LAURA MOISI JEDER MÜLLTONNE IHREN SCHRANK. EINKAPSELUNGEN UND INFRASTRUKTUREN DES MÜLLS In der Anfangsszene der Filmkomödie As Good as It Gets (1997) versucht der misanthropische New Yorker Melvin, gespielt von Jack Nicholson, den Hund seines Nachbarn in den Aufzug zu locken, um ihn daran zu hindern, sich auf den Fluren des Wohnhauses zu erleichtern. Nach einigen erfolglosen Versu- chen greift Melvin schließlich den Hund und hebt ihn hoch, woraufhin das Hündchen prompt sein Geschäft verrichtet. Vor Wut schnaubend öffnet Mel- vin den Deckel des Müllschluckers, der an einer Wand im mehrstöckigen Wohnhaus angebracht ist. Es ist noch die Aufschrift Trash only zu lesen, da steckt Melvin den Nachbarshund schon hinein und sagt „Don’t worry ... this is New York. If you can make it here, you can make it anywhere“, bevor er ihn loslässt und in den schmalen Schacht hineinschubst.1 Danach sind nur noch diffuse Laute vom Hund zu hören, die von Ferne aus dem Müllschacht erklin- gen. Der Abjektstatus des Hundeurins überträgt sich in dieser Szene quasi auf den Hund selbst. Der Entsorgungsschacht, der gemäß dem Prinzip der Schwerkraft uner- wünschte Dinge – und in manchen tragischen Fällen tatsächlich sogar Haus- tiere – einem dunklen Nichts anheim gibt, symbolisiert den Prozess des Ver- schwindens, der für Dinge, die zu Müll werden, vorgesehen ist. Der Begriff chute, der auf Französisch Sturz, Herunterfallen, Absturz bedeutet, weist auf den Aspekt des plötzlichen Verschwindens von Dingen hin, die in den gar- bage chute geworfen werden. Es handelt sich dabei zum einen um den Fall im Sinne eines Verfalls vom Zustand der Wert- und Gebrauchsobjekte in die Zu- standsform des Mülls – ein Übergang, der den Status der Dinge betrifft. Ande- rerseits geht es um den Sturz im Sinne einer Bewegung des Absturzes, eines tiefen Falls in den Abgrund, der dem Müll, der in den Müllschlucker geworfen wird, widerfährt. Die Vorstellung, dass das, was hineingeworfen wird, ganz gewiss nicht zurückkommt, ist in den Müllschlucker gewissermaßen einge- baut. Der Müllabwurfschacht erscheint so gesehen als eine konkrete Materiali- sierung der allgemeinen Vorstellung von Müll als etwas, das aus dem Nichts kommt – weil es ganz plötzlich, von einem Moment zum anderen, zu Müll wird – und das in das Nichts auch wieder verschwindet. Im Folgenden geht es um die kulturellen und ästhetischen Motive, die mit der Unterbringung von Müll in Eimern, Tonnen, Schränken und Kammern 1 Besser geht’s nicht (amerik. OT: As Good as It Gets), USA 1997, Regie: James R. Brooks, Drehbuch: Mark Andrus, 139 Min. 198 LAURA MOISI verbunden sind. Aus der Perspektive einer materialorientierten, kulturwissen- schaftlichen Müllforschung soll untersucht werden, inwiefern die Symbolik des Hauses und des Gehäuses als räumliche und ästhetische Leitfiguren für die Verkapselung und Aufbewahrung von Müll fungieren. Um die kulturge- schichtliche Entwicklung der Mülltonne näher zu beleuchten, werden diskur- sive Auseinandersetzungen und bildliche Darstellungen einbezogen, die das Projekt der systematisch organisierten Müllabfuhr betreffen. Eine Auswahl an Zeitungsberichten und Bildmaterialien über Wegwerfpraktiken und Müllsam- melbehältnisse aus der Sammlung Erhard bietet dabei die Grundlage für die Diskussion.2 Mit Bezug auf die materiellen und symbolischen Infrastrukturen des Mülls werden folgende Fragen diskutiert: Wie organisiert die im 20. Jahr- hundert entstehende System-Müllabfuhr die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Müll? Auf welche kulturellen Motive des Hauses greifen die Diskussio- nen um die richtige Müllentsorgung und Müllsammlung zurück? Und inwie- fern verbindet die Mülltonne auf materielle und imaginäre Weise persönliche Wohnräume mit öffentlichen Institutionen und Vorstellungen von ‚Gemein- schaft‘? Verschaltungen des Mülls: das Projekt „staubfreie Müllabfuhr“ Die organisierte Müllabfuhr geht in Deutschland auf unterschiedliche Ent- wicklungen und legislative Bestimmungen in den einzelnen Regionen und Städten zurück. Wie Sonja Windmüller in ihrer kulturgeschichtlichen Studie über die Kehrseite der Dinge (2004) beschreibt, ist die entstehende systema- tisch organisierte Müllabfuhr zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem An- spruch geleitet, die Müllentsorgung, Mülleinsammlung und den Mülltransport einheitlich festzulegen. Während die häuslichen Abfälle traditionell in „nicht genormten, beliebigen Gefäßen“ gesammelt wurden und weitgehend ungere- gelt, in zumeist offenen Wagen, zur Abfalldeponie gebracht wurden, vollzieht sich mit der systematischen Müllabfuhrwirtschaft ein grundlegender Wandel.3 Es entstehen gesetzliche Regelungen zur Förderung einer systematischen Ent- sorgungsökonomie, beispielsweile mit dem „Preußischen Kommunalabgaben- gesetz“ von 1893, das die „Erhebung allgemeiner Müllabfuhr-Gebühren“ vor- sieht und das Entsorgen von Hausmüll ausführlich regelt und polizeilich ver- ordnet.4 2 Die Sammlung Erhard ist Bestandteil der zentralen Fachbibliothek Umwelt im Umweltbun- desamt Dessau und dokumentiert Technik und Organisation der Müllbeseitigung in den Jah- ren 1915 bis 1955. Die hier zitierten Materialien gehen auf eine Archivreise in die Sammlung im Januar 2016 zurück. 3 Sonja Windmüller, Die Kehrseite der Dinge. Müll, Abfall, Wegwerfen als kulturwissenschaft- liches Problem, Münster, 2004, S. 70. 4 Vgl. ebd., S. 67. JEDER MÜLLTONNE IHREN SCHRANK 199 Die materielle, technische und visuelle Standardisierung von Müllgefäßen spielt dabei eine bedeutende Rolle. Genaue Regelungen bezüglich der Formen, Größen und Verschlussweisen von Müllsammelbehältern sollten die Verein- heitlichung von Entsorgungspraktiken voranbringen. Um 1906 forcierte die städtische Verwaltung in Hannover ihre Bemühungen, die neuen Regelungen zur Verwendung von einheitlichen Mülltonnen durchzusetzen, indem Müllge- fäße, die nicht den Richtlinien entsprachen, beschlagnahmt wurden. Abbil- dung 1 zeigt „877 beschlagnahmte Gefäße, deren Inhaber obendrein ein Straf- mandat erhielten“5. Die Müllgefäße wurden konfisziert, da sie nicht den Poli- zeiverordnungen entsprachen, „welche die Verwendung von ‚eisernen, mit einem gut schließenden Deckel versehenen Gefäßen‘ zur Müllsammlung vor- schreiben“6. 1 − Beschlagnahmte Müllgefäße in Hannover (1906) Die Standardisierung der Müllabfuhr ging dabei mit einer Normierung der Ex- pertensprache einher, sowie mit der beständigen Entwicklung von Fachbegrif- fen und genau festgelegten Kategorien der Müllsammlung, Entleerung und des Transports.7 Dabei konkurrierten unterschiedliche Systeme, wie Umleer- und Wechseltonnensysteme sowie ein Dreiteilungssystem miteinander. Während beim Umleersystem die genormten Müllbehälter in entsprechende Müllwagen entleert wurden und klein genug waren, um von Hand getragen zu werden, waren die Behälter der Wechseltonnensystems voluminöser und wurden von 5 Bildunterschrift: „Wie Polizeiverordnungen befolgt werden“ (Sign. Sammlung Erhard: F Fotos, Nr. 643). 6 Ebd. 7 Vgl. Windmüller (2004), Die Kehrseite der Dinge, S. 72. 200 LAURA MOISI mehreren Haushalten gemeinsam genutzt. Sie standen in der Regel in Hinter- höfen, und die Müllabfuhr tauschte sie regelmäßig gegen gereinigte Tonnen aus.8 Das Dreiteilungsverfahren, das in Charlottenburg auf „obligatorischer Grundlage“ eingeführt wurde, basierte auf Müllbehältnissen mit drei getrenn- ten Kammern für Küchenabfälle, Kehricht und solchen Müll wie Papier oder Glas, bei dem eine Wiederverwertung in Betracht kam. Es sollte „im national- ökonomischen Interesse“, wie Carl von der Linde, Geschäftsführer der Char- lottenburger Abfuhrgesellschaft, schrieb, „die Wiederverwertung von Abfällen ermöglichen“9. Die Charlottenburger Dreiteilung sollte ein nationalwirtschaft- liches Modell der Müllentsorgung werden, das bis in die Privatwohnungen hinein den Umgang mit Müll festlegte. So ging das System der Dreiteilung mit „in Privathaushaushalten zur Vorsortierung aufgestellten Müllschränken“10 einher. Die Behälter für Asche und Kehricht waren dabei ganz unten platziert (Abb. 2). Zwar wurde das System 1917 aufgrund des ausbleibenden wirt- schaftlichen Erfolgs wieder eingestellt. Aus kulturgeschichtlicher Sicht hat die vorgeschriebene Mülltrennung jedoch nachhaltige Spuren hinterlassen. Das Dreiteilungsverfahren war als ein Aufruf an die Bevölkerung konzipiert, wie- derverwertbare Reste im Interesse einer imaginierten Gemeinschaft richtig zu entsorgen und zu trennen – ein Prinzip der Müllentsorgung, dem im Hin- blick auf die gegenwärtige Bedeutung von Mülltrennung, Wiederverwertung und Zero-Waste-Utopien eine historische Vorläuferrolle zukommt. 2 − Das Charlottenburger Dreiteilungsmodell (1912) 8 Vgl. ebd., S. 77. 9 Carl von der Linde, Müllvernichtung oder Müllverwertung, insbesondere das Dreiteilungs- system. Ein Beitrag zur Hygiene des Mülls mit Rücksicht auf ihre volkswirtschaftliche Bedeu- tung, Charlottenburg, 1906, S. 29 f. 10 Windmüller (2004), Die Kehrseite der Dinge, S. 174. JEDER MÜLLTONNE IHREN SCHRANK 201 Die „staubfreie Müllabfuhr“ entwickelte sich zu einem Überbegriff für die un- terschiedlichen Entsorgungssysteme, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts Schmutz und Staub bei der Mülleinsammlung kontrollieren sollten. In der ingenieurswissenschaftlichen Fachliteratur tauchte die Beseitigung von Abfall zwar größtenteils als eine rein technische und pragmatische Frage auf, die Ent- scheidungen für bestimmte Verfahren der Müllbeseitigung gingen jedoch mit spezifischen Vorstellungen von Schmutz, Hygiene und Sauberkeit einher.11 Die eingesetzten Sammelsysteme, Geräte und Materialien sollten die Abfälle sauber und hygienisch entfernen, ohne an ihre Abjekthaftigkeit zu erinnern. Ausgehend von der hygienischen Bedeutung einer „staubfreien“ Entladung von Mülltonnen in Abfuhrwagen waren Werbekampagnen von Mülltonnen- und Fuhrwerk-Herstellern bemüht, das Bild einer modernen und technisch fortschrittlichen Müllabfuhr zu vermitteln. So hebt die Blechwarenfirma Schmidt und Melmer in ihrer Übersicht zur Müllbeseitigung von 1940 die Staubfreiheit und Undurchlässigkeit des von ihr entwickelten Systems hervor. Das Ringtonnensystem Es-Em, das die Firma im Jahr 1925 erstmals vorstellt und das ein halbes Jahrhundert lang in vielen deutschen Städten zum Einsatz kommen wird, setzt sich aus „zwei Hauptbestandteilen“ zusammen: „die der Müllsammlung dienenden Müllgefäße und die an dem Müllwagen anzubring- ende, die staubfreie Entleerung der Müllgefäße sichernde sogenannte Schüt- tung“12. Diese Schüttung besteht aus „drei zwischen Seitenwänden schwinden- den Scharnierplatten“ (vgl. Abb. 3). Während die Mülltonnen entleert werden, „befindet sich die auf dem Gefäßdeckel angebrachte Deckelnase im Eingriff mit der Verschlußklappe“13. Der Patentschutz der Firma Schmidt und Melmer umfasste die Idee eines automatischen Mechanismus zum Öffnen und Schlie- ßen der Mülleimer, sobald diese zur Entleerung an die Vorrichtung am Müll- wagen angekoppelt wurden. Der undurchlässige Schüttmechanismus sollte den Austritt von Staub „praktisch völlig unterbinden“14 (vgl. Abb. 4). Die staubfreie Müllabfuhr manifestiert sich als die „lückenlose“, vollständige Ver- schließung von Mülltonnen während ihres Einsatzes bei der Entleerung und beim Transport. 11 Vgl. ebd., S. 63. 12 Fa. Schmidt & Melmer (Hersteller von Müllgefäßen, Weidenau-Sieg.) (Hg.), Zusammenfas- sende Darstellung des gesamten Aufgabenkreises der Hausmüllbeseitigung, Feudingen, 1940, S. 29 f. (Sign. Sammlung Erhard: A 729). 13 Ebd. 14 Ebd., S. 32. 202 LAURA MOISI 3 und 4− Ringsystem Es-Em der Blechwarenfirma Schmidt & Melmer (1940) Die Schilderungen und visuellen Darstellungen des Müllsammelsystems Es- Em legen nahe, die Müllbeseitigung als einen technischen Kreislauf zu be- trachten – ein Kreislauf, in dem organische Stoffe wie etwa Speisereste ma- schinelle Kanäle durchfließen: draußen eine präzise mechanische Anordnung, drinnen strömt organische Materie. Die Abfuhrwagen und der skizzierte Ge- fäßkreislauf erwecken den Anschein einer apparativen Verschaltung. Ver- schaltung – ein Begriff, der in der Schaltungstechnik die Verdrahtung zwi- schen einzelnen elektrischen Bauelementen beschreibt – bezieht sich hier auf die Verbindung zwischen den Gefäßen der Müllsammlung und des Mülltrans- ports. Ziel dieser Technik ist eine Konstruktion, die widerständiges organi- sches Material in eine unsichtbare und möglichst rückstandslose Bewegung bringt. Faulende Speisereste, übelriechender Abfall und klebrige Müllmasse werden von einer automatisierten Technik und metallischen Ästhetik kanali- siert und vermeintlich restlos absorbiert. Die Technologien des „Öffnens“ und des „Schließens“ der Müllgefäße grei- fen dabei auf symbolische Weise die Praktiken des Öffnens und Schließens von Mülleimern, Wohnungstüren, Tonnendeckeln auf, die nötig sind, um den Müll von einer intimen, persönlichen Spur des täglichen Lebens zu einer Sa- che der örtlichen Müllabfuhr zu machen. Die „lückenlose“ Verkopplung von genutzter Mülltonne und industriellem Entsorgungsfahrzeug knüpft die Sphäre des Privaten materiell und sinnbildlich an eine öffentliche Entsorgungsmaschi- nerie. Es handelt sich um die entscheidende Schnittstelle der modernen häusli- chen Müllentsorgung: die Verbindung des Privaten mit dem Öffentlichen, des Häuslichen mit einer imaginierten Gemeinschaft, und zugleich um die Ab- sorption des organischen Materials in einer vermeintlich reibungslos laufen- den technischen Anordnung. JEDER MÜLLTONNE IHREN SCHRANK 203 Die Mülltonne: Stiefkind der Architektur die nichtse mülleimer das sind stinkende monster wohlmeinend denn irgendwo muß er hin der dreck gesellschaft das sind wir mit unserem müll wir ekeln uns delegieren den ekel vom abfalleimer zum mülleimer vom mülleimer zur müllhalde [...] mülleimer die vorreiter der apokalypse erzählen: wir mülleimer zählen zu den unterprivilegierten / andere dinge sind besser dran / sie werden benutzt wie wir aber der mensch zollt ihnen achtung im täglichen umgang / uns nummeriert und benamt man / man versteckt uns an den unmöglichsten orten/ ja man bemalt uns um uns unsichtbar zu machen/ aber wir sind die träger dieser kultur/ wir sind die nichtse die alles fressen / doch haben wir unseren stolz / herr beckett hat uns mit recht groß rausgebracht / wir fragen nicht nach der Welt / wir haben die welt in uns / [...] Michael C. Glasmeier15 In der Nachkriegszeit greifen viele Zeitungsartikel die Thematik der Unord- nung, Verwüstung und des leidlichen Anblicks von Müll auf den Straßen auf. Ein Kölner Zeitungsbericht aus dem Jahr 1955 berichtet, es gäbe „noch viele Städte, in denen die Mülltonnen in allen Größen, Formen und Unformen zuge- 15 Michael C. Glasmeier, Mülleimer im Stadtbild: eine Ausstellung der Akademie der Architek- tenkammer Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 1981, S. 2. 204 LAURA MOISI lassen sind. Da gibt es Mülleimer, das sind gar keine Mülleimer!“16 Es kam immer wieder vor, dass private Haushalte Gefäße für die Abholung von Müll aufstellten, die nicht den Bestimmungen entsprachen. Diese Mülltonnen, die gar keine sind, die illegitimen Behausungen des Mülls – damit sind zum Bei- spiel offene „Pappkartons“ gemeint, die mit Asche und Abfall gefüllt sind.17 Der Bericht mit dem Titel „Tu das Deine dabei! Sorg mit für ein schönes und sauberes Stadtbild“ zieht deutliche Parallelen zwischen Reinigungsarbei- ten im privaten Wohnraum und der städtisch organisierten Müllabfuhr. Die „fleißige[n] Hände“, die das Stadtbild verschönern, stehen hier in direktem Zusammenhang zur Figur „der Hausfrau“, die sich „zum herkömmlichen Osterputz [rüstet], wobei dann im Hause oder in der Wohnung aus allen Win- keln und Ecken der letzte verbliebene Rückstand und Staub [...] hervorgeholt wird.“18 Weiter heißt es: Auch die Stadt rüstet sich zum kommenden Frühling und bleibt bemüht, auch ihr Aeußeres frisch und angenehm zu gestalten. [...] Auch du kannst mit dazu bei- tragen, das Stadtbild zu verschönern. [...] Jeder von uns aber kann dem Motto ‚Helft Ordnung halten!‘ zum Erfolg verhelfen, wenn er sich bemüht, Papier-, Fahrschein-, und Obstreste nicht achtlos auf Straßen und Wege zu werfen.19 In diesem Aufruf an die „Bevölkerung“, ihren Beitrag zu leisten, um „Sauberkeit“ und „Ordnung“ der Straßen zu sichern, taucht die Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit von Müll als eine Problematik auf, bei der es darum geht, richtiges von falschem sozialen Verhalten zu unterscheiden. Dabei wird Müll als ein Objekttyp verhandelt, der die Sphäre des Häuslichen – die „Winkel und Ecken“, aus denen Schmutz entfernt wird – mit den Zonen des öffentlichen Lebens, den Straßen und Wegen, infrastrukturell und figurativ verbindet. Poli- zeiliche Verordnungen zu Formen und Größen der Müllgefäße und zu regel- mäßigen Abfuhrzeiten der Müllabfuhr stellen ebenfalls eine Verbindung zwi- schen privaten Wohnbereichen und den Räumen des Öffentlichen dar, sowohl in gegenständlicher als auch in zeitlicher Hinsicht. Der Fokus auf die Ästhetik von Müllbehältern zeigt auf, wie anhand des Mülls Fragen der Zugehörigkeit zu einer „imaginierten Gemeinschaft“ verhandelt werden.20 Die Sauberkeit „draußen“ auf den Straßen wird in einen Zusammenhang mit der Zugehörig- keit jener, die „drinnen“ wohnen, gebracht. Auch die Düsseldorfer Zeitung Der Mittag fragt im Jahr 1956: „Wer kennt nicht den häßlichen Anblick der vor den Häusern stehenden Müllbehälter, die – oft mit klaffenden Deckeln – unsere Straßen auf nahezu unerträgliche Weise 16 Welt der Arbeit, Köln, vom 30.11.1952: „Wohin mit den Mülltonnen?“ (Sign. Sammlung Er- hard: Z SCH Schrank für Mülltonnen). 17 Vgl. ebd. 18 Westfalen-Post, Soest, vom 15.03.1950: „Tu das Deine dabei! Sorg mit für ein schönes und sauberes Stadtbild“ (Sign. Sammlung Erhard: Z X III). 19 Ebd. 20 Vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London, 1983. JEDER MÜLLTONNE IHREN SCHRANK 205 verschandeln und vielfach den Fußgängerverkehr behindern?“21 Die vor den Häusern stehenden Tonnen würden zur „Seuchengefahr“ beitragen, da „Hun- de, Katzen und Ratten ungestört in Abfall und Unrat herumwühlen“ und „da- bei übelriechende verfaulende Speisereste hierhin und dorthin verschleppen“22. Nötig seien gut verschließbare Müllgefäße, die nicht von Tieren durchgewühlt werden können. Hinsichtlich der Frage „Wohin mit dem Müll?“ schlägt der Artikel vor, dass Architekten und Bauplaner sich zukünftig kreative Ideen für die Platzierung von Mülltonnen einfallen lassen, damit diese nicht länger vor den Häusern stehen und das Stadtbild „verschandeln“. Was die hygienische und ästhetische Unterbringung von Mülltonnen angeht, sei zu beachten, „daß die Mülltonnen möglichst unsichtbar bleiben“, zum Beispiel, indem sie „in ge- schlossene Nischen, die entweder frei stehen oder in die Hauswand eingebaut“ sind, platziert werden.23 Die Suche nach einem Platz für Mülltonnen führt dabei auf das allgemeine Verhältnis von Familienleben und Müllentsorgung. Figuren des Hauses und des Wohnens – die Kammer, der Schrank, die Tür – ebenso wie Kategorien der Verwandtschaft tauchen immer wieder als räumliche und metaphorische Bezugspunkte auf, um Fragen der angemessenen Unterbringung von Müll zu diskutieren. Der Dortmunder Ingenieur Otto Zweig erhebt im Jahr 1956 eine Feststellungsklage vor dem Landesverwaltungsgericht in Frankfurt, die klären soll, „[w]er dafür verantwortlich sei, daß fast 2 Millionen Mülltonnen noch immer keinen allgemein vorgeschriebenen festen Platz im oder am Hause ha- ben“24. Otto Zweig beklagt dabei die mangelnde Konzeption einer legitimen architektonischen Unterbringung von Mülltonnen und macht den institutionel- len und legislativen Bezug zwischen dem Müll und dem „Haus“ zum Gegen- stand seiner Klage. Zu viele Mülltonnen würden vor den Häusern stehen, ohne dass ihnen ein spezifisch zugehöriger Platz zugewiesen wird – was wiederum die Gesundheit der Bevölkerung gefährde. Wenn es keine baldigen Lösungs- versuche für das „Müllproblem“ gäbe, dann werde man Deutschland eines Ta- ges den „wenig schmeichelhaften Beinamen ‚Land der Mülltonnen‘ geben“25. Otto Zweig schlägt vor, Abfälle zukünftig in einem „Schrank für Müllton- nen“ unterzubringen, und lässt seine Idee zur Einkapselung von Müll in Form der sogenannten „Müllbox“ patentieren (vgl. Abb. 5).26 Die Braunschweiger Presse schreibt über die Müllbox, man habe mit ihr einen „Apparat“ aufge- 21 Der Mittag, Düsseldorf, vom 01.12.1956: „Schrank für Mülltonnen“ (Sign. Sammlung Erhard: ZA SCH Schrank für Mülltonnen). 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Westdeutsche Allgemeine, Essen, vom 06.01.1956: „Oft vergessene Mülltonnen kämpfen um Platzrecht. Technisch kein Hindernis – Bochumer Müllsatzung musterhaft“ (Sign. Sammlung Erhard: ZA U Unterbringung von Müllgefäßen). 25 Welt der Arbeit, Köln vom 30.11.1952: „Wohin mit den Mülltonnen?“. 26 Der Mittag, Düsseldorf vom 01.12.1956: „Schrank für Mülltonnen“. 206 LAURA MOISI baut, „der zeigt, wie man die Mülltonnen aus dem Wege und ‚aus dem Auge‘ schaffen könnte“27. Der Apparat (vgl. Abb. 6) stelle einen neuartigen Müllschrank dar, eine Stahlblechtür mit einem Stahlblechrah- men, hinter der eine Mülltonne an einer starken, festen Achse aufgehängt ist. Tür mit Mülltonne sind in eine Mauer [...] eingebaut, so daß dahinter eine Kammer, ein Verließ, ein Schacht oder eben ein Schrank, ein ‚Müllschrank‘, entstanden ist.28 Diese Müllschränke seien in Hannover an verschiedenen Neubauten ange- bracht worden, und dies sei auch für die Stadt Braunschweig zu hoffen. „Müll- schränke, in beliebiger Zahl in Häuserwände, Torpfosten, Kellerlöcher und Mauern eingelassen, haben viele Vorteile. Sie lassen die Müllbehälter von der Straße verschwinden und verschönern so indirekt das Straßen- und Stadt- bild.“29 Der Artikel endet mit dem Aufruf an alle Architekten und Hausbesit- zer, „solche modernen und hygienischen Schränke“ einzubauen, und mit der Bemerkung, dass es nun „mit allen Braunschweigern“ zu hoffen bleibe, „daß eines Tages jede Mülltonne ihren eigenen Schrank hat“30. In den gestalteri- schen Ideen zu Müllschränken, Müllboxen und anderen Müllgehäusen kom- men Vorstellungen über die technischen Umdeutungen von Müll und über ei- nen wünschenswerten Zustand der modernen, technisch verschalteten Müll- kultur zum Ausdruck. Der Müll taucht hier in zweierlei Hinsicht auf: einmal als ein visuell störendes, sinnlich ekelerregendes Objekt, und zweitens als ein Gegenstand, an dem sich die Frage, wie man in Zukunft wohnen und leben möchte, entzündet. Dabei stellen das Haus, der Schrank oder die Box Modelle des Verbergens von Schmutz und Ekel dar, während sie dem Müll als Gehäuse zugleich eine legitime Form der Sichtbarkeit verschaffen. 5 − Mülltonnen in der Müllbox (1955) 27 Braunschweiger Presse vom 25.05.1955: „Ein Vorschlag des Tiefbauamtes: Jeder Mülltonne ihren Schrank!“ (Sign. Sammlung Erhard: ZA U Unterbringung von Müllgefäßen). 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd. JEDER MÜLLTONNE IHREN SCHRANK 207 6 − Jeder Mülltonne ihren Schrank, Braunschweiger Presse (1955) Die kulturelle Nähe zwischen der Entsorgung von Müll und den Symbolen des häuslichen Lebens geht sogar so weit, dass der Müll im Kontext der Frage nach seiner Unterbringung in Begriffen der Familienzugehörigkeit gedacht wird. Im Zuge des sozialen Wohnungsbaus in der Nachkriegszeit stellt sich zudem die Frage nach einer architektonischen Lösung für die Müllansamm- lungen in Großstädten und sozialen Wohnhäusern. In diesem Zusammenhang ist in manchen Zeitungsartikeln zu lesen, es sei an der Zeit, dass Architekten bei der Planung von Wohnungen und Neubauten das Problem der Müllentsor- gung stärker berücksichtigten und die Mülltonnen nicht länger „stiefmütter- lich“ behandelten.31 Angesichts des Problems der Unterbringung von Müllge- fäßen in Wohngebieten wird die Mülltonne zum „Stiefkind der Architektur“ ausgerufen.32 Die Bezeichnungen „stiefmütterlich“ und „Stiefkind“ weisen auf die Annahme hin, der Müll sei letztlich ein Familienmitglied, dessen Zugehö- rigkeit allerdings fragwürdig und marginalisiert ist. Einerseits geht es hier um die Aushandlung der Frage, inwiefern der Müll als ein notorisch minderwertiges, unseriöses und abstoßendes Objekt zu einem Gegenstand der intellektuellen Arbeit von Architekten werden kann. Anderer- seits rückt die Problematisierung der Müllunterbringung in Begriffen und Me- taphern aus dem Bereich der Familie das Motiv des Hauses, in dem sich Fami- lienangelegenheiten abspielen, für das kulturelle Verständnis von Müll noch einmal auf andere Weise in den Vordergrund. Nicht nur wird der Müll histo- risch domestiziert, indem die Müllentsorgung zu einem wesentlichen Bestand- teil des häuslichen Lebens wird, auch die Aufbewahrung von Müll erhält ei- nen „häuslichen“ Ausdruck. Zugleich taucht hier die Idee auf, dass die Ver- nachlässigung der Frage nach der Platzierung der Mülltonnen auch damit zu- sammenhängt, dass Dinge, die als Müll gelten, aus der Wahrnehmung ver- drängt werden und beim Planen und Gestalten bewusst wieder in Erinnerung gerufen werden müssen. 31 Welt der Arbeit, Köln vom 30.11.1952: „Wohin mit den Mülltonnen?“. 32 Ebd. 208 LAURA MOISI Nach dem Vorbild von Wohneinrichtungen und insbesondere von Ein- bzw. Ausgangsschwellen des Hauses modelliert, markiert die Mülltonne selbst eine Schwelle, eine Schnittstelle zwischen den Räumen der privaten Wohnung, den Familienangehörigen, der Nachbarschaft und der Sphäre des Öffentlichen. Be- vor der Müll in eine öffentliche Müllanlage transportiert wird, versammelt der zumeist im gemeinsamen Hausflur positionierte Müllschlucker die Abfälle der gemeinsam oder getrennt lebenden Individuen im Wohnhaus. Müll wird zu einer Sache der Nachbarschaft und damit Gegenstand von sozialen Fragen, Aushandlungen, Konflikten und Missverständnissen. Nicht zufällig handelt es sich bei dem Hund, den Jack Nicholson im eingangs erwähnten Film in den Müllschlucker wirft, um den Hund des Nachbarn. Das Thema der Sichtbarkeit und Ästhetik von Müllbehältern ist auch eng verknüpft mit der Frage danach, für wen der Müll sichtbar und zugänglich ist. Dabei geht es im Kontext der angemessenen Unterbringung von Müll nicht nur darum, den Zugang zu Müll für Tiere, die ihn umwühlen, zu verhindern, sondern ebenso für Kinder, die den Müll zu Spielzeug umfunktionieren könn- ten. Die Vorstellungen einer zukünftigen Müllkultur erstrecken sich also auch auf Konzepte vom angemessenen Umgang von Kindern mit Müll. Ein Artikel in der Braunschweiger Presse betont etwa, es handele sich bei dem Müll- schrank um eine „neue Methode, Müllkübel vor dem Umfallen und dem Zu- griff spielender Kinder zu schützen“, da die Tonnen an einer stählernen Tür aufgehängt sind.33 Es ist auffällig, wie häufig Kinder in diesem Kontext der Diskussion um die Müll-Standardisierung und um die richtigen Müllgefäße er- wähnt werden. Kindern wird dabei eine ganz besondere Faszination für den Müll attestiert. In der Auseinandersetzung mit dem Projekt der organisierten Müllabfuhr weisen Zeitungsberichte regelmäßig auf die zahlreichen Gefahren hin, die sich im Müll verbergen und die besonders den Kindern schaden könn- ten. Dabei geht es nicht nur um die Gesundheitsgefährdung durch aufgewirbel- ten Staub, sondern auch um die Gefahren anderer weggeworfener Objekte, wie etwa kaputte Rasierklingen, die Kindern beim „Spielen mit dem Müll“ Verlet- zungen zufügen. So warnt etwa ein Zeitungsartikel im Hamburger Elternblatt aus dem Jahr 1955 vor den Gefahren des Mülls mit der Überschrift „Im Müll lauert der Tod!“34. Der Autor erzählt grauenvolle Geschichten von Kindern, die beim Spielen mit Müll erblinden, sich mit Salzsäure verbrennen bzw. verätzen, mit weggeworfenen Tabletten vergiften oder auf andere Weise verletzen und so- gar ums Leben kommen. Einerseits markiert die Beschreibung von Müll als ge- fährlichem Spielzeug für Kinder den offen liegenden, sichtbaren Müll als ein ge- fährliches Objekt. Anderseits führen die Tücken und Gefahren, die sich im sicht- baren und zugänglichen Müll verbergen, die Familienfreundlichkeit von Müll- 33 Braunschweiger Presse vom 25.5.1955: „Ein Vorschlag des Tiefbauamtes: Jeder Mülltonne ihren Schrank!“. 34 Erich Fischer, „Im Müll lauert der Tod!“ in: Hamburger Elternblatt, 1 (1955) (Sign. Samm- lung Erhard: Z XV Verschiedenes). JEDER MÜLLTONNE IHREN SCHRANK 209 sammeltechniken wie dem Müllschlucker vor, die den Müll sicher verbergen und verkapseln (vgl. Abb. 7). Die Entsorgung von Müll mittels eines Müllab- wurfschachts, so der Autor, gehe nämlich „ohne Staubentwicklung und Ge- ruchsbelästigung vor sich, und Kinder kommen überhaupt nicht mehr mit dem Unrat zusammen“35. 7 − Müllabwurfschacht in Hamburg (1955) In den Diskussionen um die Platzierung von Mülltonnen taucht die Vorstel- lung von Müll als „matter out of place“, als ein Material, das den Sinn für Ordnung und Regelhaftigkeit stört, wie es Mary Douglas in Purity and Dan- ger (1966) formuliert, deutlich auf.36 Ebenso kommt hier zum Ausdruck, in- wiefern Müll ein Objekttyp ist, der unsichtbar, übersehbar ist und sich be- zeichnenderweise immer am falschen Ort befindet, wie es Michael Thompson in seiner Theorie des Abfalls (1979) beschreibt.37 Die Beschreibung von Müll als matter out of place verweist dabei nicht nur auf das kategorische Heraus- fallen aus einer symbolischen Ordnung des Sozialen, sondern auch auf die physische Ruhelosigkeit der Dinge, die als schmutzig, verfault, ekelhaft oder nutzlos gelten. Die Vorstellungen vom Müll als Material ohne Platzrecht, des- sen Unterbringung grundlegend „notdürftig“, verschoben und verlagert ist, 35 Ebd. 36 Vgl. Mary Douglas, Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, London, 1966. 37 Vgl. Michael Thompson, Die Theorie des Abfalls. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten, Stuttgart, 1989 [OA: Rubbish Theory. Exploring the Practices of Value Creation, 1979]. 210 LAURA MOISI kommt in vielen Darstellungen und Auseinandersetzungen mit der Frage nach der räumlichen Platzierung von Müllgefäßen in Wohngebieten zur Geltung. Dass die kulturellen Dimensionen des Mülls über diese Feststellungen hinaus- gehen und Abfall, wie Joshua Reno feststellt, auch als ein „sign of life“38 fun- giert – als zurückbleibende Ablagerung, die auf das Leben und Fortleben von Lebewesen hinweist –, wird in dem Projekt der standardisierten Müllabfuhr ebenso deutlich. Die staubfreie Müllabfuhr organisiert mit der Normung und Einteilung von Müllgefäßen auch die Trennung zwischen menschlichen und tierischen Lebe- wesen anhand der Spuren, die sie hinterlassen. Es ist eine Aufteilung der Welt in Menschen, Tiere und Dinge und die systematische Zuweisung einer Hierar- chie von Lebendigkeit, die sich auf vielfältige Weise ausdrückt. Die organi- sierte Müllabfuhr stellt mit der Verkapselung von Müll in Schächten, Schrän- ken, Tunneln und geschlossenen Entsorgungskreisläufen eine Ordnung her, die auf der grundlegenden sinnlichen Aufteilung der Welt in leblose Dinge, menschliche und nicht-menschliche Wesen beruht. Der gehinderte Zugang zum Müll für Tiere bzw. „Ungeziefer“ wird zu einem zentralen Bestimmungs- grund der Müllabfuhr und spielt eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung spezieller Konstruktionen wie Müllbox, Müllschrank und Müllschlucker. Der Müll taucht so gesehen als eine Figur auf, anhand derer die Zugehörigkeiten von Lebewesen festgelegt und die Verstöße gegen diese Aufteilung markier- bar werden. Während die räumliche Trennung zwischen Lebewesen und Müll eine we- sentliche Rolle in der Entwicklung der organisierten Müllabfuhr spielt, greifen die Darstellungen und Beschreibungen von Mülltonnen und Müllwagen oft explizit auf animistische Motive und Metaphern zurück. Die Mülltonnen und die Abfuhrwagen zur Beladung und zum Transport des Mülls weisen eine figurale „Lebendigkeit“ auf und werden zum Beispiel als „hungrige Tiere“ be- zeichnet.39 Ein Zeitungsbericht im Generalanzeiger Leer von 1955 beschreibt Müllwagen als „hungrige Wölfe“ mit einem „sehr leistungsfähigen Magen“, die Müll „fressen“.40 Ein anderer Artikel mit der Überschrift „Der Müllwolf geht um“ berichtet über „eine kleine Maschine, die alles zerkleinert, was mit ihr in Berührung kommt“41. Es handelt sich um einen Abfallzerkleinerer, wel- cher die Abfälle, die in das Spülbecken geworfen werden, mithilfe eines Elek- tromotors unter Zufluss von Wasser zermahlt und in die Kanalisation schwemmt. Bemerkenswert ist dabei, dass in diesen animistischen Beschrei- 38 Joshua O. Reno, „Toward a New Theory of Waste: From ‚Matter out of Place‘ to Signs of Life“, in: Theory, Culture & Society 31, 6 (2014), S. 3-27. 39 Der Mittag, Düsseldorf vom 01.12.1956: „Schrank für Mülltonnen“. 40 Generalanzeiger Leer vom 21.10.1955: „‚Hungriger Wolf‘ frißt Abfälle. Neuer Müllwagen wird ausprobiert – Er nimmt mehr Balast auf!“ (Sign. Sammlung Erhard: Z VX). 41 Allgemeine Rundschau Nürnberg vom 02.07.1952: „Der Müllwolf geht um. Gesichtet auf der Ausstellung ‚Die Wirtschaft im Dienste der Hausfrau‘“ (Sign. Sammlung Erhard: ZA M Müllwolf). JEDER MÜLLTONNE IHREN SCHRANK 211 bungen der Müllbehälter ein deutlicher Fokus auf das „Fressen“ und den „Hunger“ gelegt ist. Der Mülleimer wird als Figur von unstillbarem Hunger und Essensgier porträtiert. Auch heute greifen Stadtentwickler auf animisti- sche Elemente in der Gestaltung von öffentlichen Abfallbehältern zurück. So präsentieren sich in neueren Kampagnen der Berliner Stadtreinigung (BSR) in Berlin, die zur Entsorgungsmotivation beitragen sollen, die orangenen Müllei- mer der Stadt als „Kippendiener“ oder „Häufchenhelfer“, während andere die Aufschrift „Bitte füttern“ tragen und mitunter ein „Streichelzoofeeling“ zu er- wecken vermögen.42 Die Technologien der Müllentsorgung und die öffentliche Entsorgungsinfrastruktur treffen auf das Organische, allerdings in seiner ab- jekthaften Kehrseite, die Gefühle des Ekels und Abscheus hervorruft und an Tod und Verfall erinnert. Mit der Beschreibung der Entsorgungsinfrastruktur in positiv konnotierten, animistischen Begriffen wird diese düstere Organizität des Abfalls euphemistisch umkodiert und die positive Kehrseite des Abjekts betont – die Mülltonne wandelt sich symbolisch von einem Behälter für Kon- sumreste, die menschliche Lebewesen hinterlassen, zu einem lebendigen Kon- sumenten eigener Art, der von Appetit und Hunger getrieben ist. Architekturen des Mülls: schmucke Häuschen für den Abfall 8 − Schmucke Häuschen für Container, Michael C. Glasmeier (1981) In seinem Bildband Mülleimer im Stadtbild porträtiert Michael Glasmeier ver- schiedene Müllgefäße und setzt die Mülleimer in der Stadt Gelsenkirchen um 42 Henriette Teske, „Für die Tonne. Mülleimer-Sprüche in Berlin“, auf: Der Tagesspiegel, on- line unter http://www.tagesspiegel.de/berlin/muelleimer-sprueche-in-berlin-fuer-die-tonne/10 838764.html, zuletzt aufgerufen am 21.12.2015. 212 LAURA MOISI 1980 bildlich in Szene. Der Band zeigt Aufnahmen von Mülleimern, Müllton- nen und Müllgehäusen in unterschiedlichen Wohngebieten und städtischen Schauplätzen (vgl. Abb. 8). Unter dem Titel „Kleine schmucke Häuschen – Große Architektur?“ präsentiert Glasmeier betonierte Wände und „Gehäuse“, in denen sich die Mülltonnen wiederfinden. Diese Bilder verdeutlichen die Funktionen des Verbergens von Abfall und des Unsichtbarmachens von Res- ten, die Müllgefäße erfüllen sollen. In Mülltonnen am Straßenrand verborgen, die nicht selten ihrerseits noch in einem weiteren „Gehäuse“ (vgl. Abb. 9) oder in einem betonierten Haus (vgl. Abb. 10) versteckt werden, soll der Müll nicht mehr als Müll erkennbar sein. 9 − Steinhaus für Mülltonnen in Goult, Frankreich (2015) 10 − Müllgehäuse in Herten, Westfalen (2015) JEDER MÜLLTONNE IHREN SCHRANK 213 Was die äußere Erscheinung von Mülleimern betrifft, so ergab sich bereits zu Beginn der organisierten Müllabfuhr im 20. Jahrhundert das paradoxe Pro- blem, dass man den Müll verstecken wollte, indem man ihn wiederum in deut- lich sichtbaren Müllgefäßen unterbrachte.43 Der Müll, der Affekte des Ekels auslöst, sollte in den robusten Tonnen und grauen Behältern möglichst un- kenntlich gemacht werden. Die widersprüchlichen Bestrebungen zur Verber- gung und Gestaltung von Mülltonnen sind Versuche, die assoziative Nähe zwischen dem Müll und seinen Gehäusen sowie das korrespondierende Gefühl des Ekels, das nun die Mülltonnen auslösen könnten, zu bändigen. Mit Bezug auf Julia Kristevas Arbeiten zum Abjekt bezeichnet Sara Ahmed das Phänomen des Ekels als einen Raum der Begegnung – als eine „contact zone“. In The Cultural Politics of Emotion (2004) schreibt Ahmed hinsichtlich der Gefühle des Ekels gegenüber bestimmten Dingen: „[A]n object becomes disgusting through its contact with other objects that have already, as it were, been designated as disgusting before the encounter has taken place“44. Die Art und Weise, wie Dinge miteinander in Berührung kommen, ist so gesehen das, was den Ekel ausmacht. Zum Ekel gehört auch, dass er nicht frei flottiert, son- dern tatsächlich unmittelbar an den Objekten ‚klebt‘: „While disgust involves such a metonymic slide, it does not move freely: it sticks to that which is near it; it clings.“45 In seiner Abfalltheorie schreibt Michael Thompson über die Be- schäftigung mit Müll Ähnliches: „Abfall bleibt schließlich doch ein ziemlich widerwärtiges Zeug und hat die Tendenz, an Leuten hängenzubleiben, die mit ihm in Berührung kommen.“46 In seiner Arbeit zu den sozialen Dimensionen des Abfalls macht der Historiker Alain Corbin deutlich, inwiefern Müll eng verbunden ist mit der Aufrechterhaltung einer bürgerlichen Ordnung.47 Die Angst vor Schmutz und Unrat habe sich im 19. Jahrhundert nicht nur gegen Dinge gerichtet, die als schmutzig galten, sondern ebenso gegen jene Gruppen von Menschen, die in eine Verbindung mit Schmutz gebracht wurden. Als ver- dächtig und gefährlich seien jene Personen markiert worden, die sich mit Din- gen oder Tätigkeiten, die als schmutzig galten, befassten, „‚die Unberührba- ren‘ der Stadt, Kumpanen des Gestanks, alle, die mit Schlick, Unrat, Kot und Sexualität arbeiten“48. Die Organisation der Müllbeseitigung ist so gesehen eng mit politischen Motiven der Sozialität, Sauberkeit und Ordnung verbunden. Mülldiskurse ver- mögen es in dieser Hinsicht, so eine These dieses Beitrags, das aufzuzeigen, was Jacques Rancière als ein „Monopol des Realen“49 bezeichnet. In der Ding- welt der Müllabfuhr manifestiert sich eine „sinnliche Verfassung von sozialen 43 Vgl. Windmüller (2004), Die Kehrseite der Dinge, S. 93. 44 Sara Ahmed, The Cultural Politics of Emotion, New York, NY, 2004, S. 87. 45 Ebd. 46 Thompson (1989), Die Theorie des Abfalls, S. 11. 47 Alain Corbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Berlin, 1984, S. 191. 48 Ebd., S. 193. 49 Vgl. Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin, 2006, S. 61. 214 LAURA MOISI Konfigurationen“50, die den Bereich des Denkbaren und des Möglichen genau festlegt. Die ästhetischen Ordnungen des Mülls stellen eine Art und Weise her, wie Dinge Sinn machen, eine Kohärenz, die sich materiell und symbolisch äu- ßert – so wie beispielsweise die Aufteilung und Trennung zwischen den Le- bensbereichen und Verortungen von menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen einerseits und leblosen Dingen, wie Müll, andererseits. Diese Auf- teilungen der Welt „machen selektiv Sinn, indem sie separieren, aus- und ein- schließen und die Welt in für uns wahrnehmbare Dinge organisieren“51. Die in diesem Beitrag gewählte Perspektivierung des Mülls sollte auf die Be- deutungshorizonte hinweisen, die sich in den Verkapselungen des Mülls artiku- lieren. Es ging zum einen um das ambivalente Verhältnis zwischen den tech- nisch wie ästhetisch „sauberen“ Infrastrukturen des Mülls und dem Abjekthaf- ten, das sie verbergen, behausen und transportieren. Zum anderen sollte verdeut- licht werden, wie die apparativen Verschaltungen des Mülls symbolische Ord- nungen begründen, deren Funktion darin besteht, das Soziale zu organisieren. Müllschränke, Müllboxen und Müllschächte können als mediale Verkapselun- gen betrachtet werden, insofern sie das kontinuierliche Verschwinden von Ab- fall aus der Alltagswelt steuern und die Sichtbarkeit des Mülls regeln, technisch implementieren und ästhetisch inszenieren. Dabei taucht die Unterscheidung zwischen dem guten und dem schlechten Müll, seinen guten und schlechten „Behausungen“ und den guten und schlechten Umgangsformen mit ihm immer wieder als soziale Frage und politische Thematik auf. Mit Blick auf seine Verschließungen und Einkapselungen lässt sich der Müll nicht nur als matter out of place, sondern auch als matter that puts into place verstehen – als klebri- ges Material, institutionelles Organ und ästhetische Figur, die Dingen und Per- sonen einen Platz in der symbolischen Ordnung des Sozialen zuweist und die Welt in Zonen der Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit aufteilt. Literatur Ahmed, Sara, The Cultural Politics of Emotion, New York, NY, 2004. Anderson, Benedict, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London, 1983. Corbin, Alain, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Berlin, 1984. Douglas, Mary, Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, London, 1966. 50 Ebd. 51 Dorothy H. B. Kwek/Robert Seyfert, „Affekt. Macht. Dinge. Die Aufteilung sozialer Senso- rien in heterologischen Gesellschaften“ in: Hanna Katharina Göbel/Sophia Prinz (Hg.), Die Sinnlichkeit des Sozialen, Bielefeld, 2015, S. 123-146: 127. JEDER MÜLLTONNE IHREN SCHRANK 215 Fa. Schmidt & Melmer (Hersteller von Müllgefäßen, Weidenau-Sieg.) (Hg.), Zusam- menfassende Darstellung des gesamten Aufgabenkreises der Hausmüllbeseitigung, Feudingen, 1940 (Sign. Sammlung Erhard: A 729). Glasmeier, Michael C., Mülleimer im Stadtbild: eine Ausstellung der Akademie der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 1981. Kwek, Dorothy H. B./Seyfert, Robert, „Affekt. Macht. Dinge. Die Aufteilung sozialer Sensorien in heterologischen Gesellschaften“, in: Hanna Katharina Göbel/Sophia Prinz (Hg.), Die Sinnlichkeit des Sozialen, Bielefeld, 2015, S. 123-146. Linde, Carl von der, Müllvernichtung oder Müllverwertung, insbesondere das Dreitei- lungssystem. Ein Beitrag zur Hygiene des Mülls mit Rücksicht auf ihre volkswirt- schaftliche Bedeutung, Charlottenburg, 1906. Rancière, Jacques, Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin, 2006. Reno, Joshua O., „Toward a New Theory of Waste: From ‚Matter out of Place‘ to Signs of Life“, in: Theory, Culture & Society 31, 6 (2014), S. 3-27. Teske, Henriette, „Für die Tonne. Mülleimer-Sprüche in Berlin“, auf: Der Tagesspiegel, online unter http://www.tagesspiegel.de/berlin/muelleimer-sprueche-in-berlin-fuer-die- tonne/10838764.html, zuletzt aufgerufen am 21.12.2015. Thompson, Michael, Die Theorie des Abfalls. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten, Stuttgart, 1989 [OA: Rubbish Theory. Exploring the Practices of Value Crea- tion, 1979]. Windmüller, Sonja, Die Kehrseite der Dinge. Müll, Abfall, Wegwerfen als kulturwissen- schaftliches Problem, Münster, 2004. Zeitungsartikel im Archiv „Sammlung Erhard“ (Umweltbundesamt) Allgemeine Rundschau Nürnberg vom 02.07.1952: „Der Müllwolf geht um. Gesichtet auf der Ausstellung ‚Die Wirtschaft im Dienste der Hausfrau‘“ (Sign. Sammlung Er- hard: ZA M Müllwolf). Braunschweiger Presse vom 25.05.1955: „Ein Vorschlag des Tiefbauamtes: Jeder Mülltonne ihren Schrank!“ (Sign. Sammlung Erhard: ZA U Unterbringung von Müllgefäßen). Der Mittag, Düsseldorf, vom 01.12.1956: „Schrank für Mülltonnen“ (Sign. Sammlung Erhard: ZA SCH Schrank für Mülltonnen). Erich Fischer, „Im Müll lauert der Tod!“, in: Hamburger Elternblatt, 1 (1955) (Sign. Sammlung Erhard: Z XV Verschiedenes). Generalanzeiger Leer vom 21.10.1955: „‚Hungriger Wolf‘ frißt Abfälle. Neuer Müll- wagen wird ausprobiert – Er nimmt mehr Balast auf!“ (Sign. Sammlung Erhard: Z VX). Welt der Arbeit, Köln, vom 30.11.1952: „Wohin mit den Mülltonnen?“ (Sign. Samm- lung Erhard: Z SCH Schrank für Mülltonnen). Westdeutsche Allgemeine, Essen, vom 06.01.1956: „Oft vergessene Mülltonnen kämpfen um Platzrecht. Technisch kein Hindernis – Bochumer Müllsatzung musterhaft“ (Sign. Sammlung Erhard: ZA U Unterbringung von Müllgefäßen). Westfalen-Post, Soest, vom 15.03.1950: „Tu das Deine dabei! Sorg mit für ein schönes und sauberes Stadtbild“ (Sign. Sammlung Erhard: Z X III). 216 LAURA MOISI Film Besser geht’s nicht (amerik. OT: As Good as It Gets), USA 1997, Regie: James R. Brooks, Drehbuch: Mark Andrus, 139 Min. ABBILDUNGSNACHWEISE Laura Moisi Abb. 1 − „Wie Polizeiverordnungen befolgt werden“ (Sign. Sammlung Erhard: F Fotos, Bild Nr. 643). Abb. 2 − Clemens Dörr, Hausmüll und Strassenkehricht, Leipzig, 1912, S. 149 (Sign. Sammlung Erhard: A1). Abb. 3 und 4 − Fa. Schmidt & Melmer (Hersteller von Müllgefäßen, Weide- nau-Sieg.) (Hg.), Zusammenfassende Darstellung des gesamten Aufgabenkrei- ses der Hausmüllbeseitigung, Feudingen, 1940, S. 30 f. (Sign. Sammlung Er- hard: A 729). Abb. 5 − Mitteilungen der JHK Bochum. Richtlinien und Beispiele für die An- lage von Mülltonnen (Nr. 44/4) vom 15.11.1954 (Sign. Sammlung Erhard: ZA U Unterbringung von Müllgefäßen). Abb. 6 − Braunschweiger Presse vom 25.05.1955: „Ein Vorschlag des Tief- bauamtes: Jeder Mülltonne ihren Schrank“ (Sign. Sammlung Erhard: ZA U Unterbringung von Müllgefäßen). Abb. 7 − Erich Fischer, „Im Müll lauert der Tod!“ in: Hamburger Elternblatt, 1 (1955) (Sign. Sammlung Erhard: Z XV Verschiedenes). Abb. 8 − Michael C. Glasmeier, Mülleimer im Stadtbild: eine Ausstellung der Akademie der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 1981. Abb. 9 − Eigene Bildaufnahme in Goult, Frankreich (September 2015). Abb. 10 − Eigene Bildaufnahme in Herten, Westfalen (Februar 2015).