Konstanzer Hefte zur Medienwissenschaft 59 Virtuelle Topographien: Los Angeles multimedial AugenBlick Konstanzer Hefte zur Medienwissenschaft Herausgegeben von Ursula von Keitz, Beate Ochsner, Isabell Otto, Bernd Stiegler und Alexander Zons in Zusammenarbeit mit Heinz B. Heller Eine Veröffentlichung der Arbeitsgruppe Medienwissenschaft im Fachbereich Literaturwissenschaft der Universität Konstanz Heft 59, September 2014 Herausgeber und Redaktion dieser Ausgabe: Silke Roesler-Keilholz und Sascha Keilholz Redaktionsanschrift: Universität Konstanz, FB Literaturwissenschaft – Medienwissenschaft Universitätsstraße 10, Fach 157, 78457 Konstanz http://www.uni-konstanz.de Schüren Verlag, Universitätsstr. 55, 35037 Marburg Drei Hefte im Jahr Einzelheft € 9,90 Jahresabonnement € 25,– Jahresabonnement für Studierende € 20,– Bestellungen an den Verlag Anzeigenverwaltung: Katrin Ahnemann, Schüren Verlag www.schueren-verlag.de © Schüren Verlag, alle Rechte vorbehalten Gestaltung: Nadine Schrey Druck: Difo-Druck Bamberg ISSN 0179–2555 ISBN 978–3–89472–659–1 Inhalt Silke Roesler-Keilholz/Sascha Keilholz Vorwort 5 Petra Löffler Der seltsame Fall des Bas Jan Ader Los Angeles und der West-Coast-Konzeptualismus der siebziger Jahre 10 Herbert Schwaab Schnee in Kalifornien Fernsehgeschichte zwischen Los Angeles und New York 23 Laura Frahm «A Moment of Radical Thought» Zum kritischen urbanen Kino der L.A.-Rebellion 39 Thomas Elsaesser Actions Have Consequences David Lynchs L.A.-Trilogie 50 Damianos Grammatikopoulos/Sascha Hosters Simulation und Raumwahrnehmung in Grand Theft Auto V 71 Abbildungsnachweise 81 Die Autorinnen und Autoren 82 Silke Roesler-Keilholz / Sascha Keilholz Vorwort Showtime. Der up-tempo-Basketball des Los-Angeles-Lakers-Teams um Magic Johnson brachte ihrer Spielstätte, dem Forum, in den 1980er-Jahren einen Ruf als unvergleichlicher Ort. Die Showtime-Lakers und ihr Stadion, eigentlich in der Pe- ripherie, außerhalb der inneren Stadtgrenzen gelegen, brannten sich ein in die To- pographie L.A.s. Nicolas Winding Refns 2010 gedrehter und ein Jahr später in Cannes uraufge- führter Drive assoziiert in vielerlei Hinsicht  – insbesondere ästhetisch, bei der Wahl seiner Farbpalette und auf Ebene des Soundtracks – die Showtime-Ära der 1980er-Jahre. Sein Protagonist, der namenlose Fahrer, beschließt die als Verfol- gungsjagd strukturierte Eröffnungssequenz im Staples-Center, dem Nachfolge- gebäude des Forums. Es befindet sich zentral, Downtown, und beherbergt neben diversen Teams aus anderen Sportarten nicht nur die Lakers, sondern auch deren städtische Rivalen, die Clippers. Im Glanz der Lakers jahrzehntelang unter dem Radar geblieben, katapultierten sie sich 2009 ins Zentrum der Öffentlichkeit, als sie Blake Griffin an erster Stelle des Drafts zogen. Zusammen mit dem 2011 ak- quirierten Chris Paul prägen sie, zumindest in den Augen Magic Johnsons, einen neuen Showtime-Basketball. Mehr noch: Ihr Spiel hat der ganzen Stadt einen neuen Namen verliehen: Lob City. Seit 2012 dominieren die Clippers den städtischen Bas- ketball und zunehmend auch die nationalen TV-Übertragungen. Der Driver hat eine Vorahnung dieses Koordinatenwechsels. Er sucht die Park- garage des Staples-Centers am Ende eines Clippers-Spiels auf. Somit zeichnet er die Clippers, welche zu Zeiten der ursprünglichen Showtime-Ära noch in San Diego antraten, auf die virtuelle Karte des gegenwärtigen Los Angeles. Sein Auto dient ihm dabei als Hilfsmittel. Der (Flucht-)Wagen generiert im Film einen Raum, er ist selbst Medium und ermöglicht die Produktion einer neuen (Raum-)Konstellation. Winding Refns Film prägt das mediale Bild der Stadt ebenso, wie die weltweiten NBA-Übertragungen durch ESPN, mit Magic Johnson als populärem Gast-Kom- mentator. Der Driver verkörpert das urfilmische Moment der Bewegung und lässt sich als filmische Figur par excellence deuten. Seit jeher sind das Auto und das Medium Film miteinander symbiotisch verknüpft. Beide gelten als Motive und Symbole der Bewegung schlechthin. Baudrillard diagnostiziert darauf aufbauend für L.A.: «Cars and movies, after all, are the essential icons of Los Angeles, emblems of speed and light and movement; but they also reside at the heart of our national mythology, and this is perhaps why Los Angeles has come to occupy such a singular place among 6 Silke Roesler-Keilholz / Sascha Keilholz American cities, a symbol of the country’s most expansive dreams and its most streamlined technologies.»1 Der Driver schleicht durch die Nacht wie ein Panther. Seine Fahrt ist scheinbar nicht nur vorwärtsgerichtet und keinesfalls auf Tempo ausgelegt. Wie im Walzer bewegt er sich tänzerisch zwei Schritte vor und einen Schritt zurück. Nicht nur Beschleunigung, sondern auch Verlangsamung kennzeichnet die Fahrt des Drivers. Er – und somit auch wir als Zuschauer – nehmen den Raum um ihn herum deshalb anders wahr, als jemals zuvor. Wo die klassische und vor allem postklassische Ver- folgungsjagd die Rekapitulation des Raums verunmöglicht, ihn im Einstellungs- wechsel und Schnittstakkato pulverisiert, lässt uns Winding Refns Montage Down- town L.A. auf einzigartige Weise erfahren. Der Driver ist Flaneur, er nimmt alles in völliger Klarheit wahr, die Stadt ist ein Straßennetz vor seinem geistigen Auge. Hindurch navigieren kann er dank eines akustischen Signals: dem Polizeifunk. Der Driver weiß, wo sich seine Verfolger befinden, was sie vorhaben. Er kennt ihren Blick auf die Straßen und die Stadt, zwischen ihm und ihnen entspinnt sich der an- mutig langsame Tanz mit dem zwischenzeitigen up-tempo. Stillstand im richtigen Moment heißt das Geheimnis dieses Stadt- und Tempoverständnisses. Kaum ein Organ hat die mediale Wahrnehmung einer Stadt so geprägt, wie das L.A.P.D. Richard Fleischers 1972 uraufgeführter The New Centurions erhielt vom deutschen Verleih den topographisch eindeutigen Titel Polizeirevier Los Angeles-Ost. Seitdem prägen die flanierenden, patrouillierenden, Streife fahren- den Polizisten der Stadt ihr virtuelles Bild genauso, wie der Ort, an den sie zumeist gerufen werden: der soziologische Brennpunkt East L.A. Während Fleischer und sein Team diesen Stadtteil noch zu einem nicht unerheblichen Teil im Studio ent- stehen ließen, ist das Strike Team aus The Shield (2002–2008) tatsächlich immer wieder im Osten vor Ort, wenn es in den Kampf gegen Drogendealer vor allem mittel-und südamerikanischer sowie süd-osteuropäischer Herkunft geht. Winding Refns Driver, der Loner und Outlaw, muss die Stadt am Ende wieder verlassen. Wie Shane aus George Stevens gleichnamigem Film und ähnlich Ethan Edwards aus John Fords The Searchers (Der schwarze Falke, 1956) kann er die Frau und das Kind zwar beschützen und retten, doch zu einem hohen Preis: in der zivilisierten Gesellschaft gibt es keinen Platz für ihn. Sein Prinzip des vigilantism, der regeneration through violence, verhilft der Zivilisation zwar zu einer zwischen- zeitlichen Balance, aber es unterminiert sie gleichzeitig wieder. So begibt sich der Driver erneut auf die nie enden wollende amerikanische Straße und findet damit abermals seinen Bezugspunkt im Medium Film selbst: «Die amerikanische Straße kennt vielleicht keine geschichtlichen Augenblicke, aber sie ist immer in Bewegung, immer vital, kinetisch und kinematographisch wie das 1 David L. Ulin: Introduction In: Ders. (Hrsg.): Writing Los Angeles: a literary anthology. Los Angeles 2002, S. Xiii–XiX, S. XV. Vorwort 7 Land selbst, in dem das eigentlich historische oder politische Geschehen wenig zählt, in dem dagegen jegliche Veränderung, ob sie auf neue Technologien, Rassenunter- schiede oder Medien zurückzuführen ist, eine große Rolle spielt: sie ist die Gewalt- samkeit des Lebensstils selbst.»2 In der vorliegenden Augenblick-Ausgabe wollen wir Los Angeles aus unterschiedli- chen film-, fernseh- und medienkulturwissenschaftlichen Perspektiven in den Blick nehmen. Die Stadt an der West Coast gilt dabei ebenso selbst als Explorationsfeld, wie sie medienhistorische Zäsuren markiert. In den Beiträgen wird die Frage mit- gedacht, wie die Stadt sowohl in einer historischen, als auch in einer formal-äs- thetischen sowie kulturellen Dimension generiert wird. Entscheidend ist dabei das Verhältnis bzw. das Nebeneinander von gebauter Stadt und ihrer medialen (Re-) Präsentation. Baudrillard hat dieses Wechselverhältnis in Bezug auf Los Angeles folgendermaßen formuliert: «The city was here before the freeway system, no doubt, but it now looks as though the metropolis has actually been built around this arterial network. It is the same with American reality. It was there before the screen was invented, but everything about the way it is today suggests it was invented with the screen in mind, that it is the refraction of a giant screen.»3 Wir gehen nun von der Annahme aus, dass Medien eigene Stadtversionen, mediale Artefakte, immaterielle Konstrukte und Counterparts von Stadt bzw. Räumen im Allgemeinen entstehen lassen. Diese neu hergestellten Architekturen begreifen wir als virtuelle Topographien.4 Sie werden zwar von der geographisch gebauten Stadt gestützt, die Anwesenheit ‹real existierender› Baukörper im Bild ist jedoch keine Grundbedingung der medialen Stadtgenerierung. Die Großstadt und der Umge- bungsraum werden vielmehr verkürzt in Form von Chiffren – wie das erwähnte Staples-Stadion aus Drive – inszeniert. Die Beiträge spüren teils implizit, teils ex- plizit der Frage nach, wie Raum medial vermittelt und generiert wird. Dabei scheint in den unterschiedlichen Kontexten Los Angeles’ Topographie, seine horizontale Erstreckung samt ihrer Endlichkeit bzw. Begrenzung durch den Pazifik im Westen, als Gedanke mitgeführt zu werden. Während New York auf- grund seiner Häufung an Wolkenkratzern als Stadt der Vertikale gilt, besticht Los Angeles durch seine horizontale Ausdehnung. Jean Baudrillard beschreibt das un- vergleichliche Straßen- und Lichtermeer der Metropole in seiner topographischen Erstreckung wie folgt: «There is nothing to match flying over Los Angeles by night. A sort of luminous, geometric, incandescent immensity, stretching as far as the eye can see, bursting out 2 Jean Baudrillard: Amerika. Berlin 2004, S. 32. 3 Ders.: America. London/New York 1988, S. 55f. 4 Vgl. Silke Roesler: Doing City. New York im Spannungsfeld medialer Praktiken. Marburg 2010. 8 Silke Roesler-Keilholz / Sascha Keilholz from the cracks in the clouds. Only Hieronymus Bosch’s hell can match this inferno effect. The muted fluorescence of all the diagonals: Willshire, Lincoln, Sunset, Santa Monica. Already, flying over San Fernando Valley, you come upon the horizontal infinite in every direction. But, once you are beyond the mountain, a city ten times larger hits you. You will never have encountered anything that stretches as far as this before. Even the sea cannot match it, since it is not divided up geometrically.»5 Die Weite des Landes und des Meeres hat auch den im ersten Beitrag vorgestellten Künstler fasziniert, der 1963 im Alter von 21 Jahren nach Kalifornien gekommen und 1975 von dort zu einer Reise aufgebrochen ist, von der er nie wieder zurück- kehrte. Petra Löffler untersucht in «Der seltsame Fall des Bas Jan Ader. Los Angeles und der West-Coast-Konzeptualismus der siebziger Jahre» die Raumproduktion in den Kurzfilmen des im Titel geführten niederländischen Künstlers. 1970 lässt sich Bas Jan Ader vom Dach seines Wohnhauses im östlich von Los Angeles gelegenen Claremont fallen. Den Sturz hält eine Kamera auf 16mm-Schwarzweißfilm fest. Die Aufnahme dauert 34 Sekunden und trägt den schlichten Titel Fall (I Los Ange- les). Aders Fall (im Doppelsinn des Worts) wird in diesem Beitrag zum Ausgangs- punkt einer Spurensuche nach dem künstlerischen wie filmischen Milieu, aus dem heraus er verschwunden ist, das er aber gleichwohl noch immer heimsucht. In seinem Beitrag «Fernsehproduktion in LA und die televisuellen Nichtorte der Fernsehserie» blickt Herbert Schwaab auf das Medium TV. Erkundet werden die Besonderheiten einer Raumkonstruktion in Fernsehformaten, die an einen Ort der Produktion gebunden sind, jedoch nie einen bestimmten Raum evozieren dürfen. Nicht nur die ästhetischen Besonderheiten so entstehender hybrider Raumkonst- ruktionen sollen herauskristallisiert werden, sondern auch, dass die Fokussierung auf L.A. in Fernsehformaten als eine bewusste Abkehr von der Repräsentation des großstädtischen Lebens verstanden werden kann, als Symptom der Suburbanisie- rung oder einer neuen Konsumkultur, die eng mit dem Raum und der Kultur Kali- forniens und von L.A. verbunden ist. Laura Frahm wählt in «‹A Moment of Radical Thought›. Zum kritischen urba- nen Kino der L.A. Rebellion» eine visuelle Perspektive für die Untersuchung ei- ner medialen Herstellung von Stadt. In den filmischen Entwürfen von Los Angeles kristallisieren sich Impulse heraus, welche die übergreifende Entwicklung der fil- mischen Stadt nachhaltig beeinflusst haben. Frahms Beitrag konzentriert sich auf einen Umbruchsmoment in den 1970er-Jahren, der mit dem Erscheinen der Filme der L.A. Rebellion zusammenfällt. Charles Burnetts Killer of Sheep (1977), Haile Gerimas Bush Mama (1975) und Billy Woodberrys Bless Their Little Hearts (1984) lassen ein kritisches urbanes Kino entstehen, das die sozialen Missstände im Stadtteil Watts in den Mittelpunkt rückt. Aus einem dichten Netz filmischer Ein- flüsse, die mit einem «moment of radical thought» (Charles Burnett) an der UCLA 5 Baudrillard 1988, S. 51f. Vorwort 9 einhergehen, begründet sich ein neues ‹Black City Cinema›, das die filmische Karte von Los Angeles – und damit zugleich die Geschichte der filmischen Stadt – neu vermisst. Thomas Elsaesser blickt in seinem Beitrag «Actions Have Consequences. David Lynchs L.A.-Trilogie» ebenfalls auf das filmische Los Angeles. Der Essay geht da- von aus, dass Lynchs Lost Highway (1997), Mulholland Drive (2001) und In- land Empire (2006) eine Trilogie bilden. Deren drei hoch reflexive Werke sind Teil des post-klassischen Independent Cinema, welches sich wiederum nicht nur mit Fernsehen, Genre-Kino und Internet auseinandersetzt, sondern nach Elsaesser auch eine Art «Meta-Kino» verkörpert. Dessen autobiographische, spirituelle und selbst expressive Dimensionen betrachtet Elsaesser zwar als wichtig, entscheiden- der aber scheinen ihm die performativen Selbstwidersprüche, die er unter dem La- bel «Mind-Game-Film» bespricht. In «Simulation und Raumwahrnehmung in Grand Theft Auto V» unter- suchen Damianos Grammatikopoulos und Sascha Hosters die Generierung von Raum in Computerspielwelten. Schauplatz der Handlung des im Titel geführten Videospiels ist die fiktive, jedoch Los Angeles nachempfundene, Stadt Los Santos. Grundsätzlich ist die Grand-Theft-Reihe bekannt für ihre komplexe topographi- sche Welt, welche sie von anderen Third-Person-Shooter-Games unterscheidet. GTA V bietet nun zum ersten Mal drei spielbare Charaktere an, zwischen denen der Spieler während der ‹Mission› wechseln kann. Und vielleicht denkt man sich als einen der Charaktere den Driver auf seiner Mission, wie er – en passant – an der Herstellung eines neuen Koordinatensystems teilhat. Petra Löffler Der seltsame Fall des Bas Jan Ader Los Angeles und der West-Coast- Konzeptualismus der siebziger Jahre Thoughts unsaid, then forgotten.1 I. Im Sommer 1970 lässt sich der niederländische Künstler Bas Jan Ader vom Dach seines Wohnhauses im gut eine halbe Autostunde östlich von Los Angeles gelegenen Claremont fallen. Den Sturz hält eine Kamera auf 16-Millimeter-Schwarzweißfilm fest, die von Mary Sue Anderson, Aders Ehefrau, aus sicherer Distanz geführt wird. Die Aufnahme dauert ganze 24 Sekunden und ist in einer einzigen Totalen gefilmt, Ton gibt es nicht. Der kaum halbminütige Film trägt den schlichten Titel Fall (I, Los Angeles) und endet, als Ader unsanft in den Sträuchern seines Vorgartens landet (vgl. Abb. 1). Kurz darauf reist Ader nach Amsterdam, um einen weiteren Fall zu filmen. Diesmal fährt er mit dem Fahrrad in eine Gracht der niederländi- schen Metropole. Und wieder wird die Bewegung des Fallens auf 16-Millimeter- Schwarzweißfilm in einer einzigen Einstellung ohne Ton festgehalten. Der als Fall (II, Amsterdam) betitelte Film dauert sogar nur neunzehn Sekunden (vgl. Abb. 2). Ein Jahr später setzt Ader die Serie fort. Broken Fall (Organic) zeigt, wie er sich langsam am Ast eines Baumes entlang hangelt, der sich unter seinem Gewicht gefährlich neigt, und sich schließlich in eine Gracht im größten Park der Stadt, dem Amsterdamse Bos, fallen lässt. Dieser, keine zwei Minuten lange, Film wird ebenso wie der ebenfalls 1971 entstandene Kurzfilm Broken Fall (Geometric), der in Westkapelle als Hommage an den niederländischen Künstler Piet Mondrian entsteht, von Aders Künstlerfreund Ger von Elk aufgenommen. Im gleichen Jahr realisiert Ader noch zwei weitere filmische Arbeiten: I’m Too Sad to Tell You, bei dem Peter Bakker die Kamera führt, sowie Nightfall, an dem wieder Ger von Elk beteiligt ist. Beide werden ebenfalls auf 16-Millimeter-Schwarzweißfilm gedreht; die eine Arbeit dauert dreieinhalb Minuten, die andere gut vier Minuten. Damit ist das filmische Werk Bas Jan Aders auch schon umrissen. Man könnte noch das 1974 entstandene, gut 25-minütige Farbvideo Primary Time hinzunehmen, und trotzdem kommt man nicht auf mehr als 41 – einundvierzig! – Minuten Bewegt- bildmaterial. 1 Titel einer Arbeit (Schwarzweiß-Polaroid) Bas Jan Aders von 1973. Der seltsame Fall des Bas Jan Ader 11 Aders ausgesprochen konzeptuelle Kurzfilme, die sich mit den zwischen 1957 und 1975 entstandenen, gleichfalls kurzen, situati- onskomischen filmischen Arbeiten des belgischen Konzeptkünstlers Marcel Broodthaers in Beziehung setzen lassen,2 sind Anfang der siebziger Jahre in mehre- ren Ausstellungen in Nord- amerika und Europa gezeigt worden.3 Dennoch waren sie lange Zeit kaum mehr als ei- ner Handvoll Künstlern und Kunsthistorikern bekannt.4 Gerade ihre Beiläufigkeit öff- net sie jedoch für ein Denken über Film, das sich den Rän- dern des Mediums zuwendet. Das Beiläufige und Epheme- re der stets für eine Kamera 1–2 inszenierten Geschehnisse erscheint in ihnen als Methode. Auch die Verwendung von 16-Millimeter-Schwarz- weißfilm stellt Anfang der siebziger Jahre schon einen Anachronismus dar, der nicht zuletzt im Kunstmilieu mit großer Hingabe gepflegt wurde.5 Dort markiert dieses Format einen Abstand zum kommerziellen Hollywoodfilm. Ansonsten wird es in dieser Zeit vor allem von Experimental- und Amateurfilmern sowie beim Lehrfilm verwendet – und darüber hinaus von Autoren, die wie Jean-Luc Godard ihre poli- 2 Marcel Broodthaers hat sich dezidiert nicht als Filmemacher verstanden. Seine über 40 filmischen Arbeiten können als Sprachspiel und situative Erkundung des filmischen Dispositivs gleichermaßen verstanden werden. Er zitiert dabei oft den Gag als Darstellungsmittel des frühen Kinos. Vgl. Bruce Jenkins: Un Peu Tard: Das Zitat im Kino des Marcel Broodthaers. In: Kunsthalle Düsseldorf, Nati- onalgalerie im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart (Hrsg.): Marcel Broodthaers. Cinéma. Berlin, Düsseldorf 1997, S. 289–295. 3 Aders Filme waren zum Beispiel 1971 in der Ausstellung Sonsbeek 71 zusammen mit Filmen von Vito Acconci, Tony Conrad, Walter De Maria und Hollis Frampton, auf der Prospekt 71 in Düssel- dorf und 1974 in der Wanderausstellung Film als beeldend Medium in Amsterdam, Apeldoorn und Delft zu sehen. 4 Die erste Monographie über Bas Jan Ader von Paul Andriesse erschien erst 1998. 5 Andy Warhol hat seine frühen, in Los Angeles anlässlich seiner zweiten Einzelausstellung in der Ferus Gallery entstandenen Filme Tarzan and Jane Regained... Sort of (1963) und Elvis at Ferus (1963) ebenfalls auf 16-Millimeter-Schwarzweißfilm gedreht. 12 Petra Löffler tisch engagierten Filme möglichst unabhängig produzieren wollen und deshalb auf das kostengünstigere Material zurückgreifen.6 Film wird vor allem im filmkünstlerischen Milieu als ästhetische Praxis begrif- fen, um verschiedene Wirkungsmöglichkeiten des Mediums auszuloten. Dabei geht es auch darum, das Kino als ‹kleine› Kunst, als art mineur, zu begreifen. Im Sinne dieser Bestimmung hat der französische Psychiater und Philosoph Félix Guattari Mitte der siebziger Jahre vorgeschlagen, nicht Charaktere und Intrigen, sondern «systèmes des intensités, des gestes, des reflets, des regards» zu untersuchen und dabei zum Beispiel auf Haltungen, Empfindungen, Veränderungen des Schwerge- wichts und der Raum- und Zeitkoordinaten zu achten.7 Greift man diese Überle- gungen zu einer Ästhetik des Kinos als ‹kleiner› Kunst auf, dann lassen sich auch Aders filmische Fall-Studien als Untersuchung existentieller Raum- und Zeiter- fahrungen begreifen. Dies bestätigt der Künstler, wenn er über seine Fallerlebnisse lakonisch zu Protokoll gibt: «When I fell off the roof of my house or into a canal, it was because gravity made itself master over me.»8 Darin bestimmt er das unver- meidliche Wirken der Schwerkraft, der er sich passiv aussetzt, als entscheidenden Auslöser seiner filmischen Selbstversuche.9 Die freiwillige Randständigkeit verbindet sich bei Ader wie auch bei Broodthaers zugleich mit der Erinnerung an die Anfänge des Kinos, als die Filme in der Regel ziemlich kurz waren und die Totale als Einstellungsgröße dominierte. Auch der Gag wurde im frühen Kino nicht zuletzt deshalb bevorzugt, weil er sich für Wieder- holungen und Variationen bestens anbot. Man könnte Aders filmische Erkundung der Schwerkraft geradezu als Adaptionen von Gags des frühen Kinos betrachten, in dem die widrigen Zu- und Unfälle des Lebens eine besondere Rolle gespielt haben. Seine Fall-Studien erinnern nicht umsonst an Slapstickkomödien der zehner und zwanziger Jahre, die nicht selten in Filmstudios gedreht wurden, die sich nach und nach in den Hollywood Hills ansiedelten. Buster Keaton zum Beispiel drehte seit 1919 in Hollywood. In seiner Slapstick-Komödie Seven Chances, 1925 von Metro- Goldwyn produziert, springt er nacheinander in einen Fluss, über einen Abgrund, fällt, sich mehrfach überschlagend, einen Abhang hinab, dabei eine Gerölllawine 6 Mit der Groupe Dziga Vertov hat Godard zwischen 1968 und 1975 zwölf Filme auf 16-Millimeter produziert. Vgl. Volker Pantenburg: Die Ränder des Kinos. Godard – Wiseman – Benning – Costa, Berlin 2010, S. 13–28. 7 Félix Guattari: Projet pour un film de Kafka. In: Ders.: Soixante-cinq rêves de Franz Kafka et d’autres textes, hg. von Stephane Nadaud, Paris 2007, S. 40–56, hier S. 43. Siehe auch Félix Guattari: Kino – eine kleine Kunst. In: Ders.: Die Couch des Armen. Die Kinotexte in der Diskussion, Berlin 2011, S. 147–152. 8 Bas Jan Ader, in: Willoughby Sharp: Rumbles, Bas Jan Ader. In: Avalanche, Winter 1971, S. 2f. 9 Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an Yves Kleins berühmte Fotomontage Le saut dans le vide von 1960, in der sich der französische Künstler mit ausgestreckten Armen von einer Mauer zu stürzen scheint. Der seltsame Fall des Bas Jan Ader 13 3 auslösend, und springt von einem Überhang auf einen Baum (vgl. Abb. 3).10 Die Schwerkraft, der jeder Körper auf Erden ausgesetzt ist, spielt in Keatons rund um Los Angeles gedrehten Filmen ebenso wie in Aders Fall Series eine entscheidende dramaturgische Rolle. Sie verschafft nicht nur unbelebten Dingen ein vermeintli- ches Eigenleben, sondern gibt auch Anlass zu akrobatischer Körpertechnik: Der Sprung ins Leere, über einen Abgrund oder ein Hindernis stellt so gesehen alles andere als ein unernstes Experiment mit der irdischen Schwerkraft dar.11 10 Nomen est omen: Der Spitzname Buster geht angeblich auf einen gefährlichen Sturz zurück, den der junge Keaton unbeschadet überstanden haben soll. Auch Christopher Müller zieht eine Verbindung zu Keaton und den Slapstick-Komödien Hollywoods. Vgl. Ders. (Hrsg.): Bas Jan Ader. Filme, Foto- grafien, Projektionen, Videos und Zeichnungen aus den Jahren 1967–1975, Köln 2000, S. 60. 11 In der Anthropotechnik Peter Sloterdijks experimentiert u.a. der Akrobat mit der «Vertikalspan- nung» als Modus gesteigerter Existenz; vgl. Ders.: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotech- nik, Frankfurt a.M. 2009. In dieses Umfeld gehört auch die Performance The Boy Who Fell Over Ni- agara Falls von 1972, in der Ader in einer Amsterdamer Galerie Kapitel aus einem Abenteueroman vorgelesen hat. 14 Petra Löffler II. Die Schauplätze seiner ersten Fall-Studien, Los Angeles und Amsterdam, hat Bas Jan Ader mit Bedacht gewählt. Bevor er 1963 im Alter von 21 Jahren nach Kalifor- nien ging, hatte er das Institut für angewandte Kunst, die heutige Gerrit Rietveld Academie, in Amsterdam besucht, ohne die Ausbildung abzuschließen. In Los An- geles studierte Ader zunächst am Immaculate Heart College und am Otis Art Insti- tute sowie von 1965 bis 1969 an der Claremont Graduate School Kunst. Dort hatte er 1967 (nach Washington D.C. und Pasadena) auch seine dritte Einzelausstellung. In den sechziger Jahren erlebte die einstige glamouröse Filmstadt einen ökonomi- schen Niedergang und wurde von Rassenunruhen heimgesucht. In diesem prekä- ren urbanen Milieu kam Ader in Kontakt zur sich etablierenden Kunstszene der amerikanischen Westküste, besonders zur dortigen Konzeptkunst, die sich spiele- risch-ironisch mit Vorstellungen von Autorschaft, von Material und Gegenständen künstlerischer Praxis auseinander setzte und damit von der stärker dogmatischen intellektuellen Kunstszene der Ostküste, insbesondere New Yorks, abrückte.12 Der kalifornische Künstler John Baldessari, der zwischen 1957 und 1959 ebenfalls am Otis Art Institute in Los Angeles studierte, hielt im Entstehungsjahr von Aders ers- ten filmischen Fall-Studien am California Institute of the Arts eine Vorlesung mit dem Titel Post Studio Art, die dieser neuen Richtung der Konzeptkunst gewidmet war. Er lud auch Bas Jan Ader ein, einen Vortrag über seine Arbeiten zu halten.13 Baldessaris Vorlesung nennt ein wichtiges Anliegen des West-Coast-Konzeptua- lismus beim Namen: Post Studio Art meint, dass Künstler das Atelier verlassen und bewusst gewöhnliche Orte in ihrer Umgebung aufsuchen, um in ihren Arbeiten die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten und Umstände aufzugreifen, zu kommentieren und zu reflektieren. Diese besondere Aufmerksamkeit für alltägliche urbane Räu- me und Situationen zeigt sich zum Beispiel in den konzeptuellen Fotoserien Ed Ru- schas aus dieser Zeit. So hat er 1966 jedes Haus an einem Boulevard fotografiert und als Fotobuch unter dem Titel Every Building on the Sunset Strip veröffentlicht. Aders kurze Filme und Fotoserien zeichnen sich ebenfalls durch eine solche Ortsspezifität aus, wie nicht nur das Beispiel der Fälle von Los Angeles und Amsterdam veran- schaulicht. Bereits 1967 hatte sich Ader für das Poster seiner ersten Ausstellung an der Claremont Graduate School auf dem Dach seines Haus ablichten lassen – auf ei- nem Korbsessel sitzend und Zigarre rauchend – und dieser selbstironischen Insze- nierung den Titel Implosion / The Artist Contampling the Forces of Nature gegeben, bevor er 1970 auf der All my Clothes betitelten Fotografie des gleichen Daches ganz aus dem Bildraum verschwand, allein seine Kleider zurücklassend. 12 Vgl. Tony Godfrey: Conceptual Art, London 1998; Jörg Heiser: Plötzlich diese Übersicht, Berlin 2007. Das intellektuelle und künstlerische Milieu in Kalifornien wurde nicht zuletzt durch europäische Immigranten geprägt, die sich vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in Los Angeles angesiedelt hatten. 13 Vgl. Müller, S. 53. Der seltsame Fall des Bas Jan Ader 15 Die am Pazifik gelegene kalifornische Metropole hat den niederländischen Künstler immer wieder fasziniert und seine Auffassung des Verhältnisses zwischen Mensch und Raum, Mensch und Natur nachhaltig geprägt, wie folgende, wahr- scheinlich im Frühjahr 1974 entstandene Notiz bekräftigt: «I really love Los Angeles. I love the surrounding wilderness of ocean, desert and mountains. I feel belittled by its enormous scale, I value more than anyone the soli- tary beauty of the Freeways by night. Even desasters, enormous bushfires and earth- quakes have strengthened my attachment to the city than chased me away. I must admit to beeing fascinated by the constant threat that nature has over us here. I love this wild romantic metropolis of extremes.»14 Diese Sätze heben den extremen Kontrast zwischen der Nichtigkeit des Menschen angesichts unbeherrschbarer Naturkräfte und der modernen Raumbeherrschung durch Verkehrsadern und städtische Architektur hervor, die Ader zugleich als exis- tenzielle Anhaltpunkte dienen. Für seine künstlerische Auseinandersetzung mit diesen widerstreitenden Kräf- ten bevorzugt Bas Jan Ader zumeist kleine, oft serielle und als nicht besonders wertvoll erachtete Formate wie Plakate oder Einladungskarten zu Ausstellungen und nutzt populäre Medien wie den Diaprojektor, um fotografische Aufnahmen zu präsentieren. Zugleich arbeitet er auf eine ganz bestimmte Art und Weise mit dem Raum. Die Beiläufigkeit der Gegenstände seiner konzeptuellen Erkundungen steht dabei in auffälligem Kontrast zu den hochgradig existentiellen Gefühlen, die sie immer wieder heraufbeschwören. So rückt Ader in der Serie seiner Falls bewusst das natürliche Wirken der Schwerkraft in die Nähe zum existentiellen Scheitern (Failure).15 Als existenzielle Krise verstanden, wird es darin sowohl mit der Gra- vitationskraft als auch mit der Physis des Fallens auf intrikate Weise verbunden. Dies lässt sich durch die Daseinsanalyse Ludwig Binswangers untermauern, in der Steigen und Fallen als Grundmodi menschlicher Existenz verstanden werden. Im Zustand einer jähen Enttäuschung oder des Entsetzens erleidet das gesamte Dasein demnach einen fundamentalen Stoß, der es in die «Bewegungsrichtung des Strau- chelns, Sinkens, Fallens»16 hineinreißt. Auch Ader, so lässt sich vermuten, beschäf- tigt sich mit Physik und Metaphysik des Fallens gleichermaßen.17 14 Bas Jan Ader: Textfragment, undat., in: Paul Andriesse: Bas Jan Ader, een personelijke ontwikkeling. In: Jong Holland, Bd. 2, Nr. 1 (März 1986), S. 20f (zit. in: Maike Aden-Schraenen: In Search of Bas Jan Ader, Berlin 2013, S. 25). 15 Vgl. Müller, Bas Jan Ader, S. 60. 16 Ludwig Binswanger: Traum und Existenz. In: Ders.: Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Bd. 1: Zur phänomenologischen Anthropologie, Bern 1947, S. 74–97, hier. S. 74f. Binswangers Aufsatz erschien zuerst 1930. 17 Die Biographie Bas Jan Aders liest sich als Aneinanderreihung von Stationen des (Fast-)Scheiterns, unterbrochen durch Aufbrüche und Neuanfänge. Seine erste Atlantiküberquerung von Marokko über den Panamakanal bis nach Südkalifornien 1962–63 zum Beispiel dauerte elf Monate und en- dete mit einem Schiffbruch. 16 Petra Löffler Dabei könnte ihm der 1968 entstandene 16-Millimeter-Schwarzweißfilm Hand Catching Lead von Richard Serra als Vorbild gedient haben. Auch der ebenfalls in Kalifornien ansässige Performance-Künstler Chris Burden hat mit der Schwerkraft experimentiert, indem er 1974 in seiner Ausstellung Sculpture in Three Parts solange auf einem Stuhl saß, bis er schließlich am zweiten Tag völlig erschöpft zu Boden fiel.18 Selbst John Baldessari hat Anfang der siebziger Jahre diese physikalische Größe in seine Auseinandersetzung mit dem fotografischen Bildraum einbezogen und eine Reihe von Fall-Studien durchgeführt, bei denen er drei bzw. vier Bälle in die Luft warf, um aus den Fotografien ihrer Fallbewegungen geometrische Figuren wie Linie, Dreieck oder Viereck ableiten zu können.19 Zwischen 1972 und 1974 entstanden auf diese Weise die fotografischen Serien Throwing Four Balls in the Air To Get a Straight Line (Best of 36 Tries), Throwing Three Balls in the Air To Get a Triangle (Best of 36 Tries) sowie Throwing Four Balls in the Air To Get a Square (Best of 36 Tries). Bal- dessari interessiert sich jedoch anders als Ader oder Burden nicht für das Fallen als Grundmodus der Existenz und auch nicht für die menschliche Figur als Bildobjekt und ihr Verhältnis zum umgebenden Raum, sondern für räumliche Konstellationen im Fallen begriffener Dinge und deren geometrische Anordnung. III. Sein kalifornischer Wohnsitz bildet auch den Ausgangspunkt für ein Projekt, das Bas Jan Ader ab 1973 verfolgt hat. Es trägt, in Anspielung auf ein Buch des rus- sischen Theosophen Pjotr Demjanovitsch Ouspenski, den Titel In Search for the Miraculous (One Night in Los Angeles).20 Die achtzehn Schwarzweiß-Fotografien, aus denen der zuerst verwirklichte Teil des Projekts besteht, zeigen den Künstler zumeist von hinten beim Gang durch das nächtliche Los Angeles bis zur nahen Pa- zifikküste.21 Auch diese Fotografien sind aus großer Distanz zur einzigen mensch- lichen Gestalt aufgenommen, die den diffusen dunklen Raum Schritt für Schritt durchquert: Ader bewegt sich entlang der Freeways, durch Unterführungen und urbanes Niemandsland – durch eine gleichermaßen unwirtlich und unwirklich er- scheinende Topographie der kalifornischen Metropole, die durch Autoscheinwer- fer, Straßenlaternen und eine Taschenlampe, die Ader mit sich führt, nur punktuell in grelles Licht getaucht wird. Deren Lichtkegel gibt den vor ihm liegenden Weg 18 Vgl. Müller, S. 61. 19 Vgl. Petra Löffler: Phase(n). Zur Konzeption des Bewegungsbildes. In: Nina Lindemeyer, Pirkko Rathgeber (Hrsg.): BildBewegungen, München 2013, S. 133–156. 20 Vgl. Müller, S. 71. 21 Die Rückenansicht ist in Landschaftsgemälden der Romantik, vor allem Caspar David Friedrichs, verbreitet. Sie dient als Identifikationsfigur für den Betrachter, der dadurch in den Bildraum einbe- zogen wird, ihn imaginär betritt. Zugleich lassen sich solche Darstellungen als Figurationen eines ‹sehenden› Sehens begreifen. Aufgrund solcher Bezüge hat Jörg Heiser in der Novemberausgabe der Zeitschrift Freeze von 2002 den Begriff ‹romantischer Konzeptualismus› u.a. für die künstlerischen Arbeiten Bas Jan Aders geprägt. Der seltsame Fall des Bas Jan Ader 17 4a–c 18 Petra Löffler nur schemenhaft zu erkennen – fast wird der nächtliche Wanderer von der kalifor- nischen Nacht geschluckt (vgl. Abb. 4). Die Fotografie und Film gleichermaßen geläufige Einstellung der Totalen lässt hier der im Dunklen versinkenden städtischen Umgebung eindeutig den Vorrang. Die Kleinheit der kaum erkennbaren menschlichen Gestalt im Vergleich zu ihr fällt dabei besonders ins Auge. Die Totale zeigt, wie Frieda Grafe und Enno Patalas am Beispiel der Filme Buster Keatons betont haben, den Menschen inmitten einer Um- gebung, «die unabhängig von ihm existiert»22 und eigenen Gesetzen folgt. Diese vom Menschen und seinem Tun unabhängige Existenz des umgebenden Raums setzt die Fotoserie ins Bild, indem sie die menschliche Figur zu einer kaum erkenn- baren Silhouette werden lässt. Die titelgebende ‹Suche nach dem Wunderbaren› gerät in ihr zu einer Erkundung der Nacht- und Schattenseiten menschlicher Exis- tenz. Das Motiv der Suche unterstreicht der Künstler noch, indem er die Fotografi- en mit Zeilen eines Pop-Songs aus den 1950er-Jahren, Searchin’ von The Coasters, beschriftet, die wie Untertitel eines Schwarzweiß-Films wirken.23 Die Polarität von aufblitzendem grellem Licht und umgebender Dunkelheit, die sich als scharfer Hell-Dunkel-Kontrast in die Bilderfolge einschreibt, stellt ebenso wie die Polarität von Steigen und Fallen einen existenziellen Erfahrungsmodus im Sinn der Daseinsanalyse dar. In der Dunkelheit gehorcht der Raum, wie Michel Foucault mit Bezug auf Binswanger betont hat, «nicht den Gesetzen des Neben- einanders, sondern den eigentümlichen Modalitäten der Überlagerung oder der Fusion».24 Als Überlagerungs- bzw. Fusionsraum unterscheidet und verteilt der dunkle Raum auch nicht mehr, was sich in ihm befindet, kann also nicht länger als Behälter mit klar definierten Grenzen betrachtet werden, «sondern er ist nur noch die Bewegung der Gestalten und der Töne und folgt dem Hin- und Herfließen ihrer Erscheinungen».25 Dieser fließende Raum der Bewegungen und Töne ist zugleich ein Raum der Mannigfaltigkeiten, der Affekte und Intensitäten.26 Einen solchen eigenmächtigen affektiven und intensiven Raum hat Ader in sei- ner Fotoserie dargestellt. Auffällig ist, wie sehr er die menschliche Figur immer wie- der der Umgebung unterordnet, sie dem Raum angleicht, geradezu darin aufgehen und damit verschwinden lässt.27 Am weitesten hat er diese Anverwandlung viel- 22 Frieda Grafe, Enno Patalas: Buster. In: Dies.: Im Off – Filmmaterial, München 1974, S. 182. 23 Vgl. Jan Verwoert: Bas Jan Ader. In Search of the Miraculous (One Work), London 2006. Die Foto- serie wurde unter dem Titel In Search of the Miraculous erstmals 1975 in der Claire Copley Gallery in Los Angeles gezeigt. In der Ausstellung trat auch ein Chor auf, der traditionelle Shanty Songs vortrug. Die Fotografien wurden zudem als Slide Show gezeigt. 24 Michel Foucault: Einleitung. In: Ludwig Binswanger: Traum und Existenz, Bern/Berlin 1992, S. 67. 25 Ebd. 26 Gilles Deleuze hat dafür das Konzept des beliebigen Raums, espace quelconque, entwickelt (vgl. Ders.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a. M. 1997, S. 97, 143ff). 27 Diese existenzielle Haltung trifft sich mit Überlegungen, die Gilles Deleuze und Félix Guattari über das Unwahrnehmbar-Werden seit den siebziger Jahren philosophisch entwickelt haben; vgl. Dies.: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992, S. 317– 422. Der seltsame Fall des Bas Jan Ader 19 5 leicht in einer Farbfotografie von 1971 getrieben, die den Titel Farewell to Faraway Friends trägt. Auf ihr ist eine geografisch nicht ausgewiesene Küstenlandschaft im Sonnenuntergang zu sehen, die dem letzten Bild der Fotoserie In Search for the Miraculous (One Night in Los Angeles) von 1973 ähnelt: Das Land ist schon ganz ins Dunkel getaucht, nur Himmel und Wasseroberfläche leuchten im Farbspektrum des schwindenden Lichts. Die einsame Figur an der Grenze zwischen Land und Wasser, die das Naturschauspiel zu betrachten scheint, ist wiederum nur von hinten und als Silhouette erkennbar und unterscheidet sich kaum vom bereits vollständig dunklen Küstenstreifen, an dem sie vermeintlich unbewegt steht (vgl. Abb. 5). Im gleichen Jahr sind, diesmal in Schweden, außerdem zwei Aufnahmen entstanden, die den Künstler in einem von Sonnenlicht durchfluteten, dichten Wald zwischen Bäumen einmal stehend und ein andermal auf dem schattigen Waldboden liegend zeigen. Auch hier verschmilzt die menschliche Figur förmlich mit ihrer Umgebung, wird sie ein Teil der Licht- und Schattenzonen des Bildes. In gewisser Weise kann man diese beiden Lichtbilder als kosmologische Phantasie betrachten: als ein Auf- gehen des menschlichen Körpers in Licht und Materie.28 28 Dies legt der 2008 veröffentlichte Dokumentarfilm über Bas Jan Ader von Rene Daalder nahe. Er zieht auch eine Verbindung zum Tod des Vaters, der im Zweiten Weltkrieg als Widerstandskämpfer 20 Petra Löffler 6 Roger Caillois hat dieses Angleichen an und Aufgehen im Raum als mimétisme bzw. Mimese bezeichnet und auch deren pathologische Seite im Begriff der psychasthe- nie legendaire beleuchtet. Dieses Angleichen und Aufgehen im Raum im Zustand der Mimese kommt für Caillois einer Selbstauflösung des Subjekts gleich, das, ver- führt vom Raum, nicht irgendetwas, irgendeinem anderen Ding oder Subjekt da- rin ähnlich werde, sondern allein diesem Raum selbst. Auf diese Weise fühle es sich schließlich «selbst Raum werden» – einen «dunkle[n] Raum, in den man keine Dinge hineinstellen kann».29 Diesen merkwürdigen Vorgang bezeichnet Caillois ent- sprechend als «Depersonalisation durch Angleichung an den Raum»,30 der wiederum als Überlagerungs- und Fusionsraum, als fließender Raum der Affekte und Intensi- täten in Foucaults Sinn verstanden werden kann. Eine solche Depersonalisation wird in Aders In Search for the Miraculous (One Night in Los Angeles) mit den Mitteln der Schwarzweiß-Fotografie ins Bild gesetzt. Auch die Einladungskarte für die Ausstellung dieser fotografischen Serie in der Claire Copley Gallery in Los Angeles schmückt eine farblose Fotografie, die vom Bord eines Schiffes aus aufgenommen eine äußerst verschwommene, kaum verhaftet und von deutschen Soldaten in einem Waldstück an der deutsch-niederländischen Grenze erschossen wurde. 29 Roger Caillois: Mimetisme et psychasthenie legendaire. In: Ders.: Meduse et Cie, Berlin 2007, S. 37. 30 Ebd. Der seltsame Fall des Bas Jan Ader 21 erkennbare menschliche Figur zeigt, die sich gefährlich dem Meer zuneigt – ein grauer Schatten, der mit den Grautönen von Gischt und Wellen fast verschmilzt (Abb. 6). Die Angleichung an den Raum erscheint hier als ästhetische Strategie, um die menschliche Figur dem Blick eines Dritten – des Betrachters der fotografischen Serie bzw. der Einladungskarte – zu entziehen und sie letztlich aus dem Bild ver- schwinden zu lassen. Diese Wendung zum Bildraum vollzieht eine Defiguration auf wahrnehmungsästhetischer Ebene. Mit ihr ist zugleich eine auffällige Verrückung der anthropozentrischen Perspektive verbunden, denn der Raum selbst mit seinen fließenden Übergängen und Fusionen, und nicht die verschwommene menschliche Figur in der Bildmitte, bietet sich dem Blick als primäres Objekt dar.31 IV. Ein Jahr später fasst Bas Jan Ader den Plan, dieses Projekt zu erweitern. Er nimmt sich vor, den Atlantik in einem winzigen Ein-Mann-Segelboot zu überqueren. Ziel dieser Reise ist wiederum Amsterdam, wo er in Umkehrung seiner nächtlichen Wanderung durch Los Angeles den Weg von der Küste bis ins Stadtzentrum fo- tografisch dokumentieren will. Zusammen mit der in Los Angeles entstandenen Fotoserie sowie den Aufzeichnungen und Aufnahmen, die Ader auf See anfertigen will, sollen diese Arbeiten in seiner Heimatstadt Groningen ausgestellt werden. Am 9. Juli 1975 ist der Künstler tatsächlich an Bord der Ocean Wave von Cape Cod an der amerikanischen Ostküste aus, versehen mit Proviant für mehr als zehn Wochen, zu seiner Reise aufgebrochen, von der er nicht mehr zurückgekehrt ist. Das Wrack des Bootes wird neun Monate später an der irischen Küste entdeckt. Das merkwür- dige Verschwinden des Künstlers ist bis heute nicht gänzlich aufgeklärt worden und hat zu vielerlei Spekulationen verführt.32 Dieser seltsame Fall (im Doppelsinn des Worts) Bas Jan Aders ist aufgrund dieser ungeklärten Umstände zum Gegenstand einer beispiellosen Spurensuche nach dem künstlerischen wie existenziellen Milieu geworden, aus dem heraus er verschwunden ist, das er aber gleichwohl noch immer heimsucht. Genau dreißig Jahre, nachdem Ader zu seiner Atlantiküberquerung aufgebro- chen ist, beginnt der niederländische Filmemacher Rene Daalder, der selbst mit dem Künstler befreundet war und lange Zeit in Los Angeles gelebt hat, eine Doku- mentation über dessen mysteriöses Verschwinden. Er befragt Angehörige, Freunde sowie Wegbegleiter diesseits und jenseits des Atlantiks, besucht Aders Heimatstadt und macht sich auf die Reise nach Los Angeles.33 Drei Jahre später ist Here is Al- 31 Das gespenstige Verschwinden der menschlichen Figur aus dem Bildraum hat die Fotografin Francesca Woodman geradezu obsessiv inszeniert. 32 Vgl. Müller, S. 73 sowie vor allem die Rekonstruktion der Reise von Koos Dalstra in: Marion van Wijk (Hrsg.): In the Search of the Miraculous, Bas Jan Ader 143/76 Discovery File, Amsterdam 2007. 33 Daalder hat u.a. Interviews mit der Witwe Mary-Sue Anderson-Ader, mit dem jüngeren Bruder Eric Ader, den Künstlerfreunden Bill Leavitt und Ger von Elk geführt. 22 Petra Löffler ways Somewhere Else schließlich fertig. Der Titel des Films, der auf eine Zeile Bas Jan Aders zurückgeht, spielt auf eine prägende Erfahrung an, die der Künstler mit den existentiellen Kräften des Raums gemacht hat: mit der lockenden Ferne und der diffusen Nacht, mit Schwerkraft und Sturm, mit terrestrischen und ozeani- schen Erschütterungen gleichermaßen. Mittlerweile sind Aders randständige künstlerische Arbeiten, seine konzeptuel- len Filme, Fotoserien und Installationen von zahlreichen Künstlern und Künstlerin- nen wiederentdeckt worden. Besonders die Filme seiner Fall Series haben Künstler wie Fiona Tan, Rodney Graham, Fernando Sanchez, Gavin Maitland oder Friedrich Kunath inspiriert, sich ebenfalls mit dem Wirken der Schwerkraft auf menschliche Körper auseinanderzusetzen. Daalder zeigt zahlreiche dieser künstlerischen Adap- tionen der Aderschen Fall-Studien in seinem dokumentarischen Film und spricht sogar von Gravity Art. Er geht auch auf die gewachsene Popularität seiner kurzen Filme im Zeitalter von Sharing-Plattformen wie Youtube ein und beobachtet das besondere Interesse ihrer Nutzer für die Verbindung von Selbstdarstellung mit Slapstick und Desaster. Das Drama des Scheiterns, das Bas Jan Ader auf ebenso existenzielle wie selbst- ironische Weise in bewegte und gleichermaßen bewegende Bilder überführt hat, entfaltet im partizipatorischen digitalen Milieu sein mimetisches Potenzial. Es regt zu Re-enactment und Überbietung gleichermaßen an. Auf Youtube zum Bei- spiel gibt es nicht nur eine weitere kurze filmische Fall-Studie als Archivfund zu bestaunen, bei der Ader diesmal mit einem Fahrrad über einen Strand direkt ins Meer fährt, sondern auch eine ganze Serie populärer Re-enactments von Bas Jan Ader Videos unter anderem der Bas Jan Ader Group. Der Wunsch nach spielerisch- existenziellen Selbstversuchen, so lässt sich schlussfolgern, ist ungebrochen. Die Suche nach dem Wunderbaren im Kampf mit Naturkräften wie der Schwerkraft beschäftigt auch die Akteure der heutigen Prosumerkultur. An gleicher Stelle wurde 2013 sogar ein Song über Bas Jan Ader und seine Gravity Art veröffentlicht, der die Geschichte seines Verschwindens erzählt. Das ist nun nicht wirklich ein Wunder. Herbert Schwaab Schnee in Kalifornien Fernsehgeschichte zwischen New York und Los Angeles In einer frühen Filmkomödie der Marx Brothers, Animal Crackers von 1930, fin- det sich eine interessante Verdichtung eines filmischen Raumes, der zwischen der Ostküste und der Westküste wechselt. Chico und Harpo müssen beim nächtlichen Klau eines Bildes den Salon eines großbürgerlichen Hauses verlassen und probie- ren erst die auf der rechten Seite liegende Tür. Abgeschreckt von dem unwirtlichen Wetter, das vor der Tür herrscht, gehen sie auf die andere Seite des Raumes, öffnen dort eine Tür, in der sie Sonnenlicht und Vogelgezirpe erwartet, was Chico lachend mit «California» begrüßt. Tatsächlich waren die Marx Brothers zu dieser Zeit kurz davor, einen ähnlichen Wechsel der Räume zu vollziehen. Ihre ersten beiden Filme, The Cocoanut (1929) und Animal Crackers, wurden noch in den Astoria Stu- dios in Queens, New York gedreht, der Stadt, aus der die Marx Brothers stammen und in deren Vaudeville und Revuetheater-Kultur die Ursprünge ihrer Kunstform und die vieler anderer Tonfilmkomödianten gefunden werden können. Die ersten zwei von fünf Filmen, die sie für die Paramount-Studios drehten, waren zunächst nicht nur in ihrer Heimat New York angesiedelt, sondern sie orientierten sich zu- gleich eng an den gleichnamigen Bühnenprogrammen der Marx Brothers.1 Diese Filme sind Beispiele für das frühe Tonfilmkino, das noch sehr stark dem Theater verpflichtet ist und mit statischen, langen Einstellungen in Totalen und Halbtotalen operiert. Die Marx Brothers öffnen in ihrem letzten in New York gedrehten Film nicht nur die Tür zu dem neuen Produktions- und Wohnort Los Angeles und dre- hen nach Animal Crackers mit Monkey Business von 1931 ihren ersten Film in Hollywood. Sie öffnen auch die Tür zu einer neuen Ästhetik: Monkey Business basiert nicht mehr auf einem Bühnenstück und emanzipiert sich von einer The- aterästhetik der langen Einstellungen und der wenigen Sets. Es finden sich mehr Orte, mehr Einstellungswechsel innerhalb einzelner Szenen und eine beweglicher werdende Kamera, was bereits an das continuity editing des Hollywoodkinos erin- nert. Die geographischen Veränderungen und der Wechsel der Produktion nach Hollywood bedeuten hier immer auch zugleich einen Wechsel der Ästhetik und der Bildinhalte. Eine ähnliche Veränderung, bei der Produktionsort, Ästhetik und die von einem Medium konstituierte Räumlichkeit miteinander verschränkt erscheinen, soll hier in den Blick genommen werden: In den 1950er-Jahren verlagert sich die Fernseh- 1 Vgl. Charlotte Chandler: Groucho und seine Freunde. München 1983, S. 166. 24 Herbert Schwaab produktion von New York nach Los Angeles. Es ist bereits das dritte Mal – nach dem Umzug der Filmproduktion in den 1910er-Jahren von New York nach Hol- lywood und dem der Radiosender in den 1930er-Jahren – dass die Westküste den «Kampf um die Kontrolle über die amerikanische Populärkultur» gegen New York gewinnt.2 Die Veränderungen in den 1950er-Jahren, die hier untersucht werden sollen, haben vor allem zur Folge, dass Live-Produktionen, mit denen die Fernseh- kultur in New York assoziiert wurde, nicht mehr das Fernsehen dominieren, die in Los Angeles gefilmten Programme die Überhand gewinnen und dass die Ökono- mie des Fernsehens sowie die Stellung des Autors sich verändern: «The center of production was shifting from New York to Los Angeles (Hollywood), film and videotape were supplanting live performance, action-adventure series were replacing anthology drama in popularity, and increasing sponsor and network inter- ference was forcing many writers to leave television in favor of motion pictures and theater.»3 Dass noch 1953 über 80 Prozent aller Programme live produziert wurden, aber Anfang der 1960er-Jahre nur noch 26 Prozent, lässt James L. Baughman von ei- ner «Hollywoodization of the home screen» sprechen. Diese ‹Hollywoodisierung› drückt sich in der vermehrten Produktion fiktionaler, serieller Stoffe auf Film aus. Die Infrastruktur Hollywoods, die durch die Kinokrise brachliegenden Studio- komplexe, das in den Filmproduktionen erworbene handwerkliche Wissen, das vorhandene kreative Personal sind Gründe dafür, dass L.A. im Gegensatz zu New York bessere Möglichkeiten für eine von der Live-Situation entkoppelte Produktion bietet und dadurch eine neue, bestimmende Fernsehästhetik hervorbringt.4 Die- ser Beitrag setzt sich mit der angesprochenen ‹Hollywoodisierung› des Fernsehens auseinander, um nicht nur die Frage zu stellen, was der Produktionsort New York für das Fernsehen bedeutet, sondern auch, wie Los Angeles die Ästhetik und das Verständnis von Fernsehen geformt hat. An der Auseinandersetzung mit den Be- deutungen, die den vorwiegend in New York produzierten Live-Programmen im Vergleich mit den in Hollywood seit den 1950er-Jahren entstehenden gefilmten, episodischen Fernsehserien zugeschrieben werden, lässt sich ein kultureller Anta- gonismus zwischen New York und Hollywood ablesen, der in diesem Fall auch als ein Antagonismus zwischen zwei Vorstellungen einer Räumlichkeit des Mediums verstanden werden kann: New York als an eine konkrete Räumlichkeit gebundener Ort , dessen Fernsehproduktionen an eine spezifische Theater- und Unterhaltungs- kultur anschließen. Los Angeles als ein im Vergleich mit New York unbespielter und 2 Vgl. Judine Mayerle: Requiem for a Heavyweight and Playhouse 90. An Age Had Come to an End. In: Journal of Popular Film and Television, 17:2, 1989, S. 57–66, S. 59. 3 Mayerle, S. 57. 4 Vgl. James L. Baughman: The Weakest Chain and the Strongest Link. The American Broadcasting Company and the Motion Picture Industry, 1952–60. In: Tino Balio (Hrsg.): Hollywood in the Age of Television. Boston 1990, S.91–113, S. 108. Schnee in Kalifornien 25 daher auch offenerer Ort, der besser als New York andere Räume, unter anderem auch New York selbst, bedeuten kann. Der Akzent von an der Ostküste angesiedel- ten Welten und kultureller Topoi verändert sich allerdings, wenn sie in Hollywood reproduziert und repräsentiert werden: Es entsteht ein imaginäres New York oder imaginierte Welten der Ostküste. Sie geben allerdings viel besser etwas wieder, wie Jane Feuer im Anschluss an Benedict Andersons Begriff der imaginierten Nation ausführt, was diese Orte als mythologische Orte verkörpern sollen.5 Live Drama vs. Fernsehserie, New York vs. Hollywood New York ist nicht nur der Hauptort der Fernsehproduktion des frühen Fernsehens.6 Es steht zu dieser Zeit für die Produktionen des sogenannten ‹golden age of televisi- on›, dem in New York entstehenden live-drama. Sie werden als Episoden sogenann- ter ‹drama anthologies›, die beispielsweise als Kraft Television Theater oder Philco and Goodyear Television Playhouse den Namen ihres Sponsors tragen, live produ- ziert und gesendet.7 Mit dem live-drama verbinden sich einige grundlegende Merk- male in der Konzeptionierung des Fernsehens, die den kulturellen Antagonismus zwischen New York und Hollywood konturieren. Der Antagonismus betrifft Aspek- te einer Zeitlichkeit televisueller Medien, die Bindung an den Augenblick in Live- Formaten oder die Aufzeichnung und Wiederverwertung von Programmen, die auf Film gespeichert werden. Er betrifft aber auch unterschiedliche Vorstellungen von Kreativität und Kontrolle der Programme, da beim live-drama die Rolle des Autors überbetont wird. Ebenso geht es um die Existenz kultureller Anschlusspunkte, beim live-drama das Theater und die Hochkultur, bei der gefilmten Serie in Hollywood das Kino und seine Kategorisierung als Unterhaltungsform und Massenmedium. Das live-drama wird auch anthology drama genannt, weil es eher eine lose ge- koppelte Reihung von Sendungen darstellt. Es reicht von Adaptionen bekannter Theaterstücke oder Erzählungen, bis zu eigens für das Fernsehen verfassten drama- tischen Stoffen. Die einzelnen Episoden haben nicht nur wenig miteinander zu tun, sondern können sich in Ton und Dramaturgie unterscheiden – auf ein komödianti- sches Programm kann ein melodramatisches folgen. Daher handelt es sich ähnlich wie bei der Sitcom oder der Soap Opera um einen eigenständigen, aber auch ei- genwilligen, vom frühen Fernsehen hervorgebrachten Serientypus. Das live-drama wird im Laufe seiner Entwicklung immer aufwendiger gestaltet. Es kann mehrere Sets und ein großes Figurenensemble umfassen, erfordert eine intensive Proben- arbeit und bezieht einen Teil seines Reizes für die Zuschauer aus dem Bewusstsein 5 Vgl. Jane Feuer: Town Meetings of the Imagination. Gilmore Girls and Northern Exposure. In: Da- vid Scott Diffrient, David Lavery (Hrsg.): Screwball Television. Critical Perspectives on Gilmore Girls. Syracuse 2010, 148–161, S. 149. 6 Vgl. Baughman, S. 91. 7 Vgl. Jason Jacobs: Experimental and Live TV in the US. In: Michele Hilmes (Hrsg.):The Television History Book. London 2003, S. 72–75, S. 74. 26 Herbert Schwaab dafür, einem großen Ereignis beizuwohnen, von dem nicht abzusehen ist, ob es ohne Fehler über die Bühne gehen würde: «Part of the live TV’s excitement was […] the likelihood of accidents and bloopers.»8 Dieser Serientyp basiert noch nicht auf der Variation fester Schemata und wiederkehrender Figuren und Settings.9 Erst mit der episodischen Serie, für die man zu Anfang noch, um den Unterschied zu live- Programmen herauszustellen, häufig die Begriffe ‹filmed action adventure›10 oder ‹telefilm›11 verwendet, beginnt nicht nur ein Bewusstsein dafür, wie stark Fernsehen von Mustern serieller Produktion bestimmt sein kann, es bricht sich auch zum ers- ten Mal die negative Ansicht Bahn, dass die Serie eine von Stereotypen und Bana- lität geprägte Unterhaltungsform sei. Die Produktion von gefilmten Serien beruht auch auf ökonomischen Erwägungen, sie ist ein Symptom eines ‹bottom line ap- proach› des Fernsehens der späten 1950er-Jahre,12 dem Versuch, mit günstig pro- duzierten und möglichst nicht zu kontroversen Programmen ein möglichst großes Publikum und viele Werbekunden zu erreichen. Diese Veränderung im Umgang der Produzierenden mit dem Medium führt zu dem berühmten Diktum des FCC- Präsidenten13 Newton Minow, der das Fernsehen als ‹vast wasteland› betrachtet.14 Das hartnäckige Urteil über eine wüste Einöde des seriellen Unterhaltungsfernse- hens ist also vor allem ein Resultat der Serienproduktion in Hollywood, durch den der noch offene kulturelle Status des Fernsehens für Jahre als negativ festgelegt wur- de. Während Kritiker dem live-drama durch seine Verbindung mit angesehenen Kunstformen wie dem Theater beispielweise die Funktion zuschreiben, ein chir- urgisches Instrument zur Erforschung der menschlichen Natur zu sein,15 können sie wenig mit der episodischen, gefilmten Serie anfangen. Das wird etwa an einer von William Boddy in seiner Arbeit zum kritischen Diskurs über das Fernsehen in den 1950er-Jahre zitierten Äußerung deutlich: «After the first show, I don’t know what to say about a western or quiz show, and I don’t know anybody else who does either.»16 Kritiker reagierten ratlos und überfordert auf ein Programm, das bereits mit der ersten Folge das komplette Setting und Figurenarsenal festlegt, das an keine bekannten, bestehenden Kunstformen anschließt und mit dem seriellen Charakter auch eine völlig neue Form der Konstruktion einer Geschichte übernimmt. Hol- lywood wird, unabhängig von den Inhalten, mit einem neuen, irritierenden und ungewohnten und meist abgelehnten Serientyp assoziiert: 8 Michael Kerbel: The Golden Age of TV Drama. In: Film Comment. Juli/August 1979, S. 12–19. 9 Vgl. Jacobs, S. 75. 10 Vgl. William Boddy: Fifties Television. The Industry and its Critics. Chicago 1993, S. 187. 11 Vgl. Matthew Murray: Establishment of the US Television Networks. In: Michele Hilmes (Hrsg.): The Television History Book. London, S. 35–39, S.35. 12 Vgl. Murray, S.37. 13 Das FCC (Federal Communication Commission) ist das amerikanische Pendant zu den Landesme- dienanstalten in Deutschland. 14 Vgl. Gerard Jones: Honey, I’m Home. Sitcoms: Selling the American Dream. New York 1992, S. 147. 15 Vgl. Boddy 1993, S. 81. 16 Ebd, S. 192. Schnee in Kalifornien 27 «In sum, most prominent television critics of the early 1950s denigrated the program forms and dramatic values they associated with Hollywood in favor of those they linked with the New York based television networks.» 17 Die negative Perspektive auf die Fernsehproduktion in Los Angeles ist eine Folge des hohen Nimbus, der live-Produktionen in der Frühzeit des Fernsehens zuge- ordnet wurde. Baughman weist darauf hin, dass es nicht nur bei den Kritikern des Fernsehens, sondern auch bei den Verantwortlichen in den Sendern immer eine Tendenz zur Bevorzugung der live produzierten Programme gegeben habe. Das hat zum einen mit der Kontinuität der Programmformen im Übergang vom Radio, bei dem aufgenommene Produktionen die Ausnahme waren, zum Fernsehen zu tun, ist zum anderen aber auch dem Versuch geschuldet, die Spezifik oder das Beson- dere des neuen audiovisuellen Mediums gegenüber Film herauszustellen.18 Die Do- minanz der Liveproduktion im Fernsehen bis in die 1950er-Jahre täuscht aber nicht darüber hinweg, dass es eher um eine Idealvorstellung von Fernsehen geht, die mit Bedeutung überfrachtet wird. Mediale Differenzen zwischen Fernsehen und Film werden schnell in eine philosophische Dimension des Menschlichen umgedeu- tet. So wird, wie Boddy ausführt, immer wieder eine Verbindung zwischen einer technologisch bedingten Unmittelbarkeit und einer metaphysischen Vorstellung von Präsenz hergestellt. Für das live-drama wird sogar durch die Simultanität von Übertragung und Rezeption eine gegenseitige Aufmerksamkeit von Schauspieler und Zuschauer behauptet.19 Boddy kritisiert diesen Kurzschluss von Technologie und Ästhetik. Er findet Aus- druck in Begriffen wie «pure television», welcher eine minimalistische Ästhetik der Verdichtung auf wesentliche Bildinhalte und eine reduzierte Räumlichkeit bezeich- net, die in einigen Live-Dramen zu finden waren.20 Die Gründe für die Wahl dieses künstlerischen Ansatzes liegen aber nicht allein in einer Ästhetik, die vielleicht tat- sächlich auf dem kleinen Bildschirm gut funktioniert, sondern auch an den bestim- menden ästhetischen Paradigmen für Theaterproduktionen, der damals gängigen Orientierung am Naturalismus.21 Viel näher als die behauptete Interdependenz von Technologie, Ästhetik und einem bestimmten Menschenbild liegt die Annahme, dass der Begriff liveness als ‹marker of quality› verwendet wird,22 mit dem nicht nur die kulturelle Überlegenheit dieser Programmform herausgestellt, sondern vor allem eine Differenz zum Film und damit auch zu Hollywood hergestellt werden kann. Hollywood und Fernsehen sind sich jedoch nicht so fern, wie es frühe Texte nahezulegen scheinen, die die Live-Produktion als das Wesen des Fernsehens ver- 17 Ebd, S. 84. 18 Vgl. Baughman, S. 94. 19 Vgl. Boddy 1993, S. 81. 20 Vgl. Ebd., S. 83. 21 Vgl. Ebd., S. 84. 22 Vgl. Jacobs, S. 73. 28 Herbert Schwaab körpernd betrachten. Fernsehen hat schon immer filmische Hollywoodproduktio- nen ausgestrahlt, Fernsehen erschließt dadurch Filme der Stummfilmzeit oder der 1930er-Jahre zum ersten Mal für ein neues Publikum.23 Auf diese Weise hat Hol- lywood bereits in ein noch von New York dominiertes Fernsehen Einzug gehalten. Aber Hollywood manifestiert sich auch in den Versuchen der theaterhaften Live- Produktionen, Film zu imitieren. Im Live-Dreh werden montageartige Einstellungs- wechsel vollzogen, es gibt aufwendig inszenierte Kamerafahrten, wodurch deutlich werden soll, dass die Live-Produktionen dem Kino nicht unterlegen sind. Ebenso wird versucht, scheinbar dem Film vorbehaltene Ereignisse wie die Havarie eines U-Bootes und andere Katastrophen live von einer Studiobühne aus zu repräsentie- ren.24 In diesem Sinne ist das live-drama zwar um eine Abgrenzung gegenüber Film bemüht, lässt sich aber eher als Synthese von Film, Fernsehen und Theater25 oder als eine Verbindung der «immediacy of the live theatrical performance, the space conquering powers of radio, and the visual strategies of the motion picture»26 be- greifen. Die Grenzziehung zwischen den Medien und einer televisuellen oder einer filmischen Ästhetik wird spätestens dann nichtig, als das live-drama selbst von New York nach Hollywood umzieht. Die dort entstehenden Programme, beispielsweise Playhouse 90 des Senders CBS, stehen nicht nur für eine Weiterentwicklung des Genres zu einem 90-Minuten-Format, sondern auch für eine stärkere Anpassung an ‹Hollywood-Normen›: So werden vermehrt bekannte Stars eingesetzt und den häufig offen endenden Fernsehdramen werden eine auf das Happy End ausgerich- tete Dramaturgie verpasst.27 Eines der bekanntesten Beispiele für eine aufwendige, an filmischen Darstellungsweisen orientierte Produktion ist das von Rod Serling verfasste Drama Requiem for a Heavyweight von 1956. Es hat bekannte Dar- steller wie Jack Palance, komplexe Schnittfolgen, Tiefenschärfe, schnelle Übergänge zwischen den Handlungsorten, Rückprojektionen und eingefügte Filmsequenzen, ist aber immer noch ausschließlich live und im abgeschlossenen Raum von Studio- bühnen inszeniert.28 Diese Angleichung an das Kino relativiert nicht nur die Aspekte, die das live- drama nach Meinung vieler Kritiker dem Kino voraus hat. Sie erscheint auch als eine eher unbrauchbare und ungelenke Imitation von Hollywood, die im Wider- spruch steht zu den Versuchen, Fernsehen und Liveness von den Hollywoodpro- duktionen abzugrenzen. Die erfolgreichere Synthese von Hollywood und Fernse- hen findet sich in der gefilmten Fernsehserie, für die ein Stil ausgebildet wird, den 23 Vgl. Irving Settel, William Laas: A Pictorial History of Television. New York 1969, S. 71f; siehe auch: Christopher Anderson: Disneyland. In: Horace M. Newcomb (Hrsg.) Television. The Critical View. New York 2000, S. 17–33., S. 25. 24 Vgl. Jacobs, S. 75. 25 Vgl. Kerbel, S. 14. 26 Boddy 1993, S. 80. 27 Vgl. Mayerle, S. 61f. 28 Vgl. Kerbel, S. 18. Schnee in Kalifornien 29 Caldwell etwas verächtlich als den «bread and butter style» des Serienfernsehens bezeichnet, eine auf das Wesentliche reduzierte Adaption des mit dem klassischen Hollywoodkino der 1930er-Jahre eingeführten continuity editing.29 Caldwell spricht hier von einer parasitären Aneignung eines filmischen Stils, der Fernsehproduktio- nen bis in die 1980er-Jahre hinein bestimmt hat, eine Ästhetik, die jeden Anspruch auf eine ‹televisuelle› Eigenständigkeit aufgibt. Hollywood gewinnt hier Überhand über das Fernsehen und beendet eine experimentelle Phase, in der die Programme nach neuen Formen suchten. Los Angeles und die Öffnung der Welt des Fernsehens Caldwells Kritik an einer Anbiederung des Fernsehens an Hollywood verstellt den Blick auf die neuen Angebote, die das Fernsehen mit der gefilmten Serie macht. Die Orientierung an der Filmkultur und die Abkehr von Live-Produktionen ist eng ver- bunden mit den Versuchen von ABC, sich gegenüber den dominierenden Sendern NBC und CBS zu positionieren. ABC kooperiert nicht nur mit Walt Disney, der für den Sender das Programm Disneyland produziert, in dem seine Zeichentrickfil- me gezeigt werden, aber auch Werbung für aktuelle Kinofilme des Studios gemacht wird.30 Es versucht über die gefilmte Serie auch ein neues Publikum mit neuen Bil- dinhalten zu erschließen: «ABC was most prominent in this strategy, targeting the disposable income of young get age families and teenagers, and forcing deals with Hollywood studios for telefilms series featuring sexy leads in sunny, bright, action- adventure narratives.»31 Diese neuen Bildinhalte mögen banal klingen, sie sind aber ein wichtiger Indikator für eine Weiterentwicklung des Fernsehens und ein Defizit, das damit ausgeglichen wird. Das Fernsehen muss sich in dieser Zeit mit der Aus- weitung des Signals auf die ganze Nation auch an ein neues, breiteres Publikum des Fernsehens anpassen.32 Das von New York definierte Live-Fernsehen ist eng verwo- ben mit einer urbanen Kultur, mit eher gebildeten, erwachsenen Zuschauern. Das in Los Angeles produzierte Programm trägt einem neu entstehenden, eher von ländli- chen Strukturen geprägten Publikum des mittleren Westens und des Südens Rech- nung, ebenso einer Entwicklung der Suburbanisierung, die ein Grund für die Ent- wicklung bestimmter Programmformen ist: Fernsehen ist die Unterhaltungsform für ein von den städtischen Zentren und deren Unterhaltungskulturen räumlich ab- geschnittenes Publikum.33 Das live-drama verschwindet, weil sich mehr und andere Menschen den Erwerb eines Fernsehgerätes leisten können, es zu einem selbstver- ständlichen Bestandteil der Kultur wird und der Live- und Ereignischarakter keine 29 Vgl. John T. Caldwell: Televisuality. Style, Crisis, and Authority in American Television. Brunswick N.J. 1995, S. 58. 30 Vgl. Anderson. 31 Murray, S. 37. 32 Vgl. Mayerle, S. 57. 33 Vgl. John Ellis: Seeing Things. Television in the Age of Uncertainty. London 2000, S. 41. 30 Herbert Schwaab Rolle mehr spielt.34 Die Präferenz für das Live-Fernsehen, die in den Kritiken der frühen 1950er-Jahre und auch später mit der Vorstellung von einem goldenen Zeit- alter des Fernsehens zum Ausdruck kommt, verdeckt ein wenig die Tatsache, dass es ein Fernsehen für eine bestimmte Schicht war und andere Gruppen der amerika- nischen Gesellschaft von solchen als überaus komplex bezeichneten Erzählformen35 nicht angesprochen wurden. Baughman macht dies deutlich, wenn er beschreibt, wie die Western-Serie als Pendant zum B-Movie-Western das Publikum eines in den 1950er-Jahren verschwundenen Genres übernimmt: «This marginalized audience for B films took to the filmed western on the home screen, which held far more ap- peal than the boorish New York-oriented routines of Uncle Miltie.»36 Hier geht es zwar nicht um das live-drama, sondern um ein anderes frühes Genre des Fernsehens, die Variety Show, eine bunte Mischung aus Sketchen, Gesangs- und Tanznummern sowie Darbietungen von Artisten. Es drängt sich aber ein ähnlicher kultureller Antagonismus auf wie bei dem Konflikt zwischen Live-Fernsehen und Fernsehserie. Mit Uncle Miltie ist der Komiker und Moderator Milton Berle ge- meint, der mit der Show Texaco Star Theater zum ersten großen Star des neuen Mediums wurde. Susan Murray weist mit dem Begriff des ‹vaudeo star› auf die enge Bindung des von Städten wie New York geprägten Vaudeville-Theaters, der ame- rikanischen Version des Cabarets, und dem Fernsehen der frühen Jahre hin. Der Vaudeville-Komödiant wird als geradezu für das Fernsehen geschaffen bezeichnet, denn die Repräsentanten dieser traditionellen, amerikanischen Kunstform konnten offensichtlich mit der Intimität und Unmittelbarkeit des Live-Fernsehens am bes- ten umgehen. Ebenso hat das in New York produzierte Fernsehen der variety shows die Möglichkeit, sich an einem großen Pool dort tätiger, talentierter Komödianten zu bedienen.37Ähnlich wie beim live-drama, das sich auf die Theaterkultur New Yorks berufen kann, stellt sich das Fernsehen hier als eng verflochten mit einer Kultur dar, der mit New York eindeutig ein bestimmter Ort zugewiesen wird. Diese Verortung in einem bestimmten kulturellen Milieu zeigt sich auch an der Faszinati- on des frühen Fernsehpublikums für die häufig der jüdischen Kultur entstammen- den Fernsehkomödianten.38 Ebenso unterliefen Moderatoren wie Milton Berle mit ihren Vorlieben für Cross-Dressing-Elemente häufig traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit.39 Daher ist das von New York und seiner Unterhaltungskultur geprägte Fernsehen auch ein subversives, offensives Fernsehen. Die Direktheit des frühen Fernsehens steht also nicht nur für eine metaphysische Vorstellung von 34 Vgl. Kerbel, S. 17. 35 Vgl. Mayerle, S. 62 36 Baughman, S. 102. 37 Vgl. Susan Murray: Lessons from Uncle Miltie. Ethnic Masculinity and Early Television’s Vaudeo Star. In: Janet Thumin (Hrsg.): Small Screens, Big Ideas. Television in the 1950s. London/New York 2002, S. 66–87, S. 66f. 38 Murray, S. 67. 39 Vgl. Ebd., S. 68. Schnee in Kalifornien 31 Präsenz, die im Zusammenhang mit dem live-drama herausgestellt wird, sie steht auch für eine derbe, direkte Form der Adressierung des Publikums, die aus ver- schiedenen Gründen von dem Fernsehen in Hollywood zurückgenommen wurde, beispielsweise, wie bei Baughman impliziert wird, weil das ländliche, konservative Publikum mit dieser Form der Unterhaltung nichts anzufangen wusste. Die Versuche des Fernsehens, einem größer werdenden Publikum gerecht zu werden, werden häufig mit einer Strategie des ‹least objectionable programming›,40 des Bedienens eines kleinsten gemeinsamen Nenners mit Programmen, die mög- lichst wenige Zuschauer ablehnen, in Zusammenhang gebracht. Aber die Western- serie als Teil dieser Strategie drängt nicht nur die Direktheit und den subversiven Charakter einer der urbanen Kultur entstammenden Programmform zurück, son- dern sie bietet auch neue Schauwerte. Zunächst erscheint die Westernserie, die vor allem von dem Sender ABC produziert wird und um das Jahr 1959 zu einer domi- nanten Programmform des Fernsehens wird, als ein offenes, unspezifisches Genre, das sich «mildly» am psychologischen, realistischen Filmwestern der 1950er-Jahre orientiert.41 Es handelt sich also um eine modifizierte und vereinfachte Variante des Genres, die nicht nur für ein großes Publikum der USA, sondern auch der ganzen Welt anschlussfähig ist, wie sich etwa am großen Erfolg der Serie Bonanza im deutschen Fernsehen zeigt.42 Die Westernserie mag als Beispiel für den von Caldwell beschriebenen Import einer Hollywoodästhetik in das Fernsehen gelten,43 bei der durch eine geordnete Ab- folge von Einstellungen ein Kommunikations- und Handlungsraum entsteht und anders als in der Kamera den Live-Sendungen nicht einzig die Aufgabe übertragen wird, den Aktionen der Figuren zu folgen. Ich möchte aber das, was Caldwell als eine Verleugnung der Eigenständigkeit des Fernsehens bezeichnet, als eine besonde- re Stärke audiovisueller Produktionen Hollywoods herausstellen. Bonanza als eine von vielen Serien, die die von Filmproduktionen verwaisten Studios nutzen,44 ist ein typisches Beispiel für das, was Caldwell als eine «blank but efficient replication of the classical Hollywood style»45 nennt, bei dem das Fernsehen eine eigenständige Äs- thetik aufgibt und eine auf die notwendigen filmischen Mittel limitierte ‹ärmliche› und noch stärker wiederkehrenden Schemata folgende Variante des Hollywoodki- nos schafft. Bonanza reduziert sowohl auf der Ebene der Ästhetik als auch auf der des Inhalts die Komplexität des Westerngenres. Es verstärkt und trivialisiert die psy- chologischen Züge der großen Westernklassiker und lässt das Genre zu einem auf die Familie und deren Beziehungen konzentriertes Kammerspiel werden, was auch 40 Vgl. Jason Mittel: The ‹Classic Network System› in the US. In: Michele Hilmes (Hg.): The Television History Book. London 2003, S. 44–49, S. 46. 41 Vgl. Baughman, S. 103. 42 Vgl. Knut Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens. Stuttgart/Weimar 1998, S. 236. 43 Vgl. Caldwell, S. 50. 44 Vgl. Baughman, S. 101. 45 Caldwell, S. 51. 32 Herbert Schwaab viel damit zu tun hat, dass das Programm durch die enge Bindung an die von den Hollywood-Studios für die Fernsehproduktionen angebotenen Studiosets selten das für dieses Genre so wichtige Licht der Welt erblickt. Mit Bonanza ist der Western und damit auch das Fernsehen im äußersten Westen der USA verortet, zugleich gibt es keine Bindung an einen konkreten Ort, weil hier das Fernsehen in Hollywood etwas tut, was das Studiokino Hollywoods schon immer getan hat, einen virtuellen Ort zu schaffen, der mit den Vorstellungen vieler Menschen an vielen Orten kom- patibel ist. Aber so reduziert der Außenraum und die Natur in Bonanza scheinen mögen, eine Öffnung des Raums im Vergleich zum Fernsehen des live-drama und der variety show findet sich auch hier, beispielsweise in wiederkehrenden Szenen, die das Ankommen der Familie in einer Westernstadt thematisieren, die ihrer Farm benachbart ist. Bonanza übernimmt, so Caldwell, nicht nur Elemente der Holly- wood-Filmsprache wie Schuss-Gegenschuss-Einstellungen, sondern auch «generic establishing shots»46, raumeinführende Einstellungen, die immer wieder in Western zu sehen sind und den Eindruck erwecken, in den selben Studioaußensets gedreht worden zu sein. Hier wird ebenso eine Westernstadt wie eine Westernstadtkulisse in Hollywood evoziert, die dem Zuschauer bekannt vorkommen. Das Fernsehen ver- ortet sich damit, was sowohl die Ästhetik als auch die Bildinhalte angeht, explizit in Hollywood und erobert sich dort, in diesem Beispiel nur für kurze Momente, einen von Licht durchfluteten Außenraum, den es im live-drama niemals geben kann. Die Bedeutung dieser Verlagerung lässt sich ermessen, wenn ein typisches live- drama zum Vergleich herangezogen wird. In I am a Fool, einer halbstündigen Episode der Anthologie Serie General Electric Theatre von 1953, wird der Un- terschied zu dieser bescheidenen Öffnung gegenüber dem Außenraum besonders deutlich. Die Adaption einer Kurzgeschichte von Sherwood Anderson arbeitet mit einer Ästhetik der Stilisierung und Verknappung, die in keinem Moment darauf zielt, die Illusion eines realen Raumes zu erzeugen. Die bewusst ungeschickt einge- setzten Rückprojektionen, die offensichtlich gemalten Kulissen, mit Fotos von Pfer- den, die als Bewohner eines Pferdestalls fungieren, sollen einen maximalen Kon- trast zum Hollywoodkino und seiner verlässlichen Form der Raumkonstruktion darstellen. Wenn ein Himmel zu sehen ist, wie in einer Einstellung, in der sich die von James Dean verkörperte Figur mit Besuchern einer Pferderennbahn unterhält, dann sind nicht nur das Stadion und das Publikum gemalt, sondern auch der Him- mel wird durch ein paar gezeichnete, weiße Wolken repräsentiert. Dieses live-dra- ma schließt nicht nur mit seinem offenen Ende als Adaption einer Kurzgeschichte an die Literatur an, es verdeutlicht auch, wie klaustrophobisch das frühe Fernsehen in seinem künstlerischen Anspruch wirken kann, weil bewusst die Schaueffekte des Hollywoodkinos gescheut werden. Die technischen und räumlichen Defizite wer- den als Möglichkeit betrachtet, zu zeigen, wie viel mit wie wenig erreicht werden kann: «The whole point, in fact, was to show how much one could do with very little. 46 Ebd. Schnee in Kalifornien 33 Live anthology wore the then limited televisual apparatus as a badge of dramatic honor and prestige.»47 Aber das mit New York als Produktions- ort assoziierte Fernsehen ist eine vom Außenraum abge- schlossene, beengte Welt, die zugleich auch die Natur, das Sonnenlicht und Bewegun- gen aussperrt. Die Western- Serien schließen nicht nur als Programmform an etablierte Genres an und übernehmen 1 Gemalter Himmel in dem live drama I am a Fool (1953) deren Publika, sie befriedigen auch ein simples Bedürfnis nach ‹sunny, bright, action adventures›. Bonanza mag durch seine Konzentration auf die Familie und das Zu- hause als Kammerspielwes- tern dieses Bedürfnis, aus der beengten Welt des Fern- sehens hinauszutreten, nur bedingt illustrieren, aber in Gunsmoke, einer weiteren, seit 1959 produzierten Wes- ternserie, wird deutlich, wie 2 Wirklicher Himmel in Gunsmoke, Staffel 1, Episode 1 stark der Kontrast zwischen der eingeschlossenen Fernsehwelt der frühen Jahre und dem Serienfernsehen der späten 1950er-Jahr ist. Die Serie, die ähnlich wie andere Serien, an den realistischen, psychologischen Western anschließt, übernimmt stärker als Bonanza eine an den Außenraum gebundene Ästhetik des Westerns. Die ersten Einstellungen der ersten Episode sind sehr filmisch, mit Untersichten, Kamerabewegungen und vor allem den Blick auf einen offenen Himmel mit wirklichen und nicht gemalten Wolken wie in I am a Fool. Der Produktionsort Hollywood, der den Außendreh durch die Lichtverhältnisse so sehr erleichtert, weitet den Blick des Fernsehens tatsächlich auf die Welt. In die dunkle Fernsehwelt fällt das Licht des sonnigen Kaliforniens. So ließen sich tatsächlich zwei Geschichten der Übersiedlung des Fernsehens nach Los Angeles erzählen. (1) In der einen Version verschwindet der künstleri- 47 Caldwell, S. 48. 34 Herbert Schwaab sche Anspruch des frühen Fernsehens und das Medium wird zu einer seriellen Unterhaltungsware, die nur die harmlose Imitation filmischer Genres sein kann. Der Kunstcharakter des Live-Fernsehens macht sich beispielweise an der großen Bedeutung des live-drama für die Feuilletons dieser Zeit fest48– die Fernsehkriti- ker galten tatsächlich als Elite der Zeitungsredaktion49– oder an dem großen Re- nommee, das Autoren von Live-Dramen wie Paddy Chayewsky oder Rod Serling zugesprochen wird.50 Hollywood dagegen anonymisiert den Autor des Fernsehens, es steht für serielle Produktion und für den Warencharakter von Fernsehen, der die Gegenstände Dingen unterwirft, die eine künstlerische Produktion erschweren. Der Kritiker verliert das Interesse am Fernsehen, weil er von den neuen, seriellen Formaten, die er nicht einordnen kann, überfordert ist. (2) In der anderen Version dieser Geschichte entsteht eine komplexe, neue Erzählform der episodischen Serie, die nicht nur eine breitere Schicht von Zuschauern in den USA, sondern in der ganzen Welt zu interessieren scheint. Das Fernsehen mag mit seiner Übersiedelung nach Los Angeles den Status als Kunstform verlieren, aber es emanzipiert sich auch von einer ihm unterstellten einseitigen Affinität zur Liveness und zur Erzeugung von Präsenz. Es kann sich auch auf anderen Ebenen als populäre Kunstform kon- turieren. Los Angeles ist damit der Ort, der nicht nur die enge Fernsehwelt für den Außenraum öffnet und das verdrängte Sonnenlicht in den Apparat und seine narrativen Formate strömen lässt, sondern auch der Ort einer Demokratisierung des Mediums, das seinen Zuschauerkreis erweitert und erst dadurch den Charak- ter eines «kulturellen Forums»51 oder eines ebenso transdemographischen52 wie hyperdemokratischen Mediums bekommt.53 In der Ära des Broadcast Television spricht das Medium mit seinen Programminhalten klassenübergreifend die unter- schiedlichsten Menschen an und gibt ihnen die Möglichkeit, einen gemeinsamen Bezugspunkt für ihre Alltagskommunikation zu finden. Das Fernsehen kann diese Funktion erfüllen, weil es seine ausschließliche Orientierung an eine mit dem Ort New York verbundene Unterhaltungskultur aufgibt und mit den Fernsehprogram- men in Los Angeles einen ungeschichtlichen, unbeschriebenen Ort in den USA besetzt, dessen Existenzgrundlage allein auf der Produktion von Bildern beruht, die in den USA und sogar in der ganzen Welt verstanden werden können. Nicht nur die Produktion auf Film, sondern auch die Qualitäten eines offenen, hellen Raumes, dessen Orientierungspunkt wie Studiokulissen von Westernstädten häu- fig bereits medialer Natur sind, sorgen dafür, dass die in Hollywood entstehenden 48 Vgl. Boddy 1993, S. 191f. 49 Vgl. Ebd, S.191f. 50 Vgl. Ebd., S. 87. 51 Paul M. Hirsch, Horace M. Newcomb: Fernsehen als kulturelles Forum. Neue Perspektiven für die Medienforschung. In: Michael Grisko (Hg.) Texte zur Theorie und Geschichte des Fernsehens. Stutt- gart 2009, S. 182–197. 52 Vgl. David Marc: What was Broadcasting. In: Horace M. Newcomb (Hg.) Television. The Critical View. New York 2000, S. 629–648, hier S. 629. 53 Vgl. Marc, S. 644. Schnee in Kalifornien 35 Serien auch außerhalb der USA funktionieren und so die Zweitverwertung auf an- deren Sendern und globaler Programmhandel zur wichtigsten Einkunftsquelle der Fernsehsender einer in die 1980er-Jahre hineinreichenden Ära werden,54 die John Ellis als die Ära der Scarcity bezeichnet.55 Neutralisierte und hybride Räume des Fernsehens in Los Angeles Doch diese Möglichkeit der Ausweitung durch die Lösung der Bindung an einen kulturellen Kontext ist auch ein Grund für die Kritik an der Ästhetik des Serien- fernsehens und ihrer Art der Konstruktion von Räumen. Caldwell definiert den Stil der hollywoodisierten Fernsehserie der 1960er- und 1970er-Jahre auch als einen ‹zero degree style›, als einen sehr neutralen Stil,56 mit dem ebenso eine Neutralisie- rung des Ortes verbunden ist: «The only thing that changed from week to week were stories, plots, and guest stars. Locations, on the other hand, were all recognizably southern Californian and redun- dant. MGM’s zero-degree CHiPs lasted five years and produced 138 episodes using what appeared to be the same unfinished stretch of the 210 Foothill Freeway  – a cheap and accessible stand-in for all of the Southern California.»57 Caldwell führt seine Kritik an dem stil- und ortlosen Fernsehen weiter aus, spricht von einer tödlichen Monotonie, dem Eindruck, dass alle Szenen des Serienfernse- hens immer zur selben Tageszeit aufgenommen und im selben Licht gesetzt sind, dass der Schnitt sehr schematisch ist. Die einzige visuelle Auffälligkeit, die sich in dem homogenen Stil dieser und anderen Serien wie Charlie’s Angels in den 1970er-Jahre findet, beziehe sich auf das Platzieren sinnlicher Bildinhalte vor eine desinteressierte Kamera. Ansonsten handele es sich um eine geistlose Imitation der Konventionen, die mit dem klassischen Hollywoodkino eingeführt wurden: «The bread-and-butter Universal style of the 1970s, in fact, apes the classical Hol- lywood style of the 1930s and 1940s, but disregards even the modest and trended experimentation allowed in the earlier period.»58 Mit der Neutralität des Stils und dem Umzug des Fernsehens nach Hollywood geht auch eine Veränderung und Homogenisierung der Bildinhalte einher, die es in den experimentellen Formaten des Live-Fernsehens noch nicht gab. Caldwell sieht erst wieder Ansätze der Ausbildung einer eigenständigen Televisualität, als das Fern- 54 Vgl. William Boddy: US Television Abroad, 1960/1990: Market Power and National Introspection. In: Ders. (Hg.): New Media and Popular Imagination: Launching Radio, Television, and the Digital Media in the United States. New York 2004, S. 56–67, hier S. 60. 55 Vgl. Ellis. 56 Vgl. Caldwell, S. 57. 57 Ebd., S. 58. 58 Ebd. 36 Herbert Schwaab sehen Ende der 1970er-Jahre anfängt, sich von dem Schauplatz Südkalifornien zu lösen und neue Räume für Serien wie Dallas in der gleichnamige Serie, Denver in Dynasty oder Boston in der Krankenhausserie St. Elswehere entdeckt.59 Caldwells Teleologie eines Fernsehstils ist allerdings etwas zu einseitig, um alle Aspekte einer spezifischen Räumlichkeit des in Los Angeles produzierten Serien- fernsehens zu erfassen. Dass das Licht, das mit dem Umzug nach Los Angeles in das Medium einzieht, die Fernsehästhetik weiterdefiniert, wurde bereits ausge- führt. Ebenso geht es um die Möglichkeit des Fernsehens, von dem ‹allgemeineren› Ort Hollywoods aus andere Orte zu evozieren, die keine enge Bindung an den Ort ihrer Produktion haben und dadurch mit den in andere Fernsehländer importier- ten Programmen eine globale Fernsehkultur etablieren.60 Als ein weiterer, diesem Aspekt angeschlossener Punkt, soll auf die eigentümliche, hybride Räumlichkeit hingewiesen werden, die durch die Produktion des Fernsehens in L.A. entsteht. Es sind unheimliche Raumtransgressionen, die einen selbstverständlichen Bestandteil des Fernsehalltags darstellen, die aber tatsächlich eine von Jane Feuer angesproche- ne Idealisierung des Raumes ermöglichen.61 So sind etwa in der in den 1970er-Jahren produzierten Multi-Camera-Sitcom All in the Family (1971–1979) Ansichten von Queens, New York, dem Hand- lungsort, zu finden, klassisch in den Ort einführend mit Hubschrauberaufnahmen von New York, einer erhöhten Sicht auf einen Teil von Queens, dem aus dem Auto heraus gefilmte Ansichten von Straßenzügen des Ortes folgen, bis das Haus zu se- hen ist, in dem die Handlung spielt. Dem Vorspann vorangestellt ist der konkrete Hinweis auf den Produktionsort «From Television City Hollywood», einem be- rühmten Studiokomplex des Senders CBS in Los Angeles. Die Hybridität dieser Raumkonstruktion ergibt sich aus der genauen Verortung von All in the Family in der Arbeiter- und Angestelltenkultur von Queens, das immer einen Kontrapunkt zum glamourösen Manhattan setzt. Diese Sitcom ist auch das soziologische Proto- koll der Konfrontation eines bigotten Familienvaters mit den erodierenden Lebens- verhältnissen innerhalb und außerhalb seines Zuhauses. Die Serie macht deutlich, dass der Produktionsort nicht in eins zu setzen ist mit dem Handlungsort. Das macht aus Queens auch einen Topos einer einstmals als stabil betrachteten Welt, an der sich besonders gut der Wandel der Wirklichkeit festmachen lässt. Los Angeles wird selten in Fernsehserien wirklich konkret als Ort sichtbar, es ist schwer, sich in einem Fernseh-Los-Angeles zurechtzufinden, da ihm beispielwei- se die Orientierungspunkte bekannter Gebäude von Städten wie New York fehlen. Ein seltenes Beispiel für den Versuch, die räumlichen Relationen in Los Angeles etwas genauer zu beschreiben, findet sich in der ersten Episode von Lou Grant (1977–82), einer Drama-Serie über die Arbeit an der fiktiven Zeitung Los Ange- 59 Vgl. Ebd., S. 61. 60 Vgl. Boddy 2004. 61 Vgl. Feuer. Schnee in Kalifornien 37 les Tribune. Die ersten Minuten zeigen das Ankommen der Hauptfigur Lou Grant am Flughafen in L.A., wie er mit einem Bus in die Stadt fährt, sich dort in der Innenstadt zu orientieren versucht und sich ein Zimmer nimmt, um am nächsten Tag seine Arbeit in der Redaktion anzutreten. Diese ausführliche Hinführung zu dem Handlungsort ist deswegen interessant, weil mit einer räumlichen Versetzung auch eine buchstäblich sichtbar werdende Genretransgression verbunden ist: Lou Grant ist der Chefredakteur einer Nachrichtensendung eines in Minneapolis ange- siedelten Senders in der Multi-Camera-Sitcom Mary Tyler Moore (1970–1977). Die vor Live-Publikum gedrehte Sitcom mag (wie jede andere bis heute gedrehte Multi-Camera-Sitcom) als Reminiszenz an das Live-Fernsehen der 1950er-Jahre betrachtet werden, die ähnlich wie die Programme dieser Zeit, den offenen Raum der Wirklichkeit nur für den Vorspann reserviert. Lou Grant verlässt diesen engen, abgeschlossenen Raum und erobert sich mit seiner Tätigkeit in Los Angeles nicht nur eine neue, helle, lichtdurchflutete Welt, sondern auch ein neues Genre. Die Se- rie mag daher nicht nur als Kommentar einer voraussetzungsvollen Verlagerung der Produktionen des Fernsehens, von Ost nach West, von Live zu Film, betrachtet werden, sondern macht vielleicht auch deutlich, dass der Raum Los Angeles gerade in solchen Momenten des Übergangs, durch die Differenzen, die an ihm sichtbar werden, greifbarer werden kann. Zuletzt soll hier noch eine Hybridität des Raumes diskutiert werden, die an einer bestimmten Limitation der Produktion in Hollywood festgemacht werden kann: Es ist zu hell in Los Angeles, was immer dann sichtbar wird, wenn in Hollywood dunklere, kältere, bewölktere Orte wie New York oder New England repräsentiert werden sollen. Die Sitcom King of Queens (1998–2007) beispielweise schafft es immer relativ überzeugend, die Verortung in Queens wiederzugeben, nur bei Au- ßenaufnahmen dringen Merkmale südkalifornischer Landschaften in den Bild- raum ein, beispielsweise in der 4. Episode der 6. Staffel, Dreading Vows, in der Doug und seine Frau Carrie ihre Ehegelübde erneuern und die Zeremonie eindeu- tig an einer Steilküste in der Nähe von Los Angeles stattfindet. Der eroberte, ge- filmte Außenraum, der sich selbst in Multi-Camera-Sitcoms mittlerweile häufiger findet, erinnert an die Konsequenzen des Umzugs und des Medienwechsels, aber wiederum auch daran, dass ein in Los Angeles repräsentiertes Queens ein Topos ist, bei dem die Kopplung an einen realen Raum so weit gelöst ist, dass die Serie für Zuschauer unterschiedlichster Kulturen anschlussfähig wird. Noch deutlicher werden diese Überschneidungen von zwei Räumen, den sonni- gen Studiogeländen Hollywoods und den Orten an der Ostküste, in dem Comedy Drama Gilmore Girls (2000–2007), das in der fiktiven Stadt Stars Hollow in Con- necticut spielt. Es kommt hier immer wieder zu kleinen Momenten der Alltagsver- klärung, die sich häufig an den Besonderheiten der Jahreszeiten und vor allem am Schnee festmachen, den die Hauptfigur Lorelai besonders liebt. Aber nahezu in al- len Einstellungen, die die Straßen des winterlichen Stars Hollow darstellen, ist sehr viel Sonnenlicht zu sehen, was eine sehr stark mit dieser Serie verbundene Stim- 38 Herbert Schwaab mung wiedergibt. Da die Atemluft der Figuren keine Anstalten macht, zu gefrieren und sichtbar zu werden, machen diese Szenen immer besonders deutlich, dass Stars Hollow, das so sehr der Kultur New Englands mit seinen basisdemokratischen Ele- menten, als Idealbild von Gemeinschaft62, entsprungen zu sein scheint, tatsächlich in Los Angeles entstanden ist, weit entfernt von den Ursprungsorten des amerikani- schen Gemeinwesens. Es ist ein eigenartiger, auf dem zweiten Blick sehr künstlicher Schnee, der hier in Kalifornien, in einem Studioset in Burbank oder Hollywood fällt, es ist aber auch ein Schnee, der wiederum deutlich macht, wie stark es nicht um wirkliche, sondern um imaginäre Orte geht, um Utopien und dementsprechend im Nichts verortete Orte, die in dem geschichts- und gesichtslosen Los Angeles viel besser zu rekonstruieren sind, als in den von Geschichte gesättigten Orten der Ost- küste wie New York oder Connecticut. Jane Feuer stellt eine Beziehung zwischen Formaten wie Northern Exposure oder Gilmore Girls und ihrer Repräsentati- on basisdemokratischer Ereignisse zu der Fähigkeit des Fernsehens her, Bilder von Gemeinschaften zu erzeugen, die im Sinne von Benedict Anderson auf das notwen- dige imaginäre Moment von Gemeinschaft oder Nation hinweisen, das zugleich keinen und jeden Ort einnimmt. Das Fernsehen als Medium der Kommunikation ist nicht nur ein ‹vast wasteland› der Massenkultur, eine negative Vorstellung von Fernsehen, die auch im Zuge einer Hollywoodisierung des Programms entstanden ist, sondern ermögliche auch ein «town meeting of the nation».63 So öffnet das in Los Angeles produzierte Fernsehen nicht nur den Raum und gibt dem narrativen Fernsehen Sonnenlicht, sondern es eröffnet auch einen imaginären Raum, der zu einem allgemeinen Bezugspunkt der Vorstellungen der Menschen über Demokra- tie und (alternative) Modellen der Gemeinschaft werden kann. Diesen imaginären Charakter von Räumen kann das in New York produzierte Fernsehen nicht auf die- selbe Weise herausstellen, weil dort die Räume ‹zu› wirklich sind, zu sehr gebunden an eine Topographie, eine Gesellschaft und eine Kultur, die ihre eigenen Konturen hat. Die Redundanz wiederkehrender, unspezifischer Raummerkmale, die Caldwell an den Fernsehserien kritisiert, birgt tatsächlich auch die Möglichkeit einer Entkop- pelung vom Konkreten, durch die auch das Fernsehen Raum für die Imagination einer anderen Welt schaffen kann. 62 Vgl. Ebd., S. 152. 63 Feuer, S. 160. Laura Frahm ‹A Moment of Radical Thought› Zum kritischen urbanen Kino der L.A. Rebellion Die filmischen Entwürfe von Los Angeles zählen zu den komplexesten, visionärsten und teilweise auch widersprüchlichsten Momenten der Geschichte des Stadtfilms im 20. Jahrhundert – wie Thom Andersens großes filmisches Essay Los Angeles Plays Itself (2003) auf eindrückliche Weise in Bilder gefasst hat. In ihnen kristal- lisieren sich entscheidende Impulse heraus, welche die übergreifende Entwicklung der filmischen Stadt nachhaltig beeinflusst haben. Mein Beitrag wird sich auf einen dieser Umbruchsmomente in den 1970er-Jahren konzentrieren, der mit dem Er- scheinen der Filme der L.A. Rebellion – einer Gruppe afro-amerikanischer Filme- macher, die gemeinsam an der Film School der UCLA studierten – zusammenfällt. Charles Burnetts Killer of Sheep (1977), Haile Gerimas Bush Mama (1975) und Billy Woodberrys Bless Their Little Hearts (1984) lassen ein kritisches urbanes Kino entstehen, das die sozialen Missstände im Stadtteil Watts in den Mittelpunkt rückt. Ihre Filme geben einen ungefilterten Einblick in das Leben von Watts und gehen mit einem «moment of radical thought», wie Charles Burnett das intellek- tuelle Klima an der UCLA dieser Zeit beschreibt, einher. Aus einem dichten Netz filmischer Einflüsse, welches von frühen lyrischen Dokumentarfilmen bis zum Ita- lienischen Neorealismus und den Filmen des Third Cinema reicht, begründet sich in ihnen ein neues «Black Independent Cinema», das die filmische Karte von Los Angeles – und damit zugleich die Geschichte der filmischen Stadt – neu vermisst. Das urbane Kino der L.A. Rebellion Die 1970er-Jahre lassen sich in vielerlei Hinsicht als ein Umbruchsmoment im Be- reich des Stadtfilms beschreiben. Insbesondere in Los Angeles entsteht in diesem Zeitraum eine Gruppe von Filmen, die eine neuartige Sensibilität gegenüber dem urbanen Raum entwickelt. Die Filme der L.A. Rebellion werfen einen ungefilterten und zugleich hochgradig komplexen Blick auf diejenigen Stadtteile von Los Ange- les, die bis dahin weitgehend durch das Raster der filmischen Karte der Stadt gefal- len waren. Vor allem der Stadtteil Watts in South Central Los Angeles, welcher be- reits Mitte der 1960er-Jahre zum Schauplatz der Rassenunruhen, der so genannten L.A. Riots bzw. der Watts Rebellion wurde, avanciert hier zum primären Ort und zugleich zum Zentrum einer neuen Art von Filmen, in denen sich das Fiktionale mit dem Dokumentarischen auf vielschichtige Weise vermischt. 40 Laura Frahm In meinem Beitrag möchte ich die Filme der L.A. Rebellion als ein kritisches urbanes Kino beschreiben, welches diejenigen Orte der Stadt in den Mittelpunkt rückt, die bisher noch nicht zum zentralen Korpus der kontinuierlich zirkulieren- den und wiederkehrenden Bilder von Los Angeles gehörten. Filme wie Killer of Sheep, Bush Mama und Bless Their Little Hearts verändern, so möchte ich herausstellen, die filmische Karte von Los Angeles auf nachhaltige Weise, indem sie nicht allein vereinzelten blinden Flecken und versteckten Orten innerhalb der Stadt eine neue Sichtbarkeit verleihen, sondern eine gesamte ‹unsichtbare Stadt› in das Zentrum ihrer Filme rücken. In ihnen entsteht ein andersartiger urbaner Kosmos, der sich gleichermaßen von den film- und stadttheoretischen Diskursen der Zeit differenziert und somit eine neue Form des urbanen Kinos denkbar macht.1 Indem Filmemacher wie Haile Gerima, Julie Dash, Larry Clark, Charles Burnett und Billy Woodberry ihre Kamera auf den heruntergekommenen Stadtteil Watts richten, schaffen sie zugleich ein Bewusstsein für die sozialen Missstände in einem hochgradig segregierten urbanen Raum, der nur ein Jahrzehnt zuvor, im August 1965, zum Schauplatz der Watts Rebellion geworden war. In ihren dichten Port- räts eines umstrittenen und umkämpften urbanen Raums wird die Stadt zu einer Membran, welche die Risse und Wunden der Rebellion immer noch offen trägt. Sie zeigen einen verletzlichen urbanen Raum, in den sich die Krise auf deutliche Weise eingeschrieben hat. In diesem Zuge entwerfen die Filme der L.A. Rebellion zugleich eine subtile Kritik der Sichtbarkeit, oder präziser gefasst, eine Kritik der Dominanz des Visuellen, das gerade im Bereich des Stadtfilms von Beginn an zum zentralen Fokus jeglicher Stadtdarstellung wurde. In ihren Filmen wird der Stadtteil Watts zu einem komplexen, in sich geschlossenen filmischen Kosmos, in welchem die Sichtbarkeit des Raums immer wieder in Frage gestellt wird, um demgegenüber die auditive und taktile Wahrnehmung der Stadt zu akzentuieren. Das Kino der L.A. Rebellion, so möchte ich argumentieren, ist vor allem ein multisensorisches Kino, in welchem die visuelle Wahrnehmung des Raums konti- nuierlich von auditiven und taktilen Wahrnehmungsformen unterlaufen und über- lagert wird. Wie Maurice Merleau-Ponty in seinem Buch Das Sichtbare und das Unsichtbare beschrieben hat, beinhaltet das Sichtbare stets das Unsichtbare, und, mehr noch, lässt sich das Unsichtbare allein als das Unsichtbare des Sichtbaren begreifen.2 Die- ser Punkt ist entscheidend, denn, wie Tom Gunning in seinem Text zu den Städten 1 Dabei ist festzuhalten, dass Filme wie Killer of Sheep, Bush Mama und Bless Their Little Hearts lediglich einen kleinen Teil des komplexen und vielschichtigen Filmschaffens der L.A. Re- bellion darstellen; einen ebenso detaillierten wie fundierten Überblick verschafft die von der UCLA organisierte Ausstellung L.A. Rebellion: Creating a New Black Cinema mit parallelem Filmpro- gramm, welches zuerst im Herbst 2011 in Los Angeles gezeigt wurde; siehe Shannon Kelley (Hrsg.): L.A. Rebellion: Creating a New Black Cinema, Los Angeles 2011. http://www.cinema.ucla.edu/sites/ default/files/LARebellionCatalog.pdf (08.06.14). 2 Vgl. hierzu insbesondere Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Hrsg. v. Clau- de Lefort. München 1986. ‹A Moment of Radical Thought› 41 im späten Film noir auf so überzeugende Weise herausgestellt hat, in dieser Denk- figur artikuliert sich das Potenzial einer Kritik der Dominanz des Sichtbaren, die für lange Zeit die Diskurse zur filmischen Stadt geprägt hat. Diese Dominanz des Sichtbaren, so Gunning, muss jedoch einer Revision unterzogen werden, um eine weitaus nuanciertere Betrachtung des Sichtbaren im Stadtfilm zu ermöglichen, die sich in einer «exploration of the vulnerability and limitation of vision» artikuliert. Denn, so führt Gunning mit Bezug auf Merleau-Ponty aus: «The visible always in- volves the invisible; what we see entails a zone of the not-seen. [...] As an art of the visible, film must necessarily become an art of the invisible», um daraus die These abzuleiten: «[T]he visible city shadows an invisible city, not simply as a formal de- vice, but as an essential structure of our modern environment.»3 Dabei ist festzu- halten, dass sich Gunnings Beobachtungen im Kern auf eine bestimmte räumliche Konstellation im späten Film noir beziehen, welche die Unsichtbarkeit der Stadt nicht allein mit einer unsichtbaren Infrastruktur gleichsetzt, die sich unterhalb der Stadt ausbreitet, sondern auch, und entscheidender noch, mit dem potenziellen Unsichtbarwerden im urbanen Raum. Die Denkfigur einer unsichtbaren Stadt, die sich jenseits der sichtbaren Stadt ausbreitet, während sie untrennbar mit ihr verbunden bleibt, und mehr noch, die allein als integraler Bestandteil der sichtbaren Stadt begriffen werden kann, lässt sich auch auf die Filme der L.A. Rebellion übertragen. Dabei geht es keineswegs darum, besagte Werke als eine Ausnahmeerscheinung bzw. als ein Nischenkino zu charakterisieren, das sich am Rande der vorherrschenden Filmproduktion von Los Angeles mit den Rändern der Stadt beschäftigt. Vielmehr lässt sich aus dieser Denkfigur eine komplexere Vorstellung der filmischen Stadt und ihrer Geschichte entwickeln, die auf ein kontinuierliches Wechselspiel zwischen den sichtbaren und unsichtbaren Städten des Films verweist, in welchem der L.A. Rebellion eine zent- rale Rolle zukommt. Denn die «unsichtbaren Städte» der L.A. Rebellion lassen sich nur vollständig begreifen, wenn man das starke Spannungsverhältnis beachtet, das sie zwischen jenen überdeterminierten Orten der Stadt- und Filmgeschichte von Los Angeles und jenen weitgehend unbesetzten Orten aufziehen, wie etwa dem Stadtteil Watts, die neu in die Karte der filmischen Stadt eingezeichnet werden. Ihr urbanes Kino ist immer auch ein Kino der Abgrenzung gegen das Überlieferte, das bereits Dagewesene, dem sie mit ihren Filmen etwas entgegen zu setzen suchen. Unter jeder filmischen Stadt, so ließe sich eine der Aussagen der L.A. Rebellion deuten, liegt eine unsichtbare Stadt, eine Stadt, die bisher noch nicht in die Karte der filmischen Stadt eingetragen wurde; eine Stadt, die es noch zu entdecken gilt. 3 Tom Gunning: Invisible Cities, Visible Cinema: Illuminating Shadows in Late Film Noir. In: Com- parative Critical Studies 6/3, 2009, S. 319–332, hier S. 319. 42 Laura Frahm ‹A Moment of Radical Thought›: Die Filmdebatten an der UCLA Es ist dieses Bewusstsein, den zirkulierenden und immer wiederkehrenden Bil- dern von Los Angeles nicht allein andere filmische Bilder, sondern mehr noch, eine gänzlich andere Art von Film entgegen zu setzen, das jene Gruppe junger afro- amerikanischer Filmemacher antrieb, die in den 1970er-Jahren an der Film School der UCLA studierten und die Clyde Taylor später als «L.A. Rebellion» bezeich- nen sollte.4 Um dieses Klima des Aufbruchs und des Umbruchs an der UCLA zu beschreiben, möchte ich kurz auf die dort in den 1970er-Jahren vorherrschenden Diskurse und Debatten eingehen, um daran anschließend die vielschichtigen filmi- schen Einflüsse der Gruppe näher zu beleuchten. Der Einfluss der Diskussionen an der UCLA auf die Filme ihrer Studenten ist nicht zu unterschätzen und wurde in den bisherigen Beschreibungen zur L.A. Re- bellion, bis auf wenige Ausnahmen, weitgehend ausgeblendet.5 Charles Burnett selbst hat einmal das Klima an der UCLA als eine «comradery in radical thought»6 beschrieben und die UCLA als ein ausgesprochenes «anti-Hollywood environ- ment, with a kind of anarchistic flavor to it in which one had to come up with so- mething relevant or extremely well done, original.»7 Insbesondere zwei Figuren an der UCLA übten einen prägenden Einfluss auf die Filmemacher aus: Teshome Gab- riel und Elyseo Taylor. Während Teshome Gabriel, der seit 1974 an der UCLA Film School unterrichtete und, nicht zuletzt mit seinen einflussreichen Publikationen Third Cinema in the Third World: The Aesthetics of Liberation (1982) und «Towards a Critical Theory of Third World Films» (1985), zu einem der führenden und visi- onärsten Denker des Third Cinema avancierte, begründete Elyseo Taylor als erster afro-amerikanischer Lehrender an der UCLA das Ethno-Communications Depart- ment, ein Programm, das insbesondere das Studium afro-amerikanischer Studen- 4 In seinem einflussreichen Text zum «New U.S. Black Cinema» führt Taylor zudem folgende drei zentrale Charakteristika der Filme afro-amerikanischer Filmemacher an der UCLA an, auf die ich später noch näher eingehen werde: «[I]ts realness dimension, its relation to African-American oral tradition, and its connections with black music.» Clyde Taylor: The New U.S. Black Cinema. In: John Belton (Hrsg.): Movies and Mass Culture. New Brunswick 1996, S. 230–246, hier S. 233. 5 Eine sehr dichte Beschreibung der Wechselverhältnisse zwischen der L.A. Rebellion und dem Third Cinema findet sich etwa in: Cynthia A. Young: Shot in Watts. In: Dies.: Soul Power: Culture, Radica- lism, and the Making of a U.S. Third World Left. Durham/London 2006, S. 209–244. 6 http://www.killerofsheep.com/about.html (08.06.14). 7 Ebd. In einem Interview mit Nelson King in Senses of Cinema führt Burnett weiter aus: «[O]ne of the good things about UCLA was a teacher named Elyseo Taylor who started the Ethno-Commu- nications department, a program to bring in people of color, Native Americans, Asian Americans, Hispanics, and Afro-Americans. I was one of the Teacher Assistants in that group and the objective was to get people of color to tell stories about their community. A lot of positive things came out of it. All the people attending the course were there making films in response to false and negative im- ages that Hollywood films were promoting. There was an anti-Hollywood attitude—but it was more than that, the focus was on you telling your story and working out an aesthetic.» Nelson King: Inter- view with Charles Burnett. In: Senses of Cinema. http://sensesofcinema.com/2003/great-directors/ burnett/ (08.06.14). ‹A Moment of Radical Thought› 43 ten förderte und eine intensive Beschäftigung mit den Filmen afrikanischer, latein- amerikanischer sowie afro-amerikanischer Künstler betrieb.8 War die Film School der UCLA zuvor, wie Charles Burnett in einem Interview beschreibt, ebenso wie zahlreiche andere Filmprogramme in den 1970er-Jahren auch, ein Ort «where the whole cinema was left out [of the curriculum]: the emerging Third World cinema and, notably, African cinema»9, so entstand mit dem Ethno-Communications Pro- gramm ein Forum, in dem sich die Studenten austauschen und ihre Vorstellungen eines neuen unabhängigen Kinos konturieren konnten. In diesem Umfeld, das sich mit allen Facetten des Third Cinema beschäftigte, entstand eine ebenso vehemente wie hochgradig nuancierte Diskussion, die sich intensiv mit den möglichen Paral- lelen zwischen dem Third Cinema und ihren eigenen Filmprojekten beschäftigte und somit das Potenzial eines im Entstehen begriffenen neuen «Black Independent Cinema» auslotete.10 Betrachtet man die Filme der L.A. Rebellion vor dem Hintergrund der Diskussi- onen rund um das Third Cinema an der UCLA, so zeigt sich, auf welch’ vielschich- tige Weise sie von den Positionen zum Third Cinema geprägt sind. Wie Teshome Gabriel in «Towards a Critical Theory of Third World Films» ausführt, lassen sich die Filme des Third Cinema in drei unterschiedliche Phasen einteilen: die «unqua- lified assimilation», die «remembrance phase» und die «combative phase»11, wobei insbesondere die beiden letzten Phasen als Einfluss auf das urbane Kino der L.A. Rebellion gewertet werden können. Ausgehend von einer vehementen Ablehnung jener dominanten westlichen Konventionen, die Teshome Gabriel mit den filmi- schen Konventionen Hollywoods bzw. dem klassischen Hollywood-Stil gleichsetzt, verfechtet er die so genannten Konventionen der oralen Narration, die  – in un- mittelbarem Zusammenhang mit der Tradition des Italienischen Neorealismus ste- hend – von natürlicher Lichtsetzung, der Arbeit mit Laienschauspielern, und dem direkten Blick in die Kamera sowie dem Drehen an Originalschauplätzen gekenn- zeichnet sind. Auf dieser Basis differenziert Gabriel nun die zwei Phasen der «re- membrance phase» und der «combative phase», wobei die «remembrance phase», die sich etwa mit Filmen wie Killer of Sheep und Bless Their Little Hearts 8 Elyseo Taylor begann bereits früh damit, eigene Filme zu drehen, wie beispielsweise Black Art, Black Artists von 1971, ein Kurzfilm, welcher das Kunstschaffen afro-amerikanischer Künst- ler seit dem 19. Jahrhundert beleuchtet, stets begleitet von Jazz- und Bluesfragmenten, und dabei zugleich die Rolle afro-amerikanischer Künstler in den ausgehenden 1960er- und frühen 1970er- Jahren thematisiert. 9 Daniel Eagan: Killer of Sheep. In: Ders. (Hrsg.): America’s Film Legacy. New York 2010, S. 737–738, hier S. 738. 10 So erwähnt Charles Burnett in einem Interview mit Terrence Rafferty: «It was all about film as an art form. We didn’t think about working in Hollywood but about making our own personal films. So we just stayed at UCLA and exploited the department as long as we could; we used the equipment until they told us to leave.» Terrence Rafferty. Invisible Man. In: Robert E. Kapsis (Hrsg.): Charles Burnett: Interviews, Jackson 2011, S. 118–125, hier S. 120. 11 Vgl. Teshome H. Gabriel: Towards a Critical Theory of Third World Films. In: Jim Pines, Paul Wil- lemen (Hrsg.): Questions of Third Cinema. London 1989, S. 30–52, hier S. 31–35. 44 Laura Frahm in Verbindung bringen lässt12, von einem sehr nuancierten Umgang mit der spezifi- schen Kultur und Geschichte des jeweils Porträtierten und einem ebenso beobach- tenden wie differenzierten filmischen Gestus charakterisiert ist. Mehr noch, Gabriel schreibt den Filmen der «remembrance phase» eine neuartige Raumsensibilität zu, wenn er in ihnen etwa die «growing insistence on spatial representations rather than temporal manipulation»13 hervorhebt. Die «combative phase», deren Einfluss sich etwa in Filmen wie Bush Mama beobachten lässt, hat hingegen einen dezidiert ideologischen und revolutionären Charakter; hier wird der Film selbst zu einem «ideological tool»14, indem der Überlebenskampf der Bevölkerung der Dritten Welt und die Härte ihrer Lebensbedingungen auf eindrückliche Weise in den Mittel- punkt gerückt werden. ‹We Needed the Spectrum›: Filmische Einflüsse der L.A. Rebellion Die Einflüsse des Third Cinema auf die Filme der L.A. Rebellion lassen sich jedoch lediglich als ein wichtiger Bestandteil innerhalb eines weitaus komplexeren Felds der filmischen Bezüge werten. Jenseits der Diskussionen um das Third Cinema, die das intellektuelle Klima an der UCLA in den 1970er-Jahren deutlich prägten, war insbe- sondere das Studium der Geschichte des Dokumentarfilms ein zentraler Bestandteil des Curriculums. Vor allem Basil Wright, eine der zentralen Figuren des Britischen Dokumentarfilms in den 1930er-Jahren, der sich mit Filmen wie Song of Ceylon (1934) und Night Mail (1936) einen Namen gemacht hatte und seit den 1960er- Jahren an der UCLA unterrichtete, wurde zu einer wichtigen Einflussfigur. Und so schreibt Charles Burnett im Rückblick auf die Begegnung mit Basil Wright: «Basil Wright was giving extremely good courses about documentary films, and the way he was discussing this kind of work opened up a possible way of thinking about film. So, before I discovered Third World cinema, Basil Wright’s class started a lot of things for me. In the films he discussed, every shot contained a human element and touch. The subjects in front of the camera were treated like people, not just props and objects and things to be manipulated. A certain amount of reverence was visible throughout the work, because the person you are and the things you have to say are the same thing.»15 In den lyrischen Dokumentarfilmen Basil Wrights zeigt sich ein hochgradig nu- ancierter, sensibler Umgang mit den Porträtierten, in denen stets, wie Burnett 12 Hierauf hat insbesondere David E. James in seiner dichten Analyse der «minor cinemas» in Los Angeles verwiesen; vgl. David E. James: The Most Typical Avant-Garde: History and Geography of Minor Cinemas in Los Angeles. Berkeley 2005, S. 330. 13 Gabriel, S. 33. 14 Ebd., S. 34. 15 Bérénice Reynaud: Interview with Charles Burnett (1991). In: Robert E. Kapsis (Hrsg.): Charles Burnett: Interviews. Jackson 2011, S. 53–64, hier S. 57–58. ‹A Moment of Radical Thought› 45 schreibt, ein «human element and touch» gewahrt wird. Auch andere Verweise auf den Einfluss früher lyrischer Filme – wie etwa jener Joris Ivens oder auch Jean Re- noirs – sind von Beschreibungen einer «human sensibility» durchdrungen, die sich in den Filmen der L.A. Rebellion auf besondere Weise mit einer hohen Raumsen- sibilität verbindet. Dabei kombinieren die Filmemacher der L.A. School oftmals dokumentarische Formen mit experimentellen Filmtechniken, die Paula Massood in ihrem wichtigen Werk Black City Cinema als Formen des Realismus beschrieben hat: «Black urban realism», «subtle realism» oder auch «poetic realism» sind die Begriffe, mit denen sie diese besondere Phase in der übergreifenden Geschichte ei- nes «Black City Cinema» beschreibt.16 Indem sich in den Filmen der L.A. Rebellion Facetten des lyrischen Dokumentarfilms mit dem Italienischen Neorealismus und dem Third Cinema miteinander verbinden, lassen sie eine neuartige Filmsprache entstehen, die auf hochsensible Weise die Nachwirkungen der Watts Rebellion – ebenso in den Figuren wie auch im urbanen Raum – nachzeichnet. Wenngleich die Filme der L.A. Rebellion, nicht zuletzt aufgrund ihrer gemeinsa- men filmischen Einflüsse, von einer gewissen ästhetischen Kohärenz gekennzeich- net sind, so begriffen sie sich doch selbst keineswegs, wie Charles Burnett mehrfach betont hat, als eine in sich geschlossene Gruppe, als eine Schule oder gar als eine Form von «Rebellion».17 Vielmehr sind ihre Filme als dezidierte Gegenentwürfe zu zwei anderen filmischen Traditionen zu begreifen: zur Filmproduktion Holly- woods, die bereits in den Diskussionen Teshome Gabriels zum Third Cinema zum zentralen Gegenbild avancierte, und, vielleicht entscheidender noch, zu den in den frühen 1970er-Jahren immer populärer werdenden Blaxploitationfilmen, wie etwa Super Fly (Gordon Parks Jr, 1972) und Sweet Sweetback’s Baadasssss Song (Melvin Van Peebles, 1971). Wie Ed Guerrero herausgestellt hat, war eine der zen- tralen Funktionen der Blaxploitationfilme, dem weitgehend afro-amerikanischen Publikum «a new paradigm of the Black male» zu bieten: «[A]s action movie hero and as a rebuttal to decades of Hollywood’s stale ‹noble Negroes›».18 Wenngleich die dezidierte Abgrenzung von den filmischen Konventionen bzw. den überlieferten Rollenmodellen Hollywoods die Blaxploitationfilme und die Filme der L.A. Rebel- lion miteinander vereinen mag, ebenso wie ihr Fokus auf fast ausschließlich afro- amerikanische Protagonisten, so könnten sie in der Zeichnung ihrer Figuren nicht unterschiedlicher sein. Weit davon entfernt, ein neues Rollenmodell des «Black male hero» zu propa- gieren, zeigen sich in den Filmen der L.A. Rebellion verletzliche, gescheiterte und fragende Protagonisten, die kontinuierlich mit den Problemen des Alltags und des 16 Paula Massood: Cotton in the City: Black Ghetto, Blaxploitation, and Beyond. In: Dies.: Black City Cinema: African American Urban Experiences in Film. Philadelphia 2003, S. 79–116. 17 Reynaud, S. 57. 18 Ed Guerrero: The Black Man on Our Screens and the Empty Space in Representation. In: Callaloo 18.2, 1995, S. 395–400, hier S. 396. Siehe auch Ed Guerreros einschlägiges Werk zu diesem Thema: Ed Guerrero: Framing Blackness: The African American Image in Film. Philadelphia 1993. 46 Laura Frahm Lebens allgemein konfrontiert werden, ohne jemals eine eindeutige Lösung zu fin- den.19 Wie Nathan Grant schreibt, ging es Filmemachern wie Haile Gerima, Julie Dash, Larry Clark, Charles Burnett und Billy Woodberry vor allem darum, das Potenzial eines neuen, unabhängigen afro-amerikanischen Kinos auszuloten, das ebenso politisch wie persönlich ausgerichtet war, und damit zugleich «new ways of expressing black presence in film»20 zu ergründen. Dabei ist insbesondere die Vielfalt der filmischen Einflüsse von entscheidender Bedeutung, die sich bei jedem Filmemacher, und teilweise sogar in jedem Film, auf unterschiedliche Weise ver- mischt. Oder, in den Worten von Charles Burnett: «We needed the spectrum, the whole range of the black experience.»21 ‹Shot in Watts›: Killer of Sheep und Bless Their Little Hearts Die Filme der L.A. Rebellion bezeichnen einen Umbruchsmoment, der sich nicht allein auf den Bereich des Stadtfilms, sondern insbesondere auch auf den Bereich des afro-amerikanischen Films bezieht, indem hier afro-amerikanische Protagonis- ten in einer bis dahin unbekannten Komplexität und Widersprüchlichkeit gezeich- net werden, die sich zugleich mit dem Porträt einer ebenso komplexen und wi- dersprüchlichen urbanen Realität verbindet. Dennoch sind Killer of Sheep und Bless Their Little Hearts keine Filme eines offenen, vehementen Umbruchs oder gar einer Rebellion; sie lassen sich nicht als Agitationsfilme bezeichnen und rufen, im Gegensatz etwa zu Bush Mama, keinesfalls zu einem Kampf gegen die Ungerechtigkeit auf. Vielmehr handelt es sich um leise Filme, in denen sich die Rebellion auf einer anderen, subtileren Ebene artikuliert. In ihnen zeigt sich ein nu- ancierter Umgang mit den Fragen des Sichtbaren und des Sagbaren, oder, präziser gefasst, sie zeugen immer wieder vom Aussetzen des Sichtbaren und des Sagbaren, indem die Worte verstummen und die Sicht auf den urbanen Raum verstellt und verdeckt wird, während sich die Wahrnehmung des Urbanen zunehmend in audi- tive und taktile Formen hinein verlagert. Charles Burnetts Killer of Sheep und Billy Woodberrys Bless Their Litt- le Hearts, welcher in der Forschung zur L.A. Rebellion bisher weitaus seltener beachtet wurde, lassen sich in vielerlei Hinsicht als ästhetische und thematische 19 So äußert sich Charles Burnett zur inhärenten Offenheit und Problembewusstheit seiner Filme: «I don’t think I’m capable of answering problems that have been here for many years. But I think the best I can do is present them in a way where one wants to solve these problems.» http://www. killerofsheep.com/about.html (08.06.14). 20 Charles Burnett erwähnt in Senses of Cinema zum Verhältnis der L.A. Rebellion zu Hollywood und Blaxploitation: «You didn’t make films for commercial reasons or use your student film as a calling card for Hollywood. Hollywood wasn’t accessible to black independent filmmakers, or films by people of color, unless they were black exploitation films. You never expected anything from Hol- lywood. Filmmaking was for you making personal and political statements.» http://sensesofcinema. com/2003/great-directors/burnett/ (08.06.14). 21 Ebd. ‹A Moment of Radical Thought› 47 Pendants begreifen.22 Beide Filme zeichnen das tägliche Leben einer jungen Familie im Stadtteil Watts nach, die mit zahlreichen Problemen konfrontiert wird: mit der Arbeitslosigkeit von Charlie, dem Protagonisten von Bless Their Little Hearts oder auch dem langsamen Zerbrechen Stans, des Protagonisten von Killer of Sheep, an seinem Job in einem Schlachthof, der zunehmenden Entfremdung der beiden Paare, der Schwierigkeit, Kinder in diesem Umfeld großzuziehen sowie der ständigen Gefahr, in kriminelle Machenschaften hineingezogen zu werden. Dabei werfen beide Filme zugleich einen ungeschönten, enthüllenden Blick auf das Leben in Watts, das von Figuren bevölkert ist, die mit ihrem Dasein ebenso wie um die Sicherung ihrer Existenz jeden Tag aufs Neue zu kämpfen haben. In ihrer stillen Beobachtung dieses alltäglichen Kampfes in Watts zeichnen sie zugleich eine ur- bane Welt, die von Widersprüchlichkeiten und Mehrdeutigkeiten gekennzeichnet ist, die sich jeder einfachen Zuschreibung entzieht und in welcher Hoffnung und Verzweiflung unmittelbar nebeneinander existieren. Das Los Angeles von Killer of Sheep und Bless Their Little Hearts ist, wie beide Filme bereits in den ersten Minuten verdeutlichen, weit entfernt von jenem Los Angeles, das Thom Andersen in seinem filmischen Essay einmal als «the most photographed city in the world» bezeichnet hat. Im Gegenteil, sie zeichnen einen in sich geschlossenen und von klaren Grenzen markierten urbanen Mikrokosmos, in dem das Außen beinahe vollkommen ausgeblendet wird, ja in dem die andere Stadt Los Angeles kaum zu existieren scheint. Dabei ist die Abriegelung dieses urbanen Raums von seiner städtischen Umwelt, die jenseits seiner physischen Grenzen und symbolischen Demarkierungen liegt, nicht allein signifikant in Hinblick auf die re- duzierte Ästhetik beider Filme. Vielmehr lässt diese Abriegelung und Abschließung des urbanen Raums zugleich einen komplexen urbanen Mikrokosmos entstehen, in welchem das Auditive und das Taktile immer wieder in den Vordergrund treten. Denn in dem Maße, in welchem die urbane Welt außerhalb von Watts unsichtbar und unerreichbar für ihre Bewohner bleibt, wird ihr eigener, in sich abgeschlos- sener urbaner Mikrokosmos zu einem Ort, der durch eine Hypersensitivität der Sinne gekennzeichnet ist. Unter den Händen der Kinder, die unablässig auf den verlassenen Baustellen, auf den Dächern leerstehender Häuser und auf abgelegenen Bahngleisen spielen, wird der urbane Raum zu einem taktilen Raum, der über das Greifen und Ergreifen erschlossen wird, während sich die Welt der Erwachsenen vielmehr auf einer auditiven Ebene artikuliert, die eine bereits vergangene musika- lische Epoche des Jazz, Blues und Gospel heraufbeschwört. In ihrem Artikel «Shot in Watts» hat Cynthia A. Young die Differenz zwischen den Blaxploitationfilmen und den Filmen der L.A. Rebellion treffenderweise mit 22 So verfasste Charles Burnett beispielsweise das Skript zu Bless Their Little Hearts und führ- te dort die Kamera, während er den um einige Jahre jüngeren Billy Woodberry zugleich mit den Schauspielern von Killer of Sheep bekanntmachte, was dazu führte, dass etwa Kaycee Moore in beiden Filmen als weibliche Protagonistin erscheint. 48 Laura Frahm einer musikalischen Analogie belegt, indem sie die Spannung hervorhebt zwischen «Motown sound’s warm, soothing tones»23, welche für die Blaxploitationfilme cha- rakteristisch sind, und Stücken wie Marvin Gayes einflussreichem «Brother, What’s Happening?», das die Unsicherheiten und Fragen einer ganzen Epoche in sich birgt und auf sensible Weise die sozialen Problematiken der afro-amerikanischen Be- völkerung in den ausgehenden 1960er- und frühen 1970er-Jahren anspricht. Mehr noch, während sich die Motown Soundtracks der Blaxploitationfilme, wie Young schreibt, als «deliberately apolitical hits via a musical assembly line of songwriters, studio musicians, etiquette coaches, and choreographers»24 begreifen lassen, so ver- bindet sich Marvin Gayes «Brother, What’s Happening?» mit einem neuen poli- tischen Bewusstsein bzw. mit einer politischen Sensibilität, die sich auch auf die Filme der L.A. Rebellion und ihr kritisches urbanes Kino übertragen lässt. Die Kritik des Urbanen artikuliert sich folglich nicht allein in jenen Bildern eines desolaten und heruntergekommenen städtischen Raums, in dem die Zeit stillzuste- hen scheint, sondern zugleich im kritischen Potenzial der Soundtracks, die von ei- ner besonderen politisch-historischen Komplexität gekennzeichnet sind. In ihnen zeigt sich eine äußerst vielschichtige auditive Wahrnehmung des urbanen Raums, die weit über das punktuelle Einspielen einzelner Musikstücke hinausgeht und die Paula Massood mit Blick auf den experimentellen Soundtrack von Bush Mama als eine komplexe Überlagerung unterschiedlicher, dissonanter Klänge im urbanen Raum, und mehr noch, als ein «jangling amalgam of urban sound» beschrieben hat, das sich im Verlauf des Films zunehmend zu einer «multiplicity of noises on top of each other in a near-deafening urban heteroglossia»25 steigert. Demgegenüber zeigt sich in Filmen wie Killer of Sheep und Bless Their Little Hearts ein weitaus reduzierterer, subtilerer Umgang mit dem Soundtrack. Weite Teile dieser beiden Filme sind allein von den vielfältigen Hintergrundge- räuschen im urbanen Raum bestimmt: vorbeifahrende Autos, Züge in der Ferne, laut argumentierende Nachbarn und nicht zuletzt das Klappern und Rufen der spielenden Kinder – Geräusche, die gerade aufgrund der Reduziertheit der urba- nen Bilder immer wieder in den Vordergrund treten und dem Leben in diesem urbanen Mikrokosmos einen ebenso vielschichtigen wie stetigen Grundrhythmus verleihen. Mehr noch, inmitten dieses so umfassend auf auditive Wahrnehmungen eingestellten urbanen Raums lassen sie zugleich ein ganzes Panorama der Jazz-, Blues- und Gospeltradition der 1940er- und 1950er-Jahre entstehen, das sich in Killer of Sheep von Paul Robesons The House I Live In (1947) zu Lowell Fulsons It’s All Your Fault Baby (1956) bis hin zu Dinah Washingtons unvergesslichem This Bitter Earth (1959) erstreckt, während Bless Their Little Hearts in einem von 23 Cynthia A. Young: Shot in Watts. In: Dies.: Soul Power: Culture, Radicalism, and the Making of a U.S. Third World Left. Durham/London 2006, S. 209–244, hier S. 212. 24 Ebd., S. 210. 25 Massood, S. 111. ‹A Moment of Radical Thought› 49 Archie Shepp, dem politisch aktiven und einflussreichen Jazz-Saxophonisten, mit eigenen Stücken arrangierten Soundtrack sowie Little Esther Phillips’ denkwürdi- ger Blues-Performance von Lost in a Dream (1950) ein ebenso dichtes Panorama afro-amerikanischer Musik heraufbeschwört, das sich untrennbar in die urbane Welt von Watts einschreibt und wiederholt das gesamte Geschehen absorbiert. Clyde Taylor hat das Verhältnis zwischen Musik und Handlung in den Filmen der L.A. Rebellion einmal als eine «relation of guitar accompaniment to sung blues»26 beschrieben, bei dem die Musik das Geschehen kontinuierlich kommentiert, wäh- rend sie die Filme zugleich in eine andere Zeit hineinversetzt, die sie zu einer «time capsule and a timeless, humanist ode to urban existence»27 werden lässt. Und in der Tat ließe sich die filmische Struktur von Bless Their Little Hearts und Killer of Sheep, die Cynthia Young als eine «series of nonlinear vignettes»28 charakteri- siert hat, mit einer musikalischen Struktur in Verbindung bringen, welche diese beiden Filme, wie auch die Los Angeles-Filme der L.A. Rebellion insgesamt, zu einer Serie filmischer Variationen von Jazz, Blues und Gospel werden lässt.29 Greift man die zu Beginn gestellte Frage nach den «unsichtbaren Städten» der L.A. Rebellion erneut auf, so lässt sich die offene Struktur einzelner filmischer Vi- gnetten, welche die Filme der Gruppe charakterisiert, jedoch auch mit einem an- deren, zweiten Argument verbinden. Denn indem diese Filme vielmehr aus einer Reihe von Eindrücken, Situationen und Zuständen bestehen, als einer eindeuti- gen, linearen Handlung zu folgen, erschaffen sie zugleich einen urbanen Raum, der Fragen offen lässt, der Fragen aufwirft und zu keinem Zeitpunkt eindeutig oder gar klar zuschreibbar erscheint. Weit davon entfernt, jene stetig zirkulierenden und überdeterminierten Bilder der Metropole aufzurufen, die nicht allein in den Filmen Hollywoods, sondern gerade auch in den Blaxploitationfilmen der Zeit zu finden sind, und die ein scheinbar eindeutiges, flaches Bild der Metropole zeichnen, zeigt sich das Los Angeles der L.A. Rebellion als ein dichter, tiefer und vielschichtiger urbaner Raum, während der Kernpunkt ihrer Filme darin liegt, keine eindeuti- ge Lösungen anzubieten, sondern vielmehr auf soziale Probleme aufmerksam zu machen, und, wie Teshome Gabriel in einem Gespräch mit Clyde Taylor erwähnt hat, die Komplexitäten der afro-amerikanischen Geschichte in den urbanen Raum hineinzuprojizieren30 und damit ‹ihren› Stadtteil Watts in seiner gesamten Wider- sprüchlichkeit auf die Leinwand zu bannen. 26 Taylor, S. 242. 27 Doug Cummings: Killer of Sheep. In: Shannon Kelley (Hg.): L.A. Rebellion: Creating a New Black Cinema, Los Angeles 2011, S. 24. 28 Young, S. 235. 29 Noch präsenter wird dies in Larry Clarks Passing Through (1977), einem der einflussreichsten Filme der L.A. Rebellion, der sich nicht allein mit der musikalischen Tradition der Central Avenue in Watts auseinandersetzt, sondern zugleich die filmische Struktur an der musikalischen Struktur des Jazz orientiert. David E. James schreibt etwa hierzu: «Passing Through attempts to translate the sonic properties of jazz into visual expression.» James, S. 325. 30 Vgl. Taylor, S. 233. Thomas Elsaesser Actions Have Consequences David Lynchs L.A.-Trilogie David Lynch und der Performative Selbstwiderspruch «You will never in a trillion years experience the film... you’ll be cheated. What a sadness that you think you’ve seen a film on your fucking telephone. Get real.» David Lynchs Tirade gegen den in seinen Augen groben Unfug, sich Filme auf dem Mobiltelefon anzusehen, hat als YouTube-Video über zwei Millionen Hits ver- bucht. Als Abspann sehen wir das iPhone-Logo.1 Ein Werbespot, also, verpackt als wüste Attacke auf das angeworbene Produkt. Was zunächst als Gag erscheint, hat Symptom-Wert: es verweist nicht nur auf die prekäre finanzielle Situation des Filmemachers, der seinen Namen zu Markt tragen muss, sondern kann als Emblem des ‹independent director› an sich gelten, dessen Außenseiter-Position die Großen der Branche nur noch stärker macht. Andererseits hat vielleicht doch Lynch die Lacher auf seiner Seite, denn er inszeniert einen perfor- mativen Widerspruch. Die offenbare Botschaft verkehrt sich, durch ein kleines «Re- framing» in ihr Gegenteil, und aus dem Überlagern zweier Möglichkeiten entsteht eine Art «Double bind», der beim Zuschauer als kognitive Dissonanz die Gedanken zum Vibrieren bringt. Und dieses Vibrieren ist Lynchs bester «special effect». Allgemeiner formuliert: David Lynch gehört neben einigen anderen Autorenfil- mern (ich denke insbesondere an Michael Haneke und Lars von Trier), zu den Regis- seuren, deren auktoriale Handschrift und kreative Autorität sich am prägnantesten dort manifestieren, wo es ihnen gelingt, sowohl innerhalb des Werks als auch in ihrer Selbstdarstellung in den Medien und der Öffentlichkeit, Momente des «perfor- mativen Selbstwiderspruchs» zu inszenieren. Ein performativer Selbstwiderspruch ist ein Begriff, der von den Philosophen Karl Otto Apel und Jürgen Habermas als Antwort auf die Sprechakttheorien von Austin und Searle formuliert wurde. Kurz gefasst begeht man einen performativen Selbstwiderspruch, wenn man eine Behaup- tung aufstellt, welche der Validität der Mittel, die gebraucht werden, um sie zu ma- chen, widerspricht, man also im Akt der Performanz der Behauptung sich selbst wi- derspricht. Bei einem performativen Selbstwiderspruch kommt es zu einem Konflikt zwischen der Sprechsituation und den Aussagen. Das bekannteste Beispiel hierfür findet man in den logischen und semantischen Paradoxien des griechischen Philo- 1 Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=wKiIroiCvZ0. Actions Have Consequences 51 sophen Epimenides, der – selbst ein Kreter – behauptete, dass «alle Kreter Lügner» seien, womit er zu dieser Behauptung im Selbstwiderspruch stand. Im Falle von David Lynch äußert der Regisseur sich zwar widersprüchlich aber dennoch glaubhaft zu den sich verändernden Bedingungen und gegenwärtigen Verwerfungen des Kinos. Mehr als irgendein anderer Filmemacher verkörpert er die heutigen Widersprüche, die das Internet, die Digitalisierung und der verschärf- te kommerzielle Druck (selbst für erfolgreiche Regisseure) mit sich gebracht haben. Er ist nicht nur der ewige Hollywood-Insider als Outsider und – als Apologet der Kunstform Kino – einer der bevorzugten Autorenfilmer des Festivals von Cannes, sondern gleichzeitig ein Regisseur der «Kunst des Realen», insbesondere was die genau lokalisierbaren Örtlichkeiten seiner Filme betrifft. Dabei hat er aber keine Scheu, sich der Technologien des Virtuellen zu bedienen. Ferner war Lynch im Ge- gensatz zu anderen cinephilen Regisseuren äußerst erfolgreich im Fernsehen tätig, wo er mit Twin Peaks vielleicht den Inbegriff der heute so hoch im Kurs stehenden Kult-Fernsehserien (beispielsweise von HBO) geschaffen hat. Doch auch mit dem Fernsehen hat er sich seither schwer getan und ist dort letztendlich gescheitert, be- denkt man, dass Inland Empire (wie auch Mulholland Drive) als Fernsehserie konzipiert war. Seit 2006 konzentriert Lynch sich mehr und mehr auf Online-Ak- tivitäten und Performances und bietet seine Musikkompositionen direkt auf seiner Website an. Trotz (oder gerade wegen) all dieser intermedialen Interferenzen, ist Lynch ein Film-auteur und kein Installationskünstler oder Performance Artist. Al- lerdings ist seine Präsenz am wenigsten in den Kinos selbst bemerkbar: seinen Fil- men sind selten große Kassenerfolge beschieden gewesen, sie werden kaum (noch) im Kino gezeigt und überleben hauptsächlich als DVDs/BDs – auch das nur an- scheinend ein Widerspruch, sind die Filme doch so komplex gebaut und erzählt, dass man nur durch mehrfaches Abspielen hoffen kann, die Handlung annähernd zu begreifen. Dies wiederum hat zur Folge, dass fast jeder, der im Netz über das ak- tuelle Kino schreibt, auch dezidierte Meinungen zu Lynch äußert, oder den Drang verspürt, etwas zur Debatte über die Eigentümlich keit seiner Person, das Unheim- liche an seiner «Religion» und das Rätselhafte seiner Filme beizutragen. Die L.A.-Trilogie Die von Lynchs Verehrern manchmal als «Sunshine Noir» bezeichneten Arbeiten Lost Highway, Mulholland Drive und Inland Empire werden oft auch sei- ne L.A.-Filme genannt. Dabei fällt erst einmal auf, wie wichtig das Konzept der ‹Trilogie› für Autorenfilmer zu sein scheint  – Bergmans so genannte Glaubens- trilogie, Satajit Rays Apu-Trilogie, Antonionis Verfremdungstrilogie, Fassbinders BRD-Trilogie, Lars von Triers Goldenes-Herz-Trilogie, Michael Hanekes Verglet- scherungstrilogie, Abbas Kiarostamis Kokertrilogie –, sodass das Etikett der «L.A.- Trilogie» Lynch auch mit den Attributen eines typischen europäischen Arthouse- oder Festivalr egisseurs würdigt, obwohl er doch ganz und gar US-amerikanisch 52 Thomas Elsaesser ist und ihn seine esoterisch-religiösen oder spirituellen Überzeugungen sogar zu einem typischen Südkalifornier machen, auch wenn er in Missoula, Montana zur Welt kam und in Philadelphia die Kunstakademie besuchte. In diesem Sinne besteht die L.A.-Trilogie nicht nur aus drei topographisch sehr präzise lokalisierbaren sondern auch äußerst reflexiven und immer wieder sich selbst befragenden Filmen. Ein «Meta-Kino» also, dessen biographische, auto- biographische, oder spirituelle Dimensionen allerdings weniger interessieren, als die – ihre postmoderne Rückbezüglichkeit noch steigernden – Aspekte des Selbst- widerspruchs. Als solche ist die L.A.-Trilogie Teil einer Tendenz im zeitgenössi- schen Film, die unter den Begriff des Mind-Game-Film fällt – ein (Pseudo-)Genre auf das noch zurückzukommen ist. Zuvor soll Lynch aber für sich selbst sprechen, hier in einem seiner regelmäßig gewährten aber auf den ersten Blick selten erhel- lenden Interviews. Darin argumentiert er, dass seine Filme – soweit es ihn selbst angehe – von «Ideen» (und nicht von Bildern oder Geschichten) handeln und – was das Publikum betrifft – es um Erfahrungen und die Sinne (und nicht um Verstehen oder Sinn) gehen sollte. Insbesondere weigere er sich, seine Figuren oder deren Situation zu erklären, damit die «Ideen», die ihm zufliegen – er macht eine flattern- de Hand bewegung: wie Schwalben – ehe sie sich seiner bemächtigen, im Medium «Film» nisten, um ihm den Sinn zu entziehen und so beim Zuschauer zur reinen «Erfahrung» werden.2 Dennoch ergibt sich die Frage: Was sind diese Ideen? Beginnen wir mit der offensichtl ichsten Art der Reflexivität: Man kann Lynchs Filmarbeit als ein konti- nuierliches Labor für Experimente am Material Kinofiktion und ein Nachdenken über dessen narrative Formen verstehen: Eraserhead war Lynchs erstes bewusstes Experiment (das sein Interesse am Surrealismus und der europäischen Avantgarde bewies). Doch auch sein eher konventioneller Film The Straight Story und der kommerzielle Flop Dune wurden als Experiment wahrgenommen (und haben ihre Bewunderer): eine Lust am Film als Hypothese, als «was wäre wenn», die dann mit der L.A.-Trilogie und deren über-experimentellen Abschluss Inland Empire ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Andererseits passt seine Experimentier- und Risikofreudigkeit auch zu dem Segment Hollywoods, das mit Genres spielt, wobei Lynch (als Insider, der zugleich Outsider ist) die Mode weiterführt, verschiedene sich scheinbar widersprechende Genrekonventionen zu vermischen und das Hy- bride fruchtbar zu machen: Lynch versteht sich auf Horror, Thriller, Melodrama, wie er auch die diversen Noir-Genres (Sunshine-Noir, Neo-Noir, Meta-Noir, etc.) bereichert und unterwandert hat. Damit ist es ihm gelungen, in einer Art und Wei- se über das Kino mit und innerhalb des Kinos nachzudenken, ohne den Nährbo- den des populären und – damit einhergehend – universell verständlichen Kinos ganz zu verlassen. Lynch ist ein Regisseur, der die Aufmerksamkeit des Publikums einfängt, weil seine Unverständlichkeit immer so verlockend nahe an der Wieder- 2 Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=QssleSenCz8. Actions Have Consequences 53 Erkennbarkeit bleibt und seine Unheimlichkeit stets auch etwas Vertrautes hat, das sogar die ältesten Kino- und Genreklischees neu beleben kann. Man versteht ihn nicht auf Anhieb (wenn überhaupt), aber man spürt, er ist irgendeiner (Gefühls-) Wahrheit und (Wahrnehmungs-) Evidenz ganz dicht auf der Spur. Dabei kommt Lynch zugute, dass seine L.A.-Filme jede Menge Anspielungen auf Hollywood selbst enthalten. Sie folgen ebenfalls einer alten Hollywood-Tradi- tion, bei der die Traumfabrik schon immer einen recht zynischen Blick auf sich selbst geworfen hat (bekannte Beispiele wären Billy Wilders Sunset Boulevard, Vincente Minnellis The Bad and the Beautiful, Robert Altmans The Player, oder Barton Fink der Coen Brothers). Hollywood feiert sich gern, indem es sich entlarvt: auch das ein Selbstwiderspruch, der ganz nah unter der Oberfläche liegt. Es wird spürbar, dass Lynch bestens mit den Gerüchten, Skandalen und offenen Geheimnissen Hollywoods vertraut und sehr wohl in der Lage ist, einen laufenden Kommentar zu den Büchern und Publikationen über die Filmkolonie zu liefern. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an Arbeiten wie Kenneth Angers Hol- lywood Babylon, David Thomsons Beneath Mulholland, Daniel Fuchs The Golden West, Peter Biskinds Easy Riders and Raging Bulls, nicht zu vergessen die Klassiker von Scott Fitzgerald (The Last Tycoon, The Great Gatsby) und Nathanael West (Day of the Locust). «Los Angeles isn’t a real city, it just plays one for the camera» lautet ein bekannter Witz, und tatsächlich bleibt die Stadt das wohl verlässlichste Symbol schreiender Kontraste und extremster Widersprüche wenn es darum geht, das Zusammenleben der Menschen im urbanen Raum unter den Bedingungen des Spätkapitalismus und dem permanenten Medien konsum zu charakterisieren: «Damaged souls and flaw- less weather, canyon love and beach city menace, homeboys and credit card girls, freeways and fedoras, power lines and palm trees.»3 Andere sehen Los Angeles als die Stadt, die uns unsere Zukunft schon heute vorspielt, während ein Soziologe wie Mike Davis akribisch nachweist,4 dass das ewige Gerede von «Traumfabrik», «Stadt der Illusionen» oder «Boulevard der zerbrochenen Träume» und selbst die farbi- gen Widersprüche nur kitschige Schönfärberei sind, denn sie verbergen die harte historische Wahrheit einer Stadt, die schon immer von Grundstücksspekulation, Ausbeutung von Bodenschätzen und Billig-Arbeitern, von der Rüstungsindustrie und Militärkontrakten gelebt hat, und es deshalb sehr wohl versteht, Illusion und Realität auseinander zu halten. Im gleichen Tenor einer «Abrechnung» mit dem Mythos Los Angeles hat Thom Anderson die Filmarchive durchforstet und mit Los Angeles Plays Itself (2003) einen Kompilationsfilm vorgestellt, dessen bitterböser Kommentar wiederum stark 3 So leitete 2008 die Los Angeles Times einen Artikel zu den 25 markantesten Filmen ein, die im letz- ten Vierteljahrhundert ihre Stadt zum Schauplatz hat. Vgl. http://articles.latimes.com/2008/aug/31/ entertainment/ca-25films31/3. 4 Vgl. Mike Davis: City of Quartz: Excavating the Future in Los Angeles. New York 1990. 54 Thomas Elsaesser mit dem Reiz und Glamour der Filmausschnitte im Clinch und Widerspruch liegt, also selbst in der Demontage an einem Feiern der Stadt fast nicht vorbeikommt. Anderson dokumentiert den touristischen Blick auf Los Angeles, dem die meisten Filme Vorschub leisten – vor allem wenn sie sich mit düsteren Gestalten befassen –, und kontrastiert ihn mit dem tatsächlichen Verschwinden jeglichen öffentlichen Raums im Zuge der Privatisierung und Corporatisierung der Stadt, insbesondere des Downtown Los Angeles, für das stellvertretend die Gegend um Bunker Hill steht, deren sozialen Niedergang und Wiederaufstieg als postmoderne Beton- und Glaswüste er dennoch anhand seiner Ausschnitte über drei Jahrzehnte hinweg sehr plastisch nachzeichnen kann. Anderson stützt sich dabei auf eine andere bekannte Studie von Los Angeles, Norman Kleins The History of Forgetting: Los Angeles and the Erasure of Memory (1997), die ebenfalls aufzeigt, wie sich die Stadt immer neu erfindet, indem sie alle Zeichen einer Geschichtlichkeit zu tilgen und zu eliminieren sucht. Los Angeles behandelt sich selbst wie einen Filmset, den man willkürlich aufbauen und wieder abreißen kann, ohne sich um etwas anderes als die perfekten Bilder, die man nun für alle Ewigkeit aufbewahren und der Fantasie der Zuschauer anheimstellen kann, zu kümmern. Klein hat damals auch eine sehr schöne CD-Rom produziert, die his- torische Straßenzüge und Bauten über die Jahrzehnte hinweg fließend ineinander übergehen ließ, also die Mittel der Fotografie und Techniken des Kinos nutzte, um ein Pamphlet gegen die Vergesslichkeit Hollywoods zu verfassen. Im Gegensatz dazu sprechen andere Kritiker von einem «Begräbnis», das Los Angeles seiner eige- nen Geschichte im Kino stiftet, wobei nicht sicher ist, ob die Toten zur Ruhe kom- men, oder, als Psychopathen wiedergeboren, aus ihren Gräbern steigen. Matthew Reynolds zum Beispiel widmet sich Lynchs Lost Highway, um zu zeigen, wie der Film Teile der Topographie der Stadt zur Seelentopographie seiner Protagonisten macht, und anhand der sich verändernden Straßenecken und Wahrzeichen die zer- fallenden Identitäten und psychotischen Verwerfungen einiger typischer Stadtbe- wohner aufzeichnet: «Lynch’s film is a tool for understanding the way in which the city and subjectiv- ity are constantly engaged in a dialogue which always determines but never settles identity. But I will attempt to go beyond a formal analysis of the film by juxtaposing Lost Highway with a number of L.A. cultural markers. […] Using recent cultural and urban theory, I will illustrate the manner in which the notion of a constant, radical shifting of subjectivity asserts itself through all levels of existence in Los Angeles. Change and transformation, here more than anywhere else, are the raison d’être of life. And this uneasy sense of both place and subjectivity asserts itself in the city’s history, geography, industry, architecture, art, and film.»5 5 Matthew Reynolds: Rolling Down the Lost Highway: Los Angeles and the Arrival of Identity. In: Mo- dernity: Critiques of Visual Culture 2, 2000. http://www.eiu.edu/~modernity/modernity-1999.html. Actions Have Consequences 55 Diese Verbindung von Urbanismus und Psychopathologie, der Sigmund Freud schon im Blick auf seine Heimatstadt Wien im «Alltagsleben» um 1900 nachgespürt hat, wird mich auch im Folgenden beschäftigen. Denn obwohl bei fast allen L.A.- Filmen die immer wiederkehrenden Motivketten der Täuschung, Selbsttäuschung und Enttäuschung oder die Gegen überstellungen von Wachtraum und Alptraum, von grenzenloser Selbstü berschätzung, konterkariert von ebenso ausuferndem Selbstmitleid, auch bei Lynchs Personen kaum zu vermeiden ist, sollen vor allem seine anderen Versuche einer Reflexivität auf Stadt, Kino und Subjektivität heraus- gearbeitet werden. Wie schon angedeutet, sehe ich Lynch als Vorläufer und Vertreter des Mind-Game-Film, eines Typus Film, der von The Usual Suspects und Fight Club, von Memento und Donnie Darko, von The Sixth Sense und Vanilla Sky bis zu Being John Malkovich und Eternal Sunshine of the Spotless Mind reicht, und sowohl die Form des Blockbuster (Inception) als auch die des Indepen- dent movie (Through a Scanner Darkly) annehmen kann. Neben dem konsti- tutiven ontologischen Unbehagen an der Konsistenz unserer Wirklichkeit und dem (Selbst-) Zweifel an unserer sinnlichen Wahrnehmung, die sich im Mind-Game-Film in Aspekten der Narration, wie plötzlichem Perspektivwechsel, nicht-linearer Zeit, dem Aufheben von Kausalbezügen und allen erdenklichen psychosomatischen Sym- ptomen (Paranoia, Schizophrenie, Autismus, Amnesie) der Protagonisten manifes- tieren, handeln Mind-Game-Filme auch von der sich im Zeitalter des Internets ge- änderten Produktionslogik Hollywoods. Diese wiederum antwortet auf veränderte Rezeptions haltungen, Sehgewohnheiten und Erwartungen beim Zuschauer. Daraus sind Filmformen entstanden, die die Aufmerksamkeit, Intelligenz, Assoziations- und Konzentrationsfähigkeit des Rezipienten besonders stark herausfordern. Die Tatsa- che, dass Mind-Game-Filme oft die Handschrift eines profilierten Regisseurs tragen, lädt dazu ein, Lynchs Mind-Game-Meta-Kino als eine Selbstallegorie seiner Autor- schaft zu lesen; eine, die sich u.a. als Performanz des Selbstwiderspruchs manifestiert. Diese Schlussfolgerung ist nicht selbstverständlich. Lynchs L.A.-Trilogie und insbesondere Lost Highway und Mulholland Drive haben eine fast unüber- schaubare Flut an Kommentaren ausgelöst, im Internet ebenso wie als beliebtes Essay-Thema für Filmstudenten. Dabei kann man bestimmte Interpretationsmus- ter ausmachen, meistens im Zusammenhang mit vier sich ergänzenden Argumen- tationslinien: Besonders auffällig ist für alle Kommentatoren das wiederkehrende Motiv psychotischer Protagonisten und gespaltener Persönlichkeiten; zweitens, komplexe narrative Strukturen, verwirrende Zeitstrukturen und Möbiusbänder; drittens, die verschiedenen Arten intertextueller Verweise: als Filmzitate aus dem klassischen Hollywood der 1940er-Jahre und des B-Picture Noir Genre; Intertex- tualität als Hollywoods Hommage an das europäische Kino et vice-versa; und In- tertextualität als Film-Kritik am Fernsehen: das ad absurdum geführte Sitcom- und Serien-Format, wobei auch deren komische und befremdliche Eigenheiten zeleb- riert werden (z.B. The Rabbits in Inland Empire); nicht zuletzt hat auch die ok- kulte oder spirituelle Dimension von Lynchs Werk die Interpreten angezogen, die 56 Thomas Elsaesser in seinen Filmen codierte Botschaften über transzendentale Meditation entdeckt haben und die L.A.-Trilogie sogar als eine Art Göttliche Komödie oder Offenbarung des Johannes verstehen.6 Trotz sich oft widersprechender Deutungen gibt es den allgemeinen Konsens, dass Inland Empire der komplexeste, vielleicht aber auch der zukunftsträchtigste Film der Trilogie ist, was mich zu weiteren Spekulationen über Lynchs Mind-Game- Mentalität gereizt hat. Im Folgenden versuche ich, einige der labyrinthischen Ver- wicklungen des «Plots», so wie ich ihn verstehe, zu entwirren, bzw. deren hinter- gründige Logik zu entschlüsseln. Einerseits ist das natürlich ein Nonsens, bedenkt man, dass Lynch kein vom Plot motivierter Filmemacher ist, und er seine Filme eher als Behälter oder Kapseln versteht, die bei der Projektion aufbrechen, und de- ren Inhalt sich dann wie Blütenstaub oder Samen verbreitet. Nichts ist ihm fer- ner als eine Geschichte, die sich sequen tiell entwickelt, und deren Handlung sich schrittweise von Ursache zur Wirkung bewegt. Andererseits gibt es in Lynchs Fil- men sehr wohl Motive, Täter, Opfer und Vorgänge, die mit einander verknüpft sind, die Konsequenzen haben und sich zu Handlungss trängen und wiederkehrenden Mustern kombinieren – allerdings ohne sich auf die klassischen Einheiten von Ort, Zeit und Handlung zu beschränken. Es lohnt deshalb, diese Erzählstränge einzeln zu untersuchen und zu spekulie- ren, wie sie zusammenhängen, wie sie sich überlagern und miteinander kommuni- zieren. Zumeist brechen sie abrupt ab und sind so geschichtet, dass sie sich in der Thematik spiegeln und im Zeitverlauf verdoppeln, während sie – zeitversetzt – et- was vorwegnehmen und gleichzeitig ihre eigene Vergangenheit in quasi traumati- schem Wiederholungszwang immer wieder inszenieren, wenn auch als Thema mit Variationen und über sich immer wieder neu zusammensetzenden Personenkon- stellationen. Die Stränge sind letztlich alle um einige wenige Motive organisiert, so z.B. Liebes- und Sexbeziehungen, eheliche Untreue und Prostitution, die wie- derum – sieht man sie unter dem Aspekt sexueller Abhängigkeit, psychologischer Macht und ökonomischer Ausbeutung – einander den Spiegel vorhalten, und des- halb die Motivketten nochmals komprimieren. Inland Empire handelt von der Möchtegern- beziehungsweise Comeback- Schauspielerin Nikki Grace (Laura Dern), die mit einem reichen und pathologisch eifersüchtigen polnischen Ehemann verheiratet ist (Peter J. Lucas, der auch Smithy, Susan Blues Ehemann spielt) und in einem goldenen Käfig, d.h. einer üppigen Villa in L.A., lebt. Nikki soll im Film On High in Blue Tomorrows Susan Blue spielen. Ihr Filmpartner ist Devon Berk (Justin Theroux), ein Schauspieler, der dafür be- kannt ist, seine weiblichen Co-Stars zu verführen. On High in Blue Tomorrows ist die Verfilmung einer Zigeuner-Geschichte, auf der ein Fluch zu liegen scheint: Bei einer früheren Verfilmung sind die Darsteller ums Leben gekommen, weil die Protagonisten gezwungen waren, Handlungen, die sie für die Kamera spielten, auch 6 Siehe u.a. Michael T. Lidstone: David Lynch’s INLAND EMPIRE Explained. Actions Have Consequences 57 im echten Leben durch zuführen. Daraus ergibt sich als Leitmotiv neben dem Wie- derholungszwang das konstante Springen in und aus der Rolle, ohne dass dies dem Zuschauer signalisiert wird. Man verliert sehr bald den Überblick, was Film-im- Film ist und was ‹nur› Realität innerhalb des Films ist. Getreu dem Fluch hat Nikki als Susan Blue (ihr Film-im-Film-Charakter) eine außer eheliche Affäre mit Billy Side (gespielt von Devon Berk/Justin Theroux), der auch in einem palastartigen Haus wohnt und mit Doris (Julia Ormond) verheiratet ist, die zu einem bestimmten Punkt behauptet, hypnotisiert worden zu sein, und den Auftrag hat, jemanden mit einem Schraubenzieher umzubringen. Die Affäre scheint auch das Schlimmste in Susan Blue hervorzubringen: sie verwandelt sich in eine seelisch und körperlich misshandelte, teils vulgäre, teils raffinierte und gewitz- te «Schlampe», die einer zwielichtigen Gestalt namens Mr. K, der Privatdetektiv, Psychiater oder Rabbiner sein könnte und in einem nur über eine schmale, steile Treppe zu erreichenden, schäbigen Büro über einem Kino haust, schmutzige Sex-, Gewalt- und Drogengeschichten gesteht. Warum Susan mit ihm spricht und welche Verbindung dieser eher abstoßende Typ zu den anderen nicht minder fragwürdigen Männern hat, bleibt unerklärt. Da der Part aber wie der des Privatdetektivs aus The Maltese Falcon, Chinatown oder L.A. Confidential gespielt wird, benötigt seine Präsenz ohnehin wenig wei- tere Erklärung: er ist ein Filmzitat, wobei das Klischee dadurch an Authentizität ge- winnt, dass Lynch ihn noch einige Grade schmuddeliger macht als seine Vorbilder. Trotz der bis zur Ungereimtheit lockeren Verknüpfung dieser Erzählstränge ha- ben sie alle strukturelle Ähnlichkeiten in Form von Vorgeschichten und Fortsetzun- gen, die wiederum von so etwas wie einer Rahmenhandlung zusammengehalten werden: diese spielt in einer winterlichen polnischen Stadt in der Gegenwart und hat das Lost Girl (Karolina Gruzska) und den Phantom Man (Krysztof Majchrzak) als Protagonisten. Eine weitere, ebenfalls in Polen, allerdings in der Vergangenheit angesiedelte Episode, die als Rahmen fungiert, handelt von einem anderen Paar, das allerdings von den gleichen Schauspielern verkörpert wird. In Los Angeles kon- zentriert sich ein großer Teil der Handlung auf das Remake eines deutschen Films, dessen Original durch den Fluch nie beendet wurde. Die größeren strukturellen Symmetrien werden dadurch bestimmt, dass in jedem der Stränge ein Geliebter vom eifersüchtigen Partner des Anderen ermordet wird, wobei die Geschlechter- rollen vertauscht werden. Diese internen Rahmenerzählungen sind durch die Lost- Girl-Sequenz gerahmt. Eine junge Frau sitzt weinend vor dem Fernseher und sieht sich (zukünftige) Szenen desselben Films an, dessen Zuschauer wir gerade sind, während ihr Zuhälter, Liebhaber oder Schlepper, der sie in dem Zimmer mit dem Fernseher gefangen hält, in Nikkis Leben als Phantom Man auftaucht. Er zieht die Stränge in mehreren der Sub-Plots und ist die clownhaft-gefährliche Version mas- kuliner Autorität und Willkür, wie sie als Mystery Man (Lost Highway), als The Cowboy (Mulholland Drive), als Frank Booth (Blue Velvet) oder als eine Art Übervater («Mr Eddy», Lost Highway) in Lynchs Filmen immer wieder auftaucht. 58 Thomas Elsaesser Melancholische Weiblichkeit / Weibliche Depression (Slavoj Zizek, Michel Chion) Kritiker reden viel von Lynchs Frauenfeindlichkeit und wie er seine weiblichen Darsteller oft quält und foltert: es sind Vorwürfe, die Lynch mit Lars von Trier teilt. Die New Yorker Filmkritikerin Amy Tobin findet harte Worte zu Lynchs «äußerst plumpe[n] und brutale[n] Fantasien der Frauenfeindlichkeit (in Form und Inhalt)»; Jonathan Rosenbaum spricht von «Designer Porno» räumt dabei jedoch ein, dass Inland Empire einer Lynchschen Obsession folgend, zwar «full of good und bad girls» ist, Lynch dem Ganzen aber «eine interessante Wendung» gibt, indem er die meisten von der gleichen Schauspielerin spielen lässt.7 Andererseits nehmen einige Feministinnen Lynch in Schutz und argumentieren, dass vor allem Mulholland Drive und Inland Empire eigentlich keine Geschichten von weiblicher Degra- dierung, Schizophrenie oder bipolaren Störungen seien, sondern sich als Parabeln weiblicher Selbst-Findung und empowerment lesen lassen: «Obsessive-destructive desire, fantasmatic projections and paranoid-schizoid split- tings of the female love-object into virgin/whore, ideal/nightmare pairs are central thematic concerns in Lost Highway, Mulholland Drive and Inland Empire. However, Lynch not only orchestrates but in fact deconstructs these clichéd represen- tations of women on the levels of content, form and narrative. While both Fred Madi- son in Lost Highway and Diane Selwyn in Mulholland Drive fail to obliterate their obsessions because they remain caught in a network of false fantasmatic con- ceptions, Nikki Grace in Inland Empire is able to liberate herself from the dark male forces who exercise power over her. Nikki thus also frees herself from the curse of binary male projections: in the beginning she is the embodiment of the ideal, the glo- rious movie star, while Sue Blue (her film-within-the-film character) is the ultimate incarnation of the male nightmare – the castrating, violent and abused white trash female. Nikki transcends both categories, she undoes the false split; in the end she is neither one nor the other but simply herself. Inland Empire is thus Lynch’s most explicitly feminist movie in this trilogy on the fatal dynamics of binary thinking.»8 Eine der ausführlichsten Analysen der Rolle und des Status von Frauen in Lynchs Filmen stammt von Slavoj Zizek, der – auf einigen Bemerkungen Michel Chions aufbauend – eine weitreichende Hypothese kausaler Inversion entwickelt hat, die weibliche Melancholie in den Fokus nimmt: «At the centre of Blue Velvet (and of Lynch’s entire oeuvre) lies the enigma of woman’s depression»9, betont Zizek, ein 7 Vgl. Jonathan Rosenbaum. Hollywood from the Fringes. 2007. http://www.jonathanrosenbaum. net/2007/01/hollywood-from-the-fringes/. 8 Anna Katharina Schaffner: Fantasmatic Splittings and Destructive Desires: Lynch’s Lost Highway, Mulholland Drive and Inland Empire. In: Forum for Modern Language Studies 45:3, 2009, S. 270– 291. 9 Slavoj Žižek: David Lynch, or, the Feminine Depression. In: Ders. The Metastases of Enjoyment: Six Essays on Women and Causality. New York 2005, S. 113–136 (Zitat im Text: 119). Actions Have Consequences 59 Zustand, der besonders dann provoziert, wenn es darum geht, dass der Mann, seine Impotenz als Verlangen ausgibt; Reaktion muss sich als Aktion tarnen, Kastrations- angst wird zur Macho-Gewalt. Zizeks Analyse stützt sich auf Jacques Lacans The- se, dass eine Frau die Funktion des Mannes sei und umgekehrt, der Mann sich nur über die Frau seiner selbst vergewissern kann. Die Tragik der Geschlechter ist, dass beide sich zur Bildung ihrer Identität und Selbstkonsistenz jeweils vergeblich auf den/die Andere(n) verlassen müssen. Dem gibt Zizek eine weitere Wendung, indem er Depression als das Gravitations zentrum positioniert, das die männli- chen und weiblichen Beziehungen radikalisiert sowie das Kräftegleichgewicht zu Gunsten der Frau verschiebt. In gewisser Weise unterstützt Zizeks Lesart (seine Beispiele sind vor allem Blue Velvet und Wild at Heart) damit Anna Katharina Schaffners emanzipatorisches Argument zu Lynchs Filmen, die dann eher ein post- feministisches Kräftefeld der Beziehungen skizzieren würden als dass sie den alten Macho-Mythos bedienen oder neu beleben würden. Inland Empire kann in der Tat so verstanden werden, als läge der Erzählung die Tragödie einer tief verstörten Frau zugrunde, was auch der Untertitel des Films «A Woman in Trouble» unterstützt. Denn obwohl viele Lynchsche Motive sadisti- scher männlicher Macht gegenwärtig sind, werden die Gewaltfantasien hier anders umgesetzt; es gibt zwar auch in Inland Empire die üblichen brutalen Männer mit dem genießenden Über-Ich (wie Frank Booth in Blue Velvet (1986), Bobby Peru in Wild at Heart (1990), oder Mr. Eddy in Lost Highway), doch ihre Gewalt ist so performativ und hysterisch angelegt, dass sie nun als manipulierend und gleich- zeitig defensiv-reagierend erscheint, was es Lynch erlaubt, die Labilität männlicher Macht zu unterstreichen. Was Nikki/Sue jedoch von den anderen Frauen im Mit- telpunkt früherer Filme wie Dorothy Vallens (Blue Velvet), Laura Palmer (Twin Peaks) und Renee Madison/Alice Wakefield (Lost Highway) unterscheidet, ist, dass ihre Depression nicht von einem pathologisch-paranoiden Mann her rührt. Sie sucht für ihre seelische Qualen einen eigenen mysteriösen Rettungsweg, indem sie ihre verschiedenen Rollen oder Fantasien im Lacanschen Sinne ‹durchquert›, d.h. bis zum bitteren Ende ausagiert und performativ verkörpert. Einer der Schlüs- selpunkte in Zizeks Argument ist neben der wechselseitigen Dynamik zwischen männlich und weiblich, und dem therapeutischen «Durcharbeiten» der Fantasien im Rollenspiel, auch als Folge weiblicher Depression die abweichende Artikulation von Zeit und Kausalität. Nikkis Fall wird zum Paradebeispiel Freudscher Nachträg- lichkeit: Ursache und Wirkung tauschen die Plätze, wobei weibliche Depression erst das schwarze Loch schafft, das im Nach hinein allen möglichen männlichen Akteuren den Magnet und Antrieb liefert, sich aus ihrer eigenen Starre zu lösen und Tatendrang oder Handlungsmacht an sich zu ziehen. 60 Thomas Elsaesser Komplexe Erzählung Mit anderen Worten berührt «A Woman in Trouble» auch das, was diesem Essay den Titel gibt, nämlich «Actions Have Consequences». Ehe ich auf die Sequenz, in der dieser Satz zuerst auftaucht, näher eingehe, sei noch einmal daran erinnert, worum es mir geht. Inland Empire gehört wie Lost Highway und Mulholland Drive zu einem Typus oder Genre von Filmen, die mit der Grundregel brechen, dass eine Erzählung einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben muss. Wie schon ausgeführt, sind in Lynchs Filmen die Erzählstränge äußerst fragmentiert, was sie allerdings anschlussfähiger und kombinierb arer macht. Handlungen können gleichzeitig an zwei Orten spielen, Geschichten beginnen in der Mitte, Personen spalten oder verdoppeln sich, Szenen sind aus jeder denkbaren chronologischen Reihenfolge herausgebrochen und können dem Zuschauer sogar in rückläufiger Weise präsentiert werden, selbst was Teile des Dialogs betrifft. In der mittlerweile berüchtigten Rabbits-Sitcom Episode von Inland Empire z.B. ist der Austausch zwischen den drei menschlichen Hasen spiegelverkehrt und manche Teile können in der Tat wieder so zusammengefügt werden, dass sie zumindest teilweise kausal verknüpft sind. Sie erscheinen als Wechsel von Frage und Antwort, und nicht wie im Film selbst als sinnloses non-sequitur von «erst Antwort dann Frage». Darauf- hin angesprochen, legt Lynch selbst dieser Umkehrung der Abfolge den «flow of life» zugrunde und besteht gleichzeitig darauf, dass, wie fragmentarisch seine Filme auch erscheinen mögen, «the pieces are all there, the pieces are all there» – womit er auf deren Puzzle-Charakter verweist.10 Dennoch ist diese Art des Erzählens im Film in den letzten Jahren sehr gän- gig geworden: sowohl im Mainstream als auch im Independent-Sektor, im euro- päischen Autorenkino und in Filmen aus dem asiatischen Raum: die Titel reichen neben Memento und Donnie Darko von Lola rennt zu Sliding Doors, von Adaptation zu Amores Perros, von Oldboy zu Infernal Affairs, von Tro- pical Malady zu Bin-Jip. Filmwissenschaftler haben das Phänomen für sich ent- deckt und alle möglichen Namen für diese Filme erfunden: Puzzle-Filme, «For- king-Path»-Filme, modulare Erzählungen, Twist-Filme, Smart Cinema, multiple draft narratives, oder Complex Narratives. Mit Mind-Game-Filme habe ich mich ebenfalls für einen eigenen Begriff entschieden, um den Akzent nicht nur auf die abweichenden Erzählweisen der Filme zu legen. Eine vernetzte, inter-textuelle und paratextuelle Logik lassen Zeit und Raum zu Variablen anderer Kräfte werden, wo- bei das Augenmerk sich auch auf Zustände des Körpers und des Geistes richtet, die üblicherweise als krank oder pathologisch erscheinen, in diesen Filmen sich jedoch als anpassungsfähig, flexibel und deshalb auch als produktiv und kreativ erweisen. 10 Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=klElqcIbGuE. Actions Have Consequences 61 «Taten haben Folgen» Ein besonders bemerkenswertes Paradox an Inland Empire als Mind-Game-Film ist, dass vieles, was im Film passiert auf den ersten Blick zusammenhanglos, will- kürlich und zufällig erscheint. Dem muss entgegen gehalten werden, dass schon zu Anfang des Films die einzige Person, die unter all den mysteriösen Figuren so etwas wie die Gabe der Wahrsage und des Überblicks besitzt, ankündigt, dass Taten Folgen haben («actions do have consequences»). Dieser Satz stammt aus dem Buch Salomon des Alten Testaments. In den Versen 8–19 im ersten Kapitel der Sprüche prägt Salomon seinen Zuhörern ein, dass Taten immer Folgen hätten, was bedeutet, dass man die gewollten und ungewollten Konsequenzen unserer Handlungen von vorne herein mit einbeziehen muss. Normalerweise werden Kindern diese weisen Worte im Religionsu nterricht beigebracht. Dabei lernen sie nicht nur die physika- lischen Gesetze der Kausalität, sondern auch die moralischen Gesetze, von denen gesagt wird, dass sie die kausalen spiegeln. Tatsächlich wird sehr oft behauptet, dass, wenn man Individuen vor den Konsequenzen ihrer Taten bewahre, man sie nicht nur ihres freien Willens beraube, sondern ihnen auch ihr Menschsein verwehre. Interessanterweise hat ein Rabbi in einem Online-Kommentar dieses wichtige biblische Sprichwort der gegenwärtigen Situation unserer medienübersättigten Welt gegenüber gestellt: «Unfortunately Solomon’s lesson is not conveyed today. In the movies and television shows that we watch, the exact opposite message is promoted. What we need to re- member is that […] the sit-coms, dramas and movies are not reality. The problem is that many in our society and culture want their lives to imitate what they see. [But] in real life, people get hurt, unplanned pregnancies occur, and problems don’t get fixed during a 30-minute time slot. The truth of Solomon’s words need to be heard anew and shared with conviction – actions have consequences. In speaking to both youth and adults alike, I have heard them voice disappointment that their lives are not more like their favorite television show. After all, no one on television ever suffers the lingering effects of their choices. So why do I have to? Solomon’s instruction is to think not short-term, but long-term and consider the consequences. Consider the laws of motion that say with every action there is an opposite and equal reaction. In other words, no action is void of a consequence.»11 Selbst wenn der gute Rabbi nicht an Lynchs Rabbit-Sitcom gedacht hat, kann der Mind-Game-Film als Genre und Lynchs L.A.-Trilogie im Besonderen als eine effek- tive Demonstration dieser Lektion gesehen werden, nämlich als ein performativer Selbstwiderspruch: und zwar indem Lynch die augenscheinlichen Inkonsequenzen seiner Filmfantasien benutzt, um gegen die ‹echte› Inkonsequenz der Medienfantasien 11 Mark Hiehle: Lesson No. 1: Actions Have Consequences. 2010. http://www.chickashanews.com/ church/x878567517/Lesson-No-1-Actions-have-consequences?keyword=topstory. 62 Thomas Elsaesser zu argumentieren. Obwohl wir in Inland Empire Handlungen sehen, die scheinbar keinen Sinn ergeben, sind die schiefen Ebenen des Films, seine parallelen Erzähl- stränge, seine Schizo-Persönlichkeiten und unheimlichen Spiegelungen und Dop- pelgänger, aber vor allem seine multiplen diegetischen Welten, die ineinander flie- ßen, das eigentliche Lernpensum der unausweichlichen ‹Konsequenzen›. Diese be- kommen die Personen zwar zu spüren, die ihnen zugrunde liegenden Handlungen oder Ursachen wollen/können wir aber noch nicht wissen, oder nicht mehr wissen. In den Worten der von Lynch als Sprachrohr seiner eigenartigen Sonntagspredigt beziehungsweise als salomonisches Orakel eingesetzten polnischen Nachbarin: «If today was tomorrow you wouldn’t even remember that you owed on an unpaid bill.» Das Überschreiten der Parameter der filmischen Narration Mit der «unbezahlten Rechnung» demonstriert Lynch, dass in einer Welt, in der multiple Identitäten, Sitcom-Leben und selbstermächtigende-omnipotente Fanta- sien Teil der Alltagsroutine sind (in die wir, nicht zuletzt dank Filmen, Fernsehen und anderen Medien individuell und kollektiv einbezogen sind), die Gesetze der Folgen und Konsequenzen immer noch gelten, wenn auch nicht unbedingt auf die Art und Weise, die ein Rabbi erkennen könnte. Wie schafft es Lynch dann, ganz verschiedene Formen von Kausalität zu prä- sentieren und wie überzeugt er uns von der Konsequenz seiner offensichtlichen Inkonsequenz? Ich möchte behaupten, dass Lynch dies erreicht, indem er drei zen- trale Parameter des narrativen Films modifiziert: er überschreitet die Autonomie der Charakterkonsistenz, er überschreitet die räumliche Kohärenz, und er über- schreitet den zeitlichen Ablauf, indem er sich nicht um die unumkehrbare Richtung des Zeitpfeils kümmert. Dies könnte die argumentative Prämisse dafür liefern, dass Inland Empire nur im Kopf von «Nikki Grace» stattfindet, dass es ein subjektiver Film ist, aber dann  – denkt man an das Aufgeben der Charakterkonsistenz und Austauschbarkeit der Personen – wäre es eine verteilte Subjektivität, ohne indivi- duelles Zentrum. Deswegen überschneiden sich Innen und Außen, davor und da- nach, wahrgenommen und eingebildet, wirklich und virtuell. Sie durchdringen sich entweder in Form einer nervlich angespannten Erwartungshaltung (Nikkis Stress «Werde ich die Rolle bekommen und ein Comeback schaffen oder nicht?» – was sie mit Betty Elms in Mulholland Drive verbindet) oder aus Schuldgefühlen heraus («Ich habe meinen Ehemann betrogen und fürchte mich vor den Konsequenzen»), was an die eifersüchtige Wut von Fred Madison in Lost Highway erinnert. Die verschiedenen diegetischen Welten wären dann das ‹Durchspielen› oder ‹Vorspie- len› der Angst- und Schuldszenarios, welche diese Geisteszustände zum Inhalt haben und deshalb auch den Satz «actions do have consequences» verbildlichen. Schließlich kehren wir am Ende wieder in Nikki Graces Villa zurück: Sie sitzt jetzt dort, wo es die polnische Nachbarin vorhergesagt hat, und ist umgeben von ei- nem Chor weiblicher Darsteller und Show-Girls, von denen manche selbst im Film Actions Have Consequences 63 mitgespielt haben. Diese Lesart würde mit dem psychologischen Aspekt des Mind- Game-Films zusammenpassen, der oft einen ‹produktiven› Kern oder ‹befreienden› Effekt in manchen Pathologien entdeckt: in diesem Fall die Kraft der Paranoia, eine Welt zu steuern, in der jeder Mensch Teil des Spiels eines Anderen zu sein scheint, zugleich manipulierend und manipuliert, zugleich Strippenzieher und Marionette, zugleich Täter und Opfer. Der Mind-Game-Film als Produktionslogik Wie schon erwähnt, sind es aber nicht (nur) die psychologischen Aspekte des Mind- Game-Films, die Lynch beschäftigen. Die Art von Reflexivität, um die es geht, kon- zentriert sich auch auf den Zusammenhang zwischen der Produktionslogik Holly- woods im Zeitalter des Internets einerseits und andererseits der bildlich-narrativen Logik, die daraus entsteht. Ich sehe deswegen Lynchs metaleptische Rhetorik und seine mise-en-abyme mehrer «Welten» vor allem im Licht einer anderen mit dem Mind-Game-Film assoziierten Hypothese, welche die verschiedenen Medien und deren jeweilige Rezeptionskontexte ins Visier nimmt. Indem Inland Empire zwischen Video und den digitalen Medien der Aufnah- me und Speicherung hin und her wechselt und sie miteinander vermischt, spielt der Film noch mehr als die beiden vorhergehenden Teile der Trilogie mit Variati- onen des kinematischen Apparats und dessen verschiedener Mutationen. Tatsäch- lich ist Inland Empire, wie z.B. Andrew Lison ausgeführt hat, so etwas wie ein Kommentar zu Friedrich Kittlers Medienp hilosophie: Man beachte, dass der von Lynch gezeigte ‹subjektive Modus ohne Subjektivität› (während er dennoch die Art von psychologischer Interpretation erlaubt, die ich angedeutet habe) unschwer als eine Version des Kittlerschen Technologischen Determinismus erkennbar ist. Das beste Beispiel ist die Anfangsszene des Films, die wie eine Hommage an Kittlers auf der Hirnschale tanzende Grammophonnadel wirkt, einen altmodischen Pho- nographen zeigt; das Medium, das anerkannter Weise am besten zu Lacans Register des Realen passt: «Only the phonograph can record all the noise produced by the larynx prior to any semiotic order and linguistic meaning.»12 Folglich suggeriert der Film, dass die wiederkehrenden Motive und Themen, die Lynch hier verhandelt – Ehebruch, Sexualität, Prostitution, Fantasie, Verlangen – für die gegenwärtige Sub- jektivität konstitutiv sind, diese Subjektivität jedoch immer schon eine bestimmte materiell-technologische Unterstützung benötigt, um sich selbst zu erleben oder vermittelt werden zu können. In der Tat enthält die Eröffnungssequenz Andeu- tungen zu allen drei Technologien, die Kittler zum Lacanschen Modell verbindet: nicht nur die Grammophon/das Reale-Analogie, sondern auch den kinematischen Apparat, der dem Imaginären entspricht, und die Schreibmaschine, welche Kittler mit dem Symbolischen identifiziert. Auch Robert Sinnerbrink argumentiert ähn- 12 Friedrich A. Kittler: Gramophone, Film, Typewriter. Stanford 1999, S. 16. 64 Thomas Elsaesser lich, wenn er Lynchs Inland Empire als Gedächtnisverarbeitung von Nostalgie und Verlust interpretiert: «Gramophone needles, movie cameras, DV cameras, even the strange camera ob- scura using cigarette and silk screen that we see later in the film; all of these devices make possible this haunting capture of an absent presence, this ghostly presence of the past.»13 Für Kittler hingegen rücken analoge Medien weniger aus Gründen der Trauer denn aufgrund des Umbruchs ins Digitale in den Fokus des Interesses, obwohl auch er die Kraft der Erinnerung beschwört: Increasingly, data flows once confined to books and later to records and films are disappearing into black holes and boxes that, as artificial intelligences, are bidding us farewell on their way to nameless high commands. In this situation we are left only with reminiscences, that is to say, with stories.»14 Der explizite Einsatz von analogen (und damit obsoleten) Formaten im Film ist deswegen mit einer medienarchäologischen Perspektive gleichzusetzen, die Sub- jektivität ebenfalls als historisch wandelbar inszeniert, um damit anzudeuten, dass auch Erinnerung, Gehirn und Gefühle sich an den jeweils aktuellen Technologien der Kommunikation und Interaktion orientieren. Wenn man Inland Empires lie- bevollen Umgang mit bewusst veralteten Medientechnologien – von Grammophon und Camera Obscura bis hin zur Handvideokamera – in Verbindung bringt mit der Krise und dem Zerfall des autonomen Subjekts im Zeitalter der Informations- gesellschaft, so spielt Lynch hier verschiedene Stadien post-Freudscher Subjekti- vität durch, und zitiert wie beiläufig Lacan, bzw. dessen Betonung einer spiegel- verkehrten Optik, über die er hinauszukommen sich bemüht, ohne deren radikale Veräußerlichung des Unbewussten ganz aufgeben zu wollen. Die sich verändernden Rezeptionskontexte seit dem Aufkommen von DVDs und dem Internet kommen solchen dezentrierten Subjekten entgegen, denn generell scheint das Publikum in diesen mind-games eine willkommene Herausforderung zu sehen. Die Tatsache, dass den Zuschauern Tücken für Geist und Auge («traps for mind and eye») gestellt werden, und sie sich Handlungen ausgesetzt sehen, die für sich genommen nicht stimmig sind und dennoch als Ganzes irgendwie Sinn machen, beweist, dass Lynchs mind-games einen harten Kern enthalten, den die Zuschauer für ihr eigenes Leben als relevant erkennen. Sie können sich mit Welten identifizieren, die auf Zufälligkeit und Kontingenz basieren, in denen Handlungen aber nichtsdestotrotz Folgen haben. So zum Beispiel ist es auffällig, dass auf Fan- 13 Sinnerbrink nennt Inland Empire auch «a topology of cinematic spaces that enfolds disparate but related diegetic worlds, diverging narrative lines, cultural-historical locales, aesthetic sensibili- ties, and cinematic media.» Robert Sinnerbrink: New Philosophies of Film: Thinking Images. London 2011, S. 144 (Zitat im Text: 145). 14 Friedrich A. Kittler: Gramophone, Film, Typewriter. Stanford 1999, S. xxxix. Actions Have Consequences 65 Seiten Lynchs Filme nicht auf ihre Fiktionalität hin beurteilt werden, sondern die Personen wie Bekannte behandelt und die Situationen wie eine Verlängerung des normalen Lebens diskutiert werden. Anderseits tendieren die Kommentare dazu, den Film als ein zu lösendes Rätsel oder einen psychologischen Test zu begreifen, für dessen erfolgreiche Lösung allerhand pop-kulturelles, fachspezifisches oder esoterisches Wissen versammelt und eingesetzt werden muss. Da es sich dabei im allgemeinen um gewitzte Mediennutzer handelt, deutet ihr Desinteresse an imma- nenter oder ideologiekritischer Interpretation nicht auf ein naives Verwechseln von Kunst und Leben, sondern auf die Existenz eines informellen aber allgemein geteil- ten Codes hin, der Partizipation erlaubt und das Mitmachen bzw. Mitspielen regelt. Daraus folgend werden Filme wie Inland Empire oder Mulholland Drive  – wie auch die Stadt Los Angeles selbst – sowohl lesbarer Text als auch Archiv lo- kalen Wissens, sowohl Ausgangspunkt einer Entdeckungsreise als auch Knoten in einem rhizomatischen, expandierbaren Netzwerk von Insider-Kommunikation. Dabei soll nicht übersehen werden, dass diese Art von Zuschauerengagement den Mind-Game-Film zum idealen Produkt für die DVD-Vermarktung macht, bei der mehrmalige Sichtungen und paratextuelle Informationen wie Bonusmaterial das Film-Erlebnis nicht nur vertiefen sondern überhaupt erst möglich machen. Das mag wohl auch ein Grund sein, warum gerade Lynchs Filme zu Mash-Ups, Pasti- ches und Parodien auf YouTube einladen.15 Man könnte sagen, dass Mind-Game-Filme einen Satz von Regeln brechen (Re- alismus, Transparenz, Linearität), um für einen neuen Satz und dessen formale Ei- genschaften Platz zu machen – egal ob von einer narratologischen, psychopatholo- gischen, spirituellen oder therapeutischen Perspektive betrachtet (wofür, wie aus- geführt, Lynchs Mind-Game-Filme glaubwürdige «Einstiege» ermöglichen). Dabei ist Lynch nur der Extremfall (nicht zuletzt weil er die Mechanismen bloß legt) des Hollywood Blockbusters, der ebenfalls (was die klassischen Erzählregeln und das Identifikationsangebot betrifft) flexibler, offener und vielseitiger geworden ist, um den Umständen des sich immer mehr differenzierenden Markts gerecht zu werden. ist. Damit ein amerikanischer Spielfilm mittlerer Größenordnung sich amortisiert, muss er nicht nur ein Hit am Wochenende seiner Erstaufführung im Kino sein, son- dern auch für Zweitmärkte attraktiv bleiben, was bedeutet, dass der Kinobesuch nur das Vorgericht ist, das Appetit auf den eigentlichen Verzehr macht, der dann zuhau- se dank DVD/BD oder Download stattfindet, wobei man sich den Film häppchen- weise einverleibt und aneignet. Während bei Filmen wie Avatar oder Inception dieser neue Rezeptionsprozess noch in eine halbwegs schlüssige Handlung verpackt wird, liefert Lynch gleich die Einzelteile, in die der Film dann sowieso zerlegt wird. Denn die Rezeptionsbedingungen der zerstreuten, verteilten und zeitversetzten Auf- merksamkeit wirken zurück auf die Anordnung und Organisation des Films, was im Falle Lynchs bedeutet, seinem cinephilen wie auch seinem mit den digitalen Medien 15 Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=OaJUDYwrGdY 66 Thomas Elsaesser vertrauten Publikum immer noch einen Schritt voraus zu sein. Damit sind einige wesentliche Eigenschaften des Mind-Game-Films, sowohl aus der Sicht der Produk- tion, als auch des Autors und des Publikums beschrieben, was dieses Pseudo-Genre zu einer Misch- und Kompromissform macht, die den Übergang vom klassischen zum «post-filmischen» Kino markiert. Inland Empire ist in vieler Hinsicht eine Recherche oder Meditation über diese Entwicklungen, d.h. eine sich selbst sehr ernst nehmende und gleichzeitig verspielte Exemplifizierung der neuen Rezeptionslogik, wobei die formalen Konsequenzen bis ins Extrem gesteigert sind. Verteilte Handlungsmacht der Dinge und Personen Um schließlich zu meinem Ausgangspunkt zurückzukehren: wie lässt sich anhand dieser Ausrichtung von Lynchs Filmen am Mind-Game-Genre beweisen, dass Lynchs Autorenschaft sich gerade dadurch auszeichnet, dass er zu diesen Über- gangsphasen, in denen sich das Kino derzeit befindet, im performativen Selbstwi- derspruch steht? Eine Antwort wäre, dass Lynch  – wie im eingangs erwähnten (Anti-)iPhone Werbespot – genau weiß, inwieweit er selbst Teil des Systems bzw. der Kräfte ist, die Holly wood verändern, er diesen Kräften und deren Konsequenzen dennoch Widerstand entgegen bringen will, allerdings nicht von außen, sondern in einem Modus, bei dem das Innen von außen und das Außen von innen erhellt und kon- trastiert wird. Eine etwas ausführlichere Erklärung wäre, dass sich dieser «Wi- derstand als Widerspruch» ganz nach innen verlegt hat, in der Tiefenstruktur der Handlung sich bemerkbar macht, und dort sein Unwesen treibt. Konkret kreist dies um die Frage nach dem, wer die Ereignisse und Handlungen verursacht und was die Erfahrungen, Begegnungen, Erscheinungen, Auftritte und Abtritte organisiert. So wird die Frage nach Autorität und Autorschaft in Lynchs LA-Trilogie durchge- hend gestellt, aber immer wieder anders beantwortet. Wenn Hollywood allgemein und die Mind-Game-Filme insbesondere mit neuen Arten des Zugangs für ein glo- bales Publikum experimentieren und deshalb ganz unterschiedliche Gruppen und Kundenkreise über verschiedene Märkte, Plattformen und Bildschirme versucht zu erreichen – darunter auch die bereits erwähnten mobilen Endgeräte – dann sind die Produzenten (dazu gehören die Studios, die Regisseure, die Autoren, die Fi- nanziers) vor allem an der Kontrolle interessiert: ob wir es nun Kontrolle über Mar- ke und Franchise, Kontrolle über geistiges Urheberrecht und seine wirtschaftliche Nutzung oder, in einer altmodischeren Sprache, «kreative Kontrolle» nennen. Das bedeutet, dass zwischen Zugang (offen: access for all) und Kontrolle (Standards und Normen: quality control) entweder ein grundlegender Widerspruch besteht oder es zum Zusammenbruch kommen muss. Für mich besteht Lynchs besondere – ja sogar radikale – Weise, seine Mind-Game-Filme zu inszenieren, darin, den Film «zu öffnen» (für endlose Spekulationen im Internet und für die unterschiedlichsten Interpretationen von Kritikern und Wissenschaftlern, wozu auch dieser Text bei- Actions Have Consequences 67 trägt), während er zugleich «die Kontrolle behält» (über den Hollywood-Apparat, über die Manager und Geldgeber, aber auch darüber, wie Handlungsfähigkeit  – «Handlungen haben Folgen» – sich in den Filmen selbst manifestiert). Um es noch einmal in meinen Begrifflichkeiten zu formulieren: Für mich neigen Lynchs Filme auf einer Ebene zum «performativen Selbstwiderspruch» – nennen wir es den Werbeaspekt, wenn er seine eigentümliche Person als Marke verkauft – und auf einer anderen zur «verteilten Handlungsmacht» (des Films als Text, als narratives und aurales Ereignis, als visuelle und affektive Erfahrung), indem Au- torschaft und Handlungsf ähigkeit über unterschiedliche diegetische Register des Tuns und des Schauplatzes, wie auch der zugleich verschachtelten und gebrochenen Identitäten von Person, Schauspieler und Figur, thematisiert werden. Doch «ver- teilte Handlungsmacht» betrifft auch die Szenarien der manipulierten Manipula- toren, der Vorahnungen und Antizipationen, der Flüche und ihrer Konsequenzen. Ein Fluch ist nur dann ein Fluch, wenn es jemanden gibt, der diesen nachträglich «erkennt» und ihn als solchen «voraussetzt», sich also selbst als Ziel und «Opfer» empfindet. In Inland Empire funktioniert der «Fluch» in der ursprünglichen Ver- filmung des polnischen Zigeunermärchens, die aufgrund des Mordes an den bei- den Hauptdarstellern nicht fertig gestellt wird, auf ganz ähnliche Weise wie Louis Althusser dies von der «Interpellation» annahm: wie eine große Kraft der Subjekti- vierung, die nicht nur mich von außen steuert, als ob ich nur dadurch zu mir selbst finde, sondern auch Vergangenheit und Gegenwart neu ordnet, die sogar Effekt oder Konsequenz auf die Suche nach einem Grund oder einer Ursache schickt, wo- durch sich die Gegenwart in die Vergangenheit einschreibt und diese sogar verän- dert, insofern als die eigene Verantwortung und Schuldfähigkeit darin aufscheint. Der Begriff der «verteilten Handlungsmacht» lässt sich auch auf die verschie- denen Medientechnologien und  –formen anwenden: polnische Volkssage, abge- brochener deutscher Film, Frauenfilm, Sitcom, Porno, Thriller, Horrorfilm, neben Radioserie, Grammophon-Aufnahme, Fernsehbildschirm, Gelächter aus der Kon- serve, «Art House», Hollywoodzeichen, Hollywood-Filmset (Paramount Studio), L.A.-Location (Hollywood & Vine), Digitalkamera, große Studiokamera, Beleuch- tungsapparatur, Spots, Objektive, Megaphone. Sie alle spielen in Inland Empire eine Rolle, werden vor- und ausgestellt und haben als Medien und Dinge eigen- mächtige Funktionen in der Handlung. Mit anderen Worten: In Inland Empire handeln nicht nur Personen; Autorität, Autorschaft und Handlungsmacht, samt Objekten, Apparaten und Medientechno- logien sind über die verschiedenen Bereiche der menschlichen Beziehungen ver- teilt und zerstreut. Einerseits gruppieren sie sich um eine Liebesaffäre, die selbst in eine andere Liebesbeziehung, d.h. eine Ehe, verschachtelt ist. Beide sind jedoch dezentriert und entstellt durch Untreue und Prostitution, gleichzeitig aber gespie- gelt und verdoppelt durch weitere affektive Beziehungen, in denen Liebe und Geld eine zentrale Rolle spielen. Auch dies sind Aspekte, die ihre Analogien beim Fil- memachen haben: Inland Empire, als Film-im-Film, verweist immer wieder auf 68 Thomas Elsaesser die affektiven Kontakte und finanziellen Kontrakte, die emotionalen Erpressungen und vertraglichen Nötigungen, die zwischen dem Regisseur und seinen Hauptdar- stellern zirkulieren, die zwischen den Schauspielern existieren und die zwischen dem Regisseur und seinen Produzenten, seinen Agenten, Assistenten, der Crew etc. aufrechterhalten werden müssen. Die Verteilung der Handlungsträger und die Hierarchien gegenseitiger Abhän- gigkeit wiederholen sich in den Medien und Apparaten und kommen so auch zur filmischen Darstellung: nicht zuletzt durch eine Montagetechnik, die die einzelnen Handlungsblöcke und narrativen Segmente zunächst wie in sich geschlossene Episo- den behandelt, deren verschachtelte Zusammenhänge erst durch die Parallelen und Wiederholungen über die Zeit hinweg deutlich werden. Den oft statischen Einstel- lungen, «Auftritten» und Tableux vivants folgen dann lange Plansequenzen, meist mit Handkamera gedreht, die den Innenräumen eine anamorphe, durch keine per- spektivische Geometrie mehr geordnete Gestalt geben, während die mobile Kamera allen Zeichen des Durch- und Übergangs und der Öffnung – also Türen, Portalen, Passagen, Gassen, Korridoren, Toren und Treppen – eine nachdrückliche und des- halb beklemmende Aufmerksamkeit schenkt. In solchen Momenten wird die Ka- mera zum verweisenden Index, gleich dem Zeigefinger der polnischen Nachbarin, der sowohl den Blick des Zuschauers lenkt als auch der Kamera die Richtung weist. Auch der tödliche Schraubenzieher ist ein solcher «Zeigefinger», der die Stoßrich- tung vorgibt, die seine hypnotisierte Trägerin zum Amoklauf auf Nikki zwingt. Und in ganz ähnlich paradoxer Weise könnte die Pistole, mit der Nikki als Susan den Phantom Man umbringt, ein Index sein, mehr noch als ein Indiz. Sie ist ein Objekt, das Weg und Richtung weist, indem sie das Phantom weniger tötet, als dass sie es mit dem Licht eines Blitzes auslöscht und im gleißenden Weiß verschwinden lässt. Die Schusswaffe feuert keine Kugel sondern eher einen Lichtkegel, wie eine Stablampe oder ein Suchscheinwerfer, vergleichbar mit den Lampen am Set, die dem Regisseur des Films-im-Film solche Schwierigkeiten machen, sie richtig einzustellen, während er sich eines anderen Objekts bedient, das diesmal dem Schall die Richtung weist, nämlich ein Sprachrohr oder Megaphon. Es wäre sicherlich aufschlussreich, den Film mit Blick auf solche Vektoren linearer Bewegung sowie solcher Momente des Übergangs durch zugehen, diese Momente genauer zu untersuchen, ob und wie sie (inhaltlich) thematisiert werden. Um nur ein Beispiel zu nennen: die Szene, in der Nikki entdecken muss, dass sie es selbst war, die die Probe gestört hat, an der sie neben den anderen Schauspielern und dem Regisseur teilnahm, spielt nicht nur mit der Möglichkeit bzw. Angst, an zwei Orten zur gleichen Zeit zu sein, sondern macht dies plausibel, in dem es dreidimensionale Räume mit zweidimensionalen Filmsets konfrontiert und sie mit einander verschmelzen lässt.16 16 «While filming a scene in which her character buys groceries, Nikki notices a door in the alley marked Axxon N, and enters. It leads to a room behind the studio, where she can see herself rehears- ing her lines weeks earlier. When Devon is sent to find who’s lurking backstage, Nikki realizes that Actions Have Consequences 69 So handelt Inland Empire vor allem auch von der Handlungsmacht der Dinge, an die der Regisseur einen Teil seiner eigenen Autorenschaft delegiert hat. Die Din- ge sind Werk zeug und zeugen von Wirkungen, sie sind Ausgangspunkt von Hand- lungen und Mittel zum Zweck: manchmal Träger eines Widerstand und manchmal willfährige Instrumente. Das trifft auf Lichtquellen (Lampen und Scheinwerfer) und Geräuschquellen (Nadel, Megaphone, Telefone) ebenso zu wie auf die vie- len, mit seltsamem Eigenleben aus gestatteten Räume: opulente Wohnungen, kar- ge Lagerhallen, schäbige Büros, kitschige Motelzimmer, prunkvolle Hotellobbys, schmutzige Küchen, neben Filmsets mit Requisiten, Werkzeugen und ominösen Objekten (z.B. Schraubenzieher, Pistole, ein Baumstamm). Manche davon sind, wie die Personen selbst, der eine des anderen Doppelgänger und Stellvertreter, mitei- nander verbunden wie Glieder einer Kette oder in Form eines Relais, in dem jedes Element für sich rätselhafte Assoziationen hervorrufen oder magische Eigenschaf- ten annehmen kann. Dies wiederum verweist auf den Besuch der polnischen Nachbarin bei Nikki Grace. Als sie, wie zur Drohung, Nikki daran erinnert, dass Taten Folgen haben, beendet sie den Satz nach einer kurzen Pause mit: «und natürlich ist da noch die Magie» («and of course, there is the magic»). Soll das bedeuten, dass es Folgen ohne Taten geben könnte, geht man davon aus, dass Magie normalerweise als das plötzli- che Eintreffen von Wirkungen ohne erkennbare oder natürliche Ursachen gedeutet wird? Bei Lynch ist noch eine andere Lesart vertretbar, denn für ihn ist Magie eine performative Handlung: «saying so makes it so», das Wort ist die Tat, und seine Ma- gier sind zeigende und verweisende Handlungs träger, denn sie demonstrieren die Macht der reinen Geste, und offenbaren die Kraft imaginierter oder lebloser Dinge (man denke an den Silencio Club in Mulholland Drive und die in Ohmacht fallende Sängerin, deren Stimme ihren Körper «überlebt» oder an den Telefontrick des Mystery Man in Lost Highway). Magie lehrt uns, wie Dinge nicht nur Grün- de sein, sondern Gründe haben können, genau wie Menschen dann am aktivsten erscheinen können, wenn sie von einem Geschehen getrieben werden. Das scheint der Fall bei Nikki Grace zu sein, deren Gnade («grace») es ist, irgendwann loslassen zu können. Denn genau an dem Punkt, wo sie scheinbar die Kontrolle verliert, und diesen Verlust auch akzeptiert, gewinnt sie dadurch wieder Handlungs fähigkeit, wenn auch «quer» zu den verschiedenen Räumen, Schauplätzen und Situationen und nicht in geradliniger Bewegung hin auf ein Ziel. Nikki – aktiv-passiver Hand- lungsträger par excellence – ist sowohl Verkörperung als auch Vermittlerin filmi- scher Autorschaft, da sie die Kamera führt so wie sie von ihr geführt wird. Auf den Film On High in Blue Tomorrows angewandt hieße das, dass der Fluch («curse») she was the disturbance, causing her to flee among the half-built backgrounds and into the house of another character named Smithy. Despite the set being merely a wooden facade, Nikki enters to find an illuminated suburban house inside. Devon looks through the windows, but sees only darkness.» http://en.wikipedia.org/wiki/Inland_Empire_%28film%29. 70 Thomas Elsaesser die Heilung («cure») werden kann und es tatsächlich in einem Übertragungsakt ge- worden ist: Etwas, das in der Vergangenheit geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen ist, ist rückwirkend zur ausdrücklichen Intention des/derjenigen erklärt worden, der/die dafür nicht länger zur Rechenschaft gezogen werden kann, und der/die deswegen die Initiative wieder ergreift und die Kontrolle behält. Das ist es, was in der Szene mit der polnischen Nachbarin zum Beginn des Filmes performativ vorgeführt wird, weshalb sie für mich die Schlüsselszene bleibt. Die Magie der Lynchschen Mind Games wäre dann die Art und Weise, wie der Regisseur immer neue Wege findet, Ursache und Wirkung, Taten und Folgen, In- tentionen und Resultate, Mittel und Zweck, aber auch Erinnerungen und Erwartun- gen, Hoffnungen und Enttäuschungen aufzumischen, gegeneinander auszuspielen, und in asymmetrischer Weise breit zu streuen und zu verteilen: er lässt es so ausse- hen, als sei niemand zuständig und als seien alle Möglichkeiten offen, während er unseren Blick und unsere Aufmerksamkeit auf Details und Augenblicke lenkt und deswegen die Kontrolle über die Lage und den Moment behält – sogar dann, wenn die Welt, die Personen und die Orte sich in ständig wechselnden Konfigurationen (neu) positionieren. Denn wie er es so treffend formuliert: «The pieces are all there, the pieces are all there.» Damianos Grammatikopoulos / Sascha Hosters Simulation und Raumwahrnehmung in Grand ThefT auTo V Simulation und Hyperrealität in Los Angeles und Los Santos In der zweieinhalbstündigen Montage Los Angeles Plays Itself untersucht Re- gisseur Thom Andersen,1 wie die im Titel geführte Stadt vor allem filmisch darge- stellt und vermittelt wird.2 Andersen skizziert in seinem Voice Over nicht nur die zahlreichen Inszenierungen verschiedener Wahrzeichen der Stadt in unterschied- lichsten filmischen Kontexten, sondern verdeutlicht auch, inwiefern die Filmin- dustrie in Form von Straßennamen und öffentlichen Plätzen Einzug in das ‹reale› Stadtbild gefunden hat. Wahrzeichen, die auch in der Spielwelt von GTA V vor- handen sind und somit den realen Ort Los Angeles evozieren, auch wenn es sich um eine fiktionalisierte und modifizierte Version mit abgeändertem Namen – Los Santos – handelt. Während uns diese Orte in den Filmen, die Andersen zitiert, im Dispositiv des Kinos erfahrbar werden, erreicht GTA V in seinem Detailreichtum und durch seine Interaktivität einen anderen Immersionsgrad. Die Verflechtung mediatisierter Bilder mit dem realen Raum der Stadt Los An- geles erinnert an Jean Baudrillards Konzept des Simulacrums bzw. der Simulati- on3 und der Hyperrealität: «Simulation is no longer that of a territory, a referential being, or a substance. It is the generation by models of a real without origin or reality: a hyperreal.»4 Kennzeichen der Simulation ist demnach also die Liquidie- rung aller Referenzen und deren künstliche Wiederherstellung als eigenständige Zeichensysteme. Die Spielwelt von Grand Theft Auto soll hier als eine solche Art von Simulation verstanden werden. Die hyperreale Dimension von San Andreas5 geht über die Erfahrung einer virtuellen Kopie von Los Angeles hinaus, indem sie den Spieler in besagte Welt 1 Thom Andersen ist Filmemacher, Filmkritiker und Dozent am California Institute of Arts. 2 Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=ATvOyAdrDB0 (18.01.2014) Siehe hierzu den Beitrag von Laura Frahm im vorliegenden Band. 3 Baudrillard differenziert drei Stufen von Simulacra. Während die erste Stufe von der mimetischen Nachahmung der Wirklichkeit geprägt ist, beginnt die Differenzierung zwischen Wirklichkeit und Repräsentation in der zweiten Stufe aufzuweichen. Die zweite Stufe assoziiert Baudrillard vor allem mit dem Science-Fiction-Genre. Dem hingegen ist in der dritten Stufe keine Distinktion zwischen der Wirklichkeit und ihrer Repräsentation möglich. Dies ist die Stufe der Simulation und Hyperre- alität, in der die manipulierbaren Variablen von Zeichensystemen einen zur Wirklichkeit analogen Stellenwert einnehmen. Vgl. Jean Baudrillard: Simulation and Simulacra. Michigan 1994. S. 121ff. 4 Baudrillard. S. 1. 5 San Andreas ist der von Kalifornien inspirierte fiktive US-Bundesstaat und Schauplatz von GTA V. 72 Damianos Grammatikopoulos / Sascha Hosters einführt und mit den Spielmechaniken vertraut macht, was vor allem im Verlauf der Narration im Single-Player-Modus geschieht. Zwischen den optionalen Story- Missionen und nach Abschluss des Hauptplots wird die Entscheidungsfreiheit ge- währt, für welche die Grand-Theft-Auto-Serie seit ihrem ersten Erscheinen 1997 so populär geworden ist. Es ist der Spieler, der sich, ausgehend von einem beliebigen Ort auf der Karte, für Aktivitäten, Missionen oder das freie Erkunden mit oder ohne Hilfe eines GPS-Navigationssystems entscheiden muss. Ein Phänomen, das Atkinson und Willis mit dem Begriff des elektronischen Flaneurs beschreiben.6 Zum ersten Mal ist diese Freiheit nun auch für mehrere Spieler in der gleichen Welt simultan in GTA Online7 erfahrbar geworden. Wenn die Spielwelt von San Andreas aus GTA V beschrieben wird, ist häufig von einem Gefühl, einem Feeling, die Rede, das von der Stadt ausgehen würde. Ent- wickler von Rockstar Games haben dieses Phänomen mit dem «vibe» oder «feel»8 der Stadt beschrieben, der ihnen auch als Ausgangspunkt für die Schöpfung ande- rer virtueller Spielwelten der Grand-Theft-Auto Serie gedient habe. Ein Gefühl, das Rolf Lindner in seiner kulturgeographischen Studie als den Habitus der Stadt, ihrer sozialen Konstruktion, an den Beispielen von Paris und Los Angeles untersucht hat. Dieses Gefühl ginge demnach aus einem Zusammenspiel geographischer und sozialer Konstruktionen hervor und würde einen ‹erfahrbaren› Charakter der Stadt bilden, der sich in ihrem allgemein rezipierten ‹Image› niederschlagen würde.9 Besagter ‹vibe›, der als Ausgangspunkt für die Entstehung der Spielwelten von Grand Theft Auto fungiert, wird in der Folge der Spielerfahrung modifiziert und neu erlebt. Baudrillard attestiert in dem Kapitel «The Hyperreal and the Imaginary» dem ‹echten› Los Angeles bereits einen hyperrealen Wert.10 Die Stadt sei ein Teil der Simulation bzw. des Simulacrums. Imaginierte und realisierte Phantasiewelten wie Disneyland, Enchanted Village, Magic Mountain, Marine World etc. – die sich allesamt in unmittelbarer Umgebung von Los Angeles befinden – würden als Hilfe- stellung zur Rettung des Imaginären und zugleich auch als Unterstützung dienen, um das Realitätsprinzip zu bewahren. Kurz, um eine Dialektik zu schaffen, die es erlaubt, den simulativen Charakter L.A.s durch diese dichotomische Opposition zu 6 Vgl. Rowland Atkinson, Paul Willis: Charting the ludodrome. The mediation of urban and simulated space and the rise of the flaneur electronique. In: Information, Communication and Society 10, 2007 7 Mit der Veröffentlichung von GTA Online hat Rockstar eine eigene Multiplayer-Online-Kompo- nente in der Spielwelt von GTA V erschaffen, die mit dem Erstellen individueller Charaktere, neuer Missionen, klassischer Multiplayer-Modi (wie Deathmatches und Autorennen) und vor allem dem Freeroam-Modus, indem die gesamte Karte von San Andreas mit 16 weiteren Online-Spielern er- fahrbar wird und somit dem Spieler mit unzähligen Optionen die Freiheit des Erlebens einer eige- nen Geschichte ermöglicht. 8 Vgl. http://www.edge-online.com/features/making-grand-theft-auto-iv/ (18.01.2014), http://www. edge-online.com/features/rockstar-norths-aaron-garbut-on-the-making-of-grand-theft-auto-v- our-game-of-2013/ (18.01.2014) 9 Vgl. Rolf Lindner: Der Habitus der Stadt – ein kulturgeographischer Versuch. In: Petermanns Geo- graphische Mitteilungen 147, 2003, S. 46–53 10 Baudrillard. S. 12. Simulation und Raumwahrnehmung in Grand Theft Auto V 73 vertuschen.11 Disneyland als Phantasie und Imagination; Los Angeles als Realität. Für Baudrillard ist diese Opposition obsolet geworden. Disneyland ist das Simula- crum par excellence12 – die Kopie ohne Referenz, keine Repräsentation Amerikas, sondern simulierte Realität. Durch die Wechselwirkung der Simulacra und der me- diatisierten Darstellung von Los Angeles, die vor allem durch den Film, das Fernse- hen und zunehmend das Internet bedingt ist, sind die Grenzen zwischen Phantasie und Realität fließend geworden – Willkommen in der Hyperrealität.13 Auffällig ist also nicht nur der durch Architektur, Einwohner und Industrie ge- prägte Charakter der Stadt Los Angeles, sondern auch eine Vermischung dieses Charakters mit der massen- und popkulturellen Wahrnehmung der Stadt, unmit- telbar beeinflusst durch die mediatisierte Repräsentation der visuellen Massenme- dien. Computerspiele tragen zu dieser Vermischung der Rezeption eines urbanen Raums bei und können darüber hinaus durch ihre simulativen Eigenschaften und die Integration von Interaktivität und Immersion zu einer Erfahrung führen, die dem Anschein nach realer Raumerfahrung ähnelt. Je nach modus operandi, zu Fuß, zu Land, Wasser oder Luft, eignet sich der Spieler in GTA V die virtuelle Karte durch die Bewegung im (virtuellen) Raum an und lernt, sich in dieser Welt zu orientieren.14 In einem Interview mit dem Magazin Edge wertet Rockstar Norths Art Director Aaron Garbut den Hauptschauplatz von GTA V, Los Santos, als Ausgangspunkt der popkulturellen Rezeption von Los Angeles und attestiert hierdurch gleichzeitig eine höhere Wirksamkeit respektive Effizienz gegenüber dem Erstellen einer ‹authenti- schen› Kopie: «I’d never want to rebuild a city. I think it would be a lot less satisfying both for us to build and for the player to play. In a lot of ways, it would be less convincing, too. At least that’s how I rationalize it to myself. Only a relatively small subset of players ever get to know the real LA or New York. Most experience is through film and TV, or through short visits, and that’s a highly edited representation. We do the same: we take the feel of a city, the one we get through visiting and through experiencing it our whole lives through media, and build that. We compress, we edit, we emphasize cer- tain things and we end up with something that in some ways, I think, feels more like the popular perception of the place than the actual city. Only because the popular perception isn’t the real city, if that makes sense.»15 11 Vgl. Ebd.. S. 12–14. 12 Vgl. Ebd.. S. 12. 13 Vgl. hierzu die detailliertere Beschreibung der Wechselwirkung von realem und virtuellem Stadt- raum anhand der GTA-Spiele in Atkinson & Willis. 14 Zu Beginn der Singleplayer-Kampagne in GTA V ist nur ein kleiner Ausschnitt der gesamten Spiel- welt von San Andreas ersichtlich. Durch das freie Erkunden und Bewegen auf der von Anfang an gänzlich erfahrbaren Spielwelt werden die besuchten Orte auch auf der Karte, die durch das Pause- Menü abrufbar ist, aufgedeckt. 15 http://www.edge-online.com/features/rockstar-norths-aaron-garbut-on-the-making-of-grand- theft-auto-v-our-game-of-2013/ (18.01.2014) 74 Damianos Grammatikopoulos / Sascha Hosters Laut dieser Aussage ist das Erstellen einer ‹authentischen› Kopie einer Stadt in- nerhalb eines Computerspiels sowohl für Entwickler als auch für Spieler unvor- teilhaft. Neben dem ausschlaggebenden Grund des flüssigeren Gameplays, durch kürzere Distanzen und dichtere Stadtarchitektur, begründet Garbut dies auch in Bezug auf die (nicht) vorhandene Erfahrung der Spieler mit dem ‹realen› Ort Los Angeles. Da die durch Massenmedien transportierte hyperreale Version der Stadt für den Großteil der Menschen wesentlich vertrauter ist als der wirkliche Ort, sei dieser als Ausgangspunkt für die Kreation von Los Santos sinnvoller. Repräsentative Darstellung vs. Simulation in Grand Theft Auto Nach Gonzalo Frasca kann das Konzept der Simulation als Werkzeug zum Ver- ständnis von Computerspielen wesentlich beitragen.16 Im Sinne dieses ludologi- schen Ansatzes17 wird ein Kontrast zur Narratologie gebildet, in dem Computer- spiele nicht als eine Erweiterung der narrativen Medien wie Film, Theater oder Literatur angesehen werden, da sie nicht nur ein repräsentatives Medium (im mi- metischen Sinne) darstellen.18 Die Spielwelt von San Andreas und Los Santos in GTA V ist deswegen keine mimetische Kopie von Kalifornien und Los Angeles, sondern vielmehr ein dynamisches System, das eine Vielzahl potentieller Geschich- ten enthält. Entsprechend entstehen diverse subjektive Erfahrungen, die jeder Spie- ler abseits der Hauptnarration im Spiel machen kann.19 Die Narration ist demnach im Gesamtgefüge der Spielsimulation eingebettet und spielt eine untergeordnete, wenn auch auf die Online-Erfahrung vorbereitende, Rolle.20 16 Vgl. Gonzalo Frasca. Simulation 101: Simulation versus Representation. 2003. http://www.ludology. org/articles/sim1/simulation101.html (18.01.2014) Der Begriff der Simulation kann bei Frasca als Synonym für Computerspiele verstanden werden. 17 In der noch jungen Geschichte der Computerspieltheorie haben sich zwei Hauptstränge der Ana- lyse herausgebildet. Während sich ludologische Ansätze mit der Analyse der Spielmechaniken und Spielregeln auseinandersetzen, betrachten narratologische Konzepte Computerspiele aufgrund ih- rer unterschiedlichen Erzählweisen. 18 Vgl. Baudrillard. S. 5/6, Gonzalo Frasca. Während die Narration auch in GTA eine ausschlaggeben- de Rolle spielt, ist es meist die Handlungsfreiheit in der «sandbox», die den Spieler zum weiteren Experimentieren motivieren und die Erfahrung eigener «Geschichten» innerhalb dieser Spielwelt ermöglichen. 19 Selbst die Hauptmissionen können jedoch je nach Spieler vollkommen unterschiedlich ausfallen. Während die Zielsetzung der Missionen für jeden Spieler gleich ist, kann sich die Ausführung durch die Entscheidungsfreiheit des Spielers und die Dynamik der simulierten Welt vollkommen unter- schiedlich auflösen. 20 Die Narration des Singleplayer-Modus dient neben der Erzählung einer Gangstergeschichte auch der Einführung in die zahlreichen Aktivitäten und Spielmechaniken des Spiels. Im Onlinemulti- playermodus bietet die Kenntnis der Spielmechaniken sowie auch der gesamten Karte einen ent- scheidenden Vorteil in der direkten Konkurrenz mit anderen menschlichen Spielern. Rockstar Games veröffentlicht seit dem Erscheinungsdatum des Online Titels verschiedene Contentupdates, die die Spielwelt mit neuen Inhalten und auch User-generated content füllen. Simulation und Raumwahrnehmung in Grand Theft Auto V 75 Frasca macht weiterhin deutlich, dass es sich bei Simulationen nicht um «inter- active narratives» handelt und stellt eine Definition der Simulation auf: «Simulation is an act of modeling system A by a less complex system B, which retains some of A’s original behavior.»21 Das Schlüsselkonzept ist demnach die Simulation von Verhaltensregeln eines komplexen Systems auf minimierter Ebene. San Andreas bzw. Los Santos ist demzufolge zwar ein weniger komplexes System als Kalifornien bzw. Los Angeles selbst, nichtsdestotrotz übernimmt es ‹reale›, d.h. in diesem Fall, der popkulturellen Rezeption Los Angeles entsprechende Verhaltensregeln, die das Experimentieren des Spielers erlauben und motivieren. Der Spieler wird in seiner interaktiven Rolle zur unberechenbaren Variable in der Spielwelt. Der dreidimensionale Raum (Perspektive und Raumerfahrung in Computerspielen) «Das Spiel sondert sich vom gewöhnlichen Leben durch seinen Platz und seine Dau- er ab. Seine Abgeschlossenheit und Begrenztheit bilden sein drittes Kennzeichen. Es ‹spielt› sich innerhalb bestimmter Grenzen von Zeit und Raum ‹ab›. […] Auffallen- der noch als seine zeitliche Begrenzung ist die räumliche Begrenzung des Spiels. Je- des Spiel bewegt sich innerhalb seines Spielraumes, seines Spielplatzes, der materiell oder nur ideell, absichtlich oder wie selbstverständlich im voraus abgesteckt worden ist.»22 Bereits in Huizingas umfangreicher Abhandlung des Kulturphänomens «Spiel» aus dem Jahr 1938 werden die Instanzen «Zeit» und «Raum» als konstitutive Merkmale hervorgehoben und als unabdingbare Komponenten dargestellt. Um die besonde- ren Eigenschaften des virtuellen Raumes in Computerspielen zu skizzieren, emp- fiehlt es sich, eine Grenze zwischen realem und virtuellem Raum zu ziehen und die Wahrnehmung des Raums in unserem Alltag der Wahrnehmung einer virtuellen Umgebung entgegenzustellen. Es stellt sich entsprechend die Frage: Wie wird Raum vom Menschen registriert? Von physikalischen Kategorien des Raumes abgesehen, kann allgemein behauptet werden, dass Raum grundsätzlich über unsere Sinne durch Bewegung aber auch durch Zeit wahrgenommen wird. Im Hinblick darauf stellt Michel de Certeau folgende These auf: «Die Geschichte beginnt zu ebener Erde, mit den Schritten. Sie bilden die Zahl, die nicht zu einer Reihe wird. Man kann sie nicht zählen, weil jede ihrer Einheiten etwas Qualitatives ist: ein Stil der taktilen Wahrnehmung und der kinesischen Aneignung. 21 Vgl. Gonzalo Frasca. Zur weiteren Erläuterung der Unterschiede von Darstellung und Simulation vergleicht Frasca die repräsentative Darstellung und die Simulation einer Stadt an den Beispielen von Manets ‹London› und Sim City 3000. 22 Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg 2013, S. 18. 76 Damianos Grammatikopoulos / Sascha Hosters Ihr Gewimmel bildet eine unzählbare Menge von Singularitäten. Die Spiele der Schritte sind Gestaltungen von Räumen. Sie weben die Grundstruktur von Orten.»23 De Certeaus linguistisch orientierter Beitrag zur Raumforschung unterscheidet zwischen «Ort» und «Raum». Ein «Ort» ist an sich stabil und kann mit einem Raster verglichen werden, das aus einer «momentane[n] Konstellation von festen Punkten»24 besteht, die ebenfalls als stabil bezeichnet werden können. Als Beispiel könnte man eine Karte anführen, die über ein bestimmtes Zeichensystem feste Punkte einer Landschaft adressiert. De Certeau zufolge produzieren aber erst die Bewegungen («Schritte») von einem Punkt zum anderen das Konzept des Rau- mes. Der Raum erweist sich somit als «ein Geflecht von beweglichen Elementen.»25 Durch diese Differenzierung zwischen Ort und Raum wird erneut die gegenseitige Bedingtheit von Raum und Bewegung hervorgehoben. Silke Roesler betont dabei in ihrer De-Certeau-Lektüre die Mitwirkung der Zeit und des Menschen für die Entstehung von Raum: «Der Unterschied zwischen Raum und Ort lässt sich mit anderen Worten durch die Einbeziehung der beiden Parameter Zeit und Mensch genauer fassen und erläutern: Während beim Ort das Punktuelle, das Momentane betont und somit die Zeit fast vollständig ausgeblendet wird, entsteht der Raum erst durch die Einbeziehung der Zeit, indem seine Bildung aus beweglichen Elementen und die prozessuale Entfal- tung betont werden.»26 Man kann sich hierbei zu der Annahme verleiten lassen, dass neben Bewegung auch eine Form der Stabilität bestimmter Referenzpunkte für die Generierung von Raum erforderlich ist. Ein Raster, das keine festen topographischen Punkte auf- weist, ist nicht geeignet für die Produktion von räumlichen Konstellationen. Eine bestimmte Ordnung und Anordnung fester Anhaltspunkte wird somit unverzicht- bar für die Entstehung eines Raumes. Ein Umfeld, das keine verhältnismäßig feste Ordnung aufweist, verfügt demnach über keine raumproduzierenden Eigenschaf- ten. Inwiefern sich diese Gedanken auf Raumsimulationen applizieren lassen, wird das Folgende zeigen. 23 Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Berlin 1988. S. 188. 24 Ebd. S. 218. 25 Ebd. 26 Silke Roesler: Doing City. New York im Spannungsfeld medialer Praktiken. Köln 2010. S. 82. Simulation und Raumwahrnehmung in Grand Theft Auto V 77 Raumdarstellungen und Raumsimulationen in Computerspielen «Although the commonly encountered architectural terminology […] tempts us to connect the virtual with the physical, it is really only movement that defines the computer game ‹space›.»27 In seinem Artikel «Space in the Video Game» unterteilt Mark J.P. Wolf Raum in Computerspielen in elf Kategorien.28 Seine Liste beginnt paradoxerweise mit dem «Interactive Fiction»-Genre, den sogenannten «Textadventures», die eine Form der digitalen, interaktiven Narration darstellen (der Spieler kann nur durch Tex- teingaben in die Geschichte, d.h. in das Spiel eingreifen; das Spiel an sich ist text- lastig). In die zweite Kategorie («One screen, contained»29) fallen 2D-Spiele, die man als «Bildschirmcontainer»30 bezeichnen kann: die komplette Spielfläche wird auf einem Bildschirm gezeigt. PONG aus dem Jahr 1972, eines der ersten Compu- terspiele in der Geschichte dieses jungen Mediums, lässt sich dieser Kategorie zu- ordnen. Das Spiel zeichnet sich trotz seiner rudimentären graphischen Abbildung (die Bildschirmfläche zeigt lediglich wenige weiße Striche auf schwarzem Grund) durch eine bemerkenswerte perspektivische Komplexität aus. Mittels einer einzi- gen statischen, gestrichelten, vertikalen, weißen Linie in der Mitte des Bildschirms, zwei beweglichen Strichen, d.h. Schlägern am rechten und linken Bildschirmrand (der weiße Strich auf der linken Seite wird mithilfe eines Drehknopfs vom Spieler gesteuert), und eines beweglichen weißen Punkts (der berühmte Ping-PONG-Ball) entsteht durch eine eigentümliche Mischung von stabilen und mobilen Elementen eine überzeugend wirkende Abstraktion eines virtuellen Raums.31 Interessanter erscheint jedoch Wolfs vierte virtuelle Raumkategorie, von ihm «Scrolling on one axis» benannt, welche durch ein horizontales und/oder vertikales Scrollen des virtuellen Raums gekennzeichnet ist. Spiele dieser Art beanspruchen im Gegensatz zu den vorangegangen Beispielen mehr als nur eine Bildschirmflä- che.32 Defender von Williams Electronics aus dem Jahr 1980 weist eine derartige Raumkonstellation auf. Es handelt sich um einen side-scroller,33 dessen Handlung sich in einem horizontalen Streifen abspielt. Die Illusion (seitlich) durch einen 27 Margrit Grieb: Transformations of the (Silver) Screen. Film after New Media. Florida 2003. S.  135–136. Margrit Griebs Dissertation ist online verfügbar: http://ufdcimages.uflib.ufl.edu/UF/ E0/00/06/90/00001/grieb_m.pdf 28 Vgl. Mark J.P. Wolf: The Medium of the Video Game. Austin 2001, (Kindle) Location 991–1455. 29 Ebd. Location 1065–1081. 30 Vgl. Benjamin Beil: Game Studies. Eine Einführung. Berlin 2013. S. 47. 31 «Der Raum ist somit darstellerisch praktisch völlig undefiniert und entsteht sozusagen erst durch die Spielerfahrung, durch die Bewegung der Schläger und des Balls im virtuellen Raum. Bereits bei PONG zeigt sich also, dass es bei der Analyse der räumlichen Wirkung von Computerspielen im Grunde nicht nur um eine ‹statische› Räumlichkeit, sondern stets um eine im zeitlichen Verlauf veränderbare Raumdarstellung geht.» Beil, S. 48–49. 32 Vgl. Wolf, Location 1101–1105. 33 Das Spielgeschehen ist von der Seite zu sehen. 78 Damianos Grammatikopoulos / Sascha Hosters Raum zu fahren ergibt sich über einfache visuelle Tricks. Winzige funkelnde weiße Punkte im schwarzen Hintergrund, die Sterne abbilden, bleiben statisch, während sich die wesentlich größer abgebildeten Objekte im Vordergrund in alle Richtun- gen bewegen (können). Dies wird zudem von der hügeligen Planetenoberfläche unterstrichen, dargestellt durch eine ungleichmäßig verlaufende Linie in der un- teren Bildschirmfläche, die auf die Richtung und Bewegungen des Raumschiffs abgestimmt ist. Durch diesen Kontrast zwischen kleinen statischen Objekten im Hintergrund und großen beweglichen Objekten im Vordergrund erzeugt das Spiel eine Illusion von Bewegung durch einen Raum. Als letztes Beispiel aus der Reihe der oben skizzierten 2D-Arcade-Spiele wird im Folgenden Night Driver (1976) vorgestellt, ein (neben PONG und Defen- der) Klassiker dieser Generation von Computerspielen. Night Driver gilt trotz seiner rudimentären graphischen Ausstattung als erste 3D-Rennsimulation und als eines der ersten First-Person-Spiele.34 Im Stillstand zeigt der Screenshot lediglich zwei Reihen weißer vertikaler Balken, als Straßenbegrenzung links und rechts po- sitioniert, und einen Wagen. Der Wagen am unteren Bildschirmrand ist in vielen Arcade-Versionen des Spiels paradoxerweise nicht Teil der Grafik, sondern ledig- lich eine aufgeklebte, und damit statische Plastikscheibe. Wenn Bewegung ins Spiel kommt, merkt man, dass die Balkenreihen (Leitpfosten) in Richtung der unteren Bildkante größer werden, was in einer Raumtiefe in der Z-Achse resultiert und die eigentliche Spielsituation initiiert. Räume in Spielen dieser Art nennt Wolf «Spaces allowing z-axis movement into and out of the frame».35 Der mobile, virtuelle Raum Das Spielen von GTA V erweckt dank eines erstaunlichen Fotorealismus und einer ausgeklügelten Spiel-Engine36 den Eindruck, dass man sich während des Spiels über die Avatarfigur in Echtzeit durch eine Stadt, d.h. durch einen Raum bewegt. Wenn man aber etwas genauer auf das Bild achtet, wird schnell deutlich, dass sich der Avatar selbst kaum bewegt.37 Der Körper simuliert zwar bestimmte Bewegungen und kann bestimmte Gesten ausführen, doch die Figur an sich bleibt immer an der gleichen Stelle am unteren Bildschirm stehen und ist in Rückenansicht zu sehen. Dieser eigentümliche Zustand lässt sich leicht erklären: während in unserer drei- dimensionalen Welt «wir» es sind, die uns durch Räume bewegen, ist es besonders 34 Vgl. Beil, S. 49. 35 Vgl. Wolf, Location 1212–1231. 36 Eine Spiel-Engine (game engine) ist ein System, d.h. ein Framework für Computerspiele, das für den Spielverlauf, die visuellen Darstellungen, die auditiven Komponenten und weitere konstitutive Elemente eines Spiels zuständig ist. Sie wird als eine Plattform für die Entwicklung neuer Spiele verwendet. 37 Der Avatar kann entweder einer der drei Hauptprotagonisten oder eines der manövrierbaren Land-, Wasser- und Luftfahrzeuge sein, die man einzeln über den Controller steuern kann. Simulation und Raumwahrnehmung in Grand Theft Auto V 79 in Ego-Shootern und in Third-Person-Shootern der Raum selbst, der sich bewegt und auf uns zusteuert; nicht umgekehrt. Dieser Umstand wird zusätzlich von dem Navigationssystem bekräftigt, das on-screen einen Teil der Karte abbildet und dem Spieler den (von ihm im Voraus) markierten Weg weist (wie das in gewöhnlichen Navigationssystemen üblich ist). Die Pfeilspitze auf der GPS-Karte, die unsere ge- naue Position auf der Karte zeigt, bleibt jedoch statisch und ähnelt damit der Ava- tarfigur, die sich ebenfalls immer an der gleichen Stelle befindet. Sie kann sich zwar um ihre eigene Achse drehen (wie der Avatar), ändert aber zu keinem Punkt ihre Position auf dem Bildschirm. Was sich bewegt ist auch in diesem Fall die Karte. Diese Beobachtung ruft Spiele wie Night Driver in Erinnerung, die anstatt einen Avatar graphisch darzustellen (in diesem Fall einen Wagen), eine aufgeklebte Plastikscheibe benutzten. Das Prinzip bleibt identisch. In beiden Fällen bleibt der Avatar an der gleichen Stelle. Auch in anderen Medien lässt sich Analoges beobach- ten: In Comics, ein genuin statisches Medium, gibt es verschiedene Möglichkeiten Bewegung graphisch darzustellen. Die meisten Zeichner verwenden dabei soge- nannte «speed lines», die auch als «action lines» bekannt sind: Linien, die auf dem Panel Bewegung im Raum suggerieren (der Bahnverlauf eines sich bewegendes Ob- jektes wird anhand von Linien abgebildet). Interessanter erweist sich jedoch eine andere Art der Bewegung, die McCloud «subjektive Bewegung» nennt («subjective motion»). Der Illustrator ist bei derartigen Zeichnungen bemüht, die Perspektive der Zeichnungen, d.h. des Panels, wie bei einem tracking shot (Kamerafahrt) dar- zustellen. In Szenen wie dieser zieht die Perspektive mit dem Objekt mit. Dieses Objekt bleibt dabei scharf, der Hintergrund erscheint im Kontrast verschwommen. «Wenn es schon spannend ist, ein bewegtes Objekt zu beobachten, wie mitreißend muss es dann sein, selbst dieses Objekt zu sein: Das ist der Gedanke dieses Kon- zepts, das ich «subjektive Bewegung nenne.»38 Vor allem in Mangas ist diese Pers- pektive seit den 1960er-Jahren populär. Die in Computerspielen weit verbreitete Form der Third-Person Perspektive ist oft auch in Filmen präsent, wie z.B. in Stanley Kubricks Horrorfilm The Shining aus dem Jahr 1980. In diesem Film verwendet der Regisseur sowohl eine Point-of- View- (POV) als auch eine Third-Person-Perspektive (wie in GTA V). Vor allem letztere kommt mehrfach zum Einsatz. Eine klassische Kamerafahrt im Film, die aus der Third-Person-Perspektive (in Rückenansicht) mit der Steadycam gedreht wurde, ist die berühmt gewordene Szene von Dannys Fahrt durch die Korridore des Overlook-Hotels.39 Diese Szene ist gewiss keine ‹Simulation› einer Fahrt, wie das in Computerspielen der Fall wäre. Es handelt sich dagegen um eine in Echtzeit aufgenommene Fahrt, die filmisch ‹dargestellt› wurde (die Bewegung durch den Korridor hat tatsächlich stattgefunden). Während sich sowohl das Dreirad des jun- gen Schauspielers als auch der Kameramann während der Dreharbeiten dieser Sze- 38 Scott McCloud: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst. Hamburg 2001, S. 122. 39 Stanley Kubrick: The Shining. 1980. 41:14 – 43:05, 49:33 – 49:40. 80 Damianos Grammatikopoulos / Sascha Hosters ne in Bewegung befanden und der Raum, durch den sie fuhren, im Gegensatz dazu statisch war, kehrt sich dieses Verhältnis auf dem Bildschirm um: der Wagen bleibt im Kader immer an der gleichen Stelle. Was sich bewegt ist auch hier der Raum. Schlussbetrachtung Abschließend lässt sich feststellen, dass die virtuelle Spielwelt von GTA V, wie im ersten Teil der Arbeit dargelegt wurde, auf einer hyperrealen Version von Los An- geles basiert, die sich aus ihrem sozialen Charakter und ihrem mediatisierten Image zusammenfügt. Computerspiele wie GTA V führen durch das Zusammenspiel von Interaktivität und Immersion zu Erfahrungen, die sich mit realen Raumerfahrun- gen vergleichen lassen. Die Entscheidungsfreiheit als festes Spielprinzip ist dabei ausschlaggebend für die subjektive Spielerfahrung. Hier wird deutlich, dass die virtuelle Stadt Los Santos keine Kopie im Sinne eines detailgetreuen Abbildes ist, sondern eine dynamische Simulation darstellt, die Spieler zum Experimentieren motiviert und dadurch eine Vielzahl möglicher Handlungen außerhalb der linearen Hauptgeschichte ermöglicht. Die virtuelle Welt von GTA V, sowie ähnliche digitalisierte Räume, weisen folg- lich Qualitäten auf, die «realen» Räumen sehr nahe kommen. De Certeaus Dif- ferenzierung zwischen statischen «Orten» einerseits und «Räumen» andererseits, die durch Mobilität entstehen, lässt sich auf die Welt der Computerspiele und wo- möglich auf alle Formen von Raumsimulationen anwenden. Denn auch in diesen «Welten» finden wir eine harmonische Beziehung zwischen statischen und mobi- len Elementen, d.h. eine Ordnung, aus der sich eine Raumvorstellung herauskris- tallisiert. Paradoxerweise ist es aber in virtuellen Umgebungen der Raum selbst, der sich bewegt und auf den Spieler zukommt und nicht umgekehrt (zumindest in FPS- und TPS-Computerspielen und ähnlichen Raumsimulationen). Dies gilt al- lerdings nur dann, wenn man die Möglichkeit hat, den Raum mittels eines Avatars oder durch die First-Person-Perspektive zu durchwandern. In narrativen Medien wie Literatur, Film und Comics40 ist dies meist nicht möglich, weil man es mit einer fragmentierten Raum-Darstellung zu tun hat, die in der Regel nur als Dekoration für die Narration dient. In Computerspielen hingegen ist die Simulation von Raum die Grundlage für jede Form von Spiel. 40 Eine Ausnahme wäre hier das Fantasy-Epos «Das Lied von Eis und Feuer» («Game of Thrones») von George R.R. Martin, das eine eindeutige topographische Struktur aufweist und zahlreiche Karten hervorgebracht hat. Auch Alan Moores Graphic Novel «From Hell», die den Leser durch die Stadt London im späten 19. Jahrhundert führt und der Film «Cube», der anhand von mathematischen Formeln eine filmische d.h. künstliche Räumlichkeit vermittelt, wären hier als Beispiele zu nennen, die sich der obigen Definition entziehen. Abbildungsnachweise Titelbild: fotolia © MacX Petra Löffler Abb. 1: Fall (I, Los Angeles) (Bas Jan Ader) und Abb. 2: Fall (II, Amsterdam) (Bas Jan Ader) aus: Rene Daalder: Here is Always Somewhere Else. The Disappearance of Bas Jan Ader, Two Disc Special Edition, DVD: Cult Epics 2008. Abb. 3: Seven Chances (USA 1925, Buster Keaton) Abb. 4: Bas Jan Ader: In Search of the Miraculous (One Night in Los Angeles). In: Christo- pher Müller (Hg.): Bas Jan Ader. Filme, Fotografien, Projektionen, Videos und Zeichnungen aus den Jahren 1967–1975, Köln 2000, S. 44–45. Abb. 5: Bas Jan Ader: Farewell to Faraway Friends, in: ebd., S. 34. Abb. 6: Bas Jan Ader: Einladungskarte, Claire Copeley Gallery, Los Angeles, in: ebd., S. 46. Herbert Schwaab Abb. 1: I am a Fool (1953), http://www.youtube.com/watch?v=9qVwjPQxqsc Abb. 2: Gunsmoke (Staffel 1, Episode 1, 1955), http://www.youtube.com/watch?v=8_mleuk_mgQ Die Autorinnen und Autoren Thomas Elsaesser ist Emeritus Professor an der Fakultät Medien und Kultur der Universität von Amsterdam und war von 2006–2012 Gastprofessor an der Yale Uni- versity. Seine Bücher und Aufsätze zur Filmgeschichte, Filmästhetik, zu Hollywood, dem europäischen Kino und zu den Neuen Medien sind in mehr als 15 Sprachen erschienen. Deutsche Buchveröffentlichungen seit 2000: Metropolis (München: Eu- ropa Verlag, 2001), R.W. Fassbinder (Berlin: Bertz + Fischer, 2001), Filmgeschichte und Frühes Kino (München: text + kritik, 2002), Terror und Trauma: über die Ge- walt des Vergangenen in der BRD (Berlin: Kadmos, 2007), Filmtheorie: zur Einfüh- rung (mit Malte Hagener, Hamburg: Junius, 2007) und Hollywood Heute (Berlin: Bertz + Fischer, 2009). Laura Frahm ist Assistant Professor of Visual and Environmental Studies an der Harvard University. Von 2008 bis 2012 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) der Bauhaus-Universität Weimar. Von 2005 bis 2007 promovierte sie im Rahmen des Transatlantischen Graduiertenkollegs Berlin | New York «Geschichte und Kultur der Metropole im 20. Jahrhundert» mit Forschungsaufenthalten an der Columbia University und New York University. Ihre Forschungsschwerpunkte lie- gen im Schnittbereich zwischen Filmgeschichte, Raumtheorie und Stadtforschung. Zu ihren wichtigsten Publikationen gehören: Jenseits des Raums. Zur filmischen To- pologie des Urbanen (2010), Bewegte Räume. Zur Raumkonfiguration in Musikvideos (2007) sowie Einführung in die Medienkulturwissenschaft (Mitherausgeberin, 2005). Damianos Grammatikopoulos hat 2009 einen Masterstudiengang im Fachbereich «Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft» an der Universität Regens- burg abgeschlossen und war im Anschluss daran (2009–2010) am Lehrstuhl für Medienwissenschaft der selbigen Universität tätig. Gegenwärtig ist er PhD-Kandi- dat am Institut für Germanistik an der Rutgers University (New Jersey, USA). For- schungsschwerpunkte sind Comics, Intermedialität und Literaturtheorie. Damia- nos Grammatikopoulos arbeitet derzeit an seinem Dissertationsprojekt, das sich mit intermedialen Strukturen im Werk Franz Kafkas beschäftigt. Sascha Hosters (B.A.) ist Doktorand und Teaching Assistant (TA) am Germanis- tik-Institut der Rutgers University (New Jersey, USA) und ist wohnhaft in Brook- lyn, New York. Vor dem Studium in den USA hat er Medienwissenschaft und Po- litikwissenschaft an der Universität Regensburg studiert. Forschungsschwerpunkte sind urbane Raumtheorie, Fiktionstheorie sowie Interdependenzen verschiedener medialer Repräsentationen mit dem Schwerpunkt auf visuellen Medien. Die Autorinnen und Autoren 83 Sascha Keilholz ist in der Akquise für Alamode Filmdistribution und als Mitarbei- ter am Lehrstuhl für Medienwissenschaft in Regensburg tätig. Von 2000 bis 2010 hat er als Lektor für die Redaktion Fernsehfilm/Sonderprojekte des NDR gearbeitet, von 2004 bis 2011 war er Stellvertretender Chefredakteur der Filmfachzeitschrift critic.de. Seit 2009 leitet Sascha Keilholz «Heimspiel – Das Regensburger Filmfest». Die Monographie Zerfallstudien. Verlusterfahrungen im nordamerikanischen Inde- pendent Kino 1991–2002 ist im Peter Lang Verlag (2009) erschienen. Seine Disser- tation Verlustkino (Zur Diskursivierung von Abschied und Trauer im amerikanischen Copfilm post 1967) hat er 2014 abgeschlossen. Petra Löffler ist Medien- und Filmwissenschaftlerin. Sie unterrichtet Medienphilo- sophie an der Bauhaus-Universität Weimar. Jüngst erschienen ist ihr Buch Verteilte Aufmerksamkeit. Eine Mediengeschichte der Zerstreuung. Silke Roesler-Keilholz (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Medienwissenschaft der Universität Regensburg. Forschungsschwerpunkte sind Raumtheorie, Mediengeographie und das Wechselverhältnis von Medien und Architektur(en). Derzeit arbeitet Silke Roesler-Keilholz an ihrem Habilitations- projekt zu Überwachungsräumen des Medialen sowie gemeinsam mit Bernhard J. Dotzler an einer Einführung in die Mediengeschichte. Neben diversen Aufsät- zen sind bereits die Monographie ‹Identity Switch› im Cyberspace. Eine Form von Selbstinszenierung (Peter Lang 2007) sowie die Dissertation Doing City. New York im Spannungsfeld medialer Praktiken (Schüren 2010) erschienen. Gemeinsam mit Sascha Keilholz hat sie 2012 den Sammelband James Gray. Der filmische Raum zwi- schen Nähe und Distanz (Schüren) herausgegeben. Herbert Schwaab (Dr. phil.) ist Akademischer Rat am Lehrstuhl für Medienwis- senschaft der Universität Regensburg. Er lehrt, forscht und veröffentlicht zur Film- philosophie, zur Populärkultur, zu (non-quality) Fernsehserien (im Besonderen zur Sitcom King of Queens), zum philosophischen Konzept des Alltags und Ge- wöhnlichen, zum populären Kino und zur Repräsentation von Mediatisierung in Fernsehserien. Wichtige Veröffentlichungen: Erfahrung des Gewöhnlichen. Stanley Cavells Filmphilosophie als Theorie der Populärkultur, Münster 2010 und Metal Mat- ters. Heavy Metal als Kultur und Welt (herausgegeben zusammen mit Rolf F. Nohr, Münster 2011). Neuerscheinung Neuerscheinung Berswordt-Wallrabe/Fahle (Hg.) Willem Strank Abbas Kiarostami Twist Endings Die Erzeugung von Sichtbarkeit Umdeutende Film-Enden 152 S. Einige Abb. € 19,90 304 S. | € 29,90 |zahlreiche Abb. ISBN 978-3-89472-887-8 ISBN 978-3-89472-891-5 Marburger Schriften zur Medienforschung Bd. 50 Ein kleiner Kniff und alles ist anders – auch wenn das Twist Ending zumeist Abbas Kiarostami zählt zu den mit dem Riesenerfolg The Sixth Sense bedeutendsten zeitgenössischen (1999) in Verbindung gebracht wird, Filmemachern. Sein Werk, das für ist es fast so alt wie die Filmge- eine ganze Generation jüngerer schichte selbst. Willem Strank geht iranischer Regisseure stilbildend den Ursprüngen des Phänomens auf wirkte und neben herausragenden den Grund und beschreibt seine Filmen auch Fotografien und Entwicklung und Funktionsweise experimentelle Videos umfasst, wurde anhand zahlreicher Beispiele. Der international seit den 1990er Jahren Kunstgriff erfreut sich größerer mit zahlreichen Auszeichnungen Popularität denn je und wird gewürdigt und weltweit in wichtigen mittlerweile häufig zum jüngeren Museen ausgestellt. Trend der sogenannten Mindgame- Filme gerechnet. Universitätsstr. 55 · D-35037 Marburg Universitätsstr. 55 · D-35037 Marburg Fon 06421/63084 · Fax 06421/681190 Fon 06421/63084 · Fax 06421/681190 www.schueren-verlag.de www.schueren-verlag.de Neuerscheinung Neuerscheinung Thomas Nachreiner/Peter Podrez (Hg.) Kleine Genres FEST|STELLUNGEN montage 23/1/2014 Dokumentation des 25. Film- und 216 S. | Pb. | €14,90 Fernsehwissenschaftlichen ISBN 978-3-89472-930-1 Kolloquiums 412 S. |Pb. |€ 38,00 Aus unterschiedlichen Gründen werden ISBN 978-3-89472-892-2 Filme in Gruppen eingeteilt, Genres, Das Film- und Fernsehwissenschaft- Zyklen oder Reihen bilden sich aus. liche Kolloquium ist eine jährlich Inzwischen ist die Vielfalt der Genres stattfindende Fachtagung, die sich groß, Hybridformen gängig, und vornehmlich an den akademischen unterhalb der großen Genres gibt Mittelbau richtet und deren Tradition es verschiedenste kleinere Gruppie- sich nun bereits über ein Vierteljahr- rungen. Während die großen Genres hundert erstreckt. Die Publikation relativ stabile Gruppen darstellen, dokumentiert einerseits die aktuellen handelt es sich bei den «kleinen Beiträge des Kolloquiums, wie sie Genres» eher um kurzlebige beim 25. FFK im Jahr 2012 in Erlan- Erscheinungen, die mitunter nur gen vorgestellt wurden, und schärft wenige Exemplare umfassen. somit den Blick für die gegenwärti- gen Strömungen innerhalb der Film-, Fernseh- und Medienwissenschaft. Universitätsstr. 55 · D-35037 Marburg Universitätsstr. 55 · D-35037 Marburg Fon 06421/63084 · Fax 06421/681190 Fon 06421/63084 · Fax 06421/681190 www.schueren-verlag.de www.schueren-verlag.de