Karl Riha: Prämoderne - Moderne - Postmoderne Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, 295 S, DM 22,80, ISBN 3-518-28760-5 „Alle sprechen von der Post-Modeme; ich schlage vor: sprechen wir zunächst noch einmal von der Prä-Modeme! Noch längst ist ja die Rekonstruktion der Vorgeschichte der Modeme nicht abgeschlossen und lassen sich aus ihr wichtige Erkenntnisse für den programmatischen Einsatz innovativer Kunst- und Literatur- bewegungen um die Jahrhundertwende und ihr lebendiges Weiterwirken bis heute gewinnen." (S.275) Unter dieser Perspektive versammelt Karl Riha Aufsätze aus den Jahren 1968 bis 1994. Es geht um die Literaturmodeme (und ihre Adap- tionen der und Querbezüge zur Kunst der Modeme), für die Hugo Balls erster Lautgedichtevortrag am 23. Juni 1916 gewöhnlich als ein terminus post quem angesehen wird. Diese Iiteratursoziologische und stilgeschichtliche Argumenta- tion umgeht allerdings eine mentalitäts- und mediengeschichtliche, welche den Einsatz der Modeme mit guten Gründen ins frühe 19. Jahrhundert datiert und die ihrerseits angehalten wäre, Elemente einer Prä-Modeme schon im Beginn der Neuzeit aufzuspüren. Aber gerade hier sieht Riha die Gefahr umstandsloser Aneinanderreihungen vordergründiger Parallelen und falscher Kontinuitäten und II Medien/Kultur 427 schlägt daher vor, mit dem „frisch durch die Inventionen der Modeme motivier- ten Blick [ ... ] die ganze Geschichte der Kunst und Literatur neu anzuschauen, Entdeckungen zu machen und bislang verdeckten Sachverhalten auf die Spur zu kommen"; die so gewonnenen Fundstücke könnten dann zu „einer 'großen Kon- struktion' - eben einer 'Vorgeschichte der Modeme' - zusammenschießen", was wiederum die Sicht auf die gegenwärtige sogenannte 'Post'-Moderne verändern könne (S.19ff.). Mit den vorliegenden Beiträgen gelingt es dem Verfasser vorzüglich, seine Perspektive als lohnend auszuweisen, und zugleich überrascht er den Leser man- ches Mal mit den präsentierten Fundstücken: schrift-graphische Musiknotation im „Wandsbecker Boten" und Dada-Lautgedichte; neobarocke Stiladaptionen bei Holz, Artmann, Rühm, Enzensberger; Kaspar- und Marionettenfigur als Me- dium moderner Sprachkritik von Nestroy bis Handke und Jandl; Cross-reading und -talking bei Lichtenberg (Darstellung von Simultangeschehen), bei Holz („parodistisches Spiel"), Karl Kraus („rationale und verbindliche Kritik"), bei Arp, Schwitters, Mehring, Jandl („ 'Auflösung' von Sprache"), Bachmann, En- zensberger, Heißenbüttel („antigrammatisches Sprechen"): „In der Cross-reading- Montage, die das vorgeprägte Sprachstück sozusagen unvermittelt der herkömm- lichen Logik entzieht, die diese Sprachteile zusammensetzt, wird gleichsam der Prozeß des gegenläufigen Sprechens selbst- das Wesen aller Satire - aufgedeckt. [ ... ] 'In den Reproduktionen der Montage wird Sprache bei der Sprache genom- men, erkennt Sprache sich selbst, und das ist das Zeichen ihrer Literarität' ." (86f.) Dichtungen in der und mit der „Sprache der Vögel" im Kontext der sprachkri- tischen Bewegungen seit dem späten 19. Jh.; Collage, Bruitismus, Abschweifun- gen, Simultanismus bei Karl Valentin; lipogrammatische Dichtungen von der An- tike bis in die Gegenwart; materiales versus instrumentales Sprachverständnis in anagrammatischer Literatur vor allem bei Jandl; Quadrat-Texte und Text-Qua- drate; Poetologie der Optisierung und Abstraktion des Sprechens und stocken- der Sprache durch Gedankenstriche; Paul Scheerbarts Destruktion und Neu- Konstruktion von Natur (mit einer Parallele bei Lichtenberg) im Dienste einer „Enthemmung von Bildern" und der alchimistischen „Entbindung einer neuen, weltgestaltenden Phantasie" sowie Carl Einsteins Phantastik durch „Herstellung von Widersinn" und „Flottmachen von Sprachkonstellationen"; Unterwande- rung der „Herrschaft des Wortes und seiner Hirnsemantik" (S.243) durch Aleato- rik und Zufallspoesie; Versuche neuer erzählerischer Haltungen in Cut-up-Kür- zestgeschichten Heißerrbüttels und Ror Wolfs - man wünschte sich die (Post-) Moderne-Diskussion öfter so querständig, gut sortiert und materialreich geführt. Ludger Rehm (Osnabrück)