Denis Leifeld [rezens.tfm] 2009/2 Rezension zu Jens Roselt, Phänomenologie des Theaters. München: Wilhelm Fink 2008. (Reihe: Übergänge Nr. 56). ISBN 978-3-7705-4615-2. 382 S. Festeinband. Preis: € 49,90. von Denis Leifeld Theater ist "kein Verschiebebahnhof vorgefertigter Interpretationen, sondern der kreative Ort, an dem Sinn erst entsteht in einem Ereignis zwischen Zu‐ schauern und Bühne" (S. 17). Aufführungen ereig‐ nen sich zwischen Akteuren und Zuschauern. Etwas passiert zwischen Bühne und Publikum. Wie kann dieses besondere Zwischenereignis beschrieben wer‐ den? Welche kreativen Prozesse geschehen zwischen den Sinnen des Zuschauers und den Körpern der Schauspieler? Welche Erfahrungen machen Zu‐ schauende während Aufführungen? Was passiert zwischen den beteiligten Personen? Mit diesen Fragen sucht Jens Roselt, der seit 2008 Professor für Theorie und Praxis des Theaters an der Roselt in den Mittelpunkt der Untersuchung von Stiftung Universität Hildesheim ist, eine Lücke in Aufführungen; denn in diesen wird deutlich, dass der Theatertheorie zu füllen. Erika Fischer-Lichte Aufführungen durch die besonderen Erfahrungen, schreibt im Jahr 2001, dass die Aufgabe für die Imaginationen und Erinnerungen der Zuschauer nächsten Jahre darin bestehen muss, "die phänome‐ mitbestimmt werden. nologische Analyse soweit weiterzuentwickeln, daß sie als methodischer Zugang anwendbar wird." [1] Während im zweiten Kapitel der Vollzugscharakter In seiner sehr gut zu lesenden Habilitationsschrift von Aufführungen anhand verschiedener Theorien liefert Roselt eine umfangreiche Theorie für eine der Performativität – Sprechakttheorie, Gender-Stu‐ phänomenologische Betrachtung von Aufführun‐ dies und Performance-Kunst – skizziert wird, wer‐ gen, die er mit seinen bisherigen Forschungen zur den in einem umfangreich angelegten dritten Kapi‐ Performativität, Schauspieltheorie und Aufführungs‐ tel die spezifische Medialität und Materialität einer analyse sinnvoll verknüpft und erweitert. Aufführung betrachtet. Hierbei wird an den Auffüh‐ rungsbegriff Fischer-Lichtes angeknüpft, der mit Um zu zeigen, dass die Erfahrung von Zuschauern phänomenologischen Überlegungen erweitert und im Theater "ein primärer Aspekt des Aufführungser‐ mit konkreten Beispielen verdeutlicht wird. In seiner lebnisses" (S. 17) ist, blickt Roselt einleitend auf be‐ Theorie der Aufführung geht Roselt insbesondere sondere – markante – Momente in Aufführungen, von der Ereignishaftigkeit aus, die er anhand Martin die gewohnte Wahrnehmungsmuster und Interpre‐ Seels Bestimmungen des Ereignisses anschaulich tationsweisen irritieren. Derartige Augenblicke stellt macht. Mit dem Philosophen Seel, aber auch mit Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2009/2 | Veröffentlicht: 2009-11-17 URL: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/r69 Denis Leifeld [rezens.tfm] 2009/2 dem in der Arbeit immer zentraler werdenden Bern‐ schen zu einem zentralen analytischen Begriff. Me‐ hard Waldenfels, wird hier schon die phänomenolo‐ thodisch fundiert Roselt diese Gedanken mit den gische Stoßrichtung des Buches deutlich. Wie lässt phänomenologischen Begriffen der Intentionalität sich die spezifische Medialität einer Aufführung fas‐ und Responsivität. Weiterhin bestimmt er Erfahrung sen? Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Untersu‐ als dialogisches Zwischengeschehen. Diese theoreti‐ chung von Medialität im Theater sofort zu Fragen schen Überlegungen überträgt er auf die Beziehung des Raumes führt, denn Medialität beschreibt er als zwischen Schauspielern und Zuschauern in Auffüh‐ "die Art und Weise, wie durch die räumliche Dispo‐ rungen. "Zwischen den Einzelnen spielt sich etwas sition Wahrnehmungsanordnungen geschaffen wer‐ ab" (S. 188), das nicht unbedingt harmonisch abläuft; den" (S. 64). So untersucht Roselt verschiedene ein phänomenologisches Verständnis von Erfahrung Raumformen des Theaters in Hinblick auf ästheti‐ betont vielmehr die Risse und Unstimmigkeiten, die sche Wahrnehmungen. In einem nächsten Schritt Roselt in den folgenden Kapiteln zu beschreiben bestimmt er die problematische, weil flüchtige Mate‐ sucht. rialität einer Aufführung. "Die Flüchtigkeit der Auf‐ Es reicht nicht aus, Aufführungen nur in Hinblick führung soll nicht als methodisches Problem ge‐ auf Bedeutungen zu denken und lediglich die semi‐ handhabt werden, sondern selbst den Ausgangs‐ otischen Dimensionen zu betrachten; eine Phänome‐ punkt der Analyse bilden." (S. 123) nologie muss gerade die "Rückseite der Semiotik" (S. Dieses besondere Merkmal von Aufführungen nutzt 249) zum Gegenstand machen: die "vibrierenden Roselt als Grundlage für seine Überlegungen. Im Stimmen, die Leiblichkeit der Darsteller und die Dy‐ vierten Kapitel, dem theoretischen Herzstück des namiken der Aufführung" (S. 212). Im fünften Kapi‐ Buches, gelingt es Roselt anhand philosophischer tel begründet Roselt diesen Gedanken – mit einem Positionen – von Hegel über Husserl und Merlau- besonderen Fokus auf den Schauspieler. Eine phäno‐ Ponty bis hin zu bereits erwähntem Waldenfels – ein menologische Sichtweise darf den Körper des phänomenologisches Verständnis von Theater an‐ Schauspielers nicht tabuisieren. Vielmehr "ist davon schaulich herzuleiten. Gerade die Gründlichkeit, mit auszugehen, dass die Figur jenseits des Körpers der Roselt die für das Theater so wichtigen Positio‐ nicht existiert" (S. 226). Roselt zeigt, wie Figuren ge‐ nen der Phänomenologie diskutiert, machen sie für rade in dem Zwischengeschehen von Zuschauern die Aufführungsanalyse nutzbar. und Schauspielern entstehen und vergehen. Es ge‐ lingt ihm, in Rückbindung an (schau‐ Was sind Phänomene? "Phänomene sind keine spiel-)theoretische Begriffe und philosophische Posi‐ Phantome!" (S. 148), antwortet Jens Roselt. Sie sind tionen die wechselseitige Bezogenheit von Wahrneh‐ keine bloßen "Hirngespinste" (ebd.), die Wahrneh‐ mungsprozessen und ästhetischen Situationen zu mungen und Erfahrungen als rein subjektive Gege‐ schildern. Hervorzuheben sind die Passagen, in de‐ benheiten auffassen. Vielmehr werden im Phäno‐ nen er anhand der Aufführung Augenlicht (UA 2006, menbegriff die Ebenen der Tatsächlichkeit einerseits R. Ingo Berk) an der Schaubühne Berlin die komple‐ und die des Erlebens andererseits von ihrer Verbin‐ xen Konstitutionsprozesse der Figur beschreibt und dung her verstanden. Phänomenologie zu betreiben am Beispiel der Schauspielerin Sarah Bernhardt die heißt nicht nur, Wahrnehmungsvorgänge minutiös Bedeutung der phänomenologischen Analyse zeigt, zu sezieren, denn so wäre ja das Phänomen selbst ohne die ihre besondere Aura und Ausstrahlung überflüssig. Es geht vielmehr darum – so legt er überhaupt nicht analytisch zu fassen wäre. überzeugend insbesondere anhand phänomenologi‐ scher Grundpositionen von Waldenfels dar – sich ge‐ Im sechsten Kapitel kommt Roselt in einem erneut nau zwischen dem Erlebnis des Erscheinens und der theaterhistorischen Beispiel auf eine schräge Schau‐ Erscheinung selbst zu bewegen. So wird das Zwi‐ spielerpersönlichkeit zu sprechen: auf Frank Wede‐ kind und dessen besondere Wirkung auf der Bühne. Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2009/2 | Veröffentlicht: 2009-11-17 URL: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/r69 Denis Leifeld [rezens.tfm] 2009/2 Denn Wedekind war in der Verkörperung einer Rol‐ plädiert dafür, dass sich die Wahrnehmung einer le "elend, unfähig, aufdringlich, dilettantisch" (S. Aufführung nicht bloß auf die Ermittlung von Be‐ 263). Doch gerade dieser Dilettantismus, so argu‐ deutungen, Interpretationen, Aussagen und Regie‐ mentiert Roselt, machte ihn zu einem Ereignis, das absichten reduzieren dürfe. So würde man all jene die Zuschauer in den Bann schlug. Roselt ist augen‐ Zuschauerhaltungen verdrängen, von denen die scheinlich bei der Arbeit mit dem Nicht-Perfekten Faszination für das Theater geprägt sein kann: "Auf‐ angekommen, die er schon in mehreren Aufsätzen regung, Unterhaltung, Langeweile, Spannung, Ag‐ begründet hat. Durch die Einbindung in den bisher gression oder Erotik" (S. 322). Was ist eigentlich das erarbeiteten Theoriekorpus überzeugen seine Über‐ Publikum? Im Theater gibt es kein Ich, nur ein Wir, legungen zur Phänomenologie des Nicht-Perfekten. so Roselts Antwort. Wahrnehmungen wie Vergnü‐ Anhand zahlreicher Aussagen von Zeitgenossen gen, Begeisterung, Irritation oder Überwältigung wird beschrieben, wie Wedekinds dilettantische werden im Theater gemeinsam erlebt und – er geht Spielweise tradierten Konventionen der Repräsenta‐ noch einen Schritt weiter – auch gemeinsam hervor‐ tion entgegenstanden und seine nicht-perfekte Kör‐ gebracht. Er konzeptioniert die Zuschauer im Thea‐ perlichkeit das Publikum faszinierte. Hier stellt sich ter als Doppelheit, denn eine individuelle Reaktion jedoch die Frage, inwiefern eine phänomenologische ist zugleich auch eine kollektive Erfahrung. Analyse überhaupt historisch sein kann, da sie ja auf die Aufführungssituation im Hier und Jetzt gründet.   Kommt hier nicht die Phänomenologie an eine Grenze? Im siebten Kapitel analysiert Roselt nur ak‐ Jens Roselt liefert in seiner Phänomenologie des Thea‐ tuelle Aufführungen, in denen er als Wahrnehmen‐ ters die für die gegenwärtige theaterwissenschaftli‐ der selbst teilgenommen hat: Besonders hier liegt die che Debatte dringend benötigte theoretische Unter‐ Stärke der phänomenologischen Vorgehensweise. Er mauerung einer phänomenologisch ausgerichteten geht u.a. auf die Aufführung Sabenation der Perfor‐ Aufführungsanalyse. Unverzichtbar ist Roselts Habi‐ mance-Gruppe Rimini Protokoll ein, auf Aspiranten litationsschrift hinsichtlich zukünftiger phänomeno‐ des Regieduos Hofmann&Lindholm (Hannah Hof‐ logisch orientierter Analysen, die von seinen Zusam‐ mann und Sven Lindholm) sowie auf Aufführungen menführungen, Präzisierungen, Erweiterungen und von René Pollesch und Frank Castorf. Durch diese auch Beispielen profitieren und ausgehen können, detaillierten phänomenologischen Betrachtungen um sich dem Problem der Aufführungsanalyse zu von (nicht-perfekten) Körperlichkeiten, Wahrneh‐ stellen, nach dem Motto: "Theater ist nicht nur eine mungsweisen und Aufführungsdynamiken wird Bühnenkunst, sondern auch eine Zuschaukunst" (S. deutlich, wie erst im Auftritt des Schauspielers eine 376). Mögliche Anschlussfragen, die sich an diesen Erscheinung konstituiert wird, "die weder auf die in‐ letzten Satz in der Phänomenologie des Theaters stel‐ dividuelle Person des Schauspielers noch eine Rol‐ len, könnten sein: Braucht man vielleicht einen Blickauf psychoanalytische Theorien, um das besondere lenvorgabe reduziert werden kann, da auch die In‐ Zwischengeschehen noch stärker vom Zuschauer tentionen der Zuschauer hier sinngebend sind" (S. her zu denken? Oder wäre man hier schon bei einer 300).             anderen Analysemethodik angekommen, die Auf‐ Bertolt Brechts Verfremdungseffekt wird im achten führungen nicht vom Phänomen her denkt, sondern Kapitel als "Seitenblick" (S. 309) nachgezeichnet, da vom Selbst des Zuschauers? "Fremderfahrung" (ebd.) im Kontext einer Phänome‐ --- nologie des Theaters thematisiert werden muss. Nach diesem Exkurs fragt Roselt im neunten und [1] Erika Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung. Das zehnten Kapitel nach dem Zuschauer bzw. nach der Semiotische und das Performative, Tübingen: Fran‐ sozialen Dimension von Erfahrung im Theater. Er cke 2001, S. 265. Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2009/2 | Veröffentlicht: 2009-11-17 URL: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/r69 Denis Leifeld [rezens.tfm] 2009/2 Autor/innen-Biografie Denis Leifeld Studium der Theater- und Medienwissenschaft, Psychologie und Neueren deutschen Literaturgeschichte in Erlangen-Nürnberg. Seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater- und Medienwissenschaft Erlangen (ITM) und Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Arbeit an einem Disser‐ tationsprojekt über die Analyse und Theorie von Performern in Aufführungen. Studien- und Forschungsrei‐ sen u.a. nach Los Angeles, New York und Tokyo. Magisterarbeit über aktuelle Fragen der Schauspieltheorie mit dem Titel Vom Schauspieler zum Performer (2008). Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Aufführungsana‐ lyse, Geschichte des Theaters im 20. Jahrhundert, Schauspieltheorie, Performativität. Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2009/2 | Veröffentlicht: 2009-11-17 URL: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/r69