Björn Hochschild Zerfließende Körper, Klänge und Räume Unhaltbare und unerträgliche Zustände in Klaus Wildenhahns in der fremde und heiligabend auf st. pauli Im Abendprogramm der ARD und des NDR3 wird im Jahre 1968 ordentlich ge- soffen; zumindest in den zwei Dokumentarfilmen von Klaus Wildenhahn, die er ein Jahr zuvor als Angestellter beim NDR produzierte. In beiden Filmen gibt es etwas zu feiern. in der fremde1 erzählt vom Bau eines Futtersilos und lässt am Ende die Bauarbeiter auf dem sogenannten „Gleiterball“ auf ihre vollendete Arbeit anstoßen. In heiligabend auf st. pauli2 feiert man das Weihnachts- fest. Doch die Feierlichkeiten tragen deutlich einen bitteren Beigeschmack. in der fremde erzählt in seinen rund 77 Minuten vor allem von den alltäglichen und strukturellen Problemen der Bauarbeiter „in der Fremde“. Sie sind Fernar- beiter, hausen getrennt von Frau und Kind wochen- oder monatelang in provi- sorischen Holzbaracken und arbeiten im Schichtsystem. Das Nicht-Arbeiten ist problematischer als die körperlichen Anstrengungen der Arbeit. Isolation und Langeweile drängen sie dazu, das schwer verdiente Geld noch vor Ort in Alko- hol zu investieren. Auch auf St. Pauli trifft sich in der Nacht zum 25. Dezember 1967 eine Gemeinschaft von Ausgestoßenen. Die Feiergemeinschaft dieser Knei- pe besteht aus zahlreichen einsamen Individuen. Ihre Geschichten tauchen im- mer nur kurz aus der Masse der Trinkenden auf, um gleich wieder in ihr unter- zugehen. Freilich gibt es vieles, was die beiden Filme unterscheidet: Sie zeigen un- terschiedliche Milieus mit unterschiedlichen Protagonist*innen, filmen unter- schiedliche Anlässe zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Längen. Im Vergleich zu den fragmentarischen, fließenden Bildern von hei- ligabend auf st. pauli gestaltet sich in der fremde in seinen ersten 65 Mi- nuten als vergleichsweise geordnet und narrativ strukturiert. In seinen letzten sieben Minuten beginnt der Film jedoch, sozusagen mit heiligabend auf st. pauli „zu sprechen“. Aus den Bildern der trinkenden Bauarbeiter und der Trinkenden auf St. Pauli wird ein gemeinsames Bild der ambivalenten Feier- lichkeit. Es sind Bilder des Zerfließens und Verschmelzens von Körpern, Stim- 1 in der fremde wurde 1967 produziert und lief am 20. Januar 1968 im NDR3 und am 9. Juli in der ARD. In den Jahren 1970 und 1974 wurde der Film in der ARD und dem WDR3 wiederholt. 2 heiligabend auf st. pauli wurde von 1967 bis 1968 produziert und lief am 20. 12. 1968 und noch einmal vier Jahre später in der ARD. https://doi.org/10.1515/9783110618945-019 372 Björn Hochschild men und Klängen, die eine ganz eigene, audiovisuelle Komposition von Ge- meinschaftlichkeit herstellen. Von diesen Bildern aus möchte ich mich in diesem Aufsatz den Gemeinschaften von Bauarbeitern und Trinkern in Wilden- hahns Filmen nähern. Zwei Filme miteinander sprechen lassen Es gibt genügend Gelegenheiten, in einer Besprechung der Filme von Klaus Wildenhahn das Sprechen über diese Filme vor die Filme selbst zu stellen. Wildenhahn genoss als festangestellter Filmemacher beim Norddeutschen Rundfunk unter anderem dank günstiger personeller Strukturen und dem Er- folg seines ersten abendfüllenden Films in der fremde große Freiheiten. In Interviews mit Wildenhahn oder Untersuchungen zu seinen Werken3 scheint die Arbeit an den eigenen Filmen für ihn mindestens genauso wichtig gewesen zu sein wie die Arbeit an der Formulierung, Durchsetzung und Umsetzung ei- nes dokumentarischen Programms, einer eigenen dokumentarischen Methode. Wildenhahn ließ sich vom Direct Cinema inspirieren und stieß mit der Sponta- neität seiner Filmvorhaben auf die hierarchischen Strukturen des öffentlich- rechtlichen Journalismus in Deutschland. In diesen Strukturen bestimmten Re- daktionen die Inhalte und die Gestaltung von Filmbeiträgen, noch bevor das eigentliche Material gedreht werden konnte, „weil die Produkte brauchen, die vorher festgelegt sind.“4 Für Wildenhahn steht dies dem Anspruch im Wege, eine direkte und intime Beziehung zu seinen Protagonist*innen aufzubauen. „Ich habe nur ein Thema und habe die Menschen gefunden, mit denen ich dieses Thema realisieren will. Der Rest ist offen.“5 Nach 1968 lernte und lehrte Wildenhahn an der Film- und Fernsehakademie in Berlin. Dort begann er, sei- ne Ansprüche an den Deutschen Dokumentarfilm als Methode zu formulieren. Er plädierte für Langzeitbeobachtungen, sparsames Einsetzen externer Kom- mentare und eine möglichst freie Bewegungs- und Gestaltungsmöglichkeit von Kamera und Ton.6 Das Material des Filmemachers muss „aus sich heraus wir- 3 Vgl. u. a. Jürgen Böttcher/Christoph Hübner/Gabriele Hübner-Voss: Dokumentarisch arbei- ten. Jürgen Böttcher, Richard Dindo, Herz Frank, Johan van der Keuken, Volker Koepp, Peter Nestler, Klaus Wildenhahn im Gespräch mit Christoph Hübner. Berlin 1996, S. 159–200. Egon Netenjakob: Liebe zum Fernsehen: und ein Portrait des festangestellten Filmregisseurs Klaus Wildenhahn, Berlin 1984. 4 Böttcher/Hübner/Hübner-Voss: Dokumentarisch arbeiten, S. 166. 5 Böttcher/Hübner/Hübner-Voss: Dokumentarisch arbeiten, S. 161. 6 Vgl. Andreas Bausche: Wildenhahn, Klaus. In: Ian Aitken (Hg.): The Concise Routledge En- cyclopedia of the Documentary Film. London/New York 2013, S. 1005–1007. Zerfließende Körper, Klänge und Räume 373 ken.“7 Es ginge darum „eine Plattform zu schaffen für jene, die sonst nicht zu Wort kommen“8 und dem Reden über Begriffe und Ideologien ein direktes Re- den gegenüberzustellen.9 Ziel ist, dass der Dokumentarfilmer in den „Fluß der Ereignisse einsteigt und mitschwimmt“.10 So wird Wildenhahn vom Regisseur zum Theoretiker. Ende der 1970er Jah- re entbrennen Debatten mit Filmemachern und Theoretikern wie Klaus Krei- meier und Alexander Kluge.11 In ihnen ging es um das Verhältnis des Doku- mentarischen zur Wirklichkeit (oder vielmehr zu Wirklichkeiten). Wildenhahn wirft Filmemachern wie Kreimeier und Kluge einen Romantizismus vor,12 eine Haltung, die die Wirklichkeit zum Kunstprodukt verforme. Er missbilligt es, „daß der Regisseur oder Autor doch wieder seinen Stoff beherrscht und ihn schön macht.“13 Dagegen hält Kluge Wildenhahns Ansprüche eines möglichst objektiven, spontanen Beobachtens für realitätsfern, denn Filmemachen be- deute immer einen Eingriff in die Wirklichkeit.14 Während Wildenhahn also versucht, den Filmemacher zum unsichtbaren Beobachter werden zu lassen, will Kluge das Eingreifen in die Wirklichkeit explizit ausstellen. Zwangsläufig erscheinen Wildenhahns Filme von 1968 heute im Schatten dieses theoretischen Programms. Auch wenn es interessant wäre, die Filme auf diese Positionen hin zu überprüfen, geht es mir in diesem Essay um etwas anderes. Ich möchte die Filme weder in einem stilistischen oder genretheoreti- schen Programm verorten, noch möchte ich sie einordnen in ein historisches Narrativ einer (deutschen) Wirklichkeit um 1968. Stattdessen will ich die Filme miteinander sprechen lassen, indem ich meinen Blick öffne für die Bilder von 7 Klaus Wildenhahn: Über dokumentarischen und synthetischen Film: zwölf Lesestunden. Berlin 1973, S. 116. 8 Wildenhahn: Über dokumentarischen und synthetischen Film, S. 119. 9 Vgl. Netenjakob: Liebe zum Fernsehen, S. 171. 10 Vgl. Netenjakob: Liebe zum Fernsehen, S. 166. 11 Vgl. u. a. Alexander Kluge/Klaus Eder/Robert Savage: Debate on the Documentary Film. Conversation with Klaus Eder, 1980. In: Tara Forrest (Hg.): Alexander Kluge. Raw materials for the imagination. Amsterdam 2012, S. 197–208. Reiner Frey/Alexander Kluge: Eine realistische Haltung müßte der Zuschauer haben, müßte ich haben, müßte der Film haben. Interview mit Alexander Kluge – von Reiner Frey und Alexander Kluge. In: filmfaust. Zeitschrift für den internationalen Film 20 (1980), S. 19–26. Klaus Kreimeier: Darstellen und Eingreifen. Deutsche Dokumentarfilme auf der Duisburger Filmwoche/Gewerkschafter machten mit, in: filmfaust. Zeitschrift für den internationalen Film 20 (1980), S. 17–18. 12 Vgl. Klaus Wildenhahn: Industrielandschaft mit Einzelhändlern. Nachtrag zu den Duisbur- ger Debatten um den Dokumentarfilm, in: filmfaust. Zeitschrift für den internationalen Film 20 (1980), S. 3–15. 13 Netenjakob: Liebe zum Fernsehen, S. 179. 14 Vgl. Kluge/Eder/Savage: Debate on the Documentary Film, S. 197. 374 Björn Hochschild Gemeinschaften, die die Filme jeder für sich und über die Szenen des ambiva- lenten Feierns gemeinsam herstellen. Grundsätzlich unterscheiden sich beide Filme in ihren Bezügen zu den Bil- dern des Feierns. In heiligabend auf st. pauli ziehen sich diese Bilder durch den gesamten Film. in der fremde stellt sie erst im Verlauf des Films her und entfaltet sie gänzlich auf dem abschließenden Gleiterball. Mein Essay beginnt deshalb mit einem Versuch, die Bilder des ambivalenten Feierns zu beschrei- ben. Dabei spielen die Themen des theoretischen Diskurses eine Rolle, denn diese Bilder setzen sich zusammen aus den Verhältnissen von Direktheit, Nähe und Eindringen, die die Filme in dem besonderen Verhalten von Kamera und Ton inszenieren. Ausgehend von der Beschreibung der Bilder ambivalenten Feierns werde ich anschließend die spezifischen Gemeinschaftsbilder der Fil- me ausmachen und schließlich in ein Verhältnis zueinander setzen. Zerfließende Körper Die Kamera kommt den Protagonist*innen beider Filme sehr nahe. Im Verlauf von in der fremde nimmt diese Nähe zu, um sich in heiligabend auf st. pau- li ungehindert fortzusetzen. Zunächst fängt der Film die Bauarbeiter überwie- gend in Medium Shots ein. Die Kamera positioniert sich dabei meistens leicht angewinkelt zu den Bauarbeitern und tritt so als stille Beobachterin der jeweili- gen Gesprächs- und Arbeitssituationen auf. Dort, wo der Film entferntere Ein- stellungsgrößen wie die der Totalen verwendet, vermisst er meist die geometri- schen Verhältnisse der Baustelle als übergeordneten Raum oder zeigt einen Überblick über größere Arbeitsprozesse. Mit dem Beginn des Gleiterballs löst sich die ohnehin schon geringe Distanz zu den Protagonisten fast gänzlich auf.15 Nur noch selten isoliert die Kamera Gesichter in einzelnen Einstellungen oder verortet diese im gegebenen Raum. Stattdessen gleitet sie in langen Ein- stellungen über Gesichter, Körper und Gliedmaßen hinweg. Hier beginnen sich in der fremde und heiligabend auf st. pauli zu begegnen. In beiden Filmen gestaltet sich der Blick auf die Feiernden als ein willkürliches Beobachten, als das Einfangen kleinerer Bewegungen in einem Raum unendlich vieler Bewe- gungen. Die Kamera lässt starkes Wackeln und Verwischen ebenso zu wie das Verziehen des Fokus. Immer wieder schieben sich stark verschwommene Kör- 15 Bei den Bauarbeitern handelt es sich ausschließlich um männliche Figuren, daher die männliche Form. Zerfließende Körper, Klänge und Räume 375 Abb. 1: Gleiterball (in der fremde). Abb 2: Eine Unterhaltung (heiligabend auf st. pauli). per zwischen Linse und Objekte und verdecken so den Mittel- und Hinter- grund. Die Kamera blickt hier nicht von außen auf ein Geschehen in einem vorgefundenen Raum, sie verschwindet vielmehr inmitten der Körper, die ihn bewohnen. Dabei produziert sie Bilder, die es oftmals nicht mehr zulassen, Körper klar voneinander abzugrenzen, geschweige denn sie in dem sie umge- benden Raum zu verorten. So beginnt sich der Raum als geometrisches Gefüge aufzulösen. An seine Stelle treten Spiele von Licht, Schatten und Schärfever- schiebungen (Abb. 1), in denen die Körper der Feiernden zerfließen in Gliedma- ßen, Kleidungsstücke, Gesichter, Haare und zahlreiche verschwommene, graue, weiße und schwarze Flecken (Abb. 2). Die Kamera dringt hier nicht ein- 376 Björn Hochschild fach in einen vorgefundenen Raum ein. Sie stellt eine Nähe zu ihren Protago- nist*innen her, die so nahe ist, dass sie darin eine andere, neue Bildlichkeit hervorbringt. Vom stillen Beobachter wird die Kamera in den Bildern des Fei- erns so zu einem aktiven Produzenten neuer Verhältnisse des Sichtbaren und Unsichtbaren. Zerfließende Klänge Ein ähnliches Verhältnis von Direktheit, Nähe und Eindringen gestaltet sich über das Klangbild der beiden Filme. Das Sprechen der Bauarbeiter und der Trinkenden ist von starken norddeutschen Dialekten geprägt. Ihr Vokabular setzt sich zusammen aus einer Mischung von Umgangssprache und Elementen des Plattdeutschen. Unter dem Einfluss von Alkohol gesellt sich zu dem allge- meinen Raunen, Stöhnen und Murmeln der Protagonist*innen zusätzliches Lallen und Summen. Somit ist in beiden Filmen das Verständnis der einzelnen Worte stark von den Begebenheiten der jeweiligen Situationen abhängig. Die Bauarbeiter sind vor allem dann klar und deutlich zu verstehen, wenn in der fremde sie in Innenräumen zeigt und sie nacheinander sprechen lässt; doch das geschieht nur selten. Meistens vermischen sich ihre Stimmen mit dem Bau- lärm, Geräuschen des Windes und vor allem mit den Stimmen ihrer Kollegen. In der Kneipe treten Klänge einer Jukebox oder das Klappern und Klirren der Stühle, Tische und Gläser anstelle des Baulärms. In beiden Filmen ist der Ton nur selten räumlich klar ausgerichtet. Er macht keinen Unterschied zwischen Gesprächen im Kader oder aus dem Off, sodass sich immer wieder ganze Sätze überlagern und in der Kulisse aus Stimmen und Geräuschen untergehen. Es entsteht so ein Klangbild, das Geräusche und Stimmen miteinander verschmel- zen lässt. heiligabend auf st. pauli wirft seine Zuschauer*innen bereits mit seiner ersten Einstellung in das klangliche Gefüge, das die Feierlichkeiten beider Fil- me ausmacht: Hier betritt ein Gast die Kneipe. Er ist bereits betrunken und murmelt vor sich hin. Dann steigen einige Worte aus seinem Singsang hervor, mischen sich jedoch sofort mit den Stimmen anderer Gäste aus dem Off. Die Worte bleiben unverständlich. Als der neue Gast seinen Satz beendet hat, er- klingt eine weibliche Stimme aus dem Off. Ist es die Stimme der Wirtin? Ant- wortet sie dem Neuankömmling? Rhythmus und Tonhöhe der Stimmen lassen diese Vermutung zu, sie bleibt aber eine Vermutung. Der Inhalt der Worte scheint weniger wichtig zu sein, als der von allen Stimmen gemeinsam erzeug- te Klang. Mindestens so wichtig wie das, was die Protagonist*innen sagen, wenn ihre Worte verständlich werden, ist das, was sie in unverständlichen Zerfließende Körper, Klänge und Räume 377 Worten als Klänge produzieren. Denn so wird der Neuankömmling von den ersten Sekunden des Films an zum Teil eines (akustischen) Raums. Dieses ext- reme Klangbild zieht sich in heiligabend auf st. pauli durch den gesamten Film. in der fremde unterscheidet sich vom Kneipenfilm anfangs vor allem durch einen verständlich artikulierten – aber nur selten einsetzenden – Kom- mentar eines Sprechers, erreicht das Extrem des Klangbildes allerdings spätes- tens auf dem Gleiterball. Dort und in der Kneipe sind es also nicht nur die Körper und die geometrischen Verhältnisse, die in den Bildern der Feierlichkei- ten zerfließen, sondern auch die Klänge, die Stimmen und Geräusche. Ambivalente Feierlichkeiten Zurecht adressiert Egon Netenjakob heiligabend auf st. pauli als Film aus Bildern „von widersprüchlichen Gemütsbewegungen. Da gibt es nichts lächer- liches zu sehen, nichts verruchtes, nichts rührendes [sic!]. Ein bedrückender Film.“16 Dieses bedrückende Gefühl hängt mit der Verlorenheit der Protago- nist*innen zusammen, von denen dieser Film und auch in der fremde erzählt. Die Bilder der Feierlichkeiten zeigen Bauarbeiter, die fernab von ihren Famili- en die eigene Arbeit feiern, die gleichzeitig der Ursprung ihrer Probleme und der einzige Ausweg aus ihnen ist. Sie zeigen, wie Menschen in der Kneipe Weihnachten feiern, die ihr Geld für ein Ticket in die Heimat „versoffen“ haben oder, statt Grußkarten der Familie zu lesen, Post vom Geliebten aus dem Ge- fängnis erhalten. Das Bedrückende und Widersprüchliche an diesen Situatio- nen äußert sich aber auch jenseits der einzelnen Geschichten in den Bildern selbst. Es entsteht aus der unmittelbaren Nähe der Kamera und des Tons zu den Körpern, die sie, die Räume und die Klänge zerfließen lassen. In der audio- visuellen Komposition wird so aus einzelnen Protagonist*innen, die von Leid und Sorge berichten, eine Masse aus Klängen, Körpern, Formen, Schatten und Flecken, die den Einzelnen unkenntlich werden lässt. Der Gleiterball und die Kneipenweihnacht gestalten sich darin weniger als gewählte Orte und mehr als ausweglose Zuflucht. Die Zuschauer*innen werden Zeugen, wie einzelne Körper, Objekte und Töne ihre Grenzen verlieren. Es werden Bilder einer Räum- lichkeit sichtbar, die vor lauter Fülle an Bewegungen unerträglich wird und zu zerbersten droht. So mag es kaum verwundern, dass der Gleiterball mit einer physischen Auseinandersetzung zweier Bauarbeiter endet (Abb. 3). Und auch in der Kneipe werden körperliche Grenzen überschritten (Abb. 4). 16 Egon Netenjakob: Liebe zum Fernsehen, S. 205. 378 Björn Hochschild Abb. 3: Streit auf dem Gleiterball (in der fremde). Abb. 4: Ein Gast kommt zu nahe (heiligabend auf st. pauli). Zerfließende Körper, Klänge und Räume 379 Blicke auf die Chronotopoi von Baustelle und Kneipe Diese Bilder zerfließender Räume, Körper und Klänge bilden den Ort, an dem sich beide Filme begegnen. Doch in beiden Filmen erwachsen diese Bilder am- bivalenten Feierns aus konkreten Chronotopoi:17 der Baustelle und der Kneipe. heiligabend auf st. pauli eröffnet diesen gleich zu Beginn in einem Zwi- schentitel: Dieser Film wurde in der Nacht vom 24. zum 25. Dezember 1967 in einer Gaststätte auf St. Pauli aufgenommen. Unter den Gästen befanden sich Seeleute, ein namenloser Ama- teurboxer, Prostituierte, Fernfahrer, Stammgäste und laufende Kundschaft. Stammgäste und laufende Kundschaft – das Inventar jeder beliebigen Bar – rücken als Rest ans Ende einer Aufzählung, die zunächst das Personal typi- scher St.-Pauli-Geschichten auflistet: Prostituierte, Boxer, Fernfahrer und Seeleute. Die Kneipe wird dadurch raumzeitlich eingeordnet in einen Erzähl- kosmos des Hamburger Rotlichtviertels. Sie präsentiert sich so als konkreter Ort, in den der Blick der Kamera eindringt, in den überhaupt eingedrungen werden kann. Daran erinnert der Film in seinem Verlauf immer dann, wenn er das Ein- dringen von Apparatur und Filmteam in die Kneipe sicht- und hörbar macht. So werden immer wieder die Stimmen der Filmschaffenden wahrnehmbar, oder Teile ihrer Körper oder des Mikrofons ragen ins Bild (Abb. 5). Die Filmschaffenden erscheinen so als gesonderte Körper im Raum der Kneipe und werden gleichzeitig von den Bewegungen in diesem Raum ver- schluckt. Die Kneipe jedoch tritt durch sie immer wieder als konkreter, betret- barer Ort aus den fließenden Bildern unwirklicher Licht-, Schatten- und Schär- fespiele hervor.18 Auch in der fremde lässt einige Male die Stimmen der Filmschaffenden durch die Klangkulisse dringen, obgleich er weder sie selbst noch die Apparatur zeigt. Stattdessen eröffnet der Film den Chronotopos der Baustelle in seinem Bemühen, in den ersten 65 Minuten ein möglichst facetten- reiches Bild der zeitlichen und räumlichen Verhältnisse dieses Ortes zu zeich- nen. Es sind diese klaren Verortungen von Kneipe und Baustelle, aus denen die Bilder zerfließender Räume, Klänge und Körper erst erwachsen. Doch während 17 Vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos. Frankfurt am Main 2008. 18 Angesichts der Dispute mit Alexander Kluge mag dies verwundern. Denn so löst Wilden- hahn letztlich auf eigene Weise Kluges Anforderungen ein: Er macht das eigene Eingreifen sichtbar, indem er sich und sein Team selbst sichtbar macht. 380 Björn Hochschild Abb. 5: Klaus Wildenhahn wird selbst angesprochen (links im Bild; heiligabend auf st. pauli). der Kneipenfilm dieses Bild von vornherein eröffnet und dann über 46 Minuten aufrechterhält und moduliert, bildet es sich im Baustellenfilm erst in dessen Verlauf. Darin zeigen sich die zentralen Unterschiede der beiden Filme. Nicht nur das Verhalten von Kamera und Ton sorgt dafür, dass sich in der fremde binnen seiner ersten 65 Minuten erst schrittweise den Bildern des Gleiterballs annähert, die ihn mit heiligabend auf st. pauli verbindet. Es ist vor allem die Montage, die den Unterschied der Filme markiert. In der Montage scheinen die Handlungen und Geschehnisse des Gleiter- balls und der Weihnachtsfeier keiner klaren chronologischen oder narrativen Ordnung zu unterliegen, abgesehen davon, dass sie einen Anfang und ein Ende besitzen: Der Gleiterball wird vom Polier mit einer Ansprache eröffnet und klingt nach dem Streit zweier Bauarbeiter aus. Das Weihnachtsfest beginnt mit einem Entzünden von Kerzen und ist vorbei, als die Wirtin am Ende des Films die Türen verschließt. Erstmals verlässt hier die Kamera die Kneipe, und erst jetzt wird deutlich, wie viel Zeit in den 45 Minuten des Films tatsächlich vergangen ist: Inzwischen scheint die Sonne, die Nacht ist vorüber. Dazwi- schen geht ein Gefühl für das Voranschreiten linearer Zeit verloren. Auf dem Gleiterball erscheinen das gemeinsame Schnapstrinken und Einschenken, die einzelnen Gespräche, der Streit, ein Klatschspiel der Zimmermänner oder das Singen von Das Wandern ist des Müllers Lust wie kurze, willkürliche Episoden, wie fragmentarische Einblicke in ein chaotisches Durcheinander. Ebenso ist es um die Geschehnisse in der Kneipe bestellt: Das Lesen eines Briefes, der Anruf Zerfließende Körper, Klänge und Räume 381 bei der Verwandtschaft, das Singen eines Weihnachtslieds, das Trösten wei- nender Gesichter oder das unbeholfene Flirten wollen sich keiner festen Chro- nologie unterordnen. Gegen diese chaotischen Zeiträume der Feierlichkeiten stellen sich die ers- ten 65 Minuten von in der fremde in der Makrostruktur der Montage. Diese grenzt sich deutlich von den restlichen Bildern ab. Für die Frage, welche Ge- meinschaften die Filme in den Bildern ambivalenter Feierlichkeit miteinander verschmelzen lassen, ist es wichtig, die Gemeinschaft der Bauarbeiter in diesen ersten 65 Minuten gesondert zu betrachten. Denn erst aus dieser bildet sich die Verbindung von in der fremde zu heiligabend auf st. pauli. Erst anschlie- ßend kann ich einen Blick auf die Gemeinschaft der Trinker in heiligabend auf st. pauli und ihre Verbindung zu den Bauarbeitern werfen. Struktur der Montage von in der fremde Auf der Makroebene ist die Montage von in der fremde von einer vergleichs- weise klaren Struktur geprägt: Gemeinsam mit den spärlich eingesetzten Kom- mentaren des Sprechers sind es vor allem Zwischentitel, die den Film in Ab- schnitte gliedern. Sie grenzen Gruppierungen von Einstellungen voneinander ab, stellen sie in vergleichbare Verhältnisse und geben dem Gesehenen eine Überschrift, einen thematischen Fokus. Dieser besteht häufig aus nüchternen Beschreibungen der im Folgenden eingenommenen Perspektive. So folgt der Film nach dem ersten Zwischentitel – „Der Polier“ – dem Polier bei seiner Arbeit. Andere Titel gestalten sich komplexer. So laufen nach etwa 43 Minuten ganze Sätze durch den Kader: Ein Facharbeiter des Baugewerbes verdient in Ortsklasse 1 einen Stundenlohn von 4,45 DM. Bei einer Vierzig Stundenwoche beträgt sein Wochenverdienst: 178, -- DM. Erhält er von der Firma eine Leistungszulage von 0,5 DM pro Stunde und macht zwei Überstun- den am Tag, beträgt sein Wochenverdienst: 258,60 DM. Beim Gleitbau kann sein Wochen- verdienst 478,08 DM betragen. Das bedeutet vier bezahlte Überstunden am Tag, sowie Sonnenabend- und Sonntagsarbeit. Auf diese akribische Auflistung der Gehaltssituation folgt lediglich ein sehr kurzes Gespräch zwischen dem Polier und einem der Bauarbeiter, die ihre Sicht zum problematischen Verhältnis von Lohnhöhe und Arbeitszeit zum Ausdruck bringen. Die Zwischentitel schwanken in ihrer Funktion also zwischen themen- gebenden Überschriften und konkreten Kommentaren. Immer aber gliedern sie das Gesehene in einzelne Abschnitte, in kurze Narrative der Baustelle. 382 Björn Hochschild Die Anordnung dieser einzelnen Abschnitte orientiert sich grob am chrono- logischen Fortschritt des Baus selbst. Die Themen der Abschnitte sind dagegen sprunghafter angeordnet. Immer wieder wirft der Film seine Zuschauer*innen so in neue Situationen, unter neue Protagonist*innen. Hierin deutet sich be- reits die spätere Willkür auf dem Gleiterball an. Ebenso in der rhythmischen Gestaltung der Abschnitte und Einstellungen: Sie sind unterschiedlich lang und lassen keinen durchgehenden Rhythmus erkennen. An wenigen, dafür aber prominenten Stellen, treten einzelne Einstellungen aus der Struktur der Montage hervor. Zwei von ihnen möchte ich genauer be- trachten. Es handelt sich um die einzigen Momente, in denen der Film die Baustelle und seine Bauarbeiter vollständig verlässt.19 Diese beiden Außenan- sichten sollen helfen, das Bild der Bauarbeitergemeinschaft aus in der fremde zu entschlüsseln, dem zum Ende des Films die zerfließenden Bilder der Feier- gemeinschaft entstehen. Von den Außenansichten aus zeigen sich drei zentrale Problemfelder, die die Gemeinschaft der Bauarbeiter und deren Alltag bestim- men: das Kapital, die Familie und schließlich das (nicht vorhandene) Ge- schlechterverhältnis. Die Baustelle und das Kapital Das erste Mal verlässt der Film die Bauarbeiter nach 38 Minuten in einer Ein- stellung von rund 27 Sekunden Länge. Sie markiert den Beginn eines neuen Abschnittes mit dem Titel „Interessen: Geschäftsführer Polier“ und zeigt in na- her Einstellung einen Mann mit Halbglatze im Anzug. Seine Kleidung hebt sich deutlich von der Arbeitskleidung der Bauarbeiter ab, genauso wie der Raum, in dem er sich befindet. Er sitzt vor einer hellen, flachen Wand ohne Struktur. Andere Innenräume des Films bestehen aus dem rauen Beton des offenen Baus oder hellem oder dunklem Holz in den Baracken oder einer Kneipe nebenan. Am unteren Bildrand ragen Hälse von Glasflaschen ins Bild. Im Hintergrund das Räuspern und Husten männlicher Stimmen. Auch wenn der eigentliche Ort nicht benannt wird, ist klar: Dies ist ein anderer Arbeitsplatz, keine Baustelle mehr, sondern ein Meeting, ein Treffen von Geschäftsmännern (Abb. 6). Der feingekleidete Herr bemüht sich um eine besonders klare Aussprache seiner Worte, betont durch ausladende und pointierte Gesten. Seine Sprech- 19 Zwar begleitet der Film einmal den Vorarbeiter und Polier in eine Kneipe, sie liegt jedoch nicht nur direkt gegenüber – wie der Sprecherkommentar vermittelt –; der Film zeigt aus ih- rem Fenster hinaus zudem eine Ansicht der Baustelle. So verwachsen diese Kneipe und die Baustelle zu einem Ort. Zerfließende Körper, Klänge und Räume 383 Abb. 6: Geschäftsführer (in der fremde). weise grenzt sich dadurch von den flapsigen und undeutlichen Ausdrücken der Bauarbeiter ab. Doch so klar seine Worte artikuliert sind, so uneindeutig sind sie in ihrer semantischen Bedeutung: Sie können nur Leute an eine bestimmte Stelle stellen –, an eine maßgebliche Stelle, denen sie ganz sicher sein können. – Nicht die also, die einen sauberen Kern haben, die die Ehrlichkeit, die Aufrichtigkeit, die Anständigkeit dem Unternehmen gegenüber ist ausschlaggebender als, äh, irgendwelche genialen Ideen [sic!]. Der zweite Teil der klaren grammatikalischen Konstruktion („Nicht die, … son- dern die“), die der Mann aufbaut, wird nie erreicht. Es bleibt somit unklar, welche der gelisteten Eigenschaften nun erwünscht oder unerwünscht sind. Die einzig klare Aussage bleibt: Die „Anständigkeit dem Unternehmen gegen- über ist ausschlaggebender als, äh, irgendwelche genialen Ideen.“ Beiläufig und dennoch pointiert fängt der Film hier ein fundamentales Problem der Bau- arbeitergemeinschaft ein: Wortwörtlich wird hier die Auflistung individueller Eigenschaften eines Arbeitnehmers abgelöst von der Unerwünschtheit indivi- dueller Ideen. Das Unternehmen hat Vorrang vor seinen Mitarbeitern. Dieser weiße Raum und die Worte dieses anonymen Herrn im Anzug legen sich fortan wie ein Schatten über die Bilder der Baustelle. in der fremde zeigt hier, wie die Probleme der Bauarbeiter – Lohnhöhe, Arbeitsstunden und Arbeitsbedin- gungen – losgelöst von den Begebenheiten der Baustelle und ihrer Bewohner verhandelt werden. Die Bauarbeiter sind hier reduziert auf ihre Arbeitskraft. 384 Björn Hochschild Die Baustelle und Familie Das zweite Mal verlässt der Film die Baustelle in einer Montage von Aufnah- men des angrenzenden Dorfes zum Osterfest. Kirchenglocken läuten, eine Fa- milie betritt die Kirche (Abb. 7), ein Jesuskreuz steht am Dorfrand. Diese weitestgehend menschenleeren Bilder werden begleitet von den Klän- gen eines Kirchenchors. Es ist somit das dem Blick versperrte Innere der Kirche, der Ort des Festtages und der Zusammenkunft einer Dorfgemeinschaft, das sich vom Leben der Baustelle am deutlichsten abgrenzt. Auf der Schwelle zwischen den beiden Räumen ist eine Familie zu sehen, die die Kirche betritt. Sie ist, kaum sichtbar, schon wieder Hand in Hand im Innern der Kirche verschwun- den. Diese Menschen bleiben anonym, kehren der Kamera den Rücken zu. Mehrfach thematisieren die Bauarbeiter in Gesprächen untereinander und in Ansprachen an die Kamera ihr eigenes prekäres Sein zwischen Arbeit und Familie. Dies scheint bereits in einem der ersten Sätze der Bauarbeiter des Films durch: „Ich mein’, wenn de in der Fremde lebst, dann willste Geld ver- dien’, nech? Für’n Appel und für’n Ei kannste zuhause arbeiten.“ Schon hier wird deutlich, dass es sich nicht um irgendeine Gemeinschaft von Arbeitern handelt, sondern um eine Gruppe von Männern, die sich ein Leben in der Hei- mat nur noch leisten können, indem sie es sich in der Fremde verdienen. Sie werden so in einen neuen Alltag geworfen, der allein von ihrer Arbeitskraft bestimmt ist. Besonders deutlich wird dieser prekäre Zustand in der letzten Szene vor dem Gleiterball. Ein letztes Mal isoliert die Kamera einen der Prota- gonisten in einem Interview (Abb. 8). Abb. 7: Familie betritt die Kirche (in der fremde). Zerfließende Körper, Klänge und Räume 385 Abb. 8: Ein Bauarbeiter im Interview (in der fremde). In einem Close-Up blickt der Mann immer wieder aus dem Fenster und erzählt in langsamen, bedachten Sätzen von seiner Lebens- und Arbeitssituation. Au- ßerhalb dieser Baustelle scheinen bloß weitere Baustellen auf ihn zu warten. In nostalgischen Tönen spricht er von der Arbeit in einem Kalksandsteinwerk: „Da konnt’ man Tach und Nacht arbeiten und war noch nicht genug.“ Eine letzte lange Pause legt sich zwischen diese und seine folgenden, abschließen- den Worte: „Und das’s auch vorbei alles.“ Ein Schnitt auf eine Ansicht aus dem Fenster hinaus gibt den Blick auf das Futtersilo preis. Die Arbeit ist hier als Fluch und Segen zum wesentlichen Lebensbestandteil geworden. Den Bau- arbeitern in der Fremde bleibt die Rückkehr zum Bild einer Familie wie der, die in der Kirche verschwindet, verwehrt. Die Baustelle als Männergemeinschaft Zwei Frauen betreten mit dem Rücken zur Kamera die Kirche – eine junge und eine alte, vermutlich Mutter und Großmutter der Familie. Sie sind die einzigen sich bewegenden, erwachsenen Frauenkörper, die der Film zeigt. Die wenigen anderen weiblichen Körper sind die der Tochter vor der Kirche und einer weite- ren Tochter später auf der Baustelle, sowie halbnackte Körper verschiedener Frauen auf Postern und Fotografien an der Wand einer der Holzbaracken. 386 Björn Hochschild Abb. 9: Eine Familie betritt die Baustelle (in der fremde). Abb. 10: Nackte Frauen- körper an der Wand (in der fremde). Die zweite gezeigte Tochter, ein Mädchen in Sonntagskleidung, läuft an der Hand ihres Vaters gemeinsam mit ihrem Bruder über die Baustelle (Abb. 9). Die Kamera fängt sie von weit oben mittels eines starken Zooms ein. Sie steht mit den Bauarbeitern auf dem Turm des Futtersilos. So macht sie diese mutter- lose Familie sichtbar, während der akustische Raum bei den Bauarbeitern ver- weilt und so die große Distanz zwischen diesen Körpern markiert. Sicht- und hörbare Körper rücken so in unerreichbare Ferne zueinander. Die Fotografien halbnackter Frauen fängt die Kamera in einer seitlichen Fahrt ein (Abb. 10). Ihre Bewegung verhindert ein Fixieren des Blicks auf ein- zelne Körper in der dichten Fläche aus Haut und Reizwäsche. Im Hintergrund Zerfließende Körper, Klänge und Räume 387 sprechen die Bauarbeiter über das „ständige Reizen“. Gemeint sind aber nicht die Frauenkörper, sondern ihr Kartenspiel, das um diese Fahrt herum sichtbar wird. Somit erscheinen dieseweiblichenKörper als eineMasse vonAnschauungsobjek- ten, die – vom Schweifen der Kamera abgesehen – nicht mehr angeschaut wer- den. Diese Frauenkörper sind eine Sammlung geworden, sind Teil der Innenein- richtung einer provisorischen Behausung. Die wenigen Ansichten weiblicher Körper sind somit allesamt in Distanz zu den Blicken und Räumen der Bauar- beiter gerückt. Sie rahmen dadurch die unzähligen Blicke auf die männlichen Körper und das Verhalten der Bauarbeiter. in der fremde ist voll von Bildern qualmender Zigarren, von anrüchigen Sprüchen und Ausdrücken von körperli- cher Härte und Stärke. Dass sich das Männliche – beziehungsweise die Idee davon – in der Gemeinschaft der Bauarbeiter als unhaltbarer Zustand erweist, zeigt sich besonders deutlich in dem Portrait des Poliers, das der Film zeichnet. Von Beginn an inszeniert der Film (und der Polier selbst) das Bild uner- müdlicher Versuche, charakterliche Härte, Stärke und Direktheit auszustrah- len. Diesem Selbstbild kann der Polier nicht gerecht werden, ohne dabei die Sympathie seiner Kollegen (und sicherlich auch der Zuschauer*innen) zu ver- lieren. Immer wieder schreit er mit großkotziger Stimme Befehle oder Beleidi- gungen über die Baustelle und positioniert sich in ausladender Körperhaltung. Selten ist er ohne eine Zigarre in der Hand oder zwischen den Zähnen zu sehen. Das Verhängnis seines (Selbst-)Bildes verdichtet sich, als die Kamera ihn in einem Interview isoliert. Es beginnt mit einem Zugeständnis von Schwäche: „Ein Kreuz musste haben, nech“, postuliert er, während er eine weitere Zigarre entzündet. „Das ist … was willste machen. Siehst ja an den grauen Haaren, nech? [er hustet stark]. Alle, die graue Haare haben, sind auch irgendwie sensi- bel, ja? Über jeden Scheißdreck da ärgert man sich, Mensch.“ Er ärgert sich hier über das anonyme Auftreten seiner eigenen Vorgesetzten in vorherigen Szenen, vor denen er seine Selbstdarstellung nicht aufrechterhalten konnte. Doch das Eingeständnis der eigenen Sensibilität ist bereits abgeschwächt, in- dem er sie als körperliches Symptom nach außen kehrt: Die grauen Haare tre- ten ein für den inneren Zustand. Die Weichheit, die er sich selbst nicht einzuge- stehen vermag, fängt unmittelbar darauf jedoch die Kamera ein: Während der Polier von seiner Verantwortung spricht, füllt sich der Bildkader mit dem di- cken Qualm seiner Zigarre (Abb. 11). Der Rauch schmiegt sich in weichen Bewe- gungen an das besorgte Gesicht und legt ihm so jene weichen Züge auf, die der Polier selbst nicht zulassen kann. Doch gleich darauf wird dieser Eindruck wieder zerstört. Der Polier ver- strickt sich, wie schon der Geschäftsführer kurz zuvor, in einen ähnlich wider- sprüchlichen Sprechakt: Es gibt welche, die denken, och Polier, der hat ja ein feines Leben, da kann man Kaffee trinken gehen, der kann sich auch mal in die Bude setzen, nech, so wie jetzt, und … – 388 Björn Hochschild Abb. 11: Der Polier umgeben von Qualm (in der fremde). die sehen nur das, die Leute, nech? Und wenn’se beim Biertisch dann eben so dumm gacksen, da kann ich nur sagen: Bitte. Befleißigt Euch, strengt Euch an. Seht zu, dass de auch so n schönes Leben habt [sic!] wie ich. Er beginnt damit die Schwierigkeit seiner eigenen Situation zu erläutern und endet mit einer herablassenden Bestätigung genau jener Klagen, mit denen er sich zu Unrecht konfrontiert sieht. Auf diese Weise führt der Polier eine Gemeinschaft von Männern, die zur unerträglichen und unhaltbaren Situation wird. Sie scheint gänzlich auf den Ort der Baustelle ausgerichtet zu sein, wäh- rend die Baustelle selbst nur einen temporären Ort darstellen kann. Diese Ge- meinschaft ist von Beginn an in ihrer Auflösung begriffen. Somit ist das, was auf dem Gleiterball letztlich in den zerfließenden Bildern von Raum, Klängen und Körpern verschmilzt, eine zwischen unerreichbaren und unhaltbaren Vor- stellungen von Familie, Kapital und Männlichkeit gefangene, vergängliche Zu- sammenkunft von Individuen. Die Kneipe und die Abgedankten In der Gemeinschaft der Trinker aus heiligabend auf st. pauli spielt Familie vor allem in dem Markieren ihrer Abwesenheit eine Rolle. Die zweite Einstel- lung des Films zeigt die Wirtin in einem Medium Shot vor einem Schnurtelefon (Abb. 12). Hinter ihr steht die junge Frau, die später Post aus dem Gefängnis Zerfließende Körper, Klänge und Räume 389 Abb. 12: Telefonat (heiligabend auf st. pauli). Abb. 13: Eine Kerze wird angezündet (heiligabend auf st. pauli). erhalten wird. Sie starrt mit leerem Blick in die entgegengesetzte Richtung der Wirtin, den Kopf immer wieder wendend. Ist sie in irgendeiner Form am Telefo- nat beteiligt? Man weiß es nicht. Die Kamera zoomt ein wenig näher, und als erste klare Worte des Films erklingen die der Wirtin: „Oh, was haste denn ge- kriegt?“ Die Antworten aus dem Telefon bleiben den Zuschauer*innen ver- wehrt. „Habt ihr gleich Bescherung? Ruft Ihr nachher noch mal an, nech?“ In der Einstellung darauf werden Kerzen zwischen Tannenzweigen entzündet (Abb. 13). Die Großaufnahme sieht für einen Moment aus wie ein Einblick in jenen familiären Raum, den man am anderen Ende des Telefons vermutet hat. Doch dann zoomt die Kamera hinaus: Die Hände gehören der Wirtin, die Ker- 390 Björn Hochschild zen stehen in der Kneipe. Das erste Gespräch des Films gestaltet sich so als verwehrten Einblick in einen familiären Raum, der getrennt bleibt von dem der Kneipe. Die Kamera folgt daraufhin der Wirtin durch die Kneipe. Die Kamera ist dabei bereits zu nahe an den Körpern, um einen wirklichen Überblick über den Raum zu vermitteln. Die Wirtin gerät in ein beiläufiges Gespräch mit einem weiblichen Gast, Anna, die den gesamten Film über am verhangenen Fenster der Kneipe sitzt. Das Gespräch endet mit dem klar verständlichen Spruch der Wirtin: „Axel Springer sucht neue Gestalten“. Daraufhin wechselt der Film zu einer Ansicht Annas und verwickelt sie in eines der wenigen Interviews des Films. Sie erzählt von ihrer Situation. „Ich bin seit 15 Jahren erste Mal nicht in Düsseldorf [sic!]“, mahnt sie mit erhobenen Zeigefinger. Sie ist eine Frau im Rentenalter, aber sie arbeite noch, soviel will sie sofort klarstellen. Dann hört man erstmals eine Stimme des Filmteams: „Warum sind se denn nicht nach Düsseldorf gefahr’n?“ Anna antwortet empört: „Weil ich mein Geld versoffen hab!“ Zum Ende dieses Interviews wechselt die Kamera wieder zu einer Ansicht der Wirtin. Sie ist schräg von links hinten gefilmt. Am rechten Bildrand ragen zwei der Weihnachtskerzen ins Bild. Die Hand hat die Wirtin ans Kinn gelegt. „Ich bin ’ne Abgedankte!“ hört man Anna im Hintergrund rufen, während die Wirtin beginnt, ihre Unterlippe und ihr Kinn zu streicheln. „Böse Frau“, setzt Annas Stimme nach. Die Kamera zoomt auf die Hand der Wirtin. Die Musik der Jukebox schwillt an und spielt eine weiche Melodie. Für wenige Sekunden ist nur noch die streichelnde Hand zu sehen. Es entsteht ein Bild von Zärtlichkeit, von der man wünscht, sie könne sich aufrichtig an Anna wenden. Später, zehn Minuten vor Filmende, nachdem Anna im Verlauf des Films immer zwischen Gesprächen, Selbstgesprächen und gemeinsamem Singen hin und her wechsel- te, bricht sie in Tränen aus: „Scheiß auf alles!“ Hier ringen die anderen Gäste tatsächlich um Trost, jedoch ebenso unbeholfen wie das Streicheln des eigenen Gesichts: „Lach doch mal. Wir freuen uns alle, wenn du dich freust.“ Dieses Weihnachtsfest gestaltet sich so von seinen ersten Minuten an als Zusammenkunft von Ausgestoßenen, von „Abgedankten“. Trotz der vielen Be- rührungen, die im Verlauf des Films in dieser Kneipe sichtbar werden, erhält jede Form der Intimität einen bitteren Beigeschmack. So etwa in einer Umar- mung von zwei Männern zum Ende des Films. Die Begegnung beginnt als Streit zwischen einem stark betrunkenen Gast, der seine Rechnung nicht bezahlen will, und dem männlichen Wirt. Fließend gleiten die Bewegungen der beiden zwischen Aggressivität und Zuneigung hin und her. Ein gehobener Zeigefinger und die Andeutung einer Kopfnuss werden zu einer innigen Umarmung (Abb. 14). Beide Interaktionen scheinen ähnlich motivationslos. Zerfließende Körper, Klänge und Räume 391 Abb. 14: Provokation und Umarmung (heiligabend auf st. pauli). Die Kneipe wird so zu einem ambivalenten Raum. Auf der einen Seite gestaltet sich die Feier als enge, intime und körperliche Zusammenkunft. Man singt ge- meinsam, man umarmt sich, man streichelt sich die Haare und wischt sich die Tränen weg. Auf der anderen Seite ist die Kneipe abgetrennt von den Räumen familiärer Feierlichkeiten. Am Ende des Abends kaufen sich die Trinkenden, die immer wieder ihre fehlende oder schwere Arbeit thematisieren, beim Ab- rechnen aus diesem ambivalenten Raum frei. Letztlich scheint vor allem der Alkohol Auslöser der zunehmenden körperlichen Begegnungen zu sein. Doch diese Zuneigungen erscheinen in den zerfließenden Bildern, Klängen und Flä- chen als motivations- und bedeutungslose Kontakte. Zerflossen in Alkohol Das Trinken und die Art und Weise, wie dieses Trinken inszeniert wird, verbin- det heiligabend auf st. pauli mit in der fremde. Beide Filme zeigen Bilder von Gemeinschaften in besonderen Räumen. Es sind jeweils äußere Umstände, die die Körper in diese Räume drängen: Sei es der Lohn der Arbeit oder der Zwang zu weihnachtlicher Besinnlichkeit. Die Besonderheiten der Räume stel- len die Gemeinschaften in ihrer Spezifik erst heraus, bzw. verformen sie: das Provisorische der Behausung auf der Baustelle mit ihren ausschließlich männ- lichen Körpern und die Enge der Kneipe mit ihren ausschließlich betrunkenen Körpern. Diese Kneipe und diese Baustelle zeichnen sich dadurch aus, dass sie weder wirklich private, noch wirklich öffentliche Räume sein können. Beide Räume erscheinen als zugänglich: Die Baustelle grenzt an ein Dorf, weder gesi- chert noch umzäunt, und die Tür der Bar lässt sich öffnen und schließen. Den- 392 Björn Hochschild noch: Als sich die mutterlose Familie auf die Baustelle verirrt, erscheint sie im Blick der Kamera wie ein Fremdkörper. Und die einzig nüchternen Körper, die die Kneipe betreten, sind klar markierte Außenseiter: Polizisten in Uniform, die kurz nach dem Rechten sehen, einen Streit um die Bezahlung einer Rechnung schlichten und sogleich wieder verschwinden. Alle anderen, die diesen Raum betreten, sind bereits betrunken, sind bereits Teil der Kneipe, sobald sie diese betreten haben. So sind diese Räume zwar zugänglich, darum aber längst keine Räume der Öffentlichkeit. Ebenso wie sie als zugänglich gestaltet werden, erscheinen sie auch als abgetrennt von der Alltagswelt mit Familie, Dorf- und Stadtgemeinschaft. Zu privaten Räumen können sie in dieser Isolation jedoch auch nicht werden: Für das individuelle Leid der Bauarbeiter ist in der dicht gedrängten Gemeinschaft von Männern kein Platz. Es kommt nur zum Vorschein, wenn ihnen jemand zuhört – und dies scheint ausschließlich, und auch nur in seltenen Momenten, die Kamera zu tun. Dasselbe gilt für die Trinkenden in der Kneipe. Erzählen sie hier ihre Geschichten, werden sie sogleich vom dichten Tumult der lauten und beweglichen Stimmen und Körper der anderen Trinker wieder verschluckt. Der Zustand der Trunkenheit verformt beide Gemeinschaften. In ihm fin- den die intimsten Berührungen und Begegnungen statt: Bauarbeiter lernen das Lied der Zimmermänner, singen und klatschen im Quartett einen gemeinsamen Rhythmus. Man schenkt sich Schnaps ein. Jemand streichelt einem anderen durchs Haar. Man prostet sich zu. Man lacht, singt, umarmt, tröstet und küsst sich. So verbindet die Kneipe auf St. Pauli und die Baustelle letztlich die Äuße- rung eines tiefen Bedürfnisses nach Zuneigung, Geborgenheit und Kontakt. Die Befriedigungen dieses Bedürfnisses inszenieren die Filme jedoch als ambiva- lente Prozesse. Im Zustand der Trunkenheit sind alle Verbindungen von kurzer Dauer, sind Episoden in einem Strom von Bewegung, den die Filme als Ganzes aufbauen. Ungeschützt vor den schweifenden Blicken der Kamera, beginnen die Körper mitsamt den sie umgebenden Räumen sich in Licht- und Schatten- flächen aufzulösen. Kneipe und Baustelle, Trinkende und Bauarbeiter werden so zu temporären Gestalten. In Alkohol und Bildern lassen in der fremde und heiligabend auf st. pauli ihre Orte und Protagonist*innen zerfließen. Sie lö- sen sich auf, ohne dabei etwas zu lösen. Das raumzeitliche Gefüge, das die Filme dabei entstehen lassen, entfaltet sich als unhaltbarer und unerträglicher Zustand. Literaturverzeichnis Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Frankfurt am Main 2008. Bausche, Andreas: Wildenhahn, Klaus. In: Ian Aitken (Hg.): The Concise Routledge Encyclopedia of the Documentary Film. London/New York 2013, S. 1005–1007. Zerfließende Körper, Klänge und Räume 393 Böttcher, Jürgen/Hübner, Christoph/Hübner-Voss, Gabriele: Dokumentarisch arbeiten. Jürgen Böttcher, Richard Dindo, Herz Frank, Johan van der Keuken, Volker Koepp, Peter Nestler, Klaus Wildenhahn im Gespräch mit Christoph Hübner. Berlin 1996. Frey, Reiner/Kluge, Alexander: Eine realistische Haltung müßte der Zuschauer haben, müßte ich haben, müßte der Film haben. Interview mit Alexander Kluge – von Reiner Frey und Alexander Kluge. In: filmfaust. Zeitschrift für den internationalen Film 20 (1980), S. 19–26. Kluge, Alexander/Eder, Klaus/Savage, Robert: Debate on the Documentary Film. Conversation with Klaus Eder, 1980. In: Tara Forrest (Hg.): Alexander Kluge. Raw Materials for the Imagination. Amsterdam 2012, S. 197–208. Kreimeier, Klaus: Darstellen und Eingreifen. Deutsche Dokumentarfilme auf der Duisburger Filmwoche/Gewerkschafter machten mit. In: filmfaust. Zeitschrift für den internationalen Film 20 (1980), S. 17–18. 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