‚Strawberry Fields‘ - ‚Cranberry Sauce‘ 67 Martin Nies ‚Strawberry Fields’ - ‚Cranberry Sauce’: Das Spiel mit Zeichen aus der Popkunstwelt der Beatles in Hendrik Handloegtens Film Paul is dead (für Emma, *27.5.2004) Die Erstausstrahlung in der ZDF-Reihe „Das kleine Fernsehspiel“ ist program- matisch für den Film Paul is dead (2000), in dem ‚Spiel’ Verhandlungsgegen- stand und -verfahren ist - als Thema der Narration, als Erzählstrategie und als Interaktionsangebot an den Rezipienten. Der Film präsentiert in verwobenen Handlungssträngen kontrastiv die Adoleszenzgeschichte dreier Jungen zwischen Popmusik, ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht und Detektivspiel in einer deutschen Kleinstadt des Jahres 1980. Die erzählte Schwellensituation des Übergangs von der Kindheit zur Jugend wird damit signifikant historisiert. Sie ist final vom Todestag John Lennons her bestimmt, da die Nachricht vom Tod des Beatle am 8. Dezember des Jahres den Schluss des dargestellten Geschehens bildet. Für den jüngsten Protagonisten, Tobias Kerner, dessen Entwicklung hier im Mittelpunkt stehen soll, ist dieses Ereignis der Höhepunkt einer sukzessiven Entfremdung von der Welt und ihrer Verrätselung. Ausgangssituation der erzählten Geschichte ist konstatierte Ereignislosigkeit: „1. August 1980, 20 Uhr 49. Habe einen verdächtigen PKW verfolgt und Kennzei- chen notiert. Sonst war nicht viel los. Kein Mord, kein Einbruch, nicht mal’n Fahr- rad geklaut.“1 Zum einen ist damit der Handlungsbeginn explizit historisch datiert, zum anderen führt Tobias’ Protokoll neben dem dargestellten Geschehen einen Off-Kommentar als subjektive Ich-Erzählhaltung ein und weist als Detektivspiel auf seine (An-)Zeichensuche für verborgene Vorgänge voraus. Zwei Ereignisse motivieren das folgende Geschehen: Ein fremder PKW und dessen mysteriöser Fahrer, ein junger Engländer, erregen Tobias’ Aufmerksamkeit. Er entdeckt, dass das Fahrzeug und sein Kennzeichen demjenigen entsprechen, das auf dem Cover der Beatles-LP Abbey Road (1969) abgebildet ist. Es handelt sich hierbei um eine doppelt ereignishafte Grenzüberschreitung: Auf der Figurenebene kommt ein Fremder in den geheimnislos-alltäglichen Raum des Eigenen geheimnisstiftend hinein; entscheidender aber ist, dass sich mit dem VW-Käfer ein Objekt, dessen Abbild der Popkunstwelt der Beatles zugeordnet ist, in der dargestellten Alltags- welt materialisiert.2 Dieser Sachverhalt erscheint sensationell, aber zu diesem Zeit- punkt noch nicht als zeichenhaft und in diesem Sinne bedeutungstragend, denn dem Wissenstand des Protagonisten zufolge handelt es sich nur um ein Fahrzeug, 68 2. Postmoderner Film das sich zum Zeitpunkt der Abbey-Road-Fotografie zufällig im Hintergrund des berühmten Zebrastreifens befand. Erst das zweite Ereignis, Tobias’ Einweihung in eine Verschwörungstheorie um Paul McCartneys angeblichen Tod im Jahr 1966, lässt das Auto zu einem Zei- chen werden. Ausgelöst wird diese Initiation durch ein Rätsel im dritten Teil eines Beatles-Radio-Specials. Die im vierten und letzten Teil zu lösende Frage lautet: „Was sagt John Lennon am Ende des Songs Strawberry Fields Forever?“ Da er die undeutlichen und fremden Worte nicht versteht, fragt Tobias einen Schallplatten- verkäufer nach ihrem Sinn und erfährt so von der Paul-is-dead-Theorie und den Indizien, aus denen sie sich rekonstruiert. Danach sind Lennons Schlussworte „I buried Paul“. Paul McCartney soll 1966 von dem Fahrer des VW-Käfers getötet und durch einen Doppelgänger ersetzt worden sein. Seitdem versehen die Beatles ihre Cover und Songs mit Anspielungen auf seinen Tod. So trägt der ‚Doppel- gänger’ auf dem Cover von Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band (1967) eine Uniform mit dem Abzeichen „OPD“, einer Abkürzung für „Officially Pronounced Dead“. Tatsächlich ist auffällig, dass McCartney in der Coverart der Beatles ab 1967 abweichend gegenüber den anderen Beatles inszeniert ist - es fragt sich nur, was dieser Sachverhalt bezeichnen mag. Die meisten ‚Todeshinweise’ jedenfalls werden auf Abbey Road entdeckt: Angeblich von einem Friedhof kommend über- queren die vier Beatles einen Zebrastreifen. John Lennon schreitet als „Prediger“ in einem weißen Anzug voran, Ringo Starr, in schwarzem Anzug, repräsentiert einen Bestattungsunternehmer und George Harrison folgt zuletzt als der Toten- gräber in Arbeitskleidung. Der ‚tote’ Paul McCartney geht als einziger nicht im Gleichschritt, hält, obwohl Linkshänder, eine Zigarette in der rechten Hand und trägt keine Schuhe, was in Mafiakreisen als Todessymbol gelten soll. Im Hinter- grund ist der weiße VW mit dem Kennzeichen „LMW 28IF“ zu sehen, das wie folgt gedeutet wird: „Linda McCartney Weeps“, und: 1969 wäre Paul 28 Jahre alt gewesen, wenn (IF) er nicht getötet worden wäre. Die Plausibilität dieser Theorie und der ‚Indizien’, die seit 1969 kontinuierlich durch die Medien geistern, muss hier nicht kommentiert werden.3 Interessanter scheint, wie der Film die Geschichte um Zeichensuche und -interpretation funk- tionalisiert. Intradiegetisch stellt sie zunächst für den Protagonisten den „größten Fall [s]eines Lebens“ dar, die Verrätselung einer zuvor ereignislosen Welt. Das Detektivspiel wird darüber ernsthaft und der Fremde, ein vermeintlicher Mörder, eine unheimliche Bedrohung der eigenen Lebenswirklichkeit. Aber im vierten Teil der Radiosendung wird die Paul-is-dead-Theorie als Ant- wort auf die Rätselfrage erläutert und widerlegt. Nach John Lennon sind die letzten Worte in Strawberry Fields Forever nicht „I buried Paul“, sondern „Cranberry Sauce“, worauf Tobias’ Freund Helmut desillusioniert feststellt: „Preiselbeersoße, das macht überhaupt keinen Sinn.“4 Doch für den Protagonisten beweist die bloße ‚Strawberry Fields‘ - ‚Cranberry Sauce‘ 69 Existenz des VWs von der Abbey Road-LP in der dargestellten Welt weiterhin die Glaubwürdigkeit der ganzen Geschichte. Die Lösung des Rätsels um Strawberry Fields Forever ergibt intradiegetisch keinen Sinn, sie birgt lediglich weitere Fragen und ebenso verfährt der Film mit der Identität des Fremden und seiner angedeu- teten Verwicklung in ein verborgenes Geschehen im Zusammenhang mit den Beatles. Wird nämlich zunächst die Paul-is-dead-Theorie als infantile Deutung von Zeichen, deren Zeichenhaftigkeit generell fragwürdig ist, entlarvt - der Film inszeniert dies auch, indem er den Protagonisten McCartneys Tod mit Kinder- spielzeug rekonstruieren lässt - so reetabliert er nach einem durch fade to black und Zeitsprung markierten Handlungseinschnitt die Möglichkeit der Beteiligung des Fremden an einer Verschwörung. Dieses zweite Geschehenssegment beginnt mit dem Schulanfang und der Prä- sentation des Fremden als Assistence Teacher Billy Reash aus Liverpool, doch trotz seiner Kontextualisierung in der kleinstädtischen Gesellschaft wird er weiterhin als rätselhafte Person inszeniert. Nach einer zweiten Ellipse fährt die Filmzeit mit dem 6. Dezember 1980 fort, an dem Reash vor der Klasse einen Diavortrag über New York hält und ankündigt, am nächsten Tag dorthin zu fliegen. Anschließend überreicht er ein Glas Strawberry-Marmelade als Geschenk an Tobias. Lässt man sich auf diese Anspielung ein, indem man die Marmelade als ein Zeichen interpretiert, dann stellt sie im Verhältnis von ‚Strawberry Fields’ zu ‚Cranberry Sauce’ eine Rekontextualisierung dar. Was „Strawberry Fields“ immer bedeuten mag, der signifikante, eine semantische Kohärenz negierende Bruch zwischen ‚Erdbeerfeldern’ und ‚Preiselbeersoße’ wird durch die zeichenhafte Stiftung eines sinnvollen Zusammenhanges zwischen ‚Erdbeerfeldern’ und ‚Erdbeer- marmelade’ von Billy getilgt und damit sense anstelle von nonsense reetabliert. Analog dazu erscheint Billy wiederum als potentieller Beatlesmörder. Denn das letzte New York-Dia zeigt das Dakota-Building, in dem John Lennon und Yoko Ono wohnten und vor dem Lennon am 8. Dezember 1980 erschossen wurde, im Film also einen Tag nach Billys Ankunft in der Stadt. Zum Todeszeitpunkt steht Tobias schlafwandelnd auf dem Dach seines Hauses neben der Hausantenne (dem symbolischen ‚Empfänger’) vor einem übernatürlich dimensionierten Vollmond und lauscht in die Nacht hinein. Man hört die homogene Geräuschkulisse einer fernen Großstadt, aus der erst sukzessive einzelne Töne isoliert und erkennbar werden: amerikanische Polizeisirenen, die Lautsprechernachricht von der Ankunft eines Fluges aus Frankfurt und schließlich ein Schuss - Signale also, die eindeutig nicht dem heimischen Raum des Protagonisten und damit nicht dem Bereich nor- maler Erfahrung in diesem Raum zugeschrieben werden können, wie überhaupt der Mond die ganze Szene suggestiv im Traumhaft-Unwirklichen verortet. Mit der offiziellen Radionachricht von Lennons Tod durch einen noch unbekannten Schützen und Tobias’ Ausruf „Billy“ schließt darauf der Film. 70 2. Postmoderner Film Bewirkt das erste Handlungssegment außer bei Tobias, der auf seiner illusi- onären Sichtweise beharrt, noch Aufklärung und Demystifikation, so beinhaltet das Filmende eine neuerliche Mystifikation der dargestellten Welt. Nicht nur durch die Reetablierung einer Verschwörungstheorie mit Billy Reash als Lennonmörder, sondern insbesondere in der Inszenierung der Vollmondszene, die einen mythi- schen Zusammenhang des Fernen und Nahen konstruiert. Selbstverständlich weiß der Rezipient des Jahres 2000, dass Mark David Chapman und nicht ein Billy Reash John Lennon erschossen hat, man könnte also argumentieren, dass diese intradiegetisch als real gesetzte Weltzusammenhangserfahrung zwischen Figur und Rezipient gebrochen wird, da extratextuelles kulturelles Wissen ihre Grundan- nahme falsifiziert. Hier geht es aber nicht um die Faktizität des angedeuteten Geschehens, sondern eben um das Spiel mit Zeichen als Mystifikations- und Ver- rätselungsstrategie für eine Welt, die mit Kinderaugen gesehen werden will, weil sie ohnehin als sinnlos und nicht verstehbar präsupponiert ist. Der Realitätsstatus des Erzählten wird zur Disposition gestellt, indem der Film zwei Lesarten anbietet: Die Verschwörung kann als tatsächliche gelten oder als fixe Idee des Helden, wobei „Paranoia als Mittel der Sinnstiftung [den] Realitätsstatus hinfällig“ macht.5 Kann man aus dem für den Film zentralen Beatlessong Strawberry Fields Forever eine kohärenzstiftende, bedeutungstragende Aussage für das Musikstück und den Film extrahieren, so besteht sie in eben dieser Hinfälligkeitserklärung: „Living is easy with eyes closed. Misunderstanding all you see [...]. Nothing is real, and nothing to get hung about.“6 Dem Protagonisten erschließt sich diese Aussage aber nicht, da er die fremden Worte nicht versteht. Und nach deren Bedeutung sucht er auch nicht - denn nicht sie sind für ihn die relevanten bedeutungstragenden Zeichen, sondern die zuletzt von Lennon gesprochenen nonsense-Worte. Vergleicht man die Entwicklung der drei Protagonisten, zeigt sich jedoch, dass Tobias’ aus dem Bereich der Kunstwelt illusionierte kindliche Sichtweise zuletzt die bestehende bleibt, wohingegen die kontrastierenden, dem Bereich des Realen angehörenden Erfahrungen der Heranwachsenden Till und Helmut mit dem ande- ren Geschlecht zu ihrer fundamentalen Desillusionierung geführt haben. Die geschilderte Vollmondszene, welche eine Überbrückung von Zeit und Raum mittels der Überlagerung ferner und naher, gleich- und vorzeitiger Stim- men erzeugt, verweist als sinnstiftende mise en abyme auf die Erzählstrategie des gesamten Films: Intertextuelles Zitieren von Pop- und anderen Kunstwerken, das Über- und Nebeneinander verschiedener Stimmen, nicht zuletzt aber auch das mit volkskundlicher Genauigkeit dargebotene alltagskulturelle Archiv des Jahres 1980 ermöglicht eine vergegenwärtigende Überbrückung der Zeit in das Reich der Kindheit für den Rezipienten, der um das Erscheinungsjahr der letzten Beatles-LP Abbey Road geboren ist. ‚Strawberry Fields‘ - ‚Cranberry Sauce‘ 71 Auch inszenatorisch und in der Materialzitation macht bereits die erste Film- einstellung deutlich, dass hier ein verklärter Blick auf die Kindheit präsentiert wird: Tobias’ Bonanzarad-Fahrt durch die Kleinstadt ist als Gegenlichtaufnahme in den überstrahlten orangegesättigten Farben gefilmt, die für Fotografien der sieb- ziger Jahre typisch sind. Auf der Ebene zitierter historischer Materialeigenschaften evoziert der Film zu Beginn der Erzählung also eine Ästhetik der Erinnerung, die im Handlungseinstieg als Rückwendung explizit markiert ist, weil der Rest des Films die heute übliche Farbtemperatur und präzise Schärfewiedergabe aufweist. Gerade darin erzeugt Paul is dead wiederum eine Überlagerung der Zeitschichten von Erzählgegenwart und erinnerter Zeit. Akzeptiert man das Spiel des Films und geht einigen zentralen bedeutungs- generierenden intertextuellen Referenzen nach, wird noch deutlicher, dass der Tobias-Handlungsstrang die Zeichenspiele funktionalisiert, um eine Anti-Ado- leszenz-Geschichte und die Beschwörung der Kindheit zu erzählen. Die nost- algisierende Grundhaltung und insbesondere die Brückenmetapher sind wohl Reminiszenzen an Rob Reiners Stand by me (USA 1986, dt. Untertitel: „Das Geheimnis eines Sommers“). Während die Brücke dort eine mit Lebensgefahr verbundene Schwelle darstellt, die von allen vier Jungen als Teil des Adoles- zenzprozesses notwendig überschritten werden muss, wird Tobias bei dem letzten gemeinsamen Treffen auf einer Brücke von den anderen verlassen; sein Zurückbleiben an dem Ort der Kinderspiele bezeichnet seinen Entwicklungssta- tus. Eine andere Szene, in welcher der Protagonist aus einem Schrankversteck heraus Billy Reash mit dem Schallplattenhändler in einer bedrohlichen, surreal anmutenden Situation beobachtet, zitiert einerseits die berühmte Schrankszene aus David Lynchs Blue Velvet (USA 1986), verweist aber mehr noch auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann. Die verbotenen Blicke aus dem Versteck, die beobachtende Teilnahme des Kindes an verborgenen unheimlichen und unbegreiflichen Handlungen Erwachsener, an denen neben einem Fremden der Vater bzw. in Paul is dead mit dem Schallplattenhändler als Initiationsfigur ein Vateräquivalent beteiligt ist, dann die Kulmination in Schrecken, Entdeckung und Bewusstseinsverlust und schließlich das Erwachen in den Armen der tröstenden Mutter lassen die ganze Szene als strukturell analog zu derjenigen im Sandmann konzipiert erscheinen. Und wie die Hoffmannsche Erzählung legt der Film nahe, dass diese Erfahrung das Vertrauen des Kindes in die bisherige geglaubte Weltord- nung fundamental erschüttert hat und eben daraus die Paranoia entsteht, die den Protagonisten nicht mehr aus dem infantilen Stadium seiner nunmehr gewonnen Weltdeutung entlässt. Hauptreferenzsysteme des Films sind aber das Gesamtkunstwerk der Beatles, ihre Selbstäußerungen und die Diskurse über sie, wobei die zentrale Stellung für 72 2. Postmoderner Film das Bedeutungsgefüge von Paul is dead dem Song Strawberry Fields Forever zukommt. 1. Der Song ist der erste des Soundtracks, er kommentiert den Filmtitel und stellt die Programmatik des Films vor. Man hört die Textzeilen: „Let me take you down, cause I’m going to Strawberry Fields. / Nothing is real, and nothing to get hung about / Strawberry Fields Forever. / Living is easy with Eyes closed. / Misun- derstanding all you see. / It’s getting hard to be someone but it all works out / It doesn’t matter much to me.“7 Paul is dead führt sich damit zunächst als ein Film über Zeichen ein, die keinen Referenten in der Realität haben. 2. Die Rätselfrage um die letzten Worte John Lennons in dem Song stellt die Motivation für das erzählte Geschehen des Haupthandlungsstranges des Filmes dar, denn das akustische Missverständnis von „Cranberry Sauce“ als „I buried Paul“ bildet den Ausgangspunkt für die Paul-is-dead-Theorie. 3. Die Bedeutung der Zeichenfolge „Strawberry Fields Forever“ ist aus dem Song-Text nicht rekonstruierbar und damit intrinsisch unverständlich. Sie erzeugt lediglich assoziativ ein von Komplementärkontrasten geprägtes psychedelisches Bild: rote Erdbeeren in einem endlosen grünen Feld. Durch die abschließende deiktische Zeichenfolge „Cranberry Sauce“ wird diese Assoziation destruiert, sie hat also eine Kohärenz negierende Funktion. 4. Das mit „Strawberry Fields Forever“ ‘Gemeinte’ lässt sich nur extratextuell aus biografischen Autorenäußerungen der Beatles erschließen, wobei der Film selbst keinen Hinweis darauf gibt. Einem Interview Paul McCartneys zufolge war „Strawberry Fields“ der Name eines Waisenhauses in Liverpool, in dessen Garten Sommerfeste stattfanden: „[Strawberry Fields] lag [Johns Haus] genau gegenüber [...]. Er ging immer hinüber in diesen Garten, es war also eine Art magischer Kindheitsort für ihn. Wir machten daraus einen psychedelischen Traum, es wurde jedermanns magischer Kindheitsort daraus, nicht nur unserer.“8 Die erste Strophe „Let me take you down, cause I’m going to Strawberry Fields“ erklärt sich damit als Aufforderung an den Zuhörer, mit dem Song in die Vergegenwärtigung der Kindheit einzutreten. „Strawberry Fields Forever“ postuliert die Ewigkeit dieses Ortes in der Erinnerung und formuliert den Wunsch nach seiner Bewahrung. Aus- gehend von dieser Deutung steht die Zeichenfolge „Cranberry Sauce“ nun nicht mehr in semantischem Widerspruch zu „Strawberry Fields“, da das Bezeichnete potentiell unter die Kindheitserinnerungen subsumiert werden kann, womit, wie zuletzt im Film, eine Kohärenz der Zeichen reetabliert ist. Wenn der Soundtrack des Films mit dem Zitat der ersten Song-Strophe beginnt, wird Paul-is-dead ‚Strawberry Fields‘ - ‚Cranberry Sauce‘ 73 metaphorisch selbst zu einem magischen Kindheitsort, in den er den Zuschauer als interagierenden und damit im Sinne des Films infantilen Zeichensucher und -deuter hineinzieht. Das Spiel mit Zeichen, ausgetragen von Film und Rezipient, fungiert als eine Heraufbeschwörung der verlorenen Kindheit und als die Leug- nung der Sinnlosigkeit der Welt. 5. In dem „Strawberry Fields Memorial“, einem Garten im New Yorker Central Park gegenüber der letzten Wohnung und dem Todesort von John Lennon, mani- festiert sich heute die Erinnerung an seine Person und an das Verbrechen, mit dem auch die filmische Narration von Paul is dead endet. Der Mord an Lennon ist das zentrale und finale Ereignis, das für den Protagonisten den Realitätsstatus der Verschwörung beweist, womit der Film sekundär auch zu einem Denkmal für den Komponisten von Strawberry Fields Forever wird. 6. In seiner Gesamtheit stellt der Film Paul is dead also eine thematische, aber auch eine strukturelle „mediale Transposition“ des Songs Strawberry Fields Forever dar,9 denn auf der ästhetischen Ebene adaptiert der Film das auffälligste Strukturmerkmal des Songs: einen signifikanten Bruch in Gestalt eines fade- outs mit anschließender Leerrille und folgendem fade-in, der die Komposition in zwei Segmente aufteilt und den der Film umsetzt, indem er die Kamera um Tobias kreisen und das Bild unschärfer werden lässt, bis es schließlich in ein Schwarzbild und erneute Aufblende übergeht. Song und Film spielen hier mit der narrativen Kategorie des Endes und dem Rahmencharakter des Kunstwerkes, denn in beiden Fällen scheint ein Abschluss an der jeweiligen Position denkbar und plausibel. Im neuerlichen fade-in negiert Strawberry Fields Forever aber eine Abgeschlossenheit, postuliert eine Verlängerung und Gültigkeit des Verhandelten - der Erinnerung - über es hinaus und exemplifiziert außerdem seine Aussage, „Nothing is real“, in einem Spiel mit den Hörererwartungen. Der Film codiert das Strukturelement der Ausblendung und des Bruchs ebenfalls doppelt. Zum einen als Versinnbildlichung von Tobias’ Bewusstseinsverlust am Handlungshöhepunkt der Schrankszene, d.h. die Inszenierung übernimmt hier die Perspektive des Pro- tagonisten und gibt damit die Distanz zwischen der Kamera als Erzählinstanz und der Sichtweise der Figur auf. Zum anderen dient es als Markierung des neuen Geschehenssegments, das nicht mehr die Einweihung des Kindes in die Theorie um den fiktiven Mord an Paul McCartney zum Gegenstand hat, sondern deren Substitution durch den realen Mord an John Lennon. Die intra- wie extratextu- elle Faktizität dieses Todes ermöglicht filmisch die spielerische Verifikation des fiktiven Mordes durch den realen und eines Zusammenhanges des VW-Fahrers damit, führt also zu einer Wahrhaftigkeitsstiftung für das Erzählte. Da Song und Film schließlich zu einem Ende kommen müssen, tun sie dies nun im Unterschied 74 2. Postmoderner Film zur vorherigen sukzessiven Ausblendung mit einem abrupten Bruch, der im Film einen fundamentalen Erkenntnisschock bezeichnet. Dass intertextuelle Referenzen, in diesem Fall sogar die Transposition zentraler bedeutungsgenerierender Merkmale aus einem Ausgangstext in einen Zieltext, der einem anderen Medium angehört, selbstreflexiv auf den Konstruktionscha- rakter des Kunstwerkes, seine Medialität und Verwobenheit mit anderen Texten hinweisen, ist heute ein literatur- und medienwissenschaftlicher Allgemeinplatz.10 In dem Spiel der Zeichen zwischen den Texten durch Zitationen sowie in dem Spiel mit Zeichen auf der intratextuellen thematischen und strukturalen Ebene der Diegese, seinen antirationalistischen Mystifikationstendenzen und nicht zuletzt in der Beschwörung einer Erinnerungs- bzw. Evokation einer Retrokultur ist der Film nicht gerade ein ungewöhnliches Kind seiner Zeit. Aber er konzentriert einige Themen und ästhetische Phänomene postmoderner Texte. So lassen sich die konstitutiven Merkmale postmodernistischer Ästhetik ohne weiteres auch für Paul is dead konstatieren.11 Eine textuelle Offenheit der Bedeutung und Öffnung zum Rezipienten etwa findet sich in dem Spiel mit dem Zuschauer um Sinn und Unsinn der präsentierten Verschwörungstheorie. Daraus leitet sich die Immanenz des Textes als antimimetische Leugnung einer außersprachlichen Realität ab: Der [postmoderne] Text imitiert nicht die ursprüngliche Realität der histori- schen Ereignisse, indem er sie mimetisch abzubilden sucht, er generiert statt dessen eine Hyperrealität der literarischen [hier: filmischen] Illusion, in der sich die Grenzen zwischen ursprünglicher Realität und bloßer Fiktion gänzlich auflösen und die textuellen Ereignisse nur noch in der Immanenz des literari- schen [filmischen] Spiels zirkulieren.12 In dem Spiel um Sinn und Unsinn der Beatles-Verschwörungstheorie konstruiert der Film eine Hyperrealität. Auf der diegetischen Ebene konstituiert sie sich in jenem Augenblick, zu dem der VW vom Abbey-Road-Cover in die bis dato nicht in Frage gestellte Alltagswirklichkeit des Protagonisten einbricht und eine im Folgenden sukzessive Durchdringung des Realen durch die Kunst evoziert. Wie sehr das Spiel mit Realität und Fiktion Methode hat, zeigen abschließend noch einmal die Filmcredits: Der Name der innerhalb der dargestellten Welt als real gesetzten Person Billy Reash ist ein signifikant nicht aufgehendes Anagramm von Billy Shears, einer Kunstfigur, welche die Beatles für das Konzept-Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band (1967) erdacht hatten. Sie gaben sich dort als die imaginäre gleichnamige Band aus und konstruierten damit innerhalb des Albums eine fiktive kohärenzstiftende Sprechsituation, der einzelne Songs als Äußerungsakte zugeordnet sind. In der Überleitung des Titelsongs zu dem von Ringo Starr gesungenen With a little Help from my Friends wird der Sänger ‚Strawberry Fields‘ - ‚Cranberry Sauce‘ 75 angekündigt mit den Worten: „And now, the one and only Billy Shears“. Der Nachspann von Paul is dead listet die Rolle des Käferfahrers nun nicht mit dem Namen, den er in der dargestellten Wirklichkeit trägt als Billy Reash, sondern als „the one and only Billy Shears“. Nebenbei bemerkt, lässt sich auch umgekehrt eine Durchdringung von Kunst und Realität konstatieren, denn die Beatles haben die extratextuell existente Ver- schwörungstheorie spätestens ab dem Song Glass Onion (1968) immer wieder ironisch in ihre Kunst integriert und ihrerseits ein interaktives Spiel mit dem Rezi- pienten getrieben, indem sie dessen Zeichensuche zum Gegenstand von Songs und Coverart machten. Glass Onion etwa beginnt, auf den rätselhaften Song I am the Walrus (1967) anspielend, mit der Textzeile: „I told you about Strawberry Fields / You know the Place where nothing is real. / Well here’s another place you can go [...] / Well here’s another clue for you all / The Walrus was Paul”.13 Eine weitere, deutliche Ironisierung des Diskurses findet sich auch auf Paul McCartneys Solo- Live-Album mit dem bezeichnenden Titel Paul is live (1993) und einer Coverab- bildung des Abbey-Road-Käfers, nun allerdings mit dem Kennzeichen: „51 is“. Das intratextuelle Spiel mit Zeichen und die Konstruktion einer Hyperrealität in Paul is dead hat selbstreferentiellen Charakter, denn der filmische Text erhebt darin keinen Anspruch, auf etwas anderes als sich selbst, auf andere Texte und auf die grundsätzlichen Produktions- und Rekonstruktionsbedingungen von Bedeutung, Kohärenz und damit Sinn zu verweisen. Der magische Kindheitsort wird so wenig verlassen, wie der Protagonist seine kindliche Weltsicht, die keinen Unterschied mehr zwischen Kunst und Realität kennt, aufgibt. Zu Beginn und Ende des Films sind jeweils Szenen zu sehen, in denen Tobias ein Radiointerview spielt, wobei er den Interviewer und einen Popstar zugleich verkörpert. Frage und Antwort sind filmisch so gegeneinander montiert, dass der Eindruck entsteht, er habe sich verdoppelt. Diese Selbstbespiegelung indiziert einerseits die Selbstbe- züglichkeit des Films und macht deutlich, dass der Protagonist weiterhin in den Spielen der Kindheit verbleibt, schließlich aber doch eine Entwicklung stattgefun- den hat. Denn thematischer Gegenstand des zweiten Interviews ist die Bekehrung des Popstar-alter egos zu neuen Vorbildern. So präsentiert sich sein musikalischer Vortrag mit dem Titel „New York“ (!) als eine atonale Destruktion melodischer Strukturen, welche die Negation von Kohärenz anerkennt. Ferner nimmt sie in der filmischen Gesamtkonzeption transmedial metaphorisch das destruktive Ende des Films vorweg. In der Adoleszenzgeschichte wird allerdings eine ausschließliche Selbstbe- züglichkeit des Films durchbrochen. Sie erzählt kohärent von Autoritäts- und Liebesverlusten: Väter haben alle drei Jungen nicht mehr, die musikalischen Vor- bilder werden durch das vermeintliche und reale Beatlessterben endgültig getilgt. Aber auch die desillusionierenden erotischen Erfahrungen der beiden anderen 76 2. Postmoderner Film Protagonisten in den parallelen Handlungssträngen können keinen ‘Sinn’ stiften. Bleiben Texte als Vor-Bilder und für den Rezipienten die Einladung in eine filmi- sche Vergegenwärtigung der Kindheit. Anmerkungen: 1 Vgl.: Handloegten, Hendrik: Paul is dead (2000). Filmzeit 0:00:06-0:00:22. 2 Zum Ereignisbegriff vgl. Lotman, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973 (edition suhrkamp; 582). 3 Der amerikanische Radiomoderator Russ Gibb hat sie am 12. Oktober 1969 auf WKNR- FM, Detroit, in die Welt gesetzt. Heute gibt es eine internationale Paul-is-dead-Internet- Homepage, die viele weitere ‘Hinweise’ verzeichnet und regelmäßig ein „Clue of the Year“ prämiert (www.paul-is-dead.com). 4 Paul is dead, 0:51:09. 5 Vgl.: Petersen, Christer: Der postmoderne Text. Rekonstruktion einer zeitgenössischen Ästhetik am Beispiel von Thomas Pynchon, Peter Greenaway und Paul Wühr. Kiel: Ludwig 2003, S. 46. 6 Lennon, John / Paul McCartney: Strawberry Fields Forever. Northern Songs Ltd. 1967. 7 Lennon, John / Paul McCartney: Strawberry Fields Forever, Filmzeit 0:00:40-0:01:31. 8 Zit. n. Heertsgaard, Mark: The Beatles. Die Geschichte ihrer Musik. München: DTV 1996, S. 228. 9 Vgl. zu diesem Begriff: Krah, Hans: „Media shift and intertextual reference“ In: Winfried Nöth (Hg.): Semiotics of the Media. State of Art, Projects, and Perspectives. Berlin, New York: Mouton de Gruyter 1997. 10 Der hier zu Grunde gelegte medienunabhängige Textbegriff im Sinne eines kohärenten Systems bedeutungstragender, z.B. sprachlicher, ikonographischer und/oder tonaler Zeichen schließt sowohl Literatur als auch Film und Musik ein. 11 Vgl. dazu Petersen, Christer: Der postmoderne Text, insbesondere S. 155-164. 12 Ebd., S. 220. 13 Lennon, John / Paul McCartney: Glass Onion. Auf: The Beatles [White Album], EMI Records Ltd. 1968.