichnet eine Einstellung die Länge Film zwischen zwei Klebestellen. Der Wechsel von einer Einstellung zu nächsten ist sehr heikel. Man nennt ihn Anschluss. Zum Beispiel: König und Königin blicken aus ihrem Bergfried. Die nächste Einstellung zeigt die Prinzessin, die im Park Orgel spielt. Unter Einstellungsgröße versteht man die Größe dessen, was auf der Leinwand sichtbar ist (z.B. Großaufnahme und Totale). 199 pauleit_korrektur4.indd 199 06.11.2008 13:21:42 Eugène Andréanszky Ein pädagogischer Spaziergang – Die «Herzensbildung» Sobald der König das Porträt seiner Tochter (die er seltsamerweise nicht wiederer- kennt) sieht und sie singen hört (was bei Demy von Bedeutung ist), ist er von ihr hingerissen und erklärt ohne lange Umschweife: «Ich liebe dich, meine Tochter, und ich will dich heiraten. Liebst du mich?» Die Antwort seiner Tochter: «Ja, mein Vater, sehr», befriedigt ihn natürlich nicht, denn für jemanden, der von nun an von unkontrollierbarem inzestuösem Verlangen angetrieben wird, ist «sehr» eben «nicht genug». Da die französische Sprache nur ein Verb («aimer») kennt, wo zum Beispiel die deutsche unterscheiden kann («mögen» und «lieben»), schwankt die Prinzessin im ersten Teil des Films zwischen den möglichen Varianten und Abstu- fungen der Intensität ihrer Gefühle. Als sie, von der Situation verstört, die Fee um Rat bittet, kann sie nicht umhin ein «Aber ich liebe ihn» einfließen zu lassen, was die Fee mit einem knappen «Du verwechselst die Formen der Liebe» kommentiert und ein Lied anstimmt, das die Dinge klarstellen soll («Die Situation will wohl- überlegt sein»). Dennoch wäre die Prinzessin angesichts der Opfer, die ihr Vater für sie bringt, fast geneigt, seinen Antrag anzunehmen. Die Bildung ihrer Gefühle ist noch nicht vollendet, und darüber hinaus ist offensichtlich, dass auch sie, trotz aller Abwehr, von inzestuösen Gefühlen nicht frei ist. Der Film Eselshaut aus dem Jahr 1970 ist Teil des französischen Filmerbes. Heute wie vor 38 Jahren ist er Bestandteil der Kinderwelt. Jedes französische Kind kennt das Märchen, Perraults Buch und natürlich auch Jacques Demys wunderbaren Film. Jede Generation entdeckt die Welt von «Eselshaut» wieder neu für sich und eignet sie sich an. Jacques Demy hat ein bekanntes Märchen für Kinder und Er- wachsene sehr getreu adaptiert. Indem er den zeitlichen Abstand betont, hat er daraus ein eindeutig modernes, geradezu ikonoklastisches Musical gemacht. Der Film weist keinerlei Probleme auf, die speziell gegen die Vorführung vor kleinen Kindern sprechen würden. Da es sich um ein Meisterwerk handelt, um einen Film, der Widerstand leistet, wird er auch Kindern, die ihm in zehn, zwanzig, dreißig Jahren begegnen werden, immer noch genauso gut gefallen. Bremen, Institut Français, 7. Mai 2008 Übersetzung aus dem Französischen von Andrea Kirchhartz 200 pauleit_korrektur4.indd 200 06.11.2008 13:21:42 Michael Loebenstein «Lebende Ausstellung», Wunderkammer, Notation Über das Filmmuseum als Ort der Filmvermittlung Was ist ein Filmmuseum? Für manche ist es ein Ort «unvergänglicher Dinge» und der Kanonbildung, für andere ein Ort, an dem intensive Begegnungen mit filmischen Artefakten stattfinden können; wo filmische Zeugnisse der Vergangen- heit vom Licht der Projektionslampe in die Gegenwart katapultiert und für eine zeitgenössische Filmkultur neu zugänglich gemacht werden können. So gesehen sind Filmmuseen – und darunter verstehe ich Einrichtungen, die die Ausstellung filmischen Erbes als Auftrag verstehen – quasi der Ort für Filmvermittlung; einer Filmvermittlung, die sich nicht allein als «Medienerziehung» versteht, sondern eine bestimmte Kulturtechnik (den Film) und ihre Effekte auf die Gesellschaft vorführt und reflektiert, statt Artefakte (wie es das Konzept des Archivs nahe legt) allein zu verwahren, zu registrieren, als Dokument zu überliefern. Dass Filme (und filmbezogene Materialien wie Drehbücher, Photographien, Plakate, etc.) gesammelt und bewahrt werden ist ein vergleichsweise alter Gedan- ke. Bereits 1898 postulierte der polnische Photograph und Schriftsteller Boles- las Matuszewski die Kinematografie als eine «neue Quelle der Geschichte»: und forderte die Einrichtung eines Aufbewahrungsortes für alles belichtete Zelluloid. Matuszewskis Erfahrungshorizont war der der Aktualität, der Chronik, sein Film- wie sein Geschichtsbegriff «traditionell» (im Rancièreschen Sinn) als Register «er- innerungswerter Fakten und Personen» konzipiert, als besonders plastische (und mechanisch-präzise) «Inschrift des Erinnernswerten»1. Dennoch: was Matuszweski an Argumenten anführt übersteigt die Forderung nach einem «Register» bloßer Fakten. In einem wenig beachteten Absatz seiner 1 Jacques. Rancière : Die Geschichtlichkeit des Films (1998). In: Eva Hohenberger, Judith Keil- bach (Hrsg.): Die Gegenwart der Vergangenheit, Berlin 2003, S. 230 ff. 201 pauleit_korrektur4.indd 201 06.11.2008 13:21:42 Michael Loebenstein kleinen Schrift formuliert er einen utopischen Gedanken, der sich allein aus seiner Betrachtung des Kinos als eines ästhetischen Dispositivs, eines spezifischen Sets an Praktiken und einer einzigartigen Kunstwerk-Zuschauer-Konfiguration herleitet: «(...) So ist dieser einfache Streifen bedruckten Zelluloids nicht einfach ein historisches Dokument, sondern ein Stück Geschichte, und zwar ei- ner Geschichte, die nicht verschwunden ist und für die es keines Geistes bedarf, um sie wieder erscheinen zu lassen. Sie schlummert nur und, so wie die elementaren Organismen, die ein latentes Leben führen und sich nach Jahren durch ein bisschen Wärme und Feuchtigkeit wieder beleben, so genügt ein bisschen Licht, das, von Dunkelheit umgeben, durch eine Linse fällt, um die Geschichte wieder zu erwecken und den vergangenen Zeiten neues Leben einzuhauchen!»2 Matuszweskis Argument setzt den Glauben an den mimetischen Realismus des Films wie an eine sich selbst schreibende – und deshalb authentische – Geschichte voraus. Abgesehen von diesem geschichtsphilosophisch naiven Glauben (auf den ich hier nicht weiter eingehen will) gibt der Autor jedoch, indem er auf die Aufführung des Films als konstitutiven Akt, ja gar als «Zeugungsakt» verweist, einen entscheidenden Hinweis: Gibt es überhaupt eine «wahre» Geschichte – oder einen «Film» – außer- halb sozialer und ästhetischer Konventionen, ohne poetische Verfahren3, wenn man mit «wahr» die Darstellung von Prozessen und die Verknüpfung von kontingenten Ereignissen zu einem sinnhaften Ganzen meint, und nicht die rohe Faktizität des überlieferten Dokuments? Anders gefragt: Können wir überhaupt behaupten der «Film» existiert – als Kunst, wie als historische Wissensformation – außerhalb einer spezifischen Dramatisierungsform, nämlich seiner Vorführung als Kino-Film? Wo- mit wir bei der, für die Profession des Filmmuseums-Kurators wie des Filmvermitt- lers in einem solchen Museum zentralen Frage sind: was eine Institution, die sich «Filmmuseum» nennt, überhaupt ausstellt und wie sie Ihre Artefakte präsentiert. Obwohl die internationale Gemeinschaft der Filmmuseen und –archive seit gut 40 Jahren viel Energie in Regelwerke und best practices im Bereich der Sammlungs- und Konservierungsarbeit investiert, ist der Sektor der Präsentation – sieht man von technischen Standards und einem allgemeinen, dem Internationalen Muse- umsbund konformen Ethikstandard ab – in hohem Maße individuellen Philoso- phien der einzelnen Institutionen unterworfen. Stellt man die ganz naive Frage «Was ist ein Filmmuseum?» bekommt man schnell eine ganze Reihe widersprüch- licher Antworten. Die damit verbundenen Vorstellungen reichen vom Repertoire- 2 Boleslas Matuszewski: Eine neue Quelle für die Geschichte. In: montage a/v 7/2, 1998, S. 9. 3 Vgl. Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung, Bd.I. Zeit und historische Erzählung. München 1988, insb. S.87ff. 202 pauleit_korrektur4.indd 202 06.11.2008 13:21:43 «Lebende Ausstellung», Wunderkammer, Notation kino bis hin zur Filmgerätesammlung, von der Ausstellung filmbezogener Materi- alien (im schlimmsten Fall Devotionalien) bis hin zur Präsenzbibliothek, die Filme via Videoband oder Internetdownload zum Konsum anbietet. Gerade die Entwick- lungen im Bereich der Digitaltechnologien – ob man in ihnen nun die Möglichkeit einer besseren Zugänglichkeit zum filmischen Erbe oder eher das kulturelle Phan- tasma einer universellen Verfügbarkeit sieht – erhöhen den Rechtfertigungsdruck auf Einrichtungen, die sich traditionell dem Film als Kino-Ereignis verschrieben haben, und nun der Forderung nach digitalem Zugang zu ihren Beständen nach- kommen wollen. Denn was unterscheidet ein solches Filmmuseum der nahen Zu- kunft – einen Ort, der sich als content provider versteht – dann von jeder x-beliebi- gen digitalen Footage Library, die dem User / der Userin einen schwellenlosen und beschwerdefreien Zugang zur Gesamtheit aller Bilder verspricht. Überspitzt gesagt: Sind Filmmuseen als Ort der Filmvermittlung in Zeiten von YouTube, Archive.org oder den ersten Entwürfen transnationaler digitaler Online-Archive nicht obsolet? Ich denke, was Filmmuseen in der zeitgenössischen audiovisuellen Landschaft leisten können, ist das Unterscheidungsvermögen der Öffentlichkeit zu fördern. Gera- de angesichts des Verschwindens des photochemischen Films im industriellen Bereich – als Präsentationsmedium, aber über kurz oder lang auch als Produktionsmedium wird er von digitalen Systemen abgelöst werden – ist es unsere Aufgabe, einer breiten wie auch einer spezifischen Öffentlichkeit (z.B. Lehrer/innen, Kunsterzieher/innen) die besonderen Qualitäten historisch gewordener oder werdender «Bewegtbildmedi- en» zu vermitteln, damit die Filmmuseen in der Zeit nach dem Film und dem Kino, wie wir es kennen, eben nicht zu bloßen Wunderkammern voll kurioser, obsoleter Objekte verkommen. Jenseits der «cinephilen Fetischisierung» des Kinos und der Materialität des Filmmediums auf der einen, dem «Himmlischen Multiplex», das alles Wissen auf Buttonklick bereitstellt4, auf der anderen Seite gilt es, Ausstellungsa- nordnungen zu entwickeln, die den Bewegungsimpuls, die transformatorische Kraft der motion pictures aufgreifen und lustvoll variieren, die Grundelemente filmischer Sinneserfahrung transparent machen. Es gilt mediale Transformationsvorgänge re- flexiv zu begleiten: Wie wird filmisches Wissen durch seine Übertragung in andere Räume und Medien verändert? Im Folgenden möchte ich auf zwei unterschiedliche, auf den ersten Blick widersprüchliche Verfahren eingehen, wie wir im Österreichi- schen Filmmuseum versuchen «Film» und «Kino» zu vermitteln, bzw. den individu- ellen Film und die Kinosituation selbst als Vermittler/in produktiv zu machen. 4 Die österreichische Filmzeitschrift kolik.film diskutiert bereits seit 2004 in einem eigenen Dos- sier zur «Filmvermittlung» einzelne Positionen innerhalb dieses Spannungsfelds, zuletzt z.B. in den folgenden Beiträgen: «Der Vermittler als Fährmann» (kolik.film Nr.8, Oktober 2007, S. 16 ff.), ein Gespräch mit Bettina Henzler und Winfried Pauleit über Alain Bergala und Cine- philie als Kulturtechnik; weiterhin «Das Himmlische Multiplex» (kolik.film Nr. 9, April 2008, S. 37ff.), ein Essay von Kristin Thompson über Film im Internet und die Idee «universeller Verfügbarkeit» bewegter Bilder. 203 pauleit_korrektur4.indd 203 06.11.2008 13:21:43 Michael Loebenstein 1. Motion Pictures: Filmerfahrung und das Kinodispositiv Was macht den Film aus? Das physische Artefakt – eine Abfolge statischer Foto- gramme, in einer Vielzahl von Formaten auf einem Träger aus Nitrozellulose, Acetat- zellulose oder Polyester aufgebracht? Oder die immaterielle Aktualisierung, die das physische Objekt in seiner Vorführung mittels Projektionslampe im Raum erfährt? Letztere – im englischen als film experience bezeichnet, im deutschen unzu- länglich als Film-, beziehungsweise Kinoerfahrung wiedergegeben – ist als Ausstel- lungspraxis (wortwörtlich) schwieriger zu fassen als die konservatorisch korrekte Bewahrung des Trägermediums. Film entfaltet sich – und darin ist er der Musik verwandt – diachronisch. Stärker als jedes Objekt der Bildenden Künste entwirft er eine «doppelte Zeit», der durch den Betrachter/die Betrachterin eine dritte Zeiter- fahrung hinzugefügt wird: «Zwischen beide Zeitmodi des Films – die dargestellte Zeit und die Zeit der Darstellung – drängt sich bei Betrachtung zunehmend deut- lich eine dritte Zeit (...) – die Zeit der Filmerfahrung»5. Was sich im Akt der Film- vorführung vor Publikum konstituiert, ist eine prekäre Gegenwart, ein durch die Frequenz des Apparates und die Spielzeit des Films hergestellte Ganzes, das jedoch nicht statisch ist, sondern sich in ständiger Bewegung permanent aktualisiert: Mo- tion Pictures, «Bewegungsbilder». Was wie philosophische Haarspalterei klingt, bildet bereits seit geraumer Zeit den Hintergrund, vor dem Filmmuseen – sowohl unter dem Einfluss jüngerer, kul- turtheoretischer Überlegungen zum frühen Kino und der visuellen Kultur der Mo- derne, als auch in Anerkennung der medienreflexiven Leistungen des experimen- tellen und avantgardistischen Films – ihre Ausstellungs- und Vermittlungsaufgabe neu bewerten. So weist beispielsweise das Österreichische Filmmuseum seit 2002 mittels einer Texttafel seine BesucherInnen darauf hin, dass das Filmmuseum eine «Cinémathèque» ist und seine Ausstellungen auf der Leinwand stattfinden. Dieser apodiktischen Aussage geht der Gedanke voraus, dass Film einer Präsen- tationsform bedarf, welche die möglichst adäquate Begegnung mit beiden Aspek- ten des filmischen Artefakts erlaubt: mit seiner performativen Entfaltung und den materiellen Qualitäten des Trägermediums. Dass diese zumindest für einen Groß- teil der Filmgeschichte durch die Filmprojektion im Kinosaal gewährleistet wird, ist leicht gesagt, aber längst nicht selbstverständlich. Die Ablehnung der vorherrschen- den Kinoarchitektur der Nachkriegszeit (dem bürgerlichen Theater abgeschaute Plüschsitze, Samtvorhänge, Balkone und die obligate Begleitung von Stummfilmen mit Klavier-Poutpourris) sowie die nachlässige Projektionspraxis (falsche Bild-Sei- tenverhältnisse, die Vorführung von Stummfilmen in der Tonfilmfrequenz von 24 Bildern pro Sekunde) bewog den Gründer und Co-Direktor des Österreichischen 5 Juliane Rebentisch: Das Publikum und seine Zeit. In: Dies.: Texte zur Kunst, Heft 43, Septem- ber 2001, S. 57. 204 pauleit_korrektur4.indd 204 06.11.2008 13:21:43 «Lebende Ausstellung», Wunderkammer, Notation Filmmuseums Peter Kubelka (der gleichzeitig zu den bedeutendsten Avantgarde- filmemachern des 20. Jahrhunderts zählt), 1970 ein erstes «Unsichtbares Kino» für die Anthology Film Archives (New York) zu realisieren. Dieses «ideale Kino» (das in adaptierter Form 1989 auch im Österreichischen Filmmuseum in Wien gebaut werden konnte) ist als Sehmaschine konzipiert. Bis auf die Leinwand ist die gesam- te, auf das Notwendigste reduzierte Einrichtung komplett in schwarz gehalten. Die Aufmerksamkeit des Publikums soll so radikal auf jene Sinne konzentriert werden, die der Film anspricht – das Auge und das Ohr. Die Eliminierung «filmfremder» Eindrücke – insbesondere der Architektur des Raumes selbst – ermöglicht die Kon- zentration des Betrachters und der Betrachterin auf die dem Film immanenten Zeit- und Raummodi: Analytisches Verstehen und sinnliche Überwältigung, die Wahrnehmung des Apparates «Kino» und das sinnliche Erleben des Films treten in ein Wechselverhältnis zueinander. Historisch gesehen ist dieses «Unsichtbare Kino» ein Prototyp jener Black Box, die auch in Kunstmuseen seit den 1990er Jahren zu einer häufig gewählten Präsen- tationsform von Laufbildern geworden ist. Sie enthält manchmal Bestuhlung und Projektion, oft aber auch nur einen Videoschirm. Statt auf die Gemeinsamkeiten möchte ich hier auf zwei wichtige Unterschiede eingehen, durch die sich die Film- präsentation im Ausstellungs-Dispositiv einer Cinémathèque von der in einem Kunstmuseum unterscheidet. Zeitökonomie und Betrachterposition. Wie bereits beschrieben weist das Kino seinem Publikum einen einigermaßen stabilen Ort zu, und gibt der Darstellungszeit des Films einen eindeutigen Zeitrahmen vor. Ein Arran- gement, welches im «Unsichtbaren Kino 1» (1970) durch horizontale und vertikale Holzblenden vor und seitlich des Zuschauers noch gewaltsam zu- gespitzt wurde. Ganz anders im Galerie-Dispositiv, das seinem Publikum keinen eindeutigen Betrachterplatz zuweist, sondern eher zur Mobilität und freien Entscheidung über die individuelle Verweildauer vor dem Werk ermutigt. Was für etliche Exponate Sinn ergibt – etwa für als Endlosschlei- fen konzipierte Filminstallationen – gerät in anderen Fällen zu einer rela- tiv beliebigen «Zwitterlösung», die nicht zuletzt das Publikum ratlos oder gleichgültig zurücklässt, denn sie ist weder «Kino» noch genuin audio-vi- suelles Objekt. Dort, wo im filmischen Werk Anfang und Ende vorgesehen sind, herrscht im Galerieraum häufig der Modus einer eher unbestimmten Dauerpräsenz. Im schlimmsten Fall kein «Bild», sondern das Rauschen des Audiovisuellen, multimediale «Tapete». Materialität und Trägermedium. «Film» bezeichnet heute im Alltagssprach- gebrauch längst nicht mehr allein den analogen, photographischen Film (geschweige denn seine analog-mechanische Projektion), sondern eine 205 pauleit_korrektur4.indd 205 06.11.2008 13:21:43 Michael Loebenstein ständig wachsende Zahl an Aufzeichnungs- und Präsentationsformaten: dazu gehört analoges sowie digitales Video, die Präsentation auf Video-Mo- nitoren, Flüssigkristallschirmen oder mittels Datenbeamer, die Speicherung und Distribution via Magnetband, optischer Disc oder Serverarchitekturen. Nur in den seltensten Fällen wird das ursprüngliche Aufzeichnungs- und Vorführformat respektiert, dies gilt leider nicht nur im Ausstellungsbetrieb, sondern auch in Kinoräumen. Dem Umstand, dass wir es hier – sei es in den Black Boxes der Kunstausstellungen, den DVD-Regalen der Museums- shops oder den Linklisten virtueller moving image archives im Internet – mit Faksimiles zu tun haben, wird kaum Bedeutung zugemessen. Ein vielleicht polemischer, aber in der Vermittlungspraxis bewährter Vergleich: Wäre es vorstellbar, in einer Galerie beispielsweise statt eines Aquarells ein hoch- auflösendes TFT-Display mit einer «farbgetreuen», womöglich sogar «digital ver- besserten» Simulation auszustellen, ohne damit Fragen nach der Legitimität einer solchen Ausstellungspraxis zu provozieren? Im Bereich des Films ist dies nicht nur möglich, sondern gängige Praxis. Doch auch das Gegenteil – eine «dogmatisch- archivarische» Fetischisierung des filmischen Materials, die Reduktion des «Filmi- schen» auf sein physisches Objekt, den Einzelkader oder den Streifen in der Dose – ist kurzsichtig, da sie die Praxis der Aufführung, das eigentliche «Leben» des Films außer acht lässt. «So what?» lautet eine oft gehörte Reaktion auf diese Argumente. Ist es nicht ir- relevant, welche Apparatur die Bilder in den Raum wirft, und ist es nicht so, dass der Film als Massenkunst- und Massenmedium immer schon technologischen Mutatio- nen, sowie sich verändernden Wahrnehmungsbedingungen unterworfen war? Zwei- fellos ja; doch birgt diese Position die Gefahr, einerseits Film als Kunst ausschließlich unter den Bedingungen der Ökonomie zu betrachten, und andererseits den Film als Teil gesellschaftlicher Erfahrung a-historisch werden zu lassen. Film ist nicht bloß ein Epistem, sondern auch techné – seine Gesamtheit als kulturelle Praxis und als historisches Artefakt erschließt sich auch aus den Mitteln seiner Herstellung; die his- torischen technologischen Anordnungen und sozialen Praktiken seiner Rezeption sind konstitutiv für seine gesellschaftliche Wirkung. Man kann beispielsweise spe- kulieren, ob Dziga Vertov, der Theoretiker und Praktiker des «Kino-Auges», der von der raumübergreifenden Übertragung dokumentarischer Bilder in Echtzeit träumte und schrieb, nicht lieber mit MiniDV-Cam, Satelliten-Uplink und Videophone als mit klobigem 35mm-Kameras, Umroll-Schneidetischen und hoch brennbaren Nit- rozellulose-Kinokopien gearbeitet hätte. Doch ist nicht die materielle Realität seiner Produktionsweise; die Frage wie er seine utopischen Forderungen letztlich mittels FILM umsetzte, ein noch viel lohnenderer Untersuchungsgegenstand? Filmprojek- tion, die Kinovorführung als Vermittlungsakt sollte meines Erachtens die Aufmerk- 206 pauleit_korrektur4.indd 206 06.11.2008 13:21:43 «Lebende Ausstellung», Wunderkammer, Notation samkeit genau auf diesen produktiven Spalt lenken. Sie sollte eine historische techné kontextualisiert vorführen, ohne Mimikry zu betreiben (und damit notwendig in Nostalgie oder Parodie zu verfallen), das Artefakt als Monument im Foucaultschen Sinne6 erfahrbar machen, also darauf hinweisen, welcher Sprache es sich bedient, welche Verbindungen die in ihm enthaltenen Artikulationen zu anderen Wissens- formationen unterhalten, welche sozialen Praktiken zu seiner Herstellung beigetra- gen haben, anstatt es bloß als «Informationsträger» von Faktenwissen zu betrachten. Um auf das Beispiel Vertovs zurück zu kommen: Es ist legitim, seine Filme allein als Chronik, als «Register» erinnernswerter Ereignisse in der Sowjetunion der 1920er Jahre zu lesen. Auch ist es lohnend, sich mit den utopischen Forderungen des Künst- lers an zukünftige Medientechnologien, vor allem in Hinblick auf das Fernsehen und das Internet auseinander zu setzen. Aber was ein Filmmuseum leisten kann und soll ist die materielle Realität einer spezifischen historischen Arbeitsweise anschau- lich, nachvollziehbar zu machen: wie Vertov versuchte, gerade mittels des Kinos eine Öffentlichkeit zu erreichen; wie er einzelne Filmstreifen, Einstellungen, Sujets physisch in ein Register überführte, um vor der Erfindung von Metadaten und Da- tenbanken dem unüberschaubaren Material Herr zu werden; und wie letztlich die Distributions- und Vorführpraxis seiner Zeit aussah, die beispielsweise vorschrieb, einzelne Akte in der Länge von 300 Metern (ca. 13 Minuten bei einer Projektionsge- schwindigkeit von 18-20 Bildern pro Sekunde) zu konzipieren. 2. Digitale Editionen als «Apparat» des Filmereignisses Eine solche Form der Filmvermittlung ist notwendiger Weise räumlich beschränkt (auf den «elitären» Raum des Museumskinos) und erschließt sich einem örtlich (zumeist in Hauptstädten angesiedelten) und sozial privilegierten Publikum (die Schwelle, die das Wort «Museum» darstellt, ist immer wieder verblüffend). Die Ar- beit der Kontextualisierung der Filmvorführung (mittels Einführung und Kom- mentierung durch einen/eine Filmvermittler/in, durch weiterführende Literatur und die Präsentation von Kontextmaterialien) ist nicht 1:1 auf beliebige Orte über- tragbar und reproduzierbar. An diesem Punkt werden interaktive digitale Medien für eine film-museale Ar- beit interessant. Das klingt zu allererst widersprüchlich: Ist nicht die Präsentation des Artefakts, der content (Inhalt) als Funktion des carriers (Trägers) bedeutsam für das Verständnis von Film als Kulturtechnik? Allerdings. Jedoch spricht dies nicht gegen eine digitale Vermittlungs- und Prä- sentationsarbeit, sofern man die Reflexion des Transformationsprozesses zwischen Film und Digitalen Medien (DVD, CD-Rom, etc.), sowie die intrinsischen Quali- 6 Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main 1981. 207 pauleit_korrektur4.indd 207 06.11.2008 13:21:44 Michael Loebenstein täten der neuen, medialen Technologien ernst nimmt. Es zeugt nicht weniger von Ignoranz, die DVD als bloßes Trägermedium für (filmische) Inhalte zu behandeln, als sie als (besseres) Substitut für die Kinovorführung (oder für VHS-Kassetten) misszuverstehen. Die vom Computer und seinen scheinbar unbegrenzten Mög- lichkeiten der Simulation herbeigeführte «postmediale Kondition»7 hat zwar zwin- gend die Konvergenz und Ununterscheidbarkeit der «klassischen» Medien (Male- rei, Photographie, Film) zur Folge – jedwede spezifische analoge Artikulation wird zu einem nummerischen, kalkulablen Wert. Folgt man dem Argument Fiedlers und Steinles, gewinnt jedoch das Spezifische der individuellen Medien gerade vor dem Hintergrund dieser Austauschbarkeit an Wert: « Die Malerei demonstrierte den Eigenwert der Farbe, das Fließen, Tropfen, Rinnen. Die Fotografie demonst- rierte ihre wirklichkeitsgetreue Abbildungsfähigkeit. Der Film demonstrierte sein erzählerisches Vermögen (...).»8 Verabschiedet man sich von der (simplen) Vorstellung des Films-auf-DVD (oder im Netz, oder auf CD-Rom) als Wiedergabe oder Kopie seines Gegenstandes, und versteht stattdessen die digitale Edition eines Werks als Notation des Films/ des Filmereignisses, dann eröffnen sich dem Denken neue Möglichkeiten. Eine sol- che digitale Edition versteht sich als Demonstrationsgegenstand, als ‹Apparat› zum medialen Ereignis «Film». Dieser wird, in der Übertragung in eine andersartige Technologie, vorgeführt, beschrieben, vermittelt. Auch das klingt nach Haarspalterei: Ist es nicht gleichgültig, ob die Story eines Spielfilms, ob die Ereignisse, welche eine dokumentarische Chronik zeigt, in Form bewegter Photogramme, kontinuierlich aufgezeichneter magnetischer Modulatio- nen oder in Form von Pixelwerten, Bits und Bytes wiedergegeben wird? Ich den- ke nicht, und es geht hier weniger um Wertigkeiten (was ist ‹angemessener›?), als vielmehr erneut um Differenzierung. Wie verändert eine mediale Konfiguration unsere Beziehung zum Bild, unsere Wahrnehmung optisch-akustischer Ereignisse, die spatio-temporale Anordnung unserer Rezeption? Zwei Beispiele aus der Ver- mittlungspraxis: Wie verändert sich unser Verständnis von filmischer continuity (Kontinuität), von dramaturgischen Bögen oder Suspense (Spannung) unter der Prämisse des non-linearen Zugriffs auf Erzählungen, wie sie die DVD-Features des Chaptering (Kapiteleinteilung) und des seamless branching (die «nahtlose» Verknüpfung diskontinuierlicher Sequenzen, u.a. demonstriert an der Einbettung «neuer» Szenen in sogenannten «Director‘s Cut»-Editionen) anbieten? Oder: Wie verändert sich der Gehalt einer NS-Wochenschau von 1933, wenn wir vom Dispo- 7 Der Begriff entlehnt sich der gleichnamigen, von Elisabeth Fiedler und Christa Steinle (unter Beratung von Peter Weibel) 2005 für die Neue Galerie Graz kuratierten Ausstellung; Vgl. den Pressetext unter http://www.art-in.de/incmeldung.php?id=1018 (22.06.2008). 8 Ebenda. 208 pauleit_korrektur4.indd 208 06.11.2008 13:21:44 «Lebende Ausstellung», Wunderkammer, Notation sitiv des Kinos (die Vorführung in Echtzeit in einem sozialen Raum) zur Einzelbild- Rezeption auf dem Computerschirm in einem Studienraum wechseln? Auf diese Transformationsbewegungen hinzuweisen, und ihre Reflexion pro- duktiv umzusetzen birgt großes Potential. Filmmuseen, die sich der digitalen Prä- sentation ihrer Sammlungsbestände widmen, sollten sich in ihrer Editionspraxis weniger von Marktgepflogenheiten, als von Grundsätzen der Museumspräsenta- tion und -pädagogik leiten lassen. Konzepte wie das räumliche Arrangement von Objekten, die Herstellung von Narration durch ein Besucherleitsystem, die Kontex- tualisierung von Artefakten mittels Objektbeschilderung (inklusive Material- und Provenienzangaben), erläuternden Materialien oder dem Kommentar eines/einer Vermittler/In sind mit den Standardmöglichkeiten der DVD (die im Vergleich zu älteren Applikationen wie der Macromedia Director-CD-Rom9 oder der Website primitiv sind) kreativ umsetzbar. Die grundsätzliche Verschmelzung von Text und Apparat (die in der digitalen Konvergenz begründet liegt) ermöglicht es konzeptu- ell wie technologisch im Sinne der Hypermedien zu arbeiten: Objekte multi-linear zu organisieren, indem durch logische Verbindungen zwischen Wissenseinheiten (Knoten) eine netzartige Struktur hergestellt wird.10 Beispiele für solche Umsetzungen finden sich leider allzu selten im Bereich der Filmmuseen und Archive. Die Ratlosigkeit der historischen Filmwissenschaft und der Archivare/Kuratoren angesichts der Neuen Medien lässt sich in einschlägigen Publikationen nachlesen11. Abgesehen von finanziellen Hindernissen – Zuwendun- gen für Publikationen, zumal digitale, stehen nicht zuoberst auf der Prioritätenliste dieser Institutionen – mangelt es hier meines Erachtens oft an Vorstellungsvermö- gen, beziehungsweise an transdisziplinären Schnittstellen. Innovative Konzepte zur digitalen Vermittlung von historischen Filmen entstehen daher eher als Prototypen im Spannungsfeld Medienkunst, Kulturwissenschaft und Archiv12, beziehungswei- se als rein künstlerische Arbeiten (wie die interaktive CD-Rom/Installation Imme- mory von Chris Marker). 9 Mit dem Macromedia Director ließen sich erstmals hochgradig interaktive, multimediale Prä- sentationen herstellen, die plattformübergreifend darstellbar waren. Siehe http://de.wikipedia. org/wiki/Adobe_Director. 10 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Hypertext (26.3.2008). 11 Siehe folgenden Konferenzband: Martin Loiperdinger (Hrsg.): Celluloid Goes Digital. Trier 2003. 12 Erwähnenswert sind z.B. die aus dem Forschungsprojekt «DVD als Medium kritischer Fil- meditionen» an der Universität der Künste Berlin hervorgegangene «Studienfassung» von Fritz Langs Metropolis (2004, Leitung: Anna Bohn, Enno Patalas); das von Nikolai Izvolov (Moskau) und Natascha Drubek-Meyer initiierte «Hyperkino»-Konzept (www.hyperkino. net); sowie die Arbeit Lektüren zum Film 1: Wie Ninette zu ihrem Ausgang kam (2001), die unter meiner Beteiligung realisiert wurde und auf die im Abbildungsteil dieses Beitrags näher eingegangen wird. 209 pauleit_korrektur4.indd 209 06.11.2008 13:21:44 Michael Loebenstein Hier schlagen Museum, experimentelle Kunst und der «Filmvermittelnde Film» eine Brücke: Found Footage-Avantgardefilme wie die «Film-Atlanten» Gus- tav Deutschs (Film ist. 1-12 sowie Welt Spiegel Kino), die mittels ‹gefundener› Bilder Filmgeschichte als Sozialgeschichte schreiben13, oder Norbert Pfaffenbich- lers Mosaik Mécanique (siehe Abbildungsteil) können Vermittler/innen lehren, wie die Dekonstruktion und die Re-Strukturierung filmischer Entitäten neue Wis- sensformationen schafft. Kommentierte Abbildungen Abb. 1: Kinosaal des Österreichischen Film- museums Das «Unsichtbare Kino 3», 2002 im Österreichischen Filmmuseum in Wien ins- talliert, folgt der Idee der «Black Box», allerdings unter Verzicht auf die hölzernen Bänke und die Sichtblenden des ursprünglichen Konzepts. Jenes war eine «Seh- und Hörmachine» der radikalsten Art – mittels schwarzer Holzblenden, die seitlich und über dem Kopf der Zuschauer angebracht waren wurden alle «störenden» ak- kustischen und visuellen Reize außer denen der Filmvorführung ausgeschaltet. 13 Siehe die Texte von Tom Gunning, Nico deKlerk, Michael Loebenstein und Drehli Robnik zu Welt Spiegel Kino unter: http://www.gustavdeutsch.net. 210 pauleit_korrektur4.indd 210 06.11.2008 13:21:44 «Lebende Ausstellung», Wunderkammer, Notation Abb. 2: Serie A–C Medienwechsel: Das traditionelle, lineare Medium Film (Abbildung 2A) wird in seiner Umsetzung im digitalen Raum in eine neue, logische Ordnung übertragen: Abbildung 2B zeigt schematisch die Organisation eines Video Title Set (VTS) einer DVD. Anstatt der linearen Anordnung, die einer linearen Zeitlichkeit entspricht werden kleinste Packete (Video, Audio, sowie subpicture-Information) sowie Steu- erbefehle hierarchisch gemäß der Logik des Dateisystems gespeichert und können non-linear aufgerufen und dekodiert werden. 211 pauleit_korrektur4.indd 211 06.11.2008 13:21:45 Michael Loebenstein Abbildung 2C demonstriert schematisch ein (leider selten genutztes) Feature der DVD: Mittels seamless branching (dt. «nahtloses Verzweigen») können kontin- gente Elemente (Sequenzen unterschiedlichen semantischen Inhalts, Formats und unterschiedlicher Dauer) im Dekodierungsprozess «nahtlos», d.h. für den Benut- zer / die Benutzerin unsichtbar zu einem neuen, linearen Ablauf verknüpft werden - ein klarer Gegensatz zum Filmschnitt als Akt mutwilliger Trennung, als seamy branching. Abb. 3: Serie A–C 212 pauleit_korrektur4.indd 212 06.11.2008 13:21:45 «Lebende Ausstellung», Wunderkammer, Notation Abb. 3 zeigt drei Screenshots aus einem CD-Rom-Projekt, welches im Rahmen ei- nes Studienprojekts des Lehrstuhls für Geschichte und Ästhetik der Medien der Friedrich Schiller-Universität Jena 2001 realisiert wurde.14 Die CD-Rom greift einen frühen (Werbe-)Kurzfilm auf und bearbeitet ihn mit diskursiven Techniken aus dem 21. Jahrhundert. Ausgehend von dem gleichnami- gen Film aus dem Jahr 1913 – also zu Beginn der narrativen Linearisierung des Kinos – sollte eine Brücke über 100 Jahre Laufbild zu nicht-linearen Präsentations- weisen gebaut werden. Strategien der epistemologischen und visuellen Wissens- vermittlung wurden erprobt, die in nichthierarchischen Diskursformen begründet sind. Der Film ist damit zugleich Gegenstand und Werkzeug der Untersuchung – entlang seiner «Timeline», also der horizontalen Zeitleiste können auf drei Ebe- nen (theoretisch, historisch, analytisch) Kontextmaterialien zu einzelnen Szenen eingeblendet werden. Das beinhaltet genaue Analysen einzelner Einstellungen, aber auch schematische Erläuterungen zu Set-Konstruktion und Kamerastandpunkt, sowie historisches und filmarchivarisches Hintergrundwissen in Form von Texten, Abbildungen und Videointerviews mit Experten. So bietet die in Abbildung 3A dargestellte Szene folgende «Anschlußmöglichkeiten»: Historisch: Das Plakat und sein Auftraggeber: Die Firma Neuber (Text) / Über ‹Neubozon› (Videointerview) / Über das Plakat (Videointerview) / Plakat und Autorenschaft (Videointerview) / Exotismus (Text) Analytisch: Die letzte Einstellung, oder: Was bleibt? (Text) / Frühes Kino und Tiefenschärfe (Text) An der in Abbildung 3B dargestellten Szene sind unter «Theorie» Texte und Lite- raturverweise zu «Kleidung und Oberflächencharakter des Körpers» bereitgestellt: einer zu Historizotät und Kostüm, ein zweiter über Gender -und Klassendarstel- lung mittels Kleidung (Abb. 3C). Einerseits werden so Materialien aus Bild, Ton und Schrift bereitgestellt, um die historischen Herstellungszusammenhänge und systematischen Lektürebeziehun- gen zu erhellen, andererseits wird der Film selbst zur Navigationsleiste im Diskurs einer CD-ROM. 14 Leitung: Karl Sierek, Mitarbeit: Patrick Kranzlmüller, Michael Loebenstein, Claudia Slanar, Axel Swoboda, sowie Studierende der Universität Jena. Informationen und Bestellung unter Infos: http://www.bbi.ac.at/ninette.html. 213 pauleit_korrektur4.indd 213 06.11.2008 13:21:46 Michael Loebenstein Abb. 4: Serie A–B Abbildung 4A ist ein Screenshot aus dem Bonusmaterial zur Filmmuseums- DVD Blind Husbands (Edition Österreichisches Filmmuseum, 2006). Mittels Splitscreen, der im Videoschnittprogramm hergestellt wurde, wird hier in einem kurzen, filmvermittelnden Film die Rekonstruktions- und Restaurierungsarbeit des Museums demonstriert. Abbildung 4B zeigt die Re-Organisation des vormals «nahtlosen» Materials als Lückentext im Schnittprogramm. Die obere Leiste zeigt eine kurze Sequenz, zerteilt in die einzelnen Einstellungen; die untere Leiste die gleiche Sequenz aus einer anderen, späteren Schnittfassung des Films. Die Lücken kennzeichnen fehlende Einstellungen, bzw. die Kürzungen in der späteren Version – Unterschiede, die in der Projektion oder in der Videosichtung «spürbar» sind (schnellerer Rhythmus der bearbeiteten Fassung) werden so anschaulich. Abb. 5 ist eine Kadervergrößerung aus Norbert Pfaffenbichlers Mosaik Méca- nique (A 2008), einem knapp 11-minütigen Avantgardefilm, der mit Unterstüt- zung des Filmmuseums produziert wurde. Mosaik Mécanique verdeutlicht das erkenntnisfördernde Potential des experimentellen Kinos – eine frühe Chaplin- Komödie wird per multiplem Splitscreen (1 Fenster für jede Einstellung) quasi ver- räumlicht; die lineare Zeit der Filmerzählung wird damit aufgebrochen und quasi als Text (als Notation des Films) lesbar. 214 pauleit_korrektur4.indd 214 06.11.2008 13:21:46 «Lebende Ausstellung», Wunderkammer, Notation Abb. 5 215 pauleit_korrektur4.indd 215 06.11.2008 13:21:48 Michael Baute und Volker Pantenburg Klassiker des «Filmvermittelnden Films» Ein Gespräch1 Volker Pantenburg: Im Titel «Klassiker des ‹Filmvermittelnden Films›» stecken zwei Behauptungen. Zum einen die, dass es ein Korpus von Filmen gibt, die sinnvoll mit diesem Begriff beschrieben werden können. In der Filmwissenschaft würde man solche Filme als Gebrauchsfilme bezeichnen2, da sie einen bestimmten Zweck ver- folgen und einen pragmatischen Hintergrund haben. Sie sollen etwas erläutern, erklären, eben vermitteln, und zwar die Frage, was das ist: Film, Kino, und wie es funktioniert. Die zweite Behauptung ist die weitergehende, dass es innerhalb dieser Gruppe auch eine Tradition gibt und Arbeiten, die entsprechend als «Klassiker» bezeichnet werden können. Darin steckt die Ironie, dass der Begriff «Klassiker» eine Öffentlichkeit voraussetzt, oder zumindest eine etwas breitere Wahrnehmung. Weder das eine noch das andere scheint uns bei diesen Arbeiten der Fall zu sein. Michael Baute: Es handelt sich bei diesen Filmarbeiten offensichtlich um «marginale Formen», die im Diskurs selten vorkommen. Selbst in den gegenwärtigen Diskussionen um Vermittlung von Medienkompetenz, um Kino und Schule und um das Verhältnis von Bildung und Kino werden diese Arbeiten kaum erwähnt. Warum ist das so? Eine offensichtliche Antwort ist, dass diese Filme noch keinen anerkannten Sta- tus gefunden haben. Bei diesen Filmen handelt es sich aus verschiedenen Gründen nicht um «Werke» im leicht identifizierbaren Sinn. Weil sie auf keinen marktähn- 1 Das Gespräch fand im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Filme sehen, Kino verstehen» am 5. Juni 2007 im Kino 46 statt. Die beiden Autoren präsentierten Ausschnitte aus Filmvermitteln- den Filmen, die sie im Gespräch kommentierten. Seit Anfang 2008 arbeiten sie gemeinsam mit Stefan Petke, Stefanie Schlüter und Erik Stein an dem von der Kulturstiftung des Bundes ge- förderten Forschungsprojekt «Die Kunst der Vermittlung. Aus den Archiven des Filmvermit- telnden Films», das sich die Sammlung, Systematisierung, Katalogisierung und Erforschung dieses Genres zur Aufgabe gemacht hat. Die Ergebnisse werden auf der Internetseite www. kunst-der-vermittlung.de und in Veranstaltungen im Kino präsentiert. (Anm. d. Hrsg.) 2 Vgl. die Hefte 14/2/2005 und 15/1/2006 der Zeitschrift montage/av, beide mit dem Schwer- punktthema «Gebrauchsfilm». 216 pauleit_korrektur4.indd 216 06.11.2008 13:21:48 Klassiker des «Filmvermittelnden Films» lichen und objektivierenden Umschlagplatz gerichtet sind, wie beispielsweise das Feld der «Kunst» oder das der «Wissenschaft» ihn bietet. Weil sie in ihrer jeweiligen Haltung zu ihren primären Objekten (den behandelten Filmen) und ihrem An- spruch auf sie ihre Sekundarität – analytisch, genießend… – unterstreichen und nicht, wie beispielsweise der Found Footage-Film, die dabei zugrunde liegende Unterscheidung von «primär und sekundär» generell ausstellen und unterhöhlen wollen.3 Und weil – in Deutschland zumindest, in Frankreich ist das möglicherwei- se anders – das Arbeiten über und zugleich mit Film kaum eine anerkannte Haupt- tätigkeit ist, deren Ausdruck die Kenntnis solcher Arbeiten wäre. So sind viele der Filme, die wir «Klassiker» nennen, von ihrem Produktionsstatus her Neben- und nicht Hauptwerke. Sie existieren klandestin. Pantenburg: Klandestin, das heißt: Schwer zugänglich, selten zu sehen, ohne be- stimmten Ort. Oder vielleicht müsste man sagen: Es sind unterschiedliche Orte, de- nen entsprechend unklare, unspezifische Öffentlichkeiten entsprechen. Archive von öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, in denen die Filmvermittlung eine Schnitt- menge zwischen dem föderalen Bildungsauftrag und der Kinobegeisterung einzelner Redakteure bildet oder bildete.4 Filmarchive und Filmmuseen, in denen ebenfalls im günstigen Falle Kinointelligenz auf Vermittlungsinteresse stößt;5 und – neuerdings – eine potentiell größere Öffentlichkeit, die filmanalytische Beiträge in der Großrubrik «Bonus» auf DVDs sehen kann. Da sind «Filmvermittelnde Filme» dann allerdings lediglich eines von zahlreichen Extras und oft nicht unterschieden von «Making Ofs» oder Trailern für andere Filme. Filmvermittlung und Werbemaßnahmen, die den Film in die Warenkette hinein verlängern sollen, stehen von der Präsentation her auf einer Stufe, die Autoren der Analysen werden oft gar nicht genannt. Sicher ist auch das inter- national unterschiedlich, je nach dem Status, den die Filmvermittlung besitzt. Das vergleichsweise neue Medium DVD scheint bei allen technischen Unzuläng- lichkeiten zumindest zwei Effekte zu haben: Es gibt immer mehr Filme zu sehen – und zwar quer durch die Genres und Register –, und es gibt auch in den Filmen mehr zu sehen oder an ihnen zu lernen. Als analytisches Werkzeug wird die DVD bisher allerdings in Deutschland eher beschworen als wirklich ausgenutzt, von Pilotprojek- ten wie Enno Patalas’ Metropolis-Studienfassung einmal abgesehen.6 3 Bspw. Arbeiten von Gustav Deutsch, Martin Arnold, Peter Tscherkassky und Matthias Müller. 4 Vgl. zur WDR-Filmredaktion Michael Baute: Cinephiles Fernsehen. Zur Abwicklung der WDR-Filmredaktion. In: Recherche Film und Fernsehen, Nr. 2/2007, S. 68-69. 5 Siehe bspw. die Vermittlungsabteilungen des Österreichischen Filmmuseums und die Initiati- ve «Was ist Kino?» der Freunde der Deutschen Kinemathek, der Deutschen Kinemathek und der Filmvermittlerin Stefanie Schlüter in Berlin. 6 Metropolis, D 1927, Regie: Fritz Lang, DVD-Studienfassung, Universität der Künste Berlin, Filminstitut, 2006. 217 pauleit_korrektur4.indd 217 06.11.2008 13:21:49 Michael Baute und Volker Pantenburg Baute: Konkret sind viele der «Filmvermittelnden Filme», die uns interessieren, als Nebenwerke entstanden, weil sie im Zusammenhang und gerichtet auf die Fern- sehausstrahlung der Hauptwerke, der jeweiligen Filme, produziert wurden (so Hel- mut Färbers’ Ozu-Analyse), weil sie eine DVD-Veröffentlichung begleiten (Win- fried Günthers Stück zu Pursued) oder weil sie eine Retrospektive oder andere Ereignisse annoncieren. Pantenburg: Die Auswahl der sechs Filme, aus denen wir Ausschnitte kommentieren, ist hedonistisch und sicher auch etwas idiosynkratisch. Wir sammeln seit längerer Zeit, aber diese Sammeltätigkeit folgt eher dem Prinzip des Findens als dem der ge- zielten Suche. Die Beispiele sind uns über einen längeren Zeitraum begegnet, und an jedem der Beispiele gab es etwas, das uns einleuchtete und zugleich überraschte. Etwas, an dem wir hängen blieben, weil wir es so noch nicht gesehen hatten. In allen Arbeiten scheint uns zu gelingen, was Harun Farocki einmal als Lehr- und Lernziel einer Seminarveranstaltung formuliert hat: «Einfachheit ohne Vereinfachung». 1. Helmut Färber: DREI MINUTEN IN EINEM FILM VON OZU (WDR 1988, 15 Minuten) Pantenburg: Der gerade genannte Anspruch – «Einfachheit ohne Vereinfachung» – ist in Helmut Färbers Drei Minuten in einem Film von Ozu, einer Sendung von 1988 für den WDR, ebenso erkennbar wie in Farockis Arbeiten, aus denen wir später einen Ausschnitt sehen werden. Hier ist die Einfachheit an einer Selbstbe- schränkung abzulesen: Nach ein paar einführenden Worten und der Einspielung der Szene aus Später Frühling (Banshun, J 1949) benutzt Färber ausschließlich Fotografien. Die Szene, die er zeigt und danach analysiert, ist unscheinbar, ein Ra- dausflug von Noriko und Hattori, einem jungen Angestellten. Von jeder Einstel- lung gibt es eine Fotografie, lediglich von einigen wenigen Einstellungen, deren Bildinhalt sich stark verändert, zwei; eine vom Beginn, eine von ihrem Ende. Das vermeintlich Simple daran bringt zugleich das komplizierte Verhältnis zur An- schauung, das zwischen Fotografie und Film herrscht.7 Helmut Färber hat 1977 ein Buch mit dem Titel Baukunst und Film8 publiziert, in dem es um sehr umfassende historische Zusammenhänge zwischen Architektur und Kino geht. Hier, in der Sendung über Ozu, spricht er ganz nah am Material und sehr präzise über die Bauweise einer vermeintlich unscheinbaren Szene. Die Rede ist von den Einstellungstypen und ihrem Wechsel, von den Korrespondenzen und Unterschie- den, den Blickachsen der Figuren und der Kamera, dem Status der Bewegung. 7 Winfried Pauleit hat sich in seinem Buch über die «Filmstandbilder» damit ausführlich beschäftigt: Winfried Pauleit: Filmstandbilder. Passagen zwischen Kunst und Kino. Frankfurt am Main 2004. 8 Helmut Färber: Baukunst und Film. München 1977. 218 pauleit_korrektur4.indd 218 06.11.2008 13:21:49 Klassiker des «Filmvermittelnden Films» Färbers Methode hat zunächst, im buchstäblichen Entlangschreiten an den still gestellten Einzelbildern, nüchtern-re- gistrierenden Charakter (Abb. 1 und 2). Er weist mit dem Bleistift auf Einzel- nes hin, nimmt Fotos aus der Chronolo- gie der Abfolge heraus und legt sie kurz nebeneinander, um kompositorische Entsprechungen zu zeigen (Abb. 3). Es folgt dann aber eine verblüf- fend einfache Anordnung, die aus dem Nacheinander der Einstellungsfolge eine räumliche Anordnung an der Wand des Fernsehstudios macht. Fragen der Proportionalität, der Tek- tonik und der räumlichen Bildverhält- nisse spielen in jedem Film eine große Rolle. Aber wie können solche Dinge analytisch erfasst, veranschaulicht und vermittelt werden? Hier wird es ganz evident, was unter der «Architektur» ei- ner Szene zu verstehen sein könnte, ihrer «Bauweise», von der man oft metapho- risch spricht. Färber fasst das am Schluss so zusammen (Abb. 4 und 5): «Wenn man das Stück im gan- zen betrachtet, so zeigt sich, daß es gebaut ist aus zwei Typen von Einstellungen, Cadragen: aus den NAH-Aufnahmen, zwischen de- nen zum einen jene Art Grund- Abb. 1–3: Drei Minuten in einem Film ähnlichkeit besteht – vor allem von Ozu (Helmut Färber) durch die, fast, gleichbleibende Horizontlinie – und zum anderen die verschiedenen benannten Ent- sprechungen bestehen. Die TOTALEN sind – wie dies die Anordnung der Photogramme zu zeigen versucht – für die NAH-Aufnahmen eine Art Rahmen, indem von der TOTALE (5) die TOTALE (9) eine Umkeh- rung ist, und ebenso (14) eine Umkehrung von (10).»9 9 Der Text von Färbers Sendung ist – durchgesehen und erweitert im März 2003 – in der Zeit- schrift shomingeki nachzulesen: Helmut Färber: «Drei Minuten in einem Film von Ozu». In: 219 pauleit_korrektur4.indd 219 06.11.2008 13:21:49 Michael Baute und Volker Pantenburg Baute: Der Film von Färber ist in ei- nem Studio des WDR aufgenommen. Das Studio ist gleichmäßig hell ausge- leuchtet. Einmal spürt man die starken Scheinwerfer, die für dieses Maß an Licht nötig sind, wenn deren Strahl sich auf Färbers Hinterkopf spiegelt. Die Wände des Studios sind in einem Grau gehal- ten, das mit dem Bildhintergrund der in zwei senkrechten Bahnen angebrachten Standfotos zu verfließen scheint. In der letzten Einstellung dieses Ausschnitts sieht man, dass die Bilder mit kleinen Nadeln an dieser grau gestrichenen Wand befestigt sind (Abb. 6). Klare Schnitte, nach denen jeweils ein Unterschied zu bemerken ist in der Nähe des Sprechenden zum Mikro- phon, unterstreichen die einfache Ma- terialität der färberischen Anordnung. Diese Anordnung handelt vom Be- greifen und vom Ins-Verhältnis-Setzen des Betrachters zu den Bildern. Dieser Ausschnitt ist von einer Symmetrie aus Nahen und Totalen bestimmt. Die Struktur des Einstellungswechsels bei Färber verdoppelt die Struktur des Ein- stellungswechsels bei Ozu. Pantenburg: Es unterscheidet Färbers Analyse von den übrigen Beispielen, die wir hier kommentieren, dass er selbst im Bild agiert und damit erkennbar ist Abb. 4–6: Drei Minuten in einem Film als Wahrnehmender und Zeigender. von Ozu (Helmut Färber) shomingeki 13/14, Frühling/Sommer 2003, S. 9-15. Zitiert ist hier nach dieser Fassung. 220 pauleit_korrektur4.indd 220 06.11.2008 13:21:50 Klassiker des «Filmvermittelnden Films» 2. Winfried Günther: «Action, action, action – logische Dinge in logischer Abfolge». Aspekte der Inszenierungsweise von PURSUED. (2005; 38 Minuten) Baute: Beim Ausschnitt aus Winfried Günthers Stück zu Pursued, das als Bo- nusmaterial zur deutschen Ausgabe der DVD 2005 hergestellt wurde,10 hat man es mit einer anderen Methode inner- halb des Genres des Filmvermittelnden Films zu tun. Für die Beschreibung einer Eigenheit von Raoul Walshs Pursued zieht Günther einen Vergleich zu Filmen eines anderen Regisseurs, der im gleichen Genre, dem Western, gearbeitet hat. Abb. 7: Fort Apache (John Ford) Pantenburg: Hier ist das der verglei- chende Blick auf John Ford. Ausgangs- punkt ist einer der Gemeinplätze der Westernrezeption: «Im Allgemeinen sind Landschaften im Western eher mit einem Gefühl von Weite und Ungebun- denheit assoziiert.» Es scheint deshalb so, als gäbe es im Western ein großes Maß an Invarianz und genrespezifi- scher Typisierung. Zudem wird dann meist auch gleich unterstellt, dass die Weite der Landschaft für Freiheit ste- Abb. 8: Verfolgt (Raoul Walsh) he. Von diesem Stereotyp geht Günther aus, um den konkreten Film dagegen sprechen zu lassen. In der Gegenüberstellung von Ford und Walsh wird deutlich, dass in der Ka- drierung der Landschaft (oder allgemeiner: in der Herstellung eines Bildes) die Möglichkeit der Psychologisierung steckt. Der Schauplatz kann zum Mit- oder Ge- genspieler einer Figur werden oder zur Allegorie ihrer inneren Konflikte. Man sieht das in Günthers Kontrastmontage zwischen Bildern aus Ford-Filmen und Pursu- ed. «Das Spezifische dieser Sequenzen lässt sich besonders plastisch im Kontrast zu der Art ermessen, wie John Ford normalerweise Reiter im Monument Valley zeigt.» Sofort springt die Weite und Offenheit der Horizonte ins Auge. Bei Walsh dagegen sind die Schluchten und Bergkuppen so gefilmt, dass sie beengend, beinah klaust- 10 Verfolgt (Pursued), USA 1947, Regie: Raoul Walsh. DVD-Veröffentlichung Kinowelt 2005. 221 pauleit_korrektur4.indd 221 06.11.2008 13:21:50 Michael Baute und Volker Pantenburg rophobisch wirken. Und diese Differenz zwischen Weite und Enge verändert auch die Genre-Zuordnung von Pursued. Aus dem Western wird durch diese Transfor- mation der Schauplätze beinah ein Film noir. Baute: Der Sprachgestus des von Günther selbst aus dem Off eingesprochenen Texts ist dabei der der gelehrten Einführung, der Einleitung, der Zusammenfas- sung. Diese Herkunft aus den Konventionen der Schriftsprache erkennt man un- ter anderem am häufigen Vorkommen von Relativsätzen. Doch trotz der Nähe des gesprochenen zum geschriebenen Text entwickelt sich in dem reihenden, vielleicht redundanten Aufzählen und Beschreiben der Aufnahmen sowas wie die Verschrift- lichung und Hörbarmachung eines prototypischen cinéphilen Bildverarbeitungs- modus. Pantenburg: In seiner Ozu-Analyse erwähnt Helmut Färber nur einmal einen Teil des Films, der außerhalb des analysierten Segments liegt: Er sagt etwas über die letzte Einstellung des gesamten Films, weil sie ganz ähnlich komponiert ist wie die erste Einstellung des besprochenen Ausschnitts. Das ist ein Zeichen für den übergreifenden, sehr subtil wirkenden Zusammenhalt bei Ozu. Hier, bei Winfried Günther, gibt es solche Querverbindungen zu anderen Szenen aus Pursued immer wieder, allerdings auf der Ebene des Plots und der Nacherzählung. Man merkt: Er will nicht darauf verzichten, auch zu erzählen, worum es geht. Manchmal wirkt das beinah wie Misstrauen gegenüber dem eigenen Verfahren: Es werden immer noch mehr Informationen geliefert, als reiche der Hinweis auf die Bilder nicht aus, als könnten die Bilder nicht für sich sprechen. Baute: Das wird auch damit zu tun haben, dass Günther nicht in die Einstellungen eingreift. Er will sie in ihrem Ganzen belassen und nimmt damit natürlich auch Längen seines eigenen Texts in Kauf. Er ordnet seinen eigenen, zweiten Diskurs der Vermittlung dem ersten, primären des Films unter. Er scheint den Film möglichst unangetastet vermitteln zu wollen, als sei er ein zerbrechliches Gut. Pantenburg: Im zweiten Teil des Ausschnitts ist das anders. Nun ist das Erklärende an die Bilder aus den John Ford-Filmen delegiert, Günther muss dann nicht mehr so viel sagen. Was mir besonders gefällt: Einmal benennt er eines der wiederkeh- renden Motive so, wie man es in einem «Motivlexikon der Kunstgeschichte» benen- nen würde: «Reiter vor Felsformationen»; damit ist auch eine Adelung des Western verbunden, dessen Ikonographie mit der gleichen Ernsthaftigkeit beschrieben wird wie Erwin Panofsky oder Aby Warburg sie einer Reitergruppe in einem Gemälde von Delacroix entgegengebracht hätten. Baute: Um den unterschiedlichen Einsatz des Motivs «Reiter vor Felsformationen» bei Ford und Walsh zu verdeutlichen, beginnt Günther seine Ford-Reihe mit einem Ausschnitt, in dem eine ganz andere Musik zu hören ist als zuvor bei Raoul Walsh. Bei 222 pauleit_korrektur4.indd 222 06.11.2008 13:21:51 Klassiker des «Filmvermittelnden Films» Pursued ist die Musik dunkel, fast dissonant, bei dem ersten Ausschnitt der Ford- Reihe erklingt eine fröhliche Kavalleriemusik mit heißspornig rufenden Reitern. Was mir noch zu Günthers Motivkette einfällt: Wir sind ja in den verschiedens- ten Institutionen (Eltern, Schule, Universität) vom Wiederholungsverbot infiziert. In der Schule und der Uni wird es semantisch als Redundanz bestimmt; die identische sprachliche Wiederholung ist defizitär; Ausdruck mangelnder stilistischer Originalität. Andauernd müssen Synonyme und Paraphrasen gefunden werden. Bei den Wiederho- lungen in Günthers Analyse dagegen merkt man, wie konstitutiv toll und überschüssig die scheinbar redundante Wiederholung für den Cinéphilen ist. Das Wiederholen, der Wunsch nach dem «Noch einmal», bzw. dem «leicht verschiedenen, etwas anderen Noch einmal» ist ja ein spezifisches Verlangen des Kino-Infizierten, bzw. des Fans überhaupt. Der Fan entdeckt Differenzqualitäten, die dem Nicht-Fan strukturell ent- gehen müssen. In der sprachlichen Wiederholung des So-Gesehehen kommt das so als different, nuanciert anders Gesehene, bzw. das Wieder- und Neugesehene zu seinem eigenen Recht. Das ist ein besonderes Recht, unbeschädigt von Mitteilungsabsichten unter dem Regime hochfliegender Relevanz. Es geht dabei aber nicht nur um die He- rausstellung von Differenzen. Zugleich wird dabei auch eine von anderen Zuschau- ern aufgreifbare Methode erarbeitet. In Winfried Günthers Diskurs wird neben den herkömmlichen Rezeptions-Verfahren ein visueller und textueller Raum aufgespannt für das eigentümliche Zeitempfinden des Kino-Infizierten und dessen Rhythmus des Schauens. Dies ermöglicht die individuelle Einschreibung ins Kino-Denken. Pantenburg: Günther hat diese 38-minütige Analyse an einem einzigen Tag im Schneideraum produziert. Sicher auch deshalb sind Kommentartext und montier- te Szene nicht immer passgenau aufeinander abgestimmt. Umso treffender sind die Momente, wo Bild und Kommentar genau zusammenfallen; wo diese Redundanz und Wiederholung, von der Du sprichst, etwas Besonderes erzeugt: So zum Beispiel, wenn Günther über eine Szene bei Ford sagt: «Der Blick öffnet sich immer wieder auf den Horizont, mag er momentweise auch einmal verstellt sein, und die grandiose Naturkulisse verleiht aufgrund der gewählten Perspektive den Menschen und ihrem Tun zusätzlich Dignität und Bedeutsamkeit.» Während er diese Sätze spricht, ist im Wesentlichen genau das zu sehen, was er benennt: Der Horizont, dann die Kulisse des Monument Valleys. Aber gleich danach scheren Text und Bild kurz auseinander; Günther fügt der Beschreibung von «Dignität und Bedeutsamkeit» hinzu: «Selbst, wenn sie im Bild so winzig erscheinen wie in Pursued.» Weil im Bild aber weiterhin der Film von Ford zu sehen ist, scheint das wie ein kleiner Bruch einer Verabredung. Es ist verwirrend, wenn in solchen Analysen etwas beschrieben wird, das gerade nicht in diesem Bild zu sehen ist. So wie hier ein Ford-Bild zu sehen ist, Günther aber kon- trastierend über den Bildaufbau in Pursued spricht. Der Text kommt hier dem nicht nach, was man als Folgepflicht gegenüber dem Sichtbaren bezeichnen könnte. Der Rahmen des Sagbaren wird durch den Rahmen des Sichtbaren begrenzt. 223 pauleit_korrektur4.indd 223 06.11.2008 13:21:51 Michael Baute und Volker Pantenburg Baute: Das unterscheidet den Filmvermittelnden Film auch von Audiokommenta- ren, jedenfalls von denen, die wir uns angehört haben. Da wird ja fast laufend über Sachen gesprochen, die man gerade nicht sieht: Wie schwierig es für den Schau- spieler war, sich seine Dialogzeile zu merken, wie Regisseur und Drehbuchautor sich beim Barbecue kennen gelernt haben, wie das Skriptgirl bei der Premierenfeier in den Swimming Pool fiel, in dem kein Wasser war. Pantenburg: Günthers Pursued-Analyse endet mit einem sehr eigenständigen Ka- pitel. Er zitiert den am häufigsten zitierten Walsh-Satz noch einmal, um danach den Film selbst dagegen in Anschlag zu bringen: «Es gibt nur eine einzige Weise, um einen Mann zu zeigen, der ein Zimmer betritt», hat Walsh gesagt, und Günther antwortet darauf: «Sehen wir uns also an, wie Walsh in Pursued Personen zeigt, die ein Zimmer betreten». Es folgt dann eine Motivanalyse genau dieser Handlung und all ihrer Dar- stellungsmodi im Film. Günther besteht darauf, nicht nur einige exemplarische Szenen zu zeigen, sondern alle Szenen, in denen jemand durch eine Tür kommt. Der gesamte Film erzählt sich in dieser Konzentration auf ein einzelnes Motiv noch einmal. Baute: Das ist wie ein autonomer Experimentalfilm innerhalb der Analyse. Über zehn Minuten ist das lang! Pantenburg: Und zugleich lässt sich dieses Verfahren auf andere Filme anwenden. Wie filmt Abbas Kiarostami das Auto in den zahlreichen Szenen, in denen es bei ihm im Zentrum steht?11 Wie filmt Godard ein Gespräch? Wenn man diese Szenen direkt hintereinander montiert, zeigt sich ganz unmittelbar etwas von den Mög- lichkeiten. Man sieht sofort, dass jeder Film aus tausenden von kleinen und größe- ren Inszenierungsentscheidungen besteht. 3. Jean Douchet: M. EINE ANALYSE (Deutsche Fassung 1989, 45 Minuten) Pantenburg: Die M-Analyse von Jean Douchet ist eine von mehreren Sendungen, die in der Reihe Image par Image seit den 80er Jahren produziert wurden.12 Die Arbei- ten dienen zu Bildungszwecken, und diese eine hier - die zu M - ist vom FWU 1989 in Deutschland herausgebracht worden. Der Titel Image par Image ist programma- 11 Vgl. dazu - allerdings im Modus des Texts - Alain Bergala: Abbas Kiarostami. Paris 2004, S. 75-77. 12 M – Eine Stadt sucht einen Mörder, D 1931, Regie: Fritz Lang. Weitere Sendungen sind in der Reihe Image par Image zu den folgenden Filmen erschienen:. Birth of a nation (USA 1915, Regie: D.W. Griffith, Analyse von Gérard Leblanc), Citizen Kane (USA 1941, Regie: Or- son Welles, Analyse von Radha-Rajen Jaganathen, Panzerkreuzer Potemkin (UdSSR 1925, Regie: Sergej Eisenstein, Analyse von Radha-Rajen Jaganathen), La règle du jeu (F 1939, Regie: Jean Renoir, Analyse von Pierre Oscar Levy). Nach unserem Wissen ist lediglich die M-Analyse auf Deutsch übersetzt (produziert vom FWU, deutsche Bearbeitung des Films von Frieda Grafe und Enno Patalas). 224 pauleit_korrektur4.indd 224 06.11.2008 13:21:51 Klassiker des «Filmvermittelnden Films» tisch, denn das Prinzip der Sendungen besteht darin, sehr kleinteilig vorzugehen und sich besonders auf kurze Abschnitte zu konzentrieren. In diesem Fall ist es die be- kannte erste Sequenz aus M: Die spielenden Kinder mit dem singenden Mädchen im Zentrum des Kreises, die Nachbarin und ihr Ruf vom Balkon hinab, dann die Mutter und, ihr zermürbendes Warten auf ihre Tochter, die nicht kommt, bis hin zum ersten Auftritt Peter Lorres als sprechender Schatten auf der Litfasssäule. Zu diesem kurzen Stück von knapp vier Minuten Länge kehrt Douchet immer wieder zurück. Baute: In dem Segment des Films, das kurz nach ein paar einleitenden Bemerkun- gen zur historischen Bedeutung von Langs M kommt, ist die erste Einstellung des Films wie von einem Passepartout gerahmt. Mich lässt das an die Trägertafeln von Mikroskopen denken. Dazu die Stimme des Sprechers der Lehrfilme aus der Kind- heit. Ein beweglicher Gegenstand wird untersucht wie im Physikunterricht. Pantenburg: In der Formulierung, dass der Reim der Kinder «den Film in Gang setzt», steckt eine merkwürdige Verabsolutierung des Filmkörpers. Fast eine ma- gische Idee vom Kino. Mich erinnert Deine Mikroskop-Assoziation stärker an den Biologieunterricht als an die Physikstunden. Das passt auch gut zusammen mit der Vorliebe der französischen Cinéphilie, die Einstellung als zentrale Einheit aufzufas- sen und zum Angelpunkt analytischer und moralischer Überlegungen zu machen. Es gibt ein ganzes Arsenal organizistischer Metaphern bei Serge Daney, Gilles De- leuze und anderen, in denen die Einstellung mit dem Übergang vom Toten zum Lebendigen verbunden wird. Diese Analyse ist die erste in unserer Reihe, die mit Wiederholungen der ganzen Einstellung und mit zahlreichen anderen analytischen Eingriffen arbeitet. Oft wird die Einstellung auf ihr erstes und letztes Bild verkürzt. Das ist wie eine Abbreviatur: Zwei Indexbilder, diagonal nebeneinander gestellt, wie man es heute von Kunstin- stallationen kennt, vertreten die gesamte Einstellung. Dieses Verfahren ermöglicht es, über den in der Erinnerung enthaltenen Rest, das Dazwischen, trotz seiner Ab- wesenheit sprechen zu können. Baute: Wie das eine Bild (vom Beginn der Einstellung) von rechts unten zur Mitte vorstößt und das andere (vom Ende der Einstellung), nach links oben bewegt und es beinahe verdrängt (Abb. 9)! Wie die bewegten Bilder und Töne mit einer Schichtung von Eingriffen, visuel- len und schematisierenden Manipulationen bearbeitet werden! Schon zuvor waren sie durch die Einspannung auf den grauen Grund und die über sie aus dem Off ein- gesprochene, analytisch kommentierende Stimme distanziert. Die Bilder gewinnen so eine Freiheit gegenüber der linear ablaufenden Narration. Pantenburg: Diese Stillstellung, auch das wissenschaftliche Ethos, das Du mit dem Ver- gleich zur Naturwissenschaft ansprichst, schließt an eine Tradition der französischen 225 pauleit_korrektur4.indd 225 06.11.2008 13:21:51 Michael Baute und Volker Pantenburg Filmanalyse an. Zu Beginn der Siebzi- ger und im Ernstnehmen der Idee, der Film sei so etwas wie eine Sprache mit beschreibbarer Syntax, versuchte man, diesen «Text» genauso akribisch und prä- zise zu analysieren wie es die Literatur- wissenschaft machte. Besonders Roland Barthes’ Analyse einer Novelle von Balzac in S/Z13 diente als Vorbild. Das Verfahren hieß «Analyse textuelle» und führte zu regelrechten Präzisionsexzessen. Thierry Kuntzel hat 1971 eine solche Analyse der ersten Einstellungen von M vorgelegt;14 ich kann mir gut vorstellen, dass auch dies hier einen Hintergrund bildet. Dou- chets Analyse wäre dann eine erneute Rückübersetzung dieser Vertextung in die Ausgangsbilder des Films. Baute: Innerhalb der vier Minuten dieses Ausschnitts wird die erste Ein- Abb. 9 & 10: M – Eine Analyse stellung aus Langs Film, die ca. 60 Se- (Jean Douchet) kunden dauert, zweimal gezeigt. Dabei wird sie unterbrochen und angerei- chert, in Bestandteile zerlegt, gegliedert; sie wird sogar mit konzentrischen Kreisen versehen, die nicht aus Langs Film stammen (Abb.10). Diese konzentrischen Kreise lassen das Bild wie in einem Zerrspiegel erscheinen. Die Kinder sind nun, im still gestellten Bild, Umrisse, die sich zum Außen des Bilds verlängern. Douchet entwickelt aus dieser Bildmetapher eine seiner Thesen zu Fritz Langs Film. Über die Fabel von der Ergreifung eines Kindermörders hinaus wird M als Untersuchung des Verhältnisses von Einzelnem und Gesellschaft interpretiert. Aus dem ersten Motiv der ersten Einstellung (dem Kinderkreis) wird das Thema und aus diesem «Kern» die folgende Gedankenentwicklung des Films hergeleitet. Ein anderes Mal in diesem Film gibt es eine weitere Überraschung. Etwas, was man vorher nicht kannte, etwas Niegesehenes. Die zwei Bilder in einem Kader am Anfang der Sequenz, die Du «Indexbilder» genannt hast, das war schon überra- schend. Aber wie dann zur Mitte dieses Segments vier Bilder aus der einen Einstel- 13 Roland Barthes. S/Z, Paris 1970. 14 Thierry Kuntzel: Le travail du film, 1. In: Communications, n° 19, 1972, S. 25-39. Auf Englisch erschienen: Thierry Kuntzel: The Film-Work. In: Enclitic, Vol. 2, No 1, S. 33-61. 226 pauleit_korrektur4.indd 226 06.11.2008 13:21:52 Klassiker des «Filmvermittelnden Films» lung gemacht werden! Wie der filmische Raum dabei dargelegt und erörtert wird! Das erinnert an einen aufgeschlagenen Fächer (Abb. 11 und 12). Und wie das gerade eben etablierte Fächerbild mit dem rotfarben leucht- enden Kameraperspektivsymbol wieder auf seine filmische Bewegtverfasstheit zurückverwiesen wird und dabei dann die zarten Rahmen, die um die einzelnen Bildetappen gefasst waren, einer nach dem anderen verschwinden, der Raum als komponierter sichtbar und das Bild zu einem virtuellen Kompositbild wird. Und wie der Off-Text dazu die Opposi- tionen eine nach der anderen nennt und vom Kleinen ins Große vergröbert: Kin- der – Mütter, Hof – Balkon, Oben – Un- ten, Kreis – Gerade, Spiel – Arbeit ... Abb. 11 & 12: M. Eine Analyse Pantenburg: Das ist eine andere Mög- (Jean Douchet) lichkeit, den filmischen Raum zur An- schauung zu bringen, als wir vorher beschrieben haben. Während Helmut Färber im Ozu-Stück an den Einzelbildern zeigte, wie eine Einstellungsfolge räumlich strukturiert ist, wird hier eine Kamerafahrt in ihre Abbildungsetappen aufgefä- chert, de- und rekomponiert. 4. Werner Dütsch: FRITZ LANG (D WDR 1991) Pantenburg: Einige der Sendungen, die wir zu Klassikern des Filmvermittelnden Films erklären, sind vom WDR produziert worden. Die Filmredaktion des Sen- ders hat nicht nur viele Filmvermittelnde Filme in Auftrag gegeben. Die einzel- nen Redakteure sind auch selbst als Autoren aktiv gewesen. Man sollte in diesem Zusammenhang auch Helmut Merker nennen, dessen Filmtip, ein kurzes Format zur Flankierung aktueller Kinostarts, seit 1978 über 300 Mal ausgestrahlt wurde15. Eine zentrale Figur dieser Redaktion war bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2004 Werner Dütsch; er hat zum Beispiel Sendungen Helmut Färbers und verschiedene Arbeiten von Enno Patalas und Frieda Grafe produziert, aber gelegentlich auch selbst als Autor und Regisseur Beiträge erstellt. 15 Vgl. Ekkehard Knörer: Dem Nachdenken eine Spielwiese. In: taz, 16.07.2007. 227 pauleit_korrektur4.indd 227 06.11.2008 13:21:52 Michael Baute und Volker Pantenburg In seiner Sendung zu Fritz Lang gibt es ein Kapitel zu M.16 Die Sendung ist aus Anlass von Langs 100. Geburtstag produziert worden, aber sie ist anders als alles, was man von einer Geburtstagsendung erwarten würde. Keine Huldigung, kein Herunterspulen biographischer Stationen, sondern ein kluges Umgehen und Sortieren dessen, was Lang hergestellt hat. Arbeit mit dem, an dem Lang ein Leben lang gearbeitet hat. Die acht Minuten zu M, auf deren zweite Hälfte wir uns beziehen, sind eine filmanalytische Verteidigung des von Peter Lorre gespielten Protagonisten. «Seit 60 Jahren steht fest: Dieser Mann ist ein Mörder», beginnt die Analyse, und im Folgenden wird gezeigt, dass ein wirklicher Nachweis dieser Schuld innerhalb des Films nicht zu finden ist. Baute: Dieser Teil von Dütschs Sendung ist rhetorisch ganz von dieser Frage nach Lorres Schuld oder Unschuld geleitet. Er ergreift Partei und macht sich zum Anwalt des vermeintlichen Kindsmörders. Diese Parteinahme ist natürlich auch eine, die die Filmgeschichte gegen den Strich liest. Der Kanonfilm M wird aus der Erstar- rung des Kanonischen herausgelöst. Pantenburg: Dieser ungewöhnliche Zugriff setzt ein ganzes Arsenal analytischer Möglichkeiten in Gang. Dütsch trennt Ton und Bild, setzt zentrale Dialogszenen zu gerafften Bildstrecken in ein neues Verhältnis. Es entsteht ein sehr eigener Rhyth- mus zwischen analytischer Stillstellung und erneuter Verflüssigung des Bildes. Besonders deutlich ist das, wenn man sich anschaut, wie er die Gerichtsszene am Schluss einführt: Er zeigt Langs panoramatischen Schwenk über die wie eingefro- rene Menschenmenge und das vor ihnen sitzende Gericht um den von Gründgens gespielten Unterweltchef, und plötzlich bleibt das Bild stehen. Nun werden die aufhetzend-hysterischen Rufe des Mobs über das stillgestellte Bild gelegt: «Keine Gnade mit dem Mörder», «Schlagt ihn tot, den Hund». «Aufknüp- fen, die Bestie». Die Rufe gehen über in die Grundsatzrede, in der Gründgens als Vorsitzender der Verbrecherversammlung über Lorre richtet: «Dieser Mensch muss ausgelöscht werden wie ein Schadfeuer.» «Dieser Mensch muss ausgerottet werden.» In Langs Film ist dies der Gegenschuss zu Lorres erstem Blick auf das Kellertribu- nal. Und es ist eine der wenigen völlig tonlosen, stillen Einstellungen in M, eine Art schweigender Resonanzraum, in dem die Ängste und Drohungen des bisherigen Films widerhallen. Dütschs Analyse geht sehr frei mit dieser Vorlage um, sie verdich- tet die Handlung des Films, indem sie die Hysterie und Aggressivität, die im Film erst wenig später ausbricht, gleich hier als Tonspur auf das unheimliche Bild legt. So rückt das Manifeste an die Stelle dessen, was im Film zu diesem Zeitpunkt noch latent ist. 16 Eine Textfassung von Dütschs Sendung ist unter dem Titel «Fritz Lang. Ein Essay von Werner Dütsch» abgedruckt in der Zeitschrift Steadycam Nr. 18/1991, S. 29-49. 228 pauleit_korrektur4.indd 228 06.11.2008 13:21:52 Klassiker des «Filmvermittelnden Films» Baute: Anders als in den bisher gezeigten Analy- sen hat man in diesem Ausschnitt zum ersten Mal zwei Stimmen. Werner Dütsch und sei- ne Ko-Autorin Martina Müller sprechen aus dem Off, raffend, zu- sammenfassend, brin- gen thematische Beob- achtungen an. Die zwei Stimmen sind nicht unbedingt dialogisch organisiert, sondern Abb. 13: M (Fritz Lang) vielmehr rhythmisch. Eine eindeutige Kopplung von Bild und Ton ist dabei sowohl auf der Tonebene, als auch auf der Bildebene aufgehoben. Das findet man ja schon bei Lang, dessen erster Tonfilm M war. Generell hat man das Gefühl, dass dieser Film Müller und Dütsch angeht. Sie sprechen nicht nur aus einer Position diffuser cinephiler Begeisterung, oder aus der eines filmhistorischen Vermittlungsmandats. Sie sprechen aus einer wirklichen «Betroffenheit» heraus, oder besser «Angegangenheit». Der Film rührt in ihnen. Das scheint mir markiert in dem rhythmisierten Sprechen, beispielsweise der atemlos konstatierenden Aufzählung, in der die Verben von wechselnden Sprechern mehr gesetzt, als gesprochen werden: «Lorre wird eindeutig markiert, eingekreist, gejagt, gefangen und vor ein selbsternanntes Gericht gestellt». Pantenburg: Die Gegenüberstellung der beiden M-Analysen – Douchet und Dütsch/Müller – ist aufschlussreich. Im französischen Beispiel hatte man – auch durch das ideologiekritische Vokabular – den Eindruck, dass die Anklage sich an die Gesellschaft richtet. Das wirkt manchmal etwas wohlfeil und allgemein. Dütsch dagegen stellt sich in seiner Verteidigung Lorres ganz auf die Seite des Individuums. Er will Lorre als Vertreter des Individuellen gegen den Zugriff der Gesellschaft ver- teidigen. Dabei wird letztlich eine ähnliche Geschichte erzählt, aber sie wird gewis- sermaßen von der anderen Seite her beleuchtet. 229 pauleit_korrektur4.indd 229 06.11.2008 13:21:52 Michael Baute und Volker Pantenburg 5. Harun Farocki: ARBEITER VERLASSEN DIE FABRIK (D 1995) Pantenburg: Im Abspann zu Arbeiter verlassen die Fabrik ist erneut der Name Werner Dütsch zu lesen. Auch diesen Film hat die Filmredaktion des WDR mitproduziert. Anlass ist hier al- lerdings nicht der 100. Geburtstag eines spezifischen Filmemachers, sondern des Mediums Film insgesamt. Harun Faro- cki kehrt zurück zu einem der ersten Motive der Filmgeschichte und verfolgt dieses Motiv durch 100 Jahre hindurch. Den Anfang und das Ende markiert je- weils der 50 Sekunden lange Film der Lumière-Brüder (Abb. 14 und 15).17 Hier sind Filmausschnitte aus meh- reren Jahrzehnten Filmgeschichte ver- sammelt: Dokumentarische Filme, die Aufzeichnung eines Brecht-Theater- stücks, ein Werbefilm für die Sicherungs- anlage eines Fabrikeingangs, aber auch Spielfilme von Pasolini, Griffith, Lang Abb. 14 & 15: Arbeiter verlassen die und anderen. Ein Zusammenhang wird Fabrik (Harun Farocki) gezeigt, und dieser Zusammenhang liegt einerseits in den Filmausschnitten selbst und ihrem Sujet, er wird aber andererseits von Farocki auch sehr elegant durch Mon- tage und Kommentar hergestellt und gestiftet. Einmal setzt Farocki eine Kreisblende ein, um die zupfende Arbeiterin im Bild freizustellen und den Blick auf sie zu lenken, während das Bild insgesamt verlangsamt und angehalten wird (Abb. 15). Es kommt also eine Technik des frühen Kinos zur Analyse seiner Erzählbewegung zum Einsatz. Baute: Wenn man über die Verfahren des Films mit den Verfahren des Films han- delt, entsteht ein neuer Gegenstand, eine neue Filmgeschichte. Mit den internen und als semantisch verstandenen Zügen eines Filmausschnitts, der mit nächsten und übernächsten in der Montage verbunden ist, werden in Farockis Film komple- xe, bisweilen elliptische, bisweilen analogische Operationen ausgeführt. Der Film erarbeitet dabei eine Lektüre des Motivs, die sich in größtmöglicher Ferne zu den oft teleologisch motivierten filmgeschichtlichen Hierarchien bewegt. Farockis Be- 17 La sortie de usines Lumière, F 1895, Regie: Louis Lumière. 230 pauleit_korrektur4.indd 230 06.11.2008 13:21:54 Klassiker des «Filmvermittelnden Films» obachtungen anhand des Materials der Filmgeschichte weisen über diese hinaus und machen sie verfügbar fürs Überdenken. Baute: Wenn wir noch einmal einige der Verfahren zusammenfassen, die in den verschiedenen «Filmvermittelnden Filmen» zur Anwendung kamen: In dem Stück zu Ozu gab es eine sortierende Anordnung von Standbildern. Man erfährt einen Aufbau. Eine filmische Architektur wird sichtbar gemacht. Pantenburg: Und es gibt die Bewegung des analysierenden Körpers in den Raum der Analyse hinein. Bei Helmut Färber erzeugt das eine zusätzliche Intimität. Es ist ein sehr unmittelbarer Umgang mit dem Material. In Winfried Günthers Action, Action, Action kann man sehen, wie durch die Verdopplung des Bildes durch die Beschreibung aus dem Off etwas Neues entsteht. Das lässt sich als offensiver Einsatz von Redundanz interpretieren. Baute: Günthers hemmungsloses Abschweifen, sein fast hypnotisiert wirkendes Ver- folgen einer Gedankenspur, hier den Fordschen «Reitern vor Felsformation», diese reihende Digression erzählt nebenbei viel über die Kinoverfasstheit von cinephilen Individuen. Bei Douchet dann die überraschende Verwendung von visuellen Sche- matismen, ganz neu erfundene Schemen wie das oben beschriebene Fächerbild oder die konzentrischen Kreise. Pantenburg: Dies verdankt sich nicht zuletzt dem Dispositiv «Video» und seinen Mög- lichkeiten von Überblendungen, Nebeneinanderstellen, Überlappungen. Man könnte dem heute mit digitalen Bildbearbeitungstechniken eine sehr viel glattere Anmutung verleihen, aber die Prinzipien sind dennoch dieselben. Durch diese konstellativen Ins- Bild-Setzungen ist der bildlichen Analyse ein ganz neuer Kontinent erschlossen. Baute: Nochmal das Beispiel von Douchets Auffächern des Bildes. Man müsste sich vorstellen, die Settings eines ganzen Films so darstellbar zu machen. Was wäre da- bei rauszubekommen? Pantenburg: Dann schließlich Dütschs Rhythmisierung von Einstellungen und Ein- zelbildern aus Fritz Langs Film, die stellenweise auch mit Musik der klassischen Mo- derne kombiniert werden. Und Farocki, der Lumières Film als Ausgangspunkt für eine ausgreifende Motivsammlung und -montage aus 100 Jahren Filmgeschichte nimmt. 6. Alain Bergala : LE CINÉMA, UNE HISTOIRE DE PLANS (F 1999) Baute : Alain Bergala hat ‹Le cinéma›, une histoire de plans 1998/99 fertig ge- stellt, eine Reihe von 12 kurzen Filmen. Drei zu Lumière-Filmen, einer zu Fahr- raddiebe von Vittorio de Sica (I 1948), einer zu Ich wurde geboren aber von Ozu (1932), und jeweils einer zu Fritz Langs Moonfleet (USA 1955), Jean-Luc Go- 231 pauleit_korrektur4.indd 231 06.11.2008 13:21:54 Michael Baute und Volker Pantenburg dards Die Geschichte der Nana S. (Vivra sa vie, F 1962), Abbas Kiarostamis Le Passager (Mossafer, Iran 1974), Jacques Tatis Die Ferien des Monsieur Hulot (Les vacances des M. Hulot, F 1953), Jean Eustaches Die Mama und die Hure (La maman et la putaine, F 1973), Jacques Demys Eselshaut (Peau d’âne, F 1970) und Jean Renoirs Die Spielregel (La règle du jeu, F 1939). Pantenburg: Das Prinzip ist in jeder dieser Folgen gleich: Es ist immer nur eine ein- zige Einstellung aus einem Film Gegenstand der Untersuchung. Wir haben ja schon kurz die Prominenz der Einstellungsanalysen in der französischen Filmtheorie ange- sprochen. In dieser Tradition nennt Bergala sie einmal «die kleinste lebendige Zelle des Films» und plädiert dafür, «sich dem Kino von der Einstellung her anzunähern, da sie für mich in ihrer Zeitlichkeit, ihrem Werden, ihrem Rhythmus [...] ein relativ autonomer Bestandteil des großen Körpers Kino ist.»18 Elemente wie Rhythmus, Be- wegung, Dauer etc. legen diesen gedanklichen Schritt vom Toten zum Lebendigen nahe. Stellt man Färbers Ozu-Beschreibung und Bergalas Dialog zu Lumière neben- einander, sind damit zwei Optionen benannt, die jeweils mit dem Verhältnis von Teil und Ganzem zu tun haben. Färber bringt einen komplizierten Bewegungsablauf durch seine Stillstellung in Standfotos auf den Punkt, Bergala bewegt sich innerhalb der Einstellung vor und zurück wie an einem Schneidetisch. In beiden Fällen dient eine Eingrenzung als Katalysator, bei Färber stärker auf die analytischen Mittel bezo- gen, bei Bergala auf ein kurzes Segment. Und beide Verfahren zeigen diese Ergebnisse nicht als fertige Ergebnisse, sondern im Vollzug; bei Färber im Nachvollzug, bei Ber- gala in der Dynamisierung des Sehens im Dialog. Zu Beginn jeder Folge von Le cinéma, une histoire de plans wird die ausgewählte Einstellung (die bei den drei Lumière-Filmen ja mit dem gesamten Film zusammenfällt) einmal vollständig und ohne jeden Zusatz gezeigt. Dann schließt sich der Hauptteil an, die analytische oder vielleicht eher: beschreibende Arbeit mit dieser Einstellung. Man sieht auch weiterhin, über einen Zeitraum von 8 bis 10 Minuten, lediglich diese eine Einstellung, nun allerdings teilweise angehalten, verlangsamt, beschleunigt, vor- oder zurückgespult. Diese fünf Operationen, die den möglichen Operationen an einem 16- oder 35mm-Schneidetisch entsprechen, sind die einzigen Eingriffe, die ins Bild gemacht werden. Jede dieser Operationen richtet sich nach dem, was aus dem Off gesprochen wird. Bergala hat diesen immer dialogisch, als Gesprächssituation konzipierten Text ge- schrieben, aber gesprochen wird er von je zwei Schauspielern, einem Mann und einer Frau. In unserem Beispiel, der Analyse von Attelage d’un camion der Lumière-Brü- der (F 1897), sind das Michel Piccoli und Fanny Ardant. Dass es französische Schauspie- ler sind, die man zum Teil unmittelbar mit der Nouvelle Vague assoziiert (Anna Karina, Piccoli, Bulle Ogier etc.), evoziert einerseits einen bestimmten Kino-Kanon. Es bedeutet aber auch, dass hier die Filmgeschichte selbst über die Filmgeschichte spricht. 18 Bergala: Kino als Kunst, S. 88. 232 pauleit_korrektur4.indd 232 06.11.2008 13:21:54 Klassiker des «Filmvermittelnden Films» Abb. 16 & 17: Attelage d’un camion (Brüder Lumière) Baute: Bergala war Ende der 90er Jahre beauftragt und mit Geld vom französischen Kultusminister ausgestattet worden, Konzepte für Filmbildungsideen zu entwickeln. Für ihn, das schreibt er in Kino als Kunst, ist das eine paradoxe, eigentlich unmög- liche Kopplung gewesen, Kinolust mit Didaktik zu verbinden. Man kann das gut verstehen, wenn man sich die Analysen von Le cinéma, une histoire de plans anschaut, denen auf den ersten Blick überhaupt nichts Didaktisches, Schematisches, Lehrerhaftes eignet. Bergala privilegiert tatsächlich ein Streunen im Bild, eine Ziel- losigkeit und Beiläufigkeit, die auch im Verlauf des Films nicht zugunsten von Zu- sammenfassungen und Lehrzielformulierungen abgelöst wird. Pantenburg: In jeder der 12 Folgen ist es überraschend, wie die Einstellung durch das Gespräch so stark aufgeladen wird, dass sie zu Beginn eine ganz andere zu sein scheint als die, die man nach dem Dialog sieht. Es gelingt hier tatsächlich, ganz nah am Material des Films dran zu sein und zugleich etwas über die Filmgeschichte als Ganze, über das Kino als Kunst- und Lebensraum zu erzählen. Baute: Vieles davon hat auch mit dem Tonfall zu tun, den Bergala in seinen Dialogen trifft und der von den Schauspielern manchmal etwas zu stark inszeniert wird. Wir sollten zum Abschluss ein längeres Stück aus dieser Einstellungsanalyse zitieren, damit man davon einen Eindruck bekommt. Es folgen also die ersten Minuten der Unterhal- tung zu Attelage d’un camion, gesprochen von Michel Piccoli und Fanny Ardant. Auszug aus LE CINÉMA, UNE HISTOIRE DE PLANS: ATTELAGE D’UN CAMION (übersetzt von Michael Baute und Volker Pantenburg) Michel Piccoli: Diese gefilmte Einstellung liegt 100 Jahre zurück. Man weiß, dass alle, die diesen kleinen Flecken Erde bewohnten, nun tot sind. Die Alten, die Jun- gen, die Pferde. Und hier sehen wir sie diese Kreuzung in der Gegenwart überque- ren, in eine offene Zukunft hinein, die sie noch nicht kennen. Vor dem Kino hat keine andere Kunstform den Menschen dieses Gefühl vermitteln können. 233 pauleit_korrektur4.indd 233 06.11.2008 13:21:55 Michael Baute und Volker Pantenburg Fanny Ardant: Du bist heute aber düster gestimmt. Piccoli: Aber überhaupt nicht, ich finde das nicht traurig, im Gegenteil. Ich finde es sogar großartig, dass das Kino uns dies hat geben können: das sehr lebhafte Ge- fühl einer Gegenwart, die keinen einzigen lebenden Zeugen mehr hat. Es existiert niemand mehr, der diese Zeit erlebt hat, aber es existieren in dieser Einstellung, mit ihrer Frische des Tages, all diese Leute, die der Zufall in einer Minute auf diesem Platz einander über den Weg laufen ließ. Vielleicht ist das die Essenz des Kinos. Ardant: Ist Dir klar, was man alles in einer einzigen Sekunde über das Frankreich vor einem Jahrhundert herausfinden kann? Das ist wie eine Stichprobe. Und durch einen Zufall hat man sogar eine perfekte Probe, die alle Teile der Bevölkerung ent- hält und zugleich alle Transportmittel. Man hält das fast für eine Inszenierung, so vollständig ist das Bild. Piccoli: Siehst Du, das Geniale an den Lumière-Kameraleuten lag in ihrer Auswahl eines Ortes und eines Zeitpunkts. Hier sieht man, wie sie auf nahezu alles mit einer unglaublichen Präzision geachtet haben. Die Position der Kamera, die Kadrierung, der genaue Moment, an dem sie die größte Chance haben, so viel Verkehr wie mög- lich zu erwischen. Sie begaben sich immer an eine befahrene Kreuzung wie hier, und das ergab einen Rhythmus, der zugleich voller Variation und lebhaft war, mit wirklichen visuellen Überraschungen, was jeweils ins Bild eintreten würde. Ardant: Aber glaubst Du nicht, dass dies auch mit der sehr starken Begrenzung des frühen Kinos zu tun hat? Sie hatten nur 50 Sekunden Film und eine unbewegte Kamera zur Verfügung, deshalb mussten sie sich so gut vorbereiten, wenn Sie ihre Einstellung nicht verpassen wollten. Piccoli: Absolut. Aber in diesem Fall ist es offenbar nicht nur diese Straßenkreu- zung, die den Kameramann interessiert. Es gibt schon ein im Voraus bedachtes Thema. Was man hier sieht, ist der Transport von enorm großen Steinblöcken. Es liegt deshalb wirklich Suspense in dem, was man sieht: Was wird nach diesem Pferdezug in den Bildkader hineinkommen? Ardant: Der Kameramann hat einen idealen Winkel ausgewählt. Die Pferde kom- men eins nach dem anderen in das Bild hinein und durchqueren es dann durch die ganze Bilddiagonale hindurch. Als er anfing, die Handkurbel zu drehen, als das ers- te Pferd im Bild war, muss er berechnet haben, dass nach 50 Sekunden alle Pferde das Bild durchquert haben sollten. Piccoli: Hinzu kommt noch die Höhe der Kamera. Es ist die perfekte Höhe, um zu sehen, wie ein Pferd läuft. Wo sind die Muskeln, was machen die Hinterläufe, man sieht das Auftreten der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster. 234 pauleit_korrektur4.indd 234 06.11.2008 13:21:55 Klassiker des «Filmvermittelnden Films» Ardant: Man spürt auch das Gewicht und das Volumen der Pferde wie in einem Bild von Paolo Uccello. Es ist, als fänden die Anfänge des Kinos zu den Anfängen der Zentralperspektive in der Malerei zurück. Man hat das gleiche Gefühl eines «ersten Mals», einer völlig neuen Form der Repräsentation. Piccoli: Mir gefallen auch die anderen Pferde weiter links, die sich ausruhen und dem Vorbeilaufen der anderen zuschauen, die gerade arbeiten. Ardant: Hast du gesehen: Zu einem bestimmten Moment sieht man praktisch nur Pferde im Bild. Da bekommt man wirklich einen Eindruck davon, wie die Städte vor dem Automobil waren. Piccoli: Was an der Wahl des Standpunkts besonders stark ist, ist, dass es gleich- zeitig den Raum des Platzes gibt, der von den Pferden durchquert wird, und im Hintergrund die plane Mauer, vor der die Menschenschar wie bei einer Projektion auf eine Wand sind. Das ist wie ein verdoppeltes Bild in einem ebenso verdoppelten Raum. Ardant: Willst Du, dass wir ganz zum Beginn der Einstellung zurückkehren, um uns im Detail anzusehen, was da alles passiert? Piccoli: Ja, los, das machen wir. Bremen, Kino 46, 5. Juni 2007 235 pauleit_korrektur4.indd 235 06.11.2008 13:21:55 Abbildungsnachweis Bettina Henzler Abb. 14: Faerie Tale Theatre Snow Abb. 1: Chronophotographie (Etienne- White and the Seven Dwarves (Schnee- Jules Marey, F 1890) wittchen und die Sieben Zwerge, TV- Abb. 2: The seasons (Arthur Pelechian, Produktion, Peter Medak, USA 1984) UDSSR 1975) Abb. 12, 21, 26: Schneewittchen und Abb. 3: Canon (Norman McLaren, Kana- die Sieben Zwerge (Rankin / Bass Prod., da 1964) USA, o.J.) Abb. 4: Vormittagsspuk (Hans Richter, Abb. 17: Die Märchenstunde: Schnee- D 1928) wittchen (Jünger Prod., D o.J.). Abb. 5: Rainbow Dance (Len Lye, USA Abb. 23, 25: Shichinin no samurai (Die 1936) Sieben Samurai, Akira Kurosawa, 1954). Abb. 6: Notes on the Circus (Jonas Me- Abb. 11: Spur der Steine (Frank Beyer, kas, USA 1966) DDR 1966) Abb. 4: Evita (Alan Parker, USA 1996) Claude und Francis Desbarats Abb. 1: Way Down East (Cahiers du Ci- Christine Rüffert néma, Sonderheft «Scénographie», 1980) Abb. 1: Line describing a Cone (Antho- Abb. 5: Sieben Chancen (Cahiers du Ci- ny McCall, GB 1973) © LUX, London néma, Nr. 222, 1970) Abb. 2: At the Academy (Guy Sherwin, Abb. 7: Verdacht (Caméra stylo, Novem- GB 1974) © LUX, London ber 1981) Abb. 3–5: Alpsee (Matthias Müller, D 1994), Abb. 8, 11: Verdacht, Abb. 10: Der Mann, © Matthias Müller der zuviel wusste, Abb. 12: Die Vögel, Abb. 13: Citizen Kane (Cahiers du Ciné- Winfried Pauleit ma, Sonderheft «Hitchcock», 1980) Abb. 1, 2: Sie küssten und sie schlugen Abb. 9: Othon (Cahiers du Cinéma, Nr. ihn (François Truffaut, F 1959) 223, 1970) Abb. 3–12: Die Falschspielerin (Pres- Abb. 14: Die Lady von Shanghai, Abb. ton Sturges, USA 1941) 15: Othello (Cahiers du Cinéma, Sonder- heft «Welles», 1982) Jan Sahli Abb. 1a–b: Star Guitar (The Chemical Sebastian Schädler Brothers, Michel Gondry, USA 2001) Abb. 1: Das Streitgespräch. Knackig Abb. 2a–b: Menschen am Sonntag (Ro- oder Beknackt – das Bild der Frau in bert Siodmak, Edgar G. Ulmer, D 1929) der Werbung (WDR-Redaktion, D 1983) Abb. 3: Die Nibelungen (Fritz Lang, D Abb. 3, 6, 10, 20, 22, 24: Snow White and Teil I 1922/Teil II 1924) the 7 Dwarfs (Schneewittchen und die Abb. 4: A Zed and Two Noughts (Ein Z Sieben Zwerge, Walt Disney, USA 1937) und zwei Nullen, Peter Greenaway, GB/ Abb. 5, 7, 9, 13, 15: Schneewittchen und NL 1985) die Sieben Zwerge (Erich Kobler, D 1955) Abb. 5a–d: Lichtspiel Opus I (Walter Abb. 2, 16, 18: Schneewittchen und die Ruttmann, D 1921) sieben Zwerge (Gottfried Kolditz, DDR Abb. 6: Rhythmus 21 (Hans Richter, D 1924) 1961) Abb. 7: Diagonal Symphonie (Viking Abb. 8, 19, 21, 26, 29: Snow White (Schnee- Eggeling, D 1925) wittchen und die 7 Zwerge, Toshiyuki Hiruma, USA/J 1995) 236 pauleit_korrektur4.indd 236 06.11.2008 13:21:55 Abbildungsnachweis Bettina Henzler und Stefanie Schlüter Michael Baute und Volker Pantenburg Abb. 1–4, 17–36: Angst essen Seele auf Abb. 1–6: Drei Minuten in einem Film (R. W. Fassbinder, D 1973) von Ozu (Helmut Färber, D WDR, 1988) Abb. 5–16, 37–48, 55–57: Gegen die Wand Abb. 7: Fort Apache (John Ford, USA (Fatih Akin, D 2004) 1948), Abb. 8: Verfolgt (Raoul Walsh, Abb. 49–51: All that Heaven allows USA 1947); beide aus: Action, action, ac- (Douglas Sirks, USA 1955) tion – logische Dinge in logischer Ab- Abb. 52–54: Far from Heaven (Todd folge. Aspekte der Inszenierungsweise Haynes, USA 2002) von Pursued. (Winfried Günther, D 2005) Abb. 9–12: M. Eine Analyse (Jean Dou- Eugène Andréanszky chet, F 1989) Abb. 1–4 Peau d’âne (Jaques Demy, F Abb. 13: M – Eine Stadt sucht einen 1970) © Les enfants de cinéma Mörder (Fritz Lang, D 1931), aus: Fritz Lang (Werner Dütsch, D WDR 1991) Michael Loebenstein Abb. 14, 15: La sortie des usines Lumi- Abb. 1: © Österreichisches Filmmuseum ère (Louis Lumière, F 1985), aus: Arbei- Abb. 2A: © Österreichisches Filmmuseum ter verlassen die Fabrik (Harun Faro- Abb. 2B: aus: Jim Taylor, DVD Demysti- cki, D 1995). fied, 2002; Abb. 16, 17: Attelage d’un camion (Lu- Abb. 2C: www.dvdafteredit.com mière, F 1897), aus: Le cinéma, une his- Abb. 4: Edition Österreichisches Filmmu- toire de plans (Alain Bergala, F 1998/9, seum 2006: DVD zu Blind Husbands Les enfants de cinéma). (Erich von Stroheim, USA 1919) Abb. 5: © sixpackfilm 237 pauleit_korrektur4.indd 237 06.11.2008 13:21:55 Autorinnen und Autoren Eugène Andréanszky ist als Leiter des Vereins Les enfants de cinéma (dt. «Die Kinder des Kinos») in Paris verantwortlich für das von den französischen Kultur- und Bil- dungsministerien finanzierte Grundschulprogramm École et cinéma und Herausgeber einer Reihe filmpädagogischer Publikationen, u.a. Allons z’enfants au cinéma. Une pe- tite anthologie de films pour un jeune public (2001) und den Cahiers de notes sur... . Michael Baute ist Autor, Kurator und Medienarbeiter in Berlin; z. Z. künstlerischer Leiter des von der Bundeskulturstiftung geförderten Projektes «Kunst der Vermitt- lung. Aus den Archiven des Filmvermittelnden Films»; Herausgeber (mit Volker Pan- tenburg) von Minutentexte. The Night of the Hunter (2006); Veröffentlichungen in: Jungle World, kolik.film, Starship, SigiGötz Entertainment und auf newfilmkritik.de. Claude Desbarats ist Lehrerin für Französisch, Latein und Griechisch in Toulouse. Seit 1982 in diversen Projekten der ästhetischen Bildung und Filmvermittlung aktiv, u.a. Begleitung von schulischen Filmclubs, Teilnahme an dem Programm Jeune spec- tateur actif, künstlerische und wissenschaftliche Schulprojektarbeiten, Theater- und Museumsprojekte mit Schülern. 1996 Forschungsarbeit zu der Rezeption von Anto- nioni in Frankreich («A propos du cinéma d’Antonioni, le plaisir du spectateur»). Francis Desbarats ist Geschichts- und Erdkundelehrer in Toulouse, unterrichtet seit 1985 in diesem Rahmen Filmanalyse und -praxis und promovierte 2001 über die Ge- schichte des Filmunterrichtes an französischen Gymnasien Origines, conditions et per- spectives idéologiques de l’enseignement du cinéma dans les lycées. Referent und Publizist im Schnittfeld von Film, Geschichte und Bildung: u. a. 1987–1994 Kodirektion des Kol- loquiums «Cinéma français et histoire» am Institut Jean Vigo Perpignan. Selbstständige Publikation: u. a. La crise du cinéma classique américain dans les années soixante (1985). Bettina Henzler ist seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Bre- men, Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik und seit 2003 Projekt- leiterin des von der AG Kino-Gilde e.V. und der Französischen Botschaft veran- stalteten bundesweiten französischen Kinder- und Jugendfilmfestivals Cinéfête. Sie promoviert derzeit zu Alain Bergalas pädagogischen Arbeiten im Kontext europäi- scher Filmvermittlung und ist Mitherausgeberin von Kino als Kunst (2006). Michael Loebenstein ist verantwortlich für die Vermittlungs- und Forschungs- programme des Österreichischen Filmmuseums, Co-Herausgeber verschiedener Publikationen des ÖFM, u.a. Peter Tscherkassky (2005), Dziga Vertov. Die Vertov- Sammlung im Österreichischen Filmmuseum (2006), sowie der DVDs Entuziazm und Blind Husbands (2006). Seit 1999 ist er im Schnittfeld Film-Neue Medien- Kulturwissenschaft als Lektor, Journalist und Kurator in Wien tätig. 238 pauleit_korrektur4.indd 238 06.11.2008 13:21:56 Autorinnen und Autoren Volker Pantenburg arbeitet als Filmwissenschaftler im Sonderforschungsbereich «Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste» an der FU Berlin. Er ist Mitinitiator von «Kunst der Vermittlung. Aus den Archiven des Filmvermit- telnden Films» und Autor des Weblogs newfilmkritik.de. Zuletzt erschien seine Dis- sertation Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard (2006), Minutentexte. The Night of the Hunter (2006; hg. mit Michael Baute) und Screen Tests. 100-Worte-Texte zum Kino (2007). Winfried Pauleit ist Professor für Kunstpädagogik und Medientheorie an der Uni- versität Bremen. Studierte Kunstpädagogik, Filmwissenschaft und Literaturwissen- schaft in Berlin, London und Chicago. Wichtigste Publikationen: Das ABC des Ki- nos. Foto, Film, Neue Medien (2008), Filmstandbilder – Passagen zwischen Kunst und Kino (2004). Er ist Mitherausgeber des Internetmagazins nachdemfilm.de und der Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation. Christine Rüffert ist Rätin in der Verwaltung des Senators für Kultur Bremen, seit 2007 Lehrtätigkeit im Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik der Uni- versität Bremen, 1990-2007 Geschäftsführung und Programmierung beim Kom- munalkino Bremen, seit 1990 Mitglied der Auswahlkommission des European Me- dia Art Festival, 1982-1993 (film)journalistische Tätigkeit, 1982–1990 Lehrerin für Englisch und Kunst in Deutschland und Großbritannien. Jan Sahli, Dr. phil. ist Oberassistent und Leiter des Projekts «Filmbildung» am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Dozent an verschiedenen Universitäten und Fachhochschulen. 1998–2005 Redaktionsmitglied und Mither- ausgeber des Schweizer Filmjahrbuchs CINEMA. Publizierte u.a.: Filmische Sinne- serweiterung: László Moholy-Nagys Filmwerk und Theorie (2006). Sebastian Schädler ist Professor für Gestaltungspädagogik, mit den Schwerpunk- ten Kunst und Medien, an der Evangelischen Fachhochschule für Sozialarbeit EFB in Berlin. Nach dem Studium der Politologie in Berlin seit 1994 für den Verein Pat-Ex e.V. in der geschlechterreflektierenden Arbeit mit Kinder- und Jugendlichen aktiv. Promotion an der Universität Bremen, Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik: Wenn Derrida Schneewittchen trifft – Filmpädagogik und [Dekon- struktion] von Geschlechterklischees. (2008). Stefanie Schlüter ist ausgebildete Lehrerin für Deutsch und Philosophie, in Berlin tätig als freie Filmvermittlerin im Schnittfeld von Kino, Museum, Schule und Hoch- schule. Publikationen und Lehrtätigkeit u.a. für das Österreichische Filmmuseum und die Universität der Künste Berlin. Mitinitiatorin des Filmvermittlungspro- gramm »Was ist Kino?« der Freunde der Deutschen Kinemathek und der Deutschen Kinemathek. Mitarbeiterin von «Kunst der Vermittlung. Aus den Archiven des Film- vermittelnden Films». 239 pauleit_korrektur4.indd 239 06.11.2008 13:21:56