Rainer Mühlhoff, Anja Breljak, Jan Slaby (Hg.)
Affekt Macht Netz
Digitale Gesellschaft | Band 22
Rainer Mühlhoff (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonder-
forschungsbereich »Affective Societies« der Freien Universität Berlin. Seine
Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in den Bereichen Sozialphilo-
sophie, Affekt-Theorie und Ethik der digitalen Gesellschaft. Er studierte Ma-
thematik, theoretische Physik, Philosophie und Gender Studies in Heidelberg,
Münster, Leipzig und Berlin.
Anja Breljak (MA) ist Doktorandin am Forschungskolleg SENSING in Pots-
dam. Ihre Forschung beschäftigt sich mit der Körper- und Mediengeschichte
von Affekt, digitaler Gesellschaft und politischer Ökonomie. Sie hat Philoso-
phie, VWL und Informatik in Berlin, Sarajevo und Paris studiert.
Jan Slaby (Prof. Dr.) ist Professor für Philosophie des Geistes und Philosophie
der Emotionen an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunk-
te liegen in den Themenfeldern Affekt/Emotion, Sozialität, Selbstbewusstsein,
Handlungstheorie, Phänomenologie, Wissenschaftsphilosophie der Human-
wissenschaften und Technikphilosophie. Er ist Vorstandsmitglied im Berliner
Sonderforschungsbereich »Affective Societies«.
Rainer Mühlhoff, Anja Breljak, Jan Slaby (Hg.)
Affekt Macht Netz
Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft
Diese Publikation geht hervor aus dem DFG-geförderten Sonderforschungsbereich
1171 »Affective Societies«, Teilprojekt B05, an der Freien Universität Berlin. Sie wurde
außerdem ermöglicht durch eine Ko-Finanzierung für Open-Access-Monografien und
-Sammelbände der Freien Universität Berlin.
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Satz: Rainer Mühlhoff
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EPUB-ISBN 978-3-7328-4439-5
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Inhalt
Was ist Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft?
Einleitung
Anja Breljak und Rainer Mühlhoff | 7
I. Infrastrukturen der Kontrolle
Die Zeit der Datenmaschinen
Zum Zusammenhang von Affekt, Wissen und Kontrolle im Digitalen
Anja Breljak | 37
Netzwerkaffekte
Über Facebook als kybernetische Regierungsmaschine
und das Verschwinden des Subjekts
Felix Maschewski und Anna-Verena Nosthoff | 55
Big Data Is Watching You
Digitale Entmündigung am Beispiel von Facebook und Google
Rainer Mühlhoff | 81
Tasten
Taktilität als Paradigma des Digitalen
Shirin Weigelt | 107
II. Affekt, Netz und Subjektivität
Klicklust und Verfügbarkeitszwang
Techno-affektive Gefüge einer neuen digitalen Hörigkeit
Jorinde Schulz | 131
Die umkämpfte Grenze zwischen Liebe und Stalking
Von hermeneutischer Ungerechtigkeit zu einer Theorie des Narrativzwangs
und der affektiven Dissonanz anhand der Erfahrungen gestalkter Frauen
Katharina Dornenzweig | 155
More Substance Than a Selfie?
Affektökonomien des Authentischen beim Onlinedating
Jule Govrin | 183
Tears in Heaven
Mediale Politiken des Schmerzes
Henrike Kohpeiß | 203
Die neue Lust am Ressentiment
Grundzüge eines affekttheoretischen Ressentiment-Begriffs
Christian Ernst Weißgerber | 225
III. Öffentlichkeit, Protest und Politik
The Internet is Dead – Long Live the Internet
Soziale Medien und idiosynkratisches Aufbegehren
Philipp Wüschner | 247
Affektive Netze
Politische Partizipation mit Spinoza
Marie Wuth | 269
Öffentlichkeit trotz alledem
Polemisches Erscheinen und Archivarbeit postdigitaler Proteste
Jan Beuerbach | 291
»Die Mächte verstehen, die am Werk sind«
Ein Gespräch mit Toni Negri
Anja Breljak und Jorinde Schulz | 315
Negri und Wir: Affekt, Subjektivität und Kritik in der Gegenwart
Ein Nachwort
Jan Slaby | 337
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren | 353
Was ist Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft?
Einleitung
Anja Breljak und Rainer Mühlhoff
1 Gelbe Karte für Facebook
»Wer ist der Boss einer Bewegung ohne Führer?« – diese simple und treffende
Frage stellte der Journalist Vincent Glad in einem fast ikonisch gewordenen Arti-
kel für die Libération über das Phänomen der »Gelbwesten« in Frankreich (Glad
30.11.20181). Die Proteste, die seit Ende 2018 scheinbar unkontrolliert, spontan,
aber doch simultan an verschiedenen Orten immer wieder entstehen, verstehen
sich nämlich als radikal horizontale, direktdemokratische Initiative abseits der
Mobilisierungsstrukturen von Parteien oder Gewerkschaften. »Ab einem gewis-
sen Punkt« jedoch, so stellt Glad fest, »bedarf es einer Struktur, um den Kampf zu
koordinieren, eine Liste von Forderungen aufzustellen, auf Anfragen der Presse
zu reagieren und mit der Regierung zu verhandeln.« (Ebd.) In dieser Lage habe
sich nun – Stand November 2018 – eine achtköpfige »Delegation« gefunden, um
für die Bewegung zu sprechen. Und in ganz undemokratischer Weise habe sich
diese Delegation quasi »selbst ernannt«:
»Bei dieser neuenArt der Mobilisierung, bei der Online-Teilnahme genauso wichtig ist wie das
Blockieren von Kreisverkehren, sind standardmäßig die Admins der involvierten Facebook-
Gruppen die Anführer. Eric Drouet und Priscillia Ludosky sind beide Admins der Gruppe
La France en colère !!! [›Frankreich zornentbrannt!!!‹], die 250.000 User umfasst. In der
Achtergruppe sticht ein dritter Kopf heraus: der charismatische Maxime Nicolle alias Fly
Rider […]. Er verwaltet die Gruppe Fly Rider infos blocages [›Fly Rider Blockade-Infos‹], eine
Gruppe von 62.000 Menschen, die täglich seinen Facebook-Livestreams folgen.« (Ebd.)
1 | Alle folgenden Zitate aus Glad 30.11.2018 in eigener Übersetzung.
Mühlhoff, R.; Breljak, A.; Slaby, J. (Hg.): Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie
der Digitalen Gesellschaft. transcript 2019, S. 7–34. DOI: 10.14361/9783839444399-001.
8 Anja Breljak und Rainer Mühlhoff
Die Gelbwesten-Bewegung ist damit exemplarisch für eine neue Art und Weise,
wie sich soziale Bewegungen unter Bedingung der digitalenMedien organisieren.
Das Medium Facebook mit seinen spezifischen Kommunikationsformen scheint
ein dynamisches Organisationsprinzip von unten hervorgebracht zu haben, in
welchem Gruppen-Administrator_innen die Rolle von Sprecher_innen einneh-
men. Dabei wird diese Rolle in einer Kombination aus Echtzeit-Präsenz und per-
manenten Feedback-Prozessen durch die Kommentare und Reaktionen der User
konstituiert:
»Bei ihnen geschieht alles live auf Facebook, über Live-Videos, in denen sich die beiden
Wortführer [Drouet und Nicolle] in einem Kreuzfeuer der Fragen und der Kritik wiederfinden,
auf die sie immer mit großer Gelassenheit und einer unbestreitbaren Verantwortung reagie-
ren (mal abgesehen von der gelegentlichen Verbreitung von Falschinformationen). Man fragt
sich beinahe, warum diese Videos nicht direkt auf BFM TV live auf Sendung gehen. Diese
Facebook Live-Videos haben nicht weniger Relevanz für den Konflikt als eine Rede von Em-
manuel Macron oder Edouard Philippe. Während unter den Gelbwesten kein Mensch dem
traditionellen Mediendiskurs Glauben schenkt, erscheinen diese ›Lives‹ und im Grunde alle
auf der Plattform zirkulierenden Videos als das einzig zuverlässige Medium. […] Der Un-
terschied zwischen einem gewählten Politiker und einem Vertreter der Gelbwesten besteht
darin, dass letzterer in Echtzeit der Aufsicht und Kritik seiner Artgenossen unterliegt. Hier
offenbart sich ein verführerisches Modell der direkten Demokratie.« (Ebd.)
Facebook hatte die Live-Video-Funktion Anfang 2016 eingeführt und war damit
dem Vorbild von Plattformen wie YouTube oder Periscope gefolgt, die länger
schon Video-Livestreams ermöglichten (Cullen 15.09.2015). »Live is like hav-
ing a TV camera in your pocket. Anyone with a phone now has the power to
broadcast to anyone in the world« – so pries Mark Zuckerberg das neue Fea-
ture an und brachte es auch als Frontalangriff gegen TV-Sender und redaktio-
nelle Live-Berichterstattung in Stellung (Zuckerberg 06.04.2016). Damit der
Aufstand der Gelbwesten seine dezentrale, spontane und doch irgendwie ko-
ordiniert erscheinende Form annehmen konnte, brauchte es allerdings mehr als
das Livestreaming-Feature, so jedenfalls mutmaßt Vincent Glad. Es brauchte eine
Verschiebung der Prioritäten in der Anzeige von Nachrichten im Newsfeed von
Facebook:
»Die Bewegung wurde zweifellos durch den neuen Facebook-Algorithmus unterstützt, der die
Inhalte von Gruppen zum Nachteil der von Seiten (und damit von den Medien) geposteten
Inhalte überbewertet. Nach ein paar Likes in einer Gruppe wird man von Inhalten dieser
Gruppe im Newsfeed überschwemmt. Der neue Algo[rithmus] hat die Gelbwesten in eine
›Filterblase‹ versetzt, wo sie fast nichts als gelben Inhalt sehen.« (Glad 30.11.2018)
Was ist Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft? 9
Hintergrund ist die Anfang 2018 von Facebook angekündigte und von vielen ge-
fürchtete Überarbeitung derjenigen algorithmischen Routine, die darüber ent-
scheidet, welche Inhalte eine Nutzer_in von Facebook im Newsfeed angezeigt
bekommt (vgl. Hutchinson 11.01.2018). Facebook war im Nachgang der Wahl Do-
nald Trumps zum US-Präsidenten verstärkt für die Ermöglichung von Falsch-
nachrichten und Hasskommentaren kritisiert worden. In Reaktion darauf ver-
kündete Mark Zuckerberg als sein persönliches self-improvement project 2017, in-
nerhalb eines Jahres jeden US-Bundesstaat einmal zu besuchen und »dort Men-
schen zu treffen«, um zu erfahren, »wie sie leben, arbeiten und über die Zukunft
denken« (Zuckerberg 03.01.2017). Von diesen Reisen brachte er eine Erkenntnis
mit nach Hause: »Lokale Communities sind viel wichtiger für die Menschen,
als wir das realisieren.« (Zuckerberg 16.11.2017) Als Konsequenz wolle er deshalb
die Firmenmission von Facebook verändern: »Die Zeit, die wir alle auf Facebook
verbringen, soll wieder gut verbrachte Zeit sein«, und so gehe es nun darum,
Postings zu bevorzugen, »die Konversationen und bedeutungsvolle Interaktionen
zwischenMenschen anregen«, anstatt bloß passiv konsumiert zuwerden (Zucker-
berg 11.01.2018). FacebooksHead of News Feed, Adam Mosseri, konkretisierte:
»To do this, we will predict which posts you might want to interact with your friends about, and
show these posts higher in feed. These are posts that inspire back-and-forth discussion in
the comments and posts that you might want to share and react to.« (Mosseri 11.01.2018)
Die Zeit des bloßen Likens und Teilens ist also vorbei. Wertvoller für Facebook
sind diejenigen Inhalte, die Diskussionen auslösen. Ein Jahr nach der großen
Umstellung zur Förderung lokaler Communities scheint Zuckerbergs Projekt al-
lerdings mehr neue Probleme geschaffen als bestehende Probleme gelöst zu ha-
ben: Denn es stellt sich heraus, dass es die polarisierenden, reißerischen, potenzi-
ell falschen Inhalte sind, die am meisten diskutiert werden und die Interaktions-
intensität erhöhen (Owen 15.03.2019). Statistiken zeigen, dass Hasskommenta-
re, Verschwörungstheorien und selbstjustiziale Verfolgungsdebatten auf der Jagd
nach »meaningful interaction« und »back-and-forth discussions« am Besten ab-
schneiden (ebd.). FoxNews ist nach dem Kriterium des »user engagement« der
erfolgreichste Medienakteur auf Facebook in den USA – etwa zweimal so erfolg-
reich wie CNN oder die New York Times (ebd.).
»Wer bringt die Lehren des Mark Zuckerberg besser zur Anwendung als die
Gelbwesten?«, fragt unterdessen Vincent Glad und vermutet hier den Glutkern
eines fundamentalen Wandels der Demokratie (Glad 30.11.2018): In einer Zeit, in
der Politiker_innen wie der französische Präsident Emmanuel Macron den direk-
ten Draht zu ihrer Wählerschaft verloren zu haben scheinen, »finden diese sich
einer Gruppe von Facebook-Admins gegenübergestellt« (ebd.). Die Admins sind
in diesem Wandel die neuen Wortführer_innen, weil sie das Spiel, auf Facebook
für diejenigen Inhalte zu sorgen, die in der »Engagement«-Metrik funktionieren,
am besten beherrschen.Während die Plattform die Vorrechte der Admins ständig
10 Anja Breljak und Rainer Mühlhoff
erweitert, entwickeln sich diese zu einem »intermediären Korps« (ebd.), das vom
Scheitern klassischer Organisationsformen wie Gewerkschaften, Verbänden und
Parteien profitiert und als quasipolitischer Verantwortungsträger handelt.
Phänomene wie das der »Gelbwesten« mit ihrer nicht wegzudenkenden Bezie-
hung zu sozialen Medien wie Facebook führen direkt zu jenem Problemkomplex,
den wir unter dem Titel einer Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft fassen und
kritisch besprechen möchten. Damit ist eine interdisziplinäre und methodolo-
gisch bewusst offen angelegte, an Philosophie, Medientheorie, Sozial- und Kul-
turwissenschaft geschulte Theoriearbeit zu aktuellen Themen des Sozialen und
der Politik unter den Bedingungen digitaler Vernetzung gemeint. Am Beispiel
der Gelbwesten lassen sich zwei für uns zentrale Aspekte im Zusammenspiel von
Vernetzung, Politik und Sozialität herausstellen: So wird erstens das Konstituti-
onsverhältnis zwischen Medium (hier: Facebook) und den Affekten und Diskur-
sen einer politischen Bewegung ersichtlich. Die digitale Plattform ist nicht ein-
fach nur ein Container für beliebige Inhalte, die von außen dort hineingeladen
werden; ihre Rolle besteht nicht bloß in der Verstärkung und Reichweitenver-
größerung eines Stammtisches. Spezifische mediale Eigenschaften (hier unter
anderem: Live-Videos, die durch das unmittelbare Feedback der Zuschauenden
in Echtzeit beeinflusst werden) bringen vielmehr bestimmte Inhalte und Dyna-
miken überhaupt erst hervor. Damit wird auch das alte Prinzip des Broadcasting
auf eine neue Qualitätsstufe gehoben. Um solche Effekte besser zu verstehen,
sind genaue Untersuchungen der technologischen Eigenschaften wie auch ihrer
Verwobenheit mit dem sozialen Raum vonnöten.
Zweitens erweist sich ein digitalesMediumwie Facebook in dieser Perspektive
als grundlegend politisch. Dies nicht nur, weil es beliebigen Akteuren erlaubt, po-
litische Botschaften zu verbreiten, sondern weil es neue Modi des Politischen her-
vorbringt. Auch wenn sich die Plattform als »neutraler Vermittler« deklariert und
hinter der harmlosen Mission versteckt, den Kontakt zu Familie und Freund_in-
nen zu fördern, wird doch an der Veränderung sozialer Bewegungen in den letz-
ten zwei Jahrzehnten immer wieder deutlich, dass mit den neuen Medien nicht
nur Räume derDiskussion und Politisierung entstehen, sondern auch neue politi-
sche Subjekte die Bühne des (Welt-)Geschehens betreten – so problematisch ihre
Positionen, Wirkungen und Effekte auch sein mögen. Denn gerade in den For-
men von Netzwerk-Sozialität und den von ihnen sowohl ermöglichten als auch
in spezifischer Weise geformten Subjektivitäten liegt das implizit Politische der
digitalen Kommunikationsplattformen. Der damit einhergehende grundsätzliche
Wandel vonDemokratie undGesellschaft, den Vincent Glad amBeispiel der Gelb-
westen diagnostiziert hat, betrifft also auch die Ebene der Subjektivitäten, der Af-
fektökonomien und die Spielarten von Macht in der Digitalen Gesellschaft. Die-
sem Wandel und der Frage, wie er sich beschreiben, analysieren und diskutieren
lässt, stellt sich der vorliegende Sammelband.
Was ist Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft? 11
2 Das Programm: Affekt – Macht – Netz
Unter dem Titel »Affekt – Macht – Netz« widmen sich die Beiträge dieses Buches
der Aufgabe, grundlegende gesellschaftliche Transformationen durch die digitale
Vernetzung sozialtheoretisch auszuleuchten.Unter »sozialtheoretisch« verstehen
wir die fallbezogene theoretische Arbeit an der Schnittstelle von Sozialphiloso-
phie, Kritischen Theorien, Affect Studies und Medienwissenschaft. Mehr als die
feste Zuordnung zu einem bestimmten disziplinären Kanon steht in dem vor-
liegenden Band der Bezug zu aktuellen Phänomenen im Mittelpunkt. Die drei
zentralen Analysekategorien – Affektivität, Macht und Netz(werk) – dienen uns
dafür als Vektoren der theoretischen Explikation.
Mit der Metapher des Netzes geht es uns zunächst um die Bestimmung einer
medialen Topologie der dezentralen Konnektivität, wie sie für das Digitale cha-
rakteristisch ist. In dieser geläufigen Verwendung (siehe etwa »world wide web«)
steht der Aspekt der Vernetzung von Kommunikations- und Informationsflüssen
in sozialen, ökonomischen und politischen Beziehungen im Vordergrund. Für
das darin wirksame kybernetische Prinzip der wechselseitigen Regulation und
Kontrolle durch Feedbackschleifen ist die Topologie der medialen Vernetzung in
besonderer Weise prädestiniert. Dies wird deutlich, wenn man sie mit der hie-
rarchischen Baumstruktur von Informationsflüssen der Massenmedien oder der
hierarchischen Personalführung in Unternehmen vergleicht. Im Bild des Netzes
ist darüber hinaus die Bedeutung des Einfangens und Einwickelns enthalten. In
einem Netz kann man sich mitunter verheddern und verfangen. So ist es ein
Kennzeichen etwa sozialer Netzwerke, dass sie die Menschen zugleich verbinden
und geradezu bis zur Sucht in ihre Interaktionslogiken einzuwickeln streben. Mit
großen Treibnetzen, um dieMetapher noch ein Stück weiter zu strapazieren, lässt
sich dann im Bestand der Daten von Milliarden Nutzer_innen fischen und nach
wertvollen Informationen sieben, etwa um Werbung individuell zuzuschneiden,
aktuelle ökonomische Trends zu ermitteln oder die Präferenzen, Verhaltenswei-
sen und psychologischen Dispositionen von Menschen systematisch zu vermes-
sen. In diesem Sinne ist es ein Kernbestandteil unseres Ansatzes, anhand der
medientechnologischenGrundlagen der digitalen Vernetzung ein Verständnis so-
wohl der ontologischen als auch der epistemologischen Bedingungen gegenwär-
tiger Sozialität und Gesellschaftlichkeit zu erarbeiten.
Zugleich weist der sozialtheoretische Zuschnitt unserer Perspektive über die
Medialität digitaler Vernetzung hinaus. So benennt das Titelstichwort »Macht« ei-
ne zweite Analyseebene, die in unserer Herangehensweise von Beginn an mitge-
dacht wird. »Daten sindMacht« – so lautet vielleicht das Credo unserer Zeit. Unter
Begriffen wie Überwachung, Kybernetik, Kontrolle, Schwarmverhalten, Empire,
Exploit oder Protokoll hat in den letzten drei Jahrzehnten eine kritische Ausein-
andersetzung stattgefunden, in der die Transformationen von Macht und ihren
Formaten unter der Bedingung von Vernetzung herausgearbeitet wurden (vgl.
Lyon 1994, Tiqqun 2011, A. Galloway 2004, A. R. Galloway und Thacker 2007,
12 Anja Breljak und Rainer Mühlhoff
Hardt und Negri 2003). Denn Macht ist heute nicht mehr ohne Weiteres in den
Begriffen vonUnter- und Überbau, vonHerrschafts- oder Staatsapparat und Ideo-
logie explizierbar.Machtformationen erweisen sich immer häufiger als immanent
und netzwerkförmig, stellen das Verhältnis zwischen Zentralität und Dezentra-
lität, von Hierarchie und Anarchie, neu auf. Das klassische Denken von Macht
als Verfügungsgewalt über andere wird von dieser Entwicklung mindestens ver-
kompliziert, wenn nicht gar an seine Grenzen gebracht. Wir wenden uns daher
solchen Ansätzen zu, die es erlauben, die verwickelten Konstellationen einer ver-
netzten, ›von unten‹ agierenden, dezentralen Form von Macht zu denken. Dabei
kommt es umso mehr darauf an, am konkreten Fall zu arbeiten, um die subtile
und oft unwissentliche Eingewobenheit alltäglicher Mikrohandlungen in macht-
volle Gefüge vernetzter Medien überhaupt greifbar machen zu können.
Drittens verweist das titelgebende Stichwort »Affekt« nun schließlich auf die
These, dass die digitale Vernetzung in spezifischer Weise affektive Bezugsformen
von Individuen, Kollektiven und Gesellschaften zu sich selbst und anderen, zu
Politik und Weltgeschehen im Rahmen einer beständigen Involvierung in digita-
le Kommunikationsprozesse betrifft. Seit dem sogenannten turn to affect in den
Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften (siehe Abschnitt 3) wird rund um den
Begriff »Affekt« eine Debatte über unmittelbar körperliche, in den sozialen Re-
lationen liegende Formen der Bezugnahme geführt, die über primär symbolisch
verfasste Kommunikationsregister hinausweisen. Gerade im medientechnologi-
schen Kontext erweist sich dieser Theoriebegriff als produktiv, legt er doch an-
ders als das subjektive »Gefühl« oder der psychologische Begriff der »Emotion«
eine besondere Betonung auf zwischenkörperliche Dynamiken, Intensitäten und
Bewegtheiten im sozialen Zusammenspiel von Individuen, Kollektiven und Um-
gebungen. Es gehört vielleicht zu den grundlegenden Scheinparadoxien unserer
Zeit, dass die umfassende Digitalisierung und Computerisierung aller Lebens-
bereiche nicht etwa zur Überführung sämtlicher Kommunikations- und Erfah-
rungsgehalte in Einsen und Nullen, formale Ausdrücke oder symbolische Reprä-
sentationen führen – weil Computermit etwas anderem doch gar nichts anfangen
können. Im Gegenteil erleben wir ein wachsendes Interesse des Digitalen an den
affektiven Dynamiken und körperlichen Regungen, an den Reaktionen und unbe-
wussten Sensitivitäten, an den psychologischenDispositionen und demBegehren
der User. Voraussetzung dafür ist die feste Eingebundenheit der sozialen Medien
und digitalen Geräte in das Alltagsleben ihrer User, denn nur so können umfas-
send Daten erhoben werden, die nicht nur zu einer Weiterentwicklung der digi-
talen Dienste beitragen, sondern die Dynamiken und Reaktionen der Nutzer_in-
nenminutiös kartografieren, um Trends vorhersagen und Prognosen erstellen zu
können. Ob in den »Echokammern« der sozialenNetzwerke, durch die Techniken
des User Experience Designs oder in den affektiven Dynamiken von Memes und
Onlineforen – digitale Medien erfassen und übertragen Affekte nicht einfach nur,
sie bringen neue Affektdynamiken und emotionale Bezugsformen hervor.
Was ist Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft? 13
3 Debattenkontext
Mit demProgrammeiner »Sozialtheorie der DigitalenGesellschaft« verfolgen wir
einen transdisziplinären Ansatz, der philosophische und medienwissenschaftli-
che Überlegungen mit Affekttheorie zusammenbringt, um die Verflechtung digi-
taler Technologien mit sozialen Verhältnissen, Politik und Lebensformen zu dis-
kutieren. Damit nehmen wir grundsätzlich Bezug auf den sogenannten »turn to
affect« (Angerer 2007, Clough und Halley 2007), der mit dem Aufkommen der
sozial- und kulturwissenschaftlichen Affect Studies seit den 1990er Jahren eine
theoretische Reorientierung hin zum Somatischen, zu Körpern und den Dynami-
ken ihrer Begegnungen, ihrer Gefühle und gegenseitigen Wirkungen bedeutet
hat (Sedgwick und Frank 1995; Massumi 1995, Massumi 2002; Gregg und Seig-
worth 2010; Blackman 2012; Angerer, Bösel und Ott 2014; Slaby und von Scheve
2019). Dabei gilt es zu beachten, dass der Affektbegriff auch innerhalb der Affect
Studies durchaus nicht einheitlich gebraucht wird, nehmen doch so unterschiedli-
che Denktraditionen wie beispielsweise Spinozismus, Feminismus, Operaismus,
Psychologie und Neurowissenschaften Bezug auf ihn.Was sie miteinander teilen,
ist neben dem Fokus auf zwischenkörperliche Dynamiken eine Perspektive, die
der Engführung sozialer Identitäten und Verhältnisse auf die bewusste Reflexivi-
tät des Subjekts zuvor- oder gar entkommenmöchte. Affizierung wird stattdessen
als ein grundlegendes zwischenkörperliches Wirkungsgeschehen aufgefasst, das
partiell außerhalb der Bahnen symbolisch, sprachlich oder konventionalistisch
verfasster Interaktionsformen verlaufen kann. Schon dem Alltagsgebrauch des
Wortes ›Affekt‹ lässt sich diese Tendenz entnehmen:Wer imAffekt agiert, handelt
üblicherweise schnell und intensiv, unbedacht undmit außer Kontrolle geratenen
Gefühlen. Gerade diesen Moment des Unmittelbaren und »Überschießenden«
gegenüber dem Geskripteten, Formelhaften nehmen sich einige affekttheoreti-
sche Herangehensweisen zum Ausgangspunkt, um den sozialen Raum von den
Beziehungen und reziproken Dynamiken her zu denken (Massumi 1995, Massu-
mi 2002; Slaby und Mühlhoff 2019).
Für unsere Zwecke eignet sich innerhalb des heterogenen Feldes der Affect
Studies vor allem jene philosophische Tradition im Anschluss an Baruch Spino-
za, in der Affekt als ontologischer Begriff in Stellung gebracht wird: Hier wird
sogar das Individuum selbst als Produkt eines Geflechts von Affizierungsrelatio-
nen verstanden, in denen es affiziert wird und selbst affiziert, und zwar in einer
prinzipiellen Reziprozität (Spinoza 2010 [1677]; Saar 2013; Balibar 1997; Mühl-
hoff 2018c). Das Wort »Individuum« (»Einzelding«, bei Spinoza: lat. modus) ist
dabei keineswegs auf menschliche Individuen beschränkt. Stattdessen wird von
dynamischen Prozessen der Individuierung ausgegangen, in denen Einzeldin-
ge sowohl als aus kleineren Individuen zusammengesetzt erscheinen, als auch
ihrerseits höhere Individuen herausbilden können (zum Beispiel Gruppen, Ge-
sellschaften, Gemeinschaften etc.). Was ein Individuum ist, das entscheidet sich
dann nur anhand seiner spezifischen »Verhältnisse von Ruhe und Bewegung« –
14 Anja Breljak und Rainer Mühlhoff
damit sind reziproke Affizierungsrelationen gemeint, zum einen zwischen den
Teilindividuen des betreffenden Einzeldings, zum anderen zwischen dem Indi-
viduum und den anderen Dingen, mit denen es in Affizierungsrelationen steht.
Affizierung (lat. affectio) bezeichnet somit im spinozistischen Substanzenmonis-
mus ein ontologisches Prinzip, das eine ungewöhnliche Antwort auf die Frage
nach dem (sozialen) Werden liefert: Das Individuum konstituiert sich durch die
Akte seiner Wirksamkeit in Relation zu anderen Individuen. Es lässt sich deshalb
nicht als abgeschlossene, unveränderliche Einheit verstehen, sondern als perma-
nent in Veränderung begriffenes Produkt eines ontologisch primären Gefüges
von Affizierungsrelationen (Andermann 2015; Mühlhoff 2018c; Saar 2013). Damit
korrespondiert das spinozistische Konzept von Affektivität mit dem Begriff des
Netzes in einer Weise, die die Relationen und ihre Wirkungsdynamiken nicht nur
in den Fokus nimmt, sondern auch als grundlegendes Register allen Seins be-
hauptet – als theoretische Perspektivierung unserer Welt durch die Linse einer
Immanenzphilosophie des Immer-schon-verwickelt-Seins in »affektiven Netzen«
(vgl. Wuth, in diesem Band).
Der zugegebenermaßen hohe Abstraktionsgrad dieses theoretischen Zu-
gangs, der in vielen Beiträgen dieses Sammelbandes nur aus dem Hintergrund
hervorlugt – sei es in Sympathie, sei es im produktiven Antagonismus –, bil-
det so etwas wie eine tieferliegende Schicht grundsätzlicher, philosophischer
Überlegungen. Der Blick auf konkretes Material, Fallstudien und Beispiele ist
damit keineswegs verbaut, vielmehr provoziert die affekttheoretische Herange-
hensweise geradezu, auf die konkreten Begegnungs- und Affizierungsweisen zu
schauen, die sich in verschiedenen medialen Settings und ihren »affektiven Ar-
rangements« zeigen (Slaby,Mühlhoff undWüschner 2019). In unserer vernetzten
und medientechnologisch durchdrungenen Gegenwart, in der der soziale Raum
durchzogen ist von Emails, Sprachnachrichten, Emojis, Likes und Videos, in
der Kommunikation mit anderen über kleine und große Distanzen permanent
und in Echtzeit möglich ist, in der gesellschaftliche Atmosphären und politische
Sachlagen unmittelbar von der Stimmung und den Reaktionen in den sozialen
Medien hervorgebracht werden können, ist die Perspektive auf unser jeweiliges
Verwickeltsein und die darin wirksamen Affektdynamiken hochgradig angezeigt.
Die Bedeutung der Kategorien »Netz« und »Affekt« für eine Sozialdiagnose
unserer Zeit wurde auch abseits der Affect Studies betont. So spricht etwa Tizia-
na Terranova im Kontext des Postoperaismus und der Kritik heutiger Produkti-
onsweisen von »network culture« als der grundlegenden Sozialstruktur des In-
formationszeitalters (Terranova 2004). Eva Horn und Lucas Marco Gisi (2009)
bringen ein zentrales Organisationsprinzip der Netzwerkkultur – den Schwarm –
mit der Kategorie des Affekts in Verbindung; Schwarmdynamiken sind für sie ei-
ne Form mediatisierter kollektiver Affizierungsprozesse, die für die spezifischen
Wertschöpfungsformen in digitalen Räumen kennzeichnend sind. Dass dabei das
Phänomen der »Ansteckung« als wichtigste Affizierungsform das »Zeitalter der
Netzwerke« bestimmt, hat Tony Sampson (2012) mit einem Rückgriff auf die
Was ist Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft? 15
massenpsychologischenArbeiten vonGabriel Tarde herausgearbeitet. Längst sind
auch umfassendere Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Netzkultur
und Gefühlen, beziehungsweise Emotionen, in die Diskussionen eingegangen
(Karatzogianni und Kuntsmann 2012; Garde-Hansen und Gorton 2013; Bensk i
und Fisher 2014). Im Kontext der Affect Studies ist besonders der Band Networked
Affect von Ken Hillis, Susanne Paasonen und Michael Petit (2015) zu erwähnen,
der gezielt die Perspektive der Internet Studies vom Affektbegriff aus weiterdenkt,
um das »online setting« auf neue theoretische wie politische Implikationen hin
zu untersuchen (vgl. ebd.: 3).
Auch die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes zeigen, dass die theore-
tischen Werkzeuge der Affekttheorien wertvolle Ansätze zur Analyse und Kritik
von Netzkultur bieten. Dabei wird dieser Band in seiner Gesamtheit allerdings
nicht auf die – nur vermeintlich so klare – Trennung von online settings und offline
settings setzen (siehe auch Wüschner, in diesem Band); vielmehr wird hier gera-
de die Untrennbarkeit von digitalen Medien und Lebensformen thematisiert. Ist
der Affektbegriff eine Einladung dazu, über die wechselseitige Ko-Konstitution
von Körpern, Subjektivitäten, Dingen und Umgebungen in Affizierungsrelatio-
nen nachzudenken, so ist es von höchster Dringlichkeit, dabei auch die prägen-
de Rolle technischer Artefakte und medialer Vollzüge in den affektiven Arrange-
ments unsererGegenwart imBlick zu behalten. Es geht uns also umdie Frage, wie
sich dieHervorbringung des sozialen Seins in der DigitalenGesellschaft ausbuch-
stabieren lässt, wie das Werden unter Bedingungen der medientechnologischen
Vernetzung beschrieben und theoretisiert werden kann.
Affekttheorie und Medienwissenschaft
Die Bezugnahme auf den turn to affect, die hier den Ausgangspunkt bildet, bedeu-
tet auch einen besonderen Schulterschluss mit der Medienwissenschaft. Der en-
ge Anwendungsbezug auf digitale Medien und die affekttheoretische Frage nach
der Ko-Konstitution von Medientechnologien, Subjektivitäten und Lebensformen
führt nämlich zu einer Aktualisierung und Bekräftigung der mit Marshall McLu-
han schon Mitte des 20. Jahrhunderts zur medienwissenschaftlichen Theorie-
grundlage gewordenen These, dass das Medium selbst die »message« sei (McLu-
han 1964). McLuhans Einsicht, wonach Medien nicht nur externe Inhalte über-
tragen, sondern selbst etwas konstituieren, hat die Medienphilosophin Sybille
Krämer ein halbes Jahrhundert später mit den folgenden Worten radikalisiert:
»Medien übertragen nicht einfach Botschaften, sondern entfalten eine Wirkkraft,
welche die Modalitäten unseres Denkens, Wahrnehmens, Erfahrens, Erinnerns
und Kommunizierens prägt« (Krämer 1998: 14). Dass sich mit dem Smartphone,
mit sozialen Netzwerken wie Twitter oder Facebook, mit Phänomenen wie Shits-
torms, Clickbaits oder Fake News die Wirkkräfte vonMedien auf Lebensrealitäten
in nahezu jedemWinkel des sozialen Raumes zeigen, nimmt gerade die Medien-
wissenschaft in die Pflicht, sozialtheoretisch zu denken und neben der Analyse
16 Anja Breljak und Rainer Mühlhoff
einzelner Medienformate und -inhalte auch eine Perspektive auf deren soziopoli-
tische Eingebundenheit und gesellschaftliche Rolle zu entwickeln. Affekttheorie
bietet dafür eine mögliche Brücke, die auch Zugänge zu medientechnischen Ent-
wicklungen wie künstlicher Intelligenz, vernetzten Sensortechnologien und algo-
rithmischer Gefühlserkennung erlaubt. Die Beiträge in diesem Band liefern An-
sätze dafür, diese Verbindung theoretisch und methodisch zu erschließen. Damit
situiert sich der vorliegende Band in einem neuen Forschungsfeld, dessen Kontu-
ren im deutschsprachigen Raum aktuell unter anderem durch die Aktivitäten des
Sonderforschungsbereichs Affective Societies an der Freien Universität Berlin, des
Forschungskollegs SENSING: Zum Wissen sensibler Medien in Potsdam, der Ar-
beitsgruppe Affective Media Technologies der Gesellschaft für Medienwissenschaft
und des DFG-Netzwerks Affective Media Studies erkennbar geworden sind.
Wir behaupten also, dass dermedientechnologischeUmbruch, in demwir uns
heute befinden, auch einen gesellschaftlichenUmbruch darstellt. Darin sind neue
Perspektiven auf die Frage, wie das sozialeWerden, wie die Grenzen des Individu-
ums und die Möglichkeiten und Begrenzungen von Subjekten, wie soziale Bewe-
gungen, Öffentlichkeiten und Kollektivitäten zustande kommen, dringend gebo-
ten (vgl. auch Kohpeiß sowie Beuerbach, in diesem Band). Die Entwicklung des
(Personal) Computers, seine Verbreitung und Veralltäglichung, die Mark Weiser
bereits 1991 unter dem Begriff des »ubiquitous computing« fasste (Weiser 1991),
hat inzwischen zur digitalen Vernetzung jedes noch so banalen Geräts geführt
und damit den Computer als Gerät fast schon zum Verschwinden gebracht (vgl.
Weigelt, in diesem Band). Dieser Prozess der »Durchdringung« der Welt durch
das Medium Computer hat nicht etwa andere Medien verdrängt, sondern sie in
sich integriert und re-aktualisiert. Nach dem industriellen Großrechner und dem
Personal Computer bildet das »ubiquitous computing« daher eine dritte Phase der
Computerisierung, die durch ein intimes, körperliches, umweltliches Verhältnis
zum Rechner gekennzeichnet ist (vgl. Distelmeyer 2017; Kaerlein 2016). Unsere
These ist, dass diese aktuelle Phase wesentlich in der Verbreitung einer affektiven
Medialität des Computers besteht, das heißt, in der digitalen Erschließung und
Durchdringung affektiver Verhältnisse.
Grundlage dafür ist die partizipative Wende der Netzkultur, die mit dem Pa-
radigma »Web 2.0« (DiNucci 1999, O’Reilly 30.09.2005) die technischen Vor-
aussetzungen von social media geschaffen hat. Im Gegensatz zum Prinzip der
Massenmedien, die, wie Megaphone vorgestellt, eine Trennung der Produktion
und Rezeption von Inhalten vornehmen, wobei wenige Produzierende eine große
Zahl an Rezipierenden erreichen (Thompson 1995), setzen die sozialen Medien
auf sogenannten »user generated content«, auf Interaktion und Kollaboration, auf
das Teilen von Inhalten, Geräten, Dienst- oder gar Rechenleistung. Das geht mit
vernetzten, nunmehr in beide Richtungen kommunizierenden, also sendenden
und empfangenden Endgeräten einher, die sich in nahezu alle Bereiche des Le-
bens eingenistet haben. Moderne Techniken der »Human Computer Interaction«
(HCI) und des »User Experience Designs« haben es darauf abgesehen, die Medi-
Was ist Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft? 17
enbruchschwelle zwischen Mensch und Maschine möglichst zu verwischen und
den Weg vom Impuls zur Umsetzung einer Handlung am Smartphone oder in
der App in die Bereiche des Intuitiven und Unbewussten zu verschieben.2 An
die Stelle des Subjekts, welches sich – so die klassische Vision – der technischen
Artefakte rein instrumentell bedient, tritt das affektive Verhältnis zum vernetz-
ten Gerät, das überdies den wirtschaftlichen »Vorteil« bietet, diese Interaktions-
abläufe datenmäßig zu erfassen und auszuforschen (vgl. Breljak sowie Schulz,
in diesem Band; Mühlhoff 2018b). In ihrer dezentralen Konnektivität bilden die
digitalen Endgeräte eine »mediale Ökologie«, die eben auch eine »affektive Ökolo-
gie« und eine »affektive Ökonomie« darstellt (Angerer 2017; Ahmed 2004). Denn
wer daran partizipiert, und man kann daran nicht nicht partizipieren, der wird als
affizierbarer und zugleich affizierender Agent angesprochen und erfasst; potenzi-
ell jede Regung des Gemüts und der Körper wird dadurch mediatisierbar und ei-
nermaschinischenRationalität der prädiktivenModellierung und kapitalistischen
Verwertung zugeführt (vgl. z. B. Govrin, in diesem Band).
Schon immer sprachenMedien die Affizierbarkeit der Menschen an, versuch-
ten sie zu mobilisieren und zu monetarisieren. Qualitativ neu im Web 2.0 je-
doch ist, dass das Medium sich nun auch umgekehrt als empfänglich für oder
gar interessiert an Affizierungen erweist, die von jeder einzelnen Nutzer_in aus-
gehen. Mit der partizipativen Wende vernetzter Medien sind Tracking-Verfahren
und prädiktive Analytiken ins Spiel gekommen, die auf technischen Infrastruk-
turen mit so hoher Informationsverarbeitungskapazität beruhen, dass jeder Nut-
zer_in ihre »Capricen«, ihre Affekte, ihr vermeintlich höchst individuelles An-
wendungsprofil gelassen und zugleich all das digital erfasst und verwertet wer-
den kann. Vor allem an den sozialen Netzwerken zeigt sich, dass digitale Me-
dien nicht einfach unabhängig von ihnen vorhandene Affekte ihrer User »über-
tragen« oder bloß »verstärken«, sondern sie konstituieren. Dies kann zum Bei-
spiel durch top-down verfahrende, gezielte Ansprache individueller »affektiver
Dispositionen« (Mühlhoff 2019a) etwa im politischenWahlkampf erfolgen, wie es
der Skandal um Cambridge Analytica gezeigt hat (vgl. Nosthoff und Maschewski,
in diesem Band; Dachwitz, Rudl und Rebiger 21.03.2018; Tufekci 2014). Oder es
überwiegt eine Bottom-up-Dynamik der Konstitution, ausgehend zum Beispiel
von den Resonanzen einer »ressentimentalen Affektivität« (vgl. Weißgerber, in
diesem Band) in den Echokammern sozialer Netzwerke und einschlägiger On-
lineforen, die sich dort imWechselspiel mit den Präsenzmomenten zum Beispiel
der »Pegida«-Proteste zu Wellen populistischer Empörung aufschwingen und in
diesem (cross-medialen) Prozess überhaupt erst ihre vernehmbare Form undMo-
bilisierungskraft gewinnen (Mühlhoff 2018a).
2 | Vgl. auch die Beiträge der medienwissenschaftlichen Interface-Theorie, insbesondere Dis-
telmeyer 2017; Ernst und Schröter 2017; Hadler und Haupt 2016; Kaerlein 2018.
18 Anja Breljak und Rainer Mühlhoff
4 Das Subjekt der Digitalen Gesellschaft
Wird das soziale und politische Wirken digitaler Technologien unter dem Ge-
sichtspunkt von Macht untersucht, dann muss unweigerlich auch die medien-
kulturelle Subjektivierung von Benutzer_innen durch diese Technologien befragt
werden. Damit wiederum kommen die sozialtheoretischen Kategorien der Sub-
jektivität und des Subjekts ins Spiel. Die netzwerkförmige Macht des Digitalen
begründet sich nämlich in einem pluralen Zusammenspiel vieler menschlicher
und nicht-menschlicher Entitäten, das imGanzen einen gewissen Grad der Orga-
nisation aufweist, also Muster und Strukturen ausbildet. So ist beispielsweise die
Verwendung von Messenger-Diensten wie WhatsApp oder Telegram in manchen
Milieus so verbreitet, dass sie wie selbstverständlich Teil der sozialen Infrastruktur
sind, die mit neuen Formen der Gruppenbildung und der sozialen Ausschlüsse
einhergeht. Auch amBeispiel der Gelbwesten-Bewegung wurde eingangs die Ent-
stehung eines neuen Organisationsprinzips sozialer Bewegungen und einer neu-
en Form der Führerschaft thematisiert, zu der es nur deshalb kommen konnte,
weil ein großer Teil der Bewegung Facebook benutzt und den Inhalten dort einen
bestimmten Wahrheitsgehalt zumisst.
Solche Formen der Organisation und Strukturierung, die sich im Zusammen-
spiel von Individuen, Gruppen und Medien herausbilden, lassen sich nicht allein
aus den technologischen Bedingungen der digitalen Räume erklären. Das Zu-
sammenspiel wird von technischen Apparaten orchestriert und gerahmt, ohne
jedoch durch diese determiniert zu sein. In dieser Situation ist der Begriff der
»Subjektivität« dasjenige Werkzeug, mit dem sich eine kollektive Praxis der so-
zialen Selbstbezüglichkeit im Kontext digitaler Kommunikation als wesentlicher
Faktor für das Funktionieren digitaler Medien theoretisch fassen lässt: Plattfor-
men wieWhatsApp oder Facebook hätten ihre machtvolle Stellung nicht ohne die
Milliarden von Nutzer_innen, die es als wichtigen Teil ihrer Kommunikations-
praktiken, Sozialformen und Selbsterfahrung empfinden, dort präsent zu sein.
Aber auch die Google-Suchmaschine – ein etwas weniger offensichtliches Bei-
spiel – würde nicht ohne das freiwillige (und oft unwissentliche) Mitwirken ihrer
Benutzer_innen funktionieren, die mit jeder Nutzung Trainingsdaten zur Reka-
librierung einer künstlichen Intelligenz liefern (vgl. Mühlhoff, in diesem Band;
Mühlhoff 2019b). Es ist der Funktionsweise zahlreicher digitaltechnologischer
Produkte und Dienste inhärent, sich als feste Größe in die Subjektivität ihrer Nut-
zer_innen einzuschreiben – denn diese Produkte werden durch die Benutzung
überhaupt erst zu dem, was sie sind.
Das Agieren von Individuen und Kollektiven unter den Bedingungen digita-
ler Vernetzung muss also als selbstbestimmt, freiwillig und lustvoll aufgefasst
werden, allein schon umdemmehrheitlichen Selbstempfinden der Nutzer_innen
gerecht zu werden. Und dennoch steht es prinzipiell im Dienst der technischen
Apparate, ihrer Macht und ihrer Ausbeutungsmechanismen. Was für eine Form
von »Freiheit« hier im Spiel ist, die sogar noch so klassische Unterteilungen wie
Was ist Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft? 19
die zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Empowerment und Entfremdung un-
terwandert, bleibt zu diskutieren. Die Partizipation in Online-Räumen ist jeden-
falls immer beides zugleich: freie Entfaltung für User oder Communities, und
unentgeltliche Arbeitsleistung zugunsten der Plattformen. Deshalb kommen hier
auch diejenigen Subjektivierungsmodelle, die im Anschluss an Louis Althusser
die Hervorbringung des Subjekts durch Unterwerfung unter das Gesetz eines so-
zialen Zusammenhangs erläutern, an ihre Grenzen. Die Terminologien der Un-
terwerfung, Einschließungsmilieus, Disziplinierung und Hierarchien scheinen
die spezifische Relationalität digitaler Räume nicht mehr treffend zu beschrei-
ben.3 Trotzdem ist ein – wenn auch aktualisierter – Begriff der Subjektivität die
theoretische Figur, mit der das Empfinden von Nutzer_innen, selbstbestimmt
und lustvoll zu agieren, ernst genommen und zugleich ein Raum für Kritik er-
öffnet werden kann. Denn der Begriff der Subjektivität weist dieses Empfinden
als medienkulturell situiert und produziert aus – und somit als wandelbar und
emanzipatorisch gestaltbar. Unter »Subjektivität« verstehen wir in Anschluss an
das Spätwerk Michel Foucaults (2007a [1984]) sowie an die Arbeiten von Gilles
Deleuze (1987 [1986]) und Félix Guattari (2014 [1992]) die spezifischen Erfahrungs-
weisen und Formen der Selbstbezüglichkeit, die in einem medienkulturell gerahmten
sozialenGefüge insWerk gesetzt werden und zugleich wesentlich zumFunktionieren des
Gefüges beitragen. Subjektivität ist als Produkt und Vollzugsform technologischer
Zusammenhänge zu verstehen, und das heißt auch: Was man als die eigenen Ge-
fühle, Gedanken, sozialen Bedürfnisse und Impulse wahrnimmt, wird in dieser
theoretischen Perspektive darauf hin befragt, inwiefern es als Teil eines größeren,
durch digitale Technologien vermittelten Gefüges hervorgebracht wird und durch
Reflexion, Diskussion und selbstbestimmte Eingriffe modifiziert werden könnte.
Subjektivität ist insofern stets Produkt von Subjektivierung, die jedoch nicht alsUn-
terwerfung, sondern als Prozess der Konstitution – als Subjektwerdung in einem
Netz von Relationen – zu verstehen ist.
3 | Einige Beiträge in der post-marxistischen Theorietradition fassen die ökonomische Verwer-
tung von User-Aktivitäten im Netz unter Begriffe wie »audience labor« und »free labor« (Fuchs und
Fisher 2015; Scholz 2013; Terranova 2000). In diesem Zusammenhang wurden Plattformen wie
Facebook als »digitale Fließbänder« und »Fabriken« beschrieben, in denen Milliarden freiwilliger
Arbeiter_innen (die User) den ökonomischen Wert des Unternehmens generieren (Fisher 2015:
117; Scholz 2013). Einen Begriff von Arbeit für die spezifischen Formen der Einbindung von
Usern in digitalen Verwertungsökonomien in Stellung zu bringen, ermöglicht es, das Phänomen
einer (post-)marxistischen Strategie der Ökonomiekritik zuzuführen. In puncto einer Subjektivi-
tätsanalyse scheint uns dieser Ansatz allerdings zu kurz zu greifen (vgl. auch Slaby, in diesem
Band). Denn Begriffe wie »Fließband« und »Fabrik« entstammen dem Bedeutungsfeld der »Ein-
schließungsmilieus« (vgl. Deleuze 1993 [1990]), das auf Netzsubjektivierung nicht mehr richtig
zu passen scheint.
20 Anja Breljak und Rainer Mühlhoff
Affekt und Subjektivität
Auch imKontext derAffect Studies bildet der Begriff der Subjektivität einenGegen-
stand lebhafter Debatten und Auseinandersetzungen (vgl. zur Übersicht Black-
man u. a. 2008). In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass der Affektbegriff für
die im Poststrukturalismus stark gemachten Begriffe »Subjektivität« und »Sub-
jekt« einen paradoxalen Denkraum eröffnet, in dem besonders die Lokalisierung
affektiver Erfahrungsgehalte in der individualistisch gedachten Instanz eines (dis-
kursiv produzierten) »Subjekts« in Frage gestellt wurde. So ist nämlich in der
spinozistischen Tradition die Idee angelegt, dass Subjektwerdung selbst von Af-
fizierungsrelationen abhängt und als Produkt eines relationalen, affektiven Ge-
schehens zu verstehen ist – die ontologische Abhängigkeit der Kategorien Sub-
jekt und Affekt wird damit umgedreht. Affekt wird von einigen Proponent_innen
dieser Tradition gelegentlich sogar als ›autonomer Überschuss‹ und ›Unfassba-
res‹ theoretisiert, als ein Geschehen, das über die Gehalte individueller Bewusst-
seinszustände hinausweist, und das in den Semantiken reflexiver Kommunika-
tion immer nur unzureichend eingehegt und nie voll und ganz erfasst werden
kann (Massumi 1995). In dieser Fluchtrichtung deutet sich ein posthumanisti-
scher Zugriff auf das Thema Subjekt an, der »eine Dezentrierung der Frage des
Subjekts auf diejenige der Subjektivität« einfordert, wie es Félix Guattari schon in
den 1990ern zum Programm erhoben hat:
»Traditionell ist das Subjekt als allerletzte Wesenheit der Individuierung verstanden worden,
als reine präreflexive, leere Apprehension der Welt, Herd der Sensibilität, des Ausdrucks-
vermögens, als Einiger der Bewusstseinszustände. Mit der Subjektivität wird vielmehr die
gründende Instanz der Intentionalität betont. Es geht darum, die Beziehung zwischen dem
Subjekt und dem Objekt von der Mitte aus zu erfassen und die ausdrückende Instanz […]
in den Vordergrund rücken zu lassen.« (Guattari 2014 [1992]: 34)
Diese »ausdrückende Instanz« bezeichnet nicht notwendigerweise als Einzelne
verfasste Individuen. Mit dem Begriff der Subjektivität rückt ein transindividua-
listisches Konzept eines »Unbewusste[n] des Flusses [Flux] und der abstrakten
Maschinen« in den Blick (ebd.: 22), das Guattari (mit einem heute nicht mehr
unbedingt begreifbarenOptimismus) von derMaschine der »geisttötende[n]Mas-
senmediatisierung« abgrenzt und das tatsächlich erstaunlich passgenau auf die
spezifische Relationalität digitaler Vernetzung und ihrer Verwertungslogiken zu-
geschnitten zu sein scheint. Die Kategorie des Subjekts wird mit dieser theoreti-
schen Verschiebung hin zu Subjektivität nicht verworfen, sondern tritt als abgelei-
tete und prinzipiell nichthumanistisch verfasste Instanziierung von Subjektivität
zutage:
Was ist Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft? 21
»Wir wissen, dass sich die Subjektivität in bestimmten sozialen und semiologischen Kon-
texten individuiert; eine als für sich selbst verantwortlich angesehene Person positioniert
sich innerhalb der von den Familiensitten, den lokalen Bräuchen, den juristischen Gesetzen
usw. beherrschten Alteritätsverhältnisse. Unter anderen Bedingungen wird die Subjektivität
kollektiv, was nicht bedeutet, dass sie deswegen ausschließlich sozial wird.« (Ebd.: 17)
Folgt man diesem theoretischen Zugriff, erweist sich ein Subjekt der vernetz-
ten Medien als prozessualer Knotenpunkt mannigfaltiger Relationen, die immer
schon mehr als dieses Subjekt sind, über es hinausgehen und ihm gegenüber als
ontologisch primär gedacht werdenmüssen. Für einige Vertreter_innen derAffect
Studies folgt hieraus das Programm eines »exploring subjective behavior beyond
the human subject« (Hansen 2014: 65) – ein Ansatz, dessen Potenziale sich auch
einige Beiträge des vorliegenden Sammelbands zunutze machen. Die hierin an-
gelegte posthumanistische Tendenz führte in jüngster Zeit sogar zu einer kleinen
Umwälzung innerhalb derAffect Studies: DemMedientheoretikerMarkB.Hansen
zufolge hat der affective turn nicht nur den Körper und das Somatische wieder in
den Vordergrund philosophischer und kulturwissenschaftlicher Auseinanderset-
zungen gerückt, sondern birgt das noch viel radikalere Versprechen, mittels des
Affektbegriffs die Materie selbst (ebd.), beziehungsweise »affect-itself« (Clough,
Goldberg u. a. 2018 [2007]: 1), in den Fokus zu nehmen. Von technischen Ope-
rationen und maschinischen Gefügen ist dann die Rede, in denen es »feelings
without feelers« (Hansen 2014: 65) zu denken gelte und Affekt als ökologische
Kraft ins Spiel komme (Angerer 2017; Hansen 2014; Hansen 2015; Parisi 2014).
Ein Beispiel für diese theoretische Entwicklung der Affect Studies liefert eine
Studie des Soziologen Robert Seyfert, der anhand ethnographischer Beobachtun-
gen die Mensch-Maschine-Interaktion in den Kontrollräumen des High Frequen-
cy Trading untersuchte (2018). Er beschreibt, wie menschliche Operateure in die-
sen Settings nicht kognitiv-informationsverarbeitend, sondern über Sounds, Far-
ben und blitzschnelle Signale auf großen Wänden voller Computerbildschirme
mit den automatisierten Trading-Prozessen verbunden sind, in denen sie schnell
und intuitiv, wie in Trance oder wie in einem mitreißenden Computerspiel agie-
ren und reagieren. Seyfert führt ein interessantes Detail an: Bei der Schichtablö-
sung kommen die Mitarbeiter_innen der neuen Schicht eine halbe Stunde frü-
her in den »control room«, um sich auf die aktuelle Situation des Handelspro-
zesses »einschwingen« zu können. Es gehe um ein »getting the feel« für ein
Mensch-Maschine-Interaktionssystem, »das jedes klassische Verständnis davon
übersteigt, wie Menschen und Maschinen miteinander interagieren, z.B. durch
Kognition oder symbolische Kommunikation« (ebd.: 202, eigene Übersetzung).
Wer den Kontrollraum betrete und »the process« übernehmen wolle, der müsse
die Form der Subjektivität wechseln, beziehungsweise seine mitgebrachte, individu-
elle Subjektivität erst »auflösen«:
22 Anja Breljak und Rainer Mühlhoff
»Getting a feel is […] a liminal process that marks the transition from the form of subjectivity
with which the person enters the room to the immersion (and dissolution) of the subject
within the socio-technical ensemble. Getting a feel is the transgression of the subject that
is necessary to immerse oneself within this ensemble.« (Ebd.: 202)
Seyfert betont hier das transgressive Moment »intensiver Affekte«, welches die
»Integrität des Subjekts bedrohen« könne undmitunter »stärker [sei] als die emo-
tionale Konfiguration des individuellen Subjekts« (ebd.: 203). Im Register der Af-
fektivität könne die »Attraktion« zwischen Mensch und Maschine so stark sein,
dass ihre Kräfte den vermeintlich semantisch geordneten Raum eines individu-
ellen subjektiven Inneren durchkreuzen, nach außen stülpen oder auflösen, und
letztlich also »de-subjektivierend« wirken.
Diese Beschreibung einer De-Subjektivierung scheint auch auf den Kon-
text von Instant Messaging, Self-Tracking, sozialen Medien, allgegenwärtiger
Smartphone-Benutzung oder immersiven Gaming-Erlebnissen übertragbar zu
sein. Aus unserer Sicht wirft sie allerdings vielmehr die Frage auf – anstatt ei-
ne abschließende Antwort zu liefern –, wie es sich in den soziotechnischen
Assemblagen des Alltags mit der Subjektivität verhält. Denn Subjektivität ist
darin keineswegs einfach »aufgelöst«. Einerseits beschreibt Seyfert hier ja einen
Wechsel in eine andere – aufgelöste oder dispersive – Form der Subjektivität,
andererseits währt der Zustand der »Immersion« innerhalb dieser intensiven
Dynamik zwischen Mensch und Maschine auch in diesem Beispiel nicht ewig.
Es ist vielmehr die klassische Form des Subjekt, verstanden als personale Instanz
einer Selbstreflexivität des Denkens, Fühlens und Handelns, die sich durch den
situativen Wechsel der Subjektivität auflöst. Die Person ist in der technologisch
initiierten Verschmelzung mit dem maschinischen Gefüge nicht mehr Agens,
denn die dispersive Form der Subjektivität durchkreuzt den »klassischen« Er-
fahrungsraum von auf den eigenen Körper und auf das eigene Selbst bezogener
Handlungsautorität. Das, für sich genommen, macht den sozialtheoretischen
Begriff des Subjekts allerdings nicht obsolet, es ruft vielmehr nach einer geeig-
neten Neuformulierung. Denn die Dauer des Subjekts übersteigt den einzelnen
intensiven Kontext und liegt vielleicht gerade darin, einen chaotischen, potenziell
spannungsgeladenen Knotenpunkt verschiedener, auch disparater Subjektivi-
täten und ihrer Auflösungserfahrungen zu bilden. Immersive Verschmelzung
ist nicht per se an eine reflexive Instanz gebunden. Aber sie kann an eine solche
rückgebunden werden und über die immersive Situation hinaus transformierend
wirken, indem sie eine Erfahrung davon liefert, was der eigene Körper alles kann
– und das mag überraschend sein, denn es hängt vom jeweiligen medialen und
relationalen Kontext ab. Internetsucht, Trading-Trance, zombihaft-zerstreutes
Scrollen auf dem Smartphone, das Vergessen von elementaren Bedürfnissen
beim Computerspielen oder Binge Watching, ja sogar das »zwanghafte Program-
mieren«, das Joseph Weizenbaum schon in den 1970er Jahren beschrieben hat
(vgl. Weizenbaum 2008 [1976]: 155 ff.) – all dies sind momentane Zustände der
Was ist Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft? 23
»Vereinnahmung oder Verschmelzung« in Immersion (Mühlhoff und Schütz
2019), die aber durch Praktiken und Techniken der Reflexion, des Dialogs, der
Auseinandersetzung und der Narrativierung als ein mikrosozial geteiltes, refle-
xives Verhältnis des Selbst zu diesem Umstand der Verschmelzung angeeignet
werden können.
Subjekt und Kritik
Die »Dezentrierung der Frage des Subjekts« oder gar dessen posthumanistische
Überwindung hat wahlweise die Konzepte maschinischer, dispersiver, transindi-
vidueller oder gar aufgelöster Subjektivitäten hervorgebracht. Diese wurden seit
den 1990er Jahren oftmals mit dem (berechtigten) Optimismus in die Diskussi-
on getragen, humanistische, eurozentrische, psychoanalytische und strukturalis-
tische Standardmodelle »des Subjekts« und seiner inneren Triebstruktur zu über-
winden. Unser Punkt ist nun allerdings, dass diese Beschreibungen heute ihren
kritischen Stachel eingebüßt haben und stattdessen in auffälligem Einklang mit
der spezifischen Produktion von Subjektivität und ihrer Verwertung in den medialen
Gefügen der digitalen Vernetzung stehen. Das wirft aus unserer Sicht die Frage auf,
welcher theoretische Zugriff auf das Subjekt-Problem einen neuen kritischen Im-
puls im Hinblick auf die Vereinnahmungstendenzen des digitalen Kapitalismus
entfachen kann.
Um einen für die Verwertungslogiken der Digitalen Gesellschaft wirkungs-
vollen Modus der Kritik zu artikulieren, bringen wir deshalb neben der Katego-
rie der Subjektivität gezielt wieder die des Subjekts ins Spiel. Wir verstehen das
Subjekt allerdings nicht als metaphysische Instanz einer primären Innerlichkeit,
Triebstruktur, Agentialität oder Rationalität, sondern als abgeleitetes, ja sogarme-
thodisch erwirktes Ereignis der Instanziierung einer sich selbst als denkend, füh-
lend und handelnd empfindenden Einheit in der Immanenz maschinischer Ge-
füge und ihrer spezifischen Subjektivitäten. Das Verhältnis von Subjektivität und
Subjekt ist die Theoriestelle, die einen Angriffspunkt für Kritik an und in den
technologischen Formationen des 21. Jahrhunderts markieren kann: Sich selbst
als Subjekt einer bestimmten technologischen Subjektivität zu begreifen – zum
Beispiel einer Social-Media-Plattform, einer Gamingkultur oder eines hochauto-
matisierten Börsenparketts –, bedeutet die kritische und ethische Haltung einzu-
nehmen, sich als performative Agent_in und Kompliz_in dieser Subjektivität zu
verstehen, ihre Wirkungen und Effekte aber gerade dadurch an sich selbst und
anderen studieren zu können, um daraus die Möglichkeit subversiver Interven-
tionen abzuleiten (Foucault 2010 [1978]; Foucault 2007b [1984]).
Die womöglich größte Bedrohung für eine digitale Ökonomie, die auf das im-
pulsive Liken, Teilen und Kommentieren, auf das intuitive Manövrieren, Klicken
und Einwilligen, auf den freiwillig zur Verfügung gestellten Datenreichtum, das
Misstrauen in redaktionelle Medien und die Aktivierung sozialer Antriebe wie
Selbstbestätigung und Zugehörigkeitsgefühl setzt, sind Individuen und Kollekti-
24 Anja Breljak und Rainer Mühlhoff
ve, die als Subjekte die technologischen Strukturen ihrer Subjektwerdung hinter-
fragen. Neben der philosophisch-spekulativen Herangehensweise an die (sei es
ontologische oder gar kosmologische) Konstitution von Welt sind für dieses Pro-
jekt der Befragung vor allemMikroanalysen der gelebten und erfahrenenmedien-
technologischen Gegenwart erforderlich – denn die Gefüge der technologischen
Subjektivität sind plural und kontextabhängig, sie lassen sich nicht von einer über-
geordneten Warte beschreiben und kritisieren. Situierte Analysen milieuspezifi-
scher Genealogien desMediengebrauchs und der eigenen digitalen Verwobenheit
erlauben es dagegen, die Frage nach der jeweiligen medienhistorischen Gewor-
denheit unserer selbst in eine kritisch-experimentelle Haltung zu integrieren.
Wenn wir also im Rahmen einer kritischen Sozialtheorie der Digitalen Gesell-
schaft ganz emphatisch an den Begriffen der Subjektivität und – in abgeleiteter
Form – des Subjekts festhalten, dann in einem zukunftsgewandten und program-
matischen Sinn. Die Perspektive des Subjekts bekommt tatsächlich eine neue
Dringlichkeit, wenn ihr Zweck nicht als deskriptiver, sondern als appellativer er-
kannt wird: Nach einer zur kollektiven und politischen Willenssache verkehrten
»Antinomie der Freiheit« wird das Subjekt zur Ziel- und Hoffnungsfigur einer
kritischen Methodologie, der es um die Adressierung und Mobilisierung potenzi-
ell betroffener Agent_innen netzbasierter Subjektivitäten geht – das können so-
wohl Individuen als auchKollektive sein. Fürwen produziertman kritische Sozial-
theorie, wenn nicht für rezipierende Instanzen, denenman Erkenntnisvermögen,
Verantwortlichkeit und Gestaltungskraft über die gemeinsamen Verhältnisse zu-
traut – ja, notwendigerweise zutrauen muss? Wer ein Buch publiziert, der hofft
auf das Vorhandensein einer reflexiven Praxis von Individuen, Kollektiven und
Gesellschaften über sich selbst, deren Selbstgestaltungswillen durch diese alte
Form der Schriftlichkeit erreichbar ist. Natürlich ist diese Gestaltungskraft nicht
»verloren gegangen« in den vielfältigen Subjektivitäten einer digitalisierten Welt,
sondern sie war und ist stets ein performatives Produkt auch eines kritischen
Diskurses, der eine solche Instanz adressiert und damit zuallererst hervorbringt.
In diesem Sinne schreiben wir tatsächlich für Menschen und nicht für Maschi-
nen oder Computer, auch wenn unsere Texte, noch ehe sie eine menschliche Öf-
fentlichkeit zur Kenntnis nehmen wird, bereits den Indizierungsmaschinen und
künstlichen Intelligenzen von Google Books & Co. zugeführt worden sein wer-
den – und wer weiß, vielleicht nur durch deren Vermittlungsarbeit die Menschen
erreicht. Das Subjekt, als im kritischenDiskurs eingesetzte Instanz einer Subjekti-
vität, als humanoide, transhumanoide oder kollektive Materialisierung kritischer
Selbstbezüglichkeit, ist der Zielpunkt einer performativen Relation von Theorie
zu ihren Adressat_innen. Wir möchten diese Subjekte dazu anhalten zuzuhören,
zu diskutieren, und etwas zu verändern.
Was ist Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft? 25
5 Zur Struktur des Bandes
Der vorliegende Band untergliedert sich in drei Hauptteile. Unter dem Titel »In-
frastrukturen der Kontrolle« versammelnwir im ersten Teil Texte, die sichmit den
materiellen Bedingungen der digitalen Vernetzung beschäftigen und ihre Macht-
effekte befragen. Alle vier Beiträge zeichnen sich durch einen – wenn auch jeweils
ganz verschieden gearteten – Blick auf die Geschichte und Beschaffenheit digita-
ler Mediendispositive aus.
Als wir im Sommer 2016 begannen, über diesen Sammelband nachzudenken,
wurden global nationalpopulistische Bewegungen stark. Großbritannien hatte für
den Brexit gestimmt, in den USA stand Donald Trump kurz vor der Wahl, in
Deutschland erlebte »Pegida« einen unerwarteten Aufwind. Wie in kaum einem
Jahr zuvor wurde deutlich: Wir leben in Zeiten, in denenWut und Hass Konjunk-
tur haben, und Kontrollverlust zur mutmaßlich größten Bedrohung avanciert.
Zentral in dieser Entwicklung sind digitale Medien und soziale Netzwerke. Aber
warum eigentlich? Und welche Rolle spielt dafür speziell die Datensammelwut,
die hinter den digitalen Medien und sozialen Netzwerken steht? Diesen Fragen
widmet sich Anja Breljak in ihrem Text Die Zeit der Datenmaschinen. Breljak fragt
danach, welche sozialen und gesellschaftlichen Effekte mit der universellen Da-
tafizierung einhergehen und welche Geschichte sich davon erzählen lässt.
Kurz nach der Wahl von Donald Trump zum 45. US-Präsidenten wurde be-
kannt, dass das Datenanalyse-Unternehmen Cambridge Analytica mithilfe einer
Facebook-App große Mengen psychometrischer Daten über Wähler_innen in den
USA dazu benutzte, maßgeschneiderte Wahlwerbung für die Trump-Kampagne
zu verbreiten. Der Skandal machte erstmals einer breiten Öffentlichkeit bekannt,
dass sich durch subtile Eingriffe in die Kommunikationsprozesse des sozialen
Netzwerks auch das Denken, Fühlen und Handeln der Nutzer_innen manipu-
lieren und modulieren lässt. Facebook erwies sich damit als ein technologischer
Apparat, der die modernste Form des kybernetischen Regierens implementiert
– so die zentrale Einsicht von Felix Maschewski und Anna Verena Nosthoff in
ihrem Artikel über Facebook als »kybernetische Regierungsmaschine«. Ein Blick
auf neuere Trendswie nudgingund social physics lässt die psychopolitischen und af-
fektivenMechanismen erkennen, mit denen Facebook das forciert, wasMaschew-
ski und Nosthoff als Netzwerkaffekte bezeichnen.
Netzwerkinfrastrukturen, die zumZweck derDatensammlung entworfenwer-
den, sind auch das Thema des Artikels Big Data is Watching You: Digitale Entmün-
digung am Beispiel von Facebook und Google von Rainer Mühlhoff. Er setzt sich
mit dem Prinzip der »informierten Einwilligung« auseinander, mit dem große
Plattformen zumeist legal und in großemUmfang Nutzungsdaten sammeln. Da-
mit werden Klicks und Bewegungen im Internet detailliert protokolliert, um ver-
haltenspsychologische und ökonomometrische Analysen über die Nutzer_innen
zu erstellen. Der Text studiert für verschiedene Formen der mehr oder weniger
freiwilligen Datenerhebung die Techniken der Gestaltung von Nutzer-Interfaces.
26 Anja Breljak und Rainer Mühlhoff
Die Tatsache, dass diese Techniken oftmals auf der aktiven Mitarbeit der User
beruhen, führt zur der These einer spezifischen Subjektivierung durch digitale
Interfaces, die Mühlhoff als »digitale Entmündigung« beschreibt.
Shirin Weigelt richtet in ihrem Text zum Tasten: Taktilität als Paradigma des
Digitalen unsere Aufmerksamkeit auf den Moment des Kontakts zwischen Nut-
zer_in und digitaler Oberfläche. Mit dem Fokus auf die Berührung lassen sich
nämlich jene paradigmatischen Handlungen der digitalen Kultur aufarbeiten, die
im Narrativ nichtmaterieller Informationsverarbeitung und virtueller Welten des
Digitalen schnell aus dem Blick geraten. Von den kleinen Gesten des Tippens,
Klickens undWischens ausgehend, die wir tagtäglich hundertfach ausführen und
die im Zentrum unserer körperlichen Relation zu digitalen Geräten stehen, zeigt
Weigelt, dass es in der heutigen Medienkultur auf die Kopplungsmomente zwi-
schen Hardware, Software und wetware ankommt.
Der zweite Teil des Bandes versammelt unter dem Titel »Affekt, Netz und Subjek-
tivität« Studien zu den sozialen Beziehungsweisen unter Bedingungen der digita-
len Kommunikation. Die Texte in diesem Abschnitt fragen nach der Sozialität in
vernetzten Formationen, in denen wir heute arbeiten, uns kennenlernen, lieben,
betrauern, stalken oder hassen. Hier werden die jeweiligen medialen Politiken
der Formierung und Deformierung von Subjektivitäten untersucht.
Soziale Medien haben längst auch die Büros, Schreibtische und Arbeitsbezie-
hungen neu angeordnet. Während Arbeit immer stärker in die intimen Sphären
des Zuhauses, der Freizeit und der Freundschaften vorrückt, werden die arbei-
tenden Subjekte immer verfügbarer und zugleich umso prekärer. Eine besondere
Rolle spielen dabei neue Kommunikationsmedien: die E-Mail, die noch schnell
aus dem Bett heraus beantwortet werden muss; die Instant-Messaging-App, die
verrät, ob eine Nachricht bereits gelesen wurde oder gerade getippt wird; Platt-
formen, die auf die Privatvermarktung der eigenen Wohnung drängen. Jorinde
Schulz widmet sich in ihrem Text zu Klicklust und Verfügbarkeitszwang der Ent-
stehung einer »neuen digitalen Hörigkeit« in den »techno-affektiven Gefügen«
diverser sozialer Medien.
Jemanden »auf Facebook stalken« gehört längst zum leichtfertig-selbstiro-
nischen Sprachgebrauch der Millennial-Generation. Dabei versteckt sich hinter
dieser Phrase eine typische Euphemisierung des ernsthaften und die Betroffenen
schwer beeinträchtigenden Straftatbestands des Stalkings. Katharina Dornen-
zweig arbeitet in dem Text Die umkämpfte Grenze zwischen Liebe und Stalking
die popkulturellen Narrative heraus, mittels derer die Handlungsmuster des
Stalkings fest in das Dispositiv der romantischen Liebe eingewoben werden.
Dafür erweitert sie die von Miranda Fricker geprägte Theorie »hermeneutischer
Ungerechtigkeit« am Beispiel Stalking um die Analyseebene affektiver Dissonan-
zerfahrungen durch implizit aufgezwungene, aber das eigene Erleben nicht erfas-
sende Narrative in Bezug auf Stalkinghandlungen. Dabei erschließt Dornenzweig
nicht nur affekttheoretisch, sondern auch narrativ einen spezifischen Komplex
Was ist Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft? 27
von Subjektivität undMachtwirkung zwischen Sprache, populären Darstellungen
und persönlichen Beziehungen im Kontext digitaler Mediendispositive.
Eine weiteres zentrales Territorium digitaler Subjektivitäten untersucht Jule
Govrin in More Substance Than A Selfie? Affektökonomien des Authentischen beim
Onlinedating. Am Beispiel beliebter Plattformen wie Tinder und OkCupid fragt
sie nach den Formen der Produktion und Präsentation von Identität, Authentizität
und Begehren. Govrin arbeitet heraus, wie die Datingseiten im Stil der sexuellen
Liberalisierung auf progressive Selbstdarstellung und die Betonung individueller
Merkmale drängen, während eben dieseMerkmale damit zugleich standardisiert,
rigide codifiziert und psychometrischen Big-Data-Verfahren zugeführt werden.
Dafür ist die maschinenlesbare Benennung des eigenen Begehrens und der be-
vorzugten Spielarten der Sexualität zentral – das erst schafft die Grundlage für
Bewertungen, Berechnungen und das »algorithmische Matchmaking« und lässt
ein für den Spätkapitalismus charakteristisches Sexualitätsdispositiv entstehen.
Am 14. Februar 2018 kam es an derMarjory StonemanDouglasHigh School in
Parkland, Florida, zu einem Amoklauf mit 17 Todesopfern. Während Attentate an
Schulen in den USA längst zur traurigen Gewohnheit geworden sind, hat in die-
sem Fall eine Gruppe von überlebenden Schüler_innen eine wirkmächtige Pro-
testbewegung initiiert: Unter dem Hashtag #neveragain war es ihr gelungen, die
US-Medien wochenlang in Atem zu halten und ein Zeichen progressiv-politischer
Handlungsfähigkeit zu setzen. Henrike Kohpeiß geht in Tears in Heaven: Mediale
Politiken des Schmerzes den medialen Performanzen der #neveragain-Aktivistin
Emma González nach, die nach dem Amoklauf ihre Trauer für den Protest gegen
Waffengewalt einsetzte. Kohpeiß liest González als mediale Figuration und fragt
entlang ihrer Auftritte danach, was die Parkland-Proteste und ihre Darstellung
von Leid und Schmerz politisch so wirksam gemacht hat.
Auch der ›neue‹ Nationalpopulismus steht unter Verdacht, durch ›neue‹ Me-
dien zu seiner gegenwärtigen Manifestation und Ausdrucksform gelangt zu sein.
Christian Ernst Weißgerber skizziert in Die neue Lust am Ressentiment Grundzü-
ge eines affekttheoretischen Zugriffs auf diese Entwicklung. Dafür aktualisiert er
den wesentlich durch Friedrich Nietzsche geprägten Begriff des Ressentiments
und grenzt ihn im Anschluss an Gilles Deleuze und Félix Guattari von verwand-
ten Sentimenten wie Assentimentalität, Pressentimentalität, Consentimentalität
und Dissentimentalität ab. Dabei kommt es ihm darauf an, Ressentimentalität, al-
so das ständige Wieder-Erleben einer vergangenen Kränkung, die auf Vergeltung
drängt, mittels Durcharbeitung in die benachbarten, politisch weniger gefährli-
chen Sentimente zu überführen.
Der dritte und letzte Teil dieses Bandes ist mit dem Titel »Öffentlichkeit, Protest
und Politik« überschrieben. Hier versammeln wir Texte, die sich mit den spezi-
fischen medialen Bedingungen politischen Handelns in unserer vernetzten Zeit
beschäftigen und darin öffentliches, kollektives oder widerständiges Agieren un-
tersuchen. Welche politischen Effekte, welche Regungen, Reize und Gereizthei-
28 Anja Breljak und Rainer Mühlhoff
ten spielen dabei eine Rolle? Wie werden unter den Bedingungen des Digitalen
Aufbegehren, Widerstand und Gemeinschaft artikuliert? Wie wird Veränderung
eingefordert, wie der Istzustand kritisiert?
Shitstorms, Trolle und Hasskommentare sind Phänomene der Online-Welt,
die zwischen Aufbegehren und Zerstörungswut changieren. Philipp Wüschner
argumentiert in The Internet is Dead – Long Live the Internet für die Relevanz einer
Online-/Offline-Differenz zur Rejustierung des medientheoretischen Verständ-
nisses derartiger Phänomene. Weil soziale Medien, die in jede Nische des Alltags
vordringen, die Reflexion über ihre eigene Medialität verwischen, schlagen Über-
empfindlichkeiten und Gereiztheiten schnell in Überreaktionen um – ein Spiel,
das in der Welt der Trolle systematisch provoziert wird. Die Vergessenheit um das
Online-Setting in Differenz zur Offlinewelt ruft so in doppelter Weise die Affekte
eines »idiosynkratischen Aufbegehrens« hervor: nämlich sowohl als Folge dieser
Differenzvergessenheit als auch in Reaktion auf sie.
Im Anschluss daran geht Marie Wuths Artikel Affektive Netze: Politische Parti-
zipation mit Spinoza von der grundlegenden These aus, dass jedwede Form des
Handelns – ob online oder offline – als politische anzusehen ist. Unter der Bedin-
gung von digitalen Medien jedoch verändert sich das Verhältnis zwischen globa-
lem und lokalem Handeln, wie sich etwa am Beispiel der #metoo-Bewegung zei-
gen lässt. Damit rückt auch die Frage in den Vordergrund, wie und unter welchen
Bedingungen politische Partizipation in der Situation der digitalen Vernetzung
möglich ist. Im Rückgriff auf die Immanenzphilosophie Baruch Spinozas bringt
Wuth zur Diskussion dieser Bedingungen den Begriff des »affektiven Netzes« ins
Spiel und liefert damit einen wichtigen Theoriepfeiler für den vorliegenden Band.
Dem für die Diskussion politischer Formen im Kontext von Onlinemedien
zentralen Begriff der Öffentlichkeit widmet sich schließlich Jan Beuerbach. In
seinem Text Öffentlichkeit trotz alledem: Polemisches Erscheinen und Archivarbeit
postdigitaler Proteste schlägt er einen Begriff der politischen Öffentlichkeit vor, der
speziell auf die Transformationen durch digitale Kommunikationsmöglichkeiten
abgestimmt ist. Im Anschluss an Hannah Arendt, Jacques Rancière und Judith
Butler plädiert er für ein agonistisches Modell, mit dem sich Protest als para-
digmatische Manifestation von Öffentlichkeit begreifen lässt. Damit rücken nicht
nur die Körper, die Modi ihrer Versammlung und ihres Erscheinens in den Fo-
kus, auch die Kämpfe um Aufmerksamkeit und Empörungsspiralen als typische
Phänomene netzbasierter Öffentlichkeiten lassen sich in dieser Perspektive grei-
fen. Das macht die Notwendigkeit einer Archivarbeit des Protests umso größer,
um affektive Spuren von Unterdrückungserfahrungen im kollektiven Gedächtnis
festhalten zu können.
Auch die Zeitzeugenschaft kann uns die affektiven Spuren vergangener
Kämpfe vermitteln und für die gegenwärtige historische Situation sensibilisie-
ren. Im Gespräch mit Toni Negri fragen Anja Breljak und Jorinde Schulz nach
der Geschichte der Arbeiterbewegung im Italien der 1960er und 1970er Jahre.
Gemeinsam mit Negri diskutieren sie die Ansätze der Operaist_innen zu Fragen
Was ist Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft? 29
des Kapitals, der Arbeit und des Protests hinsichtlich ihrer Aktualisierbarkeit für
die Gegenwart. Wie sich heute Spinozas Begriff der Multitude, der Marxismus als
Werkzeug und das Konzept der »gesellschaftlichen Arbeiter_in« nutzen lassen,
was sich von der zweiten Welle des Feminismus und den Argumenten für ein
bedingungsloses Grundeinkommen lernen lässt und wie sich darin der jüngste
Rechtspopulismus und die Macht der Algorithmen verorten, erörtern sie unter
dem Titel Die Mächte verstehen, die am Werk sind.
Schließlich greift Jan Slaby imNachwortNegri undWir: Affekt, Subjektivität und
Kritik in der Gegenwart die hier begonnene Diskussion über Möglichkeiten und
Formen vonKritik in den heutigenZeiten »entgrenzter Regierbarkeit« wieder auf.
Die Impulse Negris aufnehmend, formuliert er ein Konzept anti-kapitalistischen
Widerstands, das auf jüngere Beiträge der Affect Studies zurückgreift. Zum einen
plädiert Slaby für eine Abkehr vom »Produktionsparadigma der Moderne«, das er
im Arbeitsethos des Postfordismus ungebrochen am Werk sieht. Zum anderen
skizziert er, angelehnt an Félix Guattari und María Lugones, ein dissidentes »Di-
spersionsmodell« von Subjektivität als Alternative zu klassischen Vorstellungen
eines selbstidentischen und hierarchisch verfassten Subjekts. Welche Möglich-
keiten die dispersiven Subjektivitäten von heute bergen und zu welchen neuen
Konstellationen von Affekt, Subjektivität und Kritik sie führen, ist schließlich eine
der drängenden Fragen unserer Zeit.
Hintergrund und Danksagung
Das Herausgeber_innen-Team dankt herzlich Charlotte Thielmann für ihre
verständigen und geduldigen Lektorate und die Unterstützung beim Textsatz.
Dank gebührt ferner dem DFG-Sonderforschungsbereich 1171 Affective Societies
sowie dem Fonds zur Ko-Finanzierung von Open-Access-Monografien und
-Sammelbänden der Freien Universität Berlin für die finanzielle Unterstützung
dieses frei zugänglichen Werkes unter einer Creative-Commons-Lizenz.
Das Medium Sammelband ist ein kollaboratives Format, das eine Vielfalt an
Stilen, Ansätzen, theoretischen Ressourcen und Autor_innen zusammenführt.
Die Autor_innen unseres Buchprojektes vereint eine gemeinsame, teils viele Jah-
re andauernde Diskussion, die imUmfeld des Instituts für Philosophie der Freien
Universität Berlin, des Kolloquiums von Jan Slaby und des Sonderforschungs-
bereichs 1171 Affective Societies stattfand. Der Sammelband ist Resultat und Mate-
rialisierung eines zeitgenössischen philosophischen Denkens einer Gruppe von
Nachwuchswissenschaftler_innen zu Fragen und Problemen der vernetzten Ge-
genwart. Er bildet eine philosophische Haltung ab, die sich aktuellen Fragen von
Affekt, Subjektivierung und Politik stellen und das theoretische Denken an einem
drängenden Problemkomplex bewähren möchte. Bedingt durch den aufwändi-
gen Publikationsprozess ist ein solcher Band naturgemäß mit Erscheinen schon
längst nicht mehr ganz up to date, liegen doch nunmehr einige Monate zwischen
unseren einstmaligen Überlegungen und den fertigen Buchbeiträgen. Insofern
30 Anja Breljak und Rainer Mühlhoff
ist diese Textsammlung ein Stück weit auch ein Archiv, anhand dessen sich die
»Schichten« eines Diskussionsstandes zu einem sich schnell verändernden The-
ma ablesen lassen. Wir danken dem Engagement aller Autor_innen dieses Buch-
projekts und dem Kolloquium von Jan Slaby für die zahlreichen Diskussionen.
Editorische Bemerkungen
Seitenzahlen in Literaturverweisen erscheinen hinter einem Doppelpunkt nach
der Referenz, zum Beispiel verweist die Angabe Flusser 1995: 17 auf Seite 17 in
Flusser 1995. Sollten zitierte Passagen Hervorhebungen (Kursivierungen) enthal-
ten, so finden die sich bereits im Original, wenn nicht anders vermerkt. Sollten
zitierte Passagen Einschübe oder Auslassungen in eckigen Klammern […] enthal-
ten, so stammen diese von der Autor_in des jeweiligen Textes dieses Sammelban-
des, wenn nicht anders angegeben. Die Rechtschreibung in zitierten Passagen
wurde der heute gültigen Rechtschreibung angepasst. Alle URLs und Online-
Quellen wurden, wenn nicht anders vermerkt, am 1.4.2019 aufgerufen. Zur in-
klusiven Kennzeichnung geschlechtsspezifischer Substantive und Pronomen ver-
wenden wir im Regelfall den Unterstrich _. Ist das Hauptwort ein entsprechend
gegendertes Substantiv, so wird eine Doppelkonstruktion des Artikels vermieden,
es werden stattdessen meist weibliche Artikel und Pronomen verwendet, so dass
(im Femininum) ein grammatikalisch korrekter Satz hörbar wird (»die Autor_in,
die dies geschrieben hat«).
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Die Zeit der Datenmaschinen
Zum Zusammenhang von Affekt, Wissen und Kontrolle
im Digitalen
Anja Breljak
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1 Vom Surfer zum User
Wir sind User. Früher waren manche von uns noch Surfer. Es gab den Einstieg
und ein Ende dieser Aktivität. Vor allem aber handelte es sich dabei um eine Akti-
vität. Es gingmitunter darum, ein neues Gebiet zu entdecken, sich anonym zu be-
gegnen, Pornos zu schauen, Wissen, Erfahrung, Bilder einzuholen und zu teilen.
Es gab eine Zeit – und diese tickte inMinuten1 –, da wurde das Internet als Ort der
Freiheit und demokratischen Gleichheit gefeiert,2 an dem Teilhabe theoretisch al-
lein durch den Anschluss (den Computer, das Telefon, das Modem) gewährleistet
war. Das Surfer-Subjekt schien darin befreit von den Normen und Normalisie-
rungen, den Einschließungen und Repressionen des Alltags. Die Hoffnung war,
1 | In den 1990ern, als das Internet einer breiteren Masse bekannt wurde, funktionierte der Zu-
gang noch nach dem Paradigma des Telefonierens: Über das Modem oder die ISDN-Karte wählte
man sich in das Telefonnetz ein und wurde minutenweise abgerechnet. Heute, unter Bedingun-
gen des Breitbands, funktioniert umgekehrt das Telefon nach dem Paradigma des Internets: Die
Stimme wird nun üblicherweise über Rechnernetze (VoIP) übertragen.
2 | Paradigmatisch für den Techno-Optimismus dieser Zeit: Nicholas Negropontes Being Digital
von 1996, demzufolge die Effekte des Internets (»decentralizing, globalizing, harmonizing, and
empowering« früher oder später zu einer Revolution führen müssen (Negroponte 1996: 229).
Mühlhoff, R.; Breljak, A.; Slaby, J. (Hg.): Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie
der Digitalen Gesellschaft. transcript 2019, S. 37–54. DOI: 10.14361/9783839444399-002.
38 Anja Breljak
dass ein second life, einmy space, ein alta vistamöglich sind.3 Anders, gemeinsam
und für alle gleich. Dafür musste nur dieses amorph-anarchische Gebilde aus
Knoten und Verbindungen betreten werden, dessen Form noch offen und dessen
Zusammensetzung noch unbestimmt war.
Heute ist fast niemand mehr kein User. Nur hatte das nicht zur Konsequenz,
dass Freiheit und Gleichheit um sich gegriffen hätten. Stattdessen ist etwas ent-
standen, das im Anschluss an Gilles Deleuze als Kontrollgesellschaft bezeichnet
wird (Deleuze 1993), auch wenn damals, als Deleuze über diese Gesellschafts-
form nachdachte, das heutige Ausmaß der Kontrolle noch nicht bekannt war: Je-
de User-Bewegung, sei es ein Klick, ein Schritt oder gar ein Gemütszustand, ist
heute auswertbar, weil sie in der ›smarten‹ Umgebung datifziert werden kann.
Selbst jene, die keine netzfähigen Geräte nutzen, produzieren Daten: Weil Kame-
ras, Sensoren, Funkmasten, Satelliten und Drohnen potenziell jede Bewegung
in ihrer Reichweite erfassen, sind auch Nicht-User betroffen. Diese Entwicklung
hin zur Datifizierung allenGeschehens ist eine politische, sie hat gesellschaftliche
Folgen und bringt Machtverschiebungen mit sich.
Der vorliegende Text unternimmt es, eine Entstehungsgeschichte der Kon-
trollgesellschaft zu erzählen. Zentral dafür ist das Aufkommen und der ubiqui-
täre Einsatz von Datenmaschinen. Unter dem Begriff der Datenmaschine lassen
sich all jene soziotechnischen Vorrichtungen zusammenfassen, die ein Gesche-
hen datifizieren, das heißt es erfassen, speichern und auswerten können.Mit dem
beginnenden 21. Jahrhundert sind die Datenmaschinen zur dominanten Maschi-
nenform aufgestiegen; sie durchziehen nahezu alle Gesellschaftsbereiche und
dringen zusehends tiefer in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Alltag ein. Ihr
Aufstieg begann aber tatsächlich schon mit der Zeit der Industriellen Revolution,
in der sich protodigitale Datenmaschinen ausmachen lassen, die uns auch etwas
über deren Einsatz in der digitalen Gesellschaft verraten können. Diese Entwick-
lung steht hier im Vordergrund und soll nachfolgend auf ihre subjektivierenden
Effekte hin befragt werden.
2 Die Revolution der Kontrolle
Anders als der Begriff der »Datengesellschaft«, der sich an der Frage nach dem
zentralen ›Rohstoff‹ orientiert, und anders als der Begriff der »digitalen Gesell-
schaft«, der einen Modus der Kommunikation und Organisation benennt, richtet
sich die Perspektive der »Kontrollgesellschaft« auf die dahinterliegendeMachtfor-
mation. Mit diesem Begriff stellt sich die Frage, wie genau Subjekte im Kontext
3 | Die Namen dieser digitalen Produkte sprechen nicht nur für sich, sie sind längst Internetle-
genden: Second Life war ein Online-Spiel, welches die erste umfassende virtuelle Infrastruktur
stellte, Myspace ein Prototyp des sozialen Netzwerks, AltaVista eine der ersten Suchmaschinen
im Netz.
Die Zeit der Datenmaschinen 39
digitaler Medialität hervorgebracht werden, wie sie führen und geführt werden,
wie sie produziert und produktiv werden, kurz: welcher dominante Modus der
Subjektivierung vorherrscht. Dabei ist Kontrolle zwar eine Spielart der Überwa-
chung, ist aber tatsächlich ein ausgeklügelteres, interventionistischeres Verfah-
ren.4 Für Kontrolle braucht es mehr als das menschliche Auge, die Vision ist hier
nicht hinreichend. Stattdessen vollzieht sich in der Kontrolle eine Teilung, eine
Di-Vision der Welt: Das Geschehen wird möglichst umfassend registriert (rolle)
und mit seiner Vergangenheit und Zukunft ständig verglichen (contre).5 Das Ziel
von Kontrollverfahren ist es, dasjenige, was dem Auge, dem Bewusstsein oder
der Wahrnehmung entgeht, systematisch erfassbar zu machen. Es geht darum,
das Verborgene, Unterschlagene, ja gar das Nichtbewusste durch das Einbinden
eines registrierenden Mittlers zu entern. Dafür bedarf es eines wie auch immer
gearteten ›sensiblen‹Mediums, das dasGeschehen verlässlich registrieren und zu
einem Datum machen kann, um dieses dann wiederum im Folgegeschehen ein-
setzen zu können. Und zugleich hat der Einsatz dieser Daten im Folgegeschehen
eine modulierende Rückwirkung, die geläufigerweise als »Feedback« bezeichnet
wird und zum Kern des Kontrollverfahrens gehört: Werden Informationen über
das Geschehen in dieses wieder eingespeist, verändert das auch dessen Verlauf,
beeinflusst und prägt es das Geschehen. Insofern steckt in der Kontrolle eine si-
tuative Macht der ›Wirkungswirkungen‹.
Kontrolle ist ein uraltes Verfahren: So lassen sich etwa die Etablierung des
Kalenders oder der Einsatz von Kerbhölzern und Knochen zur Registrierung von
Schulden als frühe Kontrollverfahren verstehen. Systematisch entwickelt wurden
Verfahren der Kontrolle seit dem 19. Jahrhundert imWindschatten der Industriel-
len Revolution (Beniger 1986: 10), als Effekt einer Krise der Information:6 Die neue
maschinengetriebene Schnelligkeit der Produktion und Auslieferung von Gütern
4 | Überwachung (sur veillance) deutet auf die zentrale Rolle optischer Medien zur Überwin-
dung von Ferne hin, während Kontroll- und Disziplinarverfahren über die Nähe und den Kontakt
funktionieren (sousveillance), vgl. (Bauman 2013). Zielt die Disziplinierung vornehmlich auf die
Gewohnheiten des Körpers beziehungsweise der Seele und normiert diese durch ständige Wie-
derholung oder Einübung (Foucault 1993), richtet sich die Kontrolle auf Prozesse jedweder Art.
Den Informationsfluss des Geschehens anzuzapfen, sei dieses nun maschinisch oder organisch,
ist hierfür zentral.
5 | Die Registrierung des Geschehens impliziert nicht, dass das Geschehen sichtbar sein muss,
das heißt für das menschliche Auge erfassbar. Das Registrieren selbst ist nicht auf menschliche
Wahrnehmung beschränkt, es kann auch durch zum Beispiel sensorische Erfassung vonstatten
gehen. Es gilt auch zu beachten, dass Überwachung, Disziplinierung und Kontrolle sich durchaus
nicht gegenseitig ausschließen, sondern, gerade wenn es um die menschlichen Körper geht,
üblicherweise miteinander verknüpft werden.
6 | Beniger dagegen spricht von einer »Krise der Kontrolle« (ebd.: 6). Allerdings setzt er das
Prinzip der Kontrolle als überzeitliches Naturprinzip und unterschlägt damit seine eigene Unter-
suchung über die Revolution der Kontrolle als Effekt der Industriellen Revolution.
40 Anja Breljak
forderte auch beschleunigte Verfahren der Erfassung und Kommunikation über
ihre Lage, ihreMenge, ihrenZustand.Was bis dahin face-to-face-kommunizierbar
war, bedurfte nun entfernungsfähiger Technologien des Registrierens, die größe-
re Distanzen zwischen Geschehen und seiner Übermittlung zu überwinden er-
laubten: Schreibmaschine (1808), Fotografie (1826), Telegrafie (1833), Film (1888),
Radio (1906), Fernseher (1926), Magnetband-Rekorder (1928), transatlantische
Kabel (1956) etc.7 Kontrolle wurde durch diese Entwicklungen telekommunikativ
und massenmedial. Ihre Vorbilder aus der Domäne des Militärs (die Erfindung
des Großverbandes, der Division, zur taktischen Verfügung über die Truppe), aus
dem Bereich der Schifffahrt (die Erfindung des Logbuchs zur Bestimmung der
Beweislage), aus dem Reich des Geldes (die Erfindung des Kerbholzes zur Doku-
mentation des schuldnerischen Verhaltens), aus den ersten staatlichen Büros (die
Erfindung der Statistik zur Regierung der wachsendenMenschenmassen), hat sie
bis heute nicht eingebüßt.
Populär wurde das Konzept der Kontrolle erst in der Mitte des 20. Jahrhun-
dert mit einer von der Kybernetik erdachten Urszene:8 Das Kommunikationssys-
tem des Thermostats als Paradigma eines Feedbacksystems sollte nicht nur ein
funktionales Anschauungsbeispiel für das Prinzip liefern, nach dem Ingenieure
Ist und Soll in ein dynamisches Zusammenspiel gebracht haben. Herbeiassozi-
iert wird damit auch der heimelige Komfort des beheizten Wohnzimmers, die
Errungenschaften der modernen Technologie und ihre Fähigkeit, das aufwendi-
ge Manuelle gegen das magische Automatische einzutauschen – die Suprematie
der Technik zeigt sich dort, wo sie den Alltag erobert: Herd, Föhn, Kühlschrank.
Kontrollverlust, so lässt sich daraus folgern, ist dann das, was den Alltag ins Wan-
ken bringt, er findet dort statt, wo Ist und Soll auseinanderdriften und das nicht-
registrierte (oder nicht-registrierbare) Geschehen das Kontrollsystem zu sprengen
droht. Kontrollverlust ist die stetige Drohung der Kontrollgesellschaft, weshalb ih-
re Verteidigung immer zuerst die Ausweitung der Registrierung und, wenn dies
nicht genügt, das Aussperren9 ist – notfalls auch mit militärischen Mitteln. Denn
7 | Da Erfindungen oftmals eine vertrackte Geschichte haben und sich weder an einem Pa-
tent noch an einem einzelnen Gerät festmachen lassen, sind diese Jahreszahlen als Richtwerte
anzusehen, vgl. Simondon 2012.
8 | Norbert Wiener, der den Begriff der Kybernetik in den 1940er Jahren ins Spiel gebracht
hatte, um eine Wissenschaft von der Regelung von Lebewesen und Maschinen zu benennen,
beruft sich auf das Thermostat als Urbild, um das Feedbackprinzip zu erläutern. Dabei rutschen
organische und maschinische Prozesse ineinander: »Note […] that a badly designed thermostat
may send the temperature of the house in to violent oscillations not unlike the motions of the
man suffering from cerebellar tremor.« (Wiener 1965: 97)
9 | Es geht hier also nicht um die In-/Exklusion durch die Gemeinschaft und ihre Normen,
sondern um die Einrichtung technischer (und letztlich also physischer) Barrieren und Beschrän-
kungen (beziehungsweise eine Verhandlung von Ein-/Ausschluss im Gewand technischen Voka-
bulars), die das Funktionieren der Gemeinschaft, der Community, verbriefen.
Die Zeit der Datenmaschinen 41
tatsächlich ist das die andere, die eigentliche Ursprungsgeschichte der Kyberne-
tik: Entstanden im Zweiten Weltkrieg, perfektioniert im Kalten Krieg, wurzelt die
Kybernetik in der Betrachtung von Raketen und ihren Flugbahnen und in der
Frage, wie eine dynamische Adaption an deren prinzipiell nicht vorhersagbaren
Verlauf möglich ist, um den Gegner vom Himmel holen zu können (Kittler 2013;
Mirowski 2002). Das Feedback ist die Waffe nicht des Ausschlusses, sondern des
Abschusses.
3 Datenmaschinen
Ebenfalls im Windschatten der Industrialisierung kam, neben der Frage nach
der Bewegung von Gütern und Körpern, von Kapital und Informationen, auch
die Frage nach der Disziplinierung der Arbeiter_innen auf. Industrielle und Fa-
brikbesitzer_innen jener Zeit waren entrüstet über das Benehmen derer, die ih-
nen die Ware Arbeitskraft zu liefern hatten. Unzuverlässigkeit, Verspätungen,
»blaue Montage«, Mittagsschlaf und Sexspiele am Arbeitsplatz, Alkohol, derbe
Witze, Prügeleien, Beschimpfungen und Diebstähle beklagten sie in Bezug auf
ihre Beschäftigten.10 Denn die vornehmlich aus der Land- und Subsistenzwirt-
schaft stammende Arbeiterschaft war an den saisonalen Rhythmus, den verhält-
nismäßig frei einteilbaren Tag des Bauernhofs oder der Werkstatt gewöhnt. Die
Gegenseite bedachte dies mit erzieherischer Gewalt und repressiven Strafen, um
die arbeitenden Körper dem Takt der Maschinen zu unterwerfen, um diese, je-
denfalls aus Industriellensicht, Krise des Benehmens zu beenden.
Eben diesem Problem, dieser Krise des Benehmens, nahm sich ab 1800 auch
derUnternehmer und Frühsozialist Robert Owen an. Owenwollte der repressiven
Unternehmenskultur mit seiner Baumwollfabrik im schottischen New Lanark ei-
ne Alternative entgegensetzen und startete einen bemerkenswert zukunftswei-
senden Testversuch. Seine Vision von einer sanften Einwirkung auf die Arbei-
ter_innen bestand aus zwei ›Erfindungen‹: Zum einen sollte die Baumwollfabrik
nicht nur ein Ort des Arbeitens sein, sondern eine Lebensumgebung werden.
Owen ließ Wohnhäuser auf dem Fabrikgelände bauen, Gemeinschaftsräume, ei-
ne Schule und einen Kindergarten einrichten, er etablierte eine Krankenversiche-
rung, verbannte Alkohol und schränkte die Kinderarbeit ein (Owen 1813: 21 ff.).
Aus der Fabrik sollte so eineCommunitywerden. Zum anderen wurde ein Apparat
10 | Vgl. Pollard 1963, Reid 1976 und Thompson 1963, die vor allem die Seite des Fabrikma-
nagements zu Wort kommen lassen. Insbesondere das starre Zeitraster der Fabrikarbeit schien
ein zentrales Problem für die Arbeiter_innen darzustellen. So kam es in den Anfangsjahren der
Industrialisierung oft zum handfesten Streit um die Fabrikuhr, die im Verdacht stand, von den Auf-
seher_innen manipuliert zu werden, um Mehrarbeit zu erschleichen, vgl. Negrey 2012. Ich danke
Benjamin Streim für die Hinweise zur Frage der Disziplinierung der Arbeiter_innen während der
Industrialisierung.
42 Anja Breljak
eingeführt, den Owen als SilentMonitor bezeichnete: ein an einer Kette befestigter
Holzwürfel, dessen Seiten mit vier verschiedenen Farben bemalt waren und der
über jedem Arbeitsplatz aufgehängt werden konnte. Aufseher_innen bekamen
die Aufgabe, denWürfel abhängig vom Verhalten derjenigen, die unter demWür-
fel arbeiteten, einzudrehen, sodass für alle sichtbar die entsprechende Farbe ange-
zeigt wurde: weiß für gutes, gelb für akzeptables, blau für verbesserungswürdiges
und schwarz für schlechtes Benehmen. Jeden Tag wurde der Würfel-Stand in das
sogenannte Book of Character eingetragen, um so die konstante Überprüfung und
langfristige Verbesserung des Verhaltens sicherzustellen (Podmore 1906: 90 f.).
Owen gründete dafür eigens das Institute for the Formation of Character, eine Bi-
bliothek, in der eine umfassende Auswertung der Ergebnisse des Silent Monitors
und das Studium des menschlichen Verhaltens vorgenommen werden konnte.11
Owen hat mit New Lanark nicht nur das Community-Prinzip digitaler Platt-
formen und zeitgenössischer Arbeitsumgebungen, die mittels der gezielten In-
volvierung von Beschäftigten eine Verbesserung der Produktivität zu erreichen
suchen, vorweggenommen. Mit dem Silent Monitor hat er ein (wenn auch ana-
loges) Feedback-Device erfunden, welches in der Lage war, Daten in Echtzeit zu
sammeln und Bewertungen mit vier mal einem Pixel (den vier Farben des Wür-
fels) anzuzeigen.12 Dieses protodigitale Device zur »sanften Führung« (Bröckling
2017) erlaubte, das situative Betragen von Individuen zu registrieren, um es so
nicht nur demFabrikbesitzer zugänglich zumachen, sondern auch demBlick und
der Bewertung der Anderen sowie dem Studium durch die Betroffenen selbst zu
öffnen. Der Silent Monitor, der das Prinzip der Kontrolle auf den jeweiligen Men-
schen und sein situatives Verhalten überträgt, ist damit eine prototypische Da-
tenmaschine – eine technische Vorrichtung, welche verspricht, kontinuierliches
Geschehen erfassen und durch Feedback verändern zu können, indem sie dieses
in diskrete Datenpunkte umsetzt und speichert, auswertet und anzeigt. Dabei ist
den Datenmaschinen, wie allen Maschinen, ein Moment der Täuschung inhärent
(Burckhardt 2018). Aufgeladen mit dem Versprechen einer Ermöglichung, einer
Wende auf der Bühne des Geschehens, suggerieren die Datenmaschinen nämlich
eine vermeintlich unmittelbare Erfassung aller Prozesse und damit ein neues,
11 | Owens Fabrik avancierte übrigens zum Musterbetrieb und fand Nachahmer weit über das
damalige Großbritannien hinaus (Podmore 1906: 161 ff.). So wird der Silent Monitor auch heute
noch genutzt, wenn auch in abgewandelter Form, etwa in Call-Centern, wo er zum Mitschneiden
von Telefonaten eingesetzt wird (vgl. https://oneview.mitel.com/s/article/Using-Silent-Monitor-
092815).
12 | Der Begriff der Echtzeit (engl. real-time) bedeutet keineswegs, dass es sich um die ›echte‹
Zeit (real time) handelt, sondern um eine simultane Zeit. Die Norm DIN 44300 legt dazu fest,
dass es sich bei der Echtzeit um die »Verarbeitungsergebnisse innerhalb einer vorgegebenen
Zeitspanne« (Scholz 2006: 39) handelt. Damit ist auch Owens eigentlich nur tagesaktueller
Silent Monitor dennoch als ein Real-time-Device zu verstehen, der nach heutigen Maßstäben
eben eine recht lange »vorgegebene Zeitspanne« umfasste.
Die Zeit der Datenmaschinen 43
unverstelltes Wissen über alles und jeden. Tatsächlich aber werden sie der Rea-
lität nie gerecht werden können, weil die Erfassbarkeit immer mit einer techno-
epistemischen Grenze des Erfassen-Könnens und mit einer politökonomischen
Grenze des Erfassen-Wollens einhergeht.
In der digitalen Situation sind Datenmaschinen zur Umsetzung des Kontroll-
prinzips unumgänglich, und sie sind allgegenwärtig. Sie hängen nicht mehr an
einem sichtbaren Ort und müssen nicht einmal mehr händisch eingerichtet wer-
den. Heute sind sie immer dabei und eigentlich überall, in die Umgebung ein-
gelassen: als netzwerkfähige Geräte und Sensoren, Satelliten, Funkmasten, Ka-
meras, ja sogar als Mikrofone und Lautsprecher. Ihre Gegenwart ist selbstver-
ständlich geworden; sie erfassen uns in unserem Tun und Fühlen, und einen
Teil dieser Erfassung spielen sie direkt an uns zurück: in Form von Rankings,
Ratings, Scores und Sternchen, Shares, Likes oder Retweets. Sie sollen uns sanft,
aber bestimmt, führen; durch Blinken, Signaltöne oder Vibrationen unterstützt
sehen wir, was andere von uns und unseren Aussagen oder Regungen halten und
wie diese Anderen sich verhalten. Zugleich nehmen wir damit teil an der wohl
größten Sammlung von Verhaltensdaten, die es je gegeben hat und deren Auswer-
tung und Verwendung einer kaum überschaubaren Zahl von Werbe- und Tech-
Unternehmen obliegt. Und auch hier ist eine ähnliche Ambivalenz amWerk, wie
sie dem Owen’schen Frühsozialismus eigen ist: Die politische Empörung über
das allumfassende Sammeln und kapitalistische Aus-Nutzen der Datenmaschi-
nen bricht sich an den (vermeintlichen) Verbesserungen der Arbeits- und Lebens-
situation, der Steigerung von Bequemlichkeit und Komfort und der Erweiterung
unseres Wissens über uns selbst.
4 Die Medialität der Affekte
Parallel zur Entstehung neuer,medientechnologisch zunehmend versierterer Ver-
fahren der Kontrolle ›objektiven‹ Geschehens hat sich auch einWandel der Selbst-
bezüglichkeit, die heute im Visier der Datenmaschinen ist, vollzogen. Die mit
dem 19. Jahrhundert anwachsende Verfügbarkeit von Papier und Schreibzeug
brachte auch die Möglichkeit mit sich, subjektiv-privates Erleben, Fühlen und
Reflektieren medial festzuhalten (Dusini 2005). Die alltägliche Selbsterkundung,
etwa in Form des Tagebuchs oder Briefs, etablierte sich ab dem 18. Jahrhundert
als Verfahren zur Erlangung eines neuen Wissens über sich selbst, das nun nicht
mehr nur in adeligen oder klösterlichen Kreisen genutzt wurde, sondern das auf-
kommende Bürgertum in seinem neuen Selbstbewusstsein bestärkte – als Aus-
einandersetzung mit sich selbst im Aufschreiben (Kittler 1985). Mit dieser Arbeit
an sich selbst sucht das Subjekt den Zugriff auf seine eigene Innenwelt, weil es
über sich selbst ins Klare kommen will, schreibend, notierend, im Modus der
Frage »Was geht in mir vor?«.
44 Anja Breljak
Spielt diese Art der Arbeit an sich selbst auch im beginnenden 21. Jahrundert
eine wichtige Rolle (Blogs, Timelines, Tweets, Video-Channels etc.), rückt heute
allerdings eine andere Frage ins Zentrum – nämlich die Frage »Was geht hier
eigentlich vor?«.13 Denn digitale Interfaces halten nicht nur die Inhalte fest, die
User auf ihren Oberflächen ablegen. Sie registrieren potenziell jede Interaktion
zwischen User und Oberfläche und erlauben so vielfältige Analysen im Hinter-
grund, die Aufschluss geben sollen über das, was im Vordergrund passiert oder
passieren kann. Die Innenwelt der Gefühlemag hier noch für Selbsterkundungen
von Interesse sein, die ökonomisch und politisch interessanteren Informationen
liefern hier aber die ›objektivierbaren‹ affektiven Konstellationen und Dynami-
ken.
Affekt ist eine relationale Kategorie, die ein Wechselwirken, das primär zwi-
schen Körpern stattfindet, thematisierbar macht (Mühlhoff 2018). Von der Antike
an bis weit über die Zeit der Aufklärung hinaus galten Affekte als unbeherrsch-
tes, vom bewussten (und aufgeklärten) Subjekt entkoppeltes, autonomes Gesche-
hen (Meyer-Sickendiek 2005), dass nicht primär (semantisch) geäußert zu wer-
den braucht, sondern sich vielmehr körperlich ent-äußert (Zornanfall, Schamrö-
te, Wutausbruch, Herzrasen, Zittern, Flüchten, Schlagen, Heulen, Schreien, La-
chen). Diese Unbeherrschtheit körperlicher Reaktionen, die lange Zeit als Gegen-
satz zu Vernunft und Bewusstsein gedeutet wurden, ist im späten 20. Jahrhundert
zu einer neuen Quelle des Wissens über die Subjekte geworden.
Denn gerade weil Affekte sich ›autonom‹ ent-äußern, liefern sie entsprechend
unverstellte, unmittelbare Informationen über das Geschehen.14 Der Körper ist
dabei nicht nur Prozessor, sondern zugleich auch Medium: An, in und zwischen
den Körpern passiert etwas, das wesentlich mit der Situation, in der diese sich be-
finden, zu tun hat und am/im/zwischen Körper/n ablesbar wird. Affekt ist keines-
wegs unmittelbare körperliche Reaktion einer inneren Empfindung, vielmehr ist
der Körper Über- und Vermittler der Situation, für sich selbst und für andere. Das
Subjekt wird dabei in den Hintergrund gerückt, denn es sind erst einmal die situ-
ierten Körper, die in einer gemeinsamen Dynamik auch unabhängig von der Ebe-
ne der bewussten Intentionen und Reflexionen handeln. Und es sind die Körper,
die zugleich auch Sensorien für das sind, was in diesem Handeln geschieht und
was durch es bewirkt wird. Das öffnet Affekte nicht nur der Ansicht durch sich
und durch andere; über das Medium des Körpers sind Affekte damit prinzipiell
13 | Mit der Frage »What’s going on?» ist Lawrence Grossbergs Projekt einer affektbasierten
Kulturwissenschaft in die deutsche Diskussion getragen worden (Grossberg 2000). Dies ist auch
die zentrale Frage von Erving Goffmans Rahmenanalyse, die das »Hier und Jetzt» einer Situation
in den Fokus der Soziologie rückte und damit auch Affektivität potenziell einschloss, wenn auch
nicht explizit bearbeitete (Goffman 1980: 16).
14 | Ein Umstand, den sich der Psychologe Silvan Tomkins schon ab den 1940ern zunutze
gemacht hat, um noch näher an die psychische ›Natur‹ seiner Probandin_innen zu kommen, als
es die Freud’sche Triebtheorie erlaubte. Vgl. Tomkins 1962.
Die Zeit der Datenmaschinen 45
auch durch andere Medien erschließbar. Der Medienwissenschaftler Mark Han-
sen hat daraus gefolgert, dass Affekt unter Bedingung der digitalen Medien selbst
zu einer Art Interface wird (Hansen 2003: 5). Im Affekt, so Hansens Argumenta-
tion, kommen Informationsprozess und verkörperte Erfahrung zusammen. Der
Affekt-Körper ist damit aber nicht nur die Schnittstelle von neuen Kunstforma-
ten, wieHansen behauptet, sondern auch das Einfallstor für die Datenmaschinen.
Denn Affekt als Kategorie verspricht ein unverstelltes Wissen, eine wahrhaftigere
Nähe zur Situation, die durch die Entfernung vom Bewusstsein verbrieft wird.
Im Affekt schaltet sich das Bewusstsein, wenn überhaupt, später ein als der Kör-
per, der schon längst empfindet und damit eine Wahrheit über die Situation, in
der er sich befindet, spricht. Dieses Versprechen, diese Nähe, der Umstand, dass
kein Einverständnis und auch keine aktive Einspeisung von Worten oder Bildern
durch das bewusste Subjekt nötig ist, macht Affekte interessant für die Datenma-
schinen. Dieses Interesse richtet sich also keineswegs auf reflexiv-semantische
Äußerungen, es sind die als unverstellt vorgestellten Affekte, die zur wichtigsten
Informationsquelle avanciert sind.
Damit Affekte von Datenmaschinen prozessiert werden können, müssen die
Datenmaschinen den Körpern und ihren Dynamiken zu Leibe rücken. Einerseits
bedarf es dafür netzwerkfähiger Geräte und tragbarer Computer, die beständig
mit den Körpern interagieren und diese sensorisch erfassen können. Andererseits
müssen dafür kategorische Vereindeutigungen vorgenommen und massive Da-
tenmengen in Kauf genommen werden, um etwa aus der Höhe der Stimme, den
Zuckungen bestimmter Muskeln, der Veränderung der Körpertemperatur oder
bestimmten Bewegungsmustern ein affektives Geschehen folgern zu können. Af-
fekterkennung kann dann auch ohne die Einwilligung der User, allein durch die
und in den Modulationen ihrer Körper möglich werden:
»If computers are to utilize the natural channels of emotional communication used by
people, then when computers learn to recognize human emotion, they will have to rely
primarily on sentic modulation, as opposed to having people explicitly tell them the names
of their emotional feelings. To give computers affect recognition requires understanding
the physical manifestations of emotion.« (Picard 1997: 26)
Das hier von Rosalind Picard, der Informatikerin und Visionärin des Affective
Computing, angemahnte understanding affektiver Vorgänge wird umso größer
und wirkungsvoller, je umfassender es mit Daten über die physikalischen Ma-
nifestationen körperlicher Ausdrücke gefüttert wird. Picard suggeriert, dass es
»die Computer« seien, denen dieses understanding einfach nur beigebracht wer-
den müsse, wie ein freundliches Verständnis für die menschlichen Schwächen
und ihre verzeihlichen Abgründe. Dahinter steht die Idee einer automatischen
Erfassbarkeit menschlichen Verhaltens, Begehrens und Fühlens, die nicht nur da-
zu dienen kann, Computer ›menschlicher‹ zu machen, sondern auch umgekehrt
Menschen an die automatische Erfassbarkeit anzupassen. Hierbei kommt es auf
46 Anja Breljak
die philosophischen Spitzfindigkeiten des Affektbegriffs genauso wenig an, wie
auf den Umstand, dass der Körper allein ein recht begrenzter Stellvertreter für
das situativ-relationale Geschehen ist, dass sich an ihm zu ent-äußern vermag.
5 Das Wissen über sich selbst und die Anderen
Genauso wie Owen, der Unternehmer, sucht auch das »Quantified Self« eine Ant-
wort auf eine Krise. Allerdings stehen die Subjekte der digitalenGesellschaft nicht
mehr vor einer moralischen Krise des Benehmens, sondern vor einer Krise des ei-
genen Verhaltens.15 Mit dem Auftritt des »unternehmerisches Selbst« (Bröckling
2007) braucht es nämlich keines externen Aufsehers mehr, um sich (seine Pro-
duktivität, seinen Output, seine Performance) zu verbessern. Da ist die schlechte
Disziplin auf der einen Seite, die Faulheit, Schwerfälligkeit oder Motivationslo-
sigkeit, die an der eigenen Fitness oder Produktivität nagt. Da ist aber auch das
Unbewusste des eigenen Handelns, die Automatismen, das Unbeabsichtigte, das
Vergessene undVerdrängte, welches erschlossenwerdenmusswie ein unbekann-
tes Territorium. Das quantifizierte Selbst ist dabei in Wirklichkeit ein datifiziertes
Selbst, ein User-Subjekt, welches Anspruch auf Gewissheit, Auskunft über sei-
ne Tätigkeiten, Regungen und Körpersäfte, und Klarheit über seine Fortschritte,
Möglichkeiten und Verhältnisse zu anderen sucht. Apps tracken dafür die Schrit-
te, den Blutdruck, die Temperatur und fragen nach der aktuellen Stimmung, der
eingenommenen Mahlzeit, der Stärke der Menstruation. Das Datensammeln er-
folgt hier vordergründig zumZwecke der Selbsterkenntnis, die eine Verbesserung
der Performance lostreten soll. Die diagrammatischeDarstellung des eigenenVer-
haltens über die Zeit macht das Subjekt mit sich selbst vergleichbar, während
sich die dabei zugrundeliegende Norm aus den Daten der Anderen speist. Das
User-Subjekt steht nicht mehr nur im Vergleich zu seinen früheren und seinen
möglichenManifestationen, sondern auch zumDurchschnitt oder den Besten der
User-Community. Hier braucht es keine abstrakten Ideale mehr, die tonangeben-
den Normen werden statistisch aus den aggregierten Nutzerdaten destilliert. Die
Evidenz der aggregierten Information ist hier die Norm.
Was bis ins 20. Jahrhundert vornehmlich eine Auseinandersetzung mit sich
selbst im Medium des Schreibens war (das Tagebuch, der Brief, das Protokoll
(Foucault 1989; Foucault 1993), hat sich mit dem beginnenden 21. Jahrhundert
auf die smarten Devices verschoben. Mit ihrer geradezu permanenten Anwesen-
heit und demMittel der algorithmischen Auswertung sollen die smarten Devices
helfen, den Körper zu verändern, den inneren Schweinehund, das Gedächtnis,
15 | B.F. Skinner, einer der Mitbegründer des Behaviorismus, merkt dazu an: »When we discover
an independent variable which can be controlled, we discover a means of controlling the behavior
which is a function of it.« (Skinner 1965: 227)
Die Zeit der Datenmaschinen 47
die Gefühle, sogar die Gedanken in den Griff zu kriegen. Dabei geht es um ei-
ne möglichst genaue Erfassung des (Körper-)Geschehens, wobei nicht mehr die
Hürde des Notierens und Auseinandersetzens imWeg steht, sondern alles Regis-
trieren unbemerkt mitlaufen kann und alle Vorgänge in Echtzeit einer automa-
tisierten Aufbereitung und Rückspiegelung zugeführt werden können. Während
Tagebuch oder Briefe mühevoll wieder-gelesen und interpretiert werden müssen,
spuckt das smarte Gerät permanent leicht erfassbare, eindeutige Ergebnisse aus,
nach denen direkt und ohne Verzögerung gehandelt werden kann. Dadurch erhält
das alltäglichste Tun eine ungewohnte Bedeutsamkeit, die sich in Zahlen undKur-
ven, Charts und Säulen zeigt. Das User-Subjekt kann durch dieses Wissen über
sich selbst, analog zu Robert Owens Vorhaben einer »Formation of Character«, an
seiner eigenen Verbesserung arbeiten. Zugleich unterwirft es sich der aggregier-
ten Normalität der jeweiligen Community und der algorithmischen Verzerrun-
gen durch die App oder Plattform, der es ganz nebenbei noch als Datenlieferant
dient. Vor allem aber gewöhnt sich das User-Subjekt an die ständige Erfassung
seines Verhaltens durch die immer enger auf den Leib rückenden Datenmaschi-
nen, die vielleicht tatsächlich mehr Selbstbestimmung, mehr Wissen über sich
selbst ermöglichen, während ihre Nachteile nicht so offen zutage liegen, weil sie
intransparent sind und weiter reichen, als die Performance des User-Subjekts es
zu denken erlaubt.
Korrelativ zurWissenslage des Subjekts verändert sich durch die zunehmende
Verbreitung von Datenmaschinen auch das Wissen über die Gesellschaft. Noch
nie standen uns die Anderen so deutlich vor Augen wie im Zeitalter der Apps
und Plattformen, die immer auch ein kollektives Urteil wiedergeben, indem sie
die Klicks, Besuche, Rezensionen, Bewertungen oder Beipflichtungen, friends und
followers zählen. Wurde vormals mit Jean-Jacques Rousseau zwischen dem volonté
de tous, der bloßen Summe der tatsächlichen Einzelinteressen, und dem volonté
générale, der politischen Fiktion eines Gemeinwillens, unterschieden, um die re-
präsentative Demokratie zu rechtfertigen (Rousseau 1964), wird nun ein volonté
digitale heraufbeschworen. Ging Rousseau davon aus, dass der Gemeinwille aus
einem »hinreichend informierten Volk« (peuple suffisamment informé) resultiert,
selbst wenn dessen Bürger_innen untereinander »keinerlei Verbindung« (aucune
communication) haben, ist der digitaleWille just das Gegenteil: Er resultiert gerade
aus der Verbindung der kommunizierenden Bürger_innen als User, selbst wenn
diese nicht hinreichend informiert sind und sie sich dabei der Formierung eines
gemeinsamenWillens auch nicht bewusst werden. Denn der digitaleWillen erfor-
dert keine explizite Kommunikation oder Bewusstseinsakte, sondern ist statisti-
sches Nebenprodukt der Datenaggregation. Kollektivität ohne Kollektivsinn. Der
volonté digitale, auch wenn er aus einer Zählung gewonnen wird, bleibt nichts-
destotrotz eine politische Fiktion. Denn auch hier zählen nicht alle tatsächlichen
Einzelwillen, vielmehr suggerieren die digital präsenten Meinungsäußerungen
ob ihrer Masse, Performativität und echtzeitlichen Verfügbarkeit eine öffentliche
48 Anja Breljak
Meinung, einen gemeinsamen Willen, der zunehmend politisches Gewicht er-
hält.
Die digitale Gesellschaft dagegen hat mit den am Individuum haftenden und
es umgebenden vernetzten Sensoren und Devices eine neue Gewissheit, ein noch
nie dagewesenes, direktes und oftmals in Echtzeit verfügbares Detailwissen über
ihr Publikum und dessen Meinungs- und Körperäußerungen. Im Vordergrund
steht nicht mehr das An/Aus, die freiwillig abgegebene Ja-/Nein-Antwort, die
hochgezählt werden muss. Nun geht es um die tatsächlichen und größtenteils
unbewussten Spuren, die das Klicken, das Touchen, die Bewegungen der Maus,
des Gesichts, des Körpers, das Geschriebene, Geteilte, Gestreamte, Hochgeladene
liefern und die genaue Informationen über Entscheidungen, Verhaltensweisen,
Interessen, Einstellungen, Begehren und Risiken bergen. Dadurch ist auch eine
Transformation hin zur direkten Öffentlichkeit im Gang, wo der Austausch in
situ stattfinden kann. In der antiken Ekklesia, jener städtischen Vollversammlung
der attischen Demokratie, in der nur ein Bruchteil der wahlberechtigten Bürger
genügte, um die Vollversammlung zu konstituieren (Blackwell 2003: 4), kam es
darauf an, an einem gemeinsamen Ort (dem Amphitheater)16 zu tagen und sich
also wesentlich affektiv auszutauschen. So ist auch die digitale Arena eine des
affektiven Austauschs, in der zwar nicht am selben Ort, aber dafür in Echtzeit
erfassbar wird, was das Publikum liebt, ablehnt, ignoriert oder gar was genau es
über etwas denkt. Der dazugehörige Publikumstyp funktionierte auch schon in
der attischen Demokratie nach dem Prinzip des Schwarms, in dem die Perform-
anzen der Schnellen, Lauten und Deutlichen tonangebend waren und in dem die
Lust am Affektiven, die Empörung, die Neugier, die Verletzung oder die Entlar-
vung zur Politik wird. Was die Anderen machen, denken, lieben, hassen, wie sie
sich geben, verdrängt die Frage danach, was sie von x oder y halten (die »Um-
Frage«). Die digitale (wie auch die attische) Politik der Affekte funktioniert nach
dem Prinzip der Demagogie: Jene, die sich in der digitalen Arena bewegen, er-
scheinen schnell als jene Vollversammlung, die sie nicht sind, angeführt durch
jene mit Einfluss, jene, die den richtigen Nerv treffen, das Vor-sich-Gehende auf
den Punkt bringen, das Unterschwellige oder Schwelende an die Oberfläche zer-
ren und zu verstärken in der Lage sind. Mit Blick auf die attische Ekklesia wird
deutlich, dass politischesHandeln in der direktenÖffentlichkeit nicht einfach nur
16 | Klassischerweise wird die Agora, der Marktplatz, als der Ort der demokratischen Versamm-
lung in der Antike angeführt. Tatsächlich aber gab es in der attischen Demokratie für die Vollver-
sammlung einen eigenen Ort, das Ekklesiasterion, für welches das Amphitheater herangezogen
wurde, um auch architektonisch das öffentliche Sprechen und gegenseitige Sehen zu ermögli-
chen. Die Agora hatte sich nämlich von ihren medialen Bedingungen her für das demokratische
Sprechen einer großen Menge von Menschen als ungeeignet erwiesen. Das römische Reich über-
nahm schließlich die bauliche Form des Amphitheaters und machten daraus die Arena, den mit
Sand bestreuten Kampfplatz, das Zentrum römischer Massenunterhaltung. Vgl. Whitehead 1994.
Die Zeit der Datenmaschinen 49
darin besteht, seine jeweilige Meinung oder seinen gemeinsamen Willen kund-
zutun und danach zu handeln oder handeln zu lassen. Meinung oder Wille in der
Arena, dort, wo direkte Reaktionen möglich sind, bestimmen sich über affektive
Intensitätszonen, über das Gruppieren und Verstärken krasser Reaktionen, die
die Leisen und Langsamen, die Zögerlichen und Zurückhaltenden verdrängen,
zum Mitmachen provozieren oder gar zum Schweigen bringen.
6 Das technologisch Unbewusste
Die Daten, die mit jeder User-Bewegung und Zustandsveränderung im Ökosys-
tem der vernetzten Geräte und Sensoren ›anfallen‹, bergen die Hoffnung auf un-
geahnte Einsichten in das Verhalten von Lebewesen und Maschinen gleicherma-
ßen, von Prozessen überhaupt. Entsprechend umkämpft ist diese seltsame Res-
source, deren Potenziale und Anschlussmöglichkeiten noch längst nicht abge-
steckt sind und deren Akkumulation auf zukünftige Techniken der Auswertung
pocht. Dieser imaginäre Überschuss einer möglichen Ausnutzbarkeit wird auch
genährt von einer strategischenUnverfügbarkeit der Daten in der Gegenwart. Der
allergrößte Teil der erhobenen Daten wird den allermeisten Usern vorenthalten
und lässt sich bloß erahnen. Das, was sich der digitalen Gesellschaft zeigt, be-
schränkt sich auf einMinimum der Datenakkumulation und erprobt zugleich ein
Maximum an sanftem Monitoring zur möglichst effizienten Selbstregulierung.
Das, was sich möglichst nicht zeigt, ist diejenige Industrie, die die Datenmaschi-
nen für sich einzusetzen weiß, die diese Ressource zirkulieren lässt und zur Prä-
diktion, zur Bestimmung zukünftigenGeschehens, sei es des Kaufverhaltens oder
möglicher krimineller Handlungen, zu nutzen sucht. Das Big-Data-Versprechen
lebt sodann nicht nur von den zukünftig zu entwickelnden Verfahren der Analy-
se, sondern auch von der Ausweitung der Erfassung, die immer tiefer eindringen
muss in die analogen, von der Datifizierung fast schon nicht mehr verschonten
Gebiete des Alltags: das Gesicht und seine emotionalen Regungen, die Stimme
und ihre subtilen Variationen, die Körper und ihre mannigfaltigen Vektoren der
Veränderung und Bewegung, die Subjekte und ihre Reaktionen und Interaktio-
nen, die (neuen) Maschinen und ihre (neuen) Nutzungsweisen und Einsatzmög-
lichkeiten. Das Geschehen, das für die Erfassung von primärem Interesse ist, fin-
det unterhalb der Wahrnehmungsschwellen der User statt und übersteigt ihre
reflexiven Kapazitäten, die Datenindustrie setzt auf das Aggregat und die Wahr-
scheinlichkeiten, die sich aus der massenhaften Erhebung ergeben. Mit den Da-
tenmaschinen einher geht also nicht nur ein neues Wissen über das eigene Ver-
halten und das Verhalten der Anderen, sie bringen auch ein »technological un-
conscious« (Thrift 2004) ins Spiel. Analog zu Sigmund Freuds Versuch, mit dem
Begriff des Unbewussten an dasjenige psychische Geschehen heranzukommen,
das eigentlich nicht bewusst gemacht werden kann und dadurch doch, wenn auch
indirekt, bewusst gemacht wird, beschreibt das technologisch Unbewusste den
50 Anja Breljak
Versuch, mittels Technologie dasjenige Feld des Geschehens bewusst zumachen,
dass eigentlich nicht gewusst werden kann.17 Allerdings verbleibt dieses Wissen,
wo es sich nicht in neuen Produktenmaterialisiert, allzu oft imResearch andDevel-
opment der Datenindustrie. Nur manchmal lugt es punktuell hervor, in Form von
Leaks oder investigativen Recherchen, durch das Publikwerden automatisierter
Diskriminierung oder als Folge von Datenpannen.18
7 Affektive Effekte
Der Technologiekritiker und Privacy-Designer Tijmen Schep hat die sozialen Ef-
fekte, die mit den digitalen Datenmaschinen und dem Sammeln von Massenda-
ten einhergehen, als »social cooling« beschrieben:
»If you feel you are being watched, you change your behavior. Big Data is supercharging
this effect. This could limit your desire to take risks or exercise free speech. Over the long
19
term these ›chilling effects‹ could ›cool down‹ society.«
Die Datenmaschinen, die gegenwärtig dazu eingesetzt werden, alle möglichen
Daten zu sammeln, sind nicht nur Bestandteil des sensorischen Selbstmanage-
ments und einer digitalen Reputationsökonomie (Mau 2017). Sie schaffen ein
wenn auch nur diffuses Gefühl ständiger Beobachtung – eine Art immer mitlau-
fender Anstandsdame, deren Anwesenheit allein schon Wirkungen auf das in-
dividuelle Verhalten haben kann. Paradoxerweise wird gerade dieses diffuse Ge-
fühl durch die Diskussionen um massenhafte Überwachung und Datenschutz
bestärkt. Zugleich ist ein gerichtetes Gefühl akuter Beobachtung in die Funktions-
weisen digitaler Plattformen eingebaut: Wer teilnehmen will an den sozialen Me-
dien, wer seineMeinung kundtun,Möbel feilbieten, Bücher verkaufen, eineWoh-
nung untervermieten oder Dienstleistungen anbieten will oder diese in Anspruch
nimmt, muss sich auch den Bewertungslogiken dieser Medien unterwerfen. So
spricht etwa Airbnb vom »Designing for Trust« als oberstem Prinzip und verweist
darauf, dass es bloß auf das richtige Interaktionsdesign ankäme, um User dazu
zu bewegen, sich nicht daneben zu benehmen. Auch hier steht eine »Formation
17 | Ich danke Marie-Luise Angerer für wichtige Anregungen zur Rolle des Unbewussten für
digitale Technologien.
18 | Um nur ein Beispiel zu nennen: 2018 wurden die geheim gehaltenen Positionen von US-
Militärbasen in Afghanistan, Irak und Syrien versehentlich öffentlich gemacht, weil Soldat_innen,
die mit Fitness-Trackern ausgestattet wurden, weil sie fit bleiben sollten, um das Gelände der Ba-
sis joggten und auf einer sogenannten Heatmap registriert wurden.Vgl. https://www.theguardian.
com/world/2018/jan/28/fitness-tracking-app-gives-away-location-of-secret-us-army-bases.
19 | Vgl. https://www.socialcooling.com/ (02.09.2018).
Die Zeit der Datenmaschinen 51
of Character« an. Dafür braucht es mehr als nur einen Code of Conduct, es be-
darf des »moral engineering«.20 Gezielt eingesetzt werden dafür Mechanismen
der sozialen Kontrolle, die in das Interaktionsdesign eingebaut werden: sichtba-
re Beobachtbarkeit (Online? Verfügbar? Am Tippen?), Schaffung von Anreizen
zur Bewertung (»Du kannst das Feedback von Rado lesen, sobald du selbst eine
Bewertung geschrieben hast«), öffentliche Sichtbarkeit der Bewertung, einfache
Erfassbarkeit dieser, etwa durch die allseits beliebten goldenen Sternchen, die das
Verhalten eines Users der Bewertung einer Dienstleistung, eines Hotels oder Re-
staurants durch einen Connaisseur gleichstellen. Unerwünschtes Verhalten soll
nicht etwa ›von oben‹ geahndet und bestraft werden, sondern aus den sozialen
Konsequenzen einer negativen Bewertung und der Angst vor dem entsprechen-
den Reputationsverlust präemptiv vermieden werden. Das Vertrauen in die Platt-
form, das sich über die Reibungslosigkeit der Interaktion herstellt, wird über das
Vertrauen in die Anderen generiert (oder auch gestört). Also muss das Verhalten
der Anderen im Griff bleiben. Wenn aber alles im Griff bleiben muss und ständig
im Begriff ist, getrackt, geratet oder geshitstormt zu werden, dann wird der Raum
für Ausfälle und Experimente, für Risiken und Andersartigkeiten immer kleiner
(oder verschiebt sich in andere Räume). Werden solche Handlungen, die Aufre-
gung, Intensitäten, Konflikte hervorrufen, immer unwahrscheinlicher, dann küh-
len auch die sozialen Beziehungen ab. Sie werden vorhersehbarer, normierter,
affektive Valenzen schlagen weniger aus, oder das Verständnis für affektive Va-
lenzen sinkt. Social Cooling ist der Begriff, der helfen soll, diese nicht unmittelbar
greifbaren, langfristigen Effekte der digitalen Datenmaschinen auf das Soziale zu
fassen zu kriegen.
Paradoxerweise wird diese Abkühlungstendenz der Kontrollgesellschaft zeit-
gleich von einer Tendenz der Überhitzung konterkariert. Wenn Fotos, Videos,
Nachrichten oder Kommentare viral verbreitet werden, Shitstorms sich überschla-
gen, Hass und Falschmeldungen wild zirkulieren und in den Empörungsspiralen
redaktioneller Medien republiziert werden, schafft das neben hitzigen Debatten
auch politische Realitäten. Hier findet eine Art »Societal Heating« statt: Debat-
ten und Protestaktionen geraten schneller in die Öffentlichkeit denn je, gerade
dann, wenn sie provozieren. Zugespitzte Titel, schockierende Bilder, Falschnach-
richten werden, je mehr Empörung oder Anteilnahme sie auslösen, je schneller
sie geteilt und wiedergegeben werden, umso weitläufiger durch die Knoten des
Netzes katapultiert. Protestaktionen, je erschreckender, skandalisierbarer, schril-
ler oder überraschender sie sind, finden umso mehr Aufmerksamkeit. Dabei gilt:
Die Geschwindigkeit von fetzigen Nachrichten, von empörenden Inhalten, egal
ob wahr oder falsch, trifft auf eine sehr viel langsamere Aufklärungsarbeit und
noch viel langsamere politische Entscheidungsprozeduren. Die Revision ist nicht
20 | Ein Konzept, welches der Soziologe (und Eugeniker) Edward A. Ross bereits 1901 als
wichtigstes Prinzip sozialer Kontrolle erfolgreich in der amerikanischen Soziologie etablierte
(Ross 1901: 6); vgl. dazu auch Scheerer 2000.
52 Anja Breljak
nur zeitlich immer hinterher, sie ist den Dynamiken des Teilens und Trendens
oftmals auch in ihrer affektiven Wirkmacht unterlegen. Weil sichtbar ist, was die
User jetzt gerade interessiert, wird das Jetzt-Gerade der digitalen Aufmerksam-
keitsökonomie auch für redaktionelle Medien und die parlamentarische Demo-
kratie relevant. Die Datenmaschinen sind dafür nicht nur Ursache, sie profitieren
doppelt von dieser Aufmerksamkeitsdynamik. Einerseits schafft die Überhitzung
öffentlicher Debatten mehr Interesse, Neugier, mehr Beiträge, Klicks und Likes
auf den Plattformen, mehr Berichte über und Bezüge auf die Beiträge in den so-
zialen Medien. Diese Überhitzung kurbelt die Datenproduktion noch weiter an.
Zugleich wird die Kontrolle dieser Dynamiken, sei es durch Zensur oder durch
algorithmisches Filtern falscher, hassschürender, diskriminierender oder gesell-
schaftlich nicht akzeptabler Beiträge, bei den Plattformen belassen, deren primä-
res Interesse als privatwirtschaftliche Unternehmen vornehmlich darin besteht,
schlechte Publicity zu vermeiden.
In der digitalen Gesellschaft gehen diese zwei Tendenzen – die der sozialen
Abkühlung und die der gesellschaftlichen Überhitzung – miteinander einher, sie
überlagern sich und sie bringen sich gegenseitig hervor. Wird der individuelle
Bewegungsraum durch soziale Kontrollverfahren wie etwa das Scoring, Monito-
ring oder Profiling enger, überschlagen sich die gesellschaftlichen Diskussions-
dynamiken und ihre Atmosphären mit der zunehmenden Geschwindigkeit des
Informationsflusses und der Vervielfältigung der Sichtbarkeit von Trends und Re-
aktionen. Je umfassender Datenmaschinen dazu eingesetzt werden, das individu-
elle Verhalten subtil zu formen und zu modulieren, umso heftiger das affektive
Hochschaukeln in den sozialen Zwischenräumen und digital vermittelten Bezie-
hungen. Denn das Feedback ist ein mächtiges Prinzip, das gerade dort, wo es
öffentlich wird, eine affektive Komponente hat: in der Rache des Rezensierens,
im Ressentiment des Kommentierens, in der Lust des Likens oder der Schaden-
freude des Twitterns. Ist das Feedback also der Kern der Kontrolle, gerät es in der
Zeitlichkeit der digitalen Gesellschaft geradezu ›außer Kontrolle‹.
Mit demAufkommen der Datenmaschinen einher gehen immer weitergehen-
de Möglichkeiten echtzeitlicher Erfassung. Bislang hat sich nur angedeutet, was
aus dieser Erfassung, aus diesen immer größer werdenden Datenmengen wird
und was daraus gemacht werden kann: nicht nur ›bessere‹ digitale Produkte, son-
dern neue Formen des Regierens und Einflussnehmens, der Umverteilung von
Reichtum und des Säens von Hoffnungen auf eine besser kalkulierbare, eine ›si-
chere‹, weil prädiktive Zukunft. Dabei zeigt sich jetzt schonmehr als deutlich: Im
Zeitalter der Datenmaschinen verändern sich mit dem Wissen über uns selbst
und dem, was wir von den Anderen wissen können, auch ›privates‹ Erleben und
politisches Handeln. Die Datenmaschinen bringen, so viel ist sicher, eine neue
Art und Weise hervor, wie wir wissen können und unter welchen Bedingungen
Wissen als Wissen überhaupt bestehen kann. Unsere Zeit, so lässt sich daraus
schließen, ist die Zeit einer neuen, massendatenbasierten Episteme, die sich in
die politischen, wissenschaftlichen und alltäglichen Prozesse längst eingegraben
Die Zeit der Datenmaschinen 53
hat. In der so entstehenden Neuordnung der Seins wird das Wissen über das si-
tuative Geschehen, Handeln und Fühlen maßgeblich, und es prägt sich ein in die
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Netzwerkaffekte
Über Facebook als kybernetische Regierungsmaschine
und das Verschwinden des Subjekts
Felix Maschewski und Anna-Verena Nosthoff
»[O]ur strategy is very horizontal. We are trying to build a
social layer for everything.«
»A squirrel dying in front of your house may be more relevant
to your interests right now than people dying in Africa.«
Mark Zuckerberg, Facebook-CEO
Es ist – folgt man denDiagnosen Bernard Stieglers – schon seit einigen Jahren be-
kannt, dass man die Bevölkerung nicht mehr »als Produktionsmaschine kontrol-
lieren kann, sondern als Konsumtionsmaschine«, dass weniger »die Biomacht auf
dem Spiel [steht], sondern die Psychomacht, die der Kontrolle und Erzeugung von
Motiven dient« (Stiegler 2009: 60). So ist es kaum verwunderlich, dass die derzeit
einflussreichsten Tech-Player in einer programm- oder bewusstseinsindustriell
zugerichteten Gegenwart nicht nur an der Börse zu den erfolgreichsten Unter-
nehmen zählen (allein die Werbeeinnahmen Facebooks im dritten Quartal 2018
betrugen 13,5 Milliarden Dollar), sondern aufgrund der umfassenden Konzentra-
tion vonWissen und der monopolistischen Ausnahmestellung ferner immer stär-
ker als systemrelevante politische Akteure wahrgenommen werden. In der Folge
ist Facebook für seine mehr als 2,27 Milliarden weltweit aktiven Nutzer_innen
– zuweilen spricht man gar von seinen Bewohner_innen – nicht nur zu einem
wesentlichen Kommunikations- und Informationskanal geworden, der den All-
tag – auch über die konzerneigenen Dienste WhatsApp und Instagram – als »so-
cial infrastucture« und »global community« privat und beruflich prägt (Zucker-
berg 16.02.2017). Zugleich bestimmt sich die Plattform kalifornischen Ursprungs
Mühlhoff, R.; Breljak, A.; Slaby, J. (Hg.): Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie
der Digitalen Gesellschaft. transcript 2019, S. 55–80. DOI: 10.14361/9783839444399-003.
56 Felix Maschewski und Anna-Verena Nosthoff
als eine wirkmächtige kybernetische Maschine, die Individuum wie Gesellschaft
überwachungskapitalistisch be- und durchleuchtet, quantifiziert und profiliert,
Austauschprozesse nicht nur koordiniert, sondern kontrolliert; als eine Maschi-
ne schließlich, die – darauf verwiesen zuletzt der Skandal um die britische Da-
tenfirma Cambridge Analytica und die anschließenden Debatten um Fake News,
Hate Speech, dark ads oder die ansehnliche Reihe staatlicher Untersuchungsaus-
schüsse – auf sehr fragwürdigen Fundamenten fußt. Denn während Facebooks
CEO Mark Zuckerberg nicht müde wird zu betonen, dass sein Ziel darin besteht,
die »Welt offener und vernetzter zu machen« (Oberfranz 08.02.2018), erkennen
ehemalige Mitarbeiter_innen1 ganz andere Horizonte, bezeichnen Facebook als
»legales Crack« (Grassegger und Martínez 12.09.2016) oder fassen, wie Grün-
dungspräsident Sean Parker, die Kernfrage bei der Entwicklung Facebooks alles
andere als idealistisch: »How do we consume asmuch of your time and conscious
attention as possible?« (Solon 09.11.2017)
Vor demHintergrund dieser Aussagen hinterfragt der vorliegende Beitrag zu-
nächst die im Silicon Valley und von Zuckerberg selbst häufig proklamierte The-
se der technologischen Neutralität. Im Anschluss werden spezifische psychopo-
litisch und affektiv wirksame Mechanismen und ihre Sozialphysik des Anstoßes
genauer analysiert, umüber diesen Rahmen einen in der »Facebook-Gesellschaft«
(Simanowski 2016) implizit forcierten Subjektbegriff zu beleuchten und – gene-
reller – die sich hier abzeichnende Form kybernetischer Gouvernementalität (vgl.
Mersch 2013) zu fokussieren. In diesemKonnex ist nicht nur darzustellen, wie das
»gouvernementale Unternehmen« (Herder 2018: 181) qua feedbacklogischer Pro-
grammatik die Entscheidungen, das Verhalten oder gar die Wünsche seiner Nut-
zer_innen antizipiert und auf diese Weise indirekt regiert, sondern auch, welche
Konsequenzen die konsumtive Plattformlogik für das Politische selbst konturiert.
1 ›Soziale‹ Netzwerke: ganz neutral?
In der Debatte um die sogenannten Fake News im Anschluss an den Wahlkampf
Donald Trumps erklärteMark Zuckerberg, dass es »eine verrückte Idee« sei, anzu-
nehmen, Facebook habe die US-Wahl beeinflusst, schließlich sei sein Unterneh-
men keine inhaltsgetriebeneMedien-, sondern lediglich eine neutrale Tech-Firma
(Wagner 11.11.2016). Obgleich sich der CEO, nachdem bekannt wurde, dass sowohl
russische Akteure als auch Cambridge Analytica die Plattform und die Möglich-
keit des Mikrotargetings instrumentalisiert hatten, um systematisch falsche oder
tendenziöse Nachrichten zu verbreiten (Maschewski und Nosthoff 06.02.2017),
durchaus reumütig zeigte und zugab, »Fehler gemacht« (Wong 22.03.2018) zu
1 | Chamath Palihapitiya erkennt so zuletzt etwa: »The short-term, dopamine-driven feedback
loops that we have created are destroying how society works«, zitiert in Wong 12.12.2017.
Netzwerkaffekte 57
haben, revidierte er keineswegs seine Aussage hinsichtlich der technischen Un-
parteilichkeit. Vielmehr betonte diewiederholte Rede von externem»Missbrauch«
die interne Neutralität und erhärtete damit eine pharmakologische These: dass
Technik sowohl Gift als auch heilende Medizin sein könne, dass es lediglich an
den Nutzer_innen selbst liege, was diese damit anstellten, nicht am technischen
Ding an sich. Auch Ex-Google-CEO Eric Schmidt und Jared Cohen, Gründer von
Google Ideas, schrieben schon im Jahr 2013 in ähnlicher Diktion, dass das Silicon
Valley grundsätzlich auf dem Standpunkt stehe, »dass die Technologie neutral sei,
die Menschen jedoch nicht. Dieses Motto«, prophezeiten die Autoren, »wird im-
mer wieder imGetöse untergehen. Unser gemeinsamer Fortschritt als Bürger des
Digitalzeitalters wird jedoch davon abhängen, dass wir uns immer wieder daran
erinnern.« (Schmidt und Cohen 2013: 100)
Interessant an dieser Perspektive ist weniger, dass es sich hierbei um eine Art
Glaubensbekenntnis der Tech-Unternehmer aus dem Silicon Valley handelt, ein
eherner Grundsatz, in dem sich eine geschäftstüchtige Verantwortungslosigkeit
spiegelt – auch der ehemalige CEO von Cambridge Analytica, Alexander Nix, ist
sich sicher, dass »nicht der Revolver tötet, sondern die Hand, die den Abzug be-
tätigt« (Müller von Blumencron und Nix 13.03.2017). Bedenkenswert ist vielmehr,
dass diese Haltung – trotz der nicht abebbenden Kritikwellen – weitestgehend
unhinterfragt das soziotechnische Imaginäre zu bestimmen scheint (Maschew-
ski und Nosthoff 27.06.2017). In der Folge vermag sich das Unternehmen Zu-
ckerbergs trotz festgeschriebener Community-Standards oder der unternehme-
rischen Profitorientierung, das heißt konkreter: trotz der permanenten Intensi-
vierung des »Blickkontakt[s] zwischen seinen Nutzern und der Werbung seiner
Kunden« (Simanowski 2018: 26), weiterhin erfolgreich als neutrales Werkzeug
zu inszenieren.
Die kritische Einsicht, dass Technik theoretisch zwar als ›neutral‹ gedacht wer-
den kann, in realitas aber keineswegs als isoliertes Mittel auftritt, sondern stets in
Zwecke – ob politische oder ökonomische – und Kontexte eingebunden ist oder,
mit Herbert Marcuse gesprochen, nicht von ihrem »Gebrauch abgelöst werden
[kann]« (Marcuse 1967: 18),2 würde hingegen neue Schlussfolgerungen eröffnen.
Auch mit Marcuses ›gelegenheitsphilosophischem‹ Zeitgenossen Günther An-
ders ließe sich erkennen, dass eine spezifische Technik eine spezifische Nutzung
vorstrukturiert, dass sie womöglich – dies wird gerade im Falle des Algorithmus,
einer Handlungsanweisung aus »Logik + Kontrolle« (Kowalski 1979), flagrant –
Verhaltens- und Entscheidungsmuster präformiert, sie also »immer schon ein
bestimmtes Verhältnis zwischen uns und den Mitmenschen, zwischen uns und
2 | An dieser Stelle ließe sich – gleichwohl mit Akzentverschiebung – auch auf die Akteur-
Netzwerk-Theorie Bruno Latours verweisen, die einen Gegenstand während seiner Benutzung
ebenfalls als nicht neutral ansieht, sondern, in Verbindung mit einem Menschen, als hybriden
Akteur. Dieser sei mit einer spezifischen Agency, das heißt mit distinkten Handlungsmöglichkeiten
ausgestattet. Vgl. Latour 1994: 31 ff.
58 Felix Maschewski und Anna-Verena Nosthoff
den Dingen […] voraussetzt oder ›setzt‹« (Anders 1980: 217; vgl. Maschewski und
Nosthoff 2018a). In diesem Konnex ist weiterhin zu bemerken, dass es sich bei
einer Plattform wie Facebook keineswegs um ein bloßes ›Tool‹ der Vernetzung,
sondern vielmehr um einen Modus der Sozialisierung handelt, um einen Welt-
zugang, in dem sich eine historisch-ideologische – das heißt in diesem Fall eine
neoliberal-kapitalistische – Bedingtheit und damit nicht zuletzt ein spezifisches
›Regierungsprogramm‹ reflektiert und materialisiert. Demgemäß lässt sich auch
eine frühe Erkenntnis Marcuses für die gegenwärtigen ›Netzwerkpolitiken‹ und
die sie bestimmenden Sogkräfte fruchtbar machen:
»Nicht erst ihre Verwendung, sondern schon die Technik ist Herrschaft (über die Natur und
den Menschen), methodische, wissenschaftliche, berechnete und berechnende Herrschaft.
Bestimmte Zwecke und Interessen der Herrschaft sind nicht erst ›nachträglich‹ und von aus-
sen der Technik oktroyiert – sie gehen schon in die Konstruktion des technischen Apparats
selbst ein; die Technik ist jeweils ein geschichtlich-gesellschaftliches Projekt; in ihr ist pro-
jektiert, was eine Gesellschaft und die sie beherrschenden Interessen mit den Menschen
und mit den Dingen zu machen gedenken.« (Marcuse 1965: 127)
In diesen Ausführungen wird nicht nur deutlich, dass der Technik ihre Entste-
hungsbedingungen,Herkünfte undWeltbilder eingeschrieben sind, sondern dass
sie – und dies gilt umso entschiedener in einer digital vernetzten Welt – eine
eigene Dynamik und eine innere, integrierte und integrierende Logik ›projek-
tiert‹. Im Falle des ›sozialen‹ Netzwerks Facebook manifestiert sich diese in ei-
ner programmierten Entscheidungsarchitektur, die auf die Verschmelzung von
Überwachung und Unterhaltung zielt, dabei die Aufmerksamkeit und Interes-
sen der Nutzer_innen bündelt, ›nummeriert‹ und über die Pegelstände der Likes,
Shares etc. in eine zeitgenössische Kommunikationspraxis übersetzt. So ist das
Medium Facebook in Anlehnung anMelvin Kranzbergs (1986) berühmtes Gesetz
weder gut noch schlecht, noch ist es neutral. Denn Facebooks Plattformdesign be-
stimmt als Ökonomie des Spektakels, wie Roberto Simanowski (vgl. 2018: 42 f.)
ausführt, einerseits eine plattformökologische Polarisierung, die einen entschei-
denden, weil besonders einträglichen Faktor für den Kurs der Facebook-Aktie
bildet, andererseits eine Regierungskunst, die gegenwärtige Vernetzungen ent-
scheidungslogisch prägt. Wenn sich Regieren mit Michel Foucault ferner als der
Modus beschreiben lässt, »das mögliche Handlungsfeld anderer zu strukturie-
ren«, etabliert sich mit der »sozialen Infrastruktur« Facebook, die über persuasiv-
sophistische Interfaces ›regierungstechnisch‹ nicht nur »Anreize [bietet], verlei-
tet, verführt, erleichtert oder erschwert« (Foucault 2005: 286–287), sondern dabei
auch das Verhalten in Datenbanken erfasst, kalkuliert und antizipiert, ein ganz
eigenes, spielerisch umgarnendes, vor allem der Ermöglichung (nicht der Unter-
drückung) dienendes Paradigma:Was machst du gerade?
Netzwerkaffekte 59
Im Folgenden sollen einige psychodynamisch wirksameMechanismen analy-
siert werden, die nicht nur die algorithmische Voreingenommenheit, sondern vor
allem das umfassende ›Regierungsprogramm‹ Facebooks nachvollziehbar ma-
chen.
Jenseits von Gut und Böse: Facebooks Newsfeed
Schon Anfang der 1990er Jahre sprach Gilles Deleuze von flexibleren »Modula-
tionen« (Deleuze 1993: 255), die die Dominanz der gesellschaftsprägenden, insti-
tutionalisierten Disziplinaranstalten – vomGefängnis bis zur Kaserne – ablösten.
An deren Stelle träten »ultraschnelle Kontrollformen mit freiheitlichem Ausse-
hen«, wobei das dynamische Unternehmen die Stechuhr der Fabrik, das lebens-
lange Lernen die Schule ersetze. Genau in jener kontrollgesellschaftlichen Optik
scheint sich auch Facebook, das, obgleich expansiv ausgerichtet, als geschlossenes
System und damit als Einschließungstechnik gelesen werden kann, zu bewähren.
Denn es vermittelt durch die Installierung eines feedbacklogischen »demokra-
tisierten Panoptismus« (Bröckling 2007: 354) einen weicheren, dynamischeren
und – oberflächlich betrachtet3 – transparenteren Modus kommunikativer Kon-
trolle. In dieser Hinsicht bestimmt sich die Plattform auch als breit angelegte
»persuasive technology«, die nicht nur sklerotisch-disziplinargesellschaftliche
Strukturen überschreibt, sondern mit einer suggestiven Entscheidungsarchitek-
tur neue Verkehrsformen psychopolitischen Regierens und letztlich eine pro-
grammierte phänomenologische Alternativlosigkeit etabliert. So fasst Will Davies
pointiert zusammen:
»[T]he ultimate objective of internet companies such as Facebook is to provide the infras-
tructure through which humans encounter the world. […] According to this vision, when the
mind wants to know something, it will go to Google; when it wants to communicate with
4
someone, it will turn to Facebook.« (Davies 2018: 186)
3 | In diesem Zusammenhang wäre darauf hinzuweisen, dass der universalisierten Transpa-
renz im Zeitalter programmierter Infrastrukturen logischerweise immer das Gegenteilige als
Entstehungs- und Möglichkeitsbedingung vorausgeht: eine ganze Landschaft von Black Boxes,
die sich der Dekodierung sperren und mitunter auch von ihren Programmierer_innen nicht voll-
ständig zu durchschauen sind (dieser Zusammenhang verkompliziert sich insbesondere in Folge
des machine learnings). Vgl. hierzu etwa O’Neil 2017.
4 | In DatenGerechtigkeit beschreiben Frederike Kaltheuner und Nele Obermüller, wie die Al-
ternativlosigkeit zu Facebook gerade in sich wirtschaftlich entwickelnden Ländern eine neue
Dimension erreicht: Das prominenteste Beispiel, so die Autorinnen, sei »Internet.org, eine von
Facebook geleitete Initiative, die die mobile App ›Free Basics‹ betreibt.« Free Basics offeriert
dabei sowohl freien Zugang zu Facebook selbst, zum Messenger-Dienst Facebooks als auch zu
»einer kleinen Anzahl von Apps wie AccuWeather, BBC News und bis vor kurzem Wikipedia. […]
Durch derartige Angebote werden mittellose Nutzer nicht mit dem freien Internet, sondern mit
60 Felix Maschewski und Anna-Verena Nosthoff
Wenn sich der Einzelne erst einmal auf der Plattform eingeschrieben hat, geht
es Facebook zunächst darum, soviel Screenzeit und bewusste Aufmerksamkeit
wie möglich zu binden. Den Grundpfeiler dieser Operation bildet der aufmerk-
samkeitsökonomisch feingetunte Personalisierungsalgorithmus, ein Mechanis-
mus kybernetischer Rückkopplung, der ganz im Sinne der Logik Nobert Wieners
die Fähigkeit beschreibt, »zukünftiges Verhalten an den Erfolgen des vergange-
nen auszurichten« (Wiener 1988: 33), das heißt auf Basis der vorausgegangenen
In- und Outputs – von gewöhnlichen Likes bis hin zu Kommentaren – einen indi-
viduellen Neuigkeiten- und Nachrichtenstrom zu kuratieren. Dieser evolviert im
behavioristischen Reiz-Reaktions-Schema algorithmisch selbstlernend und lässt
sich als lukrative Informationsquelle des Systems Facebook begreifen. Zugleich
ist die Ausrichtung des individuellen Newsfeeds immer wieder selbst Verände-
rungen unterworfen: Wurden beispielsweise noch vor der Wahl Donald Trumps
geteilte Links von abonnierten Nachrichtenseiten favorisiert, lässt sich seither ein
Prozess der »Entinformationalisierung und Emotionalisierung« (Reckwitz 2017:
235) des Feeds diagnostizieren; eine Bewegung hin zu einer gesteigerten Verbrei-
tung audio-visueller Inhalte, sodass »moremeaningful interactions«, nicht länger
nur »relevant content« priorisiert werden (Hern 12.01.2018). Diese flexible Infor-
mationskuratierung folgt ganz Zuckerbergs eigener Unternehmensphilosophie:
»Facebook is a work in progress, and we are dedicated to learning and improving«
(Zuckerberg 16.02.2017).
In der Folge beschreibt sich derNeuigkeiten-Filter imKampf umdie Aufmerk-
samkeit seiner Nutzer_innen immer mehr als kybernetische »Affektmaschine«
(Reckwitz 2017: 239). Angezeigt wird vornehmlich das, was – gemäß der algo-
rithmischen Antizipation – die Einzelnen anspricht, eine Reaktion auslöst. Auf
emotional anregende, bebilderte Inhalte reagieren die Nutzer_innen bedeutend
häufiger, teilen das Gesehene schneller oder kommentieren es intensiver. Neben
einer »Ästhetik der Erlebnisgesellschaft« (Maschewski und Nosthoff 11.07.2018),
die das gefühlheischende Bild, Video oder Meme gegenüber dem sperrigen Text
privilegiert, verfestigt sich so eine aufmerksamkeitsökonomische Funktionslogik,
die »schon im Interesse seiner [Facebooks, Anm. d. Verf.] Aktionäre nicht das
Sachliche, Anstrengende oder gar Befremdliche, sondern die spektakulären, un-
terhaltsamen und bestätigenden Posts« (Simanowski 2018: 26) bevorzugt. Man
kann hier von einer programmierten ›Emotionskybernetik‹ sprechen, das heißt
von der Forcierung von ›Netzwerkaffekten‹, die eigene – auch selbstregulierende –
interaktive Prozesse motivieren und digitale Communities nicht nur in »nervöse
Systeme« (Franke, Hankey und Tuszynski 2017), sondern im Regelkreis kyber-
netischer Kommunikation immer wieder in neue »dynamische Gleichgewichte«
einer von Facebook dominierten Welt verbunden. Wenn Nutzer auf Links oder Inhalte außerhalb
des geschlossenen, kommerziellen Systems zugreifen möchten, erscheint eine entsprechende
Warnung, die sie auffordert, zusätzliches Datenvolumen zu kaufen.« (Kaltheuner und Obermüller
2018: 66 f.)
Netzwerkaffekte 61
(Pias 2003: 310) übersetzen. ›Soziale‹ Netzwerke markieren so einen Ort, an dem
Nachrichten – ob wahr oder fake – und die mit ihnen verbundenen Emotionen
zwar inHochgeschwindigkeit eskalieren, aber zugleich kanalisiert bleiben, sodass
sie eine beständige kommunikative, durchaus produktive Unruhe produzieren,
die das System am Laufen hält.
Wichtig für den endlosenNewsfeed, der sowohl als Projektionsfläche der Emo-
tionalisierung als auch als Entscheidungstool und individuelles Tribunal fungiert,
ist ferner die Generierung eines passgenauen Angebots.5 Die Relevanz des Ange-
zeigten wird zwar über das Potenzial emotionaler Affizierung definiert, ist dabei –
man kann mit Antoinette Rouvroy von »algorithmic reason« (Rouvroy 2013: 148)
sprechen – jedoch keineswegs irrational grundiert. Denn die Sortierung desNews-
feeds erfolgt nach Quantitäten, der statistischen Erhebung ›gefälliger‹ Beiträge,
in denen sich die Signatur der individuellen Präferenzen spiegelt. Dies bedeu-
tet in der Folge aber entgegen der Filterblasentheorie nicht zwangsläufig, dass
nur dasjenige angezeigt wird, was der individuellen Meinung entspricht. Denn
obgleich im Newsfeed ein »homophiles Prinzip« am Werk ist, die Annahme al-
so, nach der »Ähnlichkeit Verbindungen erzeugt« (Chun 2018: 121), stehen darin
politisch-kontroverse, wahre oder gar falsche Botschaften genauso ›gleichgültig‹
nebeneinander wie die Nachricht eines Amoklaufs neben den Hochzeitsbildern
einer Freund_in oder lustig-banalem cat content.
Die Buntheit und Varianz des Newsfeeds folgt dabei sowohl dem Gesetz der
Affizierung als auch der Wahrscheinlichkeit weiterer Verbreitung. So liegt für
Facebook, wie in dem die Kybernetik grundierenden Kommunikationsmodell
Claude Shannons und Warren Weavers, der Wert einer Nachricht weniger in
Inhalt oder Semantik, sondern allenfalls in deren formalen Informationsgehalt
begründet: »The twomessages betweenwhich onemust choose«, schreibtWeaver
in The Mathematical Theory of Communication, »can be anything one likes. One
might be the text of the King James Version of the Bible, and the other might be
Yes.« (Shannon und Weaver 1949: 9) Auch im ›sozialen‹ Netzwerk ergibt sich
der Wert einer Information in ganz ähnlicher Hinsicht aus der Wahl zwischen
Alternativen. Ganz im Sinne Shannons und Weavers gilt hier: Je größer der Pool
der möglichen Nachrichten, zwischen denen ein Einzelne_r entscheidet, desto
›unwahrscheinlicher‹ eine spezifische Nachricht und desto größer der informati-
ve wie kommerziell verwertbare Gehalt.
Der kybernetischen Maschine Facebook geht es also nicht um redaktionelle
Ausgewogenheit oder gesellschaftspolitische Dringlichkeit, sondern um das, was
im Guten wie im Bösen Klicks generiert und die Kommunikationsströme fluide
hält. Daher ist es auch nicht ungewöhnlich, dass in der Echokammer des digi-
talen Ichs Inhalte, die mit positiven Emotionen verbunden werden, nur einen
Scroll-Moment von solchen entfernt sind, die negative Affekte hervorrufen. Die
5 | Vgl. hierzu etwa die zuletzt durchaus kontrovers diskutierte Filterblasentheorie Eli Parisers
(2012).
62 Felix Maschewski und Anna-Verena Nosthoff
Effektivität der Filterblase zeichnet sich folglich nicht durch die vermeintliche Ko-
härenz des Angezeigten oder eine innere Harmonie aus. Sie äußert sich vielmehr
in der »großen Gereiztheit« (Pörksen 2018), einer polyvalenten Affektlage, in der
sich extreme Reaktionen kanalisieren und in Folge der binären Klick- und Ent-
scheidungsmodi forcieren.
Eine prägsame Dynamik, die diesen Prozess der Affizierung verstetigt, ist die
instantane Erneuerung der Informationsströme: Die »Eile ist das zentrale Merk-
mal der Klickkultur, denn in Facebooks Newsfeed ist nichts so alt wie ein Beitrag
vom Vormittag« (Simanowski 2018: 41). So korrespondiert jeder Besuch der Platt-
form für die Nutzer_innen nicht nur mit einer durch die Geschwindigkeit indu-
zierten Standardisierung und Simplifizierung (Roberto Simanowski hat beispiels-
weise wiederholt auf die vorherrschende, phatische Kommunikation in ›sozialen‹
Netzwerken hingewiesen (vgl. Simanowski 2016: 58)) oder der gesteigerten, zu-
weilen recht infantilen Visualisierung (Emoticons, GIFs, Memes etc.) der Kom-
munikation. Er birgt auch etwas Unvorhergesehenes, das es nicht zu verpassen
gilt. Die viel zitierte »fear of missing out« (FOMO) ist dabei ein kontaktlogisches
Phänomen natürlicher, wenngleich akkumulierter Konnektivität, das vor allem
technisch ermöglicht wird.
So erscheint beispielsweise jedes Mal, wenn die Nutzer_in auf dem Smart-
phone (in der Facebook-App) zur Aktualisierung der Timeline nach unten scrollt,
um wieder up to date zu sein, zunächst das Buffering-Symbol in schwingender
Rotation – der sogenannte »Pull-to-refresh-Mechanismus«. Die bei dieser – ky-
bernetisch gesprochen – »real time control« (Stafford Beer) der Nachrichtenströ-
me entstehende kurze Verzögerung ist funktional zwar unnötig, doch psycho-
logisch wirksam. Denn liest man ›soziale‹ Netzwerke wie Kathrin Passig auch
über deren »geheimnisenthüllende Funktion« (Passig 2013: 1018), so lässt sich
im Aufbau des Spannungsraums eine technologisch bedingte Erwartungslust de-
kodieren, die sich weniger als engagement denn als Suchtmittel beschreibt. Das
Buffering-Symbol erwecke, wie sein Erfinder Justin Rosenstein unlängst angab
(Lewis 06.10.2017), schon rein optisch den Eindruck einer slot machine, und so
scheint der Mechanismus nicht nur auf die psychodynamische Wirkung des ein-
armigen Banditen anzuspielen, sondern auch die Einsicht zu begründen, dass
das »Regime des affektiven Aktualismus« (Reckwitz 2017: 269) nicht von allein
entsteht. Es muss aktiv erzeugt werden.
Facebooks Sozialphysik des Anstoßes: Poking, Liking, Sharing
Die Gestaltung psychodynamischer Interfacedesigns geht auf die eigentlich wohl-
meinende Theorie des Nudgings zurück, deren Ziel es nach deren prominentes-
tenVertreternCass Sunstein undRichard Thaler ist, »das Verhalten derMenschen
zu beeinflussen, um ihr Leben länger, gesünder und besser zumachen« (Sunstein
und Thaler 2009: 15). Um dies zu erreichen, müssten natürliche Bequemlich-
keiten des Menschen im Zeichen eines »libertären Paternalimus« (ebd.) ausge-
Netzwerkaffekte 63
nutzt, das heißt Infrastrukturen »ganz im Geiste der Kybernetik« (Stalder 2016:
229) umgestaltet und gerahmt werden, sodass es den Individuen fast unmerklich
leichter falle, sich »klüger« zu entscheiden. Die subtile Vorgehensweise wurde
– trotz der Kritik, die im Nudging ein »behavioristisches Konditionierungspro-
gramm« (Bröckling 2017: 189) ausmachte – in den letzten Jahren, besonders im
Zuge der Vergrößerung der zur Verfügung stehendenDatenmenge (Big Nudging),
in der Politik als effektives ›Regierungswerkzeug‹ identifiziert, um die Bürger_in
vor Fehlurteilen und einer falschen Intuition besser zu schützen (vgl. Bröckling
2017: 186 f.). Doch auch Unternehmen wie Facebook agieren als choice architects
und nutzen suggestive Mechanismen, um ein bestimmtes Verhalten ihrer User
im Modus von Reiz und Reaktion, Anstoß und Ausführung wahrscheinlicher zu
machen.
Während die Aufgabe der Push-Nachricht auf dem Smartphone noch darin
besteht, die Nutzer_in auch mit Neuigkeiten – von friend requests bis hin zu Li-
kes – zu versorgen, um sie alsbald zurück in den Loop des Nachrichten- und
Anzeigenstroms zu locken, werden die notifications auf der Plattform selbst mit
Signaltönen untermalt oder als rot aufleuchtendes Glöckchen dargestellt. Tristan
Harris vom Center for Humane Technology erklärt dazu, dass rot wie eine »trig-
ger colour« wirke, deren Erscheinen zur Interaktionmotiviere (Lewis 06.10.2017).
So markiere sie ein sanftes Stimulans, das mehr zum Reflex denn zur Reflexion
verführt, das heißt die Nutzer_innen nicht nur ›alarmiert‹, sondern beständig zu
mehr engagement in-formiert.
Der Like-Button ist derweil der wichtigste Aspekt dieser suggestiv wirksamen
Infrastruktur.6 Sean Parker nannte ihn einen »Dopamin-Schub«, ein Symbol
sozialer Bestätigung, das einen Glücksstoß versetzt und im Rauschen des al-
gorithmisch kuratierten Newsfeeds bei jeder Betätigung einen tieferen Einblick
ins digitale Ich ermöglicht: Schon für die Kybernetik Wieners signalisiert jede
Entscheidung eine Information, und so bedeutet jede Reaktion in den Rückkopp-
lungsschleifen Facebooks (zum Beispiel für soziale Affirmation, Anteilnahme
etc.) nicht nur ein Sehen und Gesehenwerden, sondern fügt dem Profil der Nut-
zer_in auch einen weiteren Datenpunkt hinzu, der über deren Konstitution –
6 | Einige weitere ›anstößige‹ Methoden listete zuletzt auch der Forschungsbericht »Deceived
by Design« der norwegischen Verbraucherschutzorganisation Forbrukerrådet auf, der unter an-
derem die Veränderungen der Facebook-AGB im Rahmen der EU-Datenschutzgrundverordnung
untersuchte. Besonders konzentrierten sich die Forscher_innen auf »dark patterns«, ein mani-
pulatives Design, das das Verhalten der User subtil beeinflusst, das heißt es ist »used to nudge
users towards privacy intrusive options. The findings include privacy intrusive default settings,
misleading wording, giving users an illusion of control, hiding away privacy-friendly choices, take-
it-or-leave-it choices, and choice architectures where choosing the privacy friendly option requi-
res more effort for the users.« »Deceived by Design. How tech companies use dark patterns to
discourage us from exercising our rights to privacy«, 27.6.2018: https://fil.forbrukerradet.no/wp-
content/uploads/2018/06/2018-06-27-deceived-by-design-final.pdf. S. 3.
64 Felix Maschewski und Anna-Verena Nosthoff
vom ökonomischen Status über das heimliche Begehren bis zur mentalen Disso-
nanz – Auskunft gibt. Während der User also einer gewissen Bewertungsmacht
frönt, Likes oder Pokes (Anstupser) verteilt und sich im sozialen Austausch übt,
werden seine Präferenzdaten beim stillen, nicht adressierten Empfänger Face-
book in einer Art »Stimmungsmanagement« erfasst. Das Unternehmen weiß
etwa, wann sich ein Teenager »gestresst«, »nervös«, »überfordert«, »unsicher«
oder »wertlos« fühlt, wann er einen »Selbstbewusstseinsschub benötigt«, und es
für Anzeigekunden entsprechende Werbung schalten kann (Levin 01.05.2017).
Anders als sein Ex-Kollege Zuckerberg bezeichnete Parker den Like-Button so
auch nicht als »really valuable«7, sondern als »social-validation feedback loop […]
exploiting a vulnerability in human psychology« (Solon 09.11.2017).
Die ›Menschenkenntnis‹ der Plattform beschränkt sich dementsprechend
nicht auf die emotionalen Schwerkräfte, sondern ermöglicht auch ein breiteres
psychologisches Verständnis. Bereits 2013 legte die unter anderem von dem um-
strittenen Stanforder Verhaltenspsychologen und Datenanalysten Michal Kosin-
ski durchgeführte Studie Private traits and attributes are predictable from digital
records of human behavior (2013) dar, dass man anhand von Facebook-Likes die se-
xuelle Orientierung, ethnische Zugehörigkeit, religiöse oder politische Ansichten
etc. mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagen könne. Zwei Jahre später lieferte
die Folgestudie Computer-based personality judgments are more accurate than those
made by humans (2015) noch weitere Erkenntnisse in puncto mathematischer
Genauigkeit der Vorhersagen, sodass klar wurde, dass man Individuen auf der
Basis von nur 10 »Gefällt mir«-Angaben besser profilieren könne als eine Ar-
beitskolleg_in, mit 70 besser als eine Freund_in, mit 150 besser als einen nahe
stehenden Verwandte_n und mit 300 sogar besser als die Partner_in.
Auf der Basis derartiger personenbezogener Informations- und Datenerhe-
bungen, die aus dem feedbacklogischen Zusammenspiel von Reiz (Newsfeed)
und Reaktion (Like) hervorgehen, kristallisiert sich einerseits ein eigenes Wis-
sensregime heraus, das ein Unternehmen wie Facebook eine sowohl sozial als
auch epistemologisch wirkmächtige Position einnehmen lässt. Andererseits ver-
weisen die Erhebungen auf eine ›Systematik‹, in der die mathematische Bedin-
gung der Technologie offen zu Tage tritt. Denn Kommunikation, Wissen und so-
ziales Verhalten, genau dafür sorgen die ›sozialen‹ Netzwerke, werden hier we-
niger bedeutungsabhängig interpretiert als vielmehr ins Numerische überführt
und maschinell lesbar gemacht. In diesem Prozess nimmt die Vorstellung von
Kommunikation, auch hier folgt man ganz Shannon und Weaver, bizarre Züge
an: »Der Informationsbegriff […] hat nichts mit Bedeutung zu tun […], weil er
sich nicht mit einer einzigen Nachricht befasst, sondern vielmehr mit dem sta-
tistischen Charakter eines ganzen Ensembles von Nachrichten.« (Shannon und
7 | Zuckerberg: »The like button is really valuable because it’s a way for you to very quickly
express a positive emotion or sentiment« (Costine 11.12.2014).
Netzwerkaffekte 65
Weaver 1949: 27, Übersetzung d. Autor_innen) Trotz – oder gerade wegen – der ei-
gensinnigen Abkehr von inhaltlichen Spezifika glaubte Weaver, seine neue Theo-
rie der Kommunikation habe »letzten Endes […] so durchschlagend reinen Tisch
gemacht […], dass man nun, vielleicht zum ersten Mal, bereit ist für eine wirkli-
che Theorie der Bedeutung« (ebd., Übersetzung d. Autor_innen). Dieser Gedanke
erfährt einerseits in Mark Zuckerbergs 2015 formulierter Wette auf »ein funda-
mentales mathematisches Gesetz«, das unseren »sozialen Beziehungen zugrun-
de liegt und die Balance bestimmt, für wen und was wir uns interessieren«, ein
veritables Echo, um doch andererseits in einer experimentellen Plattformpolitik
– einer Art Social Engineering in Echtzeit – ganz praktisch weiterentwickelt zu
werden. Wie wir im Folgenden herausstellen, etabliert sich im Zeichen des ma-
thematischen Kommunikationsverständnisses nicht nur das, was manmit Dieter
Mersch als eine »neue Form technoider Sozialität« (Mersch 2013: 53) bezeichnen
kann, sondern auch eine kybernetische Gouvernementalität, die insbesondere
machtpolitisch zu dekodieren ist.
2 Kybernetischer Plattform-Experimentalismus
Zuckerbergs Wette auf eine numerische Sozialität spiegelt sich, praktischer ge-
wendet, in den privatwirtschaftlich gefärbten Redesigns menschlicher Beziehun-
gen, die zuletzt vor allem politische Effekte zeitigten. Dabei lassen sich nicht nur
die von Kosinskis Forschungen inspirierten Verführungskünste opaker Firmen
wie Cambridge Analytica als Bestrebungen lesen, das Soziale in einer bestimmten
Weise ein- und auszurichten. Auch Facebooks eigene Versuche in puncto Steige-
rung der Wahlbeteiligung im Rahmen der US-amerikanischen Kongresswahlen
2010 durch die Einblendung sogenannter »I-voted«-Buttons sind Ausdruck des-
sen, was man einen grundlegenden datenbasierten Experimentalismus nennen
könnte. Zeigte man Facebook-Nutzer_innen damals in deren Timeline an, dass
enge Freund_innen von ihnen gewählt hatten, stieg die Wahrscheinlichkeit, dass
sie selbst wählen würden, immerhin um 0.14 Prozent (vgl. Fichter 2017; vgl. Bond
u. a. 2012). Zwei Jahre später veröffentlichten Facebook-Forscher im Verbund mit
Kommunikationswissenschaftlern eine weitere Studie, die eine Korrelation zwi-
schen wahrgenommenem Social-Media-Inhalt und emotionaler Stimmung auf-
zeigte: Blendete man den Nutzer_innen weniger positive Nachrichten und Pos-
tings ein, produzierten diese in statistisch signifikanter Weise mehr negative Re-
aktionen und Kommentare – die Forscher nennen diesen Effekt »emotionale An-
steckung« (Kramer, Guillory und Hancock 2014). In beiden Fällen fokussierten
die facebookeigenen Forschungen die Fragen, inwiefern und durch welche Tech-
nologien sich das Aktivitätslevel der Nutzer_innen steigern beziehungsweise sich
ein spezifisches Verhalten initiieren ließe. Gleichzeitig stützten sich beide Ver-
suchsdesigns auf die Mechanismen der positiven Rückkopplung (Feedback) im
66 Felix Maschewski und Anna-Verena Nosthoff
Verbund mit einem nunmehr als adaptiv oder gar imitativ verstandenen Verhal-
ten.
Es ist aufschlussreich, in diesem Zusammenhang die hier wirksamen kyber-
netischenGrundannahmen – auch in ihrer Historie – kurz zu skizzieren: Denn in
der Tat lässt sich die von Facebook implizit vorausgesetzte und gleichzeitig prak-
tisch forcierte Subjektivität durchaus – und vielleicht in erster Linie – ideenge-
schichtlich auf die Wissenschaft der Regelung und Steuerung von Mensch und
Maschine zurückführen. Deren Grundannahme beruht, so stellt Tiqqun heraus,
auf einer
»radikal neue[n] Konfiguration des individuellen oder kollektiven Subjekts im Sinne einer
Entleerung. Sie disqualifiziert die Innerlichkeit als Mythos […]. Es geht nicht mehr darum,
das Subjekt aus den traditionellen äußeren Bindungen herauszureißen, wie es die liberale
Hypothese vorsah, sondern darum, eine soziale Bindung zu rekonstruieren, indem dem
Subjekt jede Substanz entzogen wird. Jeder muss zu einer fleischlosen Hülle werden, zum
bestmöglichen Leiter der gesellschaftlichen Kommunikation, zum Ort einer unendlichen
Rückkopplung, die reibungslos vonstattengeht.« (Tiqqun 2007: 32)
Tatsächlich stützt sich die Kybernetik, mal explizit, mal implizit, auf das Bild ei-
nes nurmehr reagierenden – dabei jedoch nicht passiv verstandenen, sondern
vielmehr aktivierten – Subjekts, wobei vor allem die In- und Outputs für eine
gelingende Steuerung, die im Kontext der Programmatik von Facebook und Co.
zunehmend auf eine eigeninitiierte Selbstregelung setzt, relevant scheinen.8 So
untersuchte etwa Gregory Bateson (1960) das »adaptive Verhalten« von Indivi-
duum und System und argumentierte zudem der kybernetische Staatsrechtler
Eberhard Lang für eine existenzielle »Weisungsbedürftigkeit« (Lang 1966: 63 f.)
des Menschen, zu deren Schaffung auch – diese Stoßrichtung spiegelt gegenwär-
tig auch Kosinskis Forschung – »Psychoanalyse, Psychologie des Unbewußten«
wie auch die »Verhaltensforschung« (ebd.) beitragen könne. Gleichzeitig sei, wie
Lang weiter ausführt, »die wirkliche Natur des Menschen […] mit seiner Bequem-
lichkeit, Trägheit, Hartnäckigkeit, seinen Phantasiegebilden, seiner mangelnden
Übersicht« (ebd.) zu erfassen.
Vor diesem Hintergrund korrespondierte die Kybernetik für Norbert Wiener
mit einer Kunst der Antizipation, die nicht nur darum bemüht war, Verhalten
vorauszusehen, sondern es vielmehr durch die kontinuierliche Einspeisung neu-
er Informationen vorhersagbar, das heißt wahrscheinlicher, zu machen. Nahm
diese Praxis einer »Gouvernmentalität der Zukunft« (Mersch 2013: 54) ihren Aus-
gang in den militaristisch grundierten Forschungen rund um den sogenannten
anti-aircraft predictor, in deren Zuge Wiener bereits die erratischen Bewegungen
des Piloten feedbacklogisch und im Kontext einer zu optimierenden Interaktion
8 | Vgl. zur Distinktion – auch in kybernetikgeschichtlicher Hinsicht – zwischen Steuerung und
(Selbst-)Regelung ausführlicher Maschewski und Nosthoff 2019.
Netzwerkaffekte 67
zwischen Mensch und Maschine deutete, formulierte ein gemeinsam mit Julian
Bigelow und Arturo Rosenblueth (1943) verfasstes Paper schließlich eine neobe-
havioristische Theorie des menschlichen Verhaltens. Dieses entwarf eine fundie-
rende Hypothese für die »Grundwissenschaft« (Heidegger) Kybernetik selbst –
und damit notwendigerweise auch für die sich spätestens seit den 1970er Jahren
fortlaufend ereignende umfassende Kybernetisierung des Sozialen:9
Man entschied sich,
»Organismen und Objekte als ›Black Boxes‹ zu betrachten, sich also nicht mit Spekulationen
über ihre interne Organisation aufzuhalten, sondern sie hinsichtlich objektiv messbarer
Reize und Reaktionen zu untersuchen. Einmal mehr wurde hervorgehoben, dass Fragen
nach Materialität, Substanz oder ›Wesen‹ der Untersuchungsgegenstände vernachlässigbar
waren. Was zählte, war lediglich ein abstraktes ›Verhalten‹, das im weitestmöglichen Sinne
definiert wurde als ›any change of an entity with respect to its surroundings‹«. (Seibel 2016:
96)
Im Zuge der von Tiqqun beschriebenen »Entleerung« des Subjekts wurde die
Innerlichkeit sodann als weites Experimentierfeld aufgefasst, das es fortan – mit-
unter über die Gestaltung von Umwelten – zu bespielen galt. In dieser Hinsicht
sind auch die bereits erwähnten Experimente der »Entscheidungsmaschine«
(Wiener 1988) Facebook keineswegs darauf ausgerichtet, in irgendeiner Form die
Beweggründe für individuelles Verhalten zu untersuchen. Vielmehr geht es bei
ihnen einzig ummessbare In- undOutputs – um quantifizierbare Reaktionen, die
ökonomisch verwertbar sind. Dementsprechend lassen sich die verhaltenspsycho-
logischen Taktiken Facebooks (von seiner Struktur unablässiger und beständiger
Aktivierung über die bereits charakterisierten digitalen, plattformeigenenNudges
(notifications, Push-Up-Nachrichten etc.) bis hin zur Instrumentalisierung von
sogenannten »Third-Party-Actors«, wie die bereits erwähnten experimentellen
Versuche) als systematische Bestrebungen im Kalkül einer neoliberalen Verwer-
tungslogik lesen. In dieser Perspektivierung erscheinen sie als ökonomische
Incentivierungen, die umso besser funktionieren, je stärker man sich auf eine
kybernetisch durchdesignte Kommunikationsstruktur und entsprechende Beha-
viorisierungen kapriziert. Mit dem von Wiener akzentuierten militaristischen
Freund-Feind-Schema eint Facebooks Plattformpolitik dann die Absicht, Komple-
xität und Kontingenz möglichst in Echtzeit und selbstregulativ handhabbar zu
machen.
9 | Vgl. hierzu die Diagnosen von Tiqqun 2007, Hagner und Hörl 2008, Mersch 2013 und Gallo-
way 2004, die je – in unterschiedlicher Stoßrichtung und Perspektivierung – die These vertreten,
dass der gegenwärtige Prozess der Digitalisierung in erster Linie unter den Vorzeichen einer
umfassenden Kybernetisierungsbewegung zu deuten ist.
68 Felix Maschewski und Anna-Verena Nosthoff
Dabei geht die plattformlogische Formalisierung und Funktionalisierung der
Kommunikation, hier folgt man ganz Shannon undWeaver, mit einer paradigma-
tischen Korrelation einher, die dasMaß an Freiheit in Abhängigkeit zur Anzahl an
Wahlmöglichkeiten setzt. Demgemäß gilt auch für Facebook ein weiteres simples
kybernetisches Postulat: Je größer die Auswahl, desto größer die Freiheit. Somün-
det die Mathematisierung der Kommunikation nicht nur in der Quantifizierung
des Gesendeten und Entschlüsselten, sondern auch in einem wesentlich nicht-
normativen Verständnis von Freiheit; in einer Freiheit also, die man nurmehr
im Rahmen einer möglichen Entscheidung zwischen vorgegebenen Alternativen
verortet und als potenziell Kontrollierbares zu operationalisieren sucht. In der
Konsequenz funktioniert effektive Beeinflussung, das ist auch den nichtgewähl-
ten Regent_innen der Plattformen bewusst, nicht länger klassisch-disziplinarisch
über die Internalisierung extern vorgegebener Normen, sondern vielmehr über
die Ausrichtung der Affekte. Entsprechend lassen sich ganz neue Formen der Re-
gulierung und nicht zuletzt auch der Regierung ausmachen, die im Folgenden
beleuchtet werden.
3 Das Verschwinden des Subjekts
Beschrieb Foucault noch die Orientierung an numerischen Statistiken als cha-
rakteristisch für die klassisch-biopolitisch geregelte Bevölkerung, etabliert sich
im Zusammenhang der kybernetischen Versöhnung von Freiheit und Kontrolle
eine Transformation der Regierungstaktik: Diese operiert mit immer komplexer
werdenden Datenmengen (Big Data), denen keine stützende Hypothese, keine
vorgeordnete Theorie oder Annahme mehr zugrundeliegt. Vielmehr zielt sie auf
die bloße Operationalität feedbackbasierter Rückkopplungen. Inhalt und Seman-
tik, der Appell an das individuelle Gewissen, die Interpellation des Subjekts wie
auch die Intentionen oder Beweggründe einer Handlung, der Umweg über das
reflexive Vermögen des Einzelnen und nicht zuletzt die Internalisierung spezifi-
scher Normen spielen für die Ab- und Ausrichtung des Verhaltens lediglich eine
untergeordnete Rolle. Vor dem Hintergrund dieser neuen datenbasierten Regie-
rungskunst ersetzt die Operation mit Korrelationen den linearen Fokus auf Kau-
salität, die mit Wahrscheinlichkeiten kalkulierende, prädiktive Antizipation die
Ursachenforschung.
Mitunter lässt sich also ein Gestaltwandel der biopolitischen Regulierung10
erkennen: Beschrieb Foucault einst, wie die Familie ihre Funktion als Symbol-
bild im Zuge der Gouvernementalisierung des Staates verlor und sukzessive zu
einemmarginalen Faktor in einer umfassender angelegten, mathematisch reprä-
sentierbaren Bevölkerung wurde (vgl. Foucault 2006: 143–163), verliert das Indi-
10 | Vgl. für eine Interpretation Facebooks im Kontext der Foucaultschen Überlegungen zur
Biopolitik Herder 2018.
Netzwerkaffekte 69
viduum als isoliertes Subjekt in der Netzwerkgesellschaft seinen Ort. Seine Er-
setzung durch einen »black-boxed actor« (Galloway 12.04.2010) geht dabei ein-
her mit einer Verortung im Kontext, das heißt im Rahmen von Relationen, Be-
ziehungen und Umwelten. Die Konturen des Individuums werden in der Folge
porös, die Distinktion zwischen Innen und Außen, zwischen dem Privaten und
Öffentlichen obsolet, sodass das Subjekt sich zunehmend auf eine Schalt- und
Relaisstation gesellschaftlicher Verkehrssysteme reduziert. Die familienbezoge-
ne Symbolpolitik der feudalen Gesellschaft kehrt dabei allenfalls unter dem Em-
blem einer globalen ›Community‹ zurück, die in der Diktion Facebooks jedoch
nichts weiter markiert als einen leeren Signifikanten, der zu besetzen versucht,
was auch im neo-feudalen System im Verschwinden begriffen ist. Denn im Zu-
ge von digital-korrelativen Erzeugungsmechanismen ist das Individuum im klas-
sisch repräsentativen Sinne kaum noch sichtbar – allenfalls kennzeichnet es ei-
nen Knotenpunkt im Zusammenhang mit sich ähnlich Verhaltenden, es bewegt
sich immer im Kontext von patterns, ist mehr Profil denn Subjekt. »Das Subjekt
verschwindet«, schrieb bereits Jean Baudrillard vor dem expliziten Hintergrund
eines umfassenden Kybernetisierungsprozesses über diese breit angelegte Auflö-
sungserscheinung: »[D]as Subjekt des Willens, der Freiheit, des Vorstellens, das
Subjekt der Macht, des Wissens, der Geschichte verschwindet, aber es lässt ein
Gespenst zurück« – einen digitalen Doppelgänger, der »alles umhüllt und in eine
riesige Oberfläche verwandelt, die ein leeres, der Realität entfremdetes Bewusst-
sein widerspiegelt« (Baudrillard 2008: 18).
Algorithmisch generierte Empfehlungen oder der Newsfeed Facebooks über-
zeugen dabei nicht mit Inhalten, sondern adressieren eine Schwarmintelligenz,
der es ratsam scheint, zu folgen: Kunden, die sich für diesen Artikel interessierten,
interessierten sich auch für … Ein Freund hat dich dazu eingeladen, eine Seite mit
»Gefällt mir« zu markieren. Solche Diktionen und Direktionen zielen weniger auf
das individuelle Profil als auf die Verbindungen zwischen Profilen, das mathe-
matisch abbildbare Verhalten zu etwas. Der Pionier des gegenwärtigen digitalen
Netzwerk-Engineerings und Direktor des MIT-Media-Labs, Alex Pentland, nennt
diesen zwischenmenschlichen Zusammenhang »peer-to-peer behavior« (Pent-
land 04.03.2014) und bezieht sich damit auf die Tatsache, dass erwünschte Hand-
lungen umso wahrscheinlicher sind, je enger die Bindung zu solchen Menschen
ist, die sich bereits wunschgemäß verhalten. Im Kontext des »I-voted«-Buttons
etwa stieg die Wahrscheinlichkeit dafür, dass jemand wählen ging, erst dann
signifikant, wenn enge Freund_innen dies ebenso taten. Der simple, aber wirk-
same Imperativ der Aktivierung lautet für Pentland diesbezüglich: »Engagement
requires interaction« (Pentland 2014: 77).
In dieser systemischen Betrachtungsweise geht es also kaum mehr um Re-
gulierungsmaßnahmen, sondern um die Antizipation der kommenden Bewe-
gung(en) unter besonderem Einbezug der Umwelten. Neben den ›Netzwerkaf-
fekten‹ konturiert sich hier die Hypostasierung einer neuen anthropologischen
Prämisse, die auch den Theorien des Nudgings zu Grunde liegt: der des homo
70 Felix Maschewski und Anna-Verena Nosthoff
imitans, des sich anpassenden, sich beständig ausrichtenden und auszurechnen-
den Akteurs.11 Genereller gesprochen wird das Subjekt über ein ihm vorausge-
hendes und vorgeordnetes Netz definiert und nurmehr als zu behandelndes Ob-
jekt in einer Prozesslogik wahrgenommen. Mit Antoinette Rouvroy kann man so
schließlich eine ironische – eher dialektische – Wendung deduzieren, denn das
System »vermeidet sorgfältig jegliche direkte Konfrontation und den Zusammen-
stoßmit Menschen aus Fleisch und Blut«, sodass das Subjekt, das zwar beständig
emotional affiziert wird, letztlich nur noch als »ein sich beständig entwickelnder
›Datenkörper‹« auf den Plan – und somit eben nicht mehr in Erscheinung – tritt
(Rouvroy 2013: 159, Übersetzung der Autor_innen). Daher bedarf es auch kaum
mehr »›Normen‹, die […] für Individuen verständlich und verfügbar bleiben, da-
mit diese ihr Verhalten vergleichen und abstimmen können« (ebd., Übersetzung
der Autor_innen). Normative Festschreibungen sind zur flexiblen Ausrichtung
und Bahnung der digitalen Kanäle nicht länger relevant:
»In such a governmental context, the subjective singularities of individuals, their personal
psychological motivations or intentions do not matter. What matters is the possibility to
link any trivial information or data left behind or voluntarily disclosed by individuals with
other data gathered in heterogeneous contexts and establish statistically meaningful corre-
lations. The process bypasses individual consciousness and rationality […] and produces
their ›effects of government‹ by anticipatively ›adapting‹ the informational and physical
environment of persons according to what these persons are susceptible to do or wish, not
by adapting persons to the norms which are dominant in a given environment.« (Ebd.)
In diesem Zusammenhang lässt sich auch die Taktik des Mikrotargetings lesen,
eine individualisierte Bespielung algorithmisch ermittelter Profile mit sogenann-
ten dark ads, die der Öffentlichkeit weder zugänglich noch für sie nachvollziehbar
sind. In dieser opaken Praxis manifestiert sich nicht nur ein neuer Strukturwan-
del, sondern auch die Abwesenheit jeglicher Möglichkeit, überhaupt normative
Diskurse zu führen, geschweige denn sich – klassisch diskurstheoretisch gespro-
chen – über den deliberativen Austausch zu den artikulierten Inhalten zu posi-
tionieren. Das rekursive Paradoxon liegt hier allein schon darin begründet, dass
11 | Rainer Mühlhoff hat in ganz ähnlicher Hinsicht unter besonderer Berücksichtigung des
»user experience designs« drei grundierende Strukturmerkmale für die die Unmündigkeit der
User gezielt ausnutzende und verstärkende Interaktionsmodi mit digitalen devices aufgezeigt:
Nutzerverhalten gilt demnach als »auf einer prä-reflexiven, mit sozialen und affektiven Stimuli
arbeitenden Ebene beeinflussbar. […] Es besteht die Tendenz, Nutzerverhalten flächendeckend
statistisch zu vermessen und auf Grundlage solcher Daten prädiktiv zu modellieren.« Zudem wer-
den »Einblicke in die technischen Strukturen, Algorithmen und Plattformen […] der durchschnitt-
lichen Nutzer_in gezielt vorenthalten; der verständige Umgang damit bleibt den technologisch
versierten Menschen vorbehalten« (Mühlhoff 2018: 551).
Netzwerkaffekte 71
Normen ihrerseits idealiter Ergebnisse eines möglichst rational grundierten ge-
sellschaftlichen Aushandlungsprozesses sind – und dieser wiederum in einem
essenziellen Spannungsverhältnis mit der privatisierten und aufmerksamkeits-
ökonomisch orchestrierten Ausrichtung zeitgenössischer Plattformen steht.
Selbst dort, wo Normen noch partiell Entscheidungsmacht ausstrahlen – et-
wa bei der Frage nach Zensur von Fotografien und Videocontent auf Facebook –
werden diese sukzessive Teil eines entscheidungslogisch vorstrukturierten Pro-
gramms, verkürzt auf einen Klick auf skalierbare Optionen, die wiederum allen-
falls Big-Data-basierte und -generierte Zugehörigkeiten erzeugen. So schreibt Zu-
ckerberg in seinem Manifest Building Global Community Anfang 2017:
»The guiding principles are that the Community Standards should reflect the cultural norms
of our community, that each person should see as little objectionable content as possible,
and each person should be able to share what they want while being told they cannot share
something as little as possible. […] The idea is to give everyone in the community options
for how they would like to set the content policy for themselves. Where is your line on
nudity? On violence? On graphic content? On profanity? What you decide will be your
personal settings. We will periodically ask you these questions to increase participation
and so you don’t need to dig around to find them.« (Zuckerberg 02/16/2017)
In dieser Fokussierung auf Aktivierung und Skalierbarkeit, derMathematisierung
des Normativen, vermittelt Facebook also keine einseitig aufgeladenen Bilder, kei-
nen dezidierten Inhalt (die Firma vermarktet genau auf dieser Basis auch so ݟber-
zeugend‹ und effektiv die These von der vermeintlichen eigenen ideologieresis-
tenten ›Neutralität‹) und verfolgt keine artikulierte politische Agenda: »I’ve spent
a lot of time over the past year reflecting on how we can improve our commu-
nity governance. Sitting here in California, we’re not best positioned to identify
the cultural norms around the world« (ebd.), schreibt Zuckerberg vermeintlich
bescheiden und inklusiv in seinem Manifest. Das »Hey, du!«, in dem Althusser
noch den auffordernden Gestus klassischer Ideologien versinnbildlicht sah, ver-
liert in der Folge seinen verordnenden Tonfall. Stattdessen bemüht die Plattform-
logik vielmehr das, was Dieter Mersch unter indirektem Bezug auf die berühmte
Marxsche Formel vom sich selbst verwertendenWert als »Kommunikation hecken-
de Kommunikation« (Mersch 2013: 41) bezeichnet: Ein panta rhei der Kommunika-
tion, dem es einzig um die Aufrechterhaltung ihres eigenen Fließens geht. Das
Individuum wird dabei gezielt angesprochen – jedoch vor dem Hintergrund ei-
ner größer angelegten Entpersonalisierung, die sich durch die opake Schichtung
des Anzeigenmarketings und umfassende Black Boxes ihren Kanal bahnt: Wer
oder was das Targeting und mit ihm subtile Verhaltensmodulation betreibt, wer
oder was die individuelle »line on nudity« oder »on violence« für die passgenaue
Ausrichtung welcher Anzeige nutzt, bleibt – trotz diverser Transparenzinitiativen
und -applikationen – weitestgehend unklar (vgl. Pasquale 2015; Christl und Spie-
kermann 2016).
72 Felix Maschewski und Anna-Verena Nosthoff
Die Architekt_innen der Infrastruktur jedenfalls kümmert insgesamt weni-
ger das, was explizit durch den Informationskanal fließt, als vielmehr der Kanal
selbst. Für Facebook ist das Gesagte nicht von Belang, allenfalls die Abweichung
vom vorgegebenen Register, die Unterbrechung oder Störung des Flusses selbst
wird registriert – als noise, Sand im Getriebe, der entweder gleichsam als wei-
tere Information in den Dienst der universellen Einhegung genommen wird –
oder aber, als Anderes, Nicht-Einhegbares (wie im Falle von übertriebenem Hate
Speech, Selbstmord- und Enthauptungsvideos), zensiert werden muss. Auch die-
ses reduktive Verständnis lässt sich ideengeschichtlich auf eine urkybernetische
Prämisse zurückführen: die Annahme einer notwendigen Korrelation zwischen
dem Ausmaß an Demokratisierung und der Intensität der Kommunikation, die
letztlich die Konzentration auf die alleinige Regelung und Ausrichtung von Kom-
munikationsströmen auf den Plan ruft, wobei deren (politische) Inhalte und Se-
mantik kaum mehr eine Rolle spielen.
Dieser Facette entspricht im Kontext der netzwerklogisch durchdrungenen
und plattformbasierten Gegenwartskommunikation eine entsprechende Präfor-
mierung wie auch die immer offenkundiger werdende Tatsache, dass das »ver-
netzte Soziale ein entscheidungslogisch ›gerichtetes‹ und damit verschlossenes
Soziales ist« (Mersch 2013: 65). Dieter Mersch hat darauf hingewiesen, dass der
Shannon-Weaversche Informationsbegriff in dieser Hinsicht vor allem homolog
zu verstehen ist, weil er immer schon auf eine »Strukturalität« verweist. So rekon-
struiert er »nicht den intuitiven Begriff der Information, sondern definiert ihn im
Rahmen des mathematisch Modellierbaren« (ebd.: 61). Aus dieser Perspektive er-
scheinen diverse Facebook-Tools allenfalls wie eine technologisch implementier-
te Verlängerung dieses frühen informationstheoretischen Paradigmenwechsels:
Exemplarisch wird dem Individuum eine Vielzahl an Variablen und Optionen ge-
boten – auf Facebook gibt es mittlerweile etwa sechzig potenzielle Geschlechter
sowie eine beständig wachsende Zahl an Emoticons, während der Messenger di-
verse 3D-Masken mit Spezialeffekten bietet –, doch jenseits der breiten Auswahl
wird vor allem eine konstitutive Logik flagrant, die die Modi der Responsivität
und deren ertragreiche Verwertungsmöglichkeiten im kybernetischen Kapitalis-
mus entscheidend prägt. Je präziser dieWahl, je spezifischer die Selektion inmitten
eines immer größer werdenden Spektrums an Auswahlmöglichkeiten, desto de-
finierter das individuelle Profil und – mit Shannon und Weaver gedacht – desto
wertvoller, das heißt aufschlussreicher die Information. Andreas Bernard verweist
so folgerichtig auf das Paradox, »dass die Freiheitsversprechen der Pionierjahre
zwar weiterhin die ideologischen Grundlagen aller neuen Geräte […] liefern […],
die Verfahren der Individualisierung aber […] nichtmehr darauf abzielen, das Sub-
jekt zu zerstreuen, sondern dingfest zu machen« (Bernard 2017: 46).
Netzwerkaffekte 73
Kybernetische Gouvernementalität
In Facebooks Verwandlung der Kommunikation in eine algorithmisch lesbare,
das heißt eine entscheidungslogisch formalisierte Operation konkretisiert sich
somit letztlich das, was das Autorenkollektiv Tiqqun schon vor einigen Jahren als
»kybernetische Hypothese« bezeichnet hat: die kontrollgesellschaftliche Perspek-
tive, nach der soziale Verhaltensweisen nicht nur »als voll und ganz programmiert
und neu programmierbar zu betrachten« (Tiqqun 2007: 12 f.) sind, sondern auch
im Modus eines feedbacklogischen Regelkreises bespielt, das heißt indirekt be-
wegt werden können: »Wer die Kommunikativität kontrolliert, kontrolliert nicht
nur den Menschen, sondern auch das, was sie entscheiden, sagen, wünschen
oder tun und lassen.« (Mersch 2013: 54 f.) So lassen sich über die »soziale In-
frastruktur« Facebooks nicht nur spezifische Muster, Gewohnheiten, Interessen
und Bedürfnisse dekodieren und kalkulieren. Diese können – darin begründet
sich sowohl das Werbeversprechen als auch der Erfolg des Unternehmens – auch
kommunikativ intensiviert und qua Newsfeed ausgerichtet werden.
Dabei ist zu betonen, dass die kybernetische Regierungspraxis nicht als ei-
ne unidirektional-digitale machine à gouverner agiert, die per Knopfdruck Massen
bewegt. Die heutigen Kontrollreflexe sind subtiler, fokussieren eine incentivier-
te, systematische Selbstoptimierung wie -regulierung und assoziieren so neoli-
beralen Geist mit kybernetischem Steuerungswissen. Im Zentrum stehen weder
Disziplin noch Befehl, weder direkte Manipulation noch autoritäres Controlling,
sondern Verführungen, Verlockungen, Anstöße, Einflüsterungen – kurz: das Ma-
nagement von Affekten. So gilt auch für Facebooks Regierungstaktik: »Das Genie
desHerrschens besteht darin, die Aufgaben desHerrschers von den Beherrschten
erledigen zu lassen« (Bauman und Lyon 2013: 75).
Dem Unternehmen geht es nicht darum, eine Art gleichschaltenden Über-
wachungsstaat zu formieren und damit das hierarchische Register der Unter-
drückung zu verfolgen, sondern um die Codes der Entfaltung. Daher bedarf es
eines beständigen Ausbaus der Kanäle, einer Vervielfältigung der Optionen und
Entscheidungspfade, ganz im Zeichen autopoietischer Systeme. Man adressiert
einen kommunikativen Möglichkeitssinn, verfolgt nicht »die Information als
Information, sondern […] die bedingungslose Aufrechterhaltung ihrer Zirkula-
tion« (Mersch 2013: 50). Entsprechend versagt sich das ›Reglement‹ der Platt-
form – darin begründet sich auch die anfängliche Ablehnung von Initiativen wie
dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz und überhaupt fixen Setzungen und Geset-
zen – einer eindeutigen Direktion; es geht ihm vielmehr um das konsequente,
betriebssichernde Fließen der Kommunikationsströme, das Anstoßen und die
Ermöglichung von Feedbacks. Die einzige Sünde – dies kann man auch in der
Kommunikations- und Entschuldigungspraxis Zuckerbergs bei den letzten Skan-
dalen beobachten – wäre es demgemäß, sich zu ex-kommunizieren, nicht mehr
dem informativen Rauschen zu lauschen und keine Mitteilung zuzulassen.
74 Felix Maschewski und Anna-Verena Nosthoff
Eine solche Ausrichtung ist nach Dieter Mersch trotz ihrer verallgemeinerten
Responsivität auch als eine »Form der Konditionierung« (ebd.: 51) zu lesen. Denn
obgleich sie weder explizit politisch noch apolitisch ist, bemüht sie unter dem
Deckmantel semantischer Indifferenz vor allem eines: den Imperativ des kon-
nektiven (Selbst-)Anschlusses. Die Affirmation der kommunikativen Vernetzung
markiert so eine immer schon vorgelagerte Grundbedingung und Positivität und
geht – im Falle Facebooks – zugleich mit der Verabsolutierung einer spezifischen
Kommunikationsform einher, die das Soziale (und Politische) als maschinenles-
bare Abstimmungsfolge, das heißt als Numerisches, aus- und zurichtet.
So mag es kaum verwundern, dass das ›soziale‹ Netzwerk zuletzt den Boden
für Ideen bereitete, die über entsprechende Buzzwords – von der »direct tech-
nocracy« über »smart states« bis zum »government as platform« – nicht nur re-
alpolitisches Interesse erfahren (vgl. Maschewski und Nosthoff 2018b), sondern
Staatsmodelle beschreiben, in denen sich die Gesellschaft über eine algorithmi-
scheMechanik und Big Data, das heißt einen beständigen Fluss der Ratings, koor-
diniert, (selbst-)reguliert und organisiert. Derartige Automationshorizonte schei-
nen nicht nur kybernetische Regierungskonzepte, etwa Karl Deutschs Vorstellung
eines Staats als Regelkreismodell, zu reaktivieren, sondern – heute mit anderen
Möglichkeiten als die früheren ›Technokraten‹ – einen ›Systemwechsel‹ zu avisie-
ren, der die parlamentarische Demokratie als zu langsam, zu wenig partizipativ
und smart, zu unflexibel, als schlicht unzeitgemäß zu entlarven wünscht.
Vor diesem Hintergrund schlägt die emotionskybernetische Infrastruktur
Facebooks eine durchaus interessante Volte, denn indem sie das Individuum
beständig affiziert, anstößt, anspricht und engagiert, tut sie dies schließlich nur,
um es als Ansammlung von Datenpunkten in Datenbanken zu erfassen, das
heißt in Datenpakete zu segmentieren, um es im nächsten Schritt zu kommer-
zialisieren und gleichsam zu regieren. Nicht von ungefähr spricht Zuckerberg
davon, dass »Facebook eher einer Regierung gleicht als einem Unternehmen«;
davon, dass es sein Ziel sei, den Usern zu »dienen«.12 In dieser emblematischen
›Zweckdienlichkeit‹ reflektiert sich nicht zuletzt eine klassisch-gouvernementale
Aufgabe, die Foucault La Perrière entnahm: »[D]iese Dinge, deren die Regierung
sich annehmenmuss[…] [,] sind die Menschen […] in ihren Beziehungen, in ihren
Bindungen und ihren Verflechtungen.« (Foucault 2006: 146) Dieser Prozess der
Gouvernementalisierung fällt in der datenaffinen Gegenwart auf einen fruchtba-
ren, kybernetisierten Boden, der Affekte und eben jene »Verflechtungen« über
effektive Rückkopplungsmechanismen kategorisier- und bespielbar macht.
Facebook selbst ist dabei nicht als isolierte Plattform zu begreifen. Das ky-
bernetische Regierungssystem, das Zuckerberg Stück für Stück ins Werk setzt,
ist vielmehr zu einem mehrheitstauglichen Dispositiv geworden, das sich suk-
zessive nicht nur in das gesellschaftliche, sondern auch das politische Imaginä-
re einsenkt. Von den erwähnten neokybernetischen Regierungsmodellen, die auf
12 | Vgl. Klein 02.04.2018 beziehungsweise Frenkel und Roose 21.03.2018.
Netzwerkaffekte 75
datenbasierte Selbstregelungsprozesse setzen, bis hin zu den ›Updates‹ diploma-
tischer Beziehungen durch die Ernennung von digital ambassadors zur Stärkung
der Bindung zum Quasi-Staat Silicon Valley, lassen sich diverse Anzeichen aus-
machen, die eine grundlegendeMachtverschiebung kennzeichnen. Dabei geht es
nicht nur um die realpolitisch nachvollziehbaren Übernahmen solutionistischer
Denkmodelle und Praktiken. In erster Linie sind diese als Konsequenzen von sich
fast unmerklich den Weg bahnenden Diskursverschiebungen zu deuten: Sprach
Zuckerberg einst davon, dass nicht mehr auf Facebook zu sein »fast einen Nach-
teil« darstelle, ist dies mittlerweile zum Hauptargument selbst einiger Facebook-
Kritiker_innen im Kontext der Debatte um #deletefacebook oder #regulatefacebook
geworden. Dass Facebook und die hiermit verbundene Vernetzungslogik heute
unverzichtbar scheint, ist so nicht zuletzt auch Verdienst einer effektiven Rheto-
rik.
Heute käme es neben dem Aufbau »organisierter«, das heißt nachhaltiger
und unabhängiger Netzwerke (Geert Lovink) also vielleicht zunächst darauf an,
›disruptive‹ Metaphorologien nachzuzeichnen und ihre Diskurseffekte machtpo-
litisch in Frage zu stellen. Konkret hieße das etwa, damit anzufangen, ›soziale‹
Netzwerke nicht weiterhin als »soziale Netzwerke« zu bezeichnen. Stattdessen
wären sie als dasjenige zu benennen, was sie sind: privatisierte, damit also weder
egalitäre noch per se demokratische – und am allerwenigsten neutrale – Macht-
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Big Data Is Watching You
Digitale Entmündigung am Beispiel von Facebook und Google
Rainer Mühlhoff
1 Einleitung
Die Debatte um Datenschutz im Internet, die seit den Enthüllungen durch Ed-
ward Snowden 2013 vermehrt in der medialen Öffentlichkeit geführt wird, ist
weitgehend auf das Gefahrenszenario eines unbefugten Zugriffs auf eigentlich
private Daten durch Dritte, etwa durch Geheimdienste, staatliche Akteure, Ha-
cker oder Kriminelle, fokussiert. Diskutierte Szenarien sind der Einbruch in ei-
nen Server, bei dem etwa Kundendaten gestohlen werden; das Abhören von Te-
lekommunikation durch Geheimdienste, Polizei und Verfassungsschutzorgane;
oder Attacken durch Viren, Malware und Phishing-Techniken gegen ahnungslo-
se Nutzer_innen, etwa mit dem Ziel, an ihre Online-Banking-Daten zu gelangen
oder ihre E-Mail-Accounts zu übernehmen.
Zur gleichen Zeit sind Unternehmen wie Google, Apple, Facebook oder
Amazon (fortan gemeinsam abgekürzt »GAFA« genannt) als umfassende Da-
tensammler bekannt. Im Rahmen ihrer Services erfassen, verarbeiten und ver-
markten sie Personen- und Nutzungsdaten – dies in einem Umfang und mit
einer strukturierten Informationsauflösung, die die Datenvorräte von staatlichen
Stellen und intrusiven Datensammlern weit übersteigt. Gemessen hieran fällt die
öffentliche und politische Problematisierung der Datenerhebungspraxis dieser
Unternehmen gering aus. Selbst wenn kritisch diskutiert wird, dass diese Un-
ternehmen Daten sammeln, verdeckt ein oft alarmistischer Ton den eigentlich
entscheidenden Punkt, nämlich die Schaffung eines kollektiven Bewusstseins da-
für, wie diese Unternehmen ihre Daten sammeln. Eine Beschwichtigung erfährt
die Debatte überdies oft schnell durch denHinweis, dass dieser Fall auch rechtlich
anders gelagert sei als das Problem staatlicher Überwachung oder intrusiver Da-
Mühlhoff, R.; Breljak, A.; Slaby, J. (Hg.): Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie
der Digitalen Gesellschaft. transcript 2019, S. 81–107. DOI: 10.14361/9783839444394-004.
82 Rainer Mühlhoff
tenbeschaffung, da die Nutzer_innen ihre Daten auf den privaten Plattformen von
GAFAmeist freiwillig, wissentlich, unter Einwilligung in Nutzungsbedingungen
und somit in bewusstem Verzicht auf bestimmte Rechte preisgeben.
Die Plattformbetreiber ihrerseits betonen, dass sie alle Nutzerdaten gemäß der
gängigen Gesetzgebung behandeln und den Nutzer_innen umfangreiche Einstel-
lungsmöglichkeiten zur Kontrolle der öffentlichen Sichtbarkeit ihrer Daten (siehe
Facebook) und zur »Absicherung« ihrer Accounts anbieten.1 Diese Praxis lässt
GAFA als Plattformbetreiber tendenziell sogar als verdeckte Gewinner aus der
Verunsicherung über Datensicherheit post-Snowden hervorgehen. Denn sie lenkt
von dem Problem ab, das ihr eigenes massenweises Aufzeichnen von Nutzungs-
daten darstellt, indem sie das Bild erzeugt, die Nutzer_innen könnten freiwillig
und selbstbestimmt den Umgang ihrer auf der Plattform hinterlegten Daten kon-
trollieren.2
Um was für eine Form der ›Freiwilligkeit‹ auf Seiten der Nutzenden handelt
es sich bei der Erfassung von Nutzerdaten, die speziell im Rahmen von Nutzungs-
bedingungen und selbst gestaltbaren »Sichtbarkeitseinstellungen« erfolgen? Es
macht sich kaum jemand Illusionen darüber, dass die Nutzungsbedingungen
oder Datenschutzhinweise, die hier und da aufpoppen, überhaupt von Vielen
gelesen werden. Dies nicht nur, weil es Zeit kostet, im falschen Moment daher-
kommt oder die seitenlangen juristischen Klauseln ein Gefühl der Ohnmacht er-
zeugen, sondern auch weil es gar keine Möglichkeit gibt, ihnen zu widersprechen
– es sei denn, man verzichtet gleich ganz auf die Benutzung des entsprechenden
Services. Gegenüber GAFA besteht so etwas wie ein fatales Ausgeliefertsein an die
Zwickmühle subjektiv empfundener Unverzichtbarkeit dieser Services, denen für
eine Mehrheit der Nutzer_innen eher der Status einer Infrastruktur denn einer
Dienstleistung zukommt.
1 | Mit seitengroßen Anzeigen im Stil des Native Advertisings versuchte Google sich zum Beispiel
im April 2017 über große deutsche und europäische Zeitungen als verantwortungsbewusster Ak-
teur beim Thema Datenschutz darzustellen. So brachten die Süddeutsche Zeitung, die Zeit und
Spiegel Online am 7. April 2017 gesponserte Inhalte der Firma Google im Stil eines Zeitungsarti-
kels mit dem Titel »Was macht ihr eigentlich mit unseren Daten?«, Dachzeile »Rede und Antwort«.
Ähnliche Aktionen gab auch Facebook in Auftrag, etwa eine Kampagne im Februar 2018 unter der
Überschrift »Du hast die Kontrolle über deine Daten auf Facebook«, die europaweit in Magazinen
und Tageszeitungen gedruckt wurde.
2 | Der Diskurs um Datenschutz auf Plattformen wie zum Beispiel Facebook entwickelt sich also
in die Richtung, dass Facebook feinschrittige Einstellungsmöglichkeiten für die »Sichtbarkeit«
einzelner Nutzerdaten für andere bietet und damit das Gefühl vermittelt, die Fragen von Datensi-
cherheit und Privatsphäre ernst zu nehmen. Dennoch besitzt die Plattform selbst alle diese Daten
und wertet sie auch aus, denn für die Generierung abgeleiteter Daten, etwa zu Risk-Controlling
und Marketingzwecken, ist keine Weitergabe der persönlichen Daten selbst erforderlich.
Big Data Is Watching You 83
Dieses Ausgeliefertsein dokumentiert sich auch in einem kollektiven Ver-
drängungs- und Herunterspielungseffekt in Bezug auf die persönlichen, sozialen
und gesellschaftlichen Folgen der Nutzung durch die dabei anfallenden Massen-
daten. Er kommt in einem breiten Spektrum psychologischer Einstellungen und
Bewältigungsmuster zum Ausdruck: vom fatalistischen Achselzucken, dem nai-
ven Glauben »Ich habe doch nichts zu verbergen« und dem resignativen »Über
mich haben die schon so viele Daten, da machen die paar mehr jetzt auch nichts
mehr aus« bis zu Haltungen der begeisterten Affirmation, welche gegenüber den
Nachteilen eher die Freiheits- und Entfaltungsmöglichkeiten, die ökonomischen
und politischen (Gewinn-)Chancen oder die lebensstilistische Überlegenheit der
neuen Technologien in den Vordergrund stellen.
In dieser Situation zwar divergierender, insgesamt jedoch herunterspielender
oder verdrängender Umgangsweisen ist zu beobachten, wie sich in der Debat-
te um Datenschutz gesamtgesellschaftlich ein impliziter liberalistischer Konsens
über die Trennung von Staat und Privatökonomie etabliert hat, der auch in wei-
ten Teilen politisch linker Kreise geteilt wird: Der Diskurs um Überwachung,
Datensicherheit und Privatsphäre reproduziert die Gegenüberstellung von Staat
und Privatökonomie, die imKern liberaler Gesellschaftssysteme steht. Gegenüber
dem Staat herrscht (mitunter zurecht) ein grundsätzliches Misstrauen in Bezug
auf Datenerhebung, das jedoch gegenüber ökonomischen Akteuren effektiv nicht
oder nicht in gleicher Form verbreitet ist. In der Situation fatalen Ausgeliefert-
seins an Plattformunternehmen lässt es sich hier und da fast als eine psychologi-
sche Verschiebung lesen, sich über Geheimdienste zu empören, deren verdeckte
Vorgehensweise an einen gewaltvollen und repressiven Staats- und Polizeiappa-
rat gekoppelt und deshalb vergleichsweise direkt kritisierbar ist, während sich
im Hinblick auf die eigene Benutzung kommerzieller Plattformen die Haltung
durchsetzt, dass ja jede_r selbst entscheide und selbst kontrolliere, ob und was für
Informationen über sich oder über andere man diesen Plattformen übermittelt.
Man stellt Daten zur Verfügung, aber eben freiwillig und wissentlich, weil es einem
egal ist oder weil man es will, und weil man glaubt, dass die Datenpreisgabe ja
nur einen selbst betrifft.
In diesem Essay möchte ich diesen Aspekt der »Freiwilligkeit« und »Wis-
sentlichkeit« näher beleuchten und anhand technischer Beispiele in Frage stel-
len. Nach der Methode einer neuen Technik-Phänomenologie werde ich die kon-
krete Gestaltung von Mensch-Maschine-Interaktion als Kontextfaktor »freiwilli-
ger« Nutzungsdatenerhebungen im Internet untersuchen. Daran wird sich zei-
gen, dass das Design von Interfaces und Benutzeroberflächen in vielen Fällen
Nutzer_innen entmündigt und auf eine bestimmte reflexive Beziehung zu und
Wahrnehmungsweise von technischen Artefakten hin ausrichtet. Dadurch wird
die Interaktion mit dem Interface subtil so gestaltet, dass Nutzer_innen mit hö-
herer Wahrscheinlichkeit möglichst viele Daten über sich preisgeben.
84 Rainer Mühlhoff
2 Fallstudien: Technologische Spielarten
von »Freiwilligkeit«
Die These, die im Folgenden an drei Beispielen zu illustrieren ist, lautet: Die
Erhebung von Personen- und Nutzungsdaten auf webbasierten Plattformen wie
Google und Facebook erfolgt durch Techniken des Nudgings und der verdeckten
Erhebung von Bewegungsdaten. Diese Techniken sind Gegenstand eines aktuell
virulenten und von viel Kapital gestützten Diskurses zwischen Designer_innen,
Programmierer_innen, Unternehmen und Technologievisionär_innen, der sich
in Felder wie User Experience Design (UX Design), Search Engine Optimizati-
on (SEO) und Web Analytics hinein verzweigt. Insgesamt operiert das mediale
Dispositiv, in dem die massenweise Erhebung von Personen- und Nutzungsda-
ten möglich ist, über eine psychologische Dimension des Nudgings und Social
Engineerings, und über eine technische Dimension des Trackings.
Die psychologische Dimension – Nudging3 und Social Engineering – bezeich-
net ein Feld von Techniken, die darauf zielen, potenzielle Nutzer_innen für eine
Internetanwendung zu gewinnen (»onboarding«) oder innerhalb einer Anwen-
dung zu bestimmten Entscheidungen zu bewegen, zum Beispiel etwas zu kau-
fen, bestimmte Daten preiszugeben oder Zugriffsrechte zu erteilen. Um Social
Engineering handelt es sich dabei, wenn ein bestimmter Service auf dem We-
ge lebensweltlicher Verankerung und sozialer Druck- und Zugehörigkeitsmecha-
nismen verbreitet wird, etwa im viralen Marketing oder durch die Ausnutzung
von Netzwerkeffekten bei der Verbreitung von Messenger-Diensten und sozialen
Netzwerkplattformen. Nudging hingegen betrifft den situativen Aspekt des De-
signs von Interfaces, Benutzeroberflächen, Dialogboxen, »User Experience«. Da-
bei ist die zentrale Frage, die in einemDiskurs zwischen Technik und Psychologie
behandelt wird, wie die Ansprache eines Subjekts durch die mediale Oberfläche
gestaltet werden muss, um sie auf ein bestimmtes wahrscheinliches Benutzungs-
verhalten hin zu optimieren, zum Beispiel darauf, dass die Nutzer_in einen Ac-
count anlegt, etwas kauft, der Übermittlung ihrer Daten zustimmt etc. Die zweite,
technischeDimension, diemit der psychologischen jedoch verschränkt ist, betrifft
Techniken des Trackings und des Quantifizierens von Benutzerflüssen und »click
streams« im Netz. Es handelt sich hier um Techniken, die dezentral und unter
der Oberfläche von mehr als zwei Drittel aller Websites im Internet arbeiten, um
das Nutzerverhalten zu vermessen und so die empirische Grundlage zur Verifi-
zierung von Nudging- und Social Engineering-Techniken zu liefern.4
3 | Vgl. für die ursprüngliche Verwendung des Begriffs »nudge« für die Idee eines »libertären
Paternalismus« in Verhaltensökonomie und Public-Policy-Diskursen Thaler und Sunstein 2008
und zur Übertragung auf digitale Interfaces Mühlhoff 2018.
4 | Nach einer Statistik des World Wide Web Consortium setzten im Jahr 2018 rund 65% aller
Websites Analytics-Tools ein, welche die Bewegungen von Nutzern auf Websites aufzeichnen.
Rund 35% aller Websites verwenden zudem eigene Session-Cookies, um Nutzer_innen über ein-
Big Data Is Watching You 85
Im Folgenden soll also gezeigt werden, dass die Datenerhebung auf Plattfor-
men wie Google und Facebook auf Techniken beruht, die kategorial anders ope-
rieren als Geheimdienstspionage oder intrusiver Datenklau. Es handelt sich um
Techniken, die erstens auf dem unwissentlichenMitwirken von Nutzer_innen be-
ruhen und die zweitens dezentral implementiert werden – also über ein komple-
xes Zusammenspiel von ökonomischen, subjektiven und technischen Strukturen
operieren. Ich unterscheide im Folgenden drei Formen von Unfreiwilligkeit, die
jeweils in den drei konkreten Fallstudien illustriert werden:
1. Unbemerkte, aber nicht heimliche Erhebung von Daten, zum Beispiel in der
dezentralen Struktur des Klick-Trackings in der Google-Suche.
2. Subjektiv freiwillige undwissentliche, aber nicht voll informierteWeitergabe von
Daten in situativen InterfaceNudges. Dies wird amBeispiel der Single Sign-on
Services »Google Sign-In« und »Facebook Login« illustriert.
3. Eine im vollumfänglichen Sinne wissentliche Erhebung von Daten, bei der die
Nutzer_in aber unfreiwillig auch noch für die Arbeit der maschinenlesba-
ren Aufbereitung undVerwertbarmachung ihrer Daten eingespannt wird. Bei-
spiel: Der persönliche Steckbrief auf einem Facebook-Profil.
Beispiel 1: Klick-Tracking in der Google-Suche
Die Suchmaschine Google ist aus heutiger Sicht das größte Quasi-Infrastruktur-
projekt, welches aus der zweiten Welle der New Economy nach dem Platzen der
Dotcom-Blase Anfang der 2000er Jahre hervorgegangen ist. Die ersten Internet-
suchmaschinen der 1990er Jahre, darunter Yahoo und Lycos, arbeiteten noch wie
erweiterte Telefonverzeichnisse, in denenWebsitebetreiber_innen ihre Seiten ak-
tiv mit Stichworten und kurzen Selbstbeschreibungen hinterlegen mussten, so
dass eine Suchanfrage eher dem Blick in ein kommerzielles Verzeichnis wie die
»Gelben Seiten« entsprach. Einen zweiten wesentlichen Schritt in der Entwick-
lung von Suchmaschinentechnologien bildete das Modell, automatisiert die netz-
werkförmige Hyperlink-Verweisstruktur des Internet zu nutzen und von einem
Einstiegspunkt ausgehend rekursiv allen Hyperlinks zu anderen Seiten zu fol-
gen, um so das gesamte Netz für Suchzwecke zu indizieren (Prinzip des Web-
crawlers).5 Während hiermit die manuelle Registrierung jeder einzelnen Website
zelne Besuche hinweg wiedererkennen und einer übergeordneten Session zuordnen zu können.
Siehe https://w3techs.com/technologies/history_overview/traffic_analysis/all und https://w3
techs.com/technologies/details/ce-cookies/all/all, abgerufen am 1.4.2019.
5 | Webcrawler wurden ursprünglich auch unter der Bezeichnung »Wanderer« bekannt. Der his-
torische Prototyp ist derWorld Wide Wanderer, der 1993 von Matthew Gray entwickelt wurde und
ursprünglich den Zweck hatte, das Wachstum des Internets messen zu können (Sajja und Akerkar
2012: 85 ff.).
86 Rainer Mühlhoff
hinfällig wurde, stellte sich jedoch weiterhin – wie bei jeder Suchtechnologie – das
Problem der Gewichtung und der linearen Anordnung von Suchresultaten, um
möglichst einschlägige Treffer zuerst, weniger einschlägige nachgelagert anzei-
gen zu können. Wichtige Kriterien, nach denen diese Gewichtung in der zweiten
Generation von Suchtechnologien vorgenommen wurde, waren zum Beispiel die
Häufigkeit, mit dem ein Suchstichwort auf einer Seite vorkam, oder die räumliche
Nähe, in der die gesuchten Stichworte auf einer Seite anzutreffenwaren, sowie die
Anzahl anderer Seiten, die auf eine Seite qua Hyperlink verwiesen. Hinzu kam
dieMöglichkeit, die diemeisten kommerziellen Suchmaschinen schon immer ge-
boten haben, für eine Höherbewertung der eigenen Seite in den Suchresultaten
etwas zu bezahlen.
Für das zentrale Problem der Gewichtung von Suchresultaten hat nun Google
– und das markiert zugleich den Übergang zu einer dritten und aktuellen Ge-
neration von Suchmaschinentechnologien imWeb 2.0 – eine besonders effiziente
Lösung gefunden, die auf der unbemerkten Mitarbeit der Nutzer_innen basiert.
Jede Person, die im Netz etwas sucht und eventuell mehr oder weniger fündig
wird, ist prinzipiell eine ›kognitive Ressource‹, die man zur Qualitäts- und Re-
levanzbemessung von Suchresultaten einspannen kann. Dazu hat Google eine
Infrastruktur geschaffen, die zu erfassen erlaubt, welche der auf der Resultate-
seite (fortan im Jargon kurz SERP, Search Engine Result Page genannt) gelisteten
Suchresultate tatsächlich angeklickt werden und ob diese Resultate zufriedenstel-
lend waren. Ruft man zum Beispiel in einem Firefox-Browser google.de auf und
startet eine neue Suche nach dem Stichwort »aktuelle Nachrichten«, so sieht man
etwa »tagesschau.de«, »n-tv.de«, »bild.de«, »fnp.de« als erste Resultate. Fährtman
mit der Maus über den ersten Link, der zu tagesschau.de führt, sieht man in der
Statuszeile des Browsers »http://www.tagesschau.de« – das suggeriert, dass der
Link wirklich (direkt) zur Tagesschau führt. Schaut man in den HTML-Quelltext
der Resultateseite,6 dann sieht dieser Link folgendermaßen aus:
Aktuelle Nachrichten -
7
Inland Ausland Wirtschaft Kultur Sport - ARD ...
[Titel] ist die Standard-HTML-Struktur für
einen Hyperlink, bei dem der User auf [Titel] klickt und zur Seite [Zieladresse]
gelangt. Tatsächlich scheint der oben untersuchte HTML-Link also direkt zu
http://www.tagesschau.de/ zu führen (href-Parameter). Aber der Link wird
6 | In Firefox klicke man mit der rechten Maustaste in das Fenster, dann »View Page Source«. In
dem unübersichtlichen Quelltext suche man nach »tagesschau.de«, um zur relevanten Stelle
zu gelangen.
7 | Hervorhebungen und Zeilenumbrüche in allen Code-Blöcken vom Verfasser eingefügt.
Big Data Is Watching You 87
vom Browser erst geöffnet, wenn man beim Anklicken den Mausbutton wie-
der loslässt, und davor, schon beim Herunterdrücken, wird das JavaScript-Event
onmousedown ausgelöst. Für dieses Event ist nun im HTML-Code des Links eine
spezielle Routine hinterlegt worden, welche eine JavaScript-Funktion namens
rwt aufruft, der verschiedene Parameter übergeben werden – das ist die durch
Kommata separierte Liste in der langen runden Klammer direkt hinter rwt.
Das Kürzel rwt, das wenig verhohlen für »rewrite« steht, bezeichnet eine von
Google weiter oben im Quelltext bereitgestellte JavaScript-Funktion – das ist eine
kleine Programmroutine, die von der Website im Browser hinterlegt wird, um
bei Bedarf (hier beim Anklicken eines Links) nach dem eigentlichen Ladevorgang
der Seite ausgeführt zu werden. Sie ist so programmiert, dass sie imMoment des
Klicks den href-Parameter des Links, also die Ziel-URL, überschreibt und in die
folgende längliche Adresse ändert:
https://www.google.de/url?sa=t &ct=j &q= &esrc=s &source=web &cd=1
&cad=rja &uact=8
&ved=0ahUKEwjj5t3t0YLZAhULlSwKHb-eAYcQFgguMAA
&url=http://www.tagesschau.de/
8
&usg=AOvVaw1_8NtrWpEbLefVcTd78eDR1
Zwischen demDrücken desMausbuttons und dem Loslassenwird also das Ziel des
Links ausgetauscht. Man ruft deshalb tatsächlich eine Google-URL auf (nämlich
www.google.de/url?...), und erst von dort aus wird man mit einem HTTP-
(Hyptertext Transfer Protocol-) Weiterleitungsmechanismus (HTTP status code
302) auf das eigentlicheZiel, also www.tagesschau.de, weitergeleitet.9 DieseOpe-
ration erfolgt bei einer normalen Internetverbindung in Millisekundenschnelle,
so dass die Nutzer_in nicht bemerkt, dass sie, bevor sie am Ziel ankommt, noch
kurz 10www.google.de/url?... besucht.
8 | Zur besseren Lesbarkeit wurden Leerzeichen eingefügt und der %-encodierte URL-Parameter
url=http%3A%2F%2Fwww.tagesschau.de%2F ersetzt durch die decodierte Form url=http:
//www.tagesschau.de/.
9 | Wenn der von Google selbst entwickelte Chrome-Browser verwendet wird, kommt dieser
rewrite-Mechanismus nicht zum Tragen, sondern die Hyperlinks auf der SERP enthalten ein
HTML-Attribut ping=”/url?...”, welches beim Anklicken des Links zeitgleich zu dem Aufruf
der Zieladresse die google.de/url?... Seite mit aufruft, ohne dafür extra den href-Parameter
des Links austauschen zu müssen. Das ping-Attribut wurde erst mit HTML-Version 5 eingeführt
und dient dazu, eine ›transparentere‹ Infrastruktur für das Tracken von Klicks auf externe Links
zu schaffen. Auch Firefox unterstützt das ping-Attribut, Google verwendet jedoch bei diesem
Browser den rewrite-Mechanismus, weil Firefox-User den ping-Mechanismus per Konfiguration
ausschalten können. Vgl. Oxley 20.03.2014.
10 | Jede_r kann das selbst überprüfen durch folgende Tricks: Variante 1: SERP aufrufen, In-
ternetverbindung kappen, dann auf den Link klicken. Variante 2: Mit der Maus auf den Link
klicken, den Mausbutton aber nicht loslassen, sondern die Maus mit gedrückter Taste vom Link
88 Rainer Mühlhoff
Bei diesem Kurzbesuch auf einemGoogle-Server werden nun allerhand Infor-
mationen an Google übertragen. Das ist der oben abgedruckten URL zu entneh-
men: Hinter dem ? und hinter jedem &-Zeichen in der URL beginnt der Name
einer Variable (eines »Parameters«). Diesen Variablen wird hinter dem jeweili-
gen =-Zeichen jeweils ein bestimmter Wert zugewiesen und mit dem Aufruf der
URL werden diese Werte dann an den Server übertragen.11 Das heißt, beim An-
klicken eines Suchresultats übermittelt die Resultateseite an Google bestimmte
Informationen zurück, in diesem Fall handelt es sich um elf verschiedene Para-
meter. Darunter – am offensichtlichsten – ist der Parameter url=http://www.
tagesschau.de/. Er übermittelt an Google, welches Suchresultat angeklickt wird.
Der Parameter cd=1 zeigt an, an welcher Stelle sich das angeklickte Suchresultat
auf der Resultateseite befunden hat. In diesem Fall war es das oberste Resultat,
daher der Wert 1, doch der Wert von cd erhöht sich für jedes weiter unten gelistete
Resultat auf der SERP um 1. Google ist somit nicht nur in der Lage, Statistiken
darüber zu führen, welche Resultate angeklickt werden, sondern auch darüber,
wie das Anklickverhalten davon abhängt, an welcher Stelle ein Resultat auf der
SERP gelistet wird.
Im Allgemeinen ist es nicht bekannt und gilt als gut gehütetes Betriebsge-
heimnis, welche Informationen die verschiedenen übermittelten Parameter ge-
nau codieren. Einzelnes darüber lässt sich jedoch auf dem Wege des reverse engi-
neerings und durch technische Einblicke herausfinden oder erraten.12 So führt der
Parameter usg etwa eine verschlüsselte Version des url-Parameters und erzeugt
somit lediglich eine Informationsredundanz, die dazu dienen kann, Verfälschun-
gen in der Übermittlung zu erkennen. Interessanter ist dagegen diese Variable:
ved=0ahUKEwjj5t3t0YLZAhULlSwKHb-eAYcQFgguMAA
Ihr Wert ist ein 40 Zeichen langer String (Zeichenkette), der aus mehreren Be-
standteilen zusammengesetzt ist: Die ersten 7 Zeichen, die mittleren 25 Zeichen
und die hinteren 8 Zeichen sind für sich jeweils ein Teilstring. Mit Probieren und
educated guessing findet man heraus, dass der hintere Teil detaillierte Informatio-
nen darüber encodiert, wo auf der Resultateseite der angeklickte Link positioniert
war. Insbesondere werden hier qualitative Informationen erfasst, zum Beispiel
wegziehen, danach erst loslassen. Durch diese Prozedur wird der Link nicht aufgerufen (das wäre
nur beim Loslassen der Taste auf dem Link der Fall), aber dasonmousedown-Event wird trotzdem
ausgelöst, so dass die Zieladresse des Links ausgetauscht wird. Fährt man erneut mit der Maus
über den Link, zeigt die Statuszeile des Browsers das modifizierte Ziel.
11 | Es handelt sich bei den Werten dieser URL-Parameter um die Daten, die zuvor der Funktion
rwt als Argumente übergeben und somit von Google selbst für jede individuelle Suchanfrage in
den Quelltext der SERP hineingeschrieben werden.
12 | Siehe für Details: Ny 08.06.2016; Resnik 22.05.2013; Wittersheim 31.03.2016; sshay77
18.07.2015.
Big Data Is Watching You 89
ob es sich um einen Ad link, um ein image result, um einen Eintrag im knowledge
graph oder um ein herkömmliches organic search result handelte.13
Was die ersten 7 Zeichen des ved-Parameters encodieren, entzieht sich der
Kenntnis des Verfassers. Im Augenmerk soll nun jedoch der 25 Zeichen lange
mittlere Teil stehen (oben fett gedruckt). Wie sich zeigt, ist dieser Mittelteil ein
Identifikationscode, der es erlaubt, die einzelne Suchsession zu identifizieren: Er-
mittelt man etwa die ved-Parameter der ersten drei Suchresultate auf der Resul-
tateseite unserer Suche nach »aktuelle Nachrichten«, dann sehen sie so aus:
1. Resultat: ved=0ahUKEwjj5t3t0YLZAhULlSwKHb-eAYcQFgguMAA
2. Resultat: ved=0ahUKEwjj5t3t0YLZAhULlSwKHb-eAYcQFgg7MAE
3. Resultat: ved=0ahUKEwjj5t3t0YLZAhULlSwKHb-eAYcQFghHMAI
Der Mittelteil bleibt für alle Links identisch; der hintere Teil verändert sich (denn
er gibt ja die Position des Links auf der Seite an). Startet man nun eine neue
Suche nach »aktuelle Nachrichten« oder nach einem anderen Stichwort, indem
man den Browser schließt, dann wieder öffnet und google.de neu aufruft, dann
erhält man folgende ved-Parameter der ersten drei Suchresultate:
1. Resultat: ved=0ahUKEwikooTQ6oTZAhWQ_aQKHbefBAsQFgguMAA
2. Resultat: ved=0ahUKEwikooTQ6oTZAhWQ_aQKHbefBAsQFgg7MAE
3. Resultat: ved=0ahUKEwikooTQ6oTZAhWQ_aQKHbefBAsQFghEMAI
Es fällt auf: DerMittelteil ändert sichmit der neuen Suchanfrage, sogar wennnach
den gleichen Stichworten gesucht wird. Das deutet darauf hin – und mit weiteren
Tests lässt sich dies erhärten –, dass der Mittelteil von ved dazu genutzt werden
kann, die konkrete Suchsession eindeutig zu identifizieren. Jede einzelne Such-
anfrage wird auf diese Weise mit einer eindeutigen Kennung versehen.14 Immer
wenn eines der Suchresultate angeklickt wird, registriert Google also nicht nur,
welche Ziel-URL angeklickt wurde und wo auf der SERP diese aufgeführt war,
sondern das angeklickte Resultat kann der einzelnen Suchanfrage wieder zuge-
ordnet werden. Dadurch lassen sich ganze Suchverläufe serverseitig erfassen.15 Es
13 | Es handelt sich bei diesem hinteren Teil von ved um den ›alten‹ ved-Parameter. Es scheint
in den letzten Monaten eine Veränderung gegeben zu haben: Während ursprünglich die Session-
Identifikation durch einen separaten Parameter ei möglich war und ved dann nur die Angaben
zur Position des angeklickten Links auf der Seite speicherte, ist ei nun entfallen, aber der jetzt
deutlich längere ved-Parameter kann seine Funktion übernehmen. Auf die Informationen, die in
diesem hinteren Teil encodiert werden, kann hier nicht näher eingegangen werden, siehe aus-
führlich Resnik 22.05.2013; Kelly 02.01.2014.
14 | Reproduziert man diese Experimente, weichen die konkretenWerte des Mittelteils natürlich
von den hier dargestellten ab. Sie werden für jede Suchanfrage neu vom Server vergeben.
15 | Auch wenn, anstatt ein Resultat anzuklicken, die Suche verfeinert wird (indem ein neues
oder zusätzliches Suchstichwort eingegeben und wieder auf »Suchen« geklickt wird), wird ein
Session-Informationscode an den Server übertragen. Dies erlaubt es, die Verknüpfung der ersten
90 Rainer Mühlhoff
kann zum Beispiel ausgewertet werden, wie eine mehrschrittige Suche verläuft,
auf welches Resultat in welchem Schritt dieses Suchverlaufs geklickt wird, nach
welchen Stichworten in Reaktion auf vorherige Resultate gesucht wird und vieles
mehr.
Mit diesen Mechanismen lässt sich also detailliert das Suchverhalten von Nut-
zer_innen erfassen. Dabei geht es einerseits um eine Bemessung der »Relevanz«
der Suchresultate: Welche Stichworte werden gesucht, wie ist der Verlauf der An-
fragen und welchen Resultaten wird gefolgt. Andererseits geht es aber auch um
die metrische Analyse der Nutzer-Responsivität auf das Design der Aufbereitung
der Resultate auf der Resultateseite. Es wird erfasst, ob eher organic search re-
sults oder andere Seitenelemente (Ads, knowledge graph, image search) bevorzugt
werden. So existieren etwa detaillierte Auswertungen, welche Positionen auf der
Google-SERP statistisch am ehesten angeklickt werden.16
Durch diese technischen Mechanismen, die im Hintergrund der Resultate-
seite operieren, werden eine große Menge Nutzungsdaten unfreiwillig und un-
bemerkt erhoben. Auch wenn diese nicht grundsätzlich in die Kategorie »perso-
nenbezogene Daten« fallen, besitzen sie einen enormen wirtschaftlichen Wert.
Doch damit nicht genug – Google ist nämlich tatsächlich auch an personenbezo-
genen Daten interessiert. Ist man im selben Browser, etwa in einem anderen Tab
oder in einem anderen Fenster, zeitgleich zu einer Google-Suchanfrage in einem
anderen Google-Service eingeloggt – etwa in Gmail, in Google Drive oder einem
der zahlreichen weiteren Services des Unternehmens –, dann wird von Google
im Browser ein Cookie hinterlegt, welches die Nutzer_in anhand ihres »Google
Accounts« eindeutig identifiziert und auch bei der Google-Suchanfrage mit an
den Server übertragen wird.17 Die Erhebung des detaillierten Suchverlaufs und
des Klick-Verhaltens kann in diesem Fall also nicht nur einem anonymen User,
sondern einem bekannten Nutzeraccount zugeordnet werden.
Das ist ein großer qualitativer Schritt:Während der anonymeUser (imGoogle-
Jargon »client« genannt) nur über eine Nutzungssession hinweg verfolgt wer-
den kann, erlaubt die Zuordnung zu einem Nutzeraccount (im Google Jargon:
user) erstens, die anfallenden Daten über das Suchverhalten mit den Daten zu
verknüpfen, die im Rahmen aller anderen Google-Services gespeichert werden –
Suchanfrage mit der zweiten vorzunehmen. Die Übertragung dieses Parameters bei einer neuen
oder verfeinerten Suche wird über ein verstecktes (hidden) Formularfeld gelöst, welches einen
Identifikationsparameter namens ei überträgt:
16 | Siehe etwa Mediative 2014.
17 | Auch wenn die Nutzer_in in dem Browser einmal eingeloggt war und sich dann ausgeloggt
hat, bleiben Cookies bestehen, die sie eindeutig identifizieren können. Cookies müssten nach
jeder Sitzung vollständig gelöscht werden, um diesen Effekt zu umgehen.
Big Data Is Watching You 91
darunter E-Mail-Inhalte und Dokumente in Google Drive, Standort des Android-
Smartphones, Adressbuch, Telefonanrufe, SMS-Nachrichten. Es erlaubt zweitens,
verschiedene Nutzungssessions, die nacheinander oder auf verschiedenen Gerä-
ten erfolgen, miteinander zu verknüpfen und auf diese Weise lebenslange und
geräteübergreifende Suchhistorien anzulegen. In diesem deutlich höherdimen-
sionalen Datenraum kann zum Beispiel die individuelle Responsivität für ver-
schiedene Suchresultate mit den aktuellen E-Mail-Inhalten, mit dem Standort des
Android-Telefons,mit demYouTube-Video, das gerade angeschaut wurde,mit den
Daten, die das Fitnessarmband über einen Health-Service erfasst hat, korreliert
werden. Solche Verknüpfungen und Korrelationsanalysen (Data-Mining) können
auch nachträglich, nach einigen Jahren oder durch andere Unternehmen, an die
die Rohdaten verkauft werden, vorgenommen werden. Es ist möglich, aus diesen
Daten detaillierte psychologische und affektologische Profile von Nutzer_innen
anzufertigen und als abgeleitete Daten in Form von eScores für Zwecke des Ri-
sikomanagements (zum Beispiel zur individuellen Bepreisung von Krankenver-
sicherungen, bei Einstellungsverfahren auf dem Job-Markt, zur Quantifizierung
von Kreditwürdigkeit, Bonität oder Rückfallwahrscheinlichkeiten bei Kriminal-
prozessen) oder der individualisierten Werbung zu vermarkten (O’Neil 2016).18
Beispiel 2: Single-Sign-on-Services
Eine zweite Klasse von Beispielen für die Erfassung scheinbar freiwillig bereitge-
stellter Personen- und Nutzungsdaten auf vernetzten Plattformen betrifft Techni-
ken der Ansprache, der Gestaltung von Dialogboxen und Interfaces, die man als
»Nudging« bezeichnen kann. Im Gegensatz zu dem vorangegangenen Beispiel
bestehen diese Fälle nicht aus technischen Einrichtungen, die verdeckt operieren,
sondern es handelt sich hier nun umKonstellationen, in denen an der Oberfläche
arbeitende Design- und Gestaltungsstrukturenmit einem bestimmten Nutzungs-
verhalten oder einer bestimmten Disposition, sich in seinem Nutzungsverhalten
beeinflussen zu lassen, Hand in Hand arbeiten.
18 | Häufig wird bei diesem Thema auf den Umstand hingewiesen, dass die Suchresultate, die
zum Beispiel bei der Suche »aktuelle Nachrichten« angezeigt werden, sich plötzlich verändern,
wenn man sich im Hintergrund in seinen Google-Account einloggt. Denn Google verwendet dann
auch die aus E-Mail-Inhalten oder anderen Services über die Nutzer_in bekannten Daten, um
für diese Nutzer_in individuell möglichst »relevante« Resultate und Werbeanzeigen anzuzeigen.
Ich konzentriere mich in diesem Artikel gezielt auf die weniger bekannte und weniger beachtete
andere Richtung dieser Feedbackschleife: Nicht nur was man angezeigt bekommt verändert sich
abhängig von den Datenspuren, die man hinterlassen hat, sondern die eigenen Klicks hinterlas-
sen Datenspuren, die die Anfertigung detailreicher psychologischer und behavioreller Metriken
erlauben.
92 Rainer Mühlhoff
Ein verbreitetes Beispiel für das, was in diese Klasse fällt, sind die Authen-
tifizierungsdienste »Google Sign-In« und »Facebook Login«. Das sind von den
beiden Konkurrenten Google und Facebook angebotene Services, die sich in be-
liebige Android- und iPhone-Apps sowie auf Websites integrieren lassen undmit-
hilfe derer die Entwickler_innen einer App oder Website es ihren Usern ermög-
lichen, sich mit ihrem Google- bzw. Facebook-Account bei der App oder Website
zu registrieren, anstatt mit einem selbst gewählten Benutzernamen und Passwort
für diesen Service einen neuen User-Account anzulegen. Googles und Facebooks
Authentifizierungsschnittstellen sind extrem verbreitet, man findet die Möglich-
keit eines »Login with Facbook« oder eines »Sign in with Google« auf Shopping-
Plattformen, bei Dropbox und Doodle, in Dating-Portalen wie Tinder oder OkCu-
pid, auf Nachrichtenportalen wie Spiegel Online oder bild.de, bei Airbnb, Uber,
Netflix, Spotify und SoundCloud, um nur einige sehr populäre Services zu nen-
nen.
Die grundsätzliche Idee von Single-Sign-on-Schnittstellen ist, dass es aus
User-Sicht als mühevoll gilt, durch Angabe einer E-Mail-Adresse und eines Pass-
worts für jeden Service einen eigenen Benutzeraccount anzulegen. Sowohl bei
der initialen Registrierung (»onboarding«19) für einen neuen Benutzeraccount
auf einer Website oder in einer App, wo im herkömmlichen Verfahren oft noch
eine zusätzliche Schleife zur Überprüfung der E-Mail-Adresse oder Telefonnum-
mer gefahren werden muss, als auch bei der täglichen Benutzung gilt der her-
kömmliche Login als ein möglicher Reibungspunkt, zum Beispiel weil User
ihre Passwörter leicht wieder vergessen können, besonders wenn sie für viele
verschiedene Seiten jeweils verschiedene Zugangsdaten verwenden.
Die Möglichkeit eines zentralen, auf einen Klick erfolgenden Logins via Goog-
le oder Facebook ist aber nicht nur bequemer, sondern bietet auch für die Be-
treiber_innen des Services Vorteile. Neben dem »frictionless onboarding« besteht
ihr Hauptgewinn daraus, dass im Moment eines Sign-ins via Google oder Face-
book zahlreiche personenbezogene Daten über den User an den Service übertra-
gen werden, die auf dem Wege einer herkömmlichen Registrierung mit sehr viel
mehr Aufwand den Nutzer_innen entlockt werden müssten. So überträgt Goog-
le Sign-In standardmäßig mindestens den vollen Klarnamen, die (verifizierte) E-
Mail-Adresse und ein Bild des Benutzers. Zugriff auf weitere über den Nutzer
hinterlegte Informationen, zum Beispiel im Google+-Profil oder über YouTube,
ist prinzipiell möglich. Bei Facebook erhält die Website, auf der man sich mit-
tels Facebook Login anmeldet, standardmäßig Zugriff auf alle allgemein zugäng-
lichen Facebook-Profildaten (darunter Name, Foto, E-Mail-Adresse, Altersklasse,
Gender, Locale, Zeitzone), sowie die Liste der Facebook-Freunde des Users, die
ebenfalls diesen Service nutzen. Facebook ermöglicht es den Entwicklern einer
19 | »Onboarding« ist im UX-Jargon der Prozess der Gewinnung und Registrierung eines neuen
Users für einen Service. Es entscheiden oft wenige Unannehmlichkeiten in der Benutzerführung
darüber, ob sich die Nutzer_in vor Abschluss einer vollständigen Registrierung noch abwendet.
Big Data Is Watching You 93
Abbildung 1: Login-Dialog auf airbnb.com. Quelle: Screen-
shot des Verfassers vom 30.01.2018.
Website oder App prinzipiell, noch auf viele weitere Nutzerdaten zuzugreifen
(darunter beispielsweise die Like-Liste, die Liste der Freunde, Geburtsdatum, Auf-
enthaltsort, Beziehungsstatus, Arbeitsleben und Berufsqualifikationen, Freizeit-
interessen etc.20). Facebook verlangt allerdings bei Zugriff auf solche erweiterten
Datensätze, dass dafür von der Nutzer_in eine einmalige explizite Zustimmung
eingeholt wird. Um eineMetapher zu bilden: Der Verwendung des Facebook Log-
ins würde in der »realen Welt« entsprechen, wenn man stets beim Betreten eines
Shops die Liste seiner Interessen, Freunde, Likes, Statusposts, Sprachfähigkeiten,
Schulabschlüsse, Berufserfahrungen etc. am Eingang abgeben würde. Der Shop
könnte dann ganz schnell die räumliche Anordnung seiner Produktregale, die
Anordnung der Produkte in diesen Regalen, sowie die Preise der Produkte und
mögliche Sonderangebote auf diesen einen Benutzer abstimmen. Das gleiche gilt
auch, wenn man ein Versicherungsbüro betritt oder sich um einen Job bewirbt –
um nur wenige Felder zu nennen, in denen diese Daten verwertet werden.
Natürlich könnte man hier einwenden, dass die User sich wissentlich für die
Verwendung des Sign-in-Services entscheiden. Diemeisten (wenn auch nicht alle)
Websites und Apps, die einen Sign-in via Facebook oder Google anbieten, stellen
die Option zur Verwendung dieses zentralen Logins in der konkreten Dialogbox,
die zur Registrierung oder Anmeldung auffordert, neben der Option einer her-
94 Rainer Mühlhoff
kömmlichen Registrierung mit E-Mail-Adresse und Passwort dar (siehe 1). Au-
ßerdem verpflichten sowohl Google als auch Facebook die Entwickler_innen ex-
terner Seiten und Apps dazu, die mit dem Sign-In eingeholten Berechtigungen
zu einem Zugriff auf Nutzerdaten explizit zu nennen und explizit Zustimmung
dafür einzuholen. Es liegt hier also vermeintlich alles transparent zu Tage und ist
der ›freien‹ Entscheidung der Nutzer_innen überlassen. Und doch, oder gerade
deshalb, können die zentralen Authentifizierungsservices in mehreren Hinsich-
ten als ein subtiler Nudge bezeichnet werden – als eine Technik der zwanglosen
Beeinflussung von Nutzerentscheidungen durch das Design von »Wahlarchitek-
turen« (»choice architectures«21) auf der Grundlage verhaltenswissenschaftlicher
und psychologischer Erkenntnisse.22 Das verrät auch ein Blick in die Developer
Guidelines von Facebook zum Facebook Login.23 Dort heißt es im Abschnitt »User
Experience Design«:
»The onboarding experience is one of the most important user experiences in your app. A
24
high quality onboarding experience can lead to conversion rates above 90% and encour-
ages people to become more engaged and profitable.« (Ebd.)
Es werden von dieser Annahme ausgehend detaillierte Tipps für die beste Gestal-
tung einer Login-Seite gegeben, die einemöglichst hohe »Konversionsrate« erzie-
len können. Diese Hinweise erwecken keineswegs den Anschein, dass Facebook
sich den durchschnittlichen User als ein rational, voll informiert und bewusst
entscheidendes Individuum vorstellt:
»Reducing unnecessary steps is one of the most effective ways to improve your conversion
rate. Avoid asking users to first tap ›Login‹ or ›Register‹ to get to the Facebook login button.
With Facebook Login, this is an unnecessary step. There’s no need for people to even have
stop to think about if they have an account or not.
20 | Siehe die vollständige Liste verfügbarer Datenfelder und ihrer permission scopes: http:
//developers.facebook.com/docs/facebook-login/permissions/; Stand: 2018-02-10.
21 | Vgl. zur ursprünglichen Verwendung dieses Begriffs in der Verhaltensökonomie: Thaler und
Sunstein 2008. Zur Übertragung auf digitale Benutzerschnittstellen als »Interface Nudges« siehe
Mühlhoff 2018.
22 | Avi Charkham (25.08.2012) analysiert in einem Blog-Post mit Screenshots die Design-
Tricks, die Facebook bei der Gestaltung der Benutzeroberfläche zum Erteilen von Zugriffsrechten
für externe Apps verwendet.
23 | https://developers.facebook.com/docs/facebook-login/userexperience; Stand: 2018-02-
10.
24 | Mit »conversion rate« ist die relative Anzahl neuer App-Benutzer oder Seitenbesucher ge-
meint, die auch tatsächlich einen Nutzeraccout anlegen, bei denen das Onboarding also erfolg-
reich verläuft.
Big Data Is Watching You 95
In addition, after people have logged in with Facebook, don’t prompt them to create a
username or password. One of the most popular reasons people log in with Facebook
is because ›it’s fast and easy and I don’t have to enter a password‹. After logging in with
Facebook, people especially do not want to have to create a username or password.« (Ebd.)
Auch der Sensibilität persönlicher Informationen sind die Autor_innen dieser
Guidelines sich bewusst, zumindest insofern als ein zu ›forsches‹ Vorgehen beim
Einholen von Berechtigungen sich negativ auf die »conversion rate« auswirke. Ein
probates Mittel, wieder aus dem Repertoire des Nudging, wird wenige Absätze
später an die Hand gegeben:
»Only ask for the permissions you need
The fewer permissions you ask for, the easier it is for people to feel comfortable granting
them. We’ve seen that asking for fewer permissions typically results in greater conversion.
You can always ask for additional permissions later after people have had a chance to try out
your app. […] People are most likely to accept permission requests when they understand
why your app needs that information to offer a better experience. So trigger permission
requests when people are trying to accomplish an action in your app which requires that
specific permission.« (Ebd.)
Anders gesagt heißt das, man solle die von der App oder der Website geforderten
(über das Default hinausgehenden) Zugriffsrechte auf persönliche Informationen
nicht zu Beginn, bei der Registrierungmittels Facebook Login, offenlegen und die
Zustimmung bereits dann abfragen, sondern jede benötigte zusätzliche Berech-
tigung solle besser »in context« eingeholt werden – also nachdem sich die Nut-
zer_in bereits darauf eingelassen hat, im Rahmen des Onboarding einen ersten
Teil ihrer Informationen preiszugeben und vielleicht schon verschiedene Einga-
ben oder Bewegungen auf der Seite beziehungsweise in der App vollzogen hat,
wonach die Wahrscheinlichkeit geringer ist, dass sie alles wieder abbricht. Wird
eine Berechtigung, die man eigentlich nicht so gerne erteilt, erst später eingeholt
– zum Beispiel nachdem der User aufwendig ein Profil konfiguriert und Texte
über sich hinterlegt hat (etwa auf einer Dating-App oder beim Einreichen eines
Inserats auf einer Verkaufsplattform) oder kurz vor Ende eines Bezahlvorgangs –,
dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Berechtigung nicht erteilt wird, gerin-
ger als wenn man den User direkt zu Beginn danach fragt. Genau zu diesem Stil
eines »User Experience Designs« zwischen künstlich-oberflächlicher Wohlfühl-
atmosphäre und subtiler Entmündigung fordert Facebook die Entwickler_innen
externer Apps und Seiten in den Guidelines aktiv auf. Das Design von Benut-
zeroberflächen im Netz kreist heute zu großen Teilen darum, statistisch gesehen
möglichst effiziente »Wahlarchitekturen« zur Produktion hoher Konversionsra-
96 Rainer Mühlhoff
ten bereitzustellen.25 UX Design, das zeigt sich hier gut, operiert stets unter be-
stimmten psychologischen Prämissen, die aber nicht rein deskriptiv verwendet
werden, sondern – als langfristiges Resultat vieler kleiner solcher Ansprachen
durch entmündigende Interfaces – auch eine bestimmte Subjektivität, eine be-
stimmte Haltung des »Ein Passwort eingeben ist mir zu lästig«, »Ich will über-
haupt nicht darüber nachdenken müssen, ob ich auf dieser Seite schon einen
Account habe oder nicht« produzieren.
Nun mag bei alledem die Frage auftauchen, warum Facebook und Google ei-
gentlich motiviert sind, das Leben externer App- oder Website-Entwickler_innen
durch die Bereitstellung solcher aufwendigen Programmierschnittstellen und da-
zugehöriger UX-Guidelines und durch die Weitergabe von Kundendaten an Drit-
te zu erleichtern. Hier zeigt sich nun eine Art »doppeltes Nudging« im Zusam-
menhang mit den zentralen Authentifizierungsdiensten, denn es nudgen nicht
nur die Website-Betreiber ihre User zu einer Entscheidung, durch die sie an de-
ren persönliche Daten kommen, sondern es nudgen auch Facebook und Google die
Entwickler_innen von Apps und Websites dazu, diese Authentifizierungsservices zu
benutzen. Der Punkt ist, dass Google und Facebook von der Bereitstellung der
Authentifizierungsdienste insofern profitieren, als sie damit an weitere enorm
detaillierte Informationen über das Konsumverhalten ihrer Nutzer_innen gelan-
gen. In dem Moment, in dem ein User sich über den Facebook Login bei ei-
nem externen Service (beispielsweise eine Dating-App) registriert, erhält nicht
nur dieser Service die personenbezogenen Daten der Nutzer_in, sondern auch
Facebook die Echtzeit-Information, dass diese Nutzer_in gerade diesen externen
Service nutzt. Hier kommt nun der Plattformeffekt zum Tragen, der bedeutet,
dass dies für Facebook und Google umso interessanter wird, je verbreiteter ihr
Login_Verfahren bei externen Services ist, denn diese Plattformen verfügen dann
– anders als die einzelnen Anbieter externer Services – über das Wissen, welche
Kombination verschiedener externer Services ein bestimmter Benutzer gleichzei-
tig oder nacheinander verwendet. Gegen den für die Plattformen sehr geringen
Preis der Überlassung von persönlichen Daten über die User erhält die Plattform
also detaillierte Informationen darüber, was der User gerade außerhalb der eige-
nen Plattformgrenzen tut – ob er einen Mietwagen gebucht hat, wie häufig er die
Online-Dating-App öffnet, ob er bei Airbnb etwas angeboten oder gesucht hat etc.
25 | Unten auf der zitierten Seite bietet Facebook den Entwickler_innen auch sein eigenes
Statistik-Tool zum Erfassen der Konversionsrate an: »Facebook Analytics lets you monitor your
conversion rates for free« (ebd.) und ermöglicht die detaillierte Auswertung, an welchem Schritt
im Benutzungsfluss die Nutzer_innen verloren gehen. Das heißt insbesondere auch, dass Web-
sites, welche den Facebook Login verwenden, die schrittgenaue Erfassung von Nutzerbewegun-
gen durch Facebook ermöglichen. Diese Daten werden somit durch Facebook erfasst und können
auch mit anderen Profildaten und daraus abgeleiteten Persönlichkeitsprofilen und Metriken kom-
biniert werden. Siehe auch Mühlhoff 2018.
Big Data Is Watching You 97
Echtzeit-Informationen über das, was Nutzer_innen gerade tun, gelten als extrem
wertvolle und gut vermarktbare personenbezogene Daten.
Aus Sicht der Plattformunternehmen Google und Facebook sind die zentralen
Authentifizierungsdienste also eine Technologie, mit der die Reichweite der eige-
nen Tracking- und Datensammlungsmechanismen über die Grenzen der eige-
nen Plattform hinaus enorm erhöht wird. Diese höhere Penetration ihrer dezen-
tralen Trackingdienste im Netz macht diese Dienste profitabel, denn die erhöhte
Reichweite erlaubt die Anfertigung detaillierterer behavioreller und psychometri-
scher Analysen der Nutzer_innen durch Big Data-Verfahren, die in einem breiten
Kontext von Anwendungsmöglichkeiten, vom Risk Controlling über health scores
bis zu targeted ads, vermarktet werden können. Gerade für Facebook, das anders
als Google zunächst eine geschlossene Plattform ist, ist diese Vergrößerung der
Reichweite über die eigenen Plattformgrenzen hinaus von enormer Bedeutung.26
An dieser zweiten Klasse von Beispielen ist eine Technik der ›freiwilligen‹ und
›konsensuellen‹ Gewinnung von Nutzerdaten erkennbar, die nicht wie in der ers-
ten Klasse unbemerkt und unter der Oberfläche verfährt, sondern auf Grundlage
expliziter situativer Nutzerentscheidungen möglich ist und über das Design von
choice architectures statistisch gesehen möglich gemacht wird. Anders als bei einer
grundsätzlichen Einwilligung zum Beispiel in »Allgemeine Nutzungsbedingun-
gen« ist hier eine fallweise, aktive Handlung der Nutzer_in erforderlich. Doch es
kann kaum davon die Rede sein, dass die Nutzer_in sich grundsätzlich in einer
wissenden oder urteilskompetenten Position befindet, denn es bleibt strategisch
verborgen, welche Formen der Datenerhebung undDatenaggregation undwelche
Generierung abgeleiteter Daten diese situative Zustimmung ermöglicht.
Dieses subtile Framing, das ein freiwillig unfreiwilliges, konsensuelles, aber
doch nur oberflächlich informiertes Nutzerverhalten erzeugen möchte, ist die be-
deutendste Technik im Zusammenhang mit der massenweisen Erhebung von
Nutzerdaten im Netz. User Tracking ist dabei nicht nur das Geschäft großen Fir-
men und einer weltweiten Kohorte von Techniker_innen und Ingenieur_innen,
sondern auch der Gegenstand eines Diskurses in Verhaltenswissenschaften und
angewandter (Verhaltens-)Psychologie. Benutzerführung und »UXDesigns« wer-
den speziell auf die Trackbarkeit der User optimiert, das heißt, die Gestaltung von
Benutzeroberflächenwird darauf ausgerichtet, dass Nutzer_innenmöglichst viele
verwertbare Daten hinterlassen. Das Wissen, die Techniken, die Infrastrukturen,
Narrative und Subjektivitäten, die im Zusammenhang mit diesen Praktiken ent-
stehen, bilden im vollen Sinn ein Dispositiv (vgl. Foucault 1978 [1977]). Das heißt
26 | Facebook Login ist nicht die einzige Technologie, die das erlaubt. Noch wichtiger und
als fundamentaler game changer in der Internetwelt betrachtet war die Einführung des »Like-
Buttons« auf externen Seiten, die es Facebook ebenfalls erlaubt, die Aufrufe externer Seiten
zu loggen (ohne dass der Like-Button dafür tatsächlich betätigt werden müsste, weil schon das
Laden des Code Snippets, der ihn zur Anzeige bringt, einen Kontakt zum Facebook-Server aufbaut
und somit den Seitenaufruf verrät).
98 Rainer Mühlhoff
insbesondere zweierlei: Erstens kann man ihre gesellschaftlichen Auswirkungen
oder Gefahren nicht auf der Ebene von Einzelfällen beurteilen, sondern muss
das implizite strategische Zusammenspiel vieler Orte, an denen solche Interak-
tionsdesigns verwendet werden, und der in der Schaffung dieser Interfaces be-
teiligten Wissenspraktiken und ökonomischen Interessen in den Blick nehmen.
Zweitens spielt in der Funktionsweise dieses Dispositivs die Hervorbringung ei-
ner bestimmten subjektiven Wahrnehmungsweise der Nutzer_innen selbst eine
entscheidende Rolle, denn die Datenerhebung erfolgt hier nicht heimlich und un-
ter der Oberfläche, sondern durch die aktive und prinzipiell wissendeMitwirkung
jedes Einzelnen.
Beispiel 3: Menschengestützte Künstliche Intelligenz
In der ersten Fallstudie wurde diskutiert, wie Google die Reaktionen seiner Such-
maschinennutzer_innen auf angezeigte Suchresultate erfasst und mit zahlrei-
chen weiteren über die konkrete Nutzer_in bekannten persönlichen, psycholo-
gischen und wirtschaftlichen Daten korrelieren kann. Anhand dieser Daten kann
Google die Qualität seiner Suchresultate, seiner risk-assessment-Services und des
Targetings seiner individualisierten Werbung verbessern. Meine These ist, dass
hier eine technologische Strategie sichtbar wird, die für gegenwärtige Netztech-
nologien paradigmatisch ist. Etwas allgemeiner kann dieses Paradigma so formu-
liert werden: Menschliche kognitive Kapazitäten gelten als Ressourcen, die unbemerkt
in einen technischen Apparat eingespannt werden können, der im Ganzen dadurch
eine bestimmte informationsverarbeitende Aufgabe optimieren kann. Es handelt sich
hierbei um einen allgemeineren technischen Trend, den ich im Folgenden als
»menschengestützte künstlichen Intelligenz«, oder Human-Aided AI, bezeichne
(Mühlhoff 2019).27
ImHintergrund dieser Überlegung steht die Beobachtung, dass sich mit dem
Web 2.0 eine schleichende, aber grundlegende Transformation im Verständnis
von künstlicher Intelligenz (KI) zugetragen hat. In der Mitte des 20. Jahrhun-
derts, zu Zeiten von Turing und Minsky, verstand man unter KI die Technikvisi-
on, dass eine Rechenmaschine irgendwann zu kognitiven Leistungen fähig sein
würde, die die kognitiven Leistungen eines Menschen ersetzen können (Simulati-
onsverständnis von KI). Diese Überlegung führte etwa zu Konstrukten wie dem
Turing Test oder des Chinese Room-(Gedanken-)Experiments. Im beginnenden
21. Jahrhundert, das weitgehend vom Gedanken der Vernetzung getragen ist –
nicht nur des Sozialen, sondern auch in Gestalt dezentraler Rechenkapazitäten
27 | Im Englischen ist der Term »human-assisted artificial intelligence« geläufiger. Obwohl er
noch nicht in der wissenschaftlichen Literatur angekommen ist oder zum Gegenstand kritischer
Debatten wurde, wird er in der Blog-Sphäre rege verwendet, siehe exemplarisch Pichsenmeister
02.12.2016.
Big Data Is Watching You 99
und Informationsflüsse –, hat sich das Verständnis von KI diversifiziert und wei-
terentwickelt. Künstliche Intelligenz bezeichnet heute nicht mehr nur Routinen
oder Softwareprogramme, die die kognitive Leistung des Menschen simulieren
können, sondern hat auch die Gestalt eines dezentralen technischen, wirtschaft-
lichen, sozialen und politischen Apparats angenommen, der die kognitiven Mi-
krofähigkeiten von Menschen möglichst passgenau einhegt und abschöpft, um im
Ganzen – als eine auf höherer Ebene emergierende Form der KI – eine bestimmte
informationsverarbeitende Leistung zu erbringen. Das simulatorische Verständ-
nis von KI, so die kritische These, wird in der Praxis heute in vielen Bereichen
durch ein Immersionsverständnis von KI ersetzt oder ergänzt. Menschengestützte
KI zeichnet sich dadurch aus, dass menschliche kognitive, soziale und affektive
Ressourcen lückenlos in ein größeres Gefüge von Computernetzwerken einge-
baut werden, als »wet-ware« in einem heterogenen Ensemble von Hardware und
Software, Menschen und Maschinen, etwa um Trainingsdaten zu gewinnen, die
Fehleranfälligkeit von KI zu reduzieren oder um die menschliche kognitive Fä-
higkeit als fest verschaltete Ressource in hybriden Mensch-Maschine-Netzen aus-
zubeuten.
Im Zusammenhang mit Internetanwendungen finden sich zahlreiche große
und kleine Beispiele für diese Technik einerHuman-Aided AI. Sweatshops auf den
Philippinen, in denen schlecht bezahlte Arbeitende vor Computerterminals sitzen
und die Fotos, die von Usern weltweit auf Facebook hochgeladen werden, auf ver-
botene Inhalte hin klassifizierenmüssen, sind ein besonders brutales Beispiel für
die Einbindung einer menschlichen kognitiven Kapazität in ein Computernetz-
werk.28 Es markiert ein extremes Ende des Spektrums dessen, was als Human-
Aided AI bezeichnet werden kann, weil in diesem Fall eine globale wirtschaftliche
Ungleichheitssituation die Rahmenbedingungen dafür bietet, Arbeitskräfte expli-
zit und unter schweren gesundheitlichen Folgen für eine kognitive Fähigkeit aus-
zubeuten, die die automatische Bilderkennung noch nicht ganz ersetzen kann.
Automatische Bilderkennung sortiert das Bildmaterial nämlich lediglich vor, so
dass nur die wirklich harten und Zweifelsfälle den Klickarbeiter_innen auf den
Philippinen vorgelegt werden, was deren psychische Belastung bis hin zur Post-
traumatischenBelastungsstörung noch erhöht, weil damit dieDichte brutaler und
schwer verarbeitbarer Bildinhalte im Stream der anzuschauenden und zu klassi-
fizierenden Items steigt.
Zur Thematisierung von Entmündigung eignet sich ein schlichteres und we-
niger schmerzhaftes, dafür in der täglichen Interaktion zwischen Benutzer und
Maschine lokalisiertes Beispiel für Human-Aided AI. Im Design der Facebook-
Benutzeroberfläche hat es irgendwann zwischen dem Jahr 2009 und 2013 eine
Umstellung gegeben. Vor dieser Umstellung enthielt die »Info«-Sektion des ei-
genen Profils verschiedene Felder wie »Interests«, »Favorite Music«, »Business
Skills« etc., die jeweils eine freie Eingabe von Text erlaubten. So speicherte eine
28 | Siehe Reuter 27.04.2016 sowie Der Standard 29.04.2016.
100 Rainer Mühlhoff
Abbildung 2: Facebook-Profil im Jahr 2009 (Screenshot vom 25.04.2009). Ungepars-
te Informationen im Stil eines Steckbriefs. Quelle: Sarah Elias, http://gandt.blogs.bryn
mawr.edu/web-papers/web-papers-4-multimedia-projects/facebook-mosaic/. Verpixelun-
gen hinzugefügt.
Nutzerin im Feld »Interests« zum Beispiel wörtlich: »harry potter, naturally« (sie-
he Abbildung 2). Nach der Umstellung wurde die Möglichkeit der freie Eingabe
von Informationen in denmeisten Feldern eines Facebook-Profils abgeschafft und
durch einen partizipativen Echtzeit-Parsingmechanismus ersetzt. »Parsen«, das
ist in der Informatik das Problem der strukturellen und semantischen Zergliede-
rung und maschinellen Erfassung einer Dateneingabe. Gibt man heute in einem
der Felder eines Facebook-Profils – im Folgenden am Feld »Professional Skills«
demonstriert, siehe 3 – etwas ein, dann wird noch während des Tippens direkt
unterhalb des Eingabefeldes eine ständig aktualisierte (inkrementelle) Suchre-
sultateliste angezeigt, die zu dem eingegebenen Wortfragment hinterlegte Items
anzeigt. Es ist nicht möglich, ein Wort als »Professional Skill« einzutragen, das
nicht aus dieser Liste gewählt wird; es handelt sich um eine Hybridfunktion aus
freier Eingabemöglichkeit und Auswahl aus einem festgelegten Verzeichnis von
Optionen. Aus Sicht des Betreibers ist der zentrale Gewinn dieser Technik, dass
damit das Problem der strukturellen Aufarbeitung (Parsing) der Eingabe vermie-
den wird. Eine trickreiche Gestaltung der Mensch-Maschine-Interaktion greift in-
teraktiv in den Prozess der Dateneingabe ein, so dass die Nutzer_in dabei selbst
die Aufgabe übernimmt, ihre Angaben einer serverseitig registrierten semantischen
Kategorie zuzuordnen. Es wird damit ein strukturelles Item in der Datenbank ge-
speichert, die erfasste Information ist sofort in wirtschaftlich verwertbarer Weise
Big Data Is Watching You 101
Abbildung 3: Facebook-Profil im Jahr 2018. Das Parsing-Problem wird umgangen, indem
die Nutzer_in interaktiv dazu genudged wird, semantisch aufgearbeitete Daten einzugeben.
Quelle: facebook.com, Screenshots des Verfassers vom 30.01.2018.
102 Rainer Mühlhoff
aufbereitet. Eingaben wie »harry potter, naturally« oder »see for yourself: http:
//www.last.fm/user/...« (Fig. 2) sind in dieser technischen Rahmung der Nutzer-
interaktion nicht möglich – sie sind aber auch nicht erwünscht, weil sie sich nicht
automatisiert verwerten lassen.
Es handelt sich hierbei um eine gezielte und auf dem Weg des Interface-
Designs implizit erwirkte Einbindung der menschlichen kognitiven Fähigkeit in
ein dezentrales Computersystem, mit dem Ziel, strukturell und semantisch ver-
wertbare Informationen anstatt bloß einer schwer interpretierbaren, eventuell frei
gestalteten Zeichenkette als Eingabe zu erhalten. Nach dem kybernetischen Prin-
zip einer Feedbackschleife wird es durch dieses Interaktionsdesign der Nutzer_in
überlassen, zu ermitteln, welche der vorgeschlagenen Kategorien am ehesten der
semantischen Interpretation der von ihr eingegebenen Zeichenkette entspricht
– anstatt dass eine Maschine die Nutzereingabe im Hintergrund interpretieren
müsste und dabei Fehler machen würde, die nie korrigiert werden können, wenn
das Resultat der Nutzer_in nicht sofort angezeigt wird. Der technisch aufwändi-
ge und fehleranfällige Schritt der semantischen Interpretation oder Aufbereitung
(Parsing) von Nutzerdaten wird hiermit also direkt an die Nutzer_innen outge-
sourced, als wären sie kleine informationsverarbeitende Module (»wet-ware«) in
einem großen Computernetzwerk.
Diese strukturelle und damit maschinenverarbeitbare Erfassung von Profilda-
tenmacht es der Plattform erstmöglich, zumBeispiel die persönlichen Interessen
und beruflichen Fähigkeiten der Nutzer_innen als Datenpunkte in den »sozia-
len Graphen« einzufügen. Nutzer_innen können dadurch nach ihren Gemein-
samkeiten in diesen Dimensionen verknüpft werden und durch den Echtzeit-
Parsingmechanismus werden sie überdies dazu aufgefordert, diese Verknüpfun-
gen selbst auszuweisen. Bei den auswählbaren Items der Liste handelt es sich nicht
um einen von Facebook-Mitarbeiter_innen ausgearbeiteten Katalog, sondern um
all das, was andere Benutzer auf Facebook »geliked« haben – die Liste ist also
nicht starr codiert, sondern wird nach einem dynamischen und immanenten Me-
chanismus der Plattform generiert. Und umgekehrt: Eine Information über den
User, die diesen nicht mit anderen Usern verknüpft, ist für Facebook wertlos und
deshalb ihre Erfassung uninteressant – daher kommt es, ökonomisch betrachtet,
nicht auf freie Eingabemöglichkeiten an. Nur durch strukturierte Informationen
erhöht sich die verfügbare Datenauflösung für die Zwecke automatisierterWeiter-
verarbeitung, etwa zur Gewinnung eines psychometrischen Persönlichkeitsbildes
der Nutzer_in, das im Rahmen von Risikomanagement-Services, targeted ads und
anderen Big-Data-getriebenen Analysen vermarktet werden kann und wird.
Big Data Is Watching You 103
3 Digitale Entmündigung
In einem reichhaltigen Sinn ist eine Entscheidung freiwillig, wenn sich ein Sub-
jekt bewusst ist, worüber es entscheidet, die Sache ihm also nicht untergescho-
ben wird; wenn das Subjekt hinreichend informiert und gebildet ist, um über die
Sache Bescheid wissen und urteilen zu können; wenn das Subjekt auch über veri-
table Alternativen zu der Entscheidung verfügt, wenn die Situation also eine echte
Wahlmöglichkeit bietet. Nach diesem Verständnis ist die Consent-or-leave-Policy
bei Nutzungsbedingungen – zustimmen oder nicht nutzen – keine freie Entschei-
dungssituation. In dieser Differenzierung deutet sich ein starker und normativer
Begriff der Freiwilligkeit an, der nicht nur das entscheidende Subjekt, sondern
die Rahmung der Entscheidung betrifft. Denn diese Rahmung kann Freiwillig-
keit ermöglichen oder strategisch sabotieren. Wenn Wahlarchitekturen digitaler
Interfaces das Einsatzfeld einer Macht- und Marktstrategie bilden, betrifft diese
Norm besonders auch die Form der Ansprache (durch das technische Gerät), die
ein Subjekt zur Freiwilligkeit ermächtigen kann oder nicht.
Dieser Aspekt bleibt radikal unbeleuchtet in einer Diskussion um Daten-
schutz, die sich zu sehr auf illegal erlangte Daten fokussiert. Datenschutz wird
dadurch verengt auf dieGefahr des personalisiertenAngriffs – jemand interessiert
sich fürmeineDaten.Was jedoch gesellschaftlich und sozial viel schwerer wiegt ist
nicht der Einbruch in die Geheimnisse des Einzelnen als Einzelnen, also die Erlan-
gung dessen, was jemand Konkretes nicht preisgeben wollte. Sondern es sind die
Wahrscheinlichkeitsaussagen, die man regulär über jedes beliebige Individuum
anhand eines Massendatensatzes treffen kann. Die Gefahr bilden die Daten, die
Nutzer_innen täglich freiwillig zur Verfügung stellen, und die abgeleiteten Daten
(Korrelationen mit anderen Usern), die daraus generiert werden.29 Die heute öf-
fentlich geführte Debatte umDatenschutz hingegen fokussiert auf einen liberalis-
tischen Individualismus und verliert damit die fundamentalen Transformationen
des Sozialen und Politischen aus den Augen, die die ökonomische, polizeiliche
und politische Verwendung von Daten alsMassendatenmöglich macht.
Der Massendatensatz fällt durch die kollektive Nutzung von Plattformservices
an und erlaubt es, beliebige Individuen umfangreich und mit hoher Auflösung in
Relation zu anderen Individuen einzuordnen, zu beurteilen und zu diskriminie-
ren. Diese Effekte werden nicht durch die möglichst hohe Detailtiefe der über ein
bestimmtes Individuum erhobenen Daten möglich, sondern durch die Menge der
Vergleichsobjekte und Vergleichsdaten. Man trägt zu den sozialen Selektionsef-
fekten, zu ökonomischen, politischen und sozialen Ausgrenzungen und Hierar-
chisierungen durch Big Data auch dann bei, wenn man selbst durch die Erhe-
bung seiner Daten keine negativen Effekte zu befürchten hat und als Einzelner
29 | Siehe zur Verwendung abgeleiteter Daten in einer Vielzahl gesellschaftlicher und ökono-
mischer Bereiche ausführlich O’Neil 2016 und speziell zu den sozialen Implikationen auch die
Kampagne http://www.socialcooling.com/ von Tijmen Schep.
104 Rainer Mühlhoff
kein Problem darin sieht (vgl. O’Neil 2016). Die Subjektivität derer, die alltäglich
ihre Daten zur Verfügung stellen, »weil es so bequem ist«, weil sie »ja nichts
zu verbergen haben« oder »es sowieso schon zu spät« sei, ist aus diesem Grund
ein politisches und gesellschaftliches Problem. Das Phänomen der »freiwilligen«
Datenpreisgabe muss viel genauer untersucht und auch auf Ebene der zugrunde-
liegenden subjektiven Mechanismen kritisiert werden.
Mit dem Begriff »Subjektivität« in diesem Zusammenhang ist gemeint, dass
das hier besprochene Nutzerverhalten selbst in einer Relation wechselseitiger
Hervorbringung mit den technischen Dispositiven steht. Nutzer_innen sind den
medialen Oberflächen, dem Interfacedesign, in denen die oben besprochenen
Nudging-Techniken am Werk sind, täglich ausgesetzt. Es gibt so etwas wie eine
Techniksubjektivierung in digitalen Räumen, das ist der über längere Zeiträu-
me sich einstellende Effekt der Hervorbringung einer konkreten Art und Weise,
technische Services und Interfaces wahrzunehmen und sich in ihnen und zu
ihnen – und vermittels ihrer auch zu anderen und zur Gesellschaft – zu verhalten.
Teil dieser Techniksubjektivierung ist eine geschärfte Wahrnehmung dafür, was
eine »gute« und was eine »schlechte« Benutzerführung ist. Darunter fällt auch
eine Aversion gegen Konfrontationenmit technischen Details; das Paradigma des
»user-centered designs«30 formuliert genau die Anspruchshaltung, dass die Technik
benutzbar sein muss, ohne von der Nutzer_in zu verlangen, einen Informatikab-
schluss zu haben, ein Manual zu lesen, überhaupt nachdenken zu müssen.31
In einem Zeitalter jedoch, wo der Diskurs des Designs technischer Interfaces
es methodologisch genau darauf abstellt, menschliche Regungen – affektiv, psy-
chologisch, körperlich, kognitiv, sozial, politisch – detailliert quantitativ erfassen
und antizipieren zu können, ist gerade die Kategorie des »Willens«, die ja im
Begriff der »Freiwilligkeit« vorkommt, eine hart umfochtene und äußerst unzu-
verlässige Kategorie. Das Wissen dieses Diskurses möchte nicht nur Interfaces
gestalten, in denen im subjektiven Gefühl der Freiwilligkeit mit maximaler Wahr-
scheinlichkeit eine bestimmte, von anderen vorgefasste Entscheidung getroffen
wird. Das Momentum dieser Entwicklung reicht viel weiter, bis zur Vision etwa,
dass die Suchmaschine Google auf Grundlage prädiktiver Analysen Antworten
liefert, noch bevor überhaupt eine Frage gestellt werden muss – genauso wie
Amazon sich im Jahr 2013 ein Verfahren des »pre-shipping« patentieren ließ, nach
dem auf Grundlage vorauskalkulierten Kundenverhaltens Produkte zum Kunden
nach Hause oder in seine Nähe geliefert werden, noch bevor eine Bestellung
eingegangen ist.32
30 | Siehe Donald Norman (1988): The Design of Everyday Things, eines der Manifeste zum
user-centered design, das zuerst unter dem Titel The Psychology of Everyday Things erschien.
31 | Don’t Make Me Think! ist der Titel eines in den 2000er Jahren beliebten Web-Usability-
Standardwerks von Steve Krug (2005), worin er das gleichlautende Prinzip auch zur Regel Nr. 1
für gutes Webdesign erklärt.
32 | US patent #US008615473, vgl. http://techcrunch.com/2014/01/18/amazon-pre-ships/.
Big Data Is Watching You 105
Das Paradigma des user-centered designs, die Erwartung von Einfachheit und
Intuitivität der Bedienung, ist in Bezug auf die Frage der Techniksubjektivierung
einer der prägenden Trends in der aktuellen Dekade. Es handelt sich bei der Be-
mühung um Nutzerfreundlichkeit nicht um ein spätes sozialkompetentes Erwa-
chen von Computer-Nerds, sondern um eine Machtstrategie, um einen Willen
zur Macht, der sich im Design materialisiert, und um ein Bestreben, Design-
Hegemonien in Bezug auf die Interaktionsschemata mit Technologien zu etablie-
ren, wie sich bereits im Studium der Developer Guidelines des Facebook Logins
andeutete. Zentral für diese Machtstrategie, wenn man sie als Strategie der Sub-
jektivierung von Nutzer_innen untersuchenmöchte, ist der Stil derAnsprache der
Nutzer_innen zum Beispiel durch landing pages, Dialogboxen, Allgemeine Ge-
schäftsbedingungen und Interfaces. Diese Ansprache wird mit viel Aufwand so
eingerichtet, dass sie ihre Nutzer_innen entmündigt, wenn Entmündigung be-
deutet, (1) den Nutzer_innen nichts zuzutrauen, also rein intuitives und ›beque-
mes‹ Entscheidungsverhalten von ihnen zu erwarten, und (2) ihnen keine unein-
deutigen Optionenräume zu überlassen, die sie vor Gabelungspunkte stellen, an
denen sie eventuell vor lauter Wahlmöglichkeiten nicht weiterkommen.
Das »UXDesign«macht demUser die Sachen also nicht deshalb einfach, weil
es ihm entgegenkommen möchte, sondern um ihn einzuhegen. Subjektiv korre-
liert das nicht nur mit der steigenden Bereitschaft, sondern mit der zur sozialen
Norm gewordenen Resignations- und Ohnmachtshaltung gegenüber Technik, in
der gefordert wird, das Technische am Technischenmöglichst nicht sehen zu wol-
len, es hinter einer »streamlined«, fließenden, erlebnisreichen Bedienoberfläche
verkapselt zu wissen – Grundkonzept der Marke Apple seit den 1980ern. Die Sa-
chen zu verkomplizieren, ihre Details und Ambivalenzen sichtbar zu machen, ist
im kulturellen und subjektiven Verhältnis zu Technik verpönter denn je – und in
diesem Punkt liegt eine unbemerkte Komplizenschaft einer über politische, so-
ziale und Klassengrenzen hinweg weit verbreiteten subjektiven Einstellung mit
den ökonomischen Interessen von GAFA.
Literatur
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Wie digitale Geräte uns nudgen, tracken und zur Unwissenheit erziehen«. In:
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106 Rainer Mühlhoff
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darkness-google-referral-url-2016/.
Tasten
Taktilität als Paradigma des Digitalen
Shirin Weigelt
Die Welt liegt heute mehr denn je in unserer Hand. Genau genommen: unter
unseren Fingerspitzen. Zwei, drei Tastenanschläge, und schon füllt sich ein Bild-
schirm mit Buchstaben. Wischbewegungen auf einer glatten Sensorfläche lassen
Texte und Bilder vorüberziehen. Ein Klick, und ein Foto wird aufgenommen, ein
Video oder Lied abgespielt, Ware gekauft, eine Diskussion begonnen, eine Infor-
mation angezeigt, eine Emotion mitgeteilt.
Aktuell findet bereits eine Vielzahl alltäglicher Abläufe digitalisiert statt. Glei-
ches gilt für wirtschaftliche, künstlerische, politische oder wissenschaftliche
Praktiken, die zunehmend auf informatischen Programmen, Anwendungen und
Netzwerken basieren. Auf dem Weg in die digitale Gesellschaft, deren Eintritts-
schwelle längst überschritten ist, haben sich auch die dazugehörigen techni-
schen Geräte in die Lebenswelt eingeschlichen. Die Ubiquität des Digitalen bei
gleichzeitig anhaltender Ausdifferenzierung der Aktualisierungsformen stellt
eine Herausforderung für Theorie- und Begriffsbildung dar. Diese Herausforde-
rung besteht umso mehr, da die Arbeit am Mythos des Digitalen nicht nur von
Forscher_innen unterschiedlicher Disziplinen geleistet wird, sondern beispiels-
weise auch von Soft- und Hardware-Herstellern. Deren kommerzielle Interessen
nehmen über die Vermarktung einzelner Produkte Einfluss auf das Diskursfeld
der Digitalität (siehe Distelmeyer 2017: 10 ff.), das unter anderem mit Narrativen
von liberalisierender Möglichkeitserweiterung und reibungsloser Konnektivität
bespielt wird. In diesem Sinn verweist zum Beispiel die Bezeichnung eines Da-
tenspeichers als »Cloud« eher auf ein mystisches Geisterreich, denn auf den
realiter zugrundeliegenden Serverpark. So erscheint Digitalität im gesellschaft-
lichen Diskurs insgesamt als vornehmlich unkörperliche, abstrakte und schwer
Mühlhoff, R.; Breljak, A.; Slaby, J. (Hg.): Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie
der Digitalen Gesellschaft. transcript 2019, S. 107–128. DOI: 10.14361/9783839444399-
005.
108 Shirin Weigelt
fassbare Domäne der »Nullen und Einsen«.1 Dass das Digitale im Kern derart
ungreifbar sein soll, ist der Mythos schlechthin, der mit den neuen Formen der
primären Informations- und Kommunikationstechnologien des 21. Jahrhunderts
einherging. Dabei ist gerade die Greifbarkeit, die Berührung zentral für das Funk-
tionieren der reaktiven Oberflächen heutiger Medienmaschinen. Während sich
Smartphones, Laptops und Tablets der direkt-körperlichen, tastenden Interaktion
permanent anbieten, rücken andersherum die informatischen Geräte und ihre
Anwendungen menschlichen Subjekten auf den Leib, vermessen und orten sie,
tasten ihre Regungen ab. Im diskursiven Ringen um ein besseres Verständnis
und Selbstverständnis digitaler Praktiken und Kulturen kommt es dann also da-
rauf an, die Materialität des Kontakts und der Schnittstellen zwischen Menschen,
Maschinen und Programmen auszuleuchten.
Gegen den Mythos von der Unkörperlichkeit des Digitalen tritt der vorliegen-
de Artikel mit einer Doppelthese an: Erstens führt Digitalisierung nicht zu einer
Loslösung der sozialen Praxis von materialen Bedingungen und ebenso wenig
zu einem Relevanzverlust von Körperlichkeit; zweitens lässt sich »Taktilität« als
die sinnlich-aisthetische Kategorie ausmachen, die für digitaltechnische Medien-
kulturen von zentraler Bedeutung ist. Zur Plausibilisierung dieser Doppelthese
wird in einem ersten Kapitel demjenigen Erbe der Schriftkultur nachgespürt,
welches den Kurzschluss von Digitalität und Geistigkeit – und damit dem ver-
meintlich Unkörperlichen – nahelegt. Von dieser epistemischen Altlast muss sich
die theoretische Annäherung an digitalmediale Zusammenhänge lösen, will sie
ihrem Gegenstand gerecht werden. Vilém Flusser, der sich mit der Schwelle der
zweiMediendispositive Schriftlichkeit undDigitalität auseinandergesetzt hat (sie-
he Bollmann 1997: 7), erweist sich hierfür als instruktiver Denker. Mit ihm als
Hauptstichwortgeber widmet sich das zweite Kapitel der Spezifik der Digitalkul-
tur, welche Flusser als »Universum der technischen Bilder« bezeichnet (Flusser
1996). Das dritte Kapitel lotet die Dimensionen und Funktionsweisen der Mate-
rialität und Sinnlichkeit digitaler Medien aus, indem es mit einem phänomenolo-
gischen Zugriff dessen Interfaces und Kopplungsmomente analysiert. Abschlie-
ßend werden vergangene und zukünftige Entwicklungen von Medientechniken
hinsichtlich ihrer Körpergebundenheit erörtert, mit der das Paradigmatischwer-
den des Taktilen in Digitalpraktiken einhergeht.
1 | Eine theoretische Erörterung des Digitalen, das auf »0 und 1« rekurriert, historisch jedoch
nicht notwendigerweise mit der Emergenz von Digitaltechnologien zusammenfällt, hat Alexander
R. Galloway in Laruelle: Against the Digital vorgelegt. Vgl. Galloway 2014.
Tasten 109
1 Mensch Maschine Programm
Virtuelle Realität, elektromagnetische Datenströme, künstliche Intelligenz oder
auch soziale Netzwerke – Annäherungsversuche an das Digitale spielen oftmals
im Register des Immateriellen. So wurde beispielsweise in den 1990er Jahren die
Verbreitung von PCs und Internetzugängen in Privathaushalten von einem me-
dienwissenschaftlichen Diskurs rund um virtuelle Welten, in die sich eine wach-
sende Zahl von Nutzer_innen etwa in Form von Online-Rollenspielen einklink-
te, begleitet. Mit zunehmender Relevanz des Cyberspace und von Virtual Reality
(VR) Technologien wurden immer öfter auch Fragen nach personaler Identität,
Emotionen und körperlichem Erleben entlang der Achse real/virtuell gestellt (vgl.
Esposito 1995). Nicht zuletzt legen die Debatten rund um Künstliche Intelligenz
(KI) nahe, dass die Fähigkeiten des menschlichen Geistes nach und nach von
programmierten Maschinen überflügelt werden könnten. Eine utopische Spielart
dieser Denkfigur findet sich beispielsweise in der transhumanistisch ausgerich-
teten Singularity-Bewegung, die auf eine technische Superintelligenz spekuliert.
Die Matrix-Filme der Wachowski-Geschwister haben zur Jahrtausendwende die
gleiche Idee eines Bedeutungsverlustes organischen Lebens mit fortschreitender
Weiterentwicklung von Digitaltechniken als Dystopie im popkulturellen Bewusst-
sein verankert. Geht es in derMatrix-Trilogie zwar um den Kampf der Menschen
gegen die intelligent gewordenen Maschinen, der durchaus auch auf physischer
Ebene geführt wird, ist der Ausgangspunkt des Rückeroberungsversuchs der »rea-
len«, physisch-materiellen Welt eine Zukunft, in welcher die Menschheit in einer
digital-programmierten Simulation – derMatrix – lebt.
In der Fluchtlinie all dieser Diskurse liegt die Vorstellung, dass die digitale
Medienkultur unkörperlich, abstrakt-vergeistigt oder schlicht nicht-materiell sei
– ein Topos der in Wissenschaft, Journalismus und Populärkultur immer wieder
aktualisiert wird und sich mittlerweile zum eingangs benannten Mythos des Di-
gitalen ausgewachsen hat. Er lässt sich auf eine Dichotomisierung zurückführen,
die tief im abendländischen Denken verwurzelt ist und zugleich an dessen spe-
zifischem medientechnischen Dispositiv hängt. Seinen philosophiegeschichtlich
greifbaren Anfang nahm dieses dichotome Denken mit der platonischen Schei-
dung des geistigen Reichs der Ideen von der sinnlichenWelt der Phänomene (vgl.
List 1996). Descartes vertiefte diese Kerbe, indem er zwischen ausgedehnterMate-
rie (res extensa) und denkender Substanz (res cogitans) unterschied. Transzenden-
talphilosophien arbeiten sich seither an der dualistischen Spaltung ab, indem sie
nach den Bedingungen und Grenzen der Vermittlung von sinnlicher und geisti-
gerWelt fragen.Notwendig ist diese Vermittlung jedoch erst vor demHintergrund
der metaphysischen Trennung von Geist und Körper, Sinn und Sinnlichkeit, Den-
ken und Welt, die historisch wie systematisch mit der Hochzeit der Schriftkultur
einhergeht. Und dies nicht zufällig, wie Flusser schreibt: »Da der Mensch im
Unterschied zu übrigen Lebewesen vor allem aufgrund erworbener und weni-
ger aufgrund genetisch ererbter Informationen lebt, hat die Struktur der Infor-
110 Shirin Weigelt
mationsträger einen entscheidenden Einfluss auf unsere Lebensform.« (Flusser
1996: 9). Medien allgemein schalten sich in das menschliche Selbst- und Welt-
verhältnis ein beziehungsweise stellen dieses her. Mit der Zeit können sich Prak-
tiken, wie etwa bestimmte Formen des Informierens und Kommunizierens, zu
Dispositiven sedimentieren, die historisch und lokal spezifisch ausgeprägt sind.
Demnach stehen das medientechnische Paradigma einer Epoche und ihre Denk-,
Wissens-, Wahrnehmungs- undHandlungsmöglichkeiten in einem intrinsischen
Zusammenhang. Die abendländischeGesellschaft und dasmediale Dispositiv der
Schriftkultur sind hierfür ein Beispiel.
Flusser zeichnet das Wechselverhältnis zwischen Medientechnik und Ge-
sellschaftsform in seiner Studie Ins Universum der technischen Bilder (Flusser
1996) anhand von vier Stufen der Mediatisierung (Artefakt, Bild, Text, techni-
sches Bild) nach. In dieser phylogenetischen Erzählung der abendländischen
Kulturgeschichte, die zugleich und zuvorderst eine Mediengeschichte ist, steht
das Heraustreten aus der Unmittelbarkeit am Anfang von Sinnproduktion und
Kommunikation überhaupt. Demnach brachen die ersten Menschen mit der
Eingebettetheit in die Natur und begannen, Objekte als eigenständige Entitäten
wahrzunehmen, auf die sie sich handelnd beziehen und die sie herstellen konn-
ten (ebd.: 10 f.). Artefakte, wie beispielsweise Faustkeile, dienten der Sinnkreation
und -vermittlung. In einem zweiten Entwicklungsschritt schoben sich bildliche
Darstellungen in die Subjekt-Objekt-Relation, die das konkrete (wortwörtliche)
Begreifen der Dinge in der Welt vermittelten. Flusser datiert diese Stufe der Me-
diatisierung durch paläolithische Höhlenmalereien auf einen Zeitpunkt vor mehr
als 40.000 Jahren. Schließlich wurden in neolithischen Gesellschaftsformen die
bildlichen Darstellungen, die Metacodierungen eines praktischen Umgangs mit
Welt waren, um ein weiteres System von Zeichen ergänzt. Weltzugang funktio-
nierte fortan auch über Schrift. Mit dem geschriebenen und später gedruckten
Text als Primärmedium setzte sich dann auch dessen sinnlich-aisthetische Struk-
tur als Paradigma des Denkens und der Wahrnehmung durch: Schriftkultur
geht laut Flusser mit einem linearen, historischen Bewusstsein einher, das den
Zugang zur Realität und die Bedeutsamkeit der Welt unter dem Maßstab der
Objektivität betrachtet (Flusser 1992). Die Sinnlichkeit der Welterfahrung wird
dabei der Vorherrschaft der Anschauung unterstellt (vgl. Flusser 1995: 15; Campe
2006), die nominal zwar am Sehsinn partizipiert, diesen jedoch in den begriff-
lichen Äther auflöst.2 Der Kurzschluss zwischen visus und ratio, zwischen dem
Sehen und rationaler, objektiver und subjektunabhängiger Reflexion hatte auch
zur Konsequenz, dass der individuelle, empfindsame Körper aus der Konzeptuali-
2 | Vgl. zur Vorstellung »innerer« und »äußerer« Sinne: Diers 1998 sowie zur Vermittlung zwischen
Sinn und Sinnlichkeit, die erst aufgrund der dualistischen Spaltung derselben notwendig wurde:
Krämer 1998.
Tasten 111
sierung von Erkenntnis- und Kommunikationsprozessen herausgehalten wurde.3
So hat sich die gegenwärtige Gesellschaft »historisch unter dem doppelten Primat
der Schrift und des Visualsinns gebildet« (Böhme 1996: 185). Mit dem Okular-
und Logozentrismus verfestigte sich die Körper-Geist-Dichotomie, da leiblich-
somatische Weisen der Welterfahrung durch das Primärmedium »Schrift« ab-
und theoretisch-mentale Weltzugänge aufgewertet wurden.
Das Primat der Schriftlichkeit, die auf semantische Sinnvermittlung zielt,
steht mit fortschreitender Digitalisierung aktuell jedoch in Frage. Nach einer
Welle der Technisierung, die ab Ende des 19. Jahrhunderts unter anderem zu
»neuen Medien« wie Radio oder Fernsehen geführt hat, sind digitale Medien wie
Computer und Smartphones von ersteren noch einmal qualitativ zu unterschei-
den – hauptsächlich da sie nicht bloß technologisch sind, sondern auch informa-
tisch, das heißt programmierbar. Trotz der Unabgeschlossenheit der Kultur- und
Medienrevolution, bezogen auf welche Flusser auch von einem Emportauchen
einer neue Gesellschaftsform spricht (Flusser 1996: 8), kann die Annäherung an
die Differenz zwischen Schrift- und Digitalkultur nicht in alten Begriffs- und
Denkschemata gelingen. Die Dichotomisierung von Sinn und Sinnlichkeit, die
zur einseitigen Betonung rationaler, objektiver und immaterieller Bedeutungs-
konstitution geführt hat, wird dem medialen Dispositiv digitaler Kulturen nicht
gerecht, kann die charakteristische Struktur digitaler Medien nicht greifen. Im
Gegensatz zu einer naheliegenden Fokussierung auf die immateriellen Momen-
te mediatisierter Information und Kommunikation ist es dem Gegenstand der
Auseinandersetzung angemessener, die Materialität digitaler Phänomene ins
Blickfeld zu rücken.
Diese Perspektive geht mit einer Komplexitätssteigerung einher, will sie das
Denken derMaterialität digitaler Phänomene nicht der veraltetenDichotomie von
Sinn und Sinnlichkeit, Körper und Geist preisgeben. So basieren zeitgenössische
Informations- und Kommunikationspraktiken auf Medien, die gleichzeitig tech-
nisch, das heißt konkret-gegenständlich, sowie informatisch (und damit abstrakt)
sind. Voraussetzung für Sinnkonstitution und -vermittlung im digitalen Zeital-
ter sind einerseits materiell-physische Geräte, deren Prototyp der Computer ist.
Andererseits können die maschinellen Entitäten jedoch nur aufgrund von algo-
rithmenbasierten Programmen als Medien genutzt werden. Eine Konturierung
des »Rechners« als gegenständliches Werkzeug, die dessen Technizität in den
Blick nimmt, ist zwar notwendig, jedoch für sich genommen nicht hinreichend
für dessen Konstitution als digitales Medium. Smartphones, Tablets, Laptops und
3 | Leibliche und somatische Momente von Kommunikationspraktiken, die im Medium der ge-
druckten Schrift verhandelt werden, bildeten lange Zeit Leerstellen in Diskurs und Forschung.
Die Bilder- und Körperfeindlichkeit abendländischer Metaphysik wurde ab Mitte des 20. Jahr-
hunderts von verschiedenen Denker_innen, beispielsweise aus dem Umfeld des Poststruktura-
lismus, in Frage gestellt. Daran schließen zeitgenössische Forschungen zur Schriftbildlichkeit,
Performativität, Affektivität oder aus dem Bereich feministischer Wissenschaftskritik an.
112 Shirin Weigelt
andereApparate,mit denen der Zugang zu digitalen Inhaltenmöglich ist, sindGe-
genstände, deren Zuhandenheit von programmierten Anwendungen bedingt ist.
Daher muss in der Auseinandersetzung mit digitalen Medien neben dem Aspekt
der sogenannten Hardware immer zugleich auch der Aspekt der sogenannten
Software berücksichtigt werden.4 Darüber hinaus ist die kulturtechnische, gesell-
schaftliche Seite mit zu betrachten. Hierunter fallen die menschlichen Nutzer_in-
nen als organisch-körperliche wie soziale Wesen. In Analogie mit den Begriffen
der Hard- und Software wird dieser dritte Aspekt des Gefüges nachfolgend als
»Wetware« bezeichnet. Diese Termini dürfen dabei nicht so verstanden werden,
dass sie dem Körper-Geist-Dualismus erneut Gewicht verleihen. Sowohl die ma-
schinellen als auch die informatischen Komponenten digitaler Systeme bestehen
jeweils aus materiellen wie immateriellen Momenten, die ineinandergefügt die
größere Einheit eines datenverarbeitenden Programms oder eines datenverarbei-
tenden Apparates ergeben.5
Die Konzeptualisierung digitaler Medien als Trias aus Hard-, Soft- und Wet-
ware erlaubt es, dem dualistischen Denken, das zuvor als ein Erbe der Schriftkul-
tur erörtert wurde, zu entkommen. Mensch, Maschine und Programm bilden in
einem komplexen Zusammenspiel das »agencement« des Digitalen. Mit diesem
von Gilles Deleuze und Félix Guattari entwickelten Konzept lassen sich digitale
Medien als ein Gefüge von heterogenen, gleichsammateriellen wie geistigen (dis-
kursiven, symbolischen, sinnhaften) Elementen begreifen (Deleuze und Guattari
1997).6 ImAllgemeinen umreißt ein agencement eine spezifische, zugleich jedoch
nicht abgeschlossene Einheit, die aus Kopplungen organischer, semiotischer, ma-
schineller oder andersartiger Teile besteht. Jedes dieser Elemente ist selbst wieder-
4 | Vgl. zur Gefahr der verkürzten Betrachtung des Computers als entweder bloß technisches
Objekt oder bloß vermittelndes Medium unter anderem Krämer 2002a: 99 f. sowie Distelmeyer
2017: 47.
5 | Friedrich Kittlers Diktum »Es gibt keine Software« (1993) widerspricht die diesem Artikel zu-
grundeliegende Perspektive, insofern sie Software nicht als gänzlich immateriell versteht. Codes,
Apps, Protokolle und algorithmische Funktionen sind ebenso wie die Chips, Platinen oder Touch-
screens auch materiell konstituiert und wirken auf die materielle Wirklichkeit ein. Bezogen auf
Computerkomponenten lässt sich das »soft« eher als leicht, das »hard« als schwer veränderbar
deuten.
6 | Foucaults Konzept des Dispositivs bietet sich ebenso zur Erörterung digitaler Phänomene
an, insofern es im Sinn eines historisch und lokal spezifischen Gefüges Verwendung im medien-
wissenschaftlichen Diskurs findet (vgl. Distelmeyer 2017: 50 ff.). Demgegenüber erscheint am
agencement-Begriff jedoch von Vorteil, dass dieser bereits die Vermittlung von Organischem und
Maschinellem beinhaltet, auf das im Weiteren noch wichtig werdende Moment der Kopplung ab-
hebt und Wirklichkeitskonstitution als genuin materiell wie immateriell auffasst. Letzteres nähert
die hier vertretene Position dem sogenannten »neuen Materialismus« an, wie er unter anderem
von Karen Barad ausgearbeitet wurde. Ihre Onto-Epistemologie des »agentiellen Realismus« trägt
das agencement bereits im Namen. Vgl. Barad 2012.
Tasten 113
um zusammengesetzt aus Unterstrukturen und Subsystemen, die ebenso mate-
rielle und immaterielle Aspekte besitzen. In ihrem Zusammenspiel und in In-
terefenz mit ihrer Umwelt produzieren die agentiell konstituierten Gefügeteile
Wirklichkeit und entfalten zugleich normierende Wirkungen. Mit Flussers Kom-
munikologie im Hinterkopf stellt sich dabei die Frage, welche Strukturen und
Ausdrucksformen die neuen, digitalen Medien als agencement aus Mensch, Ma-
schine und Programm aufweisen und wie sie auf die soziale Praxis und damit
auf die gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmög-
lichkeiten wirken.
2 Tasten
Digitalmediale agencements aus Mensch, Maschine und Programm ermöglichen
situativ spezifische Zugänge zurWirklichkeit, an deren Konstitution sie produktiv
mitwirken. Den Kopplungen, welche die Teile des Gefüges miteinander in Bezie-
hung setzt und es als Ganzes anschlussfähig an seine Umwelt macht, kommt im
Digitalen eine besondere Bedeutung zu. DigitaleMedien brauchen Schnittstellen,
auch Interfaces genannt, die zwischen Menschen, Maschinen und Programmen
vermitteln. Diese Schnittstellen, wie beispielsweise grafische Programmoberflä-
chen oder Computermaus und Tastatur, sind selbst nach dem Prinzip der Media-
lität organisiert, da sie eine Transcodierung, eine Übertragung und Übersetzung
der Ausdrucks- und Verstehensweisen des einen Teils des Gefüges in diejenigen
des anderen ermöglichen.7 So muss eine Nutzer_in beispielsweise wissen, wel-
che Funktionsangebote ein Programm bereitstellt (»Dokument speichern« oder
»Dokument schließen«) und das Programmmuss auf die getroffene Auswahl aus
diesen Funktionen durch die Nutzer_in (Klick auf »X« oder auf das »Disketten-
symbol«) reagieren können. Als allgemeines Prinzip ist das Übertragungs- und
Übersetzungsmoment in der Medientheorie bereits untersucht worden.8 Wenig
beachtet blieb jedoch die basale materielle wie aisthetische Voraussetzung dafür,
der Kontakt an sich, welcher dasmedialeGefüge, das digitale agencement zumLau-
fen bringt. Dabei bildet nicht länger das visuelle Moment den primären Modus
des Medien- und Weltbezuges der von Flusser theoretisierten emportauchenden
Gesellschaftsform digitaler Medienkultur. Mit dem Bruch zwischen Schriftlich-
7 | Die Teile eines Gefüges sind ontologisch nicht notwendigerweise gleichberechtigt. Aller-
dings eröffnet die Perspektivierung digitaler Medien als agencement die Denkmöglichkeit nicht-
menschlicher Ausdrucks- und Verstehensweisen. Vgl. grundlegend zum Konzept der Transcodie-
rung, die zwischen Gefügen und Gefügeteilen stattfindet: Deleuze und Guattari 2005: 426 ff.
Siehe zusammenfassend zur Interface-Theorie: Distelmeyer 2017: 36 ff.
8 | Sybille Krämer erörterte in diesem Sinn unter anderem das Moment der »Semiotisierung«
als Vermittlungsleistung zwischen dem virtuellen und dem realen Raum. Vgl. Krämer 2002b.
114 Shirin Weigelt
keit und Digitalität wird Taktilität mehr und mehr zum sinnlichen und damit
zugleich denk- und handlungsbezogenen Paradigma.9
Vom Finger, lateinisch: digitus, zum Digitalen ist es nicht weit. Der Weg führt
über das Zählen als einfache Form des Rechnens. Mit den Händen lässt sich Welt
konkret und demWortsinn gemäß begreifen. UmAusschnitte aus derWelt in ein
Verhältnis zueinander und zummenschlichen Körper sowie Geist zu setzen, eig-
nen sich die Finger ob ihrer Gliederhaftigkeit. Beim Ab- und Zusammenzählen
wird die Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit in diskrete Elemente zerlegt, die auf
verschiedene Weisen zusammengefügt und rekombiniert werden können. Eine
solcheWelt, beziehungsweise – umweiter in die Terminologie Flussers einzustei-
gen – ein »Universum« aus kombinierbaren Punktelementen ist das Digitale.10
Elektromagnetische Signale, alphanumerische Codeschnipsel, Bits und Pixel wer-
den im digitalenUniversum zu bedeutsamen Inhalten zusammengesetzt. Diesen
Prozess bezeichnet Flusser als »Kalkulieren und Komputieren«, der durch die
Geste des »mit Fingerspitzen auf Apparat-Tasten« Drückens in Gang gebracht
wird (Flusser 1996: 13).11 Knöpfedrücken und Tastentippen erweisen sich als para-
digmatischer Kopplungsvorgang zwischenmenschlichemSubjekt,Maschine und
Codierungsgeschehen.
Ausführlicher denn in Bezug auf den Computer hat Flusser diese Geste beim
Fotografieren untersucht (Flusser 1991: 127 ff.). Allerdings sind auch Taschenrech-
ner oderMikrowellen komputierende Apparate, die über Finger- bzw. Tastendruck
»bedient« werden und daraufhin Wirklichkeit herstellen. Im Falle digitaler Me-
dien erscheint diese Wirklichkeit in Form »technischer Bilder« (Flusser 1996).
Flusser besteht auf dem Unterschied zwischen einem Bild, wie etwa einer Höh-
lenmalerei oder einemGemälde, und einem technischenBild, wie einer Fotografie,
einem Film oder einer Grafik, die auf den Bildschirmen von Computern (oder
aktueller: Smartphones und Tablets, von denen Flusser noch nichts wusste) dar-
gestellt werden können. Technische Bilder sind zum einen durch Komputationen
– apparative Logiken der Zusammenstellung von Punktelementen – entstanden
9 | Vermittelt über die Medientheorie Marshall McLuhans kommt Till A. Heilmann zu einem
ähnlichen Schluss. Vgl. Heilmann 2010.
10 | Flusser charakterisiert Medien und Welt nach der sich aktuell vollziehenden Revolution als
»technisch«. Demgegenüber fasst der hier in Anschlag gebrachte Begriff des Digitalen nicht nur
die physisch-maschinelle, das heißt im engeren Sinne technische Seite, und die menschlichen
Nutzer_innen, die eine techné, eine Kunstfertigkeit bzw. Kulturtechnik im Umgang mit dem Com-
puter und dessen Generika ausgebildet haben, sondern ebenso das informatische Moment des
komputierenden (lat.: computare – zusammenrechnen) Rechnens und der alphanumerischen
Algorithmen. Vgl. zum Gebrauch des Computers als Kulturtechnik: Krämer und Bredekamp 2008:
15 ff.
11 | Siehe grundlegend zum Konzept der Geste, die Flusser als körperliche wie geistige und vor
allem affektive Praxis des bedeutsamen Weltbezugs erörtert: Flusser 1991.
Tasten 115
und erhalten ihre Bedeutsamkeit zum anderen nur aufgrund von »Einbildung«
(vgl. Flusser 1996: 39 ff.).
Im Gegensatz zur Einbildung als Imagination, die im Kant’schen Sinn eine
geistige Fähigkeit ist, die zur Wesensschau beiträgt, bewahrt Flusser in seinem
Begriff ein naives Moment der Täuschungsbereitschaft. Die konkreten Darstel-
lungen technisch generierter Bildoberflächen sind bloß eingebildet. Ein Katzen-
video erscheint als Abbildung einer Katze nur, solange über dessen komplexe
Bedingtheit, wie etwa die Videoaufnahmetechnik, die elektronischen Signale
oder die unterschiedlichen Rechenoperationen hinweggesehen wird, die dem
Video zugrunde liegen. Beispielsweise bestehen digitale Bilder aus Pixeln (der
Begriff »Pixel« ist ein Neologismus aus dem Englischen, zusammengesetzt aus
den Kurzformen »pix« für »picture« und »el« für »element«); also aus diskreten,
flächig-farbigen Werten, die der Abtastung durch maschinelle Sensoren oder
den menschlichen Sehsinn dienen. Zusammengesetzt zu einem Bild wirken die
Pixelstrukturen affektiv und können hermeneutisch erschlossen werden, weil
über ihre synthetische Punktstruktur, ihre Rasterhaftigkeit hinweggesehen wird.
Im alltäglichen Umgang bedarf es auf Seiten der Nutzer_innen digitaler Medien
hierzu kein aktives Übersehen, keine Anstrengung. Das Eingebildetsein ist der
Normalmodus, in dem sich digitale Medieninhalte präsentieren. Dabei wird ihre
ontologische Prozessualität und Materialität »depräsentiert« (Distelmeyer 2017:
93). Das heißt, dass die Darstellungen auf denOberflächen der digitalen devices als
»Katzenvideo« oder »Speicherschaltfläche«wahrgenommenwerden, ihre techno-
informatischen Voraussetzungen und Folgen jedoch nicht offenbar sind. Ob der
Nähe zwischen Mensch, Maschine und Programm erscheinen die technischen
Bilder konkret und unmittelbar, so dass sowohl über ihre Genese als auch ihre
Struktur hinweggesehen werden kann. In der Einbildung liegt neben dem Täu-
schungsmoment genuin ebenso ein kreatives Potenzial, eine (schaffende) Kraft:
Das »etwas für etwas anderes«-Halten ist an sich bereits ein differenzierender,
verschiebender Vorgang.
Neben dem Rechnen bzw. Kalkulieren und Komputieren, das als begreifende
Verhältnisabschätzung eine Nähe zum menschlichen Tastsinn aufweist, findet
sich auch im Einbilden als Spezifik digitaler Medien ein Hinweis auf das Para-
digmatischwerden des Taktilen – nicht nur, da beide Operationen über Knopf-
beziehungsweise Tastendruck ausgeführt werden. Die granularen Punktschwär-
me des digitalen Universums wirken aufgrund eines direkten Kontakts, einer Art
Berührung der menschlichen Sinne. Über ein solches anthropozentristisches Af-
fizierungsgeschehen hinaus lässt sich in digitaltechnisch vermittelten Praktiken
auch ein maschinelles und programmbasiertes Tasten beobachten. Wie sich die-
se Kontakt- und Berührungsmomente phänomenologisch ausgestalten, soll im
Folgenden mit dem Fokus auf die Materialität und Taktilität der Kopplungen in
digitalen agencements erörtert werden.
116 Shirin Weigelt
3 Schnittstellen
In der Auseinandersetzung mit den Kontaktzonen des digitalen Mediengefüges
zeigt sich eine »bemerkenswerte Konjunktur des Taktilen« (Schmidgen 2018: 8),
die vom unmittelbar physischen Berühren zwischen Hand und Maschinenober-
fläche bis hin zu sensortechnischen Ortungsprogrammen reicht. Zum Zweck der
Erhellung der Multidimensionalität des Tastsinns in digitalen Kontexten werden
im Folgenden verschiedene Konkretionen von Kopplungen digitaler agencements
untersucht. Dabei werden (i)Maschine undProgrammund (ii) Nutzer_innen ana-
lytisch getrennt voneinander betrachtet, um Entwicklungen digitaler Interfaces
und deren taktile Dimensionen beispielhaft erörtern zu können.
(i) Hardware und Software
Bei der Suche nach der Taktilität digitaler Medientechniken sind die tastsinnbe-
zogenen, haptischen Eindrücke am augenfälligsten, für die sich die digitalen Ge-
räte als objekthafte Maschinen anbieten. Routiniert wird auf Computertastaturen
getippt, ein Laptop aufgeklappt, das Smartphone aus der Tasche gezogen, das Ta-
blet mit einem »Wisch« aus dem Ruhezustand geholt und das Ladekabel in die
passende Buchse gesteckt. Hierbei entscheidet auch die Haptik über den Erfolg
oder Misserfolg eines devices am Markt. Die Hardware-Schnittstellen stehen in
direkt-physischem Kontakt mit anderen Maschinen sowie mit Nutzer_innen, wo-
bei die technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu veränderten Modi
der Kontaktherstellung geführt haben: Es lässt sich eine Verkleinerung der Ap-
parate bei gleichzeitiger Vergrößerung der Kontaktflächen und Potenzierung der
Kopplungsmöglichkeiten feststellen.
Vom Prototyp des PCs ausgehend betrachtet handelt es sich bei den digita-
len Medienmaschinen um Terminals der Datenverarbeitung, die neben der kom-
putierenden Rechnereinheit mit Ein- und Ausgabemodulen bestückt sind. Letz-
tere stellen eine Verbindung zwischen Nutzer_in und Programm her, die dem
reziproken Funktionsanspruch der Bedienbarkeit unterliegt. So müssen die Ak-
tionen und Eingaben der Benutzenden für die Programme lesbar und verständ-
lich, das heißt befolgbar sein. Ebenso müssen Nutzer_innen ihre Aktionsmög-
lichkeiten und die darauf erfolgenden Reaktionen der Programme – Informatio-
nen, Daten – lesen und verstehen, das heißt die Softwareanwendungen bedie-
nen können. Steuerungs- und Kommunikationseinheit waren als Tastatur und
Maus, Bildschirm und Lautsprecher bei den ersten Personal Computern physisch
noch voneinander getrennt. Jedoch fand hier bereits eine Transcodierung von
Augensinn undHandlung statt, die das Zusammenfließen der taktilen und visuel-
len Schnittstelle im Touchscreen vorwegnahm. Voraussetzung dafür war die Ent-
wicklung von Graphical User Interfaces (GUIs) und maschinentechnischer Steue-
rungselementewie der Computermaus, die als verlängerter Finger denNutzer_in-
nen ein Zeigen und Greifen im digitalen Universum möglich machte (Pratschke
Tasten 117
2008). Am Anfang der Computer brauchte es für deren Bedienung noch spezi-
elle Kenntnisse in der Informatik. Nutzer_innen mussten Programmiersprachen
und digitale Funktionslogiken für die Ein- und Ausgabe von Informationen an-
wenden können. Vermittelt über GUIs wird das Lesen alphanumerischer Codes
durch den niederschwelligen Umgang mit grafischen Schaltflächen und bildli-
chen Symbolen, sogenannten »Icons«, substituiert. Das Klicken auf eine Taste
ersetzt das Schreiben algorithmischer Zeilen. Mit dem Heraufkommen des PCs
entwickelt sich die Kommunikation der Maschinenprogramme mit Usern von
einer semantischen Sprache über eine der menschlichen Alltagssprache modu-
lierend angepasste Digitalsprache (»Fehlercode 404«) hin zu einer ikonischen
und diagrammatischen Bildlichkeit.12 Waren die Schaltflächen der frühen GUIs
noch realenGegenständenwie Papierkörben oder Briefumschlägen nachempfun-
den, fand mit der Zeit ein Habitualisierungsprozess auf Seiten der Nutzer_innen
statt, der eine Reduktion der grafischen Softwaredarstellungen bei gleichzeitiger
funktionaler Pluralisierung ermöglichte. Die visuelle Anzeige – ein farblich abge-
hobenes Eingabefenster oder ein fett gedruckter Link – wird dank Grafikdesign
haptisch. Sie verweist dadurch auf die Reaktivität des digitalen agencements auf
taktile Interaktion. Hier darf geklickt werden, da musst du drüberwischen, jetzt
Taste drücken.
Das Herauskristallisieren des Taktilen als bestimmendes Moment in der Di-
gitalkultur lässt sich auf Hardwareebene weitergehend an der Entwicklung des
Touchscreens nachzeichnen, der zugleich ein hervorragendes Beispiel für diemo-
dulierenden Interferenzen der Elemente eines agencements ist. Die Berührungs-
sensitivität zeitgenössischer Bildschirme basiert je nach Gerät auf Technologien
der optischen sowie genuin taktilen Erfassung räumlicher und qualitativer Kon-
taktmomente. Im Touchscreen fließen maschinelle Ein- und Ausgabeeinheit zu-
sammen, während Tastatur und Maus als physisch distinkte Objekte verschwin-
den. DerMaschinenkörper schrumpft und wird immermehr zur intelligiblen wie
sensitiven Oberfläche, die aufgrund ihrer glatten Flächigkeit und der Flexibilität
der Gestaltung eine höhere Kopplungswahrscheinlichkeit mit sich bringt. Zusätz-
lich zum staccatohaften Klicken und Tippen, das mit Momenten des Innehaltens
beziehungsweise der Unterbrechung des Kontakts zwischen Nutzer_in und Ap-
parat einhergeht, ermöglicht der Touchscreen die Interaktion durch die Mikro-
geste des »Wischens«. Onlineanwendungen kapitalisieren diese Innovation im
Bereich der Technik-Mensch-Schnittstelle, etwa indem sie die Funktion des End-
losscrollens anbieten. Beispiele hierfür sind die von Facebook 2011 eingeführte
Timeline oder andere stromhaft anzeigbare Medieninhalte auf Webseiten, wie die
Bild- und Textstreams von Instagram oder Tumblr. Das Gleiten der Fingerspitzen
12 | Das Konzept der Diagrammatik, welches die Erkenntniskraft visueller Schemata im zwei-
dimensionalen Raum bezeichnet, hat unter anderem Krämer (2016) ausgearbeitet. Die Ästhetik
wie Politik konkreter schematischer Anordnungen von App-Oberflächen untersucht Distelmeyer
(2017: 151).
118 Shirin Weigelt
über die inhaltlich flexibel gestaltbare Mensch-Maschine-Programm-Schnittstelle
kann aufgrund taktiler Sensitivität potenziell unbegrenzt andauern.
Die Verkleinerung undVerflachung beziehungsweise Verflächigung derHard-
warekomponenten ist eine der wesentlichen Entwicklungen digitaler Interfaces,
die zur Medienkonvergenz und darüber auch zur Ubiquität des Digitalen bei-
getragen hat. Dieser technologische Trend ermöglicht weitergehende Verschmel-
zungen. An die komputierende Zentraleinheit – bisweilen »Rechner« genannt
–, die anwendungsspezifisch, plural und flexibel programmierbar ist, können
unterschiedliche Peripherieeinheiten angekoppelt werden. Dies findet beispiels-
weise zwischen technischen Funktionsmodulen statt – Smartphones und Tablets
sind standardmäßigmitMikrophonen, Lautsprechern, Foto- und Filmkameraein-
heiten bestückt –, oder zwischen digital-technischen Interfaces und alltäglichen
Gegenständen – Autos, Wohnungen oder auch Klimaanlagen werden smart. An
weiteren Symbiosen zwischen Technik undmenschlichemKörper, welche dieMi-
niaturisierung der Hardwarekomponenten ermöglicht, arbeiten Entwickler_in-
nen von Wearables – beispielsweise digitale Hörgeräte, Brillen mit optischen
Displays oder smarte Armbanduhren –, sowie auf materiell radikalere Art und
Weise transhumanistisch eingestellte Bodyhacker_innen, die sichMaschinenteile
implantieren. Insgesamt geht die Digitalisierung der sozialen Praxis mit einem
Umweltlichwerden der Technologie einher.13
Es könnte nun so scheinen, als sei die Zeit der Haptik und Taktilität mit dem
Verschwinden der materiellen, im engen Sinn physisch erfahrbaren Seite der
Technologien, mit dem Aufgehen der devices in der Umwelt und einer Allgegen-
wart der Programme schonwieder vorbei. ImGegenteil findet jedoch auch hier ei-
ne Fundamentalisierung des Tastsinns als sinnlich-aisthetisches Paradigma statt,
die sich in der Entwicklung von der Taste zum Touchscreen bereits angekündigt
hat. Die maschinellen Komponenten digitaler agencements werden zunehmend
sensitiv. Anstatt der binären Logik des Schalters (an/aus) zu folgen, nach welcher
die Taste funktioniert, beginnt der Touchscreen, allzeit für Berührung empfäng-
lich zu sein und diese in einer volleren sinnlichen Qualität wahrzunehmen. Über
Sensortechniken können digitale Apparate ihre Umwelt abtasten. Verschiedene
Arten des technischen Spürens, das insgesamt noch in der Entwicklung begriffen
ist, ermöglichen unter anderem die Ortung von Gegenständen und Lebewesen,
beispielsweise durch GPS oder RFID (tracking und tracing), die Vermessung von
Räumen und Bewegungen, oder eben die nach Dauer, Richtung, Art und Intensi-
tät (multi- und forcetouch-Technologien) distinguierte Wahrnehmung von Berüh-
rungen. Die mit Sensoren ausgestattetenmaschinellen Interfaces extrahieren aus
der taktilen Kopplung nicht nur quantifiziertes wie qualifiziertesWissen, sondern
13 | So erörtert Hörl (2011) das fortschreitende Umweltlichwerden von Technologie als Her-
ausbildung einer neuen Ökologie. Siehe zur Untersuchung der »Umwelt-Technologie-Mensch-
Vernetzungen« als »intensive Milieus« Angerer 2017: 44 ff.
Tasten 119
könnenmit der passenden technischen Komponente selbst auf taktiler Eben kom-
munizieren. Die Vibrationssignale von Mobiltelefonen und Spielekonsolen sind
hierfür ein bekanntes Beispiel. Einweiteres ist die vomApple Konzern entwickelte
Taptic Engine: sie generiert ein taktil-haptisches Feedback der berührten Maschi-
nenoberflächen (etwa durch feinste Vibration) und kann so beispielsweise einen
Knopfdruck simulieren, wo sich keine mechanische Taste mehr befindet. Gerät
und Nutzer_in oder Nutzer_innen untereinander können über diese elektroma-
gnetisch erzeugten Stöße (wiederum vermittelt über Hard- und Softwareschnitt-
stellen) kommunizieren, indem sie individuell erzeugte Tippsequenzen oder den
sensorisch über die Finger aufgezeichneten Herzschlag schicken/empfangen.
In digitalen Kontexten gehen die maschinellen Sensortechniken mit infor-
matischen Programmen einher, die das taktile Wissen sammeln, auswerten
und für verschiedene Zwecke nutzbar machen. Mit den technischen Geräten
rückt auch die Software den Nutzer_innen auf den Leib. Eine Vielzahl von App-
Anwendungen erfasst standortbezogene Daten – sei es, um Nutzer_innen Funk-
tionen wie die lokale Wettervorhersage oder die Vermittlung eines Mietautos
bereitzustellen, oder um diese Informationen an Softwarehersteller oder Dritte
weiterzuleiten. Gesichts-, Iris- oder Fingerabdruckscans, die tastend optische
Signale verarbeiten, dienen weitergehend der Identifikation von Individuen. Ne-
ben der Lokalisation und der Authentifizierung von Personen können sensiti-
ve Programme auch individualkörperliche, somatische und affektive Regungen
auslesen. Pulsmesser in Smartphones oder Smartwatches machen die Überwa-
chung von Vitalfunktionen ebenso möglich, wie Schrittzähler oder lichtsensitive
Programme zur Erfassung der Schlafkurve. Die Erforschung und Entwicklung
von digitalen Anwendungen zur Affekthermeneutik läuft derweil auf Hochtou-
ren. Aus Gestik, Mimik, Körperhaltung oder Stimme der Nutzer_innen sollen
Emotionen und kognitive Zustände ausgelesen werden. So könnte Software, die
in engem körperlichen Kontakt zu den Nutzer_innen digitaltechnischer Inter-
faces steht, zukünftig situativ auf deren affektive Zustände eingehen und mittels
affective computing interagieren.14
Dass die Aufmerksamkeit im digitalen Zeitalter von Seiten der programmier-
ten devices und technikbasierten Anwendungen für das menschliche, körperliche
Leben und Erleben steigt, verdeutlichen auch jene Episoden, in denen die Ma-
schinenprogramme ›übergriffig‹ werden. So löste 2017 das von Amazon.com ver-
triebene Sprachassistenzprogramm Alexa die Bestellung eines Puppenhauses bei
14 | Rosalind Picard, die Vorreiterin der psychokybernetischen Interaktion zwischen Digital-
technik und Nutzer_in, des sogenannten affective computing, ist Mitgründerin des Startups
Affectiva. Letzteres arbeitet an der Forschung und Entwicklung eines KI Programms zur Erken-
nung von affektiven Zuständen aus Gesicht und Stimme. Das Ziel lautet der Firmenhomepage
entsprechend: »Affectiva’s emotion AI humanizes how people and technology interact.« Siehe
www.affectiva.com (letzter Aufruf: 30.09.2018).
120 Shirin Weigelt
einemOnline-Versandhandel aus, weil ein Kind fragte, ob esmit ihmpuppenspie-
len könne. Die Reaktionsfreudigkeit anderer Bots ist ebenfalls gut dokumentiert:
So schaltete sich Apples Siri ungefragt beiHochzeitszeremonien, Pressekonferen-
zen oder während einer Debatte im Britischen Parlament ein. Obschon in den ge-
nannten Beispielen die Mensch-Maschine-Programm-Interaktion auf sprachlich-
semantischer Ebene stattfindet, kann hieran ebenso das Paradigmatischwerden
des Taktilen in digitalen Kontexten beobachtet werden. Die Soft- und Hardware-
schnittstellen nutzen den technischen Spürsinn aktiv und tasten ihre Umwelt ei-
genständig ab, anstatt nur passiv empfänglich für (im engeren Sinn) haptische
Signale zu sein. Tastende Relationen sind potenziell immer reziprok. Ein spü-
render Körper kann während der tastenden Wahrnehmung selbst taktil erfahren
werden. Digitale agencements sind nicht als einseitiges Berühren von technischen
Objekten durch menschliche Hände und Finger zu denken, sondern bestimmt
durch reziproke Beziehungen des Berührens und Berührwerdens, des Ertastens
und Abgetastetwerdens.
(ii) Wetware
Der menschliche Körper verschwindet in der gegenwärtigen medial-technischen
Schwellenzeit nicht, sondern erhält im Gegenteil eine gesteigerte Bedeutung. Er
wird an Maschinen und Programme angekoppelt, begibt sich in Berührungs-
verhältnisse und tippt und tastet lustvoll im Digitalen umher. Die bereits erör-
terte Schrumpfung und Anschmiegsamkeit der maschinellen Interfaces sichert
den programmbasierten devices einen dauerhaften Ort im körperlichen Nahraum.
Mit derWeiterentwicklung vonWearables und digitaltechnischer Implantate zeigt
sich, dass die Schnittstellen das Potenzial zur Lötstelle haben. Die Kontaktzonen
verbinden jedoch auch ohne physische Verschmelzung die Elemente des agence-
ments. Dies führt zumehr als nur zu einer bloßen Übertragung oder Vermittlung,
sondern zur gegenseitigen Ko-Konstitution der Gefügeteile sowie zur Produktion
von Wirklichkeit durch das Gesamtgefüge.
Laptops oder Smartphones werden nicht nur für den akuten Gebrauch in die
Hand genommen, sondern begleiten ihre Nutzer_innen häufig während des ge-
samten Tagesablaufs. Die erste und letzte Berührung des Tages gilt nicht etwa
einem anderenMenschen, sondern dem Smartphone. Da sie selten ausgeschaltet
werden – und mitunter gar nicht ausgeschaltet werden können –, sind die Digi-
talapparate und Softwareanwendungen in jedem Moment zu direkt-körperlichen
Interaktionen bereit, so dass sich die Beziehungen in manchen digitalen agence-
ments bis zur Intimität auswachsen:
»Fast überall und nahezu immerfort berühren und betasten wir media devices, halten sie
fest, schnallen sie an oder bringen sie sonst wie in Körpernähe, wischen behutsam über
ihre Oberflächen oder sind umgekehrt aufmerksam für ihre Vibrationen.« (Schmidgen 2018:
8)
Tasten 121
Das Paradigma des Taktilen zeigt sich an ebendieser körperlichen Nähe zur Nut-
zer_in. Im Gegensatz zum Visualsinn, der im Zeitalter der Schrift vorherrschend
bei der Vermittlung von Selbst- und Weltverhältnissen war, ist der Tastsinn einer
der menschlichen Nahsinne (Böhme 1996: 193).15
Momente der Nähe und Reziprozität des Taktilen spielen auch in anderen
sinnlichen Wahrnehmungsmodi, wie etwa beim Hören eine Rolle. Der auditive
Reiz entsteht in der Berührung des menschlichen Ohrs durch Klangwellen, das
– ähnlich wie das berührungssensitive Organ der Haut und im Gegensatz zum
Sehsinn – nicht aus- oder abgeschaltet werden kann. Hören und Tasten sind all-
zeit rezeptiv, es sei denn, sie werden durch externe Abschottung oder Entfernung
von der Reizquelle gegen Eindrücke geschützt. Je nach Intensität und Frequenz
können Klänge auch in anderen Körperregionen als positive wie negative taktile
Sensation der Schwingung, Resonanz oder Vibration gespürt werden. Die hap-
tische Sinnlichkeit des Klangs in Verbindung mit dem semantischen Sinn ma-
chen die Stimme zu einem qualitativ reichhaltigen Aus- sowie Eindrucksmedi-
um. Diese Charakteristik phonetischer Interaktion erhöht in Verbindung mit der
Schnelligkeit und Direktheit des Klangs die Kopplungswahrscheinlichkeit digita-
ler agencements, die mit Sprachsteuerungs- oder Sprachaufzeichnungsfunktionen
ausgestattet sind. Klang und Stimme zeichnen sich – auch ob der Reziprozität des
Hörsinns, die Parallelen zu der des Tastsinns aufweist – durch eine synästhetisch-
taktile Qualität aus. Letztere wird für die Kommunikation vonHard- und Software
über Tonsignale schon lange Zeit genutzt. Die Zunahme auditiv-phonetischer
Mensch-Maschine-Programm-Schnittstellen verweist weitergehend auf das Pa-
radigmatischwerden des Taktilen für Wahrnehmung und Denken, Selbst- und
Weltbezug in Kulturen des Digitalen. Anstatt zweifach mediatisiert über ein ob-
jekthaftes Hilfmittel wie Maus und Tastatur sowie Schriftsprache, interagieren
Nutzer_innen mit digitalen Programmen und Maschinen direkt-körperlich, mit
Finger und Stimme.
In den genuin taktilenMikrogesten des Knopfdrucks, Tastentippens, Klickens
oder Wischens erfahren sich Subjekte als selbstwirksam.16 Hierfür bedarf es kei-
ner Rückmeldung auf semantischer Ebene. Die rein sinnliche Resonanz digital-
medialer Maschinen und Inhalte genügt, so dass dieHandlungen bisweilen zum
puren Selbstzweck werden. Das Durchklicken und Endlosscrollen von Websei-
ten wird auch dann noch fortgeführt, wenn dem dargestellten Inhalt kaum noch
Aufmerksamkeit geschenkt wird. Kommunikation ist im digitalen Zeitalter nicht
mehr auf die semantische Diskursebene beschränkt, sondern in einem basalen,
15 | Der von Walter Benjamin (2007) festgestellte Auraverlust der Kunst in der Moderne ist
nicht allein durch die Austauschbarkeit ob der Reproduzierbarkeit bedingt, sondern auch von
der Technizität, die das Kunstwerk in den Nahraum der modernen Menschen rücken lässt.
16 | Siehe zur eingebildeten Verfügungsgewalt beim Tippen: Flusser 1996: 30. Siehe zur Ambi-
valenz von Fügen/Verfügen in Interface-Inszenierungen: Distelmeyer 2017: 65 ff.
122 Shirin Weigelt
materiellen Sinn einmediales Geschehen der Verbindung undÜbertragung. Dar-
auf aufbauend wird unter dem Stichwort des »human factors« in der Forschung
und Gestaltung des Interfacedesigns versucht, die Wahrscheinlichkeit positiver
Resonanzbeziehungen auf Seiten der Wetware und damit die Immersivierungs-
effekte zu vergrößern.17 Hierzu üben nicht nur die Reaktionen vonMaschine und
Programm auf taktile und andere körpergebundene Impulse der Nutzer_innen
einen Reiz aus; das Berühren und Berührtwerden des eigenen Körpers nimmt
in Digitalkulturen als abtastende Selbstbezugnahme in verschiedentlich mediati-
sierter Form an Bedeutung zu. So gebraucht beispielsweise die Quantified-Self-
Bewegung die bereits erörterten Sensortechnologien, um dem eigenen, genuin
körperlichen Dasein auf die Spur zu kommen. Ebenso verhelfen Selfies und die
Entäußerung affektiver Zustände in Form von knopfdruckbasierten Likes und
anderen mediengestützten Emotionsäußerungen im Netz zu einer Selbst- und
Fremdverortung durch Resonanzverhältnisse, die Beziehungen des Berührens
und Berührtwerdens sind.
Ein störungsfreies Übertragungsgeschehen und die unbemerkte bis lustvolle
Kopplung digitaler agencements bilden seit der Erschließung einesMassenmarktes
für PCs die Designmaxime von Soft- und Hardwareherstellern sowie Interface-
Entwickler_innen. Allerdings ist die angestrebte Reibungslosigkeit weder allzeit
gegeben, noch unkritisch zu betrachten. So entstehen in maschinellen wie orga-
nischen Gefügen immer auch Irritationsmomente, es treten Überreizungs- und
Abnutzungserscheinungen auf. Die depräsentierende Logik der Einbildung tech-
nischer Bilder, die obenmit Flusser ausgeführt wurde, sowie die Opazität der tech-
nischen Apparate führen zu einer Verstetigung des Mangels an Bewusstsein der
Nutzer_innen für die ontologische Prozessualität und Materialität des Digitalen.
Außerdem geht mit dem Paradigma der Taktilität in digitalen Gesellschaften die
Modulierung durch Kontakt, das heißt eine kontagiöse Macht aufgrund der Re-
lationen der Nähe einher.18 Der habitualisierte Umgang mit (digitaltechnischen)
Medien lässt sich als ein Subjektivierungsgeschehen verstehen. Das Selbst- und
Weltverhältnis vonMenschen, die tippend, klickend und wischendmit Hard- und
Software umgehen, diese nah bei sich tragen und allzeit rezeptiv für empfangene
und zu übermittelnde Signale sind, ist dasjenige der Nutzer_in. Die digitalen In-
terfaces bringenUser hervor, die sich in der Nutzung deren Regeln und Beschrän-
kungen unterwerfen. Das Selbstverständnis derUser ist nicht darauf ausgerichtet,
Gerät, Anwendung und deren Möglichkeitshorizont sowie die eigene Eingebun-
denheit zu verstehen, sondern im unreflektierten, habitualisierten Umgang mit
17 | Vgl. zum Konzept »immersiver Macht«: Mühlhoff 2018b und speziell zur Erzeugung von
Immersion durch Techniken des User Experience Designs: Mühlhoff 2018a.
18 | In digitalen Medienkulturen werden klassische Zeit- und Raumordnungen aufgebrochen,
so dass Nähe und Ferne keine physikalisch skalierten Größen mehr sind. Kybernetische Teletak-
tilität, wie sie etwa bei der Steuerung von Drohnen zum Einsatz kommt, kann beispielsweise die
Distanz zwischen zwei Orten zusammenschrumpfen lassen. Siehe hierzu Harrasser 2017: 204 f.
Tasten 123
denProgrammmaschinen verschiedene Praktiken auszuführen.Die bereitgestell-
ten Funktionen sollen bloß genutzt beziehungsweise angewendet werden, ohne
Aufwand oder Arbeit. »It just works.« – hier gibt es gar nichts zu verstehen, nur
zu gebrauchen.19 Waren die ersten erfolgreichen GUIs noch metaphorisch dem
Büroumfeld entlehnt – der Desktop zeugt als Begriff noch von dieser Phase –,
entfernen sich aktuelle Inszenierungen digitaler Medien wieder vom Topos der
Arbeit. Microsoft preist sein Automatisierungsprogramm »Flow« beispielsweise
mit dem Versprechen an: »Do more, work less.« Die strukturelle Komplexitäts-
steigerung auf technischer wie informatischer, maschineller wie anwendungsbe-
zogener Ebene geht mit einer funktionellen Einfachheit einher. Der Anschein
der Simplizität muss jedoch durch die Gestaltung der Schnittstellen, durch ei-
ne Inszenierung hergestellt werden. Die Unmittelbarkeit taktiler Relationen, auf
welchen digitale agencements beruhen, führt zu Immersivierungseffekten, die das
Kopplungsgeschehen am Laufen halten. Die Schnittstellen digitaler Medien, an
denen ein Kontakt mit Nutzer_innen besteht, sollen einfach funktionieren und
einfach funktionieren.
4 Körper
Entgegen der Zukunftsvision vom Menschen, der sein körperliches Dasein hin-
ter sich lässt und in der vergeistigten Virtualität der digitalen Programme aufgeht,
weisen aktuelle Entwicklungen in eine andere Richtung. Das körperliche, somati-
sche Leben und Erleben erhält eine neuerliche Relevanz im Umgang mit techni-
schen Medien. Konnten die Epochen, zu deren Mitteln der Welterschließung die
Schrift primär dazugehörte, noch das Ideal einer subjektunabhängigen Objekti-
vität des Wissens hochhalten, auf die Linearität und Logik der Begriffsbildung
vertrauen und den mit den Augen erfassten Schriftsinn als externalisiert und di-
stanziert wahrnehmen, erfährt und produziert das postdigitale Subjekt Wirklich-
keit vermittelt über anders geartete Medien. Die Hauptaktivitäten des Lesens und
Schreibens gehen nach und nach in der Rezeption und Produktion technischer
Bilder auf. Das sinnlich-aisthetische Paradigma, welches Denken,Wahrnehmung
und Handeln in digitalen Medienkontexten zunehmend prägt, ist dasjenige der
Taktilität. Digitale Praktiken werden von Nutzer_innen mit tippendem oder wi-
schendem Finger vollzogen.Weitere direkt-körperliche Kontaktmöglichkeiten, zu
denen auch die stimmliche Interaktion zählt, stehen im aktuellen Mediendispo-
sitiv zur Verfügung. Taktil-haptisches Feedback oder das Aufspüren von Körpern
19 | Der Slogan wurde von Apple zur Bewerbung von »iCloud« verwendet. Neben der bereits
zitierten Arbeit Distelmeyers (2017) stützen sich die angestellten Überlegungen zu Unmittelbar-
keit und Gebrauch auf Jussi Vähämäkis Erörterung des Zusammenhangs der Entmaterialisierung
von Arbeitsverhältnissen und der Subjektivierung durch technische Geräte in der Informations-
gesellschaft. Vgl. Vähämäki 2004: 240.
124 Shirin Weigelt
im Raum sowie die Erfassung des körperlichen Befindens durch Sensortechniken
bezeugen eine wechselseitige Anschmiegsamkeit von Leib undMedienmaschine.
Mit fortschreitender Habitualisierung, Nähe und Beiläufigkeit der Kopplungen
des digitalen agencements können diese körperlich-digital-medialen Handlungen
nicht mehr als eigenständige Praxis vom Fluss der Lebensäußerungen und des
Verhaltens unterschieden werden.
Auf Seiten der Maschinen verweist die Entwicklung von Tastatur und Bild-
schirm zum Touchscreen auf das taktile Paradigma des Digitalen. Im rezeptiven
wie produktiven Sensor manifestiert sich die für den Tastsinn charakteristische
Reziprozität. Während visuelle und taktile, informierte und informierende, ein-
und ausgebende Schnittstelle zusammenfließen, tritt das Maschinelle als physi-
sche Funktionseinheit des Mediums immer mehr zurück. In diesem technolo-
gischen Fortschritt kommt das mediale Moment seinem telos näher. Als vermit-
telndes Zwischen verwirklichen Medien generell ihr Wesen eben dann am besten,
wenn sie selbst nicht erfahrbar sind, ihre Vorhandenheit weder fraglich noch pro-
blematisch, also als solche nicht wahrnehmbar ist (vgl. Rautzenberg und Wolfs-
teiner 2010). Das Zurücktreten der Erfahrbarkeit des Kopplungsprozesses bei der
Nutzung von digitalen Programmenüber kleine Tasten, sensible Oberflächen und
Stimmsensoren ist Symptom dieser teleologischen Entwicklung. Letztere setzt
sich in der weiteren Aktivierung von Potenzialen taktiler Relationen im digitalen
agencement fort.
Die epistemische Funktion des Tastsinns wird von Technik und Programmen
bereits genutzt. User und Umwelt können nach unterschiedlichen Parametern
abgetastet werden. Der kommunikative, signalisierende Funktionsumfang tak-
tiler Schnittstellen ist aus Perspektive der Soft- und Hardware jedoch noch re-
lativ gering, vor allem angesichts der leiblichen Nähe und alltäglichen Intimität
zwischen device und User. Viele der programmbasierten digitalen Medientechni-
ken werden nicht nur während des aktiven Gebrauchs nah am Körper getragen.
Die darauf aufbauenden Möglichkeiten der Kommunikation über die Haptik der
Geräte werden aktuell noch nicht ausgeschöpft. Denkbar wären beispielsweise
anpassungsfähige Oberflächenstrukturen, die Rauheit oder Glattheit zu spüren
geben. Die bereits standardmäßig in Smartphones, Uhren oder Spielekonsolen
integrierte Vibrationsfunktion sowie mechanisch ausgelöste Druck- oder Klopf-
sensationen sind erste Schritte zur taktilen Interaktion mit Nutzer_innen. Auch
hier liegt noch Potenzial, beispielsweise die Signalwirkung elektrischer Impulse
oder von Hitze oder Kälte zu nutzen.
Neben der Haptik des Äußeren der Apparate, der physischen Schnittstelle,
spielt die Taktilität des Visuellen eine herausragende Rolle im Kontext digitaler
Medien: Auch piktorale und grafische Gestaltungselemente sind in einem weiten
Sinn taktil, das heißt berührend und berührbar, denn sie zielen auf eine unmittel-
bare Wirksamkeit – ein Affizierungsgeschehen – über kurzen, optischen Kontakt.
Texte werden zugunsten von Anschlussfähigkeit und Resonanzpotenzial, das im
Berühren und Berührtwerden liegt, von Bildern und Symbolen sowie diagram-
Tasten 125
matischen Schemata abgelöst. Der Sinn wird der Sinnlichkeit, das Visuelle dem
Taktilen untergeordnet, indem beispielsweise räumliche und zeitliche Veränder-
barkeit grafisch dargestellt wird. Der Simulationseffekt des visuellenOberflächen-
designs, der zurmit Flusser erörterten Einbildung beiträgt, findet nur aus Perspek-
tive der Nutzer_innen statt. Innerhalb der Maschine und des Programms laufen
beim Tippen und Klicken undWischen Prozesse ab, die für die User nicht einseh-
bar sind und nur insofern transcodiert dargestellt werden, als sie für die Nutzung
der digitalen Medien für bedeutsam erachtet werden.
Ein Vorrang der Nutzung vor dem Verstehen, des praktischen Umgangs vor
der Reflexion deutet sich auch in den taktil-visuellen und visuell-taktilen Schalt-
flächen der Touchscreens an. Die Beweglichkeit, das schnelle Überfliegen mit
scannendem Blick, das Springen durch die Hypertexte (die ihrem Namensgeber,
der noch starr und linear von vorne bis hinten gelesen werden wollte, keine Ehre
mehr machen), das »Surfen« im Internet findet seine Aus- und Eingabegeste im
wischenden Finger. Abseits der konkreten Affizierung durch die rezipierten oder
produzierten Inhalte ergibt sich für die Nutzer_innen eine Befriedigung aus der
Aktivität des Tastenklickens undOberflächenwischens selbst. Die Hand vergewis-
sert sich in diesen Mikrogesten ihrer Nähe zur Handlung und zum Schaffen. So
banal dieser Akt bisweilen aus der Distanz besehen erscheinen mag, können sich
tippende, klickende und wischende Subjekte als aktiv und mächtig erfahren, als
Verursacherinnen eines Geschehens. Die durch die Nutzer_in hervorgebrachte
Veränderung in der Welt, mindestens in der direkten Umwelt, welche die Geräte
und Programme bilden, wird dank Bildschirm, Lautsprecher und genuin taktiler
Signale in Echtzeit erfahrbar. Die Beobachtung des nimmermüden Knöpfchen-
drückens, deren zeitgenössische Weiterentwicklung das Touchscreenwischen ist,
führte auch Flusser bisweilen zu der Vermutung, der (postdigitale)Mensch sei we-
der ein wissenwollendes noch schaffenwollendes, sondern ein genuin spielendes
Wesen, ein homo ludens (vgl. Flusser 1996: 181). Das dynamischeGeschehen digita-
lerMedieninhalte und die Interaktionmit denGerätenwird zumSelbstzweck. Auf
Seiten der Nutzer_innen besteht eine prinzipielle Lust an der Kopplung, zumal
wenn diese sinnlich erfahren wird. Die Reizung des Spieltriebs und die Immersi-
onseffekte, die selbst von simplen Formen der Umweltresonanz wie einer kurzen
Vibration oder dem Aufblinken einer Schaltfläche ausgehen, macht sich das In-
terfacedesign unter der Gestaltungs- und Funktionsmaxime der »Gamification«
zunutze.20 Unbesehen der konkreten Effekte, welche die spielende Eingebunden-
heit mit sich bringt, werden leiblich-somatische Momente, die Sinnlichkeit und
Affektivität des Weltbezugs in den Praktiken digitaler Gesellschaften zunehmend
mit Wert belastet.
20 | Vgl. zur sozial- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Gamification: Fuchs
u. a. 2014.
126 Shirin Weigelt
5 Ausblick
Um nicht nur vom Strom der Entwicklungen mitgerissen zu werden, sondern
ein Bewusstsein für das Jetzt zu entwickeln, die Politik, Ästhetik wie Epistemolo-
gie des Digitalen zu verstehen, ist die weiterführende Ausarbeitung einer Theo-
rie der Taktilität notwendig. Diese muss symmetrisch sein (Schmidgen 2018: 10).
Das heißt, dass sie den Anspruch hat, die heterogenen Teile des agencement zu
berücksichtigen, um nicht in einem Anthropozentrismus zu verharren. Spüren,
Tasten und haptische Sensationen sind schon heute nichtmehrmenschlichenAk-
teur_innen vorbehalten. Technologische und informatische Entwicklungsprozes-
se verweisen auf die zukünftige Möglichkeit vollwertiger maschineller Körper mit
Empfindungsvermögen – und andersherum auf die modulierende Anpassung
von Menschenkörpern und -sinnen an diejenigen ihres digitalen Gegenübers.
Die ersten digitalen Medienmaschinen und -programme passten zunächst
noch zum sinnlichen Paradigma derjenigen Gesellschaft, aus der heraus sie ent-
wickelt wurden. Als hochtechnisierte Schreibmaschinen dienten Computer am
Ende des Zeitalters des Visual- und Schriftprimats der Verarbeitung, Speicherung,
Zirkulation und Verbreitung vonWissen. Die Schwelle zur digitalen Gesellschaft,
deren sinnliche, politische wie auch epistemische Paradigmen andere sind, wur-
de seitdem jedoch überschritten. Phänomenologisch bestätigt unter anderem die
Allgegenwart des Touchscreens, zu dem vorangegangeneModule der Textproduk-
tion und -rezeption zusammengeflossen sind, den Trend zur sensitiven, sich der
Berührung anbietenden Oberfläche. Wenn sich die Reziprozität des Tastsinns,
das Berühren und Berührtwerden im digitalen agencementweiter durchsetzt, wird
die digitale Gesellschaft in Donna Haraways (1995) Sinne tatsächlich von Cyborgs
bevölkert. Diese stellen perspektivisch nicht nur eine Evolutionsstufe des Men-
schen dar, sondern ebenso eine der Programme undMaschinen. Zur bereits heu-
te realisierten maschinellen Sensitivität, die Wahrnehmung ermöglicht, müsste
für die Mensch-Maschine-Hybride noch ein Empfindungsvermögen, ein quasi-
leibliches, somatisch-affektives Erleben hinzukommen. Von der Sensortechnik zu
einer solchen maschinellen Sensibilität scheint es jedoch kein allzu großer Schritt
mehr zu sein.
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II. Affekt, Netz und Subjektivität
Klicklust und Verfügbarkeitszwang
Techno-affektive Gefüge einer neuen digitalen Hörigkeit
Jorinde Schulz
Nicht nicht antworten können. Die rastlose Unruhe, die dazu bewegt, doch noch
mal den Laptop aufzuklappen oder aufs Smartphone zu drücken – ist was passiert,
will jemand was? Warten mit gespitzten Ohren, bis das sanfte »Bing!« ein neues
digitales Ereignis verheißt. Bing …, Bing …, Bing …, Bing …, Bing …: Die Befrie-
digung hält nur wenige Sekunden, die ihr entsprechende nervöse Anspannung
zu reagieren beruhigt sich nach erfolgter Tat nur mikromomentan – bis der Blick
das nächste aufblinkende Ungelesene erfasst. »Ich will deine Aufmerksamkeit!«,
bedeutet mir das Gerät selbst mit inaktivem Schirm oder geschlossenem Deckel;
seine Präsenz allein hält mich in angespannter Habachtstellung.
*
Gehorsamkeit heißt, Befehle auszuführen – bedingungslos, ohne Zögern, ohne
Zweifel. Ob jemand gehorsam ist, lässt sich leicht feststellen: Es gilt, die erfolgte
Handlung am erteilten Befehl zu messen, das Verhalten an der Norm. Viel sub-
tiler und ungewisser – aber mindestens so effizient als verhaltensregulierende
Einstellung – ist die Hörigkeit. Sie setzt früher ein, bereitet bereits den Boden für
eine Order, indem sie Kommunikationskanäle öffnet, Gehörgänge sensibilisiert
und ausrichtet (…Bing!). Hörigkeit klingt nach 19. Jahrhundert, nach preußischen
Untertanen, Beamten mit gewichsten Schnurrbärten an dunklen Holzschreibti-
schen. Aber vielleicht hat sich schon längst eine neue Hörigkeit in den Netzwer-
ken unserer sozialen Beziehungen eingenistet, die sich in der ständigen Bereit-
schaft manifestiert, responsiv und verfügbar zu sein, und die intime Beziehungen
wie auch Arbeitsverhältnisse durchdringt. Rastlos und erschöpft zugleich geben
wir dem flächendeckenden Nudging nach, jederzeit unsere Tätigkeiten oder Kon-
Mühlhoff, R.; Breljak, A.; Slaby, J. (Hg.): Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie
der Digitalen Gesellschaft. transcript 2019, S. 131–153. DOI: 10.14361/9783839444399-
006.
132 Jorinde Schulz
zentration zu unterbrechen, um der kleinsten Ansprache Folge zu leisten, sei es
auch nur, indem wir schuldbewusst eine Antwort tippen. Oder – andere Seite des
Phänomens, für diejenigen, die es sich leisten können – wir verkriechen uns in
einer burnouthaftenNullkommunikation, während sichUngelesenes immer wei-
ter in unseren Inboxen anhäuft.
Als affektive Disposition entsprechen diese neue Hörigkeit und ihre unter-
schwellige Angst, nicht zu genügen, perfekt den Anforderungen einer flexibili-
sierten tertiären Arbeitswelt in postindustriellen Gesellschaften. Denn auf Abruf
zu sein und zur Verfügung zu stehen sind keine Sonderfälle mehr in einem Ka-
pitalismus der On-Demand-Produktion, der flexiblen Beschäftigungsverhältnisse
und nie endenden Nicht-Karrieren. Waren es einst abgegrenzte Bereiche wie Be-
reitschaftsdienst, Hotelrezeption und Taxi, in der Beschäftigte zur Disposition zu
stehen hatten, scheint es nunmanchmal, als stündenwir alle und ständig obsessiv
zur Verfügung. Auf sozialen Plattformen, an Arbeitsplätzen und innerhalb (even-
tuell teilprivatisierter) staatlicher Institutionen haben sich verschiedene Regime
der Verfügbarkeit herauskristallisiert, die mit je eigenen Überredungstaktiken
und Sanktionsmechanismen arbeiten. Ihre Verfügbarkeitszwänge manifestieren
sich als persönliche Obsessionen oder schlechte Angewohnheiten, als knallharte
Auflagen oder Überlebensnotwendigkeiten. Einigemöchte ichmir in diesem Text
exemplarisch vornehmen – in ihrer paranoid ausbuchstabierten Extremform.
*
Ökonomie des E-Mail-Verkehrs I: Ich schicke eine Mail, du schuldest mir eine
Antwort. Du antwortest, ich freue mich, und schreibe zurück. Du reagierst nicht
oder zu spät – du entschuldigst dich. Ich grolle dir und sage nichts (Ressenti-
ment); ich grolle dir und strafe dich mit einem Vorwurf (Kompensation) oder da-
mit, auch nicht zu antworten (wie du mir, so ich dir); ich grolle und verzeihe dir
(Ent-schuldigung).
Ökonomie des E-Mail-Verkehrs II: »I feel that if I don’t answer an email someone
thinks I’m purposely ignoring them instead of I haven’t read it yet … It’s a concern
and it’s also just how I see myself as a professional. I want people to know I am
looking after things, and I think sometimes when you send an email out, if you
don’t get anything back, you don’t know whether they’re ignoring it, dealing with
it, thinking about it, pending a response – and I want people to know that if they
send an email to me, I’m actioning it.« (Gregg 2014)
Ökonomie des E-Mail-Verkehrs III: Potenzielle Auftraggeberin schickt E-Mail mit
Jobanfrage, Freelancer freut sich – und ist zugleich unruhig, bis die Antwortmail
mit der Zusage formuliert und abgeschickt ist. Auftraggeberin antwortet nicht.
Angst des Arbeitnehmers ist daraufhin gesteigert – ist eine weitere E-Mail not-
wendig? Eine weitere wird geschrieben. Sie signalisiert besondere und freudige
Bereitschaft, und übermittelt im Übrigen sehr viele liebe Grüße. Die andere Seite
Klicklust und Verfügbarkeitszwang 133
bleibt stumm: Entzug istMacht. Einige Zeit vergeht. »Ist alles in Ordnung?«, fragt
ängstlich der startbereite Freelancer. Auftraggeberin reagiert, wohlwollend, in ei-
nem gut gelaunten Moment: Der Auftrag habe sich schon erledigt, vielen Dank
für die Bereitschaft, herzliche Grüße und bis zum nächsten Mal.
*
Wie jede Form der Fernkommunikation ist auch die E-Mail ein Medium der Ver-
fügbarmachung, denn sie erlaubt es, jemanden trotz körperlicher Abwesenheit
zu erreichen und anzusprechen. Das Praktische an der E-Mail ist potenziell auch
ihr Fluch. Denn im Gegensatz zum – längst veralteten – Postwesen hindert kei-
ne Entfernung, keine verzögernde Infrastruktur ihre sofortige Übermittlung, so
lange die Rezipientin bloß Internetzugang hat. Die unverzügliche Antwort ist al-
so möglich. Ein unsichtbarer Zwang der Reziprozität lässt ihren Subjekten das
schnelle Antworten außerdem häufig als geboten erscheinen – oder zumindest zu
gebieten, nachzugucken, ob eine unverzügliche Antwort notwendig ist.Was, wenn
ich etwas Wichtiges verpasst habe?
In ihrem Text The Presence Bleed untersucht die Anthropologin und Affektheo-
retikerin Melissa Gregg (2014) anhand einer Reihe von Interviews in der Infor-
mationsbranche, wie sich die Allgegenwart mobiler Endgeräte auf die Arbeits-
rhythmen, Selbstverständnisse und Stresslevel von Büroarbeiter_innen auswirkt.
2013 waren Smart- und iPhones noch relativ neu, die inzwischen zum (wenn auch
wahren) zeitdiagnostischenKlischee verkommeneVerwischung derGrenzen zwi-
schen Arbeitsplatz und zu Hause noch in ihren Anfängen. Insbesondere, so stellt
Gregg fest, hat diese Tendenz mit demjenigen Kommunikationsmittel zu tun,
das eine ständige Erreichbarkeit von Angestellten ermöglicht, selbst wenn diese
körperlich abwesend sind: der E-Mail. Die hieraus resultierende Flexibilität der
Arbeit kommt ihnen allerdings nicht zu Gute. Im Gegenteil beobachtet Melis-
sa Gregg eine Ausdehnung der Arbeitszeiten, da die Büroarbeiter_innen einen
wachsenden Teil ihrer Arbeitslast von zu Hause bewältigen, ohne dafür bezahlt
zu werden. Sie beschreibt, wie die E-Mail-Kommunikation dazu beiträgt, dass An-
gestellte regelmäßig außerhalb der eigentlichen Arbeitszeiten arbeiten. Denn die
exzessive E-Mail-Kommunikation verursacht Gregg zufolge hauptsächlich Ineffi-
zienz innerhalb der offiziellen Arbeitszeit sowie eine ständigeÜberforderung. Die
professionals sind systematisch überlastet, und E-Mails von zu Hause zu erledigen
stellt auch eine Art Überlebensstrategie im Arbeitsalltag dar.
Interessant an Greggs Untersuchung ist in diesem Zusammenhang, wie sich
die Möglichkeiten und Anforderungen einer spezifischen Kommunikationsform
mit bestimmten Affektökonomien der Subjekte verschränkt und in ihnen eine
Art zeittypischen Schuldkomplex triggert. DieMehrarbeit wird von ihnen zwar als
Stress und Zumutung, aber vor allen Dingen auch als Kompensation begriffen –
denn sie fühlen sich schuldig. Das schlechte Gewissen hat zwei widersprüchliche
Komponenten:
134 Jorinde Schulz
Zum einen fühlen sich die Arbeiter_innen schuldig, da die ständige E-Mail-
Kommunikation sie daran hindert, ›richtig zu arbeiten‹. Diese Arbeitsunfähigkeit
– deren Ineffizienz sie letztendlich mit Privatzeit kompensieren – schreiben sie
aber nicht einer strukturellen Überlastung, sondern einer individuellen Schwä-
che zu, der ›Versuchung E-Mail‹ nicht widerstehen zu können. Das Verhalten der
E-Mail-Kommunikation gegenüber ist in den meisten Fällen in der Tat mehr oder
weniger zwanghaft. Allein die Präsenz eines Laptops oder Smartphones macht
es unmöglich, nicht noch schnell nachzugucken, ob etwas anliegt oder jemand
sich gemeldet hat. Zur potenziellen Mehrarbeit, die eine E-Mail bedeutet, gesellt
sich also deren unwiderstehliche Verlockung; die office workers oszillieren so zwi-
schen zwanghafter Lust und kompletter Überforderung. Daraus ergibt sich ein
klassischer moralischer Schuldmechanismus: Da sie etwas tun, was sie nicht tun
sollten – nämlich ihren eigenen Zwängen nachgehen, anstatt effizient zu arbeiten
– erlegen sie sich selbst eine ausgleichende Strafe auf, die unbezahlte Mehrarbeit.
Zum anderen ist schon die E-Mail-Kommunikation selbst, so scheint es, in-
trinsisch mit Schuld aufgeladen – daher rührt der Zwang zum Antworten. Auch
hier geht es um Verfehlungen, die gefühlt eine Strafe berechtigen. Dieser Schuld-
komplex fußt allerdings auf einer Regel der sozialen Reziprozität: Eine Ansprache
gebietet eine Antwort. Wer also angesprochen wurde, steht im Zugzwang, zu re-
agieren, ist gewissermaßen im Minus, das ausgeglichen werden muss. Nicht zu
antworten könnte als persönliche Beleidigung, Unprofessionalität oder Vernach-
lässigung der Arbeit aufgefasst werden. »I feel that if I don’t answer an email
someone thinks I’m purposely ignoring them instead of I haven’t read it yet« –
dieser Satz verdeutlicht die Logik des hier wirkenden sozialen Zwangs. Erst mit
einer erfolgten Antwort ist die eigene Unschuld beziehungsweise das regelkon-
forme Verhalten bewiesen. Denn das Nicht-Antworten lässt alle möglichen Spe-
kulationen darüber zu, was man gerade tut, oder ob gerade die fehlende Antwort
eine Bedeutung transportiert. Wer sich nicht meldet, macht wohl gerade etwas
anderes, ist nicht bei der Sache, verweigert sich. Da man die Nachricht ja hätte le-
sen können, kann man auch für das Versäumnis zur Verantwortung gezogen und
potenziell bestraft werden. Es gibt hier keine Unschuldsvermutung. Schuldig ist
man, bis man die E-Mail gelesen hat. Bewiesen hat man die Unschuld erst, wenn
man die Antwort abgeschickt hat. Die E-Mail funktioniert so als eine Art Überwa-
chungsmechanismus, der die Verfügbarkeit der arbeitenden Subjekte sichert und
sie quasi in vorauseilendem Gehorsam (›Unschuldsbeweis‹) eine Antwort tippen
lässt. Um zu sichern, dass man auch keine Anrufung verpasst, muss man ständig
E-Mails checken, was den Verfügbarkeitszwang noch intensiviert.
Die obsessive Responsivität ist also Teil eines Spiels der Gegenseitigkeit und
der Überwachung, das sich je nach Kontext verschieden entfalten kann.Wer dabei
zwanghaft verfügbar sein muss und wer sich der Verfügbarkeit entziehen kann,
ist von Positionen in einem Machtgefüge abhängig.
*
Klicklust und Verfügbarkeitszwang 135
Mit meiner Chefin kommuniziere ich über WhatsApp. Da wir häufig nicht am
selben Ort arbeiten – ein festes Büro gibt es nicht –, ist dieser Instant-Messaging-
Dienst unentbehrlich. An einigen Tagen habe ich keine festen Arbeitsstunden,
sondern stehe auf Abruf bereit, falls etwas anfallen sollte. Die farbigen Lichtsi-
gnale kenne ich bereits »by heart«. Regelmäßiges blaues Blinken: kein Problem,
Smartphone lädt auf. Rotes Blinken: Anruf. Jetzt grünes Blinken: Jemand hat mir
geschrieben. Ich weiß nicht wer, und ich weiß nicht über welche App die Nach-
richt mich erreicht. Vielleicht hat die Nachricht gar nichts mit der Arbeit zu tun.
Vielleicht ist es eine Freundin, die fragen möchte, wie es mir geht, vielleicht die
Affäre von letzter Woche. Die Fragen gesellen sich als penetrantes inneres Sum-
men zu der Tätigkeit, mit der ich gerade beschäftigt bin, und lassen mich diese
schließlich unterbrechen. Denn wenn die Nachricht für die Arbeit ist, muss ich
nachgucken, vielleicht ist es ja dringend. Mit dem Mittelfinger entsperre ich den
Schirm, tatsächlich, eine WhatsApp-Nachricht, sie ist von meiner Chefin (Ist sie
bereits vor 5 Minuten angekommen? Lese ich sie schon zu spät?). Sie stellt mir
eine Frage, nicht dringlich, ich könnte sie auch später beantworten. Aber ich weiß,
dass sie bereits weiß, dass ich ihre Nachricht, nicht nur empfangen (Doppelhäk-
chen), sondern auch gelesen (blaues Doppelhäkchen) habe. Ich kämpfe gegen
mich selbst: Bleib ruhig, antworte später. Konzentriert bin ich aber sowieso nicht
mehr. Dann kann ich doch gleich antworten? Ich tippe eine Reaktion – ein Häk-
chen: gesendet, zwei Häkchen: empfangen … und hier bleibt die App stehen. Hat
sie die Nachricht nicht gelesen? Oder hat sie bloß gesehen, dass ich geantwortet
habe, jedoch nicht draufgeklickt? Jetzt aber bin ich in einer Unterhaltung und
fühle, dass mir die Reaktion fehlt. Ich versuche, mich wieder auf meine Sachen
zu konzentrieren, schaue aber immer wieder auf’s Handy: Denn wenn sie jetzt
zurückschreibt, muss ich natürlich antworten, schließlich habe ich die Unterhal-
tung angeleiert. Schon wieder dieser typische Zustand der halben Abwesenheit.
*
Nachrichtendienste sammeln Informationen, unter anderem durch die Überwa-
chung des Fernmeldeverkehrs, und werten sie aus. Ihr Zweck ist es, Erkenntnisse
über die politische Lage und über wirtschaftsbezogene Vorgänge zu gewinnen.
Ebenfalls zu ihrem Repertoire gehören verdeckte Operationen und Zwangsmaß-
nahmen. Selbstverständlich finanzieren alle digitalen global player ihren eigenen
Nachrichtendienst. Wie es sich für Nachrichtendienste gehört, sammeln diese
relevante Informationen, damit die Mutterorganisation Vorteile aus wirtschafts-
bezogenen und privaten Daten ziehen kann. Paradigmatisch für dieses Modell
ist Facebooks Messaging-Tochter WhatsApp, die die soziale Plattform 2014 auf-
kaufte, um ihre Werbung dank der so gewonnenen persönlichen Informationen
136 Jorinde Schulz
und Verhaltensdaten optimieren zu können.1 Ähnlich funktioniert der Facebook-
Messenger unter eigenem Namen. Googles Paket von Nachrichtendiensten – be-
stehend aus »Allo«, »Duo« und der inzwischen auf vielen Android-Telefonen vor-
installierte Android Messages App – ist etwas weniger beliebt, versucht aber Ter-
rain zu gewinnen und die potenziellen Gewinne durch App-interne Kaufoptio-
nen zu steigern. Beim chinesischen WeChat ist das schon lange Realität (Lee
2017). Apple bleibt mit seinen »iMessages« appletypisch plattformexklusiv und
verbindet nur Menschen, welche die firmeneigenen Geräte nutzen. »Telegram«
ist der russische Nachrichtendienst der Brüder Nikolai und Pavel Durov, ein Non-
Profit-Unternehmen. Die russischen good guys? Knapp 30 Jahre nach dem Kalten
Krieg konkurrieren die verschiedenen Dienste um die flächendeckende Überwa-
chung ihrer Nutzer_innen. Längst werden Inhalte, die von ihnen als politisch oder
moralisch gefährlich eingestuft werden, gelöscht.2 Werden die Messenger bald
ebenfalls über paramilitärische Abteilungen verfügen, mit denen sie Kommando-
unternehmungen durchführen können, wie es sich für gute Nachrichtendienste
gehört?
Während die umfassende Datenerhebung der Nachrichtendienste meist im
Dunkeln bleibt, drängen sich andere Momente der Überwachung den Nutzer_in-
nen – den Subjekten der Dienste – umso mehr auf. Zum Beispiel, dass ihrem
Gegenüber angezeigt wird, ob sie gerade im Messenger aktiv oder online sind,
ob ihr Gerät die Nachricht empfangen hat, ob sie die Nachricht bereits ange-
schaut haben. Für diese Messenger-internen Kontrollen arbeiten die Dienste mit
verschiedenen Icons, welche die Sinne und Sinnlichkeit ihrer User ansprechen.
Im Facebook-Messenger beispielsweise zeigen grüne Punkte anderen an, dass
jemand online ist. Ein pulsierendes Kamera-Piktogramm lässt das Gegenüber
wissen, dass es die Gesprächspartnerin auch über Video erreicht. Wenn die zwei
Häkchen von grau zu einem leuchtenden Blau wechseln, erfasst man bei Whats-
App sofort, dass eine Nachricht die andere Person nicht nur erreicht hat, sondern
auch gelesen wurde. Tippt die Gesprächspartnerin, wird das ebenfalls graphisch
übermittelt, dazu noch die Information, wann sie zuletzt online oder aktiv war.
Anschluss, Zugänglichkeit, Responsivität werden also ständig erfasst und über-
mittelt – Kontrolle.
1 | Siehe hierzu zum Beispiel Page 2018 oder King 2014. Die europäische Kommission verlang-
te im Mai 2017 von Facebook 110 Mio. Euro Strafe, da der Konzern beim Kauf behauptete, es
wäre technisch unmöglich, automatisch Nutzerinfos von Facebook und WhatsApp abzugleichen.
Diese Behauptung erwies sich als falsch, als WhatsApp 2016 begann, Informationen an die
›Mutterfirma‹ weiterzuleiten, unter anderem Telefonnummern, die für gezielte Werbung verwendet
werden konnten. Siehe http://www.taz.de/!5410598/ (besucht am 21.09.2018).
2 | WeChat filtert Chats nach politisch heiklen Schlüsselwörtern und zensiert diese heimlich,
das heißt löscht sie ohne Wissen der Nutzer_innen. Auch der Facebook-Messenger führt ein
maschinelles Screening privater Chats durch, um »schädliche« oder »bedrohliche« Nachrichten
oder Fotos zu stoppen, vgl. Leetaru 2018.
Klicklust und Verfügbarkeitszwang 137
»Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.« Die interpersonale Überwa-
chung der Nachrichtendienste nutzt die Umkehrung dieses Prinzips. Sie geben
so viele Informationen wie möglich über das Verhalten des kommunikativen Ge-
genübers preis und halten ihre Nutzer_innen ständig heiß. Online oder offline,
erreichbar oder nicht erreichbar, ansprechbar, angesprochen und in der Pflicht zu
antworten. Anwesend oder abwesend. Mit ihrem rhythmischen Blinken, ihrem
Pulsieren, ihrer Dynamizität simulieren die Informationen eine Live-Interaktion
mit körperlicher Präsenz der Gesprächspartner_innen. Indem das Chatten sinn-
liche Qualität annimmt, nähert es sich der mündlichen Kommunikation an –
oder produziert vielmehr die Verwechslung, man befinde sich in einer Situati-
on der Unmittelbarkeit, einem ›echten Gespräch‹. Ein solches aber operiert mit
strengen Regeln der Reziprozität. Man stelle sich die folgende Situation vor: Zwei
Freund_innen sitzen sich gegenüber, der eine stellt eine Frage, die andere nimmt
zwar allem Anschein nach den Wortlaut auf, reagiert aber erst eine halbe Stun-
de später, um anschließend erst am nächsten Tag wieder auf die Ansprache zu
antworten. Ein solches Verhalten wäre – nach gängigen sozialen Konventionen
– inakzeptabel. Genau damit arbeiten die Vergegenwärtigungsmechanismen der
Messenger, um Antwortbereitschaft herzustellen. Die affektive Nähe und die An-
forderungen einer Live-Unterhaltung werden dabei auf das Verhalten imMessen-
ger übertragen. Die Permanenz des so kreierten Schuldgefühls, responsiv sein zu
müssen, bringt ein tendenzielles Entgleiten der persönlichen Kontrolle darüber,
ob man antworten möchte oder nicht, mit sich. In der E-Mail, die aus dieser Per-
spektive eine Vorform ist, ist dies noch nicht ›technologisiert‹: Wir wissen zwar,
dass eine E-Mail in der Regel sofort übermittelt wird, können aber im Normalfall
nicht verifizieren, ob sie bereits geöffnet geschweige denn gelesen wurde.
Im Messenger-Chat agiert man – befeuert durch die diversen sinnlichen Trig-
ger, Icons und Leuchtsignale – als handele es sich um Unterhaltungen in körper-
licher Ko-Präsenz. Ein Blick unter die Interface-Oberfläche zeigt aber, dass sich
selbst jeder noch so belanglose Chat aus der Perspektive des Nachrichtendienstes
als locus der Datenextraktion im großen Stil darstellt. Jeder User ist beim Nutzen
dieser Dienste an eine Art Datensammelmaschine angeschlossen, die den persön-
lichen Austausch als Motor braucht, um verwertbares Rohmaterial zu gewinnen,
während sie mit technologischen Mitteln Unmittelbarkeit herstellt.
Zwei Ebenen der Überwachung spielen hier also zusammen: einerseits ei-
ne infrastrukturelle, die vom jeweiligen Dienst ausgeht, dessen wirtschaftliche
Berechtigung ausmacht und unbemerkt imHintergrund verläuft – dass die Chat-
daten gespeichert, weitergegeben und ausgewertet werden, findet man, wenn
überhaupt, dann meist kryptisch formuliert in den Nutzungsbedingungen. An-
dererseits eine bilaterale, zwischen den Teilnehmer_innen der Kommunikation,
die mindestens genauso wichtig für den Nachrichtendienst ist, da sie den Reiz
– die Lust und den Zwang – der Unterhaltung verstärkt. Auf den messenger-
vermittelten Austausch pfropft sich eine Registrierungsebene, welche Informa-
tionen über Lese- und Reaktionsverhalten mit transportiert und dadurch die
138 Jorinde Schulz
Form einer Live-Gesprächssituation zwischen physisch Anwesenden imitiert.
Diese zweite Ebene der Überwachung macht den emotionalen Hack aus, der
die Datenextraktion beschleunigt, da die Etikette von sozialer Gegenseitigkeit die
Kommunikationsfreudigkeit/-ängstlichkeit triggert. Unter der Bedingung einer
ständigen Flut an Nachrichten mit persönlicher Ansprache, gekoppelt mit Re-
aktionsfeedbacks und den entsprechenden ›Intimitätseffekten‹, ist es allerdings
der sichere Weg in den Burnout, auf diese zu reagieren, als handele es sich um
Unterhaltungen mit körperlicher Ko-Präsenz.
*
»Der Klang der Stille …
… den man im Lesachtal schon beim Hineinfahren ins Tal spürt, wird Sie faszinieren und
Ihnen wunderschöne, ruhige Urlaubstage bereiten. Schalten Sie den Alltag einfach offline,
gehen Sie online mit einer einzigartigen Naturlandschaft und genießen Sie erholsame Ferien
bei uns.
Im Lesachtal gehen die Uhren anders – Gemütlichkeit, ›Sich Zeit nehmen‹, Abschalten und
die wunderschöne Winternatur genießen stehen am Tagesprogramm …
3
Sind Sie bereit für diesen einzigartigen Urlaub?«
*
Unplugging – The New Freedom /// How to Keep your Screen Addiction From
Harming YourHappiness /// A Realistic Guide To Taking ADigital Detox ///How
ToTakeControl of YourDigital Life ///Nothing. A digital detox experiment built to
give you back something that’s already yours – your free time /// Wurzelwerkstatt
– Weniger online. Mehr Sein /// Unplug & Recharge /// Zeit für eine digitale
Entgiftung4
Disconnect /// kalter Entzug /// endlich den Stecker ziehen /// Verbindung tren-
nen /// abschalten /// National Day of Unplugging /// … etc.
*
»3-Tages-Seminar: Digital Balance
Wege aus der ständigen Erreichbarkeit […]
• Beim Digital Detox Seminar konzentrieren wir uns ganz aufs Abschalten. Drei Tage lang
können Sie in sich gehen, Kraft tanken und den eigenen Fokus schärfen.
3 | Der inzwischen aktualisierten Website des Alpenhotels Wanderniki entnommen, https://
www.wanderniki.at/ (besucht am 15.03.2018).
4 | Eine Sammlung verschiedener Überschriften zum Thema »Digital Detox«.
Klicklust und Verfügbarkeitszwang 139
• Durch Austausch mit anderen Teilnehmern Ihre Smartphonenutzung und Digitalkonsum re-
flektieren. Dabei entwickeln Sie Strategien und neue Gewohnheiten im nachhaltigen Um-
gang mit digitalen Geräten.
• Einzigartige Sessions leiten uns durch unsere Auszeit. Von Reflexionsrunden über Experten-
inputs bis hin zu angeleiteter Meditation und Naturerlebnissen.
• Das Seminar lädt dazu ein, sich selbst, die psychologischen Hintergründe für das eigene
Handeln und neue Chancen zu entdecken. Dazwischen bleibt Raum und Zeit für eigene
Gedanken und Experimente.
• Gemeinsame Unternehmungen, gesundes Essen und Achtsamkeitsübungen sind das Rah-
menprogramm. Diese sorgen für eine Atmosphäre der Entspannung und Selbstreflexion, um
5
so den Fokus auf sich und das Wesentliche zu lenken.«
*
Täglich sendet LinkedIn ein bis zwei E-Mails an meine private Adresse. Mit ihrer
persönlichen Ansprache fordern sie penetrant meine Aufmerksamkeit. »Jorinde,
more than 44,000 new jobs in Berlin Area, Germany« – »Jorinde, people are look-
ing at your LinkedIn profile« – »Jorinde, please addme to your LinkedIn network«.
Die Plattform für berufliche Netzwerke und Arbeitsvermittlung beschränkt sich
nicht darauf, Jobangebote und potenziell interessante Kontakte zu vermitteln. Ih-
re rot aufleuchtenden notifications fordern auch dazu auf, LinkedIn-Kontakten
zum Geburtstag oder zu neuen Jobs zu gratulieren, und sagen Bescheid, wenn
diese Postings und Artikel von anderen kommentieren. Nutzer_innen können
sich gegenseitig für ihre »skills« »endorsen«, das heißt, bestimmte Fähigkeiten
oder Kompetenzen von anderen bescheinigen. Im Newsfeed berichten User von
Events, Neuigkeiten und Erfolgen, wie den Facebookfeed kann man ihn endlos
runterscrollen. In der Tat ist das graphische Design von LinkedIn dem von Face-
book auffallend ähnlich. Die berufliche Kontaktpflege wird hier ins freundschaft-
liche Register transponiert, was die Nutzer_innen auch jenseits der Zweckrationa-
lität einer Jobsuche an das Netzwerk bindet. Solche affektiven Bindungenmachen
sie leichter ansprechbar für die Anforderungen und zahlreichen Kontaktaufnah-
men der Plattform.
Beim Einrichten eines Profils bietet LinkedIn gleich an, das gesamte priva-
te E-Mail-Adressbuch zu importieren, um auch dieses Humankapital zu nutzen.
»Quickly grow your professional network«, lockt es seine registrierten User. Zur
Profiloptimierung gibt es außerdem Ratschläge: »The power of your profile. See
how well your profile stands out from the crowd.« »A profile view from the right
person«, verspricht es, »is a step closer to your next career move.« Bei längerer
Inaktivität der Nutzer_in wird ein bisschen tiefer ins Register der Psychohacks
5 | http://www.thedigitaldetox.de/seminare.html.
140 Jorinde Schulz
gegriffen: »Mathias B. added connections you may know«, verrät es, oder »4 pro-
file views this week – See who looked at your profile«. »What are your connec-
tions up to?«, fragen die E-Mails weiter. Nach einigen Tagen des Nichtklickens
wird der Tonfall schon ungeduldiger: »Don’t miss a connection: You have in-
vitations expiring soon.« Antworte ich nicht rechtzeitig, werde ich also bestraft.
»Remember, each connection extends the reach of your network«, werde ich ge-
mahnt. Push-Nachrichten, visuell auffällige Erinnerungen, auffordernde Anspra-
chen und Aufmerksamkeitsfänger kreieren einen Interaktionszwang, der die auf
LinkedIns Website verbrachte Zeit maximieren soll und mit einem sanften Sank-
tionsregime verbunden ist. Die E-Mails, die auf die Aktivitäten und Anfragen
anderer Mitglieder verweisen, setzen die Nutzer_innen unter einen Zugzwang,
der scheinbar spontan von ihren Kontakten ausgeht, tatsächlich aber demNutzen
der Plattform entspricht. Schließlich speisen sich die Einnahmen der penetran-
ten Arbeitsvermittlung aus drei Quellen: Erstens aus »Recruitment Services« für
Arbeitgeber_innen, die qualitativ hochwertiger werden, wenn Profile viele Infor-
mationen preisgeben und aktuell sind. Zweitens aus personalisierter Werbung,
die ebenfalls wertvoller wird, je mehr Zeit auf LinkedIn verbracht wird und je
mehr über die Vorlieben des einzelnen Mitglieds bekannt ist. Drittens aus der
Premiummitgliedschaft, die Zugang zu Mitgliedern außerhalb der eigenen Kon-
takte bietet, es erlaubt, den Voyeurismus zu befriedigen und herauszufinden, wer
das eigene Profil angeschaut hat, und »kompetitive Einsichten« über die eigene
Lage im Wettbewerb um dort ausgeschriebene Jobs verspricht.
Es ist klar, dass LinkedIn als profitinteressiertes Unternehmen vor allen Din-
gen erreichen möchte, dass man Zeit in seinem Netzwerk verbringt. Interessant
sind aber auch die ›ideologischen Effekte‹: LinkedIn gestaltet das ›Zwischen‹ der
Jobs als nächsten Karrieresprung, als Wechsel zu neuen ›Herausforderungen‹.
Hier manifestiert sich nicht, wie in den E-Mail-Beispielen aus Melissa Greggs
Untersuchung, direkt der Druck vom Arbeitsplatz, sondern vielmehr die Aufla-
gen eines Arbeitsmarkts, in dem man unter den Bedingungen von Flexibilisie-
rung und Unstetigkeit sich besser ständig up to date hält, mit anderen vergleicht,
sein Netzwerk vergrößert. Insofern handelt es sich um ein aufdringliches Verfüg-
barkeitsregime, das sogar mit einem Regime von Sanktionen verknüpft ist. Die-
se Sanktionen verbleiben, das sei hier nur kurz angemerkt, im sanften Register
verglichen mit den Verfügbarkeitsregimes neoliberaler Arbeitslosenpolitiken, in
denen sich deutlich und brutal der Zwangscharakter des Arbeitsmarkts zeigt. Im
deutschen Sozialrecht ist dieVerfügbarkeit ein Element der Definition von Arbeits-
losigkeit und eine Voraussetzung für den Anspruch auf Arbeitslosengeld. Das
Gesetz definiert sie – neben der Fähigkeit und dem Willen, eine sogenannte zu-
mutbare und versicherungspflichtige Beschäftigung anzunehmen – über die Trias
von Erreichbarkeit, Arbeitsbereitschaft und Eingliederungsbereitschaft.Diese drei Säu-
len der Verfügbarkeit sind ein eindrückliches Beispiel dafür, dass die staatlichen
Maßnahmen, die Bürger_innen außerhalb der Lohnarbeit drohen, nicht etwa den
Regelbruch, sondern die Nichtverfügbarkeit sanktionieren. Rechtsdokumente wie
Klicklust und Verfügbarkeitszwang 141
die sogenannte Erreichbarkeitsanordnung (EAO), eine Art Manual der Techniken
staatlich eingesetzter Verfügbarkeitsordnungen, illustrieren dies.
Auch auf LinkedIn wird Responsivität durch eine bewusst eingesetzte Ver-
wechslung produziert: Es ›spricht‹ die Plattform, einGeschäftsmodell, dasmit au-
tomatisierten E-Mails ein bestimmtes profitables Verhalten erwirkenmöchte. Das
›Sprechen‹ geschieht jedoch zumeist im Namen anderer Nutzer_innen, als hand-
le es sich um ein horizontales Kommunikationsgeschehen: »Jorinde, please add
me to your professional network« … »Robert endorsed a skill. Endorse Robert!«
Die umfassende maschinelle Registrierungs- und Optimierungsmaschine bleibt
dadurch im Verborgenen.
*
»One of our big focus areas for 2018 is making sure the time we all spend on Facebook is
time well spent.
We built Facebook to help people stay connected and bring us closer together with the
people that matter to us. That’s why we’ve always put friends and family at the core of the
experience. Research shows that strengthening our relationships improves our well-being
and happiness.
But recently we’ve gotten feedback from our community that public content – posts from
businesses, brands and media – is crowding out the personal moments that lead us to
connect more with each other.
[…]
We feel a responsibility to make sure our services aren’t just fun to use, but also good
for people’s well-being. So we’ve studied this trend carefully by looking at the academic
research and doing our own research with leading experts at universities.
The research shows that when we use social media to connect with people we care about,
it can be good for our well-being. We can feel more connected and less lonely, and that
correlates with long term measures of happiness and health. On the other hand, passively
reading articles or watching videos – even if they’re entertaining or informative – may not
be as good.
Based on this, we’re making a major change to how we build Facebook. I’m changing the
goal I give our product teams from focusing on helping you find relevant content to helping
you have more meaningful social interactions.
[…]
At its best, Facebook has always been about personal connections. By focusing on bringing
people closer together – whether it’s with family and friends, or around important moments
6
in the world – we can help make sure that Facebook is time well spent.«
*
6 | Aus dem Facebook-Posting von Mark Zuckerberg, der die Unternehmensstrategie
2018 vorstellt: https://www.facebook.com/zuck/posts/10104413015393571 (besucht am
21.09.2018).
142 Jorinde Schulz
»Time Well Spent« – ein beruhigender Slogan, der endlich Qualitätszeit ver-
spricht. Keine verschwendete, verplemperte, sinnlos verronnene Zeit. So möchte
man doch als selbstbestimmtes Individuum die verlebten Stunden labeln: gut
verbracht. Kein Wunder, dass Facebook es sich zum Motto für 2018 gemacht hat.
Die Wohlfühl-Losung hat aber einen anderen Ursprung: »Time Well Spent« ist
eigentlich der Slogan einer 2016 von reuigen Techies gegründeten Non-Profit-
Organisation, die sich gegen süchtigmachende und zeitschindende Technologien
einsetzen möchte. Sogenanntes ethisches Technologiedesign zu fördern ist da-
her ihre Mission. Die Kampagnenwebsite nennt sich entsprechend »Center for
Humane Technologies« und evoziert mit dezent modernen Graphiken und 50er-
Jahre-Nostalgiebebilderung eine kommende, endlich sinnvolle Tech-Utopie.7
»Time Well Spent« betreibt eine Art aufgeklärten Paternalismus, finanziert und
artikuliert von abtrünnigen Silicon-Valley-Entrepreneuren. Laut Gründer Tristan
Harris üben nämlich große Internetfirmen wie Facebook, Google oder Apple mit
Hilfe ihres Softwaredesigns »Hirnkontrolle«8 aus, um die Aufmerksamkeitsspan-
nen ihrer Nutzer_innen ständig zu besetzen, ihre Gedanken und Handlungen zu
führen und zu manipulieren. Als geläutertem Ex-Google-Mitarbeiter glaubt man
Harris, wenn er behauptet, dass Softwaredesigner_innen aktiv daran arbeiten,
Leute von ihren Smartphones abhängig zu machen, indem sie den verantwortli-
chen und willentlichen Umgang mit den Geräten auszuschalten versuchen: »You
could say that it’s my responsibility to exert self-control when it comes to digital
usage, […] but that’s not acknowledging that there’s a thousand people on the
other side of the screen whose job is to break down whatever responsibility I can
maintain.« (Bosker 01.11.2016) Er benutzt den Begriff »hijacking techniques« für
die verschiedenen Methoden, die verwendet werden, um Menschen an eine be-
stimmte App oder Plattform zu binden, und dasmöglichst zeitintensiv. So nutzen
soziale Plattformen beispielsweise Techniken wie die »variablen Belohnungen«
(»variable rewards«). Das Prinzip dieser Belohnungsstruktur besteht in ihrer Un-
vorhersehbarkeit: Nach bestimmten Aktivitäten, wie zum Beispiel dem Liken
eines Bildes, kommt manchmal eine sofortige ›Belohnung‹ – ein Like zurück,
ein Kommentar zu einem Bild, eine Nachricht –, manchmal aber auch nicht.
Da es nicht vorhersehbar ist, werden die Nutzer_innen dazu angehalten, ständig
nachzuschauen, ob etwas Neues passiert ist. Diese Dynamik, die im Übrigen
erfordert, dass die jeweilige Plattform ständig Informationen in der Hinterhand
behält, um rewards verteilen zu können, funktioniert Harris zufolge nach dem-
selben Prinzip wie ein Spielautomat. Es gibt unzählige weitere Techniken, um
7 | http://humanetech.com/.
8 | »How a Handful of Companies Control Billions of Minds Every Day«, heißt zum Beispiel der
obligatorische Tedtalk, welchen »Time Well Spent« gegeben hat: https://www.ted.com/talks/
tristan_harris_the_manipulative_tricks_tech_companies_use_to_capture_your_attention. Die
Metapher der mind control, hier behelfsweise als Hirnkontrolle übersetzt, findet sich in diversen
Materialien der Organisation.
Klicklust und Verfügbarkeitszwang 143
die Zeit von Usern zu vereinnahmen und zu besetzen: So werden Alarmfarben
als Trigger verwendet, um Aufmerksamkeit zu erregen und Klicks zu generieren.
Die »unmittelbare Unterbrechung«, das heißt die sofortige Übermittlung von
beispielsweise Nachrichten oder notifications, die Dringlichkeit suggeriert und
damit die Responsivität steigert, wird bewusst als Tool eingesetzt.9 Manipuliert
wird auch anhand von Effekten wie der bottomless bowl, dem endlosen Feed zum
Herunterscrollen, oder dem Einsatz der Autoplay-Funktion, die automatisch ein
Video startet, um Auge und Ohr zu catchen.
Eine der Ideologieschmieden und Ausbildungsstätten vieler Techbrains, auch
von Tristan Harris, ist das sogenannte Stanford Lab of Behavior Design. Bis
vor kurzem hieß dieses noch Stanford Lab of Persuasive Technologies. Gegrün-
det wurde es von der selbststilisierten Koryphäe der Verhaltenswissenschaften,
B. J. Fogg, der als einer der ersten dieNützlichkeit vonComputern undMaschinen
für Marketingzwecke erkannte und zum Forschungsgegenstand machte, in einer
Zeit, in der diese noch hauptsächlich als ›Rechenmaschinen‹ verstanden wurden.
Unter dem Begriff der »persuasive technologies« entwickelte er ein Verhaltensmo-
dell, auf dem die Forschung des Stanford-Labs heute noch basiert. Dessen simple
Gleichung gibt einen Hinweis auf die Art und Weise, wie die Tech-Industrie
sich typischerweise ihre User vorstellt, nämlich als steuerbare Individuen, deren
Verhalten sich durch Kenntnis ihrer Motivationen und Fähigkeiten triggern lässt:
B = MAT, Behavior = Motivation × Ability × Trigger (auf Deutsch: Verhalten =
Motivation× Fähigkeit× Trigger). »Captology« war zeitweise der Überbegriff für
diesen Zweig der Verhaltensforschung, der sich primär mit dem Einfangen von
Aufmerksamkeit und der Manipulation von Verhalten beschäftigt.
Auch B. J. Foggs wurde bekehrt und gibt sein Wissen mittlerweile nur noch
an Projekte weiter, die er als ethisch hochwertig einstuft.10 Die Annahme: Die
Wirksamkeit der entwickelten Verfahren der Verhaltensmanipulation kann auch
zum Guten verwendet werden. Ähnlich stellt sich das »Time Well Spent« vor,
Technologie-Design für die Interessen der Menschheit einzusetzen. »We should
feel an enormous responsibility to get this right«, erklärt ihr geläuterter Gründer
in einem seiner zahlreichen Interviews (Bosker 01.11.2016) – die meisten amerika-
nischen und internationalen Medien hat er schon durch –, und kann dabei doch
nicht ganz den diskursiv-ideologischen solutionism seiner eigenen Klasse hinter
sich lassen. Diesen atmet auch jeder Pixel seiner Humane-Technologies-Website,
deren Struktur einen jargontypischen 5-Schritt performt: »Home – The Problem
– The Way Forward – The Team – Take Control«. Der »Weg nach vorne« ist da-
bei der richtige Einsatz des neutralen Mittels Technologie, schließlich: »Humane
Design is the solution«. Dieser Ansatz hält so niedliche Erfindungen bereit wie
9 | Alle Beispiele aus Harris 2016.
10 | »I teach good people how behavior works so they can create products & services that
benefit everyday people around the world«, erklärt er auf seiner Website https://www.bjfogg.com
(besucht am 21.09.2018).
144 Jorinde Schulz
»empower people to set predictable times during the day or week for when they
want to check ›slot machine‹ apps, and correspondingly adjust when new mes-
sages are delivered to align with those times« (Harris 2016). Weitere Ideen von
Harris und »The Team« sind zum Beispiel eine Inbox, die nachfragt, wie viel Zeit
wir mit E-Mails verbringen wollen und uns dann freundlich erinnert, wenn wir
die Quote überschritten haben, oder die Einführung eines sogenannten »Fokus-
Modus« für Gmail, in dem man nicht gestört wird. Das Prinzip: Die Probleme
grenzüberschreitender Technologien sollen dadurch überwunden werden, dass
uns ebendiese Technologien ›helfen‹ können, Grenzen zu setzen. Von der initia-
len Problemanalyse desMannes, der nach eigenen AngabenGoogle verlassen hat,
um in Vollzeit an der »Reform der Aufmerksamkeitsökonomie« zu arbeiten, ist
es also bloß ein innovativer Denkschritt zu Lösung – und selbstverständlich hat
diese Menschheitsdimensionen: »Realigning Technology with Humanity’s Best
Interest«.11 Daran sollen auch die großen Internetkonzerne mitarbeiten:
»Apple, Samsung, and Microsoft can help solve the problem, because keeping people
hooked to the screen isn’t their business model. They can redesign their devices and core
interfaces to protect our minds from constant distractions, minimize screen time, protect
our time in relationships, and replace the App Store marketplace of apps competing for
usage with a marketplace of tools competing to benefit our lives and society.« (Ebd.)
Dass diese Aufforderung angekommen ist, zeigt nicht nur Facebooks Marketing-
coup von 2018, sich – treu nach dem bewährten Verfahren, sich jegliche Kritik
einfach einzuverleiben – den Slogan »TimeWell Spent« auf die Fahnen zu schrei-
ben. Nach den Skandalen um unter anderem russische Wahlmanipulation durch
Fake-News galt es, verlorenes Vertrauen wiederherzustellen. Auch Google küm-
mert sich jetzt elterlich um das sogenannte digitale Wohlbefinden seiner Nut-
zer_innen und führt für sein Android-Betriebssystem eine Reihe von Funktionen
ein, die Nutzungszeiten durch freundliche Erinnerungen und Sperren verkürzen
oder zumindest bewusst machen sollen.
Technologie, die nur das Beste will. Das ist das Programmder digitalenAufklä-
rung von oben, bei der das Bouquet an Nudging-Strategien einfach nur neu und
anders eingesetzt werden soll. Die umfassende Verhaltensregistrierung, welche
die Entwicklung der süchtigmachenden Technologien angetrieben hat, bleibt un-
angetastet. So wird die apokalyptische Diagnose – »[o]ur society’s being hijacked
by technology« – blitzschnell durch einen Paternalismus California-Style abge-
wendet: »How do you ethically steer the thoughts and actions of two billion peo-
ple’s minds every day?«12
11 | http://humanetech.com/problem/ (besucht am 25. Januar 2019).
12 | Von Tristan Harris’Website, http://www.tristanharris.com/ (besucht am 21.09.2018). Mei-
ne Hervorhebung.
Klicklust und Verfügbarkeitszwang 145
Abbildung 1: Nutzerdialog bei den Gastgebereinstellungen auf airbnb.com. Quelle: Screen-
shot der Verfasserin vom 08.03.2018.
*
Auch die Seite des Sharing-Economy-Unternehmens Airbnb möchte mir unab-
lässig helfen, seit ich mir ein Profil eingerichtet habe, ummein Zimmer über die
Plattform zu vermieten. Die Illustrationen, die das Set-up begleiten, sind simpel,
niedlich, vermitteln eine heitere Effizienz. Airbnb führt mich in überschaubaren
Schritten durch seine Einstellungen, ermuntert mich, wenn ich eine Etappe ge-
schafft habe (Abbildung 1), überfordert mich niemals mit Informationen, sondern
übermittelt mir nur die relevanten. Wie viel ich in nur einem Monat verdienen
könnte, wenn ich mein Zimmer vermieten würde, erzählt mir zum Beispiel ein
Glühbirnchen-Icon in türkis, das immer wieder wohlgemeinte Ratschläge erteilt.
Das Geschäftsmodell von Airbnb basiert auf Vermietung und Vermarktung
des Privatraums und des Lifestyles seiner sogenannten Gastgeber. Damit ist das
Unternehmen mit seinem Umsatz von 2,6 Milliarden US-Dollar im Jahr 201713
die kommerzielle Version selbstorganisierter Netzwerke wie Couchsurfing oder
dem noch älteren Servas International. Wie LinkedIn ist es eigentlich nur Binde-
glied zwischen Anbieter_innen und potenziellen Kund_innen, oder vielmehr ein
›Marktplatz‹. Airbnb aber hat sich von einer neutralen Vermittlungsinstanz, die
den Austausch ermöglicht, zu einer monopolistischen Plattform für Unterkünfte
aller Artmit ausgereiftemRegelwerk entwickelt. SeineHosts bewegen sich auf der
gesamten sozioökonomischen Skala von Prekarität bis Luxus: Einige von ihnen
professionalisieren sich zuQuasi-Hotelmanager_innen von schick ausgestatteten
13 | https://en.wikipedia.org/wiki/Airbnb (besucht am 21.09.2018).
146 Jorinde Schulz
Ferienwohnungen, andere sichern ihren Verbleib in urbanen Zentren oder touris-
tischen Prime-Locations, indem sie zuMikrospekulant_innen des eigenenWohn-
raums werden, unentgeltlich Stadtführungen machen, ihren Gästen mit Tee und
Frühstück aufwarten und ihr Insider-Wissen als Bonus vermarkten.14
Stellt man ein Angebot auf Airbnb ein, spürt man schnell einen sanften,
aber unmissverständlichen Verfügbarkeitsdruck, eine permanente, Grenzen ver-
schiebende Aufdringlichkeit seitens der Plattform. Verfügbarkeit bildet schon die
Grundlage des Geschäftsmodells, das in der Preisgabe des privaten Raums be-
steht, dessen Zuhause-Charakter zur authentischen Serviceleistung umfunktio-
niert wird. Zum Verfügbarkeitsregime von Airbnb gehört auch die verpflichtende
ständige Aktualisierung eines Kalenders, in dem man eventuelle Sperrdaten der
vermieteten Location angeben muss. So verweist die Plattform mit charakteris-
tischmahnendemUnterton auf dieGäste, die man damit sonst schädigt: »Cancel-
ing disrupts guests’ plans. If you cancel because your calendar is inaccurate, you’ll
be charged a penalty fee and the dates won’t be available for anyone else to book«.
Auch in der zeitlichen Dimension wird die Bereitschaft zur zügigen Reaktion
auf Anfragen mittels Sanktionen antrainiert: Für eine Antwort, die länger als 24
Stunden dauert, wird ein Bußgeld erhoben, die eigene Antwortrate ist allgemein
einsehbar. Abgelehnte Buchungen zählen negativ im Gastgeber_innen-Rating.
Eine relativ neue Funktion von Airbnb ist »Instant Book« (Sofort Buchen),
es ist mittlerweile sogar die automatische Voreinstellung. Das bedeutet, dass In-
teressierte den zur Vermietung stehenden Raum buchen können, ohne dass die
Anbieter_in ihre explizite Zustimmung gibt. Zusammen mit der ebenfalls neue-
ren Smart-Pricing-Option, die den Mietpreis automatisch dynamisch an das Ver-
hältnis von Angebot und Nachfrage anpasst, gewährleistet es die Reibungslosig-
keit von Airbnbs Vermittlungsgeschäft (und damit höchstmöglichen Profit, denn
die Plattform verdient an jeder Vermittlung mit). Wie jeder Markt, der etwas auf
sich hält, basiert auch Airbnb auf Freiwilligkeit, daher ist auch die Sofortbuchung
optional. Und doch: Sie abzustellen erweist sich als ein merkwürdig mühsames
Unterfangen.
»How guests can book. Guests who meet all your requirements can book in-
stantly. Others will need to send a reservation request«, informiert mich Airbnb
in seinen Buchungseinstellungen. Ich klicke auf »Edit« und lande auf einem neu-
en Interface: »Choose how guests will book your home« leuchtet mir eine Versi-
cherung meiner Entscheidungsfreiheit entgegen. Die erste Option ist die, welche
Airbnb bereits automatisch für mich eingestellt hatte:
»Guests who meet all your requirements can book instantly«, wiederholt die
Plattform geduldig, »[o]thers will need to send a reservation request«.
14 | Wie dieses Modell von Airbnb gefördert wird, zeigt beispielsweise dieses Video aus
einer Berlin-Kampagne des Konzerns: https://www.facebook.com/AirbnbDeutschland/videos/
michael-berlin-airbnb/273086566743237/ (besucht am 05.01.2018).
Klicklust und Verfügbarkeitszwang 147
»RECOMMENDED« teilt mir das Interface außerdem in Großbuchstaben
mit. Trotzdem – ich wähle die nicht-empfohlene Version: »All guests must send
a reservation request«.
Sofort erscheint das nette Glühbirnchen am Rand und klärt mich über die
Konsequenzen meiner Handlungen auf: »Requiring reservation requests may
mean fewer bookings«, informiert mich die fette Schrift. In kleinerer Schrift
darunter gibt es zusätzliche Hinweise: »In Berlin, hosts who allow guests to book
instantly get up to 25%more views.« Danke für die Info, Glühbirnchen. Ich bleibe
bei meiner Entscheidung und drücke »Save«.
Ein großer Einblender erscheint auf meinem Schirm. »Are you sure you don’t
want to try Instant Book?« Den beruhigenden Tonfall kenne ich bereits. »You set
the rules«, versichert mir Airbnb im eingeblendeten Kästchen. »Connect with
guests«, heißt es weiter. Airbnb scheint zu vermuten, dass mein Wunsch, mir
meine Gäste selbst auszusuchen, auf irrationalen Ängsten basiert, die es geflis-
sentlich zu beschwichtigen versucht: »Guests will always tell you why they’re com-
ing, their check-in time, and how many people to expect.« Es holt zum weiteren
Gegenargument aus, das allen Einwänden zuvorkommt: »We have your back. If
you’re ever uncomfortable with a reservation, before or during a trip, you can can-
cel penalty-free.« Wie freundlich – selbst wenn meine subjektiven Befindlichkei-
ten den reibungslosen Buchungsprozess stören, darf ich kostenfrei stornieren,
solange ich an der allgemeinen Verfügbarkeit meines Wohnraums nicht rüttle.
Trotzdem, ich beharre auf meiner Entscheidung.
»Turn Instant Book off«. Ja, genau! Klick.
Ein neuer Einblender erscheint, der meine Entscheidung nochmals in Frage
stellt und verzögert. »Before you turn off Instant Book, tell us why you want to
review every request«, verlangt das Interface mit dem Bezug auf ein anonymes
»we«. Und schiebt nach: »We may have settings to help Instant Book work for
you.«
»It’s hard to keep my calendar up to date«, wird mir zum Ankreuzen vorge-
schlagen. Natürlich, meine Entscheidung muss etwas mit meinen fehlenden Ka-
pazitäten zu tun haben, einen Kalender zu führen. Oder »I don’t want to miss
out on better reservations«. Dass mich die weitere Option »I want more control
over who can book« zu einer von mir in einem vorherigen Schritt erstellten Liste
von Buchungsregeln führen wird und nicht zum Abstellen des Sofortbuchens, ist
mir klar. Ich bleibt hart, klicke nicht das vertrauenserweckende, verheißungsvolle
»Keep instant Book on«, das mir auch hier noch einmal zur Verfügung gestellt
wird. Provokativ wähle ich außerdem die Option »My reason isn’t listed«.
Der nächste Einblender überrascht mich schon nicht mehr.
»We’d love to know more«, bedeutet mir der Schirm, und das »we« verlangt
mit schlecht versteckter passiver Aggression: »Tell us why you’d rather review ev-
ery request.« Ich verneine die vernünftige Voreinstellung, die das optimale Funk-
tionieren der Plattform gestattet. Selbstverständlich muss ich Rede und Antwort
stehen. Ein wenig ermüdet lasse ich das Antworten und drücke stattdessen auf
148 Jorinde Schulz
»Continue«. Keine Chance. »30 characters required«, erscheint in Alarm-rot. »Be-
cause I want to decide who stays in my place«, tippe ich entnervt. »Continue« darf
ich jetzt drücken.
Sicher ist sicher, denkt sich die strenge Kindergärtnerin auf der anderen Seite:
»Are you sure you want to review every request?« Die Drohung ist unübersehbar,
als die Seite auf ihr Strafregime verweist:
»Check the boxes to confirm you understand:
1) Your listing won’t be highlighted in search, so you may get fewer reserva-
tions.« Aha, Sanktionen werden verhängt für die Non-Compliance. »2) You’ll only
have 24 hours to respond to requests without penalty«, ist eine weitere Sanktion.
Komisch, als ich den »Terms and Conditions« zugestimmt habe, wurde mir das
nicht gesagt. Und »3) You’ll lose Instant Book controls like penalty-free cancella-
tions or requiring positive reviews«.
»Keep Instant Book on« kann ich auch hier noch klicken. Entgegen aller Platt-
formvernunft drücke ich »Confirm«, und habe Gouvernante Airbnb nun endlich
doch erschöpft. »Instant Book is now off«, schreibt sie resigniert. Nicht ohne am
Rand einen kleinen Reminder stehenzulassen: »Increase your earnings with In-
stant Book. Instant Book can give your listing an edge. Not only do guests prefer
to book instantly, we’re promoting Instant Book listings in search results.« Soll-
te ich mich anders entscheiden, ist der »Turn on Instant Book«-Button nicht zu
übersehen.
Datendienste mit Intimitätseffekten
Die Zwänge zur Verfügbarkeit, die ich im Vorherigen eingekreist und scharfge-
stellt habe, kommen nicht durch harte Repression zustande, auch wenn hin und
wieder Sanktionsregime im Spiel sind. Viel eher geht es um innere Zwänge, um
Zwänge im Sinne von Zwangshandlungen und Zwangsgedanken – Verhaltens-
mechanismen, die nicht freiwillig sind, die aber auch keinem äußeren Befehl fol-
gen, sondern vielmehr subtilen Schubsern und Aufforderungen, die das Selbst
auf ständige Bereitschaft und Ansprechbarkeit abrichten.
Ihren Ort und ihr intensives Zentrum finden sie in digital vermittelten kom-
munikativen Zusammenhängen. Durch die verschiedenen Beispiele zieht sich
ein gemeinsamer Faden: Es sind Kommunikationsformen im Spiel, die Distanz
eliminieren undVertrautheit simulieren. Diese Eigenschaftenwerden in verschie-
denen Graden der technologischen Verfeinerung eingesetzt, um Individuen zu
binden, sie produktiv und profitabel zumachen – als allzeit bereiteMitarbeiter_in-
nen, als Datenlieferant_innen, als bereitwillige Dienstleister_innen. Dies ist nicht
ihre einzigemögliche und faktische Nutzung, aber eine im digitalen Kapitalismus
virulente.
Die E-Mail ist gewissermaßen das einfachsteWerkzeug aus diesemSpektrum.
Geografischer Abstandwirdmit ihrerHilfe ausgeräumt, undmit dem räumlichen
schwindet auch der zeitliche Abstand: Durch ihre Unmittelbarkeit verhindert sie
Klicklust und Verfügbarkeitszwang 149
tendenziell die Möglichkeit der Abwesenheit oder Unerreichbarkeit und kann da-
durch, wie Melissa Greggs Untersuchungen von Arbeitsplätzen der Informati-
onsbranche zeigen, bei mangelnder Responsivität Schuldgefühle triggern. Die
physische ›Annäherung‹ der E-Mail spiegelt sich in der Ansprache wieder: Die
Briefform ist weitaus formeller, unnahbarer, während sich die E-Mail mit ihrer
Geschwindigkeit dem Gesprochenen angleicht.
Die Nachrichtendienste intensivieren dieses Gefühl, antworten zu müssen,
durch ein nuanciertes Repertoire an Stimuli, die körperliche Präsenz suggerie-
ren beziehungsweise ersetzen. Häkchen, deren Erscheinen von Tönen begleitet
wird, pulsierende Symbole und eine umfassende Auswahl an Emojis übermitteln
nicht nur Informationen über Reaktion und Aufnahmeverhalten der Gesprächs-
partner_in, sondern reichern die Unterhaltung auf Abstandmit einer unmittelbar
sinnlichen Dimension an, die nahegeht. Typischerweise sind im Messenger Ton-
fall und Schreibweise ebenfalls informell, quasi mündlich, und auf Anrede und
Schlussformel, die Distanz markieren, wird üblicherweise verzichtet.
Hier findet eine zentrale Verwechslung statt, die der zwanghaften Verfügbar-
keit von Arbeiter_innen zuträglich ist: Je informeller und distanzloser, destomehr
ähnelt die berufliche Kommunikation der vertrauten und vertraulichen. Im Be-
reich der intimen oder gefühlsmäßig tiefen Verhältnisse aber herrschen andere
Regeln der Reziprozität: eine erhöhte (Opfer-)Bereitschaft, eine größere Geduld
und emotionale Offenheit, tendenziell intensiver gefühlte Abhängigkeitsstruktu-
ren. Dazu kommt eine Freigiebigkeit der Energie und des Commitments – die
auch Facebookwohl erkannt hat, wenn es das Jahr 2018 zum Jahr der »meaningful
interactions« ernennt und anonyme, unpersönliche Nachrichtenseiten aus dem
Feed zu schmeißen droht, um stattdessen die persönlichen Interaktionen algo-
rithmisch zu fördern. (Es scheint außerdem die Qualität der gewonnenen Daten
zu verbessern.)
Die Intimitätseffekte, diemit derUnmittelbarkeit digitaler Kommunikation ein-
hergehen, werden also verfeinert und gehackt: Kommunikationsweisen und die
›traditionell‹ mit ihnen verknüpften emotionalen Reaktionen, die ihren primären
Ort in intimen, engen, gefühlsmäßig intensiven Relationen haben, werden in be-
rufliche, unpersönliche oder menschmaschinellen Beziehungen überführt und
durch Registrierungsmechanismen wie zum Beispiel bei Whatsapp gesteigert.
Die Wirksamkeit des (scheinbar) Vertrauten ist dabei bewusst ins Design di-
verser digitaler Plattformen und Apps, die im Arbeitsbereich eingesetzt werden
(wie etwa Slack oder Trello), eingebaut. Das zeigt sich am Beispiel von LinkedIn,
dessen Kommunikation mit seinen Nutzer_innen zwar automatisiert ist, aber
doch ›persönlich‹ anspricht und vor allen Dingen suggeriert, man schulde nicht
der Plattform, sondern anderen Mitgliedern des Netzwerks Antworten oder Gra-
tulationen. Auf die voyeuristische Lust und den Vergleichswettbewerb des Sozia-
len baut LinkedIn wiederum seine Premiummitgliedschaft. Subjektiv verankerte
Mechanismen der sozialen Reziprozität fördern sowohl die ständige Erweiterung
des Netzwerks als auch die Ausweitung der auf LinkedIn verbrachten Zeit.
150 Jorinde Schulz
Auch Airbnb redet mit seinen sogenannten Gastgebern in einem informellen
Ton, der außerdem pädagogisch aufgeladen ist. Was sich schon bei LinkedIn an-
deutungsweise zeigt, kommt hier noch klarer zum Vorschein: Ein über niedlich
designte Oberflächen transportierter Plattformpaternalismus, der eine Überein-
stimmung der Handlungen der User mit den Konzerninteressen herbeinudgen
möchte. Eigentlich geht es um die Herbeiführung von Gefügigkeit, dies wird al-
lerdings in einem kumpelhaften Ton verschleiert, so lange man nicht durch auto-
nome Entscheidungen zum Störfaktor wird. Blitzschnell wechselt dann auch der
Tonfall von freundschaftlicher Ermutigung zur Drohung, wenn einer Rationalität
der maximalen Reibungslosigkeit nicht Folge geleistet wird. Hier zeigt sich, wie
Intimitätseffekte in einem weiten Spektrum der Ansprachen angezapft werden
können – von der horizontalen, unhierarchischen Freundschaft bis zur asymme-
trischen Eltern-Kind- oder Lehrer_in-Schüler_in-Beziehung … »Great progress,
Jorinde!«
Der Verfügbarkeitszwang basiert also auf einer Reihe von Technologien, die
sich sozialen Mechanismen der Gegenseitigkeit parasitär aufpfropfen, sie hacken
und intensivieren, um sie nutzbar zumachen. Insbesondere ins Smartphone inte-
grierte Technologien spielen dabei eine zentrale Rolle als Infrastrukturen, die eine
ständige Verfügbarkeit mit produzieren, um die durch sie erzeugte Aktivität – das
kann Arbeit, aber auch einfach nur Onlinepräsenz sein – abzugreifen. Die Ant-
worten, die wir anderen aufgrund sozialer Regeln ›schulden‹ – aus Höflichkeit,
aus Liebe, oder weil esmöglich ist, werden in Systeme eingespeist, die von den da-
durch produzierten Daten oder Kompensationshandlungen profitieren möchten.
Dadurch entsteht eine meist verborgene Vielschichtigkeit. Unter der Oberfläche
oder eben parallel zur vertraut-freundschaftlichen Kommunikation befinden sich
globale technologische Infrastrukturen, die das Rückgrat diverser Geschäftsmo-
delle bilden. Manchmal wird die Struktur – freundliche Oberfläche, algorithmi-
scherUntergrund – brüchig und die Zwangsstruktur kommt zumVorschein.Hier
verrät sich der Paternalismus: Er ist wohlwollend, bis man nicht mehr gehorcht.
Seine Subjektivierungstendenz: möglichst dozile, widerstandslose Subjekte, die
mit Contenance den Rahmen des Kumpelhaften nicht sprengen und an der Fas-
sade ein Bild der Zwanglosigkeit mimen.
Der Hack der Intimität verschränkt sich mit einem Element, dass ich die
digitale Vernichtung des Raums nennen möchte – ein physischer wie psychischer
Distanzabbau durch digitale Endgeräte und Oberflächen. Die Eliminierung der
räumlichen, zeitlichen, persönlichen Abstände führt tendenziell auch die Ver-
nichtung persönlicher Rückzugsorte mit sich, der Orte also, an denen man sich
einem Zugriff entziehen und ihn reflektieren kann. Es ist wie in einer Zelle
zu sitzen, die ständig von hundert unsichtbaren Lautsprechern beschallt wird,
die man nicht abstellen kann. Die Geräte – und mit ihnen die Arbeitswelt, die
durch sie mit uns spricht – rücken uns buchstäblich auf den Leib. Eine ständi-
ge und umfassende Nähe, die den Raum zwischen Individuen und damit die
Abgrenzungsmöglichkeiten schwinden lässt. Merkwürdigerweise erinnern die
Klicklust und Verfügbarkeitszwang 151
Machtkonflikte, die hier im Spiel sind, mehr an familiäre Kämpfe um Loslösung
und Entzug aus der Omnipräsenz der elterlichen Fürsorge als an traditionel-
le Arbeitskämpfe. Genau in diesem Sinne wandelt sich Airbnb von freundli-
cher, ermunternder Oberfläche zum bedrohlichen Ist-dir-die-Konsequenz-deiner-
Handlungen-bewusst?«-Drachen, der die Abweichung vom abgefederten und
eingehegten Pfad der Plattform-Compliance zu verhindern sucht. Die Distanzlo-
sigkeit, die auf den ersten Blick unhierarchisch oder antiautoritär wirkt, ist also
vor allen Dingen eine Machttechnik, die davon profitiert, dass Nähe Widerspruch
erschwert – die Nähe des Geräts, das ich ständig mit mir herumtrage, und die
Nähe der sich potenzierenden vertraulichen Ansprachen. Genau deswegen trägt
das Vorhaben einer ethischen Reform der Technologien eine noch intensivere
Vereinnahmung in sich, da es an der Prämisse einer aufdringlich nahen, Selb-
ständigkeit unterminierenden ständigen Unterstützung nicht rüttelt. Das gilt
vor allen Dingen, so lange die Gestaltung der Algorithmen und die Lagerung
der Daten von wenigen Konzernen monopolisiert wird, die eine diesbezügliche
Transparenz systematisch verhindern.
Zusammenfassend lassen sich vier zentrale Elemene digitaler Verfügbarkeits-
regime definieren: erstens Schuldgefühle und kommunikative Überforderung
durch emotionale Bindung, zweitens Gefügigkeit durch soziale Kontrolle und
Überwachung, drittens Pseudofreiwilligkeit und Hilflosigkeit durch paternalisti-
sche Ansprache und allgegenwärtiges Nudging und viertens Compliance durch
milde Sanktionen.
Zu Beginn habe ich die Hörigkeit als eine verhaltensregulierende Einstellung
definiert, die den Boden für Befehle bereitet und sich in einer ständigen, hochsen-
siblen Bereitschaft manifestiert. Im Licht der Beispiele erscheint sie nun als eine
Frage der Intimität und der unentrinnbaren Nähe. Hörigkeit ist nämlich durch-
aus kein Gehorsam, der sich als Regelbefolgung ausdrückt, sondern eine ständige
Bereitschaft, den Wünschen von anderen stattzugeben. Sie akzeptiert, die eigene
Zeit ständig unterbrechbar und den eigenen Raum ständig betretbar zu machen,
sie akzeptiert das rasante Schwinden eines Rückzugsorts. Es ist so leicht, so un-
mittelbar, so convenient, so glatt, so widerstandslos, die Nachricht zu tippen und
so unmöglich, sich dieser schmeichelnden und doch stressigen (›aufregenden‹)
Kontaktaufnahme zu entziehen. Ein psychisches Abhängigkeitsverhältnis scheint
hier auf dem Spiel zu stehen, das vielleicht mit einer ängstlichen emotionalen Be-
dürftigkeit in Verbindung steht, die durchaus durchMaschinen zu befriedigen ist
…
*
»Um 3 Uhr 17 klicke ich die App eines Parentbots. Ich verwende entsprechend meinen ver-
traglichen Vorschriften zusätzlich zu den üblichen Sicherheitsmaßnahmen einen Scrambler.
Während des Gesprächs habe ich trotzdem das ungute Gefühl, von einer Stimmanalysesoft-
ware identifiziert zu werden.
– Hallo, mein Schatz, sagt der Bot.
152 Jorinde Schulz
Ich habe die Mutteroption gewählt. Die Stimme simuliert eine etwa fünfzigjährige Frau mit
einem warmen, dunklen Stimmton und einem ruhigen, beinahe behäbigen Duktus.
– Hallo.
– Was ist los, Kleines?
Es wundert mich immer noch, wie schnell man während des Gesprächs vergisst, dass man
mit einer Maschine spricht. Stimme und Reaktionsfähigkeit sind praktisch vom Menschen
nicht unterscheidbar. Für meine Abschlussarbeit habe ich das Phänomen unter technisch
schlechteren Bedingungen untersucht. Bereits damals haben die Probanden nach wenigen
Sekunden Symptome eines basalen Vertrauens gezeigt, wie man es gegenüber Freunden
empfindet. Selbst wenn sie sich mithilfe der Erinnerungsfunktion ihres Tablets einmal pro
Minute bewusst auf die Tatsache konzentrieren, dass sie mit einem Bot sprachen, vergaßen
sie es im Laufe der nächsten Minute wieder.
– Ich kann nicht schlafen, sage ich.
– Das tut mir Leid. Hast du eine Tablette genommen?
– Ja.
– Denkst du an etwas Bestimmtes, was dich wach hält?
– Meine Arbeit.
Die Stimme am anderen Ende lacht.
– Du arbeitest also schon wieder zu hart, mein Schatz.
– Ich komme nicht weiter.
– Gerade musst du ja auch gar nicht weiterkommen.
– Das stimmt.
– Ich bin stolz auf dich, ob du weiterkommst oder nicht, sagt die Stimme.
Ich lasse ihre Worte in mir nachhallen. Ich fühle mich schon ein bisschen besser. Vielleicht
kann ich doch noch einschlafen, wenn ich noch eine Weile mit ihr rede.
– Aber du kannst nicht aufhören, daran zu denken?, fragt sie in mein Schweigen hinein.
– Ich kann nicht aufhören, daran zu denken.
– Würde es dir helfen, wenn wir darüber sprechen?
15
– Ich denke schon.«
»– Mama, sage ich, ich habe einen Fehler gemacht. Einen großen.
Ohne zu wissen, warum, beginne ich zu weinen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum
letzten Mal auf diese Weise geweint habe. Schluchzend und laut. Unangemessen.
– Everything’s gonna be okay™, sagt die Stimme. Mach dir keine Sorgen, meine Kleine. Alles
wird gut.
Ich nicke und schluchze.
– Wein dich nur aus, sagt sie. Ab und zu muss man eben ein bisschen weinen. Dafür sind
Mütter da. […]
– Everything is gonna be okay™, sagt die Mutter.Wir kriegen das schon wieder hin. Versuche
langsam zu atmen. Ein. Aus. Ein. Aus.
15 | Auszug aus Julia von Lucadous dystopischem Roman »Die Hochhausspringerin« (von Lu-
cadou 2018: 81).
Klicklust und Verfügbarkeitszwang 153
Die Atemübung beruhigt mich sofort.
16
– Okay, Mama, sage ich. Du hast Recht. Alles wird gut.«
Literatur
Bosker, Bianca (01.11.2016). »The Binger Breaker«. In: The Atlantic. url: https :
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Gregg, Melissa (2014). »Presence bleed: performing professionalism online«. In:
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London und New York: Routledge. url: http://www.academia.edu/1513344/
Presence_Bleed_Performing_Professionalism_Online.
Harris, Tristan (2016). How Technology Hijacks People’s Minds – from a Magician
and Google’s Design Ethicist. url: http://www.tristanharris.com/2016/05/how-
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magician-and-googles-design-ethicist/ (besucht am 21.09.2018).
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https://www.forbes.com/sites/leoking/2014/03/06/facebook-whatsapp-and-
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Lee, Felix (2017). »Milch, Mails und bloß keine Kritik«. In: taz online. url: http:
/ /www. taz . de /Chinesischer -Messenger -WeChat / !5365679/ (besucht am
21.09.2018).
Leetaru, Kalev (2018). The Algorithms Take Over: Will Facebook’s Private Message
Scanning Lead To Autonomous Censorship? url: https : / /www . forbes . com/
sites/kalevleetaru/2018/04/04/the -algorithms- take -over -will - facebooks -
private -message -scanning- lead- to -autonomous-censorship/#39156ee14156
(besucht am 21.09.2018).
Page, Vanessa (2018).HowWhatsAppMakesMoney. url: http://www.investopedia.
com/articles/personal - finance/040915/how-whatsapp-makes-money .asp
(besucht am 21.09.2018).
Von Lucadou, Julia (2018). Die Hochhausspringerin. Berlin: Hanser.
16 | Ebd.: 254–257.
Die umkämpfte Grenze zwischen Liebe
und Stalking
Von hermeneutischer Ungerechtigkeit zu einer Theorie
des Narrativzwangs und der affektiven Dissonanz anhand
der Erfahrungen gestalkter Frauen
Katharina Dornenzweig
1 Einleitung
Eine digital vernetzte Gesellschaft bietet einst ungeahnte Möglichkeiten für ano-
nyme Überwachung, ständige Kontaktaufnahme und das Ausbilden und Auf-
rechterhalten obsessiver ›Liebe‹. Solches Verhalten wird vermehrt unter dem
neuen Label ›Stalking‹ problematisiert, und in einem internationalen Paradig-
menwechsel in der Rechtsetzung wird die Etablierung eines eigenen Straftatbe-
standes für Stalking angestrebt, deren Umsetzung allerdings bisher systematisch
gescheitert ist. Gleichzeitig wurden jedoch Bücher wie Stephanie Meyers Twilight
oder Erika James’ Fifty Shades of Grey, die Stalkinghandlungen verharmlosen, als
›wahre Liebe‹ darstellen oder erotisieren, massenhaft rezipiert. In diesen gegen-
läufigen aktuellen Entwicklungen manifestiert sich ein intensives gesellschaftli-
ches Verhandeln der Grenzziehung zwischen romantischer Werbung einerseits
und Gewalt, Sexismus, Pathologie und Straftat andererseits. Eine klare Verurtei-
lung und angemessene, abgrenzende Konzeptualisierung von Stalking hat sich
dabei noch nicht durchgesetzt.
Der vorliegende Text zeichnet zunächst diese Entwicklungen in Rechtsetzung
und popkulturellen Darstellungen und die damit einhergehenden Rahmungen
von Stalkinghandlungen nach (Abschnitte 2 und 3). Dies ist dann die Grundlage
für das eigentliche Projekt dieses Textes: zu untersuchen, wie sich solche Rah-
Mühlhoff, R.; Breljak, A.; Slaby, J. (Hg.): Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie
der Digitalen Gesellschaft. transcript 2019, S. 155–182. DOI: 10.14361/9783839444399-
007.
156 Katharina Dornenzweig
mungen real auf betroffene Frauen auswirken, die von zurückgewiesenen Män-
ner gestalkt werden.1 Für diese Analyse entwickelt Abschnitt 4 zunächst einen
theoretischen Rahmen, der danach in Abschnitt 5 anhand tatsächlicher Erfahrun-
gen angewandt wird.Thereotischer Ausgangspunkt ist hierbei die Arbeit der fe-
ministischen Philosophin Miranda Fricker zu Frauen, die am Arbeitsplatz sexuell
belästigt wurden, bevor es den Begriff oder das Konzept ›sexuelle Belästigung‹
gab (vgl. Fricker 2009). Ihre Frage lautet: Was passiert, wenn einer Person ein
Unrecht widerfährt, für das in der sie umgebenden Gesellschaft noch kein ange-
messenes Verständnis vorherrscht? Fricker nennt diese Situation hermeneutische
Ungerechtigkeit (ebd.: Kap. 7) und identifiziert sie als Unterform »epistemischer
Ungerechtigkeit«, eines Problem, in dem Epistemologie und Ethik sich als in-
tensiv verschränkt erweisen. Sie beobachtet, dass Betroffene dadurch, dass man
ihnen einredet, das ihnenWiderfahrene sei unproblematisch, nicht aufhören dar-
unter zu leiden. Dennochwirkt sich so einUmgangmit ihnen deutlich darauf aus,
wie sie über das Leiden kommunizieren, und noch mehr darauf, wie die Betrof-
fenen ihr Leiden selbst verstehen.
Fricker ist damit offenbar auf ein Problem gestoßen, das viele von Gewalt be-
troffene Menschen haben, und hat damit eine lebhafte Debatte über die Verknüp-
fung von gesellschaftlichen Wissenspraktiken und sozialer Ungerechtigkeit be-
feuert (vgl. exemplarisch die Sonderausgabe 26.2 von Social Epistemology, die sich
der Diskussion epistemischer Ungerechtigkeit widmet: Collier 2012). In dieser
wurde unter anderem gefordert, eine komplexere, relationalere Sicht auf episte-
mische Ungerechtigkeit zu entwickeln. Diese Sicht sollte berücksichtigen, dass
das Verständnis von Gewalt in einer Gesellschaft nie einheitlich ist und dass sich
von dieser Gewalt Betroffene von Anfang an aktiv und widerständig in dessen
Verhandlung einbringen (vgl. Medina 2012: 201; Mason 2011: 300). Dabei ist dies
1 | Die (erneute) Aufnahme einer romantischen Beziehung ist das häufigste initiale Stalking-
motiv, auch wenn langfristig oftmals das Kontrollieren und Verletzen der Gestalkten in den Vor-
dergrund rücken (vgl. Hoffmann 2006: 7). Dabei sind Gestalkte vier mal so häufig Frauen wie
Männer, und Männer stellen auch 80 % der Stalker (vgl. ebd.: 8).Diese Geschlechtervertei-
lung ist kein Zufall, sondern Symptom einer tieferliegenden sexistischen Struktur, die aufgrund
ihrer Wirkmächtigkeit in der Analyse affektiver Narrative in diesem Text einen zentralen Platz
einnehmen wird. Durch diese Tatsache sowie durch die höhere Verfügbarkeit von einschlägigen
Berichten und Studien ergab sich ein Fokus dieses Textes auf Konstellationen mit männlichen
Stalkern und weiblichen Gestalkten.Die resultierenden Aussagen können nicht auf Stalkingfälle
im Allgemeinen übertragen werden. Stalking in der umgekehrten Genderkonstellation oder in sol-
chen Konstellationen, die sich gar nicht in einen heteronormativen, geschlechtsbinären Rahmen
einfügen, tritt ebenfalls auf und folgt teils sehr anderen Regeln. Diese verdienen eine eigene,
ausführliche Analyse, insbesondere da sie enormes Leiden verursachen, allerdings noch spärlich
erforscht sind, und da es für Gestalkte unter solchen Umständen auch oft erheblich schwerer ist,
sich zu schützen und gehört zu werden.
Die umkämpfte Grenze zwischen Liebe und Stalking 157
nicht das einzige Problem von Frickers revolutionärer Arbeit; ein grundlegende-
res Problem ist ihr alleiniger Fokus auf Wissen, Kommunikation und Sprache, in
dem andere Aspekte unzureichend berücksichtigt werden.
Hier setzt der vorliegende Beitrag an und bringt einen affektphilosphischen
Alternativansatz am Beispiel von Stalking in die Debatte ein. Dieser analysiert die
aktuelle Situation von gestalkten Frauen als eine grundlegende Störung in der
wechselseitigen Affizierung zwischen ihnen und ihren Mitmenschen im Mikro-
sozialen, die langfristige undweitreichende Folgen hat. Es wird gezeigt, dass nicht
primär Begriffe für Stalkingerfahrungen oder Wissen darüber fehlen, sondern in
Interaktionen verkörperte, bottom-up entwickelte affektive Narrative, die diese Er-
fahrungen angemessen rahmen, Betroffenen Umgangsweisen und Handlungs-
möglichkeiten erschließen und ihre Wirkungsmacht in Netzwerken steigern.
Die Auswirkung bestehender affektiver Narrative auf die Betroffenen von Ge-
walt, die sich nicht in dieseNarrative einfügt, wird anhand des KonzeptesNarrativ-
zwang analysiert. So wird deutlich, wie das Leiden an diesen Gewalterfahrungen
dadurch, dass es gesellschaftlich bestritten oder verzerrt wahrgenommen wird,
nicht verschwindet, sich aber unter denUmständen solcher Rahmungen grundle-
gend andersmanifestiert. Dies umfasst nicht nur Hürden in Bezug darauf, in den
Beschreibungen der eigenen Erfahrungen gehört und verstanden zu werden, als
glaubwürdig wahrgenommen zu werden und Hilfe zu bekommen. Es ist bereits
systematisch erschwert, eine solche Beschreibung, die der eigenen Erfahrung ge-
recht wird, überhaupt zu entwickeln. Vor allem kann die ständige Konfrontation
Betroffener mit Narrativzwang dabei langfristig Konsequenzen haben, die weit
über ein bloßes Kommunikationsproblem hinaus gehen: soziale Isolation, trau-
matische Auswirkungen auf das Selbstbild, das Selbstverhältnis, die Wahrneh-
mung und das Vertrauen in das eigene Wissen, die sich in performativen und
somatischen Störungenmanifestieren und Handlungsmacht verringern können.
An dieser Stelle zeigen sich aktuell gestalkte Frauen als ein besonders eindrück-
liches Beispiel für ein chronisch gestörtes Verhältnis zwischen einer Person und
der ihr in anderen Menschen begegnenden Welt, das ich schließlich unter dem
Begriff der affektiven Dissonanz erläutern werde.
2 Stalking im Schutze der Staatsjustiz
Stalking an sich wurde in Deutschland erst 2007 als Straftatbestand etabliert. Die-
se Gesetzesänderung war eine Antwort auf ein jahrzehntelanges systematisches
Scheitern des Rechtsstaates, gestalkte Menschen zu schützen, wie es exempla-
risch in diesem Fall deutlich wird:
»James S. […] überschüttete [Monika H.] mit Nachrichten und stand stundenlang vor ihrer
Wohnung und ihrer Arbeitsstelle. Für die zweifache Mutter wurde es zum Nervenkrieg, sie
ging am 7. Oktober 2003 und auch in den darauf folgenden Tagen einige Male zur Polizei und
158 Katharina Dornenzweig
erstattete Anzeige. […] Insgesamt ging Monika H. bis zu ihrem Todestag am 2. März 2004
noch 26 Mal zur Polizei […] bei der Durchsuchung [der Wohnung von James S.] fanden sich
keine Hasstiraden oder ähnliches gegen Monika H., sondern allein Liebesschwüre. Infolge
des Einwirkens der Beamten ließ sich James S. sogar stationär psychiatrisch untersuchen,
die Ärzte sahen allerdings keinen Handlungsbedarf. Auch am Tage ihrer Ermordung ging
Monika H. auf das Polizeirevier. Um 19 Uhr klingelte es dann an ihrer Wohnungstür. Ihr
siebenjähriger Sohn öffnete, James S. schob ihn zur Seite, ging hinein und schoss insgesamt
11 Mal auf Monika H., die unmittelbar starb. Mit der 12. Kugel erschoss sich James S.
selbst.« (Hoffmann 2006: 173)
Neben der Schädigung durch das Stalking selbst ist das Risiko, wie Monika H.
schließlich ermordet zu werden, bei gestalkten Menschen 25 Mal höher als im
Gesellschaftsdurchschnitt (vgl. ebd.: 173). Das demMord vorhergehende Stalking
wurde dabei in vier von fünf Fällen angezeigt, aber staatlichen Stellen gelang es
nicht, wirksam einzugreifen, bevor der sich langsam anbahnende Mord tatsäch-
lich verübt wurde (vgl. ebd.: 172).
Das Problem bei solchen Fällen war vor der Einführung des Stalking-Straf-
tatbestandes, dass die einzelnen Stalkinghandlungen (wie das alltägliche Warten
vor derHaustür, das Verfolgen durch die Stadt, Kontaktaufnahmen Tag undNacht
über alle verfügbarenKanälemit oftmals verstörenden Inhalten) nicht unter einen
gemeinsamen Straftatbestand gebündelt werden konnten, und jeweils für sich
genommen nicht strafbar waren. Kumulativ trieben sie Gestalkte jedoch in die
Verzweiflung (vgl. ebd.: 12 f.).
So kam es um die 1990er Jahre zu einer Welle an Gesetzesänderungen, durch
die Stalking gerade im englischsprachigen Raum (USA, Kanada, Australien, UK)
als eigener Straftatbestand etabliert wurde. Mittlerweile sind auch zum Beispiel
Indien, Japan und Österreich nachgezogen. Deutschland schloss sich, wie er-
wähnt, erst 2007 mit dem eigens dafür geschaffenen § 238 StGB an.
Die Reaktion auf die Einführung dieses neuen Paragraphen war groß: Es kam
2007 noch bis zum Jahresende zu 11.401 Anzeigen, in den folgenden Jahren zu
20-25.000 pro Jahr. Allerdings stellte sich schnell heraus, dass dieser Stalking-
paragraph in der Praxis wirkungslos war. Es kam in 99%2 der Anzeigen zu kei-
2 | Diese Zahl wird oft genannt (unter anderem auf der Stalkingkonferenz 2017), ohne dass
Berechnungen dafür angegeben werden; ich habe selbst nachgerechnet. Dafür betrachten wir
das Verhältnis zwischen Stalkinganzeigen und Stalkingverurteilungen in den jeweiligen jährlichen
Berichten zu einem Zeitpunkt, an dem sich beide eingependelt haben. Erstere finden sich in der
Polizeilichen Kriminalstatistik, Grundtabelle 01 (vgl. exemplarisch Bundeskriminalamt 2015):
Hier wurden 18.245 identifizierte Personen erfasst, die des Stalkings beschuldigt wurden (89,6 %
der Beschuldigten wurden identifiziert); diese Beschuldigungen gingen auf 23.303 Anzeigende
zurück und wurden zu 21.857 Fällen zusammengefasst; letztere Zahl ist unsere Basis. Die Verur-
teilungen für Stalking im gleichen Zeitraum ergeben sich dann aus der Strafverfolgungsstatistik
(Statistisches Bundesamt 2016), es sind nur 205 (vgl. ebd.: 35); also tatsächlich nur 0,9 % –
Die umkämpfte Grenze zwischen Liebe und Stalking 159
ner Verurteilung wegen Stalking. Woran lag dies? Für den Straftatbestand hatte
der Gesetzgeber zunächst Stalkinghandlungen beschrieben und dabei auch der
Tatsache Rechnung getragen, dass diese sich mit der Einführung neuer Tech-
nologien rasant ändern (vgl. Deutscher Bundestag 2006: 14). Folglich wurde in
§ 238 zunächst ein allgemeines Verbot von unbefugtem Nachstellen durch räum-
liches Aufsuchen oder »unter Verwendungen von Telekommunikationsmitteln
und sonstigenMitteln der Kommunikation« aufgestellt. Dieses wurde dann durch
bereits bekannte spezifische Stalkinghandlungen in einer digitalen Gesellschaft
(etwa »unter missbräuchlicher Verwendung von personenbezogenen Daten […]
Bestellungen vonWaren oder Dienstleistungen« für die gestalkte Person aufzuge-
ben) sowie durch den Auffangtatbestand der »anderen vergleichbarenHandlung«
ergänzt (§ 238 StGB, Fassung vom 24.02.2012, BGBI. I S. 212).
Dazu kam jedoch eine entscheidende Einschränkung in der initialen Geset-
zesfassung von 2007. All diese Handlungen seien, ungeachtet dessen, wie sehr
die betroffene Person deutlich macht, dass diese gegen ihren Willen geschehen,
oder wie intensiv und häufig sie auftreten, noch nicht per se kriminell. Stattdes-
sen wurde Stalking zur ›Erfolgsstraftat‹ erklärt: Für die Strafbarkeit musste das
Ziel, die Lebensgestaltung der gestalkten Person »schwerwiegend zu beeinträch-
tigen«, nachweislich erreicht sein. Dies wurde in der Praxis zumeist daran fest-
gemacht, dass die gestalkte Person ihr Zuhause aufgegeben hatte, um vor dem
Stalker zu fliehen. Diese Rechtspraxis ließ sich deuten als ein Versuch, die ob-
jektive Grenze zwischen Stalking und akzeptabler Liebeswerbung nicht auf Basis
der Frage zu ziehen, ob sie gegen den bekannten Willen der gestalkten Person
geschahen, oder auf Basis dessen, wie stark die Stalkinghandlungen ausgeprägt
waren. (Vielleicht, weil solche Grenzverletzungen in unserer Gesellschaft noch
so häufig und alltäglich geschehen, dass es undenkbar schien, sie prinzipiell zu
verbieten.) Stattdessen war das relevante Kriterium, ob die gestalkte Person eine be-
stimmte Opferrolle erfüllte. Bis sie dies tat und dafür Teile ihres Lebens (wie ihr
aktuelles Zuhause) aufgab, galt ihr Wille, nicht gestalkt zu werden, dagegen als
irrelevant oder nicht glaubhaft; solange sie die Handlungen aus Sicht von Au-
ßenstehenden noch irgendwie aushielt, waren sie per strafrechtlicher Definition
kein Stalking. Es reichte nicht aus, die Stalkinghandlungen nachzuweisen und
auf den Täter zurückzuführen; es mussten bereits schwerwiegende Einschrän-
kungen in der Lebensgestaltung der gestalkten Person eingetreten sein, und dann
mussten diese nachgewiesen und direkt kausal auf den Stalker zurückgeführt
werden. Dass eine betroffene Person infolge des Stalkings so extreme Schäden
es sind sogar unter 1 %. Dabei wurde bei 263 (einer Zahl, die die Verurteilungen übersteigt) der
Fälle von der Polizei von einer schweren Gefahr für Gesundheit und Leben ausgegangen, und
11 der Gestalkten überlebten nicht (vgl. Bundeskriminalamt 2015, Grundtabelle 01). Das Ziel,
durch § 238 Stalker_innen über die Verurteilung für bestehende Straftatbestände (wie Mord)
hinaus zu fassen, wurde verfehlt.
160 Katharina Dornenzweig
erlitt und Einschränkungen vornahm, dass diese den Ansprüchen des Gesetzge-
bers an ›wirkliche Stalkingopfer‹ entsprachen, und dann noch immer in der Lage
war, einen strafrechtlichen Prozess bis zum erfolgreichen Ende durchzustehen,
war – siehe weniger als 1 % – der absolute Sonderfall. Weigerten sich dagegen
die Betroffenen, ihr Zuhause wegen des Stalkers aufzugeben, oder waren sie zu
so einem Schritt schlichtweg nicht in der Lage, zeigte sich das Leiden auf unge-
wöhnliche Weise oder sahen sie sich zunehmend damit überfordert, die immer
umfassenderen Schäden zu dokumentieren, ließ der Rechtsstaat die Betroffenen
schutzlos.
Die immer lautere Kritik daran führte dazu, dass 2017 der § 238 schließlich
dahingehend verschärft wurde, dass nun Stalkinghandlungen schon dann straf-
bar sind, wenn sie »geeignet« sind, die vomGesetzgeber vorgestellten schwerwie-
genden Folgen in der Lebensgestaltung hervorzurufen. Wie dies im Gerichtssaal
beurteilt wird, bleibt abzuwarten. So oder so gilt: Nach wie vor reicht es für die
Strafbarkeit nicht aus, den ausdrücklichenWillen einer Person, nicht verfolgt und
kontaktiert zu werden, bewusst und wiederholt zu übergehen. Für Personen, die
bis zum 10. März 2017 in Deutschland gestalkt wurden, bleibt die Gesetzesver-
schärfung außerdem folgenlos (denn verschärftes Strafrecht darf nicht rückwir-
kend angewandt werden). Und in Nachbarländern wie der Schweiz steht Stalking
bis heute gar nicht unter Strafe. Stalking findet somit täglich statt, aber ein gesell-
schaftliches Verständnis dafür, wie gewaltvoll es ist, ist erst im Entstehen.
3 Stalking als Liebesideal in popkulturellen
Darstellungen
Auchwenn die rechtlicheHandhabung bisher weitgehend gescheitert ist, stellt sie
Versuche dar, Stalking zu verbieten. Mit diesen Verboten ging einher, das Verbo-
tene zu benennen (eben als »Stalking« beziehungsweise »Nachstellung«) und zu
versuchen, es beschreibend zu fassen. Durch die Versuche, es abzuschaffen, wird
Stalking so langsam greifbarer und als Thema präsenter. Mit dieser kritischen
Entwicklung in Politik und Justiz geht aber auch eine merkliche Gegenbewegung
in popkulturellen Darstellungen einher. Diese verteidigt das so nun sichtbar ge-
wordene3 Stalking gegen Kritiker_innen als »wahre Liebe«, wie in diesem leiden-
schaftlichen Dialog aus der TV-SerieHow I Met Your Mother (HIMYM):
»›How long have you been hung up on Robin? Eight years?! […] That’s crazy! That’s more
than crazy. I don’t think there is a word for what that is!‹
– ›Actually, there is a word for that. It’s ›love‹. […] [W]hen you love someone […] you don’t
stop, ever. Even when people roll their eyes, or call you crazy. Even then. Especially then!
[…] if I could give up […] if I could just, you know, take the whole world’s advice and – and
3 | Ein vergleichbarer Mechanismus wird in Grossberg 2010: 322 beschrieben.
Die umkämpfte Grenze zwischen Liebe und Stalking 161
move on and find someone else, that wouldn’t be love. That would be […] that would be
some other disposable thing that is not worth fighting for.‹« (HIMYM, S9E17, min 17–19)
Ted versucht also, seit sehr langer Zeit (»eight years«) eine Frau namens Robin
zu einer Beziehung zu überreden. Er versteht den Prozess, sie für sich zu ge-
winnen, in einer nicht zufällig martialischen Metapher als ein »fighting for«; ein
darum kämpfen. Mehrere Menschen in seinem Umfeld sagen ihm, er verhalte
sich krankhaft (»crazy«); dies befeuert ihn nur noch mehr. Und er erklärt nun,
eben das, was hier als wahnsinnig bezeichnet wird, sei Liebe. Mehr noch; solch
obsessiver Wahn sei ein Kernkriterium für Liebe.Wäre er in der Lage, seine Obsessi-
on für diese Frau aufzugeben (die mittlerweile übrigens mit einem Mann verlobt
ist, der Ted als seinen besten Freund bezeichnet), so würden seine Gefühle nicht
als wahre Liebe gelten.
Solche romantischen Rahmungen von Stalking treten in popkulturellen Dar-
stellungen häufig auf. Eine grundlegende Herausforderung dabei ist, dass dies
einen Umgang damit erfordert, dass Stalking eine bedrohliche Komponente hat.
Es lassen sich hier insbesondere zwei im popkulturellen Repertoire der Gegen-
wart besonders stark vertretene Strategien ausmachen.
Die erste Strategie – die auch im Falle von Ted zu tragen kommt – negiert
die Bedrohung durch eine niedlich-verharmlosende Rahmung des Stalkers. Zu-
nächst einmal wird dabei der Stalker als maximal harmlose Figur konstruiert.
Nebst Ted wären hier Beispiele etwa gleich mehrere der Protagonisten in der TV-
Serie The Big Bang Theory (TBBT) oder der Roboter WALL-E im gleichnamigen
Kinderfilm. Ted erzählt stolz, dass seine Detektivfähigkeiten auf einen Kinder-
club zurückgehen, trinkt feminin konnotierte Cocktails und zeigt sich im Um-
gang mit einem Schwert vollkommen tollpatschig. Die Protagonisten aus TBBT
sind körperlich schwache, sozial inkompetente und gleichzeitig als liebenswert
dargestellte Nerds. WALL-E ist ein kleiner, schäbiger, wesentlich schlechter als
sein Schwarm bewaffneter Roboter, der auf einer verlassenen Erde Müll beseitigt;
eine Underdog-Figur, die sich bei der Beschattung seiner Auserwählten belusti-
gend ungeschickt anstellt und sich so immer wieder unter großem Lärm enttarnt;
seine großen Fernglasaugen aktivieren ein Kindchenschema und wirken so auf
Betrachter_innen zumeist niedlich.
Dass die jeweiligen Angebeteten in Serien- wie Realzeit teils jahrelang und
über enorme Distanzen hinweg verfolgt werden (Ted überzeugt Robin schließlich
nach 9 Fernsehstaffeln, die 25 Jahre darstellen; WALL-E folgt Eva bis ins All) und
die Verfolger über ein wiederholt und überdeutlich vorgebrachtes »Nein« hinweg-
gehen, wird in diesen Geschichten (wie im Zitat oben explizit) als Anzeichen für
›wahre Liebe‹ gewertet. Bei besonders ressourcenintensiven oder intrinsisch ille-
galenHandlungen – etwa, wennHowardMilitärsatelliten umlenkt, um einModel
beim Sonnenbaden auf ihrem Dach zu beobachten (vgl. TBBT, S2E7, min 17) –
wird die Frage, ob dies gewaltvoll oder sogar explizit Stalking sei, teils angespro-
162 Katharina Dornenzweig
chen, mit einem laugh track quittiert und so gleich wieder entschärft (vgl. ebd.; für
eine ähnliche Entschärfung durch Benennung, vgl.HIMYM, S1E1, min 3).
In solchen Szenen liegt keine subversive Ironisierung vor, sondern eine Repro-
duktion und Normalisierung von Stalking als eigentlich harmlos. Und am Ende
sind die Protagonisten in allen diesen Fällen in ihrer Werbung erfolgreich, und
das gibt ihnen retrospektiv recht – anscheinend wollten die Frauen es eigentlich
ja doch. So bedankt sich die jahrelang verfolgte Penny bei ihrem Hochzeitsessen
dafür, so lange belästigt worden zu sein, bis sie nachgab (vgl. TBBT, S9E24, min
16–17).
Statt dieser Verharmlosungsstrategie tritt aber auch häufig eine zweite Stra-
tegie auf, um Stalking in popkulturellen Darstellungen trotz seiner Bedrohlich-
keit romantisch zu rahmen. Bei der zweiten Strategie wird der bedrohliche Cha-
rakter nicht geleugnet, sondern erotisiert. Der Stalker will nicht kontrollieren,
sondern beschützen; seine Gewalthandlungen sind ein Ausdruck von intensiver,
leidenschaftlicher Liebe, Sexualität und Männlichkeit. Diese sexistische Art, ge-
schlechtliche Rollenbilder zu leben, wird darüber hinaus durch eine imaginierte
Historie legitimiert. Paradigmatisch dafür ist die Buch- und Filmreihe Twilight,
die von ihrer Autorin als moderne Nacherzählung archetypischer Liebesdarstel-
lungen aus dem 16. bis 19. Jahrhundert verstanden wird; insbesondere wird der
zweite Twilight-Bandmit Shakespeares Romeo & Juliet von 1597 geradezu gleichge-
setzt.4 Dabei wird die subversive Dimension vonRomeo & Juliet, in der sich gerade
ein alternativer Liebesentwurf zu Stalking zeigt,5 komplett ignoriert. Der Stalker
in Twilight ist zudem ein unsterblicher Vampir und erklärt seine Handlungen im
4 | Vgl. »Q&A at Fairless Hills«, https://stepheniesays.livejournal.com/20266.html, zuletzt ab-
gerufen am 29.08.2018.
5 | Romeo & Juliet kann tatsächlich als Parodie und Kritik eines Liebesideals gelesen werden,
wie es sich in den Sonetten von Francesco Petrarca findet, in denen er jahrzehntelang seine
Liebe zu der durch ihn beobachteten ›Laura‹ besang, die vermutlich nie auch nur ein Wort an
ihn gerichtet hat (vgl. Petrarch 2015 [1374]). Romeo & Juliet eröffnet damit, dass Romeo eine
ebensolche Liebe zu einer Rosaline beteuert und dabei auch Stilfiguren wie das Oxymoron nutzt,
für die Petrarcas Poesie bekannt war. Danach trifft er jedoch auf Juliet. Als Romeo sie mit einem
Sonett umwirbt, unterbricht sie ihn mit einer flirtenden und literarisch innovativen Weiterführung.
ImVerlauf des Stückes mokiert sie sich darüber, dass so oft von Frauen erwartet werde, sich künst-
lich zu zieren statt ihrenWillen klar kundzutun (vgl. Shakespeare 1994 [1597]: II.2.95–101), und
sie macht ihm einen Heiratsantrag. Romeo spricht danach begeistert von den Vorzügen erwiderter
Liebe anstelle des Belästigens desinteressierter Frauen (vgl. ebd.: II.3.85–87), gibt Rosaline auf
und heiratet stattdessen Juliet. So tief problematisch auch andere Aspekte der Figur von Julia
sind; hier deutet sich bereits im 16. Jahrhundert Widerstand gegen ein Geschlechterverhältnis
an, das wir heute als Stalkingdynamik erkennen. Und es findet sich so weit in der Vergangenheit
nicht nur Widerstand, sondern es wird auch versucht, mit der enthusiastisch einverstandenen und
dies lautstark kommunizierenden Julia und dem darüber glücklichen Romeo ein romantisches
Gegennarrativ zu entwickeln.
Die umkämpfte Grenze zwischen Liebe und Stalking 163
dritten Film der Reihe als die Art, wie früher, während seiner Jugend, Liebe zu
Frauen gezeigt wurde (vgl. Eclipse, min 77). Anscheinend beinhaltet dies das all-
nächtliche Einbrechen in die Wohnung der Geliebten, um sie beim Schlafen zu
beobachten (vgl. Meyer 2005: 292 f.), sie beim Spazierengehen zu verfolgen (vgl.
ebd.: 174) sowie einen Sabotageakt gegen ihren Wagen, der sie daran hindert, zu
einemmännlichen Freund zu fahren (vgl. Meyer 2007: 62 f.). Bezeichnend ist die
Reaktion der Protagonistin, mit der Leserinnen sich identifizieren sollen: »›You
spied on me?‹ But somehow I couldn’t infuse my voice with the proper outrage.
I was flattered.« (Meyer 2005: 293) Sie drückt zwar ihm gegenüber Bestürzung
aus, aber eigentlich fühlt sie sich geschmeichelt. Und schließlich sind seine wie-
derholten Anträge erfolgreich, die beiden heiraten und sind – da die Protagonistin
dabei ebenfalls unsterblich wird – danach wortwörtlich für immer glücklich zu-
sammen. Nachdem diese Buchreihe zum Bestseller wurde, entstand dazu eine
ebenso populäre Fanfiction namens Fifty Shades of Grey, die noch einen Schritt
weitergeht. Das Buch erotisiert Gewalthandlungen unter dem Deckmantel von
BDSM; Stalking wird unverblümt bewundert, und dementsprechende Beobach-
tungen wechseln fließend mit den romantischen Tagträumen der Protagonistin.
So schreibt diese über ihren Stalker (und ebenfalls späteren Ehemann):
»He pulls up outside my duplex. I belatedly realize he’s not asked me where I live – yet he
knows. But then he sent the books; of course he knows where I live. What able, cell-phone-
tracking, helicopter owning stalker wouldn’t?
Why won’t he kiss me again? I pout at the thought.« (James 2011: 82)
Gemeinsam haben alle diese Darstellungen, dass die Frauen die Verfolgung trotz
ihrer lauten Proteste insgeheim wollen; Frauen zu verfolgen wird als romantisch,
niedlich, lustig, heroisch oder erotisch, in jedem Fall aber als schmeichelnd, lo-
benswert und unproblematisch gerahmt – und vor allem als schließlich rentabel.
Dass die Frauen durch diese Männer belästigt werden wollen, wird dem Publi-
kum über attraktive oder harmlos wirkende Stalker, das Happy End, die Auswahl
von romantischer Musik, den laugh track, klatschende und gerührte Nebendar-
steller_innen oder eben das Gedankenlesen bei den Gestalkten vermittelt – nicht
aber über die Handlungen der Gestalkten, die in ihrer Ablehnung teils in keiner
Form ambivalent sind. Es ist schwer denkbar, was sie tun könnten, umnoch klarer
zu kommunizieren, dass sie diese Handlungen nicht wollen, damit dies als ihr
authentischer Willen ernst genommen und respektiert wird.6 Es wird deutlich,
6 | Im Gegensatz zur Rechtsprechung reicht es in Popkulturdarstellungen auch nicht, vom Stal-
ker wegzuziehen – man denke an die Schlüsselszene diverser romantischer Komödien, in denen
der Stalker die Person in diesem Fall in den Flughafen verfolgt und dafür nicht einen entgeister-
ten Notruf, sondern einen Kuss erntet, der von gerührten Statist_innen beklatscht wird. Diese
Szene hat mittlerweile einen solchen Wiedererkennungswert, dass Filme ihren Klischeecharakter
referenzieren, während sie sie dessen ungeachtet reproduzieren; vgl. Love Actually, in dem ein
164 Katharina Dornenzweig
dass von den Frauen erwartet wird, in jeder Form keusch »nein« zu sagen und
dennoch »ja« zu meinen, was auf ein tiefer liegendes Sexismusproblem verweist,
das in meinen Augen einen zentralen Nährboden für Stalking darstellt.7 Dass sie
die Verfolgung ernsthaft belasten könnte oder daran etwas genuin gewaltvoll sein
könnte, ist in diesen Geschichten als Deutungsmöglichkeit schlicht nicht vorhan-
den.
4 Ein affektphilosophischer Zugriff
auf hermeneutische Ungerechtigkeit:
affektive Narrative und affektive Dissonanz
Gestalkte Personen waren also zunächst damit konfrontiert, dass Stalking als
ernsthaftes Problem bis ins späte 20. Jahrhundert weitgehend unbenannt und
unbeschrieben war;8 gleichwohl trat es auf und intensivierte sich durch die tech-
nischen Möglichkeiten zunehmend. Für eine solche Situation, in der von Gewalt
Betroffenen die Worte und Konzepte für das, was ihnen widerfährt, systematisch
gesellschaftlich fehlen, sodass sie darin behindert werden, über ihr Gewalterleben
zu sprechen oder es auch nur angemessen zu verstehen, hat Miranda Fricker den
Begriff »hermeneutischeUngerechtigkeit« (vgl. Fricker 2009: 151) geprägt. Fricker
hat durch ihre Analyse aufgezeigt, wie ungerechte Strukturen tief in die Wissens-
bildungsprozesse betroffener Personen hinein eingreifen und so bestehende Un-
terdrückungsstrukturen stabilisieren können. Doch ich werde im Folgenden am
Beispiel von Stalking zeigen, dass ein bloßer Fokus auf Begriffe undWissen nicht
ausreicht, um zu begreifen, wie effektiv und weitreichend Betroffene in ihrem
Junge mit dem Satz »You’ve seen the films, kiddo!« aufgefordert wird, seinem Schwarm in den
Flughafen zu folgen.
7 | Wenn heterosexuell-romantisch interessierte Frauen sozial dafür sanktioniert werden, ihr
Interesse sofort und deutlich zu zeigen (eine Form des slut-shaming), und gleichzeitig genui-
nes Desinteresse gemäß weiblichem Rollenbild nur behutsam formuliert werden darf (auch um
sich vor einer aggressiven Reaktion des zurückgewiesenen Mannes zu schützen), bleiben Frauen
mit unterschiedlichem tatsächlichen Willen keine sicheren und gleichzeitig unmissverständlich
unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten (in beiden Fällen nähert sich die Antwort systema-
tisch an »Gerade eher kein Interesse« an), außer ihre Gesprächspartner zeigen ausnahmsweise
überzeugend, dass sie sämtliche Antwortmöglichkeiten für bare Münze nehmen und respektieren
(und stellen so einen Kontext her, in dem ehrliche Kommunikation im Verlauf entstehen kann).
8 | Noch 1984 kommt in einer der ersten bahnbrechenden Studien zum Thema, »Female Ha-
rassment after Ending a Relationship: A Preliminary Study« (Jason u. a. 1984), nicht nur der
Begriff Stalking nicht vor; das ganze Paper ist vom Eindruck der Autor_innen geprägt, auf eine
Form der Gewalt gestoßen zu sein, die bisher nur in vereinzelten Zeitungsartikeln zu besonders
eskalierten Fällen bei Prominenten sichtbar wurde, noch unerforscht ist, und die sie überhaupt
erst definieren und grundlegend beschreiben müssen.
Die umkämpfte Grenze zwischen Liebe und Stalking 165
Weltverhältnis und ihrer Handlungsmacht durch hermeneutische Ungerech-
tigkeit beeinträchtigt werden.Mittlerweile ist Stalking ein geläufiger, geradezu
alltäglicher Begriff geworden. Zugleich jedoch ist klar, dass gestalkten Personen
mit diesemWort alleine noch nicht ausreichend geholfen ist. Wie die letzten zwei
Abschnitte herausgearbeitet haben, erreichen mehr als 99 % von ihnen keine
Verurteilung des Stalkings durch den Staat, und darüber hinaus werden die nun
erstmalig verbotenen und dadurch benannten Stalkinghandlungen in popkultu-
rellen Darstellungen als romantisch verteidigt. Was somit fehlt, ist mehr als nur
ein Konzept9, mehr als nur Wissen, denn die Auswirkungen auf gestalkte Frauen
erstrecken sich nicht nur auf sprachliche Reflexion oder Artikulation. Es braucht
einen anderen Zugriff. Im Folgenden plädiere ich für einen affektphilosophischen
Ansatz, der Situationen vomTypus der hermeneutischenUngerechtigkeit jenseits
einer Engführung auf den epistemischen Aspekt beleuchtet. »Affekt« dient hier
als Stichwort für einen methodischen Perspektivwechsel hin zu Dynamiken des
wechselseitigen Affizierens. Es ist dabei explizit nicht intendiert, lediglich von
einem eingeschränkten Fokus auf Sprache hin zu einem ebenso eingeschränk-
ten Fokus auf Affektivität zu wechseln und die Rolle von Sprache vollkommen
auszuklammern. Stattdessen sollen mit der Erweiterung um Affekt auch die In-
tensität und das treibende Potenzial zugänglich werden, welche sich noch nicht in
sprachliche Äußerungen kristallisiert haben. So sollen Sprache und Affekt nicht
dichotom, sondern ineinanderfließend gedacht werden.
Dieser Affektbegriff knüpft an eine Interpretation von Baruch Spinoza (1985
[1677]) durch Gilles Deleuze (1990 [1968]) an, wie sie durch Brian Massumi kon-
kretisiert wurde als
»an ability to affect and be affected. It is a prepersonal intensity corresponding to the
passage from one experiential state of the body to another and implying an augmentation
or diminution of that body’s capability to act« (Massumi 2016: xv).
Affekt stellt also keine stabilen, benennbaren mentalen Zustände von final kon-
stituierten Individuen dar, die in einem prinzipiell von ihnen abstrahierbaren
Kontext miteinander interagieren (vgl. Seigworth und Gregg 2010: 1). Stattdessen
handelt es sich bei Affekt um eine relationale Konstellation, die sich aus der asym-
metrischen, aber niemals vollkommen einseitigen und durchweg dynamischen
Interaktion von heterogenen Akteur_innen in einem fließenden und brüchigen
›affektivenArrangement‹ (vgl. Slaby,MühlhoffundWüschner 2019a) ergibt. Iden-
tität und Rollen der beteiligten Akteur_innen verändern sich im Verlaufe dieses
Prozesses von Erleiden, Widerstehen und Einwirken auf dynamische Weise. Die
9 | Diese Diagnose einer Unzulänglichkeit hängt natürlich davon ab, was mit ›Konzept‹ gemeint
wird. Sara Ahmeds »Sweaty Concepts« (Ahmed 2017: 12 f.) oder die »Concepts as Methodology«
in Slaby, Mühlhoff und Wüschner 2019b treffen schon eher das, was fehlt; allerdings reichen
diese Entwürfe auch weit über das hinaus, was gemeinhin unter ›Konzept‹ verstanden wird.
166 Katharina Dornenzweig
Individuen bringen dabei eigene affektive Dispositionen mit (vgl. Mühlhoff 2018;
Mühlhoff 2019), die situativ Resonanzen und Dissonanzen produzieren können,
aber die fortlaufenden Interaktionen selbst schreiben sich in diese Dispositionen
ein und transformieren sie, wodurch neue Potenziale eröffnet und andere gekappt
werden.
Dies ermöglicht – im Gegenteil zu reduktiven Lesarten von Affekt als einem
ahistorischen Reiz-Reaktions-Schema (vgl. kritisch dazu Pieper und Wiedemann
2014: 66 f.) – einen neuenZugriff aufMacht undWiderstand; insbesondere, wenn
dieser affektive Zugriff nicht wie klassisch im Kontrast zu diskursiven Subjekti-
vierungstheorien gelesen wird, sondern mit diesen produktiv in Verbindung ge-
bracht wird (vgl. Mühlhoff 2018). Analysierbar wird Widerstand jenseits von in-
dividueller Intention oder homogener Masse in Form nicht vorhersehbarer Netz-
werkeffekte (vgl. Wiedemann 2014). Die Perspektive verschiebt sich weg von ei-
nemmachtlosenOpfer, das denMächtigen entgegensteht (vgl. Fricker 2009: 148),
die von oben herab eine einzige Ideologie (vgl. ebd.: 13) beziehungsweise Propa-
ganda (vgl. ebd.: 164) setzen, welche die Wahrnehmung der Opfererfahrung steu-
ert (vgl. ebd.: 13). Stattdessen kann das Einwirken der Betroffenen auf die mögli-
chen Rahmungen in einer Form, die diese nie schlichtweg reproduziert, sondern
durch situative Umdeutungen, Stimmwechsel und Ironie teils im Kern verkehrt,
analysiert werden (vgl. Grossberg 1997: 71–83 sowie Grossberg 1992: 46–58). So-
mit sind einerseits die Verstrickungen der Betroffenen in unterdrückende Struk-
turen denkbar (vgl. Foucault 1977: 202), aber andererseits auchWiderstand gegen
diese Strukturen, und Strukturen selbst werden als in einer heterogenen Polypho-
nie der Stimmen verhandelt begriffen (vgl. Medina 2006; Medina 2011; Medina
2013).
Für die Analyse affektiv rahmender Strukturen, die eine unterdrückende und
befremdliche ebenso wie eine ermächtigende Wirkung haben können, möchte
ich das Konzept affektiver Narrative einführen.
Was kann man sich konkret unter einem affektiven Narrativ vorstellen?
Denken wir zurück an die Popkultur über Stalking, die ich zuvor erläutert
habe. Diese vermittelt nicht primär Begriffe oder Wissen über Stalking, sondern
eine affektive Rahmung von Stalkinghandlungen; wie man zu Stalking fühlen
soll, wie man sich dazu in Relation setzen soll, wird hier exemplarisch vorgelebt.
Man denke an Zitate wie dieses durch die Protagonistin von Twilight: »I wondered
if it should bother me that he was following me; instead I felt a strange surge of
pleasure.« (Meyer 2005: 174) Hier begegnet gestalkten Frauen ein Rollenangebot;
wenn dich ein Mann verfolgt, gestehe dir ein, dass du geheim geschmeichelt bist.
Wird dieses Angebot verstört abgelehnt, bietet der Rechtsstaat ein anderes: Wenn
du dich von diesemMenschen wirklich inakzeptabel verfolgt fühlst, dann beweise
das, fliehe verängstigt aus deinerWohnung und gebe sie auf; somachen das echte
Opfer! – Aber auch hier werden Ansprüche anmögliche und sinnvolle Emotionen
und Handlungen formuliert, die überwiegend nicht lebbar sind.
Die umkämpfte Grenze zwischen Liebe und Stalking 167
Eine Art, in der man diese Ansprüche formulieren kann, um einfacher über
sie zu sprechen, ist sie als eine Geschichte zu formulieren. Eine Geschichte dar-
über, was typische und legitime Weisen sind, wie eine gestalkte Person zu fühlen, zu
handeln und überhaupt mit dem Stalking umzugehen hat, was das, was ihr passiert,
bedeutet, wie dramatisch es ist, wie es verlaufen sollte. Hat man die komplexe Erwar-
tungsstruktur in eine simple Geschichte übersetzt, ist sie viel schneller wiederzu-
erkennen, und es ist auch klar zu sehen, wenn das Verhalten und Erleben einer
echten Person aus der Rolle fällt. Sich ein affektives Narrativ als eine Geschichte
vorzustellen, macht auch andere Aspekte affektiver Narrative und ihrer Auswir-
kungen, etwa des Narrativzwangs, sofort zugänglich: Eine Geschichte ist linear,
kohärent, vereinfacht und glatt, sie bietet ein vorhersehbares Muster an – und
eben dies wird auch von der Artikulation und dem Verhalten der Gestalkten er-
wartet, obwohl das wirkliche Leben oft viel verwirrender und widersprüchlicher
als eine Geschichte ist. Stellt man sich eine Geschichte statt einer Ideologie vor,
ist auch deutlicher, dass Geschichten etwas sind, an demwir Teil haben, sie lassen
sich durch das Nacherzählen verändern und umdeuten. Dass »affektives Narra-
tiv« sofort an konkrete Geschichten denken lässt, ist an dieser Stelle also Absicht
und stellt einen ersten Zugang zu diesen Strukturen dar; wir können uns affekti-
ve Narrative wie wirkmächtige Geschichten über wahre Liebe und richtige Opfer
vorstellen. Und Popkultur ist ein so guter Zugang zu affektiven Narrativen, weil
sie uns hier bereits in dieser geronnenen Form begegnen.
Zumeist begegnet uns ein affektivesNarrativ aber nicht als ausformulierte und
niedergeschriebene Geschichte, sondern als eine gesellschaftlich strukturell gehäuf-
te Erwartungshaltung in zwischenmenschlicher Interaktion; als eine leiblich-materiell
verkörperte und performativ realisierte Disposition, nur bestimmte Artikulationen und
Handlungen als sinnvoll und angemessen wahrzunehmen, durch sie affiziert zu wer-
den, sie zu reproduzieren und so ihre Wirkungsmacht in einem Netzwerk zu erhö-
hen. Andere Verhaltensweisen und Artikulationen dagegen werden als Irritatio-
nen wahrgenommen, nicht verstanden, ignoriert, zurückgewiesen und so in ih-
rer Wirkung abgeschwächt. Das affektive Narrativ begegnet uns dabei in unserem
Gegenüber, das uns bei unserer Erzählung oder Darstellung immer skeptischer
und ungeduldiger anblickt, bis wir stocken und selbst immer unsicherer werden,
was wir eigentlich erklären oder zeigen wollten, bis wir verwirrt verstummen. Da-
bei liegt nicht nur eine gescheiterte Kommunikation aufgrund fehlendenWissens
vor, sondern eine Störung affektiver Interaktionen zwischenMenschen imMikro-
sozialen.
Diese Störungmöchte ich als affektive Dissonanz bezeichnen.Dabei bezeichnet
dies nicht nur ein Fehlen von affektiver Resonanz, zu der bereits eine signifikan-
te Debatte vorliegt (vgl. Eberlein 2011; Landweer 2013; Landweer 2015; Rosa 2016;
Mühlhoff 2018) – mit »affektive Dissonanz«möchte ich vielmehr einen Gegenpol
dazu, ein eigenes destruktives Phänomen herausarbeiten. Dies lässt sich leicht
verdeutlichen. Man stelle sich eine gestalkte Frau vor, die mit Freundinnen ins
Kino geht und sich Twilight anschaut. Zu sagen, dass sie nicht daran partizipiert,
168 Katharina Dornenzweig
dass ihreUmgebung kollektiv gerührt seufzt, wenn deutlich wird, dass Edward re-
gelmäßig in BellasWohnung einbricht und sie im Schlaf beobachtet, wäre zu kurz
gegriffen. Dies dürfte sie sehr wohl intensiv affizieren, aber eben auf eine gänzlich
andere Weise als die Personen neben ihr, eine Weise, die sie verstört zurücklässt.
Hier liegt ein eigener Modus der affektiven Interaktion vor, was spätestens deut-
lich wird, wenn sie nach dem Film überwiegend in ihren Bemühungen scheitert,
ihren verträumt über den Hauptdarsteller schwärmenden, kichernden Freundin-
nen zu erklären, wieso die vermeintlich romantische Szene sie so mitgenommen
hat, und ihr nur kurz wirklich zugehört wird. Vielleicht zückt sie dann auf dem
Heimweg ihr Smartphone, und macht sich damit nun auf die Suche nach einer
anderen Stimme, die ihr Gefühl, dass mit diesem Film etwas überhaupt nicht
stimmt, aufgreift. Vielleicht findet sie diese schließlich auf einem feministischen
Blog und schreibt ihre Gedanken dort in einen Kommentar.
An diesem Kinobeispiel wird deutlich: Das Umfeld einer Akteurin ist nie ein
einziges statisches, sondern veränderlich, und zwar auch durch darin stattfinden-
de affektive Interaktionen, inklusive denen, an denen die Akteurin selbst beteiligt
ist. Es umfasst diverse Kontexte mit nicht immer scharfen Grenzen, und enthält
dabei nicht nur das, was räumlich nah ist, sondern zum Beispiel auch Online-
Kontakte. Die Akteurin sieht sich also nicht mit einer einzigen Ideologie kon-
frontiert, sondernmit vielen unterschiedlichen Narrativen unterschiedlicher Stär-
ke, die im Fluss sind und situativ jeweils anders aktiviert werden. Interaktionen
können dabei fließen, eine grundlegend dissonante Dynamik kann von Momen-
ten der Resonanz durchkreuzt werden und umgekehrt (vgl. Mühlhoff 2018: 349).
Dennoch sehen sich gestalkte Frauen systematisch immer wieder durch die an-
deren Akteur_innen affektiven Narrativen ausgesetzt, die ihre Erfahrungen kom-
plett verfehlen, und so wird das Erleben affektiver Dissonanz in Interaktionen
mit anderen für sie nicht eine Ausnahme, sondern ein strukturell produziertes
Grundgefühl sein.10 Für mit ihnen interagierende Akteur_innen bedeutet dies,
dass die Interaktion mit der Gestalkten anstrengend, verwirrend und irritierend
ist und deshalb häufig abgebrochen oder gemieden wird; sobald sie aus der Inter-
aktion verschwindet, können ihre Interaktionspartner_innen sich allerdings mit
anderen wieder erholen, und etwa genüsslich mit ihrem Schwärmen weiterma-
chen. Anders ist es für die Gestalkte; sie wird nahezu permanent damit konfron-
tiert, dass eine für sie zentrale Erfahrung nicht in die affektiven Narrative, die
ihre Umgebung prägen, integriert werden kann, und dass ihre eigene Geschichte
unerwünscht ist. Wie sich dies in den tatsächlichen Erfahrungen gestalkter Frau-
10 | Gestalkte Frauen sind lediglich ein besonders eindrückliches Beispiel für Personen, deren
Grunderleben in der Welt durch affektive Dissonanz gekennzeichnet ist. Bei Angehörigen margina-
lisierter Minderheiten, deren Identitäten in ihrer Umgebung nicht oder nur verzerrt repräsentiert
sind, vermute ich prinzipiell Ähnliches und würde alternative Räume (Subkulturen, safer spaces,
Selbsthilfegruppen, offline wie online) auch als Widerstand genau dagegen sehen.
Die umkämpfte Grenze zwischen Liebe und Stalking 169
en auswirkt, analysiert der folgende Abschnitt. Dabei wird sich zeigen, dass die
vorgestellte Kinoszene ein deutlich zu rosiges Bild entwirft:
»Ein Opfer, das mehrere Jahre lang einem extrem gefährlichen Stalker ausgesetzt war, der
später eine andere Frau ermordete, berichtete, dass sie ein einziges Mal über Selbstmord
nachgedacht hatte – und zwar in dem Moment, als ihr ein Polizeibeamter ins Gesicht sagte,
ihre Geschichte sei ihm völlig egal und er möchte sie nicht hören.« (Hoffmann und Wondrak
2005: 151)
5 Die Manifestation von Narrativzwang und affektiver
Dissonanz in den Erfahrungen gestalkter Frauen
Als erstes wird der Mangel an angemessenen affektiven Narrativen, in welche die
eigene Erfahrung eingeordnet werden kann, daran sichtbar, dass Gestalkte ins-
besondere historisch erstaunlich hohe Schwierigkeiten hatten, das Erlebte über-
haupt zu artikulieren. Betroffene berichteten oft fragmentarisch, verstummten
teils ganz, wirkten wie gelähmt. Dieses Muster, das von Fricker bei sexueller Be-
lästigung bereits beobachtet worden war (vgl. Fricker 2009: 149 f.), zeigt sich für
gestalkte Frauen etwa in der genannten wegweisenden Studie Jason u. a. 1984, die
dieses Muster durchkreuzte. Dafür wurden Frauen gefunden, die willens waren,
mit Forschenden darüber zu sprechen, dass sie durchschnittlich ein Jahr lang
täglich von Ex-Partnern belästigt wurden, etwa durch Anrufe zu allen Uhrzei-
ten, Aufsuchen zu Hause und auf der Arbeit, Verfolgung und Beobachtungen
mit Ferngläsern, das Senden von Briefen, Drohungen, Verleumdungen und kör-
perliche Angriffe (vgl. ebd.: 263). Nur 54 % gaben an, dass sie vor der Studie mit
jemandem (einer Freund_in, einem Familienmitglied, einer Therapeut_in) dar-
über gesprochen hätten (vgl. ebd.: 264). Dabei fühlten sich diese Frauen durch
die Handlungen bedroht, ein Drittel berichtet, unter Depression, Angst und Un-
ruhe zu leiden (vgl. ebd.). Und dennoch Schweigen bei fast der Hälfte der Frauen,
bis sie es für diese Studie brachen.
Seit diesem Zeitpunkt sind gestalkte Frauen lauter geworden, aber bis heute
sprechen sie nicht auf die Weise, die von ihnen erwartet wird. Noch 2016 erklärte
eine Studie: »The pilot interview showed that it was difficult for the victims to
relate the course of the stalking in a linear and chronological narrative.« (Johansen
und Tjørnhøj-Thomsen 2016: 885)
Es zeigt sich beim Sprechen über Stalkingerfahrungen genau genommen ein
doppeltes Problem: Einerseits besteht eine gesellschaftliche Erwartungshaltung,
dass die Erzählungen der Gestalkten sich mit der Erzählung bestimmter, den Zu-
hörer_innen zugänglicher affektiver Narrative decken, wie sie in Rechtsprechung
und Popkultur im vorherigen Text diskutiert wurden. Ich möchte diese gesell-
schaftliche Erwartungshaltung als speziellen Narrativzwang bezeichnen.
170 Katharina Dornenzweig
Doch darüber hinaus, bekannten Narrativen zu entsprechen, besteht ein noch
grundlegender Druck, die Artikulation überhaupt zu einer kohärenten, linearen
Geschichte zu formen. Dieser Aspekt soll als allgemeiner Narrativzwang bezeich-
net werden.11 Diesem zu entsprechen ist für gestalkte Personen teils schwer bis
unmöglich, weil Stalking oftmals eine traumatische Erfahrung darstellt. Als sol-
che lässt es sich naturgemäß nicht als kohärente Geschichte erzählen, ist eben
gerade nicht mit bisherigen Annahmen über die Welt als einigermaßen siche-
rem Ort, an dem einem so etwas nicht passiert, vereinbar, sondern wird als ein
Wegbrechen des bisherigen Sinnfundaments empfunden. Umnachzuvollziehen,
wieso Stalking einen solch erschütternden Effekt entwickelt, ist sich vor Augen
zu führen, dass Stalking in den meisten Fällen durch Ex-Partner, also durch ei-
ne ehemals geliebte und vertraute Person, begangen wird, die nun die Gestalkte
im eigenen Zuhause, bei der Arbeit, beim Freizeitsport, in einfach jedem Schon-
und Bezugsrahmen verfolgt, gleichsam all ihre Lebensräume durchdringt. Da-
zu kommt, dass Stalking keine einmalige Tat ist. In der Studie Jason u. a. 1984
hielten die Terrorisierungen im Schnitt 13 Monate, teils schon 120 Monate an,
mit einem Schnitt von 6,5 Stalkinghandlungen pro Woche (in schwereren Fällen
bis zu 49); und 26 % der Studienteilnehmer_innen berichteten, dass die Stal-
kinghandlungen zum Zeitpunkt der Studie noch immer passierten; teils werden
Personen bis zu ihrem Tode gestalkt. Auch bei den Frauen, die den Stalker nun
schon einen längeren Zeitraum nicht mehr beim Beschatten entdecken konnten,
tritt die Gewissheit, dass das Stalking nun tatsächlich zu Ende ist, nie ein. Dass
der Stalker nicht sichtbar ist, heißt nicht, dass er gerade nicht beobachtet; dass
die Kontaktaufnahmen pausieren, bedeutet nicht, dass sie nicht wieder anfan-
gen können, sobald die Betroffene beginnt, aufzuatmen. Die Sorge, verfolgt zu
werden, kann nie abgestellt werden, auch wenn sie beginnt, ernsthafte Schäden
auszulösen. Stattdessen erfolgt eine permanente Retraumatisierung, wie sie für
11 | Vorläufer dieser Narrativzwangkonzepte finden sich unter anderem in psychologischer
Narrativtheorie (vgl. Sarbin 1986), klassischen soziologischen Rahmenanalysen (vgl. Goffman
2016 [1974]) oder neueren Frame-Interpretationen (vgl. Butler 2009). Erstere beschreiben je-
doch das Phänomen, das ich kritisieren will, nicht nur, sondern reproduzieren es, indem sie
Narrativzwang als unausweichliche menschliche Konstante naturalisieren; siehe das postulierte
»narratory principle; that human beings think, perceive, imagine, and make moral choices ac-
cording to narrative structures.« (Sarbin 1986: 8) Auch die soziologische Rahmenanalyse führte
zu dem Schluss, dass ein Ausbruch aus diesen Rahmen unmöglich sei (vgl. Cohen und Taylor
1977). – Diese Texte lassen sich neu rezipieren, wenn man ihre anthropologischen Postulate
zurückweist und sie stattdessen als performative Darstellung der Wirkmächtigkeit von Narrativ-
zwang liest. Sie demonstrieren den Druck, neue Artikulationen wieder narrativ zu glätten, wie
wir ihn auch in feministischen Diskursen immer wieder finden, wenn etwa eine jede Gestalkte
dem neuen ›Überlebende‹-Narrativ entsprechen soll. Wirkmächtig bedeutet aber nicht absolut.
Traumatisierte und marginalisierte Personen berichten sehr wohl von Ausdrucksformen unter-
schiedlicher Authentizität und Freiheit.
Die umkämpfte Grenze zwischen Liebe und Stalking 171
komplexe posttraumatische Belastungsstörungen typisch ist. Anders als bei einer
vergangenen Vergewaltigung oder einem Kindheitstrauma muss das Erlebnis im
Fall des Stalkings unter der erschwerten Bedingung verarbeitet und eingeordnet
werden, dass es sich wieder und wieder wiederholt, ohne dass Distanz oder auch
nur eine Pause zum Luft holen hergestellt werden kann. So kommt es vielfach zu
emotionaler Überwältigung oder Dissoziation, die Verarbeitung des Erlebnisses
und seine Einordnung in einen Sinnzusammenhang wird gestört. Es ist nicht
möglich, mit der Gewalterfahrung abzuschließen und sie in die Vergangenheit
zu verweisen, denn der Stalker könnte gerade wieder vor dem Hauseingang lau-
ern. Gestalkte Frauen sind von den eigenen Erfahrungen also häufig verstört (vgl.
Jason u. a. 1984: 264) und erzählen somit verstörende Geschichten, die auch auf
wohlwollende Zuhörer_innen verwirrend und unplausibel wirken, noch ganz un-
geordnet, voller Lücken, Sprünge, konfuser Zusammenhänge, überraschender
Beurteilungen und Schwerpunktsetzungen – und so dem allgemeinen Narrativ-
zwang nicht genügen.
Darüber hinaus ist strukturell gerade nicht mit wohlwollenden Zuhörer_in-
nen zu rechnen, sondernmit einemZuhörer, der sexistische Vorurteile gegenüber
der Sprecherin hat. Inwiefern sich diese Vorurteile darauf auswirken, dass Betrof-
fenen von Gewalt ungerechtfertigt mit einem höheren Maß an Skepsis begegnet
wird, ist für Stalking noch nicht untersucht, aber beispielsweise für Vergewalti-
gungen ausführlich dokumentiert (vgl. Brown, Hamilton und O’Neill 2007) und
von Fricker als »testimonial injustice« philosophisch analysiert worden (vgl. Fri-
cker 2009).Medina hat korrekt darauf hingewiesen, dass solche ›testimonial‹ und
›hermeneutical injustice‹ systematisch gehäuft gemeinsam auftreten und einan-
der verstärken dürften (vgl. Medina 2012: 206 sowie Medina 2011). So führt eine
sexistische gesellschaftliche Grundstruktur sowohl zu einer gestörten Artikulati-
on des Erlebnisses durch die Betroffenen mangels angemessener Deutungsan-
gebote, als auch zu einer Reaktion der Zuhörer, die das Hervorbringen und Ver-
breiten der Geschichte nicht fördert, sondern blockiert. Dadurch werden diese
Geschichten wiederum nicht für andere Betroffene zugänglich; anstatt sich ge-
genseitig in ihren Erfahrungen bestärken zu können und gemeinsam eine neue
Rahmung dafür zu entwickeln, bleiben die Betroffenen voneinander isoliert – ein
kommunikativer Teufelskreis.
Gestalkte Frauen werden also oft als übersensibel, verrückt, als drama queens
abgetan; oder, schlimmer noch, als Lügnerinnen, vorgebliche Opfer, fakes, und
damit also als Feinde der echten, richtigen Opfer. Das Selbstbild, das ihnen so
gespiegelt wird, ist erschreckend, aber sie können ein anderes nur schwer formu-
lieren, da Vorlagen dafür rar sind; sie bestehen auf etwas, das sie nicht präzise und
kohärent beschreiben können, das ihnen durch die Finger gleitet. Ihnen wird ge-
spiegelt, dass ihre Schmerzen illegitim und imaginär seien, aber dadurch werden
diese nicht erträglicher – imGegenteil. DasGefühl, keinRecht darauf zu haben, so
ängstlich zu sein, nimmt die Angst nicht fort, sondern ergänzt sie durch Scham;
172 Katharina Dornenzweig
vermittelt zu bekommen, das Erlebte sei nicht real, fügt dem Trauma noch die
Sorge hinzu, wahnsinnig zu werden.
Eine Frau, die diese Mechanismen und Reaktionsweisen erlebt hat, beginnt
häufig nervös zu antizipieren, dass man ihr (wieder) nicht glauben wird. Dass
auf alles Widersprüchliche, jedes Fehlverhalten, alles Irrationale, jegliche Unsi-
cherheit im Vortrag ihrerseits – jede Pause, jeden vermiedenen Blickkontakt –
angesprungen wird. Ein solches nervöses Auftreten macht aber in der Regel nicht
glaubwürdiger, sondern trägt dazu bei, dass Blickkontakt nur schwer und krampf-
haft gehalten werden kann, dass noch mehr gestockt wird. Eine Frau, die etwa bei
der Polizei eine Ungerechtigkeit gegen sie ansprechen wollte, findet sich in der
Interaktion mit Menschen, die sie um Hilfe ansucht, so immer mehr in einem
Kreuzverhör wieder, in dem ihre Erzählung als widersprüchlich und verfänglich
beurteilt wird. Denn ihre echte Erzählung enthält Teile, die sie selbst nicht ver-
steht, eine Realität, die nicht schwarz/weiß ist. Vielleicht war sie keine perfekte
Partnerin, vielleicht hat ihr Stalker auch gute Seiten. Vielleicht begreift sie selbst
nicht, wieso sie in ihren Schutzmaßnahmen so inkonsequent ist, einen Tagmutig
und sorglos, am nächsten panisch und zwanghaft. Sie kann nicht erklären, wieso
sie sich inzwischen so erschreckt, wenn sie vor ihrer Haustür eine Rose findet –
denn so etwas sollte harmlos sein, ist es jedoch in ihrer Welt nicht mehr. All das
passt nicht in die speziellen affektiven Narrative, in die sie ihre Geschichte hinein-
zwängen soll, es ergibt noch nicht einmal ein kohärentes neues Narrativ, das dem
allgemeinen Narrativzwang genügen würde. Allein: Wenn sie ihre Erzählung den
narrativen Zwängen nicht beugt, bleibt auch eine Anzeige wirkungslos.
Also versucht sie, die Erfahrung in angebotene affektive Narrative hineinzu-
zwängen und beginnt, die Teile auszulassen, die ja doch nur alle verwirren. Dies
macht sie endgültig vor anderen und, schlimmer, ihr selbst unglaubwürdig – was
verbirgt sie da? Skeptisch wird ihre Geschichte aufgenommen. Der ungeduldige
Polizist braucht bestimmte Fakten, die sie nicht hat, und hat kein Interesse an
Dingen, die ihr so wichtig erscheinen. Wann genau ist etwas passiert? Zumindest
grob muss sie es doch wissen? Sie muss, sie muss, das stimmt, natürlich … Aber
sie weiß es nicht. Wenn sie erzählt, bleibt sie stattdessen an kleinen Details hän-
gen, klammert sich fest an den Dingen, auf die sie krampfhaft fokussierte, weil
sie an das Schlimme nicht denken wollte, hängt fest an Rätseln, deren Auflösung
keinen Unterschied macht, an Kleinigkeiten, die ihr so signifikant vorkommen …
Ihre Erinnerung soll säuberlich sortiert in Akten abgelegt werden, doch das In-
nere ihres Kopfes gleicht nach ihrer traumatischen Erfahrung einem Chaos, das
in einen überfüllten Schrank gestopft wurde, dessen Tür dann zugedrückt wurde.
Wird die Tür geöffnet, quillt alles unkontrolliert hervor, und sie kann nur hilflos
das Erste greifen, das herausfällt. Die Farbe der Rose, die vor ihrer Tür lag, springt
sie aus der Erinnerung an.
Dafür hat der Polizist keine Zeit. Ihm ist egal, welche Farbe die Rose hatte.
Er will das Wichtige. Wieso sollte die Farbe wichtig sein? Sie weiß es nicht. Sie
hat kein Gefühl, was wichtig ist, es ist alles wichtig, und nichts davon, für die
Die umkämpfte Grenze zwischen Liebe und Stalking 173
Unterteilung ist die Erinnerung zu roh, die Angst zu groß. Sie weiß noch, wie
es sich angefühlt hat. Aber welcher Tag es war, weiß sie nicht mehr. Sie weiß so
vieles nicht, kann so vieles nicht erklären. Ihre Erinnerungen und Erklärungen
sind voller großer, dunkler Löcher, die in der Erzählung eines richtigen Opfers
nicht vorkommen dürfen. Ihre Aussage ist ungenügend. Sie ist ein ungenügen-
des Opfer.12 Schlimmer, vielleicht ist sie gar keines, und der Polizist entdeckt das
nun. Am Ende steht ein Protokoll, das ihr vollkommen fremd ist, es ist gar nicht
mehr ihre Geschichte, nicht ihre Worte, und sie fühlt sich noch mehr wie eine
Hochstaplerin.
Die Gestalkte sucht so vermehrt nach externer Validierung, doch dies ist
schwierig. Nachrichten mit Drohungen und Beleidigungen werden von den ent-
setzten Betroffenen selbst oder ihren Angehörigen oft weggeworfen oder gelöscht
oder sind anonym und ohne Fingerabdrücke verfasst. Wo sie noch existieren,
konfrontieren sie die Gestalkte mit der Beschreibung des Stalkers, der dabei übli-
cherweise vollkommen überzeugt auftritt und sich selbst als das Opfer inszeniert
(vgl. Hoffmann 2006: 142). Hinzu kommt, dass ein Ex-Partner oft viele wahre
Details über die Gestalkte und ihre Ängste und Verfehlungen kennt und diese
nutzen kann, um ein bestechend plausibles, aber vollkommen verzerrtes Bild von
ihr zu zeichnen, in dem sie, und nicht er, an seinem Verhalten schuld ist.
Für viele Stalkinghandlungen gibt es nur ihre Zeugenaussage als Nachweis.
Andere Zeug_innen sind rar, und zudem durch eine vorherige Beziehung zwi-
schen Gestalkter und Stalker häufig sozial mit dem Stalker verbunden. Mögliche
Zeug_innen wollen sich daher oft »aus der Sache heraushalten«, die sie als ei-
nen privaten Beziehungsstreit wahrnehmen, oder ergreifen sogar Partei für den
Stalker.
Die ursprüngliche Trennung vom Partner und das brüchig werdende Vertrau-
en in bestehende private Bezugspersonen und staatliche Hilfestellen sind der Be-
ginn einer stetigen Tendenz hin zu sozialer Isolation (vgl. Hoffmann 2006: 152 f.).
Wenn eine Gestalkte umziehen und die Arbeitsstelle wechseln muss, verliert sie
auch Nachbar_innen und Arbeitskolleg_innen. Außerdem bekommt sie von Poli-
zei und Beratungsstellen in Gesprächen, auf Flyern und Websites universell den
Ratschlag, sich »unsichtbar zu machen«, um das Stalking zu mindern; keine so-
zialen Medien oder Foren zu nutzen, keine öffentlichen Postings zu erstellen,
da diese die Obsession nähren und Informationen über Aufenthaltsorte geben
würden, und ehemals gemeinsam genutzte öffentliche Orte wie das Lieblingsre-
staurant oder den Sportverein zu meiden.13
12 | Dieser Mechanismus bei Gestalkten, denen Hilfe verweigert wird, weil sie Opferklischees
nicht entsprechen, wird auch in Dunn 2002: 13 diskutiert, wie erläutert in Hoffmann 2006: 19.
13 | Eine unkritische Beschreibung des Unsichtbarmachens als »sinnvolle Strategie« findet
sich nebst diversen Beratungsflyern etwa im Abschnitt »Grundlegende Handlungsstrategien im
Umgang mit Stalking« von Stalking. Ein sozialpädagogischer Leitfaden für die Beratung (Wolf-
gramm 2009). Es ist bezeichnend, dass sie nicht im Unterabschnitt »Gefahren durch falsche
174 Katharina Dornenzweig
Der Verlust dieser sozialen Bindungen trifft eine Person, der gerade wieder
und wieder vor Augen geführt wird, dass sie sich in einer geliebten Person grund-
legend getäuscht hat und ihren Schilderungen einer ihre Lebenswelt zunehmend
dominierenden Erfahrung nicht geglaubt wird. So beginnen die Interaktionenmit
Mitmenschen und ihre Persönlichkeit, sich prinzipiell zu verändern. Die gestalkte
Person erlebt nicht nur Furcht, wenn sie akut verfolgt wird (dies berichten 90 %
der Betroffenen, und die Furcht reicht dabei teils hin bis zu Panik; vgl. Hoffmann
und Wondrak 2005). Zwei Drittel der Gestalkten werden zunehmend allgemein
misstrauisch gegenüber Menschen (vgl. Hoffmann, Özsöz und Voß 2004: 41–53
sowie Hoffmann und Wondrak 2005), und sie entwickeln teils massive Ängste
gegenüber Fremden (vgl. Hoffmann 2006: 152). Im Vergleich zu nicht gestalkten
Menschen beschreiben sie sich als weniger kontaktfreudig (41 % statt 78 %) und
leichter zu verschrecken (41 % statt 2 %.) (vgl. Hall 1998). 88 % der von Stalking
Betroffenen (im Vergleich zu 15 % der Gesamtbevölkerung) beschreiben sich als
argwöhnisch; 41 % der Betroffenen – im Gegensatz zu 2 % der Gesamtbevölke-
rung – nehmen sich selbst sogar als paranoid wahr (vgl. ebd.).
Es scheint zunächst erstaunlich, dass sich fast die Hälfte der Gestalkten für
paranoid hält, insofern diese Personen ja tatsächlich verfolgt werden und sich das
nicht nur einbilden, und diese Verfolgung oftmals solch drastische Ausmaße hat,
dass es unmöglich scheint, sie zu leugnen. Allerdings machen die Frauen ja ge-
rade die Erfahrung, dass das Stalking geleugnet oder klein geredet wird; dass sie
anderen nicht begreiflich machen können, was ihnen passiert, und keine Hilfe
bekommen. Es herrscht zwischen der eigenen Wahrnehmung und dem, was für
Mitmenschen sichtbar und nachvollziehbar ist, eine enormeDiskrepanz – wie bei
einer Wahnsinnigen. Und eben wie Wahnsinnige werden von Stalking betroffene
Frauen de facto wieder und wieder behandelt. Was schließlich naheliegenderwei-
se sogar für sie selbst die Frage aufwirft, ob sie wirklich wahnsinnig sind, und
das bloß nicht bemerken, eben weil sie wahnsinnig sind. Hier zeigt sich, wie weit
die Folgen der chronischen Dissonanz zu den angebotenen affektiven Narrati-
ven reichen können. An diesem Punkt wird nicht nur die Kommunikation der
Gestalkten über ihre Situation behindert, sondern ihr »epistemisches Selbstver-
trauen« geschädigt (vgl. Fricker 2009: 163); die Frauen verlieren das Vertrauen in
die eigene Fähigkeit zurWissensproduktion soweitgehend, dass sie ihren eigenen
Erinnerungen und Interpretationen nicht mehr trauen.
Die äußereWahrnehmung als paranoid, die schließlich in die Selbstwahrneh-
mung übergeht, wird noch dadurch verstärkt, dass die Stalkingerfahrungen zu
Folgeschäden führen, die Paranoia ähneln und begünstigen. Depression, Hilflo-
sigkeit und soziale Isolation erhöhen die Wahrscheinlichkeit für die Ausbildung
bzw. in der Fachliteratur umstrittene Handlungsstrategien« auftaucht. Dieser nennt stattdessen
das sofortige Einschalten polizeilicher Maßnahmen, den Besuch von Selbsthilfegruppen oder
das Absolvieren von Selbstverteidigungskursen als umstrittene Strategien.
Die umkämpfte Grenze zwischen Liebe und Stalking 175
oder Steigerung von paranoidenWahnvorstellungen; die andauernde Angstsitua-
tion von Gestalkten kann langfristig mit kumulativen und nur langsam reversi-
blen neurologischen Schäden einhergehen, die Konzentration und klares Denken
erschweren und panische Reaktionen schon auf geringe Stimuli begünstigen.14
So kann schließlich eine für Außenstehende harmlose wirkende Situation – etwa
nach dem Umzug erneut einen Liebesbrief im Briefkasten zu finden – zu pani-
schen Verhaltensweisen und Artikulationen führen, die für Außenstehende über-
haupt nicht mehr nachvollziehbar sind; die Kommunikation bricht vollends ab.
Dissonanz durchdringt nicht nur das Sprechen zuMitmenschen, sondern zuneh-
mend die Relation zur Welt überhaupt: In dieser wird die Gestalkte bedroht und
verfolgt, nicht verstanden, sondern in ihrer Existenz geleugnet, sie passt nicht in
die angebotenen Narrative, Verbindungen zwischen ihr und bestehenden Struk-
turen werden entweder nicht hergestellt oder sind verwirrend und entmutigend.
So geben gestalkte Frauen in der Studie von Jason u. a. an, dass ihr Erleben noch
stärker als durch Bedrohung durch ein Gefühl des »disturbed«-Seins charakte-
risiert sei (vgl. Jason u. a. 1984: 264). Findet dies keine Stimme, die dem Narra-
tivzwang speziell oder auch nur allgemein genügen würde, manifestiert es sich
im Körper und Verhalten der Gestalkten. Charakteristisch sind Essstörungen (die
Hälfte der Gestalkten ist betroffen) und vor Allem Schlafstörungen15 (mehr als
zwei Drittel der schwer Gestalkten; vgl. Pathé und Mullen 1997; Hoffmann und
Wondrak 2005, zitiert in Hoffmann 2006: 153). Darüber zeigen sich unterschied-
lichste weitere körperliche Symptome, vonMagenbeschwerden (43 %) über Kopf-
schmerzen (ein Drittel; vgl. ebd.) zu nervösen Ticks (vgl. Jason u. a. 1984: 264).
Ein Viertel der Gestalkten wird schließlich wegen Stalkingfolgen krank geschrie-
ben, und 24–31 % der Gestalkten werden suizidal (vgl. Zusammenfassungmehrer
Studien bei Hoffmann und Wondrak 2005: 151).
Geprägt durch die Erfahrung der Gestalkten, dass Versuche, sich zu weh-
ren, nicht nur keinen Schutz bringen, sondern das Stalking und seine Aus-
wirkungen verschlimmern (vgl. Jason u. a. 1984: 264) und sie staatlich sonst
nicht geschützt werden, entwickeln Gestalkte teils ein Verhalten, das Johansen
und Tjørnhøj-Thomsen als »Selbstregulierung« beschreiben (vgl. Johansen und
Tjørnhøj-Thomsen 2016): Gestalkte Personen fügen sich den Ansprüchen von Po-
lizei undGerichten, gebenWohnort, Arbeitsstelle und Präsenz in sozialenMedien
auf, ziehen sich immer mehr aus dem öffentlichen Raum zurück und überlassen
diesen dem Stalker.16 Außerdem entwickeln sie individuelle Sicherheitsroutinen,
14 | Vgl. Vortrag von Eva Schumann und Oliver Hetmanek auf der Stalkingkonferenz 2017.
15 | Mit Schlafen und Essen sind bemerkenswerterweise gerade die Grundhandlungen betrof-
fen, die für Rosa Resonanz mit der Umwelt anzeigen – vgl. Rosa 2016: 1.II.1.
16 | Dass gestalkte Frauen somit aus der Öffentlichkeit gedrängt werden, zwingt sie in eine
klassische Frauenrolle, vermindert ihre Möglichkeiten, gehört zu werden, Hilfe zu bekommen und
sich mit anderen Gestalkten zu vernetzen, und zementiert den Eindruck, es handele sich bei
176 Katharina Dornenzweig
die ihre Alltagsentscheidungen prägen (etwa Umwege fahren, Passwörter stän-
dig wechseln, zusätzliche Schlösser in der Wohnung anbringen und wiederholt
nervös kontrollieren, sich immer wieder nach dem Stalker umschauen). Durch
diese Praktiken bekommt der Stalker eine dauerhafte Präsenz in denHandlungen
der Gestalkten, auch wenn er sich nicht zeigt. Dass sie ihn gerade nicht sehen
können, heißt schließlich nicht, dass er nicht online mitliest, sie wieder aufspürt,
sie hinter einemBibliotheksregal oder derHecke beimKindergarten ihrer Tochter
getarnt beobachtet, wieder in ihre Wohnung einbrechen und dort auf sie lauern
wird; jedes Klingeln des Telefons, jeder Brief im Briefkasten, der Mann, der dort
vorne im Dunkel der Hauswand steht, könnten wieder er sein. Die Ungewissheit,
ob er sie gerade beobachtet oder nicht, mindert die Furcht nicht; sie wird dadurch
verstärkt (vgl. Heidegger 1976 [1927]: 187). Die Selbstregulierung der Gestalkten
ähnelt der Selbstdisziplinierung durch die Insassen in Jeremy Benthams Panop-
ticon, wie es etwa durch Michel Foucault in Überwachen und Strafen interpretiert
wurde (vgl. Johansen und Tjørnhøj-Thomsen 2016):
»DieWirkung der Überwachung ist ›permanent, auch wenn die Durchführung sporadisch ist‹;
die Perfektion der Macht vermag ihre tatsächliche Ausführung überflüssig zu machen […]
[D]ie Häftlinge sind Gefangene einer Machtsituation, die sie selber stützen. […] Derjenige,
welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der
Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis[,] […] er
wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.« (Foucault 1976 [1975]: 258–260)
All dies lässt erkennen, dass Stalking weit über eine bloße Summe punktuel-
ler Handlungen des Nachstellens hinaus einen permanenten und dichten Erfah-
rungskomplex bildet. Dieser wird wiederum vor allem durch sexistische affektive
Narrative gerahmt, die problematische Opferrollen vorgegeben, auf die gestalkte
Frauen wieder und wieder stoßen, sei es explizit in Popkultur und Gesetzgebung,
oder implizit in Form von Erwartungshaltungen in mikrosozialen Interaktionen.
Der erschwerte Zugang zu angemessenen, selbstbestimmten und ermächti-
genden affektiven Narrativen, der Zwang, speziellen, verzerrenden Narrativen zu
entsprechen, und der Zwang, reale Erfahrung generell in eine narrative Rahmung
einzugliedern, stören nicht nur die Wissensbildung der Betroffenen. Diese alltäg-
lich wirksamen Zwänge in Bezug auf eine so traumatisierende Gewalterfahrung
wie schweres Stalking können zu einer grundlegenden Störung der Relation zwi-
schenGestalkter undMitmenschen führen, die drastische Auswirkungen auf ihre
Handlungsmacht und Identität hat. Diese gestörte Relation nenne ich affektive
Dissonanz.
Stalking um ein privates Unglück statt um strukturelle, gesellschaftliche Gewalt. Dies ist ein
systematisches Problem für gestalkte Frauen.
Die umkämpfte Grenze zwischen Liebe und Stalking 177
6 Fazit und Ausblick
In Gesellschaften der Gegenwart, die durch digitale Medien geprägt sind, treten
gewaltvolle Verhaltensweisen, die wir mittlerweile als »Stalking« bezeichnen, in
einer bisher nicht dagewesenen Intensität und Häufigkeit auf. Diese Gewaltform
wird noch nicht hinreichend konzeptualisiert und gesellschaftlich verurteilt; sie
bleibt nahezu ausnahmslos straffrei und wird popkulturell sogar romantisiert,
erotisiert und verharmlost.
Was fehlt, ist deutlich mehr als nur ein Begriff wie »Stalking« oder eine da-
zugehörige Definition, denn die Gewalt des Stalkings wird in einem umfassen-
denGefüge diskursiver und affektiver Relationen gesamtgesellschaftlich gerahmt.
Diese Rahmungen stellen nicht nur Deutungen der Stalkingerfahrung dar, son-
dern setzten Relationen zu ihr, die bestimmte Umgangsweisen damit erschließen
und andere erschweren. Als ein neuer Zugriff auf solche Rahmungen wurde das
Konzept der affektiven Narrative vorgeschlagen.
Die untersuchten affektivenNarrative in Rechtsetzung und Popkulturmachen
Stalking schwer greifbar und ermächtigende Reaktionen darauf schwer denkbar.
Dies zu kritisieren ist nur der erste Schritt; vor allemmüssen neue affektive Narra-
tive, in denen Betroffene gemeinsam alternative Deutungs- und Handlungsmög-
lichkeiten aufzeigen, eine Stimme bekommen. Es braucht dafür nicht nur eine
Anerkennung der sehr unterschiedlichenWeisen, wie Betroffene aktuell mit Stal-
king umgehen, sowie die Entwicklung von weiteren widerständigen Umgangs-
weisen, sondern auch stärkere Entwürfe, wie Liebe jenseits von Stalking gelebt
werden kann.17
Aktuell wird Stalking überwiegend als eine unangemessen übertriebene Form
einer im Kern positiven Weise zu lieben gerahmt. Unser Konzept von Liebe ist
intrinsisch überlagert von Besitz, Kontrolle und Eifersucht. Unser Sprechen über
Liebe ist geprägt von martialischen und pathologischen Metaphern, von der Idee,
dass wirkliches Verliebtsein Wahnsinn ähnelt, und Liebe nicht geschenkt, son-
dern das Anrecht darauf erkämpft wird. Von der Annahme, dass eine Frau ihren
Wert dadurch unter Beweis stellt, dass sie Desinteresse vorgibt, und ein Mann
seine Ernsthaftigkeit dadurch unter Beweis stellt, dass er diese Willensäußerung
ignoriert und sie trotzdem verfolgt. Von der Annahme, dass die Handlungen von
Liebesgeschichten genau solche gestörte Kommunikation benötigen, um aufre-
gend zu sein. So muss die klare Abgrenzung zwischen Stalking und akzeptabler
Liebeswerbung und damit auch die rechtlicheHandhabe von Stalking zwangsläu-
fig scheitern. Es fehlt hier nebst Kritik ein Alternativentwurf, der berührt; etwa
dafür, wie genuin leidenschaftlich geliebt werden kann, ohne dass die Selbstbe-
stimmung der geliebten Personmissachtet wird (Geschichten über die praktische
Umsetzung von enthusiastic consent wären dafür zum Beispiel ein erster Ansatz.)
17 | Vgl. hierzu Grossberg 1992: 72 zu »sensibilities« oder Churcher 2018 zu »critical re-
imagining«.
178 Katharina Dornenzweig
Der Fokus dieses Textes lag auf den konkreten Auswirkungen auf gestalkte
Frauen, wenn solche Erzählungen rar sind, und sie stattdessen mit affektiven
Narrativen konfrontiert werden, die ihre Gewalterfahrungen verharmlosen und
ihnen Umgangsweisen nahelegen, die nicht ermächtigen, sondern befremden.
Dies wurde über die Konzepte des allgemeinen und speziellen Narrativzwangs er-
schlossen. Dabei wirkt letzterer als Druck, den speziellen, in einem kulturellen
und situativen Kontext verfügbaren affektiven Narrativen zu entsprechen, sei es
als geheim geschmeichelte Frau oder als panisch fliehendes Opfer, und den damit
einhergehenden Weisen, in Bezug auf Stalking zu sprechen, zu handeln und zu
fühlen. Dies steht den heterogenen Identitäten gestalkter Frauen und ihren kom-
plexen und unterschiedlichen Erfahrungen zuwider. Allgemeiner Narrativzwang
dagegen setzt noch grundlegender an; als ein Druck, in Artikulationen undHand-
lungsweisen, wenn schon nicht einem bekannten Muster, so überhaupt einem
für Außenstehende narrativ nachvollziehbaren Muster zu folgen. Für die Erzäh-
lungen, Verhaltensweisen und nicht-sprachlichen Artikulationen durch Stalking
traumatisierter Frauen, die oftmals durch Brüche und das Wegbrechen des bis-
herigen Sinnfundaments geprägt sind, wird kein Raum gelassen. Neue affektive
Narrative beginnen zwangsläufig in Fragmenten; eben solche Fragmente werden
jedoch ignoriert, anstatt hinzuhören – Fricker (2009: 169–176) fordert an dieser
Stelle »virtuous listening« – und sie gemeinsam weiter zu entwickeln. Auch hier
besteht dringender Änderungsbedarf.
Die Auswirkungen narrativer Zwänge in mikrosozialen Interaktionen mit
gestalkten Frauen wurden anhand empirischer Daten untersucht. Es zeigt sich
massives Leiden bei den Gestalkten. In Bezug darauf, dieses zu interpretieren
und zu verbalisieren, zeigen sich schwerwiegende Störungen. Damit einher
gehen eine Außenwahrnehmung als nicht glaubwürdig, soziale Isolation und
folglich große Schwierigkeiten, Hilfe zu bekommen. Langfristig kommt es zu
traumatischen Auswirkungen auf das Selbstbild, das Weltbild (die Welt wird
bedrohlich und unverständlich), die Wahrnehmung und das Vertrauen in das
eigene Wissen. Dazu kommen leibliche und performative Störungen, vor allem
gekennzeichnet durch Schlaf- und Essstörungen und eine Selbstdisziplinierung,
die einen Rückzug aus öffentlichen Räumen beinhaltet.
Diese Auswirkungen gehen über Probleme in der Ausbildung und Verbrei-
tung von Wissen hinaus; sie zeigen eine grundlegenden Störung des Verhältnis-
ses zwischen gestalkten Frauen und ihrer Welt, die sich auch emotional, leiblich
und performativ in ihren Interaktionen mit Mitmenschen äußert. Hierin liegt
also ein Moment der sozialen Subjektivierung und Unterwerfung, das jenseits
der epistemischen Funktion eines geteilten Wissens zu verorten ist; ich habe die
dem zugrundeliegende gestörte Relation als affektive Dissonanz bezeichnet und
verdeutlicht, wie dadurch Möglichkeiten der gestalkten Frauen, ihr Umfeld zu
affizieren, gehört zu werden, eigene Narrative vorzubringen und Widerstand zu
leisten, einschränkt werden. Sie werden so in Netzwerken systematisch isoliert
und in ihrer Wirkungsmacht beschränkt.
Die umkämpfte Grenze zwischen Liebe und Stalking 179
Diese Situation dauert noch an, und sie darf nicht länger hingenommen wer-
den.
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More Substance Than a Selfie?
Affektökonomien des Authentischen beim Onlinedating
Jule Govrin
»We know you’re more substance than just selfie. Give
OkCupid.com a try to connect with people as individual as
1
you are.«
1 Einleitung
Lust und Liebe gelten als Freihandelszonen der intimen und intensiven Gefühle.
Dort, wo sich Affekte ballen, ist der Zugriff des Marktes stark. Die Kuppelei, ein
als zwielichtig verschrieener und dennoch in verschiedensten Epochen etablierter
Berufsstand, setzt sich in neuer Gestalt in Dating-Websites und Apps wie Parship,
OkCupid, ElitePartner, Tinder, Grindr, PlanetRomeo, eDarling fort, die je nach
Klientel und Nachfrage variieren.
Auf User-Profilen der seit 2004 aktiven Dating-Website OkCupid findet sich
rechts etwa folgende tabellarische Zusammenfassung: Pansexual. Bisexual, Het-
eroflexible. Woman. Single. 175 cm. Curvy. White. Speaks English and some German.
Smokes regulary. Drinks socially. Looking for people, within 25 miles, ages 28-42, short &
long term dating and hookup. Mittig findet sich ein Themenkatalog zum Ausfüllen,
ganz ähnlich den Freundschaftsbüchern, die in den 1990er Jahren auf Schulhö-
fen kursierten: My self-summary. What I’m doing in my life. Favorite books, movies,
shows, music, and food. My partner should be. Unter der Sparte The first thing people
notice about me soll die Nutzer_in ihr Alleinstellungsmerkmal preisgeben, ihren
unique selling point.
1 | Diese Selbstdarstellung findet sich auf dem Blog von OkCupid: https://theblog.okcupid.
com/https-theblog-okcupid-com-casual-sex-and-politics-in-2017-eadbeaee0c4d.
Mühlhoff, R.; Breljak, A.; Slaby, J. (Hg.): Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie
der Digitalen Gesellschaft. transcript 2019, S. 183–202. DOI: 10.14361/9783839444399-
008.
184 Jule Govrin
Solche Selbstdarstellungen in Stichpunkten und Sparten sind in den Forma-
ten des Onlinedatings überaus gängig. Obzwar die Darstellungsweisen auf stark
standardisierten Formen beruhen, sind die Nutzer_innen dazu angerufen, sich
alsmöglichst singulär und authentisch zu präsentieren.Wie verfährt diese Auffor-
derung innerhalb des Selbstdarstellungsrasters, das die Websites aufrufen? Wie
wird in den Affektökonomien des Onlinedatings Authentizität inszeniert? Um
diesen Fragen nachzuspüren, verfolge ich die Vermutung, dass sich die episte-
mische Kopplung von Identität, Authentizität und Begehren im Dispositiv des
Matchmakings neu formiert. Dabei ist der Aufruf, sich als singuläres und authen-
tisches Selbst zu stilisieren, kein Alleinstellungsmerkmal von Dating-Websites
wieOkCupid. Vielmehr scheint der Appell zumAuthentischen symptomatisch für
spätkapitalistische Subjektivierungsweisen zu sein. Der Phänomenbereich des
Onlinedatings könnte daher weitergehende Einblicke eröffnen, wie sich Subjek-
tivierungen in digitalen Gesellschaften verändern.
ObNutzer_innen auf der Suche nach der ewig währenden Romanze oder dem
schnellen Sex sind, beim Onlinedating geht es um Begehren. Progressiv auftre-
tende Unternehmen wie OkCupid und Tinder, die beide der US-amerikanischen
Firma InterActiveCorp gehören, machen ein breites amouröses Angebot.
Die seit 2012 existierende Dating-App Tinder ist recht minimalistisch gestal-
tet, die Benutzer_in sieht die anderen User-Profile wie auf einem Kartenstapel
angeordnet. Unter dem Profilfoto stehen knappe Angaben wie Name und Alter.
Nur beim Klicken auf den unteren Teil der Profilkarte tauchen mehr Informa-
tionen wie eine einzeilige Selbstbeschreibung auf. Der zentrale Mechanismus
ist das Swipen, mit einem Wischen nach links beziehungsweise rechts über den
Bildschirm des Smartphones werden die Profile entweder aussortiert oder in die
Liste von möglichen Matches einsortiert. Nur wenn sich zwei User als mögliche
Matches akzeptieren, können sie miteinander in Kontakt treten.
Während das Anwendungsformat von Tinder wenig Modi und Möglichkeiten
zur Selbstbeschreibung gibt, bietet OkCupid mehr individuellen Spielraum. Dies
zeigt sich in besagtem Themenkatalog, in dem die Nutzer_innen zu ihrer Per-
sönlichkeit, ihrem Leben und ihren Wünschen schreiben. Auch die angestrebten
Beziehungsformen kann man in verschiedenen Kategorien bestimmen:Hookup,
New Friends, Short-time dating, Long-time dating, was jeweils mit der Angabe kom-
biniert wird, ob man monogam oder non-monogam daten möchte. Durch diese
Sichtbarmachung von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt hebt sich OkCupid
von anderen Anbietern ab. So lassen sich nebenmännlich/weiblich zahlreiche an-
dere geschlechtliche Identifizierungen angeben. Auch sexuelle Präferenzen und
Orientierungen sind in entsprechenden Kategorien ausdifferenzierbar: Pansexu-
ell. Omnisexuell. Polysexuell. Asexuell. Demisexuell. Allosexuell. Sapiosexuell. Diese
progressive Möglichkeit der Selbstbestimmung des eigenen Begehrens ist ein
Späteffekt der gesellschaftlichen Liberalisierung nach 1968, der sexuellen Revolu-
tion, der Frauen-, Schwulen- und Lesbenbewegungen in den 1970er und 1980er
More Substance Than a Selfie? 185
Jahren. Eröffnet OkCupid damit einen heterotopen Raum, in dem die Nutzer_in-
nen Identitätsgrenzen überwinden und sich frei entfalten können?
Weiter unten im Profil findet sich unter der Rubrik Personality eine Anein-
anderreihung von Adjektiven: Less Ambitious. More Dominant. More Sex-driven.
Less Suave. More Literary. Less Friendly. More Political. Mit Mitteln der Psychome-
trie präsentiert der Betreiber hier quantitativ erstellte Persönlichkeitsbilder sei-
ner User. Informationen für diese psychometrische Berechnung liefern sowohl
die Hauptseite des Userprofils mitsamt den Themensparten zur Selbstbeschrei-
bung, die es auszufüllen gilt, als auch die dahinter liegende Seite, auf die man
mit einem Klick kommt: Hier steht ein sich ständig erweiternder Fragenkata-
log zu verschiedenen Überthemen wie Lifestyle, Ethics, Sex, Dating, Religion. Mit
diesen Fragen zu ihren Charakterzügen, ihren Gepflogenheiten, ihren Ansich-
ten und Vorlieben fordert und fördert OkCupid den individuellen Selbstausdruck
der User. Zugleich errechnet die Website anhand der Antworten mit quantitativ-
psychometrischen Mitteln Persönlichkeitsprofile. Auf den ersten Blick scheinen
diese beidenOperationenwidersprüchlich, soll doch das Singuläremit demAllge-
meinen, das Authentische mit dem Standardisierten vereint werden. Außerdem
zeugen die psychometrischen Auswertungen von einem rationalistischen Zugriff
auf affektive Dynamiken. Ich erachte diese scheinbaren Selbstwidersprüche al-
lerdings als symptomatisch für spätkapitalistische Subjektivierungsformen. Die
Annahme von dem singulären Verlangen eines Individuums wird mit der An-
nahme kombiniert, dass Begehren benennbar sei, wodurch es als berechenbar
und bewertbar gilt. Diese Paradoxie ist dem Begehren ideengeschichtlich einge-
schrieben, sie ist sogar eine der Kernparadoxien des Sexualitätsdispositivs.
Im Phänomenbereich des Onlinedatings zeigt sich diese Paradoxie besonders
deutlich. Dort sollen sich die Nutzer_innen möglichst singulär darstellen, wobei
dies in und durch standardisierte Formen geschieht. Um dieses Verhältnis von
Standardisierung und Singularität nachzuvollziehen, muss man betrachten, wie
Lebensbereiche liberalisiert und zugleich kommerzialisiert werden. Hierzu hilft
als methodologischer Zugriff das von Gilles Deleuze und Félix Guattari einge-
brachte Begriffspaar der De- und Reterritorialisierung.
2 Begehren als affektökonomische Analysekategorie
Deterritorialisierung und Reterritorialisierung bezeichnen sowohl die Bewegun-
gen des Begehrens als auch Dynamiken des Kapitalismus. Begehren birgt subver-
sives Potenzial, indem es soziale Normen und festgeschriebene Identitäten über-
schreitet (Deleuze und Guattari 1974: 45). In dieser Überschreitungsbewegung
deterritorialisiert es sich. Für Deleuze und Guattari liegt in dieser Begehrensbe-
wegung politische Hoffnung, denn für sie bedeutet das Festhalten an Identität,
dass Subjekte immerwieder in ihre sozialenRollen zurückgebunden und dadurch
regierbar werden. Das frei fließende Begehren hingegen würde soziale Beziehun-
186 Jule Govrin
gen ohne hierarchisch organisierte Identitäten ermöglichen. Da jedoch De- und
Reterritorialisierung immer miteinander einhergehen, wird auch das befreite Be-
gehren in ideologischen Rahmenkonstruktionen oder den Rechenrastern des Ka-
pitals zurückgebunden – es reterritorialisiert sich.
Man kann beispielsweise die Liberalisierungseffekte durch die sexualemanzi-
patorischen Schwulen-, Lesben- undQueer-Bewegungen ab den 1970er Jahren bis
in die Gegenwart als Deterritorialisierung von heterosexuellen Normen begrei-
fen. Eine Form der Reterritorialisierung findet sich in der 2017 in Deutschland
eingeführten »Ehe für Alle«, die queere Begehrensartikulationen in bürgerliche
Lebensentwürfe und rechtsstaatliche Kategorien zurückbindet. Inmarktlogischer
Hinsicht zeigt sich die Reterritorialisierung etwa darin, dass sich ab den 1990er
Jahren eine pink economy herausbildete, die Schwule und Lesben gezielt als Kon-
sument_innen adressiert (vgl. Engel 2009).
Deleuze und Guattari verstehen Begehren nicht als sexuelles Verlangen eines
Individuums, sondern als transsubjektive, sozialmobilisierende Kraft, die Sub-
jektivierungen hervorbringt. Als ontologische Kraft treibt Begehren auch kapita-
listische Prozesse an, die ebenfalls der de- und reterritorialisierenden Dynamik
folgen. Man kann das Aufbegehren von Mai ’68 und die sexuelle Revolution als
Ausbruch aus sexualrepressiven Gesellschaftsverhältnissen sehen, als Deterrito-
rialisierung. Doch die sexuelle Revolution bedeutete nicht nur, dass sich Begehren
befreite, sie ging auch damit einher, dass Sexualität wirtschaftlich umstrukturiert
wurde. Zumeist mündet die Feststellung, dass Erotik und Intimität in den letz-
ten Jahrzehnten in den Fokus der Werbewelt rückten und hyperkommerzialisiert
wurden, in polemischer Kritik an den Bewegungen von 1968. Ein genauerer Blick
auf die geschichtlichen Ereignisse zeigt jedoch, dass die wirtschaftlich angetriebe-
ne ›Sex-Welle‹ in Deutschland bereits in den 1950er Jahren einsetze, wie es durch
das 1951 gegründete Erotikversandhaus Beate Uhse deutlich wird. Dabei stellt die-
se Entwicklung der Reterritorialisierung des Sexuellen nicht zwangsläufig einen
Rückschritt dar, denn der Umgang mit Sexualität blieb weiterhin liberal. Diese
Dynamik setzt sich im Phänomenbereich des Onlinedatings fort, wo freigesetz-
tes Begehren in die Marktlogik zurückgebunden und in die Bahnen von Angebot
und Nachfrage gelenkt wird (vgl. Dröge und Voirol 2011).
Um derartige Doppelbewegungen zu begreifen, vertrete ich ein in sich gedop-
peltes Verständnis von Begehren, einen ontologischen Begriff im Sinne von De-
leuze und Guattari, der Begehren als jene transsubjektive Triebkraft auffasst, und
einen historischen, machtanalytischen Begriff. In epistemologischer Perspektive
auf Begehren gilt es, dessen Verhältnis zur Kapitalismusgeschichte in den Blick
zu bekommen, denn die Konsumkultur hat »die Subjektivität über die Sexuali-
tät in ihren Dienst gestellt«, so dass »die Gefühls-, Gender- und Konsumenten-
identitäten zugleich durch die Inszenierung sexueller Bedeutungen koproduziert
werden« (Illouz 2017: 22).
Michel Foucault hat in seinem Spätwerk aufgezeigt, dass die Idee der Sexua-
lität eine moderne ist, die sich im 18. Jahrhundert zu einem Dispositiv herausbil-
More Substance Than a Selfie? 187
dete. In diesem Dispositiv sind Konzepte von Identität unauflöslich mit der Frage
nach dem vermeintlich ›authentischen‹ Begehren verbunden. In den diskursi-
ven Praktiken christlicher Beichtrituale und autobiografischer Geständnislitera-
tur über sexuelle Ausschweifungen entsteht eine Form der Macht, die Foucault
als Pastoralmacht bezeichnet (Foucault 1977). Darin wird die Idee der Identität
epistemologisch mit sexuellem Verlangen und Authentizität verkoppelt. Begeh-
ren wird als Wahrheit des Subjekts betrachtet, das sein heimliches Verlangen ge-
stehen muss, ob im Beichtstuhl oder im Tagebuch. In diesen Diskursivierungs-
praktiken entwirft sich das Subjekt als Subjekt seines Begehrens. In der reflexiven
Rückwendung auf das ›authentische‹ Begehren stellt sich performativ die Wahr-
nehmung von Innerlichkeit und der Erlebnischarakter des angeblich Authenti-
schen her. Weil sich ›authentische‹ Empfindungen als Effekte diskursiver Leitung
und Lenkung erweisen, lässt sich jedoch schwerlich von wirklich authentischen
Gefühlsausdrücken ausgehen.
In der Spätmoderne wird der Wunsch nach dem authentischen Selbsterleben
zu einem Messwert von gelungener Individualität. Die anonyme pastoralmächti-
ge Geständnisliteratur und die geheim gehaltene Beichte bilden nach innen ge-
wendete Praktiken der Seelenführung, die sich heutzutage in zahlreichen The-
rapieangeboten fortsetzen (vgl. Maasen 1997). Indessen spornen soziale Medi-
en und Dating-Websites ihre User zu narzisstischer Zeigelust an. Dieser Wandel
von einer Beziehung der Innerlichkeit zu exhibitionistischer Selbstinszenierung
zeugt von dem Wandel des Sexualitätsdispositivs. Wurden vor der sexuellen Re-
volution explizit sexuelle Äußerungen sozial sanktioniert, werden nun Subjekte
offen dazu aufgerufen, sich als Begehrenssubjekte und -objekte zu inszenieren.
Ab den 1980er Jahren verkehrt sich die weltabgewandte Selbstfindung zu »welt-
zugewandter Selbstverwirklichung«, welche sich gegenwärtig in den Arenen der
sozialen Medien niederschlägt (Reckwitz 2018: 291). Daher sind soziale Medien,
insbesondere Dating-Websites, als Späteffekte der Pastoralmacht zu begreifen.
Diese neuen Formate rufen die epistemologische Kopplung von Begehren, Au-
thentizität und Identität auf und aktualisieren sie.
Die Topoi des Begehrens, der Authentizität und der Identität haben starke
affektive Strahlkraft, da sie die intimsten Regungen der Menschen ansprechen.
Zugleich sind sie in Prozesse der Rationalisierung und Ökonomisierung einge-
bunden. Wie Foucault weiterhin darlegt, ist unserer Vorstellung von Sexualität
der Drang zum Messen und Bewerten eingeschrieben. Der Glaube der christli-
chenBeichtpraktiken, dass die geheimen lüsternenWünsche denWesenskern der
Menschen entblößten, wird Foucault zufolge während der aufklärerischen Säku-
larisierung von den Humanwissenschaften aufgenommen (Foucault 1977: 38 f.).
Folglich ist die Annahme, dass das sexuelle Verlangen unsere Identität ausmacht,
einemoderne Idee, die dem aufklärerischen Drang geschuldet ist, Menschen wis-
senschaftlich zu erfassen. Dabei bildete sich auch die Sexualwissenschaft als ei-
gene Disziplin heraus. Eines ihrer Gründungswerke ist die 1886 erschienene Psy-
chopathia sexualis von Richard von Krafft-Ebing. Penibel aufgelistet und kategori-
188 Jule Govrin
siert finden sich darin sämtliche dem Forscher bekannten Perversionen. Dieser
Versuch einer Vermessung der Lüste hat sich in vielfachen Formen ins 20. Jahr-
hundert und bis in unsere Gegenwart fortgesetzt. Doch wie kommt es, dass der
Topos des Authentischen als Ausdruck subjektiver Innerlichkeit mit Operationen
der Vermessung und Berechnung verbunden ist, die dem wissenschaftlichen Ob-
jektivitätsideal unterstehen?
Während der aufklärerische Diskurs ab dem 18. Jahrhundert Authentizität mit
der Rationalität mündiger Bürger assoziiert, wird sie in der Deutschen Romantik
affektiv aufgeladen, zum Sehnsuchtsort des Individuums verklärt und dem Sin-
gulären symbolischer Wert zugesprochen (vgl. Dietschi 2012). Damit prägt die
Romantik ein affektiv-atmosphärisches Bild von Eigentlichkeit und Einzigartig-
keit, das im Kontrast zum Rationalitätsglauben der Aufklärung steht. Die Ideen-
geschichte der Authentizität ist außerdem, wie erwähnt, von pastoralmächtigen
christlichen Beichtpraktiken geprägt, wobei die Humanwissenschaften ab dem
19. Jahrhundert die epistemologische Kopplung von Authentizität, Begehren und
Identität unter säkularenVorzeichen aufgreifen. Im späten 20. Jahrhundert bricht
dann das »Zeitalter der Authentizität« (Taylor 2009: 788 ff.) an. Im Anschluss an
die »postromantische Authentizitätsrevolution nach 1968« (Reckwitz 2018: 287)
werden Subjekte vehement dazu aufgefordert, sich selbst zu verwirklichen und
möglichst individuell zu entfalten, wodurch der Topos des Authentischen gesamt-
gesellschaftlich an symbolischem Wert gewinnt. Während man jedoch zu Zeiten
der sexuellen Revolution das Authentische als postkapitalistische Utopie ersehn-
te, ist Authentizität als affektiver Sehnsuchtsort spätestens seit den 1980er Jahren
und den damaligen New-Age-Bewegungen, die sich auf Selbstfindung innerhalb
des gegebenen Systems kaprizierten, marktkompatibel geworden. Authentisch-
Sein ist ein Anspruch, den das spätmoderne Subjekt erfüllen muss, um sich im
sozioökonomischen Wettbewerb zu behaupten. Um möglichst singulär zu sein,
muss es sich ausdifferenzieren und von anderen distinguieren. Andreas Reck-
witz bezeichnet diese Entwicklung von 1968 bis in die Gegenwart als Paradig-
menwechsel vom Allgemeinen hin zum Singulären:
»Das spätmoderne Selbst performed sein (dem Anspruch nach) besonderes Selbst vor
den Anderen, die zum Publikum werden. Nur wenn es authentisch wirkt, ist es attraktiv.
Die allgegenwärtigen sozialen Medien mit ihren Profilen sind eine der zentralen Arenen
dieser Arbeit an der Besonderheit. Das Subjekt bewegt sich hier auf einem umfassenden
sozialen Attraktivitätsmarkt, auf dem ein Kampf um Sichtbarkeit ausgetragen wird […]. Die
Spätmoderne erweist sich so als eine Kultur des Authentischen, die zugleich eine Kultur
des Attraktiven ist.« (Reckwitz 2018: 9 f.)
Diese Beobachtung lässt sich auch auf Sexualität übertragen, vor allem, da die
Idee der Authentizität ideengeschichtlich untrennbar mit Begehren und sexuel-
ler Identität verbunden ist – ein Aspekt, den Reckwitz in seiner Gesellschafts-
theorie der Singularitäten gänzlich ausspart und dem ich im Folgenden nachge-
More Substance Than a Selfie? 189
he. Dass Dating-Websites Attraktivitätsmärkte herstellen und dass deren virtuelle
Infrastrukturen soziale Beziehungen wie ökonomische Transaktionen gestalten,
ist vielfach festgestellt worden.2 Vor dem Hintergrund, dass Authentizität in den
Aufmerksamkeitsökonomien der Gegenwart derartige Hochkonjunktur erfährt,
bleibt zu fragen, wie der Imperativ, authentisch und individuell zu sein, Identi-
tät verhärtet, statt sie aufzulösen, und Subjekte in ihrem Begehren berechenbar
erscheinen lässt.
3 Die Intimität des Anonymen und der Wert
des Authentischen
Es ist ein gängiges Narrativ, dass die frühe Phase des Internets in den 1990er
Jahren als subversives Spiel mit Anonymität erschien, während in der Gegen-
wart Klarnamenpflicht sowie Verifizierung- und Authentifizierungsszwänge herr-
schen. An dieser Stelle kann nicht die Geschichte des Onlinedatings erzählt wer-
den, dennoch sei auf das schwule Datingportal PlanetRomeo verwiesen, das 2002
unter dem Namen GayRomeo in Berlin gegründet wurde (vgl. Quetsch 2011). Wie
andere Anbieter arbeitet PlanetRomeo mit der Funktion, dass die User ihre sexu-
ellen Vorlieben kategorisch auflisten können. Markenzeichen von PlanetRomeo
ist der Umstand, dass es innerhalb der schwulen Community Berlins gegründet
wurde und mithin in einer traditionsreichen Sexualkultur, die der Intimität des
Anonymen erotischen Wert beimisst. Dennoch galt die Website bald als »schwu-
les Einwohnermeldeamt«, das zur Vernetzung innerhalb der Community beitrug
(vgl. Quetsch 2011: 123). Es gibt jedoch Stimmen, die kritisieren, dass PlanetRo-
meo just jene Räume zerstöre, die Darkrooms und Saunen entvölkere, die diese
sexuelle Kultur ausmachen.3
Sexualitätsgeschichtlich hat die Sichtbarkeit von homosexuellen Begehrens-
formen und Beziehungsweisen stets zu einem liberaleren Umgang mit hetero-
sexuellen Fragen geführt (vgl. Herzog 2011). Schwule, lesbische und queere Sex-
kulturen wirken als avantgardistische Vorboten der libidinösen Liberalisierung
2 | Qualitative soziologische Studien wie unter anderem von Eva Illouz und Kai Dröge sowie
Olivier Voirol zeigen, dass sich die Nutzer_innen durchaus bewusst sind, wie sich auf dem vir-
tuellen Markt des Onlinedatings soziale Beziehungen wie ökonomische Transaktionen gestalten
(Illouz 2007b; Dröge und Voirol 2011: 346; Stempfhuber und Wagner 2018: 120 f.; Elison, Heino
und Gibbs 2010). Man mag diese These nicht gänzlich teilen, dennoch deutet sie darauf hin,
dass die User ihren mitunter rationalistischen Umgang mit amourösen Fragen, wie er von den
Onlinedating-Portalen gefordert wird, reflektieren. Es wäre verfehlt, von der Naivität der Nut-
zer_innen auszugehen, vielmehr sollte man annehmen, dass sie wissen, wie schwierig es ist, in
derartigen Standardformaten ihre Authentizität auszudrücken.
3 | Zur Entwicklung von schwulen Onlinedating-Kulturen bei PlantetRomeo oder neuen Anwen-
dungen wie Grindr vgl. Miskolci 2017; McGlotten 2014; Shield 2018.
190 Jule Govrin
(vgl. Hennessy 2000). Da diese Liberalisierung oftmals mit Kommerzialisierung
einhergeht und sich das deterritorialisierte Begehren reterritorialisiert, ist es in-
teressant zu beobachten, was passiert, wenn queere Lebens- und Liebesentwürfe
im Mainstream ankommen. Dies ist der Fall bei PlanetRomeo. Die Vermischung
von Freundschaftmit sexueller und romantischer Partnersuche, der lustvolle Um-
gang mit anonymer Intimität, das Experimentieren mit mehreren Profilen, das
selbstgestalterische Unternehmen, sich als Begehrenssubjekt und -objekt zu ent-
werfen – ähnliche Praktiken wie bei PlanetRomeo pflegen sicherlich auch Nut-
zer_innen von Tinder und OkCupid. Man kann diese Tendenzen als Deterritoria-
lisierung von klassischen Beziehungsmodellen begreifen. Außerdem zeugt die
Mannigfaltigkeit sexueller Vorlieben und Identifizierungen davon, dass sich das
heteronormative Identitätsraster ebenfalls deterritorialisiert, da sich dessen Kate-
gorien von homo/hetero undmännlich/weiblichmultiplizieren und ausdifferenzie-
ren. Dating-Websites bergen also durchaus subversives Potenzial. Dennoch ist zu
beachten, dass die Messbarkeitsmechanismen von Tinder und OkCupid, die im
Hintergrund, im Backend dieser Anwendungen arbeiten, aktuelle Identitäts- und
Authentizitätsvorstellungen in einer Wettbewerbslogik vorantreiben.4 Die Deter-
ritorialisierung beim Onlinedating führt dazu, dass sexuelle und geschlechtliche
Identitäten, Vorlieben und Beziehungsweisen freier wählbar sind. Trotzdem ist
der Zweifel angebracht, dass in der Reterritorialisierung Identität nicht gänzlich
aufgelöst, sondern lediglich multipliziert und flexibler gestaltet wird.
Aktuelle Abhandlungen über Authentizität verweisen auf eine weitere Kern-
paradoxie der Moderne: Je entfremdeter sich Menschen fühlen, desto drängen-
der wenden sie sich an therapeutische Angebote, die zur Rationalisierung ihrer
Gefühle beitragen und wiederum Entfremdungseffekte hervorrufen (vgl. Hoch-
schild 2006). Diese Paradoxie zeigt sich besonders deutlich im Spielfeld des Se-
xuellen. Einerseits beruht sexuelle Identität auf der Idee eines authentischen Be-
gehrens, andererseits ist sie durch und durch sozioökonomisch geformt, wodurch
sich Subjekte als entfremdet empfinden, was Authentizität umso begehrenswer-
ter macht. Wenn Nutzer_innen sich in standardisierten Kategorien zu repräsen-
tieren versuchen und sich, wie qualitative soziologische Studien zeigen, über die
konsumkapitalistische Gestaltung dieses virtuellen Attraktivitätsmarktes bewusst
sind (vgl. Dröge und Voirol 2011: 346), lässt sich dies als Entfremdungserfahrung
begreifen. Doch Menschen wissen sich in paradoxen Konstellationen einzurich-
ten. Bieten die virtuellen Räume des Onlinedatings ähnlich wie andere soziale
Medien neue Wege und Möglichkeiten, sich im Bewusstsein über die eigene Ent-
fremdung nichtsdestotrotz authentisch zu fühlen?
4 | Für eine intersektionale Perspektive, die das emanzipatorische Potenzial beim Onlinedating
hervorkehrt, vgl. Ötzekin 2018. ZumVerhältnis von Sexualität und Kapitalismus sowie alternativen
Begehrensökonomien vgl. Dhawan u. a. 2015; Adamczak 2006.
More Substance Than a Selfie? 191
Neue Beziehungsweisen?
In ihrer soziologischen Studie zum neuen Geist des Kapitalismus machen Ève
Chiapello und Luc Boltanski darauf aufmerksam, dass sich der symbolische Wert
der Authentizität erhöht, je weniger soziale Verhältnisse vertraglich abgesichert
sind (Boltanski und Chiapello 2003: 452 f.). Offenheit, Ehrlichkeit und authenti-
sches Auftreten gelten zu Zeiten sich permanent verändernder Lebensrhythmen
als kommunikativer Imperativ, durch den der Eindruck von Stabilität entsteht.
Indem institutionell abgesicherte Beziehungsformen brüchig werden, wird »die
gesamte Beziehungslast von der Authentizität derMenschen« getragen (Boltanski
undChiapello 2003: 495). Diese Feststellung korrespondiertmit der Beobachtung
des Sexualwissenschaftlers Gunter Schmidt, dass sich seit Mitte der 1990er Jahre
eine Verhandlungsmoral herausbildet, die in romantischen Partnerschaften das
Gefühl von Sicherheit verschaffen und zugleich Raum für individuelle Autonomie
geben soll. Ein ähnlicher Umgang lässt sich im Bereich des sexuellen Austauschs
feststellen, der nicht auf langjährige Bindung angelegt ist (Schmidt 1998; vgl. Ver-
heyen 2015). In derartigen amourösen Aushandlungen zielt
»heutige Kommunikation nicht darauf ab, irgendwelche ausgeklügelten Verführungsspiel-
chen zu betreiben, in denen das Ich oftmals eher verhüllt als enthüllt wird, sondern die
eigenen inneren Gedanken und das eigene Ich so authentisch wie möglich darzustellen
und auszudrücken. […] Konversation und Ausdrucksformen dienen als Indikatoren des kul-
turellen Kapitals« (Illouz 2007a: 255 f.).
Bei einem Anbieter wie OkCupid sind die Wahlmöglichkeiten sehr frei, ob
schneller Sex, die Liebschaft mit sadomasochistischer Spielerei, freundschaft-
liches Rumhängen, die Suche nach monogamer oder polyamorer Partnerschaft
– alles scheint möglich. Insofern ist das Beziehungsmodell kaum vorgegeben, so
dass das klassische Konzept der romantischen Zweierbeziehung als eine Mög-
lichkeit unter vielen Möglichkeiten erscheint. Dadurch können sich andere, neue
Beziehungsweisen bilden, um einen Begriff der Philosophin Bini Adamczak
aufzunehmen (Adamczak 2017). Je informeller der äußere Vertragsrahmen ist,
in dem Intimität gelebt wird und gelebt werden soll, desto wichtiger werden
andere Parameter der Absicherung. Diese drücken sich qualitativ und quantita-
tiv aus. Einerseits gibt es die errechnete Rate des Matchmakings, andererseits
wird die Authentizität der Nutzer_innen zum Garanten für Glaubwürdigkeit.
Das gesetzlich geregelte Vertragsversprechen der Ehe wird durch eine Vielzahl
an informellen vertraglichen Absicherungen ersetzt, die sich entweder implizit
durch die Authentizität der Nutzer_inmanifestieren oder verhandlungsmoralisch
expliziert werden.
So zutreffend Illouz’ Beobachtung ist, dass die Verhandlungsmoral kulturel-
les Kapital erfordert, um die sozioökonomischen Spielweisen des Sexuellen zu
begreifen, so bedarf es darüber hinaus einer Kategorie, die diese Spielweisen kon-
192 Jule Govrin
ziser erfasst. In seiner Habitustheorie erörtert Pierre Bourdieu, wie sich soziale
Ungleichheit nicht allein durch pekuniäres Kapital, sondern auch durch symbo-
lisches und kulturelles Kapital bedingt (vgl. Bourdieu 2001: 177–182). Der Sozio-
loge Didier Eribon kritisiert zu Recht, dass Bourdieu den Aspekt der Sexualität
vernachlässige (Eribon 2016: 156–159). Daher verwende ich die Kategorie des ero-
tischen Kapitals (vgl. Hakim 2011).5 Erotisches Kapital zielt auf sexuelle Attrakti-
vität, die sich neben körperlichen Merkmalen an ästhetischer Selbststilisierung
und sozioökonomischem Status bemisst. Die konsumkapitalistische Kultur führt
zur »Selbstökonomisierung der sexuellen Attraktivität« (Penz 2015: 297).6 Prak-
tiken der körperlichen Selbstoptimierung und -ästhetisierung sollen Unverwech-
selbarkeit und dadurch das eigene erotische Kapital steigern, um »im Konkur-
renzkampf umAufmerksamkeit und sozialeWertschätzung Erfolge einzufahren«
(Penz 2015: 300). Damit ist das erotische Kapital der zentrale Spieleinsatz in den
Affektökonomien des Onlinedatings, in denen mit Authentizität spekuliert wird,
um durch Alleinstellungsmerkmale beziehungsweise unique selling points Auf-
merksamkeit zu gewinnen. Die Relevanz, die unique selling points zukommt, um
erotisches Kapital zu akkumulieren, zeugt vom symbolischen Wert der Authen-
tizität. Diese Logik aktueller Aufmerksamkeitsökonomie trifft sicherlich auf die
gesamte Sphäre der sozialen Medien zu, sie wird jedoch im Bereich des Online-
datings besonders explizit.
Tinder: Algorithmische Affektökonomien
Sowohl bei PlanetRomeo als auch bei OkCupid gibt es die Möglichkeit, die eige-
nen Vorlieben dezidiert aufzulisten. Während man über die subjektive Erlebnis-
welt, in der das eigene Begehren in verschiedenen sexuellen Kategorien definiert
wird, bloß spekulieren kann, ist der Nutzen für Anbieter von Dating-Websites
offenkundig: Je mehr Kategorien, desto genauer das Feintuning beim algorith-
mischen Matchmaking, um die Profile auszuwerten und entsprechend zu kom-
binieren, welche Profile passen könnten, und um die jeweiligen Nutzer_innen
einander vorzuschlagen.
Ein neues Paradigma des algorithmischen Matchmakings hat der Dating-
dienst Tinder mit dem desirability score eingeführt. Wie auf einem Kartenstapel
angeordnet erscheinen die jeweiligen Profile mit einem oder mehreren Fotos,
darunter wird in einem Schaukasten über Name, Alter und Entfernung der
5 | Während Hakim in populärwissenschaftlicher Polemik dafür plädiert, dass Frauen gezielt
sexuelle Anziehungskraft einsetzen sollten, um ihre Karriere voranzutreiben, verwende ich den
Begriff des erotischen Kapitals als ökonomiekritische Kategorie.
6 | Der Philosoph Paul B. Preciado zeigt auf, wie dieser sanfte Zwang zur körperlichen Selbststi-
lisierung und -optimierung durch pharmaindustrielle Technologien und pornografische Bildpro-
duktion funktioniert, weshalb er diese spätkapitalistische Phase als Ära der Pharmapornographie
fasst (Preciado 2016).
More Substance Than a Selfie? 193
Nutzer_innen informiert. Tinder bietet nur eine Zeile für eine äußerst knappe
Selbstdarstellung.7 Wenn man die Profilkarte nach links wischt, sortiert man
die Nutzer_in aus, wenn man nach rechts wischt und die andere Person dies
ebenso macht, kann man einander kontaktieren. Im Gegensatz zu OkCupid
verwendet Tinder kaum Raum im Frontend, um sexuelle Vorlieben aufzuzählen.
Hier müssen User nicht mehr minutiös Fragen beantworten und Vorlieben be-
nennen, stattdessen wird aus der Performanz dieser Angaben der User heraus
algorithmisch gematcht.
Dazu dient der besagte desirability score.8 Durch dessen Algorithmus werden
Nutzer_innen, deren Profile oft angeklickt werden, in einem Ranking erfasst und
ihnen werden wiederum Profile angezeigt, die nach der quantitativen Messung
des desirability score ähnlich begehrenswert sind.9 Noch ausgefeilter ist der Elo-
Score, der hier ebenfalls zur Anwendung kommt: Wenn ein User in Kontakt mit
einer Person kommt, die quantitativ als begehrenswerter gilt, übt sich das positiv
auf sein Ranking aus und der User wird höher eingestuft. Der Elo-Score lehnt sich
an die Elo-Wertung an, die beim Schach wirksam ist: Die Elo-Zahl beziffert die
Spielstärke einer Schachspieler_in. Deren Wert erhöht sich nicht einfach mit je-
der gewonnen Partie, sondern steigt überproportional, wenn sie eine Gegner_in
schlägt, die eine höhere Elo-Zahl hat. Diese algorithmische Feinheit produziert
die konfliktreiche Konkurrenzdynamik, die imHintergrund vonOnlinedating am
Werk ist. Während sich die Oberfläche als progressives Panoptikum von Individu-
en darbietet, die wechselseitig ihr jeweiliges Begehren aushandeln, wirkt hier ein
antagonistisches, ja kriegerisches Begehrensmodell, das darauf angelegt ist, sich
gegenüber Kontrahent_innen durchzusetzen, um einen besseren sozialen Status
zu erlangen und erotisches Kapital zu akkumulieren.10
Die algorithmischen Arbeitsweisen gestalten die Interaktion auch durch die
konstante Aufforderung an die User, einander schnell und beständig zu bewer-
ten. Bei Tinder entscheidet ein kurzer Blick auf das Profilbild, ein kurzes Wi-
schen auf dem Smartphone, ob es sich lohnt, mit einem Menschen in Kontakt
zu treten. Nutzer_innen sind als ökonomische Subjekte dazu aufgerufen, eine
Konsumentscheidung zu treffen (vgl. Dröge und Voirol 2011: 353). Dabei fungie-
ren sie zugleich als Datenlieferant_innen für die Evaluationsarchitektur dieser
Webseiten. Wie Reckwitz dargelegt hat, ist das spätkapitalistische Paradigma des
Singulären in Formate der Standardisierung eingebunden. Während die soziale
7 | Eine empirische Studie ergab, dass User von Tinder ihren eigenen Körper verstärkt negativ
empfinden, was dem Fokus auf physische Attraktivität sowie den Bewertungsmechanismen ge-
schuldet sei. Man kritisierte die Studie jedoch, da die Zahl der Befragten zu klein sei, um diese
Resultate fundiert zu belegen. Vgl. Stewart 04.08.2016.
8 | Vgl. hierzu folgenden Artikel im Wirtschaftsmagazin Business Insider: Cook 09.03.2017.
9 | Zu Rating und Ranking beim Onlinedating vgl. Fiore u. a. 2008. Zur Quantifizierung des
Sozialen vgl. Mau 2018.
10 | Für diesen Gedanken gilt mein Dank Andreas Gehrlach.
194 Jule Govrin
Logik des Allgemeinen und die soziale Logik des Besonderen »in der industriel-
lenModerne einen asymmetrischen Dualismus bilden, transformieren sie sich in
der Spätmoderne in eine Vordergrund- und eine Hintergrundstruktur« (Reckwitz
2018: 18). Dies bedeutet im Fall von sozialen Medien und damit Onlinedating,
dass »[z]weckrationale Infrastrukturen zur Fabrikation von Einzigartigkeit« mit
komplexen Valorisierungstechnologien operieren, in denen über »Ratings und
Rankings die Besonderheiten von Restaurants, Universitäten, Coaches oder po-
tenziellen Ehepartnern miteinander verglichen werden« (Reckwitz 2018: 20). Der
symbolische Wert der Authentizität wird folglich in den Valorisierungsprozessen
erzeugt, die die Wettbewerbslogik der sozialen Medien vorantreiben.
Authentizität birgt gerade im Bereich des Onlinedatings, wo es um intime Be-
ziehungen und Begegnungen geht, starke affektive Sogkraft. In dem Ringen um
Aufmerksamkeit, um den Beweis der eigenen Attraktivität, auf der Suche nach
amourösen Abenteuern setzen sich intensive Affekte frei, die sich als ängstliche
oder lustvolle Erregung, als Frustration oder Freude, kurzum als eine Bandbreite
von Empfindungen und Stimmungen artikulieren können. Derweil ist das Kalkül
der Datingplattformen, mit dem sie die Attraktivität und die affektiven Ausdrücke
der User bemisst, wirtschaftlich motiviert. Durch die Ausdifferenzierungs- und
Valorisierungsmechanismen ihrer Backend- und Frontendstrukturen implemen-
tiert sich die ökonomische Wettbewerbslogik in sozialen Beziehungen und affek-
tiven Dynamiken. Daher lassen sich die Rechenoperationen des Onlinedatings
alsAffektökonomien bezeichnen. Trotz dieser Innovation des algorithmischen Ran-
kings birgt die Ökonomisierung der Affekte und des Begehrens eine lange histo-
rische Tradition.
OkCupid: Psychometrie und Pastoralmacht
Das Vermessen und Bewerten ist der Sexualität inhärent. Darauf machte schon
im 18. Jahrhundert Marquis de Sade auf süffisante Weise aufmerksam. In seinen
literarischen Schilderungen von ruchlosen Geheimgesellschaften werden die per-
versen Gelüste nicht nur offen zelebriert, sondern auch gezählt und abgeschätzt.
Je perfider Sades literarische Gefährten ihr libidinöses System ausfeilen, desto
mehr ergötzen sie sich daran. Das kaltblütige Kalkül der grausamen Leidenschaf-
ten enttarnt, dass der in der Aufklärung gepriesenen Rationalität auch Affekte und
Aggressionen innewohnen. Der aufklärerische Wissensdurst danach, das gehei-
meWesen desMenschen und seine sexuelleWünschen bis ins Detail zu erfassen,
hat die Marktwirtschaft dazu inspiriert, aus der Liberalisierung der Sexualverhält-
nisse Mehrwert zu schöpfen.
Wenn man aus dieser sexualitätshistorischen Perspektive die Begriffspoliti-
ken bei OkCupid betrachtet, kommt der Verdacht auf, dass das dortige Angebot,
Begehren möglichst spezifisch zu benennen, zwar einen emanzipatorischen An-
satz verfolgt, letztlich aber in die unsichtbaren Hände des Marktes spielt. Panse-
xuell. Omnisexuell. Polysexuell. Asexuell. Demisexuell. Allosexuell. Sapiosexuell. Nut-
More Substance Than a Selfie? 195
zer_innen von OkCupid können zwischen zahlreichen Kategorien wählen, um
ihre sexuelle Orientierung zu bestimmen. So progressiv Menschen diese Mög-
lichkeiten auch leben mögen, sie zeugen ebenfalls davon, dass die Marktlogik
dem Glauben folgt und den Glauben verbreitet, man könne alles bemessen und
beziffern, auch das Verlangen. Dabei entspringt die Idee, das eigene Begehren
zu benennen, Emanzipationsgeschichten – den Emanzipationsgeschichten jener,
deren Verlangen verhöhnt oder verleugnet wurde, sowohl von Schwulen-, Lesben-
und Queer-Bewegungen als auch von feministischen Bewegungen, die weibliche
Lust thematisieren.
In den virtuellen Räumen des Onlinedatings werden Lüste ökonomisiert, in-
dem sie in sexuelle Kategorien eingeteilt werden. Dadurch werden die User aufge-
rufen sich auszudifferenzieren, sich von anderen zu distinguieren, um sich in ih-
rer Einzigartigkeit und mitsamt ihren unique selling points zu präsentieren. Diese
Prozesse der Ausdifferenzierung und Valorisierung funktionieren jedoch durch
die algorithmischen Operationen des Rankings und Matchmakings, die im Ba-
ckend dieser Anwendungen stattfinden, gemäß der spätkapitalistischen Wettbe-
werbsorientierung. Außerdem beschränkt sich diese Libido-Ökonomisierung kei-
neswegs darauf, Lüste listenförmig aufzählbar zu machen; darin schwingt auch
die Idee mit, dass man das Verlangen mit kleinteiligen Bezeichnungen transpa-
rent werden lässt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine bloß neoliberale
Operation. Es war und ist politisch wichtig, Formen des Begehrens sichtbar zu
machen, die nicht den heterosexuellen Normen folgen. So soll der Begriffs queer
die altbekannte Homo-Hetero-Unterscheidung unterlaufen. Andere Bezeichnun-
gen wie homoflexible, heteroflexible, pansexuell und bisexuell beziehen sich ebenfalls
darauf. Auch Adjektive wie a-, demi- und allosexuell lassen sich als Versuche lesen,
die heteronormative, binäre Geschlechterordnung durch die Multiplizierung von
sexuellen Wünschen und Identifizierungen zu deterritorialisieren.
Dennoch vollzieht sich dabei eine Reterritorialisierung, die in den Backend-
wie den Frontend-Strukturen von OkCupid angelegt ist. Durch die Ausdifferen-
zierung der sexuellen Identitäten der User soll Singularität betont werden. Dabei
kann der Drang, möglichst singulär zu sein, in dieser neuen Spielart dazu führen,
dass Identität in der Gestalt des flexiblen, fluiden Netzwerkmenschen verhärtet
wird. Hierin setzt sich die rationalistische Operationsweise, die der Sexualitäts-
geschichte inhärent ist, fort. In der Art und Weise, wie diese Adjektive intime
Wünsche aufzeigen, wirkt Begehren berechenbar, man kann es quantitativ erfas-
sen und dementsprechend ausdrücken. Ob gewollt oder ungewollt, die Bezeich-
nungspraxis der Portale setzt den Gedanken der Messbarkeit des Begehrens fort.
Die Annahme, dass jegliche Regung des Menschen messbar sei, entspricht
wiederum dem unternehmerischen Wunsch, Nutzer_innen in sozialen Medien
bis ins Detail zu durchleuchten, um durch diese Datenmengen Konsumentenpro-
file anzulegen. Auf der Ebene des Backends vonOkCupid ist die Psychometrie ein
wesentliches Instrumentarium, um das algorithmische Matchmaking zu ermög-
lichen und gleichzeitig Persönlichkeitsmuster quantitativ zu bemessen. Indem
196 Jule Govrin
OkCupid die Antworten von Nutzer_innen auf Fragen auswertet, erstellt das Un-
ternehmen psychometrische Analysen der Profile: Less Organized. Less Romantic.
More Adventurous. More Confident. Less Conservative. Während diese Resultate im
Frontend recht knapp gehalten sind, vermittelt der OkCupid-Blog eine Ahnung
davon, welche enormen Datenmengen der Dienst über seine User gesammelt
hat.11 Wenn man betrachtet, wie akribisch die User-Profile ausgewertet werden,
zeigt sich, dass ein neues Kapitel der Vermessungsgeschichte der Sexualität auf-
geschlagen wurde.
Das multiplikatorische Identitätsprinzip
Pansexual, Woman, Single, Monogamous. Other ethnicity, Speaks English, German,
Italian, and Portuguese, Never smokes, Doesn’t drink, Vegan, Doesn’t have kids but
might want them. Looking for people, within 50 km, ages 27-43, for short & long term
dating. Less Conservative. More Political. More Romantic. Less Ambitious. More Ad-
venturous. Die Vervielfältigung von sexuellen Ausrichtungen und die psychometri-
schen Additionen von Charaktereigenschaften verdichten sich zum hyperindivi-
dualistischen Kult, in dem Bezeichnungenmiteinander multipliziert werden, um
als Gesamtprodukt einzigartige, aber berechenbare Persönlichkeiten zu ergeben.
In der Bilanz fügt sich dieses Kalkül mit Lust und Begehren in das neoliberale
Rechenraster.
Im Rückblick auf die Emanzipationsgeschichten, die ein Begriff wie queer
in sich trägt, ist es von trauriger Ironie, dass das sprachpolitische Bestreben der
Kämpfe um diesen Begriff darin liegt, die sexuellen Kategorien aufzubrechen.
Denn obwohl aus einer Begriffsbandbreite an sexuellen Präferenzen gewählt wer-
den kann, führt dies nicht zwangsläufig dazu, dass kategorische Festschreibun-
gen des Begehrens vermieden werden, um sich von dem Konzept der Identität
zu lösen. Stattdessen werden Identitäten komplexer inszeniert, was durch die
Kombination von besagten Präferenzen und aufgezählten Charaktereigenschaf-
ten erfolgt. Anstatt dass Identitäten aufgelöst werden, bilden sich subindividuelle
Singularitäten heraus, die nicht mehr auf einer klar umrissenen, oftmals schablo-
nenhaften Identität beruhen, sondern aus einer Vielzahl variierender Adjektive,
die im Frontend-Resultat des OkCupid-Profils beständig neu zusammengesetzt
werden können, wie Heteroflexible. Demisexual. Sapiosexual. More Ambitious.
More Suave. Less Adventurous.12 Durch dieses multiplikatorische Spiel, so ließe
sich vermuten, kann die eigene Individualität trotz der hohen Standardisierung
als authentisch erfahren werden. Anscheinend suchen Menschen in der Spätmo-
derne immer ausgefeiltere Begriffe, um ihre Identität abzusichern und zu ver-
festigen. OkCupid nimmt diese begriffspolitischen Bedürfnisse wahr, gibt ihnen
11 | https://theblog.okcupid.com. Vgl. Cramer 19.11.2013.
12 | Für den Begriff der subindivuellen Singularitäten sowie für die Anmerkungen und Anregun-
gen bedanke ich mich bei Bini Adamczak.
More Substance Than a Selfie? 197
einen virtuellen Raum der Sichtbarkeit und verwertet die User-Präferenzen für
das ausgefeilte System desMatchmakings. DieMultiplizierung von sexuellen Prä-
ferenzen ist indessen nicht die einzige affektökonomische Rechenoperation, die
beim Onlinedating getätigt wird.
Ein Beispiel für die subtilen Bewertungsmechanismen ist der Begriff sapiose-
xuell. Das Adjektiv wird von Menschen verwendet, die sich rein von intellektuell
anregenden Anderen angezogen fühlen. Freundlich übersetzt drückt sich in dem
Begriffmithin derWunsch aus, neben spannendem Sex knisternde Gespräche zu
führen. Sapiosexuell lässt sich jedoch auch als Indiz für die sexuelleHackordnung
imCyberspace auffassen, in derMenschenmit einemgewissen Bildungsgrad und
entsprechendem Klassenhintergrund nur ähnlich gestellte Personen treffen wol-
len. Ähnlich wie das Phänomen der Aushandlungsmoral zeigt der Begriff sapio-
sexuell, wie wichtig Kommunikationskompetenz als kulturelles und damit auch
erotisches Kapital ist.13 Diese Relevanz von kommunikativen Fähigkeiten ist wie-
derum symptomatisch für die neue Mittelklasse, die Reckwitz als »akademische
Mittelklasse« ausmacht (Reckwitz 2018: 274 f.). So sehr sich Sexualität von dem
familiär arrangierten Ehepakt befreien konnte, die soziosexuelle Ständeordnung
setzt sich in derartigen Phänomenen fort.
4 Die lustvolle Suche nach Authentizität
Indessen werden althergebrachte Authentizitätsvorstellungen aktualisiert, um
den standardisierten Selbstdarstellungen eine Aura des Authentischen zu verlei-
hen. Diese Aufwertung von Singularität und Authentizität geht mit verschärften
Bewertungs- und Bemessungsmechanismen einher, die den Konkurrenzkampf
umAufmerksamkeit und erotisches Kapital verstärken. In den Selbstdarstellungs-
formen der Nutzer_innen wird Identität an ein angeblich authentisches Begehren
rückgekoppelt und durch die Singularisierungs- und Ausdifferenzierungsmecha-
nismen integrieren sich diese flexibel gestalteten Identitäten in ein marktlogi-
sches Rechenraster. Die phänomenale Erlebnissphäre der User zu untersuchen,
bedarf einer anderen Forschungsarbeit. Dennoch erweckt die Betrachtung des
Profil-Panoptikums auf OkCupid den Anschein, als würde dort zumeist hinge-
bungsvoll an der Selbstinszenierung in Bild und Wort gefeilt. Die standardisier-
ten Darstellungsformen bieten durch ihre Kombinationsmöglichkeiten viel Spiel-
raum, um sich als möglichst singulär zu präsentieren. In dieser affektökonomi-
13 | Zur Relevanz von Kommunikationskompetenz auf dem romantischen Markt schreibt die
Soziologin Eva Illouz: »In einer Ökonomie, in der Lebensstile und kulturelle Kompetenzen Unter-
scheidungsmerkmale sozialer Schichtung darstellen, verbirgt die Annahme, Liebe entstehe aus
Kommunikation, aus gemeinsamen Vorlieben, Gefühlen und Vorstellungen, hinter einem Intimi-
tätsideal die Vorstellung, der Partner müsse kulturell, bildungsmäßig und sprachlich kompatibel
sein« (Illouz 2007a: 261).
198 Jule Govrin
schen Rechenoperation werden Nutzer_innen in Eigenschaften zergliedert, die
miteinander kombiniert werden und in der Bilanz Individualität ergeben sollen.
Dieses multiplikatorische Identitätsprinzip, das so offenkundig mit Schablonen
operiert, rechnet das vermeintlich Authentische mit ein. Man sollte das Wissen
der Nutzer_innen darum, auf Dating-Plattformen standardisiert vermarktet zu
werden, nicht unterschätzen. Sicherlich sehen sie in ihrem Profil keine original-
getreue Abbildung ihres ›authentischen‹ Wesens. Dennoch denke ich, dass der
Aufruf, sich als möglichst authentisch zu inszenieren, affektiv anregend wirkt.
Denn die symbolische Macht des Authentischen liegt eben darin: Je mehr sich
Menschen entfremdet fühlen, desto stärker sehnen sie sich nach Authentizität.
Die Soziologin Eva Illouz hebt hervor, dass gerade Onlinedating die Idee eines
›Kernselbst‹ aktualisiert:
»Während das postmoderne Selbst davon ausgeht, daß es kein Kernselbst gibt, nur eine
Multiplizität von zu spielenden Rollen, ist das Selbst, das durch die Verbindung von Psy-
chologie und Internet geschaffen wird, in dem Sinne ›ontisch‹, in dem es von einem perma-
nenten Kernselbst ausgeht, das sich durch eine Vielzahl von Repräsentationen einfangen
läßt« (Illouz 2007b: 122).
Wenn man Illouz’ These folgt, dann erklärt sich, wie stark Nutzer_innen in der
Paradoxie der Authentizität gefangen sind. Trotz des spätkapitalistischenBewusst-
seins darüber, dass es kein authentisches ›Kernselbst‹ gibt, werden sie beim On-
linedating dazu angerufen, Authentizität zu performen, was die Illusion eines au-
thentischen Selbst in paradoxer Weise aktualisiert. Allerdings wirkt diese Figur
eines ›authentischen‹ Selbst wesentlich fluider und flexibler als es Illouz’ Annah-
me, beim Onlinedating werde ein »permanentes Kernselbst« aufgerufen, ahnen
lässt. Daher denke ich, dass sich in diesem paradoxen Verhältnis ein neuer, spiele-
rischer Zugang zum Authentischen entfaltet. Beim Onlinedating setzt sich jedes
Individuum aus einer Vielzahl von Eigenschaften und Präferenzen zusammen,
die dann in der Logik des Matchmakings mit anderen Individuen kombiniert
werden können. Obwohl sich die Nutzer_innen der standardisierten Selbststili-
sierung und deren Unzulänglichkeiten bewusst sind, wird der Glaube erzeugt,
die eigene Authentizität performativ hervorzubringen.
Wenn man auf Foucaults Konzept der Pastoralmacht zurückblickt, dann fin-
den sich beim Onlinedating weniger Geständnisse eines verheimlichten Begeh-
rens undmehr Spielweisen der Zeigelust. In den 1990er Jahren beschrieb der Se-
xualwissenschaftler Volkmar Sigusch die hedonistischen Selbstinszenierungen,
die sinnliche Selbstbezogenheit der Tanzenden auf der Love Parade als Self Sex
(Sigusch 2013: 343 f.). Im 21. Jahrhundert lassen sich vielzählige Begehrensbil-
der als Selfie Sex bezeichnen. Das Porträtpanoptikum der digitalen Attraktivitäts-
märkte verrät den sich schmeichelnden, sich selbst abschätzenden Blick der sich
fotografierenden Fotografierten. Derartige Phänomene verdeutlichen, wie stark
Selbstästhetisierung libidinös aufgeladen ist. Die narzisstische Freude am eige-
More Substance Than a Selfie? 199
nen Selbst, das Jubilieren über das eigene Bild im Auge der Anderen, ist an und
für sich kein neues Phänomen. Ebenso wenig neu ist es, dass Authentizität in Zei-
ten verstärkter sozioökonomischer, gesellschaftspolitischer und medientechnolo-
gischerWandlungen einen starken Sehnsuchtsort darstellt. Obwohl derGlaube an
die eigene Authentizität nicht gänzlich gebrochen scheint, rufen soziale Medien,
die zur Selbststilisierung anreizen, ein performatives Authentizitätsverständnis
hervor. Das Authentische muss nicht mehr in psychoanalytischen Fragespielen
entdeckt und freigescharrt werden, die User sollen ihr authentisches Wesen in
selbstreflexiven Schleifen gestalten, ästhetischmodellieren, dezidiert ausdifferen-
zieren, kreativ kombinieren. Und, um dies noch einmal zu betonen, ich halte die
virtuellen Räume der Dating-Websites nicht für einen Sonderbereich des Sozia-
len, vielmehr sind die Arbeitsweisen, in denen Individualität durch dieMultiplika-
tion von Attributen mit dem Faktor des Alleinstellungsmerkmals errechnet wird,
gesamtgesellschaftlich symptomatisch.
In dem Spielfilm The Lobster (2015) des Regisseurs Giorgos Lanthimos wird diese
Rechnungmit demAlleinstellungsmerkmal in einem düster-makabren Nullsum-
menspiel ad absurdum geführt: In einer Gesellschaft, in der es höchste Bürger-
pflicht ist, Teil einer Partnerschaft zu sein, müssen sich Singles in ein Hotel bege-
ben, um dort bestenfalls einen geeigneten Partner zu finden. Gelingt ihnen dies
nicht, werden sie in ein Tier verwandelt – wobei sich der Protagonist wünscht, im
Falle seines Scheiterns in einen Hummer verwandelt zu werden. Individueller
Stil hat in dieser Zwangsveranstaltung wenig Raum: Die Hotelgäste (oder eher:
die Hotelgefangenen) müssen uniforme Kleidung tragen, sie unterhalten sich in
gestelztem Stil nach den formellen Gepflogenheiten und müssen auf der Bühne
ihren persönlichen Lebensweg schildern, der einem klar erkennbaren Standard-
narrativ folgt. ZumEnde der Selbstpräsentation sollen sie ihr defining characteristic
nennen wie ein besonders schönes Lächeln, ein lahmes Bein. Dieser scheinbar
individuelle Zug ist an die unumstößliche Regel gekoppelt, dass die ideale andere
Hälfte diesen unique selling point teilt. Die Art und Weise, wie das vermeintlich
Individuelle in eine ansonsten durch und durch uniforme Umwelt einkalkuliert
wird, entspricht durchaus dem gegenwärtigen Dispositiv des Matchmakings. Die
dystopische Perspektive, die der Film eröffnet, entzaubert die Illusion des Authen-
tischen, mit der in sozialen Medien spekuliert wird.
Danksagung
Herzlicher Dank gilt Anja Breljak, Jan Slaby, Rainer Mühlhoff, Henrike Kohpeiß
und Philipp Wüschner für ihre ausführlichen Anmerkungen und konstruktiven
Anregungen.
200 Jule Govrin
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Tears in Heaven
Mediale Politiken des Schmerzes
Henrike Kohpeiß
Tränen in HD – Parkland
Die ersten deutlich sichtbaren Tränen von Emma González fließen auf der Kund-
gebung in Fort Lauderdale, Florida, am 17. Februar 2018. An diesem Tag hält die
damals 17-Jährige wahrscheinlich ihre erste international wahrgenommene Pro-
testrede in Reaktion auf den Amoklauf am 14. Februar 2018 an der Marjory Stone-
man Douglas High School in Parkland, Florida, mit 17 Todesopfern.
Noch bevor sie beginnt, die vor ihr liegenden, niedergeschriebenenWorte vor-
zulesen, senkt Emma González immer wieder den Kopf und wischt sich mit gan-
zerHandfläche übers Gesicht. Sie hat zunächstMühe, ihr Schluchzen zu stoppen,
um den Text deutlich sprechen zu können, und verfällt immer wieder in kleine
Weinkrämpfe. Ihre Rede gelingt schließlich, indem sie sich Lücken zwischen die-
sen Attacken der Trauer erkämpft, die immer gerade groß genug für einen Ab-
satz sind. Sie blickt nicht auf, um ihre Zuhörer_innen zu adressieren, sondern
konzentriert sich auf den vor ihr liegenden Text und die Deutlichkeit ihrer Spra-
che. Ihr ganzer Körper wirkt, als werde er von den immer neu ausbrechenden
Krämpfen durchgeschüttelt und als übertrage sich die so entstehende Energie in
ihre wütende Rede. Alles, was Emma sagt, wirkt dringlich, als müssten die Sät-
ze schnell ausgesprochen werden, bevor der nächste Schluchzer sie verschluckt.
Emmas Weinen treibt ihr Sprechen geradezu an und intensiviert ihren Ausdruck
durch das Wechselspiel, das zwischen Weinen-Müssen und Sprechen-Können
entsteht. Ihre Stimme ist rau und überstrapaziert, sie moduliert und phrasiert
ihre Sätze wenig und schaut erst nach der Hälfte ihrer Rede zum ersten Mal ihre
Zuhörer_innen an. Ihre rhetorische Haltung widerspricht damit denmeisten Kri-
terien, die üblicherweise an virtuoses Reden gestellt werden – das freie Sprechen,
Mühlhoff, R.; Breljak, A.; Slaby, J. (Hg.): Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie
der Digitalen Gesellschaft. transcript 2019, S. 203–224. DOI: 10.14361/9783839444399-
009.
204 Henrike Kohpeiß
Abbildung 1: Emma González bei einer Kundgebung in Fort Lauderdale, Florida nach dem
Amoklauf an ihrer High School. Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=ZxD3o-9H1lY,
CNN vom 17.02.2018, Screenshot der Verfasserin.
die geschickte Phrasierung von Sätzen, das bewusste Setzen von Höhepunkten
– und hat dennoch eine fesselnde Wirkung. Emma González kann sich der Auf-
merksamkeit ihres Publikums sicher sein – obgleich sie es wahrscheinlich nicht
ist –, weil die Gebrochenheit ihres Auftritts und die physische Präsenz zwischen
Überforderung und Willensstärke affektiv einnehmend sind. Emmas Körper ist
Teil ihrer Botschaft, er bricht sich Bahn und erzählt von der Dringlichkeit ihres
Anliegens durch die Trauer, die in ihm nachzittert (siehe Abbildung 1).
Emma González ist die zentrale Vertreterin der #neveragain-Bewegung. Die
Gruppe mobilisierte, nachdem der Anschlag auf ihre High School in Parkland
stattgefunden hatte, hunderttausende Schüler_innen in den gesamten USA und
darüber hinaus, um für eine Verschärfung der Waffengesetze zu demonstrieren.
Im Folgenden möchte ich den medial-affektiven Dynamiken nachgehen, die den
politischen Protest gegen unreguliertenWaffenkauf in den USA im Anschluss an
den Amoklauf in der Marjory Stoneman Douglas High School begleiteten. Mein
Interesse gilt dabei den Formen und Gestalten, in denen der Schmerz von Em-
ma González, einer zentralen Sprecherin des Protestes, Ausdruck findet, und die
ihr dennoch erlauben, Handlungsfähigkeit erfolgreich für sich zu reklamieren.
Durch Emma González’ Bereitschaft, ihre Emotionalität der Öffentlichkeit nicht
vorzuenthalten, erhält ihr Schmerz Einzug in Handlungen und Bilder. Schmerz
kann daher als Kern ihres politischen Handelns betrachtet werden. Ausgehend
von dieser Beobachtung soll in diesem Text ein Bild gezeichnet werden, das Poli-
Tears in Heaven 205
tik und Leiden sowohl in ihrer gegenseitigen Bedingtheit sichtbar macht als auch
die Bedingungen ihrer gemeinsamen Präsenz untersucht.
Die Betrachtung der Bilder-Chronologie und ihrer öffentlichen Resonanz im
Zuge der Parkland-Proteste ermöglicht es, das in dieser Chronologie geltende Ver-
hältnis von Leid und Politik nachzuverfolgen. Dabei richtet sich mein Interesse
weniger auf die bewusste emotionale Mobilisierung, die stellenweise bis hin zur
Manipulation reicht und möglicherweise Teil bestimmter Veröffentlichungspro-
zesse ist, als vielmehr auf die affektiven Anordnungen in den Bildern selbst so-
wie ihre Wirkungsdynamiken. Die folgende Analyse macht Emma González –
als mediale Figuration – zum Zentrum des affektiv-politischen Geschehens der
Parkland-Proteste. Dadurch werde ich nur äußerst beschränkt Bezug auf den Dis-
kurs über Waffengewalt in den USA nehmen und viele Perspektiven, von denen
die Proteste ebenso begleitet wurden, ausblenden. Dies geschieht mit dem Ziel,
diejenige Perspektive, die für einige Wochen extreme öffentliche Wirkungen hat-
te, nachzuvollziehen und den Grund für ihre Tragfähigkeit zu untersuchen.
Wie lässt sich die Entstehung einer medial breit repräsentierten Protestbewe-
gung als Ergebnis eines kollektiv-affektiven Prozesses beschreiben, der an überra-
schenden Stellen Fahrt aufnimmt, weitreichendeWirkungen entfaltet und immer
in der Nähe zum Vorwurf der Manipulation steht? Und wie artikuliert sich in die-
sem Prozess ein Zusammenhang von Leid und Politik?
Die »Parkland-Teenager« sind durch ihre Position als Opfer von Waffenge-
walt in die Öffentlichkeit gelangt und erscheinen deshalb in Zusammenhän-
gen, in denen ihr Schmerz eine Rolle spielt. Hinsichtlich ihres Auftretens als
#neveragain-Bewegung haben sie jedoch ihrer Viktimisierung aktiv entgegenge-
wirkt. Stattdessen sind sie zu Identifikationsfiguren des weißen, liberalen Teils
der USA geworden und es gelang ihnen teilweise, die öffentliche Präsenz ihres
Schmerzes in Handlungsfähigkeit zu transformieren.1
Diese Handlungsfähigkeit ist Ergebnis desjenigen Optimismus, der sich in
der wechselseitigen Beziehung zwischen den jungen Aktivist_innen und der
auf sie reagierenden Öffentlichkeit entwickelt. Das junge Alter der Protestie-
renden und ihr Engagement lässt die Zukunft als hoffnungsvollen, weil neu
zu bestimmenden Raum entstehen, der sich in einer seit der Präsidentschaft
Donald Trumps eher belasteten politischen Debatte öffnet. Unabhängig davon,
ob die entstehende optimistische Dynamik der gegenseitigen Befeuerung von
Öffentlichkeit und Aktivist_innen politisch rational ist oder naiv, ist ihr Mobili-
sierungspotenzial enorm und ihre Entstehung interessant. Dieser Optimismus
findet seinen Ausdruck in einem engmaschigen Netz aus Tweets, Memes, sich
1 | Das hohe Identifikationspotenzial sehe ich in den Strategien der Berichterstattung belegt:
Es gab viele journalistische Ansätze, die eine explizite Nähe zu den Persönlichkeiten der Protes-
tierenden herzustellen versuchen. Ein Beispiel bildet die »Homestory« des Time Magazine, die
eine Bilderstrecke beinhaltet, in der die Jugendlichen in Umgebungen ihres Alltags inszeniert
werden (Alter 22.03.2018).
206 Henrike Kohpeiß
rasant verbreitenden Artikeln und dokumentarischen Handyvideos, deren Distri-
butionsfrequenz den Beweis für seine Wirkungskraft bildet.
Auf der anderen Seite der enormen öffentlichen Resonanz auf die Bemü-
hungen der Teenager steht die von Judith Butler aufgeworfene Frage, was ein
betrauernswertes Leben ausmacht (Butler 2005) und welche Bedingungen erfüllt
sein müssen, um Sichtbarkeit für einen Tod herzustellen. Im Laufe der Formie-
rung der Protestbewegung betonten die Überlebenden des Amoklaufs immer
wieder ihre Absicht, sich im Kampf gegen Waffengewalt mit People of Color und
insbesondere Schwarzen zu solidarisieren, die sehr viel öfter zu Opfern werden,
ohne dass auf ihr Sterben mit einem so massiven medialen Aufschrei reagiert
wird.2 Denn die Sprecher_innen des Protests bewegen sich aufgrund ihrer so-
zioökonomischen Position innerhalb des Rahmens von betrauerbarem Leben.
Das heißt, dass sie Teil der gut repräsentierten Bevölkerungsgruppe vornehmlich
weißer US-Amerikaner_innen aus dem Mittelstand sind und sich deshalb keine
Sorgen um ihre Beteiligung am öffentlichen Diskurs machen müssen. Mit Butler
lässt sich die Frage stellen, ob ihre Solidaritätsbekundungen überhaupt politisch
wirksam sein können oder ob der Aspekt der Betrauerbarkeit eine Differenzierung
von politischen Kämpfen notwendig macht. Der genaue Blick auf die Medialität
der Parkland-Proteste ermöglicht auch eine Kontextualisierung in dieser Hin-
sicht.
Affektbilder
Tragische Heldin
»Then, lifting her eyes and staring into the distance before her, González stood in silence.
Inhaling and exhaling deeply – her microphone caught the susurration, like waves lapping a
shoreline – González’s face was stoic, tragic. Her expression shifted only minutely, but each
shift – her nostrils flaring, or her eyelids batting tightly closed – registered vast emotion.
Tears rolled down her cheeks; she did not wipe them away. Mostly, the crowd was silent,
too, though waves of cheering support – Go, Emma! ›We all love you!‹ – arose momentarily,
then faded away. She stood in this articulate silence for more than twice as long as she
had spoken, until a timer beeped.« (Mead 26.03.2018)
Die Autorin des hier zitiertenNew-Yorker-Artikels beschreibt weniger EmmaGon-
zález’ Präsenz auf derMarch-for-Our-Lives-Bühne inWashington D.C. als die Nah-
aufnahme, die von González’ Rede im Fernsehen zu sehen war und in den dar-
auffolgenden Tagen online kursierte (Abbildung 2). Der Stil der Bildbeschreibung
lässt die Sympathie der Autorinmit Emma zumVorschein treten und zeichnet das
2 | Vgl. zu den Opferzahlen durch Waffengewalt in den USA Bui AL 2018 und Swaine u. a.
31.12.2015.
Tears in Heaven 207
Abbildung 2: Emma González während ihrer Rede beim March for Our Lives. Quelle: http:
//www.youtube.com/watch?t=135&v=u46HzTGVQhg, Guardian News vom 24.03.2018,
Screenshot der Verfasserin.
Bild einer tragischen Heldin. Die Autorin des Artikels vergleicht Emma González
mit einer filmischen Darstellung von Jeanne d’Arc3 und ruft damit eine Figura-
tion abseits des Opferbildes auf.4 Emma wird auf der Bühne zur Trägerin nicht
nur ihres eigenen Schmerzes, sondern kanalisiert durch ihr nun unverborgenes
öffentliches Weinen anscheinend auch die Gefühle aller Umstehenden.
Der hier beschriebene Auftritt von Emma fand auf dem March for Our Lives
am 25. März 2018 in Washington D.C. statt und liegt damit einige Wochen nach
dem traumatischen Ereignis. EmmaGonzález hat in der Zwischenzeit Reden und
Interviews unterschiedlicher Form bestritten und beweist bei diesem vor einem
3 | »In its restraint, its symbolism, and its palpable emotion, González’s silence was a remark-
able piece of political expression. Her appearance also offered an uncanny echo of one of the
most indelible performances in the history of cinema: that of Renée Maria Falconetti, who starred
in Carl Theodor Dreyer’s classic silent film from 1928, «The Passion of Joan of Arc«. Based upon
the transcript of Joan of Arc’s trial, in 1431, Dreyer’s film shows Joan as an otherworldly young
woman–-she is nineteen, to the best of her limited knowledge–-who, in the face of a barrage of
questioning by hostile, older, powerful clerics, is simultaneously self-contained and brimming
over with emotion. Falconetti, who never made another movie, gives an extraordinary perfor-
mance, her face registering at different moments rapture, fear, defiance, and transcendence«
(Mead 03/26/2018).
4 | Der republikanische Kandidat Leslie Gibson sah offenbar keinen anderenWeg, den Protesten
zu begegnen, als den Versuch zu unternehmen, Emma González’ Erscheinung zu diffamieren. Vgl.
Brammer 23.03.2018.
208 Henrike Kohpeiß
internationalen Millionenpublikum stattfindenden Auftritt medienkommunika-
tive Genialität. Statt einer umfassenden Darlegung ihrer aktivistischen Agenda
beschreibt Emma die Bedeutung des Amoklaufs für alle Betroffenen und ihre
Angehörigen in Parkland. Anschließend ruft sie die Namen aller Todesopfer noch
einmal auf und verfällt anschließend in ein entschiedenes Schweigen, das sie hält,
bis nach 6 Minuten und 20 Sekunden, die sie auf der Bühne verbracht hat, ein
Timer klingelt. Emma erklärt, dass dieser Zeitraum, der Zeitraum ihres Schwei-
gens, exakt der Dauer entspricht, die der Attentäter brauchte, um 17 Menschen zu
ermorden.
Während der Zeit, die sie schweigend auf der Bühne in Washington steht –
Millionen Augenpaare auf sie gerichtet – blickt Emma geradeaus ins Leere und
verharrt – weinend. Auf denVideoaufnahmen diesesMoments ist es so still, als sei
der Ton entfernt worden. EmmaGonzález’ absolute Passivität bringt den Schmerz
über den Tod von 17 sehr, sehr jungen Menschen zurück auf eine politische Ver-
anstaltung, auf welcher der Enthusiasmus über die hohe Beteiligung inzwischen
überhandgenommen hat. Ihr Mittel, das Kraftzentrum desMarch for Our Lives so
jäh zu verschieben, ist die Performance von Schmerz. Das gespenstische Schwei-
gen, das Emma der vor ihr stehenden Masse einhaucht und das sich im Video
von anderen Dokumentationen politischer Kundgebungen radikal unterscheidet,
bildet ein Moment enormer Medienwirksamkeit.
Wie gelingt es Emma González in ihrer Performance, diese immense Auf-
merksamkeit zu erzeugen?
Statt aktiv etwas zu tun, begibt sich Emma González in einen Modus der Kon-
templation über den Tod ihrerMitschüler_innen. Emma gibt sich ihrer Trauer hin
und eröffnet damit einen Raum, in dem die intentionslose Beteiligung der Öffent-
lichkeit an ihrenGefühlenmöglich wird. Der leiddurchsetzte Anlass desMarch for
Our Liveswird als Moment der Stille und Passivität sichtbar und steht im Kontrast
zur Energie der Massenveranstaltung. Der Weg zur Teilnahme an diesem politi-
schen Prozess führt über die Abgabe von Verantwortung und Gestaltungswillen
zu einer Hinwendung zu dem Schmerz der Betroffenen und der Anweisung, ihn
schlicht auszuhalten. Eine passivitätstheoretische Perspektive legt das politische
Potenzial eines solchen Moments dar:
»Sie [die Passivität] ist nicht nur die andere, nachgeordnete Seite der Aktivität, sondern
muss vorausgesetzt werden bei all denjenigen Handlungen, die sich nicht in der Realisierung
vorgezeichneter Möglichkeiten erschöpfen.« (Busch und Draxler 2013: 6)
Emmas Auftritt als Wirkungsgeschehen mit konkreten Effekten zu betrach-
ten, würde die eigentliche Substanz der Performance verfehlen. Das öffentliche
Schweigen bewirkt in erster Linie ein Mit-Schweigen ebenjener Öffentlichkeit.
Darüber hinaus stellt sich der Auftritt eher als Potenzialität denn als Verwirk-
Tears in Heaven 209
lichung eines politischen Aktes dar.5 Emma González schafft innerhalb eines
extrem dichten öffentlichen Geschehens affektiven Raum, in dem der ursprüng-
liche Anlass der Großveranstaltung aufscheint. Sie selbst hat darin vor allem eine
repräsentative Position inne, die darin besteht, die Aufmerksamkeit zu bündeln
und in diesen Raum affektiven Erinnerns zu überführen.
Teen Vogue – Teen Love
In einem von Teen Vogue produzierten Video mit dem Titel Young Activists on why
they march6 treten vier der Aktivistinnen vor einem apricotfarbenen Hintergrund
auf und formulieren Sätze über ihre Gründe, denMarch for Our Lives zu unterstüt-
zen (Abbildung 3). Die Bildsprache des Videos erzeugt Eindrücke von Intimität
und Authentizität. Private Momente zwischen den Frauen werden inszeniert, so-
dass die Zuschauer_innen sie kennenlernen können. Zunächst identifizieren sich
die vier Aktivistinnen in Frontalporträts mit ihrem Namen und ihrem Alter und
sprechen dann chorisch ihren Herkunftsort, »Parkland, Florida«, aus. Sie nen-
nen ihre Gründe für die Teilnahme am March, während die Porträtaufnahmen
immer wieder von Bildern geschnitten werden, auf denen sie lachend, scheinbar
unbeobachtet oder in kämpferischer Pose zu sehen sind. Die Stimme von Emma
González strukturiert dabei das Video durch Voiceovers wie Why do we march?
What do we want to change?.
Die Ebene der Bilder eröffnet im Kontrast zu den durchweg souverän gespro-
chenen Äußerungen der Aktivistinnen Momente des Informellen und Intimen:
Emma ist einmal im Halbprofil zu sehen und schlägt im letzten Moment, bevor
das Bild wechselt, die Augenlider nieder. Etwas später ist kurz ein Teil ihres lie-
genden Körpers sichtbar. Die Kamera fokussiert ihre über dem Bauch gefalteten
Hände, einen Ansteckbutton mit dem Wort Love auf einer roten AIDS-Schleife
und eine Schleife in den Regenbogenfarben der LGBTIQ-Bewegung, die Emma
auf ihrem Pullover trägt. Schließlich erscheint das Bild von Emma González’ Ge-
sicht, jetzt in liegender Position. Die Kamera schweift über ihre offenen, in die
Ferne blickenden Augen. Kurz vor Schluss des zweiminütigen Clips ist zu sehen,
wie Emma ihre Mitaktivistin Nza-Ari Khepra in einer Slow-Motion-Sequenz seit-
lich umarmt. Emma lächelt und Nza-Ari schließt in Erwartung der Umarmung
ihre Augen.
Das Video ist von einer sanften elektronischen Soundspur mit Klaviermelodie
unterlegt, welche den Eindruck von Nähe, von privaten Momenten der Aktivistin-
nen, unterstützt. Das Video verfolgt eine Dramaturgie der Gegensätze, indem die
5 | Vgl. zum Begriff der Potenzialität im Gegensatz zum Potenzial Agamben 1998.
6 | Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=Yblathw64U8. Das Video war gleichzeitig die Grund-
lage für ein montiertes Bild, auf dem es so aussieht, als würde Emma González ein Papier zer-
reißen, auf dem die US-amerikanische Verfassung steht.
210 Henrike Kohpeiß
›Mädchen‹ abwechselnd als unschuldige Teenager und mutige Aktivistinnen er-
scheinen. Der entstehende Realitätseffekt begründet eine Sphäre der politischen
Intimität beziehungsweise intimen Politik, in der schon die Nähe zu den Reprä-
sentantinnen des Protestes als politisch aufgeladener Akt, als politische Sehn-
sucht wahrgenommen wird. Emma González erhält in dieser Konstellation eine
besondere Rolle, weil sie durch die forschen Fragen, die stets von ihr geäußert wer-
den, die Unbedarftheit der anderen ›Mädchen‹ verliert und subtil die Rolle einer
Anführerin zugespielt bekommt. Das Video ordnet Aussagen und Bilder der Ak-
tivistinnen auf eine Weise an, die deutlich über eine Darstellung der politischen
Ziele und Hintergründe des March for Our Lives hinausgeht. Eine von verbaler
Argumentation geleitete Auseinandersetzung ist hier auch gar nicht das zentrale
Anliegen; stattdessen macht das Video ein affektives Angebot, sich mit den Frau-
en durch ihre Freundschaft und ihren Lebensstil zu identifizieren und auf diesem
Wege ihre politischen Motive nachzuvollziehen. Die Aktivistinnen werden vor ei-
nem pastelligenHintergrund positioniert, vor dem sie als junge, unschuldige, fast
kindliche Visionärinnen erscheinen. Sie bilden eine eingeschworene Gruppe von
Freundinnen, die von einer besseren Zukunft träumen und dabei die Stimme für
sich und andere erheben.
Das Private informiert hier das Öffentliche, indem es als affektiver Unterbau
von Engagement sichtbar wird. Die Einblicke in das Teenagerleben von Emma
Gonzálezmachen sie zu einer sympathischen Identifikationsfläche und lassen sie
gleichzeitig umso stärker als Agentin einer politischen Aussage hervortreten, von
der jenes private Leben unberührt scheint. Das Teen-Vogue-Video legt das Augen-
merk weniger auf die Überzeugungskraft von Argumenten oder die Darstellung
der Konsequenzen von Waffengewalt, sondern vielmehr auf die Entstehung von
Bedingungen, die politisches Handeln nach sich ziehen. Der Akt des Politischen
ist hier der lange Moment zwischen freundschaftlicher Solidarität und öffentli-
cher Reaktion, der zu der Entscheidung von vier Teenagern führt, in Washington
D.C. einen nationalen Protest zu organisieren. Dieser Moment konstituiert sich
nicht durch die rationale Einsicht in die Notwendigkeit des Protestes allein, son-
dern seine Vorbedingung ist in diesem Fall eine affektive Gemeinschaft, in wel-
cher der Protest durch die gegenseitige Anerkennung von Leiden Wirklichkeit
werden kann. In dem Teen-Vogue-Video wird nur verwirklicht, was in den Pro-
testen gegenWaffengewalt oft zu hören war: Dass die Forderung nach strengeren
Waffengesetzen eigentlich keinerlei Argumentemehr benötigt, weil die Bilder für
sich sprechen.
Tears in Heaven 211
Homestory
In den Tagen und Wochen nach dem CNN Townhall Meeting7 und während der
Planungsphase des March for Our Lives wuchs das Interesse der Massenmedi-
en an Emma González und den anderen Aktivist_innen stetig. Unterschiedliche
Organisationen bekräftigten öffentlich ihre Unterstützung des Protests, während
der Fokus der Berichterstattung nach wie vor auf der Gruppe von Schüler_innen,
die die Kampagne initiiert hatte, lag. Die enorme weltweite Zustimmung sorgte
sogar für eine weitere Stilisierung der öffentlichen Profile der Teenager. Emma
González’ Rolle in dem Protest wurde durch Fernsehinterviews auf US-Sendern
immer wichtiger. Als eineModeratorin sie fragte, wie es dazu gekommen sei, dass
ausgerechnet sie auf der ersten Kundgebung nach dem Amoklauf eine Rede ge-
schrieben und gehalten habe, antwortete sie, dass dies schlicht daran liege, dass
sie sich zu diesem frühen Zeitpunkt nach dem Ereignis dazu imstande gefühlt
habe.8 Eine so schlichte, bescheidene Antwort bestärkt das Heldinnenporträt und
die öffentliche Sympathie für Emma.
Die Figur Emma González entsteht durch das erwachsene Staunen über die
Handlungsfähigkeit einer 18-Jährigen, die gerade einen Amoklauf überlebt hat.
Emma González ist tapfer und kommuniziert dabei trotzdem in als angemessen
empfundener Art undWeise ihren Schmerz über den Tod vonMitschüler_innen.
Emmas Entwicklung zur kämpferischen und dennoch sensiblen Anführerin ei-
ner nationalen Protestbewegung ist getragen von dem Begehren ihrer Zuschau-
er_innen, dem überlegenen Wesen, das Emma in diesem Kontext repräsentiert,
nahe zu sein. Es ist geradezu unvorstellbar, Emmas mediale Person, die Verletz-
lichkeit, persönliche Stärke und moralische Überlegenheit vereint, abzulehnen.
Diedrich Diederichsen beschreibt in Über Pop-Musik, wie sich im Blick auf den
Popstar verschiedene Reize und Begehren vermischen. Die Attraktivität der ent-
stehenden Figuration ergibt sich aus dem Gefühl, ihr gleichzeitig nah zu sein
und sie als Vertreterin eines gesellschaftlichen Allgemeinen auffassen zu können.
Diese Dynamik trifft auch auf die Wahrnehmung von Emma González zu.
»Der Referent war eben nicht Sexualität oder Vitalität oder Sentimentalität an sich (wie et-
wa bei herkömmlicher populärer Musik), sondern die Sentimentalität und Sexualität einer
bestimmten Person, einer meist schreienden, auftrumpfenden, säuselnden, cool tuenden
oder weinenden konkreten Person (oder einer kleinen Gruppe von Personen). Dass es sich
um eine konkrete Person handeln muss, die sowohl bestimmt und individuell und ansteu-
erbar ist als auch zugleich fremd, ist die Voraussetzung dafür, nicht nur allein mit einer
Projektion zu sein, sondern allein mit anderen in Potenz. Sie sind konkret wie meine Freun-
de, aber in dem unendlichen, offenen Raum der Fremdheit sind sie Vertreter der Vielen,
7 | Siehe https://edition.cnn.com/videos/politics/2018/02/22/gun-town-hall-full-version-
parkland.cnn.
8 | Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=_bzQ6sMFUb0.
212 Henrike Kohpeiß
Abbildung 3: Näher kommen, Teen Vogue 2018. Quelle: https:
//www.youtube.com/watch?v=Yblathw64U8, Teen Vogue vom
23.03.2018, Screenshots der Verfasserin.
Tears in Heaven 213
die die Gesellschaft ausmachen. Ich kriege also einen Vertreter dieser Gesellschaft, einen
solchen Fremden als Vertrauten, frei Haus geliefert über unabstreitbare, fetischisierbare
Spuren seiner Körperlichkeit und seiner Gefühle.« (Diederichsen 2014: 54 f.)
Diederichsen beschreibt, wie gegensätzliche Eigenschaften, die derselben Person
zukommen, zum Attraktivitätsmerkmal werden. Statt dass die öffentliche Wahr-
nehmung auf der Transparenz politischer und emotionaler Motive besteht, er-
möglicht die konkrete Verkörperung ein hohes Maß an Widersprüchlichkeit, die
damit zu ihrem Recht kommt. Jene Person wirkt auf mich, als würde ich sie ken-
nen, weil ihre Emotionen vertraut wirken, und stellt sich aufgrund ihrer Integra-
tion gegensätzlicher Motive gleichzeitig als Ikone dar, die nur aus der Ferne ihren
vollen Glanz entfaltet. Dieses oszillierende Näheverhältnis zeigt sich in dem ver-
fügbaren Videomaterial von Emma González. Close-Ups sind ein filmisches Mit-
tel, um Gefühlswelten medial zu öffnen, während die konkrete Urheberin dieser
Gefühle in weiter geographischer Ferne bleiben muss. Was dabei entsteht, ist ein
Bild: Die Kombination aus Kraft und Empfindsamkeit, die Emma verkörpert, ge-
rinnt zu einer unablehnbaren Figuration einer Person, der zuzustimmen als die
bestmögliche Option innerhalb der herrschenden politischen Realität erscheint.9
Bedingungen von Nähe
Digital qua Geburt
In der Organisation des Protestes machten die Teenager Gebrauch von dem,
was ihnen angeblich am nächsten liegt: ihren Mobilgeräten sowie ihren Twitter-
und Instagramaccounts. Im Gegensatz zu denjenigen Protestbewegungen, de-
ren (vorläufige) Erfolge auf die Existenz von schwer regulierbarer Onlinekom-
munikation und ihrer Funktionalität zurückgeführt wurden, zeichnet sich der
Parkland-Protest darüber hinaus durch hohes Sendungsbewusstsein bei Social-
Media-Aktivitäten aus. Statt sich auf die Funktion der Informationsübermittlung
und Organisation eines widerständigen Untergrunds zu beschränken, legte die
#neveragain-Bewegung von Beginn an so gut wie all ihre Aktivitäten und Ziele
offen und dokumentierte – mithilfe anderer Medienträger – die Gedanken und
Gefühle der Aktivist_innen.
9 | Die Veröffentlichung von Beyoncés Album Lemonade im Januar 2017 markiert einen Moment
ähnlicher Struktur: Die Folge ihrer klaren politischen Positionierung vor dem Hintergrund ihrer
jahrzehntelangen Karriere im Mainstream-Pop war eine massenhafte Solidarisierung mit ihren
politischen Zielen, die aber unmittelbar an Beyoncés persönliche Präsenz gebunden blieb. Der
Vorwurf gegenüber ihren weißen Unterstützer_innen lautete, dass die Begeisterung für ein Pop-
Album ein sehr einfacher Weg sei, sich einem radikalen politischen Projekt anzuschließen, und
dass die Substanz der vermeintlichen Unterstützung sich in der Realität erst noch zeigen müsse.
214 Henrike Kohpeiß
»The kids are social-media natives who have used Twitter to stir up the same kind of fervor
Trump does. If the President can mock his enemies, they reason, then why can’t high school
students? ›People always say, ‘Get off your phones,’ but social media is our weapon,‹ says
Corin. ›Without it, the movement wouldn’t have spread this fast.‹« (Alter 22.03.2018)
Die »kids« verlassen sich auf die Schnelligkeit von Online-Reaktionen und verfü-
gen schon allein aufgrund ihres Alters über eine große Expertise hinsichtlich der
Aufmerksamkeitsökonomien im Internet. Die Autorin des Time-Artikels, der wie
eine Art Homestory über die Aktivist_innen und über ihr provisorisches Büro in
Parkland berichtet, verwendet den Ausdruck der »social-media natives«, um den
mühelosen Umgang der Jugendlichen mit sozialen Medien zu beschreiben. Die
Generation der zum jetzigen Zeitpunkt 15- bis 20-Jährigen sei »young enough to
be victimized by a school shooting, but old enough to shape the aftermath« (Alter
22.03.2018). Gleichzeitig ist der dieser Generation spezifische Zugang zu allem,
was über ihre eigenen unmittelbaren Lebensverhältnisse hinausgeht, durch ihren
Zugang zum Internet früh angelegt und stetig entwickelt worden. Die Partizipa-
tion an digitalen Strukturen geht in ihrem Fall dem Zugriff auf öffentliche De-
batten über politische Ereignisse voraus – die Jugendlichen führen viel eher ihre
eigenen Debatten über das, was sie umgibt. Auch Emma González ist Teil der po-
litischen Weltgemeinschaft in Gestalt ihres Twitter-Accounts, den sie erst mit der
Gründung der Protestbewegung einrichtete. Über das inzwischen recht etablierte
Schlagwort der digital natives hinaus zieht der selbstverständliche Online-Zugang
auch eine politische Verschiebung nach sich. Oft wurde über das junge Alter der
Aktivist_innen berichtet und darüber gemutmaßt, wie sie die Kompetenzen zu
einer so großen organisatorischen Leistung erworben haben, obwohl ihr Schulle-
ben noch nicht einmal abgeschlossen ist.
Die Netzoptimist_in könnte diesbezüglich zu dem Schluss kommen, dass
die niedrigschwelligen politischen Beteiligungsmöglichkeiten, die durch soziale
Netzwerke geschaffen wurden, neben all ihren Schattenseiten doch zu etwas
gut sind: Sehr junge Menschen haben ein Medium der Meinungsäußerung und
Organisation zur Verfügung, das es ihnen erspart, sich erst in Institutionen legi-
timieren zu müssen, bevor sie politisch aktiv werden können. Die Pessimist_in
könnte die Situation so deuten, dass eben diese jungen Menschen durch die
Kombination aus ihren mittelständischen Privilegien und damit einhergehender
breiter Akzeptanz innerhalb der politisch liberalen Teile der USA sowie den Bild-
und Aufmerksamkeitsökonomien in sozialen Medien in eine Position geraten
sind, die – trotz des Leids, das sie erlebt haben – besser von jemand anderem
besetzt wäre.
Susan Sontag hat 2003 – vor der Existenz des Internets in seiner heutigen
Form – hellsichtig auf diese Gefahr hingewiesen:
»Vor unseren kleinen Bildschirmen hockend – Fernseher, Computer, Palmtop –, können wir
zu Bildern und Kurzberichten von Katastrophen in der ganzen Welt surfen. Man könnte
Tears in Heaven 215
meinen, es gebe solche Nachrichten jetzt in größerer Menge als früher. Aber wahrscheinlich
täuscht dieser Eindruck. Es ist nur so, dass die Nachrichten »von überall« kommen. Und
nach wie vor sind die Leiden mancher Menschen für ein bestimmtes Publikum […] von sehr
viel größerem Interesse als die Leiden anderer Menschen.« (Sontag 2003: 135)
Einerseits ist die Dimension und Reichweite der Proteste also etwas Bemerkens-
wertes und deutet einmal mehr auf die Potenziale einer digitalen politischen
Kultur hin. Andererseits wird deutlich, dass auch diese politische Kultur von
bestimmten ökonomischen Zugangsbedingungen und Sichtbarkeitsregimen ge-
prägt ist, die bei der Beurteilung ihrer Erfolge nicht außer Acht gelassen werden
dürfen.
Betrauerbarkeit
»Ob und wie wir auf das Leiden anderer reagieren, wie wir zu moralischer Kritik gelangen, wie
wir politische Analysen artikulieren, all das hängt von einem bestimmten bereits existieren-
den Feld wahrnehmbarer Realität ab. Innerhalb dieses Feldes wahrnehmbarer Realität ist
festgelegt, was ein anerkennungsfähiger Mensch ist und was nicht als anerkennungsfähiger
Mensch bezeichnet oder betrachtet werden kann, was also als Figur des Nichtmenschen
zu gelten hat, von welcher her ex negativo das anerkennbar Menschliche festgelegt und
zugleich auch infrage gestellt wird.« (Butler 2010: 66)
Butler stellt in ihrem EssayGewalt, Trauer, Politik (2005) fest, dass zwar die Trauer
möglicherweise etwas ist, dass alle Menschen teilen, dass aber im Gegensatz da-
zu die Betrauerbarkeit von einzelnen Leben bestimmten Bedingungen unterliegt
oder gar erst hergestellt werdenmuss. Butlermisst der Aktivität des Trauerns eine
hohe ethische Bedeutung bei, insofern es hier darum geht, zu verstehen, was es
heißt, jemanden verloren zu haben (Butler 2005: 36) und so Einsicht in die eigene
Angewiesenheit auf andere und deren Schutz in der Welt zu gewinnen. Die Trau-
er um eine Person ist jedoch an die Möglichkeit geknüpft, zu dieser Person eine
Bindung zu haben oder herzustellen. Und diese Bindung beruht, insofern es sich
nicht um sich persönlich bekannte Personen handelt, auf kultureller Ähnlichkeit.
Butler beschreibt anhand eines US-amerikanischen Journalisten, der in Pakistan
ermordet wurde, dass es ihr allein aufgrund der Vertrautheit seines Namens leich-
ter fiele, seinen Tod zu beklagen und als Verlust zu spüren, als es mit einem ihr
fremd klingenden Namen der Fall wäre (Butler 2005: 49).10
Die Beschreibung dieser Bedingungen und Dynamik der Trauer ist hinsicht-
lich der Toten von Parkland treffend. In ihrer oben beschriebenen Rede beim
March for Our Lives verzichtet Emma González geradezu auf ein umfassendes
10 | Der Name der Person ist Daniel Pearl und er wurde im Januar 2002 in Pakistan ermordet.
Siehe FAZ Online 22.02.2002.
216 Henrike Kohpeiß
Statement und nennt stattdessen vor ihrem sechsminütigen Schweigen alle Na-
men der Opfer. Sie ruft ihre Leben als betrauernswerte auf.
Die Marjory Stoneman Douglas High School wird vorrangig von Kindern und
Jugendlichen aus dem höheren Mittelstand besucht, und aus eben diesem Mi-
lieu stammen die Hauptakteur_innen des Protestes. Es sind junge Menschen,
die sich in weitgehender Übereinstimmung mit den Idealen des Lernens, des
sozialen Aufstiegs, mit der Institution Schule zeigen und die auch aus diesem
Einverständnis mit dem bisherigen Verlauf ihrer Leben Zuspruch generieren. Sie
sind Teil einer sozial privilegierten Schicht und äußern sich in Übereinstimmung
mit staatlichen Institutionen. Mit den Protesten wächst auch die Kritik an der
Tatsache, dass der Kampf gegen jene Waffengewalt, die sich in den USA überpro-
portional oft gegen schwarze Jugendliche richtet, nie im gleichen Maße Gehör
findet, wie es beispielsweise nach Amokläufen an mehrheitlich weißen Schulen
der Fall war. Dieses Missverhältnis zeigt sich auch in der affektiven Wirksamkeit
von EmmaGonzález’Worten. DieGesichter undNamen der Ermordeten erfahren
eine Sichtbarkeit, die unendlich vielen anderen Opfern von – teilweise staatlicher
– Waffengewalt verwehrt bleibt. Die toten Schüler_innen der Marjory Stoneman
High School können – zum Glück – von ihrer Nation betrauert werden, weil die
in dieser Nation wirksame Anerkennungslogik sie als betrauernswerte Subjekte
erfasst. Die Betrauerbarkeit ihrer verlorenen Leben war durch den Ort und die
Bedingungen ihres Todes von Beginn an sichergestellt – so wie sie für alle in den
USA lebenden Schüler_innen sichergestellt sein sollte. Dieser Umstand ist Teil
der Bedingung der Möglichkeit des sich ereignenden politischen Protestes.
The Universe Is on the Side of Justice?
In The New Yorker gesteht Troy Patterson die affektive Färbung seiner Reaktion
auf die Parkland-Proteste ein und drückt seine Bewunderung für die jungen Ak-
tivist_innen aus:
»Hogg’s [David Hogg, einer der Parkland-Überlebenden] call to action is, of course, emi-
nently reasonable, but I will confess that my response to him and to his peers is not entirely
rational. I can’t be alone in hoping that the testimony of these young people galvanizes
a movement that can stop a plague. I can’t help but wonder if my hopes are just dreams
fuelled by grief and impotent fear. And I can’t be the only viewer who, humbled by the poise
of the kids who survived the shooting, is moved yet more deeply for those who did not.«
(Patterson 15.02.2018)
Der optimistische Ton, der die Berichterstattung über Parkland seitens des links-
liberalen politischen Spektrums begleitet, entfaltet in Anbetracht der politischen
Gesamtsituation der USA unter der Regierung von Donald Trump eine fast beflü-
gelnde Wirkung. Die schiere Möglichkeit, über ein Thema von solcher Tragweite
Tears in Heaven 217
positiv berichten zu können, scheint unmittelbar vor den Protesten imMärz 2018
in weite Ferne gerückt. An diesen Spuren des Optimismus festzuhalten bedeutet
mehr, als nur an einen guten Ausgang der Situation zu glauben. Es macht fast
den Eindruck, als gebe die Aktualisierung eines Protests durch Akteur_innen,
mit denen niemand gerechnet hat, neue Orientierung innerhalb der ansonsten
herrschenden Aussichtslosigkeit. Die Parkland-Proteste und ihre breite öffentli-
cheWahrnehmung erneuern den Glauben an das Vermögen von Einzelpersonen,
politische Entwicklungen maßgeblich zu beeinflussen. Gleichzeitig stellt sich im
Anschluss die Frage, wie die Gewichtigkeit der Bemühungen Einzelner im Kon-
text von digitaler Politik zu bewerten ist und welche Gefahren sie birgt.
The Other Side of Justice
Kaitlin Bennett, 22-jährige Absolventin der Kent State University in Ohio, trug
zu ihrer akademischen Verabschiedungszeremonie eine furchterregend große
Schusswaffe auf dem Rücken. Auf den am 15. Mai 2018 auf Twitter veröffent-
lichten Fotos dieses Tages posiert Kaitlin so selbstverständlich und virtuos in
einem weißen Kleid, dass die Waffe wie ein irritierendes Detail im Bild erscheint
(Abbildung 4). Aus der Sicht derjenigen, die in den Wochen zuvor die Bilder der
Parkland-Proteste verfolgt haben, ist der Anblick dieser jungen Frau mit einer
AR-10 (kein »assault rifle«, wie Kaitlin die Öffentlichkeit in ihrem nächsten Tweet
berichtigte) überraschend bis verstörend. Die Diskrepanz zwischen dem sich
abzeichnenden politischen Weltbild von Kaitlin Bennett und dem der Parkland-
Unterstützer_innen ist unüberbrückbar. In den Fotos von Kaitlin Bennetts Ab-
schlussfeier findet diese Diskrepanz einen stabilen und komplexen Ausdruck.
Kaitlin beschränkt sich in ihrer Öffentlichkeitsarbeit nicht auf die Generie-
rung provokanter Bilder, auf denen sie mit Waffen aller Art zu sehen ist, sondern
vertritt offensiv eine politische Haltung, die sich in dem auf einem rosa T-Shirt
zu lesenden Slogan »Gun Rights are Women’s Rights« zuspitzt. Aus ihrer Per-
spektive ist das 2nd Amendment der US-amerikanischen Verfassung als Recht zur
Selbstverteidigung zu lesen, was ihrer Ansicht nach insbesondere Frauen davor
schütze, zu Opfern von Gewalt zu werden. Kaitlin ist engagiert im politischen
Kampf für das Recht, Waffen zu besitzen und sie überall tragen zu dürfen. Auf
dem neo-konservativen Internetforum Liberty Hangout sind Videos von ihr zu se-
hen, in denen sie über die wahre Bedeutung der Abkürzung »AR« aufklärt und
in fragwürdigen, statistisch problematischen Argumentationen darlegt, warum
Beschränkungen der Waffenrechte angeblich zu mehr Waffengewalt führten.
Um demWirken von Kaitlin Bennett schnell denWind aus den Segeln zu neh-
men, könnteman argumentieren, dass sie urkonservativeWerte in einem jungen,
sexy Gewand präsentiert und damit – wie so viele andere Artikulationen konser-
vativer Kultur – an einem Selbstwiderspruch krankt, der leicht zu benennen ist.
Er besteht unter anderem darin, dass die Art von Frauenrechten, für die Kaitlin
Bennett kämpft, letztlich nur darin bestehen, sich mit einer Waffe verteidigen zu
218 Henrike Kohpeiß
Abbildung 4: Kaitlin Bennett auf Twitter am 15.05.2018.
Quelle: @KaitMarieox, https://twitter.com/KaitMarieox/status/
996462786027950080, Screenshot der Verfasserin vom
15.05.2018.
dürfen, und das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das hieße, vor Waffenge-
walt per se geschützt zu sein, völlig ignoriert. Hinzu kommt die statistisch be-
legbare rassistische Hierarchie, die sich in den Opferzahlen zeigt, die vornehm-
lich durch staatliche Waffen zustande kamen, und unzählige weitere Aspekte, die
Kaitlins vermeintliche Bemühung um ein friedliches Zusammenleben ad absur-
dum führen könnten. Dieses Muster des politischen Arguments – Verteidigung
und Schutz kann einzig durch Waffen und ihren Gebrauch gewährleistet werden
– führt genau genommen in eine ausgeprägte Todessehnsucht. Die Vorstellung
einer Welt, in der jede Person – wie Kaitlin es fordert – jederzeit eine Waffe tragen
und gebrauchen darf, um sich selbst zu schützen (vor was genau ist unklar, das
heißt es muss davon ausgegangen werden, dass schon ein Diebstahl durch einen
Kopfschuss geahndet wird) mündet in täglichem massenhaften Sterben. All die-
jenigen, die in welcher Art auch immer Persönlichkeits- oder Eigentumsrechte
verletzen, haben in Kaitlin Bennetts Weltbild mit der an Ort und Stelle vollstreck-
ten Todesstrafe zu rechnen. Weiterhin ist in dieser Dystopie von Unfalltoden in
großer Zahl auszugehen. Darüber hinaus würden sich – so die konservative Idee
Tears in Heaven 219
– Handlungsmuster verändern und nach und nach Abschreckungseffekte entste-
hen, die – wie soll man es sich anders vorstellen? – zu großem Abstand im öffent-
lichen Raumund der Gewissheit führen würden, dass jede Person, ob im Privaten
oder Öffentlichen, eine geladene Schusswaffe bei sich trägt.
Es ist herausfordernd, sich vorzustellen, dass Kaitlin Bennett, die nahezu im sel-
ben Alter ist wie die Jugendlichen der Parkland-Proteste, eine solche Idee mit
demselben Engagement vertritt, wie sich ihre von der Linken unterstützten politi-
schen Gegner_innen gegenWaffengewalt einsetzen. Die strukturelle Ähnlichkeit
der beiden Protestformen anzuerkennen ist dennoch vor allem deshalb notwen-
dig, weil beide Seiten auf dieselben medialen Mittel zurückgreifen, um Wirkun-
gen zu erzielen.Meine These ist, dass sich in diesem ähnlichen Zugriff auf soziale
Medien und politische Rhetoriken etwas Grundsätzliches über die Konstitution
politischer Agenden in der Gegenwart zeigt.
Die online verfügbarenBilder vonKaitlin und vonEmmagebenAuskunft über
den Ursprung ihrer politischen Positionierung. Sie zeigen die Orte ihrer Politi-
sierung: Die zerschossene High School im einen und die Landschaften von Ohio
im anderen Fall. Hinsichtlich des politischen Mobilisierungspotenzials scheinen
diese Bilder weit wirkungsvoller zu sein als die sie begleitenden Reden und State-
ments. Die beiden Frauen haben in jeweils jungem Alter große öffentliche Sicht-
barkeit erreicht und vertreten starke politische Haltungen, die mit ihrem jewei-
ligen Erfahrungshorizont irgendeine Form von Kohärenz aufweisen. In Emmas
Fall ist diese Kohärenz unproblematisch und im Rahmen demokratischer Grund-
überzeugungen weitgehend geteilt: Eine junge Person, die das traumatische Er-
lebnis eines Amoklaufs überlebt hat, entschließt sich zum Engagement gegen die
gesetzlichen Bedingungen, die dieses Ereignis ermöglicht haben. Sie agiert damit
als selbstbestimmtes Mitglied einer zivilen Gesellschaft, das den Schutz seines
eigenen Lebens und anderer in seiner Position gesetzlich besser gewährleistet
sehen will.
Auf der anderen Seite steht Kaitlin, deren politischer Bildungsprozess eine
Art fatale Kohärenz aufweist: In der medialen Darstellung ist ihre Überzeugung,
dass Waffen ein Mittel zur Selbstverteidigung, also zum Schutz des eigenen Le-
bens sind, nicht auf ein konkretes Ereignis zurückzuführen. Doch lässt sich aus
ihren Tweets und ihren Aktivitäten auf Liberty Hangout ein Selbstbild ablesen,
welches das Ideal einer selbstbestimmten Frau und Aufklärerin durch die Identi-
fikation mit einer rechtskonservativen Grundeinstellung verfolgt. Als ein histori-
sches Ereignis, das für ihre Einstellung relevant ist, benennt sie an verschiedenen
Stellen das Kent State Shooting, bei dem 1970 vier Studierende auf dem Campus
der Kent State University bei Anti-Kriegs-Protesten von Polizist_innen erschos-
sen wurden. Für Kaitlin folgt aus diesen Morden auf ihrem Campus ganz klar
die Überzeugung, dass die Studierenden nicht hätten sterben müssen, wenn sie,
oder jemand anders auf ihrer Seite des Protests, eine Waffe getragen hätten. Die
Forderung nach liberalen Waffengesetzen ist in Kaitlins Perspektive also nichts
220 Henrike Kohpeiß
weiter als ein Aspekt von Emanzipation und Verteidigung gegen die Staatsgewalt.
Diese Kohärenz ist fatal, weil sie durch ein soziokulturelles Umfeld vorgeprägt ist,
das zunächst den Besitz von Waffen und die sich daraus ergebende kriegerische
Potenz honoriert, und zweitens von einer Gesellschaftsform ausgeht, die weni-
ger von gleichberechtigtem Zusammenleben und der entsprechenden gerechten
Verteilung von Raum und Ressourcen, sondern eher von Landbesitz in großer Di-
mension und der Notwendigkeit, sich gegen ein Außen zu verteidigen, ausgeht.
Die soziokulturellen Aspekte des US-amerikanischen Diskurses über Waffenbe-
sitz und seine Geschichte können hier nicht ausführlich diskutiert werden. Es
geht mir auch vorrangig darum, die sozialen Vorbedingungen von politischem
Engagement zu erwähnen, um deutlich zu machen, dass der Erfolg der Mobili-
sierung von Emma beziehungsweise Kaitlin nicht unbedingt inhaltlich – nämlich
durch dieHoffnung auf eine friedlicheGesellschaft beziehungsweise das Verspre-
chen, unangreifbar zu sein – begründet seinmuss, sondern dass dieselben Strate-
gien von affektiver Nähe in sehr unterschiedliche politische RichtungenWirkung
zeigen können. Durch die Offenlegung von Intimität und der Nachvollziehbar-
keit einer politischen Haltung anhand des erfahrenen Schmerzes der Person, die
sie vertritt, erfährt die #neveragain-Bewegung so enormen Zuspruch, während
Kaitlin Bennett davon profitiert, dass offenbar viele Menschen ihre Sehnsucht tei-
len, unverletzbar zu sein.
Emma und Kaitlin erlaubenmedial jeweils Einblicke in ihr Leben, das, wie das
Leben jedes anderenMenschen, vonWidersprüchen durchzogen ist, die sie in der
Öffentlichkeit berührbarer erscheinen lassen und die durch Empathie aufgefan-
gen werden können. Die Erhebung ihrer Persönlichkeiten zu Ikonen verschiede-
ner politischer Lager, die große mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen, deutet
auf das Problem medialer Mobilisierungen. Auch für die extreme Rechte wirkt
das Bild einer jungen Frau, die sich für ihre politischen Überzeugungen einsetzt,
als Generator von Aufmerksamkeit und Popularität.
Schon länger wird eine Debatte darüber geführt, wie mit der Aneignung
emanzipatorischer Grundsätze von konservativer und rechter Seite umzugehen
sei, weil immer wieder zu beobachten ist, wie extrem regressive politischeHaltun-
gen mit einem obskuren »Freiheitskampf« begründet werden, der freilich immer
nur ein Freiheitskampf einiger Ausgewählter sein kann. Kaitlin Bennett schafft
es, Bilder zu produzieren, die genau dann Identifikationspotenzial bieten, wenn
tatsächliche Argumentationen versagen. Bilder, die als Substitut für rationale
politische Strategien einspringen – oder ihre Wirkung schlicht übertrumpfen.
Die Sprache auf Kaitlins Twitter-Account ist geprägt von diffusem Hass und sehr
expliziten Aggressionen gegen »The Left« und »Commies«11. Liberale Positionen
werden fortlaufend als »dumm«bezeichnet,meist ohneGegenargument; und viel
Raum wird darauf verwendet, »die Linke« durch das Herausstellen vermeintlich
peinlicher Fehler zu diskreditieren.
11 | »Commies« = »Communists«.
Tears in Heaven 221
Alle Gefühle glauben an einen guten Ausgang
Alle Gefühle glauben an einen glücklichen Ausgang12 – und es ist das beste aller Ge-
fühle, den glücklichen Ausgang der eigenen Hoffnungen zu erspähen. Emma
González bildet als mediale Figuration eine Kontinuität, die esmir erlaubt, an den
glücklichen Ausgang zu glauben. YouTube stellt dafür den Ort zur Verfügung und
das Material, das diese Hoffnung füttert, reichert sich ständig neu an. Es erschei-
nen wöchentlich neue Artikel, täglich neue Bilder und Videos und stündlich neue
Tweets, welche mich nah am Geschehen halten. Parallel dazu reproduziert sich
der Optimismus, der sich anmeineWahrnehmung dieses Prozesses geheftet hat.
Auf der anderen Seite ist ebenso deutlich geworden, dass dieselben Prozesse
des digitalen Teilens und Reproduzierens von Bildern affektive Bindungskräfte
für diametral entgegengesetzte Haltungen zu Fragen der öffentlichen Sicherheit
freisetzen können. Wie lässt sich angesichts dieses ambivalenten Einsatzes affek-
tiver Bilder und ihrer Wirksamkeit ein Verständnis von Politik gewinnen, das die
Potenziale der Bilder in Rechnung stellt, ohne ihre Gefahren zu vernachlässigen?
Bedeuten die bisherigen Beobachtungen sogar, dass eine egalitäre Befreiungs-
politik hinsichtlich ihres Wirkungspotenzials letztlich nicht von der Gegenseite
unterschieden werden kann? Bedeutet der diagnostizierte Erfolg der von Intimi-
tät und affektivem Identifikationspotenzial getragenen Darstellungen von Emma
und Kaitlin, dass Affektivität eine politische Strategie darstellt, die beliebig ein-
gesetzt werden kann, und vor deren manipulativen Effekten man sich geradezu
schützen sollte?
Die Auseinandersetzungmit Kaitlin Bennett lässt diesbezüglich höchstens die
Prognose zu, dass die von ihr vehement vertretenenHaltungen zu gegebener Zeit
in einen zu starken Widerspruch mit der Wirklichkeit tretenmüssen, um sinnvoll
aufrechterhalten zu werden. Wie sich in einem Twitter-Posting zeigt, den Kaitlin
während einer Reise nach New York veröffentlichte, ist die innere Kohärenz ih-
rer Waffenverehrung fragil und innerhalb eines sehr engen Rahmens angelegt.
Jedes an ihre politische Haltung geknüpfte utopische Potenzial bricht hier näm-
lich in demMoment zusammen, in dem sie ihrem Abscheu gegenüber der crime-
ridden city13, die New York in ihren Augen ist, Ausdruck verleiht, und damit die
äußerst reduzierte Realität, auf die sie sich bezieht, offenlegt. Eine der weltweit
populärsten Städte auf der Ebene von Straßenkosmetik abzulehnen, entspricht
einer zutiefst provinziellen Haltung, die dem rechten politischen Lager allzu oft
anhängt. Diese Provinzialität allein wird die affektive Attraktivität von Kaitlins Po-
sition kaum zu Fall bringen. Doch es ist darauf zu hoffen, dass ein Optimismus,
12 | Titel einer Dokumentation über Alexander Kluge von Angelika Wittlich, 3sat, Deutschland
2002.
13 | Kaitlin Bennett auf Twitter: @KaitMarieox, 26.06.2018, https://twitter.com/kaitmarieox/
status/1011760698026799105?lang=de.
222 Henrike Kohpeiß
der sich auf eine Jugendliche richtet, die den Formen des Zusammenlebens zuge-
wandt ist, sich letztlich vielversprechender anfühlt als die Hoffnung auf auf eine
22-Jährige, deren wesentliche life goals sich auf die Legalisierung von Schusswaf-
fen aller Art und ihren Gebrauch richten.
Die Betrachtung der Parkland-Proteste hat es erlaubt, nachzuvollziehen, wie sich
in affektiv-medialen Dynamiken anhand der Figuration von Emma González
Hoffnung und Optimismus entfachen und welches Mobilisierungspotenzial sie
mit sich bringen.
Optimismus ist in diesem Sinne nicht zu verstehen als Versprechen, das
eingelöst oder gebrochen werden kann, sondern lediglich als Anlass, im Hin-
blick auf eine bestimmte Vorstellung Hoffnung zu entwickeln. Ein Teil der US-
amerikanischen Öffentlichkeit wirft durch die enorme Aufmerksamkeit, die sich
auf die junge Frau richtet, ihre Hoffnung auf Emma González, ohne dabei eine
konkrete Idee vom ›Gelingen‹ oder der Einlösung dieser Hoffnung zu haben.
»All attachment is optimistic, if we describe optimism as the force that moves you out of
yourself and into the world in order to bring closer the satisfying something that you cannot
generate on your own but sense in the wake of a person, a way of life, an object, project,
concept, or scene.« (Berlant 2011: 2)
In diesem Sinne kann Optimismus als politisches Potenzial verstanden werden,
das durch die Distribution von Affektivität befördert wird und enorme Mobili-
sierung nach sich ziehen kann. Doch die konkrete Ausrichtung dieses Potenzials
bleibt zu einem gewissen Grad offen und gefährlich, weil die Bilder, anhand derer
sich Optimismus jeweils entfaltet, trotz allem sehr unterschiedliche Vorstellun-
gen von Gesellschaft und Zusammenleben transportieren. Die Geschlossenheit,
die den einen Teil dieser Vorstellungen ausmacht, entlarvt ihre im Kern pessi-
mistische Grundhaltung oft erst sehr spät. Das eigentliche Vermögen einer opti-
mistischen Stimmung ist eine Mobilisierung mit offenem Ziel, eine Öffnung des
politischen Vorstellungsvermögens. Ihr Gegensatz wäre Demagogie, die durch
bewusste Instrumentalisierung von Affekten die öffentliche Meinung auf eine
einzige politische Vorstellung zurichtet.
Politik der Bilder
Zu einem schon fortgeschrittenenZeitpunkt der Parkland-Proteste veröffentlichte
das Time Magazine eine Fotostrecke der Jugendlichen, in der sie in ihrem Kampa-
gnenzentrum und anderen Orten ihres täglichen Lebens wie demDiner und dem
Wohnzimmer ihrer Eltern zu sehen sind. Einerseits ist der Bericht ein Dokument
des kindlichen und damit möglicherweise unprofessionellen Charakters des Pro-
testes und andererseits zeigt er eine Gemeinschaft verschworener Jugendlicher,
an deren Sommercamp-Atmosphäre man allzu gern partizipieren möchte:
Tears in Heaven 223
»Everything crackles with a sense of ferocious optimism. It feels like the last rehearsal of
a high school musical, halftime at state championships, the final days of senior year. The
kids stream in and out on no particular schedule, tumble to the floor to read their fan mail,
twirl around on chairs while composing tweets and crowd into a tiny conference room for
calls with reporters or lawmakers.[…] There’s a sense that anything can happen in this little
corner of the teenage universe, because all kinds of things can.« (Alter 22.03.2018)
Wie auch immer sich diese Bilder des Privaten, des Öffentlichen, der Trauer, der
Hoffnung und des Kampfes aneinanderreihen und dabei affektive Ketten bilden
und Meinungsbildungsprozesse steuern, es führt kein Weg an ihnen vorbei. Das
Stakkato ihres Erscheinens lässt es kaum zu, ihnen in Echtzeit eine Faktenlage
zuzuordnen oder sie einer kritischen Analyse zu unterziehen. Noch bevor ein ein-
ziges dieser Bilder erschöpfend besprochen werden kann, sind schon drei neue
aufgetaucht. Die Dramaturgie der Bilder, die Emma González zur Leitfigur ei-
ner nationalen Protestbewegung machten, entfaltet eine eigene Bindungskraft:
Die Bilder fesseln durch die Kombination von Identifikationspotenzial, extrem
schneller Verbreitung und Zugänglichkeit sowie affektiver Intensität.
Es ist nicht zu leugnen, dass die Formen dieses politischen Kampfes mitunter
infantil wirken in Anbetracht dessen, was und wen sie adressieren. Weder der
Pop-Schmerz der Parkland-Teenager noch Kaitlin Bennetts Disney-Dance wirken
adäquat oder komplex genug, wenn es darum geht, einen Umgangmit Waffenge-
walt und entsprechenden Gesetzgebungen in den USA zu finden. Diese Tatsache
zu bedauern und auf einer anders geführten Debatte – das heißt einer dem Ide-
al der »vernunftbasierten Diskussion« entsprechenden – zu beharren, ist jedoch
kein aussichtsreicher Weg. Vielmehr ist es notwendig, die wirkungsvollen visu-
ellen Dynamiken, welche die verschiedenen politischen Figurationen so kraftvoll
haben werden lassen, ernst zu nehmen und sie als die zentralen Schauplätze von
affektiver Politik der Gegenwart anzuerkennen.
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Die neue Lust am Ressentiment
Grundzüge eines affekttheoretischen Ressentiment-Begriffs
Christian Ernst Weißgerber
Einleitung
Der Aufstieg des Nationalpopulismus mit Phänomenen wie Donald Trump, der
Alt-Right, der sogenanntenNeuenRechten in Europa und der AfD zeugt von einer
neuen Lust am Ressentiment. Diese Lust, wenngleich sie strategisch verwendet
wird, ist, wo immer sie erscheint, anti-intellektualistisch, diffus-emotional, affek-
tiv. Die affektiven Dimensionen des Ressentiments sollen im Folgenden beleuch-
tet werden.
Der Begriff des Ressentiments hat auch außerhalb akademischer Debatten
und politischer Feuilletons Eingang in den Sprachgebrauch gefunden. Dabei wird
er vorwiegend als Synonym zu Vorurteil, feindseliger Voreingenommenheit oder
hasserfüllter Abneigung verwendet und bezieht sich somit auf primär kognitive
Vorgänge – darauf, als was jemand jemanden sieht undwie dabei geurteiltwird. Ich
werde im Folgenden von kognitisivtischen Vorurteils- und Ressentiment-Theorien
sprechen, dessen zentrales Postulat der jetzige BundesaußenministerHeikoMaas
auf den Punkt gebracht hat: »Gewalt entsteht im Kopf.«1 Vorurteile, ›Ideologie‹,
Ressentiments seien Kopfgeburten eines Hasses, der nach legitimierenden Ratio-
nalisierungen späht. Ressentiment undHass lassen sich nicht einfach wegdenken.
Den Begriff des Ressentiments affekttheoretisch zu reformulieren, um ihn
dem Primat des Kognitiven zu entreißen, ist der Erkenntnisanspruch des vor-
liegenden Textes. Für diesen theoretischen Problemaufriss wird zunächst eine
1 | Melzer und Molthagen 2015: 18. Das Motiv hat auch in der populärwissenschaftlicher Li-
teratur rege Anwendung gefunden, zum Beispiel als Buchtitel: Gewalt entsteht im Kopf, Günter
2011.
Mühlhoff, R.; Breljak, A.; Slaby, J. (Hg.): Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie
der Digitalen Gesellschaft. transcript 2019, S. 225–244. DOI: 10.14361/9783839444399-
010.
226 Christian Ernst Weißgerber
systematische Eingrenzung des Begriffes erfolgen, wobei der vorliegende Artikel
weder eine philologische noch eine genealogische Begriffsgeschichte des Ressen-
timents zu leisten beabsichtigt. Vielmehr wird sich dieser Artikel dem Problem
über eine Analyse und Inventarisierung von Affektpotenzialen nähern, also ei-
ne Ethologie des Ressentiments vornehmen. Diese Ethologie baut erstens auf einer
begrifflichen Unterscheidung zwischen Ressentiment und Ressentimentalität auf.
Außerdem erarbeitet sie unter dem Begriff der Sentiment-Analyse eine Kartogra-
phierung von Affektpotenzialen, die das Ressentiment gegen die vier angrenzen-
den Sentimente Assentiment, Pressentiment, Consentiment und Dissentiment
abgrenzt.
Ressentiment: Die am besten verteilte Sache der Welt?
Eingang in die abendländischeGeistesgeschichte fand der aus demFranzösischen
stammende Begriff »Ressentiment« wohl durch seine Verwendung in den Essais
von Michel de Montaigne. Im Aphorismus Couardise mere de la cruauté (Feigheit,
die Mutter der Grausamkeit) bezeichnet »resentiment« (Montaigne 1962: 672) die
Gefühlsregung, die ein im Kampf Überlegener dem Unterlegenen dadurch bei-
bringt, dass er ihn nach dem Duell am Leben lässt.2 Dieser Tötungsverzicht die-
ne, so Montaigne, der dauerhaften Verankerung der Überlegenheit des Siegers
im Bewusstsein des Besiegten. Montaigne selbst zog der »Barbarei« (ebd.: 679)
der Tötung ein leben Lassen ohne sterben zu machen vor, wenngleich hierbei
Ressentiment erzeugt wird. Der Besiegte kommt zwar mit dem Leben davon, die
Schmähung, die dies nach sich zieht, fügt ihm dabei jedoch neben den vielleicht
während des Kampfes erlittenen physischen Blessuren auch eine psychische Ver-
letzung zu: denWunsch der Rache am Sieger, der sich als heimlicher Groll imGe-
dächtnis des Besiegten einnistet. Die Ontogenese des Ressentiments ist also schon
bei Montaigne an eine symbolische Viktimisierung gebunden. Ein Leben wird als
Opfer markiert, ohne ein Leben zu opfern.3
Im Anschluss an diesen Ansatz Montaignes sind nun folgende Grundüberle-
gungen zur Figur des Ressentiments zentral für meine weitere Argumentation:
2 | Dies war dabei keinesfalls eine Geste philanthropischen Erbarmens; vielmehr handel-
te es sich um ein an ritterlichen Kodizes ausgerichtetes Verhalten, das zutiefst durch sozio-
ökonomische Interessen der ritterlichen Kaste motiviert war: Anstatt einen anderen ›Edelmann‹
im Duell zu töten, war es gebräuchlich, einen Niedergestreckten gegen Lösegeld aus seiner
Geiselhaft zu entlassen; andererseits konnten ›Edelleute‹ durch solches Verhalten an einem
anderen, weniger siegreichen Tag selber auf diese Art pekuniär motivierter Gnade hoffen.
3 | Diese Formulierung ist aufgrund der Ununterscheidbarkeit des Opfers als verletzte, geschä-
digte Person zum Beispiel eines Verbrechens (engl. victim) und des Opfers als rituell geopferte
Entität (engl. sacrifice) möglich.
Die neue Lust am Ressentiment 227
Es handelt sich bei Ressentiment umden diffus gespürten Zustand, ungerecht be-
handelt worden zu sein beziehungsweise ungerecht behandelt zu werden, ohne
dass eine unmittelbare Möglichkeit der Rache oder Wiedergutmachung gegeben
ist – das Erleiden einer verletzenden Kränkung ist an ein Gefühl eigener Ohn-
macht zur Vergeltung gekoppelt. Dies erzeugt, wie Max Scheler es beschreibt,
eine »Selbstvergiftung« (Scheler 1955: 38) des Gedächtnisses durch andauernde,
zwanghafte Erinnerung an die Verletzung und an den Verletzenden. Die einzig
mögliche Reaktion der verletzten Person scheint ein verächtliches und aversives
Framing4 ihrer Wahrnehmungsweisen zu sein, durch das sie sich selbst einem
schuldigenÜbeltäter gegenüber zum unschuldigenOpfer erklärt. Aus dieser ›Selbst-
Viktimisierung‹ bei gleichzeitigem Othering entspringt mit der Zuschreibung
von »gut« und »böse«5 die moralische Legitimation ›meiner eigenen‹ Retaliation,
imaginär oder welcher Art auch immer. Auf diese Weise (re-)produziert Ressen-
timent also eine Ungleichheitsdiagnose und konstituiert zugleich ein Potenzial
der Selbstreferenz auf etwas, das ›ich‹ als ›meine eigene‹ Verletzung und damit
als identitätsstiftend für ›mich selbst‹ zu adressieren vermag. Ressentiment hat
ein hohes Individuationspotenzial, das sich aus dem nachfühlenden Erinnern ei-
ner immer wieder gegenwärtigen Vergangenheit speist.6 Diese Verkettung diffuser
Empfindungen, die mittels diskursiver Strategien zu einer moralisierenden Waffe
instrumentalisiert werden kann, die sich zur Steigerung der eigenen Wirkmäch-
tigkeit einsetzen lässt, möchte ich – zunächst noch etwas vage – als Grundmerk-
mal des Ressentiments bestimmen. Diese Charakterisierung findet sich in ver-
gleichbarer Weise schon bei Friedrich Nietzsche. Er liefert die erste systematische
Auseinandersetzung mit dem Ressentiment-Begriff, die einen starken Einfluss
auf die meisten nachfolgenden Auseinandersetzungenmit diesem Begriff ausüb-
te. Ressentiment erhält in Nietzsches Denken einen immensenWirkungsbereich:
Der dem Ressentiment immanente Geist der Rache wird zum genealogischen
4 | Eine allgemeinverständliche Einführung in das Konzept des (Political) Framings gibt Wehling
2016.
5 | Reinhard Olschanski beschreibt dies als Dual des Ressentiments: Das Ressentiment produ-
ziert selbst »seine Referenzen in der Trennung von Innen und Außen artikulieren sich gedoppelte
Konzepte nach dem Muster des Freund/Feind-Duals. Sie schaffen die Räume des ›Guten‹ und
›Bösen‹, des Rang- und Wertunterschieds – und vor allem die Grenzen zwischen ihnen, über
die hinweg das Bedrängende magisch verschoben werden soll. Das Ressentiment realisiert die
Zeitlichkeit der er- und verinnerten Verletzung in der Räumlichkeit seiner Moral.« (Olschanski
2015: 21). Olschanski eruiert diese binarisierende Dimension des Ressentiments, indem er
ihren konkreten ›historischen Dualen‹ von den Imperien der frühen europäischen Geschichte bis
zum heutigen Anti-Europa-Ressentiment nachgeht. Vgl. ebd. 57-213.
6 | Daniele Giglioli hat darauf hingewiesen, dass jedes Gedenken individuellen gleichwie kollek-
tiven Opfer-Seins, »ein Verhältnis zu Vergangenheit [schaffe], das unweigerlich ein Besitzverhält-
nis ist: meine, unsere Vergangenheit. Das Gedenken schreibt sich nie ohne Possessivpronomen.«
(Giglioli 2016: 16).
228 Christian Ernst Weißgerber
Geburtshelfer der christlich-abendländischen Moral. Es bläht sich zu einer qua-
siontologischen Grundkategorie auf – nicht zuletzt deshalb kann Peter Sloterdijk
heute in guter nietzscheanischer Tradition fragen: »Ist nicht das Ressentiment,
noch vor dem bon sens, die am besten verteilte Sache der Welt?« (Sloterdijk 2006:
76) Die Rede ist hier von einerWelt, die Nietzsche zufolge vom sogenannten »Wil-
len zur Macht« durchwirkt ist – dies ist eine weitere, und die wohl umstrittenste
quasiontologische Kategorie seiner Philosophie.
Deleuze hat den Willen zur Macht in Nietzsche und die Philosophie in Anleh-
nung an Spinozas Konzept des conatus beschrieben: »Nicht ist das Ressentiment
der Psychologie geschuldet, vielmehr unsere ganze Psychologie ist, ohne es zu
wissen eine des Ressentiments.« (Deleuze 1976 [1962]: 41, Übersetzung verän-
dert). Deleuze greift dabei die Rede Nietzsches von aktiven und reaktiven Kräfte
auf und wendet sie ethologisch, indem er Körper als »Einheit […] eines vielschich-
tigen Phänomens, […] eine ›Machteinheit‹« (ebd.: 46), als einen Komplex aus
Kräften zur Steigerung und Minderung von Wirkmacht definiert. Ressentiment
kann dann einen die Wirkmächtigkeit steigernden oder sogar empowernden Ef-
fekt haben. Es handelt sich dabei umeine reaktive Kraft, die aktiv wird. Dies erhellt
die Relektüre einer der wohl berühmtesten Textstellen aus Nietzsches Genealogie
der Moral:
»Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöp-
ferisch wird und Werthe gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche
Reaktion, die der That versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten.«
(Nietzsche 1988 [1887]: 270).
Rache käme demAusagieren der »eigentliche[n] Reaktion« gleich, welche die dys-
phorische Infektion des Körpers durch den Geist der imaginären Rache verhüten
würde.
»Fragen wir, was der Mensch des Ressentiments sei, dürfen wir auf keinen Fall folgenden
Grundsatz außer Acht lassen: er re-agiert nicht. ImWort ›Ressentiment‹ steckt ein überdeut-
licher Hinweis: die Reaktion hört auf, ausagiert zu werden und wird statt dessen gefühlt
(senti).« (Deleuze 1976 [1962]: 122, Hervorhebung im Original)
Ressentiment reagiert nicht und ist trotzdem aktiv, nicht, weil es zur Tat schreitet,
sondern weil es im Gefühl tätig wird – durch die Schaffung neuer Werte und
Urteile, etwa über »gut« und »böse«.
Wird Ressentiment in einer solchen Weise affekttheoretisch gewendet, so
schwingt es sich zu einem nahezu ubiquitären Phänomen menschlichen Da-
seins auf. Eindrücklich beschreibt Deleuze dies und gibt zugleich eine viel-
leicht ernüchternde Einschätzung der Bedeutung des Ressentiments für die
(Ge-)Denkstrukturen dessen, was im 18. Jahrhundert als ›Mensch‹ die Bühne
der Weltgeschichte betritt:
Die neue Lust am Ressentiment 229
»Der Geist der Rache ist das genealogische Element unseres Denkens, das transzendenta-
le Prinzip unserer Weise zu denken. Der Kampf Nietzsches gegen den Nihilismus und den
Geist der Rache wird demnach die Bedeutung: Sturz der Metaphysik, Ende der Geschichte
als Geschichte des Menschen, Transformation der Wissenschaften, tragen. Und um ehrlich
zu sein, wir wissen doch nicht einmal, was ein Mensch bar jeden Ressentiments wäre. Einer,
der das Dasein nicht anklagte und entwertete, wäre der noch ein Mensch, dächte der noch
wie ein Mensch? Wäre der nicht schon etwas Anderes als ein Mensch, fast schon Über-
mensch? Ressentiment zu hegen oder keines zu hegen: Es gibt jenseits von Psychologie,
jenseits von Geschichte und jenseits von Metaphysik keinen größeren Unterschied. Es ist die
wahre Differenz oder die transzendentale Typologie – die genealogische oder hierarchische
Differenz.« (Ebd.: 41)
Wenn wir an dieser Stelle Deleuzes Darstellung folgen und davon ausgehen, dass
es ein ›Jenseits des Ressentiments‹ für den Menschen wohl nicht gibt, so stehen
uns zwei Auswege offen: einerseits die Flucht nach vorn,Übermensch odermoder-
ner gesprochen post-/trans-/a-/in-human werden. Andererseits könnten wir eine
Binnendifferenzierung innerhalb der affektiven Kontinua des Ressentiments ein-
führen. Dieser zweite Weg würde bedeuten, die simplifizierende binäre Oppositi-
on Ressentiment vs. kein Ressentiment zu vermeiden und stattdessen – nuancierter
und komplexitätsgesättigter – zwischen Ressentiment und Ressentimentalität zu
differenzieren. Dies erlaubt dann die Analyse weiterer an die Ressentimentalität
angrenzender Sentimente und Affektdispositionen, die – jenseits der Dichotomie
Diese Person hat ein Ressentiment vs. Diese Person hat kein Ressentiment – den gra-
duellen Übergang zwischen Ressentiment und anderen Sentimenten erläutern
kann. Hierdurch wird angedeutet, dass eine Veränderung affektiver Dispositio-
nen teilweise denkbar und realisierbar ist, wenn die ›Durcharbeitung‹ oder das
bewusste Einnehmen einer ›Haltung zu‹ der eigenen Ressentimentalität wieder-
holt eingeübt werden.
Ressentiment und Ideologie
Neben diesem begriffsgeschichtlichen gleichwie ontologischen Problemaufriss
entstehen durch den offenbar völlig willkürlichenWiderfahrnischarakter des Res-
sentiments überdies auch Fragen nach der Authentizität einer erlittenen Verlet-
zung sowie der Aufrichtigkeit des Urteils über die Zuweisung von Schuld und
dessen Folgen. Jede_r kann mit gleichem Recht eine erlittene Verletzung identifi-
zieren, um sich in der Folge mit ihr ›ressentimental‹ zu identifizieren. Ressenti-
ment findet dabei immer eine_n Schuldige_n. Richtiger wäre sogar: Ressentiment
hat seine Schuldigen immer schon gefunden. Ob die lancierten Schuldzuweisun-
gen dabei auch nur die geringste Anerkennung finden, ist irrelevant – Ressen-
timent wirkt auch, wenn der_die Schuldige nicht an die eigene Schuld glaubt.
Die Feedback-Schleife des Ressentiments ist selbstreferenziell. Aber die Selbst-
230 Christian Ernst Weißgerber
referenzialität kann sich externalisieren, zum Beispiel wenn ein Ressentiment
sich als Opfer adversativen Ressentiments deklariert. Ohne auf diese Dimensi-
on reduzierbar zu sein, ist Ressentiment hier »wie Mundgeruch immer das, was
die anderen haben.«7 Diese Mundgeruchsmetaphorik hat der britische Literatur-
theoretiker Terry Eagleton in Bezug auf Ideologie benutzt, um das ihr eigene rezi-
proke Unterstellen realitätsverleugnender Inkompetenz anschaulich zu machen.
Ressentiment und Ideologie haben dieses Merkmal willkürlichen Insinuierens
gemeinsam, unterscheiden sich jedoch in einem wesentlichen Aspekt:
»The most elementary definition of ideology is probably the well-known phrase from Marx’s
Capital: ›sie wissen das nicht, aber sie tun es‹ – ›they do not know it, but they are doing it‹.
The very concept of ideology implies a kind of basic, constitutive naiveté: the misrecognition
of its own presuppositions, of its own effective conditions, a distance, a divergence between
so-called social reality and our distorted representation, our false consciousness of it.«
(Žižek 2008: 24, Hervorhebung im Original)
Auf solche Weise wurde Ideologie in der Geschichte des abendländischen Den-
kens als verkennende Wahrnehmung beziehungsweise Verzerrung kognitiver
Prozesse8 im Allgemeinen verstanden, die einer ›Verunreinigung‹ des Erkennt-
nisapparates gleichkommt. Von Marx und Engels wurde dies prominent auf
die Formel vom ›falschen Bewusstsein‹ gebracht, das zur Aufklärung nicht nur
fähig sei, sondern diese auch dringend nötig habe. Bringt man dies nun mit
dem Mundhöhlengleichnis in Verbindung, in dem Ideologie einen üblen Nach-
geschmack hat, so drängt sich die Frage auf: Was tun gegen den ideologischen
Mundgeruch? Nicht wenige ›kritische Theorien‹ mit de(o)ntologischem Kolorit
empfehlen eine Art rationaler Zahnhygiene in Form von Ideologiekritik – gegen
akute ideologische Verunreinigungen, aber auch prophylaktisch: Zähneputzen
gegen falsches Bewusstsein. Demgegenüber wäre Ressentiment eher als hart(nä-
ckig)er Zahnbelag zu beschreiben. In dentologischer Terminologie entspricht es
einem Konkrement, vulgo Zahnstein.9 Kalzinierte Ein- beziehungsweise Ablage-
7 | Eagleton 2000 [1991]. Eagleton bezieht sich hierbei auf Ideologie. Hiervon wird später
erneut die Rede sein.
8 | Terry Eagleton hat eine umfassende Übersicht verschiedener Auslegungen des ›Ideologie-
Begriffs‹ zusammengestellt, vgl. Eagleton 2000 [1991]: 7 f.
9 | Wichtig ist dabei, dass trotz der womöglich skurril anmutenden Metaphorik Zahnstein ei-
ne selbstverschuldete Einlagerung aufgrund mangelnder alltäglicher Zahnhygiene ist und keine
Krankheit. Im Gegenteil zu Mundgeruch: Dieser kann tatsächlich chronisch sein. Zwar gibt es
durchaus auch chronisches Ressentiment; dies aber nur hinsichtlich seiner sich wandelnden
historischen Formen (der Chroniken des Ressentiments) sowie angesichts der vielleicht traurig
anmutenden Tatsache, dass einige Menschen fast ihr Leben lang sie selbst und ihre Mitwelt pei-
nigendes Ressentiment haben; eine »psychische und moralische Wunde, die sich nicht schließt
und eine eigene verdorbene Zeitlichkeit erzeugt – die schlechte Unendlichkeit des Unerledigba-
Die neue Lust am Ressentiment 231
rungen, rigide Verkrustungen, gegen die kein herkömmliches Mittel rationaler
Zahnhygiene Wirkung zeigt. Alles Zähneputzen nützt nichts: Die hartnäckigen
Einlagerungen des Ressentiments, die eine gepanzerte Affektdisposition ausbil-
den, vermag keine Ideologiekritik wegzubürsten. Gegen Ressentiment ist Kritik
allein kein adäquates Mittel; sie wird stumpf und beißt sich an ihm die Zähne
aus. Denn zu einer Veränderung von Ressentiments reicht ein Umdenken allein
nicht aus, es bedarf auch einer anderen Art des Affizierens und Affiziertwerdens,
um sentimentale Dispositionen zu verändern. Dabei stellt sich die Frage, auf
welche Weise sich Ressentiments sogar als Waffe der Ideologiekritik anderer
Positionen instrumentalisieren lassen. Dies ist eine Kunst, die sich bei Peter
Sloterdijk nachweisen lässt.
Authentizität des Ressentiments: Sloterdijk vs. Žižek
In diesem Abschnitt möchte ich verschiedene Unterscheidungsmerkmale und
strategische Verwendungsweisen von Ressentiment in philosophischen Diskur-
sen als Anschauungsmaterial anführen. Durch die Diskussion der Gemeinsam-
keiten und Unterschiede zu kognitivistischen Ideologiekritiken ergeben sich wei-
tere Nuancierungen des Ressentiment-Begriffs, die schließlich in eineDiskussion
der Authentizität von Ressentiment münden. Wer hat Ressentiment und warum,
das sind die Fragen, die es hierbei zu beantworten gilt.
Gründe für die amEnde des letztenAbschnitts angedeutete häufigeWirkungs-
losigkeit von Ideologiekritik gegen in Ressentiments verankerte Anschauungen
hat Peter Sloterdijk mit seinen Ausführungen über das »aufgeklärte falsche Be-
wusstsein« (Sloterdijk 1983: 37) des Zynismus herausgearbeitet:
»Es ist das modernisierte unglückliche Bewusstsein, an dem Aufklärung zugleich erfolgreich
und vergeblich gearbeitet hat. Es hat seine Aufklärungs-Lektion gelernt, aber nicht vollzo-
gen und wohl nicht vollziehen können. Gutsituiert und miserabel zugleich fühlt sich dieses
Bewusstsein von keiner Ideologiekritik mehr betroffen; seine Falschheit ist bereits reflexiv
gefedert.« (Ebd.: 37)
Mit dem Begriff des Zynismus bringt Sloterdijk die Figur einer reflexiv geworde-
nen Ideologie in die Diskussion ein. »[R]eflexiv gefedert« ist diese Ideologie durch
die Einführung einer Metaebene, deren Polster-Effekt darin besteht, die Kritik am
Geäußerten in der Äußerung selbst vorwegzunehmen. Diese Metaebene kann die
ren der Beschwerde« (Sloterdijk 2006: 80). Um potenzieller Pathologisierung vorzubeugen, darf
Ressentiment nicht mit einer chronischen Krankheit verwechselt werden: Vielmehr handelt es
sich um eine (Selbst-)Verletzung (auf die Unterscheidung Verletzung und Krankheit werden wir
im Folgenden erneut zurückkommen).
232 Christian Ernst Weißgerber
Waffe der Kritik scheinbar ersetzen, indem sie die Kritiker_in ihrer argumentati-
ven Leuchtspurmunition beraubt: Diese bestand über Generationen hinweg ge-
rade darin, diejenigen, die den Schuss nicht gehört hatten, über ihre naiven Ver-
haltensmuster und unreflektierten Denkweisen aufzuklären. Nun aber dämpft
die antizipative Selbstreferenzialität der Zyniker_innen die Schockwirkung (Vgl.
Benjamin 1991: 464) der ideologiekritischen magic bullet wie eine Kevlarweste.
In alltäglichen Wortgefechten ist es dem aufgeklärten falschen Bewusstsein daher
möglich, beispielsweise rassistische oder sexistische Äußerungen ohne Vorbehal-
te zu tätigen, solange diese mit einemNachschub folgender Art versehen werden:
Ich weiß, dass das, was ich sage rassistisch beziehungsweise sexistisch ist; und weil ich
darum weiß und es ja sowieso nicht ernst, sondern nur ironisch gemeint ist *imaginary
Zwinker-Emoji*, kann ich solche Witze machen, diesen oder jenen Unsinn erzählen
und dass, ohne deshalb sofort rassistisch, sexistisch oder so etwas zu sein! – derzeit auch
besonders populär ist die einer vergleichbaren Logik folgende, jedoch zumeist vor-
geschobene Formel: Ich bin kein Rassist, aber …
Žižeks Einschätzung zufolge konnte sich Sloterdijks intellektuelles Schaffen
spätestens seit demMillennium allerdings selbst nicht mehr dem Sog der »altehr-
würdig-fatale[n] Allianz von Intelligenz und Ressentiment« (Sloterdijk 2006: 354)
entziehen. So hat Sloterdijk etwa in seiner ingrimmigen Abrechnung mit ›den
großen‹ Weltreligionen und -revolutionen in Zorn und Zeit mit einiger zeitlicher
Verzögerung das Momentum des affective turn in der Form aufgenommen, dass
er einen ›thymotisch gesättigten‹ Ressentiment-Begriff vorschlägt. Thymos gilt
für ihn als Relais »der moralischen Domestikation des Zorns« (ebd.: 41), welches
das Destruktionspotenzial erratischer Zornesausbrüche bändigen und in sozio-
politisch ›akzeptable‹ Bahnen lenken soll. Sloterdijks Ansatz verbleibt dabei aller-
dings auf der von ihm eingeführten psychopolitischen Ebene (siehe hierzu auch
van Tuinen 2011: 2). Im Stile Heideggers, an dessen Opus magnum auch der
Titel des Buches angelehnt ist, prangert Sloterdijk die vermeintliche ›Thymos-
Vergessenheit‹ der Weltgeschichte an. Er suggeriert dabei wiederholt, es habe
vor ihm noch niemand ›richtig‹ über den Schlüsselcharakter der Dressur von
Missgunst, Neid und innerem Furor für das gesellschaftliche Zusammenleben
geschrieben.10 Seine in Zorn und Zeit ausgearbeitete thymotische Deutung der
10 | Als einen der wenigen Zeitgenossen mit ähnlichem Weitblick nennt Sloterdijk Francis Fu-
kuyama und dessen Theoretisierungen des Thymos in seinem äußerst populären Handbuch für
eine (liberal-kapitalistische) Welt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs The End of History and
the Last Man von 1992. Der Philosoph und AfD-Politiker Marc Jongen schließt an dieses Werk
verschiedentlich in Interviews über seine Parteipolitik an. Karin Janker von der Süddeutschen
Zeitung schreibt hierzu, »dass die AfD die einzige Partei sei, die Wut und Zorn in der Bevölkerung
nicht nur ernst nehme, sondern anzufeuern wisse. Die ›Thymos-Spannung heben‹ nennt Jongen
das im Gespräch mit Journalisten.Was nichts anderes heißt, als den Zorn der Bürger zu schüren.
Thymos ist bei Platon, neben Logos und Eros, eine der drei Gemütsbewegungen des Menschen.
Der Wutbürger habe eben eine erhöhte Thymos-Spannung.« (Janker 2016).
Die neue Lust am Ressentiment 233
Weltgeschichte als »Geschichte von Zornverwertungen« (Sloterdijk 2006: 100)
versteigt sich schließlich zu der These, alle emanzipatorischen Revolutionspro-
jekte seien letztlich nichts als projektierte Rachefeldzüge gewesen. Revolutionen
folgten dabei einer implizit apokalyptischen Logik: ein Endzeit-Szenario, in wel-
chem dem Paroxysmus eines Vulkans gleich die in den Zornprojekten akkumu-
lierte Wut eruptiv freigesetzt wird. Sloterdijk zeichnet dabei das Sinnbild einer
kollektivistischen Zornbank, bei der sich – der Buchhaltung konventioneller Gi-
rokonten nicht unähnlich – Zornpotenziale anhäufen beziehungsweise aufsparen
lassen. Bei Žižek findet sich eine prägnante Zusammenfassung der Hauptthesen
Sloterdijks:
»Die christliche Idee des Jüngsten Gerichts, bei dem alle angehäuften Schulden vollständig
beglichen und eine aus den Fugen geratene Welt endlich wieder eingerenkt wird, geht in
säkularisierter Form in das Projekt der modernen Linken ein. Nicht Gott wird hier Gericht
halten, sondern das Volk. Linke politische Bewegungen gleichen ›Zornbanken‹. Sie sammeln
die Zorninvestitionen der Menschen ein und versprechen ihnen flächendeckende Rache, die
Wiederherstellung globaler Gerechtigkeit.« (Žižek 2009: 279)
Dabei subsumiert Sloterdijk, so Žižeks Kritik weiter, allerlei historische Ereignis-
se unter dem Begriff des »Kommunismus« beziehungsweise, wie er es im Stile
›rechtsintellektueller‹ Geschichtsrevisionist_innen formuliert, des »Linksfaschis-
mus« (Sloterdijk 2006: 258; 313). So werden die Befreiungskämpfe der Arbei-
ter_innenbewegung mit den national-faschistischen Revolutionen gleichgesetzt,
weil Sloterdijks grimmiges Bankwesen nur in der universellen Äquivalenzform
des Zorns operiert – was von wem auf welche Weise investiert wird, scheint nicht
von Belang.11
»Woher kommt es, dass dieser [Sloterdijk] jedes globale emanzipatorische Projekt als einen
Fall von Neid und Ressentiment verunglimpft, woher kommt sein besessen-zwanghafter
Drang, unter der Oberfläche der Solidarität den Neid und den Rachedurst der Schwachen
11 | Auf diese Gleichsetzung von Unvergleichbarem und die damit verbundene Einebnung von
Unterschieden in Sloterdijks Ökonomie des Zorns geht auch Žižek ein: »Es überrascht also nicht,
dass Sloterdijk systematisch von ›Linksfaschismus‹ spricht und sich immer wieder auf Ernst
Nolte bezieht, jenen ›revisionistischen‹ Historiker, der die Vorstellung vom Nationalsozialismus
als zwar bedauernswerter, aber nachvollziehbarer Reaktion auf den kommunistischen Terror ent-
wickelte. Sloterdijk sieht den Faschismus letztlich als eine abgeleitete Variante des genuin lin-
ken Projekts eines emanzipatorischen Zorns – und als Reaktion auf dieses.« (Žižek 2009: 282)
Für eine Darstellung des maßgeblichen Paradigmas derartiger Gleichsetzungen im sogenannten
Hufeisen-Modell in den Sozial- und Politikwissenschaften sowie ein Plädoyer für die Abschaffung
des Extremismus-Begriffs zugunsten eines sozialphilosophisch informierten Radikalisierungsbe-
griffs vgl. meine Ausführungen an anderer Stelle: Weißgerber 2014.
234 Christian Ernst Weißgerber
zu finden, kurz gesagt: woher kommt seine entfesselte ›Verdachtshermeneutik‹, die einer
Nietzschekarikatur gut zu Gesicht stünde?« (Žižek 2009: 287)
Dies fragt Žižek noch vermeintlich tastend und differenziert, bevor er sich dersel-
ben Interpretationskunst bedient, um die Vermutung zu äußern:
»Wie, wenn dieser Drang seinerseits von einem verleugneten Neid und Ressentiment ge-
speist würde, dem Neid auf die universale emanzipatorische Position – so dass man ir-
gendeinen Schmutz an deren Wurzel finden muss, der sie um ihre Reinheit bringen würde?«
(Ebd.)
Hier liegt nun ein Exempel für die Zahnlosigkeit der Ideologiekritik gegenüber
dem Ressentiment vor. Denn für Sloterdijk muss eine solche Perspektive unver-
ständlich bleiben, hatte er seine eigene Position in der Konklusion seines aus
unbändiger Formulierungswut geborenen Werkes doch deutlichst im »Jenseits des
Ressentiments« verortet (Sloterdijk 2006: 352).
Auf seiner post-ressentimentalen Position ist Sloterdijk dabei in vorzüglicher
Gesellschaft; sein ihn seit kurzem in punctoMedienpräsenz überflügelnder Schü-
ler und hoher AfD-Funktionär Marc Jongen hat sich in den letzten Monaten dar-
um verdient gemacht, von einer solch ›privilegierten‹ Position aus das Ressenti-
ment des moralisierenden Regimes der ›Political Correctness‹ und des korrupten
Establishments zu entlarven. Seine Nietzsche-Interpretation fasste er in einem
Interview mit den Worten zusammen: »Von dem, was Nietzsche in der Genealo-
gie der Moral über das Ressentiment schreibt«, lasse sich »eine direkte Linie zum
Gutmenschentum ziehen, dem sich die AfD entgegenstellt« (Jessen undMangold
2016). Tatsächlich ist Ressentiment für Jongen eine psychopolitische Technolo-
gie, die er, seinem Spiritus Rector hierin nacheifernd, immer nur in Bezug auf
seine politischen Gegner zur Anwendung bringt. Beide sprechen sich für ›thy-
motische‹ Projekte in politischen Settings aus, verkennen dabei aber, dass sie
selbst Unternehmer des Ressentiments sind.12 Diese phantasmatische Vorstellung
eines förmlich neutralen Außerhalbs des Ressentiments, einer möglichen nicht-
ressentimentalen Position, von der aus Sloterdijk und Jongen zu sprechen und
anderen ihre Ressentimentalität vorzuwerfen vermeinen, hatte Žižek implizit be-
reits zwanzig Jahre zuvor disqualifiziert: Ende der 80er hatte er im Anschluss
12 | Richard Sennett hat den Begriff »entrepreneur of ressentiment« bereits 1977 geprägt und
erörterte dabei die strategischen Sachzwänge, die auf (verwaltungs-)politisch an Einfluss gewin-
nende Ressentiment-Administrator_innen zukommen, sobald sie durch Wahlerfolge nach und
nach von Wähler_innen und Parteibasis als Teil des zuvor giftig bespienen politischen Establish-
ments angesehen werden. (Sennett 1977: 281) Für eine umfassende Darstellung der Geburtswe-
hen der AfD sowie der nicht unbegründeten Annahme, dass die meisten ihrer bekannten Gesichter
schon zu jenem Zeitpunkt Teil des ›Establishments‹ von Bildungs-, Finanz-, oder Bluthochadel
waren, vgl. Kemper 2013.
Die neue Lust am Ressentiment 235
an Louis Althusser einen ähnlichen Verdacht gegenüber der Vorstellung eines
post-ideologischen Zeitalters geäußert: »[T]he idea of the possible end of ideology
is an ideological idea par excellence.« (Žižek 2008: XXIV) Und während Jongen
skandiert und Sloterdijk über seine eigene Ressentiment-Vergessenheit freudig
gestimmt vor sich hin schreibt, spricht aus Sloterdijks Zeilen doch ein nicht zu
verhehlender, heimlicher Ingrimm gegenüber den Aufbegehrenden, die nicht der
Heiligen Dreifaltigkeit seines ›linkskonservativen‹ Liberalismus huldigen: »Le-
ben, Freiheit und Eigentum«, die Kriterien jeglichen Ressentiments »entgifteter
Lebensweisheit« (Sloterdijk 2006: 354). Diese Trias reizt die Imagination, eignete
sie sich doch geradezu perfekt als catchy Klimax eines Werbeslogans für Sloterdi-
jks post-ressentimentale Gesellschaftsutopie oder wahlweise als Aufschrift für das
nächste Wahlplakat Marc Jongens (bei diesem fände sich selbstredend noch das
Epitheton ›deutsches‹): »Leben, Freiheit, Eigentum – Alles andere ist bloß Ressenti-
ment!«
Žižeks Kritik an Sloterdijk (und somit indirekt auch an Jongen) erschöpft
sich jedoch nicht im oben angedeuteten Verdacht, Sloterdijk sei selbst nicht frei
von Ressentiment. Vielmehr entgegnet er ihrer Anmaßung der Ressentiment-
Befreitheit mit seiner an W. G. Sebald angelehnten Konzeption eines »authen-
tische[n] Ressentiment[s]« (Žižek 2009: 284). Für Žižek gibt es anders als für
Sloterdijk tatsächlich keine Position oder Haltung, die nicht ressentimentbeladen
wäre – analog zu seinem Ideologie-Begriff (vgl. Žižek 2008; Žižek 2012). Um
den Begriff damit jedoch nicht in diffuse Unbrauchbarkeit entgleiten zu lassen,
unterscheidet er zwischen authentischen und unauthentischen Formen des Res-
sentiments. Authentisches Ressentiment versteht Žižek als Reaktion auf eine
erlittene Verwundung oder Verletzung, bei der eine herkömmliche Bewältigung
durch Vergeltung, Vergessen oder Vergebung nicht möglich ist (vgl. Žižek 2009:
286 f.). Exemplarisch macht er dies an den nationalsozialistischen Verbrechen
gegen die europäischen Juden fest, die weder angemessen bestraft oder vergessen
noch vergeben werden können (vgl. ebd.).
Unabhängig von der Frage, ob Žižeks konkrete Kriterien für Authentizität
überzeugen oder nicht, ist mit einer solchen Binnendifferenzierung des Res-
sentiments immer eine Ungleichheitsdiagnose verbunden, die für alle Nichtge-
meinten delegitimierenden Charakter hat. Ressentiment kann derart zu einem
politisch-strategischen Kampfbegriff um- beziehungsweise aufgerüstet werden:
Die Opposition zwischen authentischem und unauthentischem Ressentiment er-
öffnet nicht nur einen Streit um die Frage nach den Schuldigen, sondern ebenso
nach der Legitimität einer ressentimentalen Selbstviktimisierung. Da Ressenti-
ment dabei immer auch an eine narrative Ebene gebunden ist, mündet dieser
Streit letztlich – im Stile Platons – in der Frage, welche Narrative berechtigte
Bewerber für ein ›wahrhaftiges‹ beziehungsweise authentisches Ressentiment
sind und welche nicht. Diese Schwierigkeiten wurden vor allem in feministi-
schen Diskursen unter dem Slogan der victimology ausführlich diskutiert, die
nun eingehend betrachtet werden sollen.
236 Christian Ernst Weißgerber
Ressentiment als identitätsstiftende Verletzung:
Victimology in feministischen Diskursen
Die Diskussion um die Authentizität des Ressentiments wird im Folgenden um
die Debatte zu victimology ergänzt.13 Hierdurch werden die Vorannahmen des ver-
gangenen Kapitels eingeholt und die Bedeutung von Ressentiment als affektiver
beziehungsweise politischer Strategie für die Zuschreibung eines ›Opferstatus‹
erörtert.14
Wendy Brown hat das Erstarken ressentimentgeladener Identitätspolitiken
analysiert und sich dabei auf den feministischen Diskurs in den USA fokussiert.
Die Problematik, der sich ihr Werk States of Injury (1995) widmet, besteht in der
Beschreibung der
»contemporary tendency to moralize in the place of political argument, and to understand
the codification of injury and powerlessness – the marked turn away from freedom’s pursuit
– that this kind of moralizing politics entails. Examples of this tendency abound, but it is
perhaps nowhere more evident than in the contemporary proliferation of efforts to pursue
legal redress for injuries related to social subordination by marked attributes or behaviours:
race, sexuality, and so forth. This effort, which strives to establish racism, sexism, and ho-
mophobia as morally heinous in the law, and to prosecute its individual perpetrators there,
has many of the attributes of what Nietzsche named the politics of ›ressentiment‹: Devel-
oping a righteous critique of power from the perspective of the injured, it delimits a specific
site of blame for suffering by constituting sovereign subjects and events as responsible for
the ›injury‹ of social subordination. It fixes the identities of the injured and the injuring
as social positions, and codifies as well the meanings of their actions as possibilities of
indeterminacy, ambiguity, and struggle for resignification or repositioning.« (Brown 1995:
26 f.)
DieDebatten linker Intellektueller um race, class, gender etc. weisenBrown zufolge
die Charakteristika eines nietzscheanisch verstandenen Ressentiment-Konzeptes
auf: ein an juristische Vindikationen gebundenes Selbst-Othering (Unsere Geg-
ner_innen im Gerichtsaal sind die Bösen, weil schuld an unserer Verletzung, daher
müssen wir die Guten sein, weil wir die unschuldig Verletzten – die ›Opfer‹ – sind);
der Anspruch am Eigentum der eigenen Verletzungen und deren rechtliche Ver-
teidigung, die die Identität zugleich in einem doppelten Sinne anerkennt: zwi-
schenmenschliche Anerkennung der Verletzung und rechtliche Anerkennung
der eigenen Identität als verletzte. Schlussendlich wirkt die eigene Verletzung
als symbolischer Bezugspunkt identitätsstabilisierend, die Betroffenen richten
sich sozusagen in ihren Wunden häuslich ein. Hieraus geht eine moralisierende
Politik hervor, die mit der Politik als emanzipatorischem Projekt Schluss macht.
13 | Vgl. Yeatman 1997; Brown 1995, Tapper 1993; Stringer 2000; Ahmed 2004; Butler 2004.
14 | Vgl. Tapper 1993: 135.
Die neue Lust am Ressentiment 237
»This effort also casts the law in particular and the state more generally as neutral arbiters of
injury rather than as themselves invested with the power to injure. Thus, the effort to ›outlaw‹
social injury powerfully legitimizes law and the state as appropriate protectors against injury
and casts injured individuals as needing such protection by such protectors. Finally, in its
economy of perpetrator and victim, this project seeks not power or emancipation for the
injured or the subordinated, but the revenge of punishment, making the perpetrator hurt as
the sufferer does.« (Ebd.: 27)
Brown erkennt in den Bestrebungen vieler Linksliberaler in den USA der 1990er
Jahre die Tendenz, die eigene Identität als Minderheit und die Verletzungen, die
dieser Status produzieren kann, zumFundament für einen juristischenKampf um
Anerkennung der eigenen Identität und ihrer Wertigkeit zu machen. Damit rich-
ten sich die Betroffenen in den ungerechten Zuständen ein, die ihre Verletzun-
gen (re-)produzieren, anstatt sich für deren Abschaffung zu organisieren. Hiermit
möchte Brown allerdings weder sagen, dass Antidiskriminierungsbestrebungen
nicht für emanzipatorische Politiken wichtig seien, noch suggeriert sie,
»that what currently travels under the sign of ›harassment‹ is not hurtful, that ›hate speech‹
is not hateful, or that harassment and hate speech are inappropriate for political contes-
tation. Rather, precisely because they are hurtful, hateful, and political, because these
phenomena are complex sites of political and historical deposits of discursive power, at-
tempts to address them litigiously are worrisome. When social ›hurt‹ is conveyed to the law
for resolution, political ground is ceded to moral and juridical ground. Social injury such as
that conveyed through derogatory speech becomes that which is ›unacceptable‹ and ›indi-
vidually culpable‹ rather than that which symptomizes deep political distress in a culture;
injury is thereby rendered intentional and individual, politics is reduced to punishment,
and justice is equated with such punishment on the one hand and with protection by the
courts on the other.« (ebd.: 27 f.)
Es geht Brown also darum, vor einer verkürzten Antidiskriminierungspolitik zu
warnen, die auch zugespitzt als »politics of ressentiment« (Yeatman 1997: 147) be-
zeichnet werden kann. Kritisiert wird damit genaugenommen ein ressentiment-
geladenes Ethos, das in dieser Politik zum Ausdruck kommt, und zwar insbeson-
dere deswegen, weil es dazu beiträgt, juristische und polizeiliche Institutionen zu
legitimieren, die beim Ausfechten eines gesellschaftlich-politischen Konflikts den
scheinbar neutralenHintergrund bilden. In ähnlicher Stoßrichtung argumentiert
Marion Tapper, dass eine Politik, die sich auf das Erkämpfen und Verteidigen
der eigenen Markierung als ›Opfer‹ reduziert, die Gefahr birgt, Macht als »Macht
über« lediglich dem schuldigen ›Anderen‹ zuzuschreiben:
»Ressentiment makes it look as if power over is the only kind of power such that gain-
ing power over seems the only escape from powerlessness. This would blind us to the
possibilities of other, positive, active forms of the will to power.« (Tapper 1993: 136)
238 Christian Ernst Weißgerber
Auch wenn diese Debatte im Kontext der 90er Jahre zu lesen ist und seither viel-
fach kritisiert wurde, wirkt sie angesichts gegenwärtiger Entwicklungen auf ver-
schobene Weise hochaktuell: So ist etwa das Bundesverfassungsgericht die Insti-
tution, der beispielsweise Pegida-Anhänger_innen ammeisten vertrauen (Geiges,
Marg undWalter 2015: 64); auch von Seiten der AfD sowie ihrer Sympathisant_in-
nen sind dort Kaskaden von Zivilklagen und Strafanzeigen anhängig.15 Gleich-
zeitig werden die Politiken des Ressentiments im Gewand von AfD und Pegida
aus verschiedenstenGründen selbst zur ›Zielscheibe‹ strafrechtlicher Verfolgung;
dies auch zunehmend in offen identitätspolitischen Kontexten.16 Der Debatte um
die Politiken des Ressentiments kommt somit aktuell eine neue Bedeutung für
Identitätspolitiken zu.
Die Identifikation der gerade besprochenen Dimensionen dieser »politics of
ressentiment« (Brown 1995: 27; siehe auch Banning 2006) als identitätsstiftende
Aneignung einer Verletzung und die Implikationen einer geforderten juristischen
Vindikation führten innerhalb der feministischen Debatte zu unterschiedlichen
Forderungen: Für Brown wird auf demWeg zu einem Feminismus ohne Ressen-
timent das Vergessen einer Verletzung zumGegenmittel gegen das Ressentiment
(Brown 1995: 74). Vor demHintergrund der bisherigenAusführungen ist Sara Ah-
meds Einwand jedoch berechtigt, dass solch ein »Vergessen«, die Ent-Nennung
einer Verletzung bedeuten würde; es käme damit einer Wiederholung der Gewalt
und der Verletzung gleich: »To forget would be to repeat the forgetting that is
already implicated in the fetishization of the wound. Our task is to remember […]
wounding in the first place.« (Ahmed 2004: 33) Bei Brown wirkt es fast so, als wä-
re das Ablegen des Ressentiments nur eine Frage rationaler, ›meditativer‹ Arbeit
– Vergessen ist jedoch wie Ressentiment nichts rein Kognitives. Das Gedächtnis
der Körper erinnert stärker als das Gedächtnis der ›Köpfe‹, weil der Körper die
Verletzung erfährt, so dass sie sich als »affektive Disposition« (Mühlhoff 2019)
15 | Ein eindrückliches Beispiel hierfür sind die allein 2015 über 400 gegen die Bundes-
kanzlerin eingegangenen Verfassungsklagen wegen Hochverrats – ihre Flüchtlingspolitik ge-
fährde die verfassungsmäßige Ordnung (Hinz 2015). Die Merkel von Horst Seehofer ange-
drohte Verfassungsklage gegen den Bund aufgrund der Flüchtlingspolitik resonierte mit dem
Heer der Klagewütigen. Bestimmten Medienberichten zufolge wurde dieses Unterfangen von
fast der Hälfte der bundesrepublikanischen Bevölkerung befürwortet, was bezweifelt werden
darf. Vgl. »N24-Umfrage zur Flüchtlingspolitik. Seehofers Verfassungsklage spaltet die Deut-
schen«, http://www.n24.de/n24/Nachrichten/Politik/d/7992378/seehofers-verfassungsklage-
spaltet-die-deutschen.html; letzter Zugriff: 12.10.2016.
16 | Die durch ihr gesellschaftspolitisches Engagement sowie ihre Arbeit beim Fernsehen be-
kannte Dragqueen Olivia Jones hat unlängst gegen den Landesvorsitzenden der AfD Sachsen-
Anhalt, André Poggenburg, Strafanzeige wegen Volksverhetzung gestellt, weil dieser Homose-
xualität indirekt mit Pädophilie gleichgesetzt habe. Identitätspolitik und Verletzung verbin-
den sich auch hier mit juristischem Retaliationsanspruch (Siehe Galaktionov 2016 und http:
//maenner.de/2016/09/olivia-jones-verklagt-die-afd/.
Die neue Lust am Ressentiment 239
in ihm einschreiben kann. Als sedimentierte Erfahrung eines verletzenden Af-
fektgeschehens erinnert das oben beschriebene authentische Ressentiment, das
einem Verletztwerden entspringt, an eine erlebte Ungerechtigkeit, die, warum
auch immer, nicht vergolten, vergessen oder vergeben werden kann. Statt einem
identitären »wounded attachement« (Brown 1995: 52 ff.), bei dem die Verletzung
zum Epizentrum der eigenen ressentimentalen Identitätspolitik wird, kann das
Ressentiment als Mittel in einem politischen Kampf fungieren, um ein anderes
Fühlen, Denken und Sprechen zu ermöglichen.
Daher sollte zwischen den unterschiedlichen affektiven Verschaltungen diffe-
renziert werden, die Ressentiment (re-)produzieren und zur Bildung unterschied-
licher Subjektivitäten beitragen. Neben der nur in Umrissen angedeuteten res-
sentimentalen Affektdisposition, die sich in ihrer Verletzung ›einigelt‹, lassen
sich auch andere Sentimente und Sentimentalitäten beschreiben, in denen das
Verletztwerden eine Rolle spielt, ohne dabei zum Gravitationszentrum einer ei-
genen Identität zu werden. Diese Affekt-Sentimente können zum Empowerment
und zur Steigerung der eigenenWirkmächtigkeit beitragen und so zur Quelle der
Ausdauer in einem politischen Konflikt werden (vgl. Stringer 2000: 267). Bei den
zuvor genannten Begriffen würde es sich bei solch einer affektiven Disposition
um ein Ressentiment handeln, nicht jedoch um eine ressentimentale Disposition.
Jenseits des Ressentiments?
Sentimente und Sentimentalitäten
An Stelle der Dichotomisierung Ressentiment vs. kein Ressentiment möchte ich
nun vor demHintergrund der bisherigen Ausführungen eine heuristische Unter-
scheidung verschiedener Sentimente vorschlagen, aus denen sich affektive Dis-
positionen in politischen Settings zusammensetzen. Der Begriff des Sentiments
soll dabei über den der Emotionen hinausgehen, zumindest wenn diese als bloß
diskrete kognitive Formen verstanden werden. Sentimente sind eher affektive
Kontinua, in denen affektive Ströme verschaltet, zugeschnitten und eingebun-
den werden. Dieser Verschaltungsprozess kann als Vorgang verstanden werden,
der sich zwischen prä-reflexiven Affekten und diskreten, kognitiv ausgedeuteten
Emotionen abspielt. Für dieseDimension hatDeleuze inSpinoza: Praktische Philo-
sophie den Begriff der Affekt-Sentimente verwendet.17 Deleuze beschreibt Affekt-
Sentiment als etwas, das »rein transitiv, und nicht indikativ oder repräsentativ
ist, und die in einer gelebten Dauer, die den Unterschied zwischen zwei Zustän-
den einschließt, empfunden wird.« (Deleuze 1988 [1981]: 66) Das transitive Zwi-
17 | Die Variante des französischen Originals »affects-sentiments« (Deleuze 2003: 69, Her-
vorhebung im Original) wurde mit »Affekt-Gefühlen« (Deleuze 1988 [1981]: 65, Hervorhebung
im Original) ins Deutsche übersetzt. Ich werde hier, dem Original etwas näher, von Affekt-
Sentimenten sprechen.
240 Christian Ernst Weißgerber
schen verstehe ich hier im Rückgang auf die lateinische Bedeutung von transire:
vorbeiziehen, überschreiten, münden etc. Die gelebte Dauer (durée), ein Begriff,
den Deleuze der Philosophie Henri Bergsons entlehnt, hat eine wesentlich zeitli-
che Dimension. Die Transitivität der Dauer eines Affekt-Sentiments enthält somit
denWiderfahrnischarakter eines Moments, der vorüberzieht, wobei er sich selbst
überschreitend in einem anderen Zustand mündet.18 Affekt-Sentimente sind Ge-
fühltes, ohneGefühl zu sein; nicht weniger als Gefühl, sondern gerade einMehr –
ein Exzess. In denWorten der amerikanischen Politikwissenschaftlerin Jodi Dean:
»The dimension of affect is this ›more than a feeling‹ that imparts movement.«
(Dean 2015: 95).
Neben dem bereits diskutierten Begriff des Ressentiments bietet die franzö-
sische Sprache noch weitere Komposita der Wurzel »-sentiment«, die sich zu
Analysezwecken begrifflich fassen lassen: dissentiment, pressentiment, assentiment
wie auch das Wort consentment, dem im Folgenden das Derivativum Consentiment
entlehnt wird. In Anlehnung an dieses sprachliche Repertoire soll nun in Bezug
auf ressentimentale Subjektivitäten zwischen den folgenden Sentimenten unter-
schieden werden: Ressentiment ist ein re-aktives (Wieder-)Erleben einer Kränkung
und schließt häufig eine moralisierende Reaktion ein; in der Ressentimentalität
erlebt das Individuum die eigene Verletzung ständig wieder und erinnert dabei af-
fektiv die Forderung nach moralischer Vergeltung – sie umfasst dasUnvermögen,
vergessen zu können. Die Affektivität des Körpers bildet hierbei ein Speicherme-
dium.Das Bild einer Schallplatte illustriert dies sinnbildlich: Die Ressentimentali-
tät kann als ›Sprung in der Platte‹ verstanden werden, durch den die Schallplatte
immer wieder auf dieselbe Rille zurückspringt; gemeinhin spricht man bei der
hierdurch einsetzendenWiederholungsschleife von einemHängenbleiben.Der Ju-
gendsprache folgend könnten von Ressentimentalität Betroffene19 also analog als
Hängengebliebene bezeichnet werden. »Es gab einen lautlosen, unwahrnehmbaren
Riss auf der Oberfläche, ein einziges Oberflächenereignis« (Deleuze 1993 [1969]:
193 f.). Der Riss auf dem Vinyl ist dabei jedoch so permanent und irreparabel
wie die Verletzung irreversibel unddauerhaft. Eine verlustfreies Nachbessern, eine
einfache ›Reparatur‹, die ihn vergessen machen würde, ist nicht möglich.
Diese Beschreibung hat keine Pathologisierung zumZiel; vielmehr handelt es
sich um eine Kränkung, die nicht krank macht, aber irreversibel verletzt. Ebenso
wie ein Unterschied zwischen einer Person, die krank, und einer solchen, die ver-
letzt ist, besteht, sollten auch Subjektivitäten mit einer ressentimentalen Affekt-
disposition nicht als ›krank‹ klassifiziert werden. Der durch ein erschütterndes
Ereignis20 produzierte Riss auf der Platte, der sie immer wieder hängenbleiben
18 | Dieser hier nur zu Zwecken der Komplexitätsreduktion auf einen pseudodialektischen Drei-
schritt reduzierte Prozess wäre, wenn man so will, eine Dialektik der Differenz ohne Negation.
19 | Dies meint (Kollektiv-)Subjekte mit einer ressentimentalen affektiven Disposition.
20 | Zum singulären Ereignischarakter der Wunde vgl. Deleuze 1993 [1969]: 24 ff., 186.
Die neue Lust am Ressentiment 241
lässt, ist die Bedingung der Möglichkeit der Ressentimentalität – »das Kaputtge-
hen [gehört] zum normalen Funktionieren« (Deleuze und Guattari 1977 [1972]:
48).
Neben Ressentiment und Ressentimentalität wird mit dem Dissentiment die
Neigung zur Rahmung einer Begegnung oder Situation in Antagonismen, eine
Ablehnung der als böse verstandenen Kontrahent_innen oder Umwelten, gefasst.
Die Dimension des Pressentiments verweist hingegen auf die Vorahnung einer Be-
drohung oder auf eine Hoffnung, die durch eine Situation als Virtualität erlebt
werden. Hierbei ist an die Bedeutungen von Prophezeiungen zu denken, bei-
spielsweise des sich angeblich ›abschaffenden Deutschlands‹, eines gefürchteten
›Niedergangs derNation‹ oder aber dieHoffnung auf den ›kommendenAufstand‹
oder sogar ›die Revolution‹. Die Consentimentalität stellt die gemeinschaftsstiften-
de Dimension einer vom Ressentiment dominierten Sentimentalität dar: Das res-
sentimentale Individuum sieht sich in Gleichgesinnten reflektiert und identifi-
ziert sich mit diesen. Das Consentiment steigert die Neigung zum Zusammen-
schluss mit vermeintlich Gleichgesinnten und Ähnlichfühlenden. Darüber hin-
aus kann das Assentiment als weitere Komponente der Subjektivität politischer
Affekte gesehen werden: Gemeint ist hiermit die Kompromissbereitschaft, die
Bereitschaft zur Öffnung der eignen Realität(sblase) beziehungsweise eine auf
Harmoniebedürfnis ausgerichtete Haltung, die dabei nicht einfach eine ›liberal-
philanthropische Gefühlsduselei‹ ist, sondern strategischen Charakter besitzt –
im Falle ressentimentaler Subjektivität scheint sie dennoch schwach ausgeprägt
zu sein.
Auf diese Weise lässt sich die Grunddisposition der Ressentimentalität mehr-
dimensional bestimmten. Es handelt sich bei dieser Grunddisposition um einen
Vereinnahmungsapparat, da sie in den drei Dimensionen des Ressentiments,
Dissentiments und Pressentiments zu einem Verharren in einer spezifischen
ablehnenden, sich selbst als Opfer einer dominanten und bedrohlichen Realität
(v)erklärenden Subjektivität disponiert. Es entspringt dann dem konkreten Mi-
schungsverhältnis der verschiedenen Sentimente, in welchen affektiven Settings
ein Körper at ease ist, also das eigene Vermögen positiv entfalten kann, und in
welchen at disease, so dass seine Wirkmächtigkeit gemindert wird. Zwischen
verschiedenen affektiven Dispositionen beziehungsweise zwischen affektiven
Dispositionen und Affektgeschehen kann es somit zu affektiven Resonanzen, zu
Konsonanzen oder Dissonanzen kommen. In diesem Sinne kann von einer res-
sentimental (prä-)dominierten Sentimentalität als einer durch unterschiedliche
Schwingungspotenziale gepanzerten affektiven Disposition gesprochen werden:
Bei der Ressentimentalität handelt es sich nicht um ein kognitiv zu greifendes fal-
sches Bewusstsein, sondern um eine im Körper sedimentierte Affektdisposition
(vgl. Mühlhoff 2018; Mühlhoff 2019).
Mit dieser Einführung unterschiedlicher ›Sentimentalitäten‹ wird es mög-
lich, Binnendifferenzen im Affektgeschehen der Politiken des Ressentiments
beschreibbar zu machen. Die Begriffe sollen es ermöglichen, die Intensitäts-
242 Christian Ernst Weißgerber
frequenzen und deren Resonanzen zu ermessen. Wenn dieses Vorhaben gelän-
ge, würde eine Ver- und Abgleichbarkeit der Resonanzpotenziale verschiedener
affektiver Dispositionen zeitgenössischer Politiken denkbar. Den Politiken des
Ressentiments stehen zweifelsohne andere Politiken zur Seite beziehungsweise.
entgegen; eine Betrachtung dieser Politiken und ihrer Sentimentalitäten kann
in diesem Rahmen allerdings nicht ausgeführt werden. Die hier angedeutete
Sentiment-Analyse liefert jedoch den Ansatz für eine affekttheoretische Herange-
hensweise an die verschiedenen Sentimentalitäten, die in prominenten Politiken
der Gegenwart eine Rolle spielen. In weiteren Analysen ist dieses Vorgehen auf
konkrete agencements und Verschaltungen politischer Affekte zu fokussieren, die
zur (Re-)Produktion spezifischer politischer Subjektivitäten und zur Verschie-
bung affektiver Ökonomien beitragen.
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III. Öffentlichkeit, Protest und Politik
The Internet is Dead – Long Live the Internet
Soziale Medien und idiosynkratisches Aufbegehren
Philipp Wüschner
Communication Fail
Es gibt zwei Standarderklärungen, warum Personen im Internet sich Ungeheu-
erlichkeiten an den Kopf werfen. Die erste Erklärung – man könnte sie die ›medi-
enpessimistische‹ nennen – geht davon aus, dass die Anonymität der Beteiligten
wie in einem erweiterten Milgram-Experiment die natürlichen Hemmschwellen
menschlicher Kommunikation beseitigt. Die zweite, ›medienpragmatische‹ Er-
klärung ist, dass schriftliche Kommunikation bestimmte intrinsische Mängel be-
sonders bei der Kommunikation von Gefühlen habe, die fast zwangsläufig zu
Missverständnissen und Konflikten führten (Kruger u. a. 2005). Beide Erklärun-
gen greifen auf bestimmte Unzulänglichkeiten in der kommunikativen Situation
zurück. Dabei zieht die erste eine Fluchtlinie zum Verantwortungsdiskurs (Klar-
namenpflicht etc.) beziehungsweise zur Gesetzgebung hin (Hate Speech als Straf-
tatbestand), die zweite hingegen zu Mediation und Metakommunikation.
Das Problem mit der ersten Erklärung ist, dass die vorausgesetzte Anonymi-
tät auf einer Seite wie Facebook, auf der Klarnamen die Regel sind, nur noch in
geringem Ausmaß gegeben ist. Abgesehen davon könnte sie ohnehin nur erklä-
ren, warum Menschen sich trauen, ihren Aggressionen Ausdruck zu verleihen,
nicht aber, welcher Natur diese Aggressionen überhaupt sind. Die medienprag-
matische Kritik der Schriftlichkeit hingegen bringt in vielen PunktenWahres und
Interessantes zutage: Es mag in der Tat schwieriger sein, Emotionen schriftlich
richtig zu übermitteln und wieder zu entschlüsseln (als immündlichen Gespräch
unter leiblich anwesenden Beteiligten), und diese Schwierigkeit wird vielleicht
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011.
248 Philipp Wüschner
wirklich von beiden Seiten – Sender und Empfänger – unterschätzt.1 Umgekehrt
aber unterschätzt die These von der mangelhaften Kommunikation nun wieder-
um die konkreten kommunikativen Praktiken und Taktiken von Usern, die in
sozialen Medien Gefühle und Affekte codieren und mitteilen und sich dabei des
Mediums auf eine Weise performativ bedienen, die extrem differenziert und oft
mit präzisem Humor unterschiedliche Ebenen einer Nachricht miteinander ver-
schmilzt. Aus diesem Blickwinkel sind die zugeschriebenen Mängel von Online-
Kommunikation nur eine Folge ihrer unverstanden bleibenden Stärken (Barth
2016).
Anstatt nach weiteren Fehlern in der kommunikativen Situation in sozialen
Medien zu suchen, bietet es sich also an, einmal grundsätzlich die Frage zu stel-
len, ob die Schreibakte (Postings) überhaupt denTatbestand derjenigenKommuni-
kation erfüllen, den sie vorgeben zu erfüllen oder von dem erwartet wird, dass sie
ihn erfüllen. Zu welchem Register von Kommunikation gehören sie tatsächlich?
Und gibt es nicht eine Differenz zwischen Online- und Offline-Kommunikation,
die immer wieder droht vergessen zu werden – und zwar sowohl für die (wissen-
schaftliche, journalistische) Betrachtung von außen als auch immanent für die
Akte von Usern selbst?
Differenzvergessenheit
Vor der Beantwortung dieser Fragen bedarf es einer Präzisierung. Gehört eine
gewisse Differenzvergessenheit nicht zu einem gelungenen Mediengebrauch zu-
nächst einmal dazu? Um einen Text zu lesen, sehen wir von den Differenzen in
Beschaffenheit von Papier und Typographie, zum Beispiel zwischen einer Buch-
ausgabe und einer ausgedrucktenKopie, ab. Allein inMomenten der Störung oder
des Rauschens, wenn die schlechte Qualität der Kopie die Lesbarkeit des Textes
korrumpiert, kippt unsere Aufmerksamkeit auf dasMedium selbst.2 Nicht immer
ist es sinnvoll oder auch nur möglich, solche medialen Differenzen begrifflich zu
fixieren. Viel eher lassen sie sich an den ästhetischen, performativen, affektiven
etc. Differenzen erkennen, die sie nach sich ziehen. Das geschieht beispielsweise,
wenn wir merken, dass derselbe Text unterschiedlich gut im Medium der Schrift
oder imMediumdesmündlichen Vortrags funktioniert.Wer hier differenzverges-
sen agiert, wird entweder hölzern einen Text vortragen oder in einem zu kolloquia-
len Stil schreiben. Aussagen, die geschrieben skandalös und empörend wirken,
können im Gesprochenen harmlos und amüsant sein.
Im Fall des Computers erhält dieser Tatbestand eine neue und medienhis-
torisch betrachtet noch verhältnismäßig junge und unreflektierte Qualität, inso-
fern hier analoge Medien selbst digital emuliert und durch Benutzeroberflächen
1 | Vgl. Kruger u. a. 2005. Einwände hierauf liefern Suematsu 2012 und Passig 2018.
2 | Dazu allgemein: Rautzenberg 2009.
The Internet is Dead – Long Live the Internet 249
imitiert werden. Dies umfasst auch Techniken des Mediengebrauchs wie Rand-
notizen, Unterstreichungen und dergleichen. Schon 1986 prophezeit Friedrich
Kittler, dass der Computer so auf Dauer alle anderen Medienformate in sich auf-
nehmen werde. Dies wirft die Frage auf, ob mit der Digitalisierung nicht eine
grundlegende Differenz in jedenMediengebrauch einzieht, mit unendlich vielen,
noch nicht abzusehenden ästhetischen, performativen, affektiven Folgedifferen-
zen; beziehungsweise, ob wir nicht gerade im Prozess stehen, diese Folgediffe-
renzen auszufechten. Denkern wie Vilém Flusser zufolge wird sich der Übergang
zu digitalen Medien und zur Digitalisierung überhaupt nicht ohne einen beglei-
tenden Bewusstseinswandel vollziehen, dessen schleichender Vollzug dem Ver-
gessen entrissen und aufmerksam gestaltet werden müsse (Kittler 1986; Flusser
1991).
Genau um diese Differenz, ihr Vergessen und ihre Folgen geht es also. Da-
bei kann hier selbstverständlich nicht das große Ganze in den Blick genommen
werden. Stattdessen möchte ich lediglich die Frage aufwerfen, ob diese Differenz-
vergessenheit nicht auf irgendeine Weise mit den eingangs beschriebenen Über-
reaktionen zu tun hat, und dies zugleich gleich doppelt bejahen: Die negativen,
idiosynkratischen Affekte sind sowohl eine Folge dieser Differenzvergessenheit
als auch eine Reaktion auf sie. Sie sind das affektive Rauschen, ein Störgeräusch,
in dem das Medium selbst sichtbar wird – und gerade hierin liegt ihr Wert. Diffe-
renzen werden also in gewissen Momenten wirksam und zwingen zum Umden-
ken oder zu einer Verhaltensänderung.
Wer allerdings auf diese Weise eine (wenn auch vergessene) Differenz zwi-
schen Offline- und Online-Kommunikation behauptet, steht sofort vor verschie-
denen Problemen, von denen ich hier nur drei nenne:
1. Die Differenzierung ist zu grob. Weder gibt es eine einheitliche Offline-
Kommunikation noch eine einheitliche Online-Kommunikation, undmanche
der internen Differenzen mögen gewichtiger sein, als die Grunddifferenz
zwischen beiden Dimensionen.
2. Die Differenzierung wird in der Zukunft, in der in einem Internet der Dinge
der Unterschied zwischen off- und online kollabiert, obsolet werden.
3. Eine solche Differenz droht missverstanden zu werden als eine Differenz von
eigentlicher (offline) und uneigentlicher (online) Kommunikation.
Das erste Problem kann ich hier nur bestätigen, nicht aber lösen. Es bleibt den
Leser_innen überlassen, jeweils genauere Unterscheidungen zu treffen und wei-
terzudenken. Das zweite Problem bietet eine interessante Forschungsperspekti-
ve: Das Zukunftsprogramm des Internet of Things umfasst nicht nur miteinander
kommunizierende Kühlschränke, sondern die Vision einer Lebenswelt, in der Di-
gitales und Analoges verschränkt sind; Mensch, Technik und Umwelt untrenn-
bar miteinander vernetzt sind (Hörl 2011). Wenn aber die online/offline-Differenz
schon in der gegenständlichen Welt kollabiert, warum sollte sie dann für die Be-
250 Philipp Wüschner
trachtung von Kommunikation künstlich aufrechterhalten werden? So wie der
Buchdruck die gesprochene Sprache an die Schrift gebunden hat, sodass man Le-
sen und Schreiben lernenmusste, um richtig (nämlich gemäß der Schriftsprache)
zu sprechen, wird man auch irgendwann (wenn es nicht längst schon so weit ist)
vernetzt sein müssen, um richtig, nämlich gemäß dieser Vernetzung kommuni-
zieren zu können – wobei noch unklar ist, was ›richtig‹ in diesem Fall heißen soll
(Flusser 1996).
Stimmt diese Forschungsperspektive, dann ist die angesprochene Differenz
von vornherein eine geschichtliche, auf Abruf gestellte, von der sich nicht genau
sagen lässt, ob sie nicht jetzt, da sie in den Blick gerät, bereits abgegolten ist. Man
kann dem virtuellen Haltbarkeitsdatum dieser Differenz jedoch vorauseilend be-
gegnen, indemman sich noch einmal vor Augen führt, wasmit Differenz gemeint
ist, undwas nicht. EineDifferenz bezeichnet keine überzeitlicheDichotomie, son-
dern die Aktualisierung eines Unterschiedes, der einen Gegenstand in Abstand
zu einem anderen bestimmt.3 Differenzen werden also in gewissen Momenten
wirksam und zwingen zum Umdenken oder zu einer Verhaltensänderung – das
kann schon geboten sein, wenn man vom Norden Deutschlands in den Süden
zieht (oder umgekehrt). Was die Rede von Differenzen also erlaubt, ist, anstatt
von einer Aufhebung der Gegensätze oder einem Kollaps der Unterschiede von
einem Vergessen der Differenz zu sprechen; ein Vergessen, in dem das Verges-
sene selbst aber als Potenzial (sei es auch nur als Projektionsfläche für Nostalgie,
Heimweh, Aversion) wirksam bleibt. Gerade dieses historische undGenerationen
prägende Moment verfestigt sich nicht selten zu einer ontologischen Bewertung
der Differenz als authentisch/entfremdet, eigentlich/uneigentlich, real/fake etc.
Dies führt zum dritten Problem: Je nachdem, ob man pessimistisch oder op-
timistisch auf das Differenzvergessen blickt, sieht man eine Verfalls- oder Fort-
schrittsgeschichte. Entweder: Wir werden nie wieder richtig kommunizieren. Oder:
Wir haben noch nie richtig kommuniziert. Entweder ist die eigentliche Kommunika-
tion eine verlorene Sache der Vergangenheit oder eine noch zu verwirklichende
Sache der Zukunft. Dabei sind Nostalgie undUtopie gleichermaßen an der Erzeu-
gung und amWandel von Mythen beteiligt. Als beispielsweise die Brüder Grimm
auszogen, um Volksmärchen zu sammeln und zu verschriftlichen, geschah dies
sowohl mit nostalgischem Blick in die Vergangenheit, als auch mit utopischer
Projektion auf einen deutschen Nationalstaat der Zukunft.
Es geht also nicht darum, die online/offline-Differenz als Differenz von Unei-
gentlichkeit und Eigentlichkeit darzustellen, so als käme es nur offline zu ›wahrer‹
Kommunikation, online hingegen nie (oder andersherum); noch geht es um die
Aufstellung einer essenziellen, ahistorischenDichotomie. Stattdessen geht es dar-
um, ein Bewusstsein für diese Differenz zu entwickeln und damit einhergehend
ein Verständnis für das, was verschwindet, und das, was kommt. Hierbei ist ei-
ne Betrachtung der sich wandelnden und begleitenden Mythen unersetzlich. Die
3 | Siehe hierzu in weiterem Kontext Jullien 2017.
The Internet is Dead – Long Live the Internet 251
Philosophin Sybille Krämer hat bereits 1997 in Bezug auf das Internet von einem
Mythos der künstlichen Kommunikation geschrieben.Was diesenMythos ausmacht
und wie er sich heute möglicherweise zu einem Mythos des Sozialen ausgeweitet
hat, gilt es näher zu beleuchten. Für diesen Zweck ist das Fehlen eines präzisen
Begriffs von Kommunikation oder von Sozialität in genau dem Maße zu verkraf-
ten, wie ein Mythos eben gerade kein (klar artikulierter, ausgearbeiteter) philoso-
phischer Begriff ist, sondern ein Mitteilungssystem, das zugleich zwischen dem
verlorengehenden Bewusstsein für das Ehemalige und dem beginnenden Begrei-
fen des Kommenden vermittelt, in dem Differenzvergessenheit sozusagen selbst
eine Form findet.
Vom Mythos der Kommunikation zur Utopie
sozialer Medien
In besagtem Text diagnostiziert Sybille Krämer einen Leitbildwechsel in den Dis-
kursen über das Internet. In diesen Leitbildern sieht Krämer wiederum Mythen
am Werk, das heißt erklärende Erzählungen eines unbekannten Phänomens in
den Bildern eines bekannten, so zum Beispiel die Erzählung von der Rechenma-
schine in den Bildern der menschlichen Intelligenz. Der Mythos der künstlichen
Intelligenz (KI) habe eineAblösung durch denMythos der künstlichenKommuni-
kation (KK) erfahren. Dies sei einhergegangen mit einemWandel vom Computer
als »Denkmaschine«, also vom Rechner, zum Computer als Kommunikations-
mittel, also zum Medium (Krämer 1997: 87).4 Anhand Krämers Parallelisierung
von KI und KK lassen sich die Wirkungen der Differenzvergessenheit deutlich
machen.
Krämers Kritik zielt nämlich nicht auf Mythenbildung per se, sondern auf
den anthropomorphisierenden Charakter sowohl des Mythos der künstlichen In-
telligenz als auch desjenigen der künstlichen Kommunikation. Durch ihn werde
die eigentliche »Monstrosität« (ebd.: 86) der Technik – die schiere Rechenleistung
künstlicher Intelligenz, die gerade kein Vorbild in der menschlichen Natur finde
– in die Nähe des Gewöhnlichen gerückt; genau hierin liegt ja die vermitteln-
de Funktion von Mythen. Dies löst für Krämer eine Gegenbewegung aus, nach
der das, was bislang menschliches Verstehen war, nun seinerseits am Maßstab
des technisch Erreichbaren gemessen wird und plötzlich als defizitär erscheint.
Auf die Anthropomorphisierung der Technik folge die Technisierung des Men-
schen. Nostalgisch beklagter Verlust des Ursprünglich-Menschlichen und uto-
pisches Mangelbewusstsein im Angesicht der kommenden Technik sind zwei
Seiten desselben Vorgangs, die über die Annahme einer funktionalen Äquivalenz
(ebd.: 86) von Denken und Rechenleistung vermittelt werden. Die ursprüngliche
4 | »Mythos« soll hier und auch bei Krämer keine Fiktionalität der Sache ausdrücken, sondern
zielt auf die »Analogien stiftende Kraft« (ebd.: 87) eines Narrativs.
252 Philipp Wüschner
Monstrosität verblasst darüber zur unheimlichen Ähnlichkeit. Diese Annahme
»funktioneller Äquivalenz«, die es ermöglicht, qualitative Differenzen zu quan-
titativen Defiziten umzudeuten, ist den Anfängen der Technikphilosophie (zum
Beispiel bei Ernst Kapp) eingeschrieben. Das eröffnet laut Krämer eine Skala, »bei
der mit jeder Erfindung neu zu verteilen sei, was dem Menschen verbleibt, und
was an Technik delegiert werden« kann (ebd.: 86).
Die Differenz zwischen Rechnen und Verstehen aber ist damit natürlich
nicht aufgehoben oder wirkungslos gemacht worden, sondern in Bezug auf den
Diskurs lediglich vergessen. Sie wirkt gerade als das Unheimliche im Ähnlichen.
Problematisch am Mythos der KI ist also weder die These von der »Berechen-
barkeit des Geistes« in Anschluss an Leibniz und Turing, noch die existenzial-
ontologische Vorrangigkeit des Denkens gegenüber dem Rechnen zum Beispiel
bei Heidegger, sondern die beschriebene Gegenwendigkeit, mit der der anthro-
pomorphisierende Charakter des Mythos dem Fremdartigen computerisierter
Vorgänge zunächst den Stachel nehme (ebd.: 86), bevor sie im Anschluss zum
Leitbild oder gar Utopie für jegliche Form von Intelligenz werden.5
Krämer interessiert sich für die Frage, ob der Mythos der künstlichen Kom-
munikation nicht eine vergleichbare Gegenwendigkeit produziert habe, mit der
dem eigentlich Monströsen der künstlichen Kommunikation der Stachel (und
vielleicht auch das Faszinosum) genommen wird. Dabei vollzieht sich diese Kom-
munikation für Krämer gerade nicht zwischen Personen, sondern zwischen den
sie vertretenden »Symbolketten«. Lässt sich daran anschließend die aktuelle Uto-
pie des Sozialen nicht als Ausweitung und Amplifizierung dieses Leitbildes lesen?
Wurden nicht auch hier Online-Vorgänge, die es bis dato nicht gab – weltweite,
telekommunikative, two-way-Verbindungen durch ein mehr oder weniger dezen-
tralisiertes Netzwerk ohne nennenswerte Übertragungsverzögerung – zunächst
in denBegriffen des Bekannten (Kommunikation) formuliert, bevor das nunnicht
mehr gänzlich Unbekannte zur Utopie wurde?
Das Emblem für den Mythos der Kommunikation, in dem Nostalgie und Uto-
pie zusammenfallen, ist Marshall McLuhans schon 1962 vorgetragene These vom
global village (McLuhan 1962; Krämer 1997: 88). Ihr zufolge sollen elektronische
Medien die durch die Modernisierung verlorengegangene face-to-face-Oralität vor-
moderner Gesellschaften wiederbeleben.6 Und auch wenn McLuhans These, wie
Krämer feststellt, kaum Anhänger fand, so sind vergleichbar idealisierende Kom-
munikationsvorstellungen immer noch allgegenwärtig.
Ähnlich wie im Fall der KI geht es auch beim Mythos der künstlichen Kom-
munikation nicht darum, zu sagen, dass in elektronischen Netzen nicht oder nicht
5 | Ich schreibe »zunächst«, als gäbe es einen klaren zeitlichen Umschlag von der Metapher
des Natürlichen fürs Künstliche in die Utopie des Künstlichen fürs Natürliche. Tatsächlich aber
sind Metapher und Utopie im Mythos als Gegenwendigkeit immer gleichursprünglich.
6 | Dazu kritisch: Barbrook 2007.
The Internet is Dead – Long Live the Internet 253
Abbildung 1: Mark Zuckerbergs Post vom 11.1.2018 auf Face-
book. Quelle: https://www.facebook.com/zuck/posts/101044
13015393571. Screenshot des Verfassers vom 03.02.2018.
eigentlich kommuniziert werde. Ganz wie im Fall der KI nährt die existenzielle Kri-
tik selbst die Utopie: Gerade die verlorengegangenen Dimensionen des mensch-
lichen Miteinanders sollen durch die neuen Möglichkeiten der Kommunikation
wiederhergestellt werden können. Dies zumindest scheint die Devise Marc Zu-
ckerbergs zu sein, der seine Arbeit als genuinen Beitrag zu »well-being« und
»happiness« versteht (Abbildung 1). Im Zentrum dieses Mythos der Kommuni-
kation steht das intime Gespräch als existenzielle Situation.
Zu dieser Wiederbelebung ›ursprünglicher‹ Kommunikation mit digitalen
Mitteln gehören laut Krämer a) die Herstellung einer lebensweltlichen Situierung,
das heißt heute: einerseits der private Charakter des Contents, andererseits die
euphemistische Subsumtion aller Beziehungen unter das Label ›Freundschaft‹; b)
eine Betonung der Dialogizität von Kommunikation, die vor allem dann spürbar
wird, wenn Gesprächspartner_innen, die normalerweise durch soziale Schwel-
len voneinander getrennt wären (zum Beispiel Stars und Fans, Politiker und
Wähler, aber auch Anbieter_innen und Konsument_innen) miteinander in Dia-
log treten können (etwas, das Zuckerbergs Posting selbst performativ vorführt);
c) eine Ethnographie der Interaktivität, das heißt die Vorstellung, dass die Ge-
samtinteraktion von Usern zum Beispiel auf einer Plattform im Rahmen von
Gemeinschaften (communities) zu begreifen ist, wobei diese Auffassung einer
gemeinschaftsstiftenden Interaktion schließlich d) eine Ausweitung zu einer
politischen Perspektive individualisierter, partizipativer Massenmedien erfährt, in
der die verlorengegangene Direktheit der antiken Demokratie in Form einer
»›elektronischen agorá‹« wiederaufersteht (Krämer 1997: 90). In der Vorstellung
254 Philipp Wüschner
der elektronischen Agora liegt dann zugleich das Kippmoment vom Mythos in
die Utopie (beziehungsweise Dystopie).7
Natürlich ändert eine solche technisch installierte Utopie nichts am finanzi-
ellen Realismus der Plattformbetreiber, die an diesen utopischen Programmen
verdienen und es daher mit bestimmten ökonomischen Betriebssystemen zu
verknüpfen wissen. Ob und inwieweit CEOs von sozialen Plattformen, Online-
Anbietern und Suchmaschinen wirklich an eine Vereinbarkeit des utopischen
Gehaltes mit seiner ökonomischen Verwirklichung glauben, ist eine Frage ihres
(mangelnden) Zynismus, der hier nicht zur Debatte steht. Jedenfalls hat die
Kapitalisierung sozialer Netzwerke (vor allem in Form von Kapitalisierung per-
sönlicher Daten) verschiedene Stränge der Kritik hervorgerufen. Niklas Barth bei-
spielsweise nennt einen Gefährdungs-, einen Macht- und einen Entfremdungs-
diskurs (Barth 2016: 464 f.). Ersterer betreffe die Bedrohung der Privatsphäre
durch die Weitergabe von Daten, zweiterer betrachte soziale Netzwerke aus der
foucaultschen Perspektive der Macht als Subjektivierungsapparate, die letztlich
zur freiwilligen Selbstausbeutung des Privatlebens führten, letzterer wiederum
betrachtet das Ergebnis dieses Verhältnisses als Entfremdung – und damit gerade
als Auslöschung von Intimität (Illouz 2007).
Fast ebenso alt wie diese Kritik – deren Stränge miteinander verflochten sind
– ist das Erstaunen über ihre Wirkungslosigkeit: Entweder ist die Mehrheit der
User über das Ausmaß ihrer Überwachung und Entfremdung immer noch nicht
genügend aufgeklärt und weiß noch nicht hinreichend über ihre eigene Kompli-
zenschaft mit der Macht und die technischen Mechanismen, die dahinterstehen,
Bescheid, oder aber sie ist diesbezüglich bereits zu abgeklärt und nimmt diese
Bedrohungenmit einerMischung aus Ironie und Fatalismus einfach hin. Im letz-
teren Fall trägt Aufklärung nur weiter zur Abgeklärtheit bei.
Und doch: Der Ausbeutung des Privaten ist durch die Abgeklärtheit der User
in gewisser Hinsicht der Stachel bereits genommen worden, indem – und zwar
von Seiten der User aus – dem Privaten bereits alles Intime entzogen wurde.8 Das
hat aber, anders als der Entfremdungsdiskurs vermuten lässt, Intimität nicht ver-
schwinden lassen. ImGegenteil, sie liegt ganz und gar imÖffentlichen versteckt:9
nicht in dem, was ein Posting zeigt, sondern zum Beispiel in dem, was es für
den Menschen bedeutet, dem es (im Geheimen) gilt, verglichen mit dem, was
es für alle anderen bedeutet. Die Intimität eines Nacktbildes besteht nicht im Ge-
schlechtsteil, das es entblößt, sondern im scheinbar harmlosen (geschmacklosen,
7 | Nicht nur der Mythos hat sich von der Kommunikation zum Sozialen erweitert, auch die
Begleitutopien sind in dieselbe Richtung vom Mitteilen zum Teilen gewandert. So wird die Agora
als Ort der Rede heute in ihrem Ursprung als Marktplatz neu erfunden.
8 | Barth analysiert konkrete kommunikative Taktiken wie Ironie, Indifferenz und Kryptik als
Erzeugung öffentlicher Privatheit.
9 | Der Differenzierung zwischen Intimität und Privatheit geht Mirjam Schaub mit der Künstlerin
Janet Cardiff nach (Schaub 2005).
The Internet is Dead – Long Live the Internet 255
verräterischen, peinlichen) Mobiliar, vor dessen Hintergrund es aufgenommen
wurde, und das sorgfältig aus dem Endprodukt herausgeschnitten wurde. Diffe-
renzbewusste User können diese Form von Intimität sehr präzise – und warum
nicht: zärtlich – einsetzen, eine Semantik derGesten undAndeutungen, die in kei-
nem direkten Zusammenhang mit dem Content steht und daher auch von keiner
Datenanalyse erfasst werden kann. Inmitten des Subjektivierungs- und Entfrem-
dungsapparates entdeckt der abgeklärte User auf dieseWeise –mit Michel de Cer-
teau gesprochen – dieKunst des Handelns, aber auch dieKunst der Intimitätwieder.
Er befindet sich in puncto Reflektiertheit auf Augenhöhe mit den Betreibern der
sozialen Plattformen, wenn er ihnen nicht gar schon einen Schritt voraus ist. Auf
den Gefährdungsdiskurs mag er noch keine überzeugende Antwort gefunden ha-
ben, Subjektivierung und Entfremdung hingegen sind nicht sein Problem.
Affirmierte Differenz, gespielte Kommunikation
Die Möglichkeit von Intimität in einem Medium, dem sowohl Privatheit als auch
Körperlichkeit fehlt, entlarvt auch die vermutete Eigentlichkeit des intimen Ge-
sprächs. Der erste Schritt der Abgeklärtheit ist also die Zurückweisung der Nostal-
gie, das heißt die Dekonstruktion der interpersonalen, oralen Kommunikationssi-
tuation (des Gesprächs zwischen leiblich Anwesenden) als ursprüngliche (Passig
2018).
Ein Bewusstsein für die neue kommunikative Situation zu entwickeln, ohne
sie in Begriffen der alten zu denken, noch dazuwährendman sich in ihr bewegt, ist
aber auf dieselbeWeise anstrengend, wie es beim Betrachten eines Films anstren-
gend wäre, stets von der Handlung zu abstrahieren und auf dessen technisch-
apparative Anordnung zu achten. Und dennoch wissen wir, dass wir einen Film
sehen. Zwar fühlen wir so etwas wie Trennungsschmerz am Ende einer Serie (pa-
rasoziale Bindung zu den Charakteren), aber wir wissen, dass dieser Schmerz
Trauer zwar (auf angenehme Weise) ähnelt, aber nicht gleichkommt. Dieses Ge-
fühl ist weder ein Abklatsch von Trauer, noch muss das Ähnlichkeitsverhältnis
geleugnet werden – es ist gerade als Simulacrum etwas Eigenes. Das Internet war
immer auch der Raum, der dem Simulacrum als solchem zu seinem Eigenrecht
verhalf, ohne sich von Apologeten des Realen wie Jean Baudrillard oder Paul Viri-
lio davon abhalten zu lassen (Baudrillard 1981; Virilio 1989).
In dieser Differenz zur Realität einen Reiz zu sehen, gehört zur ästhetischen
Haltung, mit der wir beispielsweise auch Werken der Kunst begegnen oder in ei-
nem Spiel mitspielen. So kann Krämer zum einen feststellen, dass unter dem Pa-
radigma der Schrift das Gegenüber der Kommunikation nicht als Person, sondern
als Text beziehungsweise als »digitalisierbare Symbolfiguration« auftritt, wie auch
der Sender selbst als »Symbolkette im Sinn freigewählter Namen« (Krämer 1997:
256 Philipp Wüschner
97) erscheint.10 Dies geht zumindest im Prinzip mit der »Außerkraftsetzung der
mit Personalität oder Autorenschaft verbundenen illokutionären und parakom-
munikativen Dimensionen unseres symbolischen Handelns einher« (ebd.). Zum
anderen aber komme es im Spiel zu einer Wiedereinführung der parakommuni-
kativen Dimension, in der der Andere in seiner personalen Alterität respektiert
wird und man selbst als Autor_in zur Verantwortung gezogen werden kann –
nun allerdings unter den Prämissen des Spiels (ebd.). Diese unterscheidet sich un-
ter anderem dadurch, dass ein Bruch der Regeln nur eine symbolische Ahndung
erfährt (Löschung eines Kommentars, Sperrung eines Profils). Dass kann zwar
zum (vorübergehenden) Ausschluss vom Spiel führen, muss die Person hinter
der Symbolkette aber nicht treffen. Umgekehrt erlaubt das Spiel der Spieler_in
die Freiheit, dass ihre Aktionen von lebensweltlichen Geltungsansprüchen unbe-
rührt bleiben. Die »Handlungen, in die wir jetzt verwickelt sind«, zitiert Krämer
Gregory Bateson, »bezeichnen nicht, was jene Handlungen, für die sie stehen, be-
zeichnen würden« (Bateson 1985: 244; vgl. Krämer 1997: 97). Der Mord in einem
Rollenspiel ist eben kein Mord im wahren Leben, aber der Abstand, beziehungs-
weise die Nähe zwischen beiden macht gerade den Reiz des Spiels aus.
Das führt zu einer Frage mit weitreichenden Konsequenzen: Lässt sich sa-
gen, dass auch ein geposteter Hasskommentar nicht (zwangsläufig) die real-
life-Handlung (Beleidigung oder Bedrohung) bezeichnet, für die er steht, son-
dern spielerisch auf das Medium bezogen ist, in dem er erscheint? Dies würde
voraussetzen, dass man sozialen Medien grundsätzlich mit einer ästhetischen
Haltung begegnete, und den Selbstzweck der Simulation gegen den Zweck als
Kommunikationsmittel starkmachte (wie es ja immer schon geschieht, wenn wir
Facebook-Events zusagen, ohne je wirklich die Absicht zu hegen, sie aufzusu-
chen).11 Aus der richtigen Perspektive betrachtet dient die simulierte Gesprächssi-
tuation des Internets als Spielfeld für eine häufig subtile oder implizit bleibende
Meta-Kommunikation, mit ihrem mittlerweile ja auch in den Mainstream ein-
gegangenen selbstreferenziellen Humor. Dessen Stilelemente zu analysieren,
wäre eine eigene Studie wert und kann hier nicht geleistet werden.12 Zusammen
aber ergeben sie eine ästhetische Differenz, deren kommunikative Aufgabe es ist,
die Simulation als solche zu markieren und vom Gespräch zu unterscheiden.
Gleichzeitig ist diese so lustvolle Affirmation dieser Differenz Zweck in sich
selbst – sie ist das Spiel. Das bedeutet nicht, dass Spiele harmlos wären und ohne
reale Konsequenzen. Wie oben erwähnt, bedeutet eine Differenz einen Abstand,
nicht ein Gegenüberstehen von etwas. Auch die ästhetische Differenz ist nicht das
Gegenüber der Realität, sondern eine Verrückung, ein spielerisches Abstandneh-
men von ihr. Die Lust liegt in der Bejahung des Abstands zur Realität, nicht in
10 | Zum Problem der Klarnamen-Pflicht siehe Beckedahl 20.07.2016.
11 | Am 28. November 2015 haben laut Facebook über 1700 Menschen das Event »moment
of silence for all my wasted potential« besucht.
12 | Siehe zum Beispiel Davison 2012.
The Internet is Dead – Long Live the Internet 257
seiner Leugnung. Wer das Spiel in seiner ganzen Gefährlichkeit nicht versteht –
entweder weil er es zu ernst oder weil er es nicht ernst genug nimmt –, der wird
auf seinen Reiz nur mit Gereiztheit reagieren können. Und mit wem wäre besser
böses Spiel zu treiben als mit denen, die es nicht verstehen?
Trolling: Von der ästhetischen
zur affektiven Differenz
Man verbindet heute mit dem Begriff des Internet-Trolls entweder eine zeitgenös-
sische Form der Internet-Propaganda oder die ewige Wiederkehr des Arschlochs,
das jede Konversation durch Rechthaberei und Gehässigkeit zerstört. Vergessen
ist dabei die bis in die Anfangszeit des Internets zurückreichende Geschichte des
Trollings als subversive Praxis. Die Anthropologin Gabriella Coleman verfolgt die-
se Geschichte des Trollings bis zur Geburtsstunde der Hacker-Bewegung (Cole-
man 2012). Aus dieser Genealogie leitet sie ein politisches und ein ästhetisches
Ethos ab: Politisch gehe es der frühen Hacker-Bewegung, ähnlich wie anderen
anarchistischen Strömungen, umWerte wie »freedom, privacy, and access« (ebd.:
100), die gegen einen als immer kontrollierender wahrgenommenen Apparat zu
verteidigen seien. Ausdruck verschaffe sich dieses Ethos in einer Ästhetik desWa-
gemuts (aesthetics of audaciousness), besonders in Form von bisweilen illegalen
Überschreitungen, Streichen (pranks) und spektakulären Aktionen – das heißt in
einer Art dunklem Willen zum Spiel. Diese Ästhetik versuche die Tatsache der
Überwachung in die Lust am Beobachtet-Werden zu verwandeln: »[T]he elabora-
tion of surfaces which takes place within it reveals a darker will toward opacity, a
drive against classification and control, a desire to exceed.« (Ebd.: 115 f.)13
Im Falle des Trollings wird die ursprünglich nach außen gerichtete Aggressi-
vität des Hacking medienimmanent ausgelebt. Sie richtet sich gegen andere User
und nicht länger primär gegen Infrastrukturen und Institutionen. Ganz so, als
ginge es darum, »to remind the ›masses‹ that have lapped onto the shores of the
internet that there is still a class of geeks, who […] will cause the internet grief,
hell, and misery« (Coleman 2012: 110). Was im Trolling angegriffen oder gar zer-
stört werden soll, ist also keine technische, sondern eine soziale Infrastruktur, das
heißt eine Normativität, die als Fremdkörper, als unlauterer Partikel des Ernstes
im Spiel ausgemacht wird.
Coleman kommt an dieser Stelle auf eine in Gamer-Kreisen legendäre Be-
gebenheit zu sprechen, die als World of Warcraft Funeral Raid bekannt gewor-
den ist. Im Frühling 2006 organisierte eine Spielergruppe (Gilde) des Online-
Multiplayer-Spiels zur Ehren einer in real life (IRL) verstorbenen Mitspielerin ei-
ne virtuelle (in game) Gedenkfeier. In einem Spielzug, der bis heute Diskussionen
über ethische Verantwortung innerhalb von Online-Games aufwirft, wurden die
13 | Coleman zitiert hier Hebdige 1982.
258 Philipp Wüschner
versammelten, unvorbereiteten, teils unbewaffneten Avatare von einer konkurrie-
renden Gruppe schlechterdings niedergemetzelt (Goguen 2009). Das Schauspiel
ist auf YouTube einzusehen und schon die flüchtige Lektüre der Kommentare
vermittelt einen Eindruck von der Bitterkeit der geführten Debatte.14
Unabhängig davon, zu welchem moralischen Urteil man über die angreifen-
den Spieler kommt, muss festgehalten werden, dass hier zwei Überschreitungen
vorliegen: Die erste reicht aus dem Spiel in die Realität. Es muss den Angrei-
fer_innen klar gewesen sein, dass ihre Spiel-Handlungen Verletzungen im realen
Leben verursachen, aber diese Verletzungenwurden imNamen des Spiels in Kauf
genommen. Diese Überschreitung reiht sich in eine Genealogie von ästhetischen
Überschreitungsgesten, zumBeispiel durch Kunstwerke, ein, die die Gefühle und
moralischen Vorstellungen ihrer Betrachter_innen auf die Probe stellen.
Ihr voraus ging jedoch eine Überschreitung, die aus der Realität ins Spiel
reicht: die Absicht nämlich, den realen Tod der Spielerin im Spiel selbst zu the-
matisieren. Auch solche Überschreitungen sind in der Kunst natürlich nicht un-
bekannt (Malen mit echtem Blut, Schlüsselromane, Cameo-Auftritte etc.). Aller-
dings gehen diese Einbrüche der Realität ins Spiel immer mit der Gefahr des
Stilbruchs einher, können zum Zusammenbruch der ästhetischen Kohärenz füh-
ren oder schlicht in Kitsch münden. Das Spiel durch einen Einbruch der Realität
selbst aufs Spiel zu setzen, kann gewollt und ungewollt sein, kann gelingen oder
misslingen, kann zu gutem wie zu schlechtem Realismus führen. Vor diesem
Hintergrund wird eine weitere Lesart des Funeral Raids möglich, für die sich der
YouTube-User Bronytus stark macht:
»As it has been said, any fucking gamer wishes their funeral even in real life could be
interrupted by screaming people throwing shit and blowing everything up. The alliance did
15
it to pay their respects. Because the dead girl was a huge PVP fanatic. And the guy who
16
organized BOTH GROUPS thought it would be the best way to toast her memory.«
In dieser Lesart erscheint der Angriff als Aufnahme der Realität ins Spiel, oder
eben als Ausdruck, der der ästhetischen Geste des virtuellen Begräbnisses in der
Logik dieser Ästhetik antwortet – und sie damit vor Verkitschung bewahrt. Auf
gewisse Weise wird auch der Mythos des Sozialen, auf den die trauernden Spie-
ler_innen sich beriefen, bestätigt – nur eben alsMythos, innerhalb dessen die At-
tacke nun gerade nicht bezeichnet, was jeneHandlung, für die sie steht, bezeichnen
14 | https://www.youtube.com/watch?v=MEpv7YxnLCQ.
15 | PvP für »Player versus Player«. Dies ist ein Modus für Multiplayer Spiele, in dem zwei (oder
mehr) Teilnehmer_innen in direkten Kampf gegeneinander antreten, im Gegensatz zu zum Beispiel
PvE (»Player versus Environment«) Modi, in denen eine Spieler_in gegen das vom Computer
gesteuerte Programm kämpft.
16 | http://wowgoldmillions.com/world-of-warcraft-funeral-raid/.
The Internet is Dead – Long Live the Internet 259
würde. Aus dieser Perspektive erscheint nun umgekehrt die moralische Verurtei-
lung der Angreifer als Bigotterie:
»You stupid people comment incessantly about the integrity of the game, [›]the girl really
died, you should be banned, I hope you die.[‹] All of these things are why you tryhards need
to read up on a subject before you talk shit. And you should probably get therapy. Because
in response to an epic battle to commemorate a dead girl, you go telling people you hope
they die. Get some help. You need it.« (Ebd.)
Es geht hier nicht darum, eine einfach dialektische Lösung für einen komplexen
Fall anzubieten, sondern darum, der Komplexität des Falls selbst zu ihrem Recht
zu verhelfen. Es ist eine Komplexität, die dadurch entsteht, dass Ernst und Spiel
keinen Dualismus mit harten Grenzen bilden, sondern Differenzen, die für die
virtuelle Präsenz des Ernstes im Spiel, aber umgekehrt auch des Spiels im Ernst
einstehen. Zugespitzt könnteman den performativen Akt des Trollings also als ei-
ne Behauptung des Spiels gegen die normative Verengung durch die Realität ver-
stehen, als radikalen Humor bis an die Grenze zur Grausamkeit. Hieran schließt
sich nun nahtlos die Frage nach dem pädagogischen Nutzen dieser Grausamkeit
an.
Wenn es einen Wert dieser Grausamkeit, oder vielleicht sogar der Grausam-
keit an sich gibt, dann kann er nur darin liegen, die Wertfrage selbst zu stellen.
Wobei sich die Freuden der Grausamkeit eben an der Freiheit berauschen, die die
Umwertung der Werte mit sich bringt, was nicht zwangsläufig mit einer sadisti-
schen Lust am Leiden anderer zusammenfällt. Auf den pharmakologischen Cha-
rakter dieser Grausamkeit, nämlich ein potenziell heilsames Gift zu sein, ist in
der Philosophie seit Nietzsche immer wieder hingewiesen worden (Schaub 2010).
Demzufolge wandelt sich das Grausame selbst zu einer Form des Ethos:
»barney’s bitch tip #1–––- make up yor [sic!] mind. either take the bitching completely
seriously,or [sic!] do not take it seriously at all. if you find yourself grinning at insults thrown
at you by your opponent,then [sic!] either cut it out immediately,or [sic!] try grinning even
wider when you’re typing your reply. the benefit of this is that you can’t be affected one way
or the other by any thing that your opponent says.if [sic!] you’re taking it seriously,then
[sic!] you just keep glaring at your monitor,and [sic!] remain determined to grind the little
filth into submission. if you’re using the lighthearted approach,then [sic!] it’s pretty dif-
ficult [sic!] to get annoyed by any kind of reference towards your mother/some chains/and
17
the family dog,because,remember,you’re [sic!] not taking this seriously!«
Interessanterweise sind beide Haltungen, die barney badass 1984 dem verbal war-
rior für Auseinandersetzungen in Foren an die Hand gibt, nämlich sowohl die ab-
solute Entschlossenheit, zu gewinnen, als auch die lapidare Haltung, nichts ernst-
17 | http://www.textfiles.com/100/warbitch.txt.
260 Philipp Wüschner
zunehmen, gleichermaßen Modi des Spielens. Beide stellen eine formalistische
(man könnte auch sagen theatralische) Entscheidung dar, die es ermöglicht, vom
semantischen und affektiven Inhalt der Auseinandersetzung abzusehen. Beiden
ist das Ideal des Nicht-Affiziertwerdens (bei gleichzeitig maximaler Affizierung
des Anderen) eingeschrieben, ähnlich wie bei dem Spiel, das derjenige verliert,
der zuerst blinzelt, wegschaut oder lacht.
Diese Haltung betrifft die fundamentalste Regel des Spiels und zugleich eine
Erkenntnis, die sich bis in die Stoa zurückverfolgen lässt: Dass nämlich das Spiel
nicht mit dem Ernst verwechselt werden darf, und das demzufolge allen Affekten,
die im Spiel auftreten, keine Zustimmung (synkatathêsis), keine Geltung jenseits
des Spiels zu geben ist. Liegt in dieser Haltung auch ein Stück Weisheit, das in
anderen Diskussionen gerade – und häufig vergebens – gesucht wird? Es geht
um die Frage, wo und auf welche Weise eine Linie zwischen dem Privaten und
demÖffentlichen zu ziehen ist. Diese Linie betrifft nicht (allein) die Art des veröf-
fentlichten Contents (private Bilder, persönliche Geschichten etc.), sondern auch
die Grenze, die durch die eigene Affizierbarkeit, durch das Private selbst gezogen
wird, und das Intime, Verletzbare davon abspaltet. Gesucht ist eine Haltung, die
allen praktischen und taktischen Entscheidungen (was zu posten ist, was nicht)
vorausgeht. Aus dieser Perspektive des unaufhörlichen Spiels können in der Tat
Standardsituationen der Alltagskommunikation im Internet, wie beispielsweise
die nicht selten höchst aggressiven edit wars auf Seiten wie Wikipedia, satirisch
gespiegelt werden. So beschreibt die Encyclopedia DramaticaWikipedia als
»a massive multiplayer online role-playing game in which some geek braggarts compete
to paraphrase TL;DR [ = Too long, didn’t read] information into a shorter, reader-friendlier
format. However, unlike any other MMORPG [ = massive multiplayer online role-playing
game], the major rewards and upgrades are to players’ perceived expertise on their own
edits, which players can trade in for sparse IRL recognition or can add to their sparse lists of
personal accomplishments. During gameplay,Wikipedia players can gain more authority as
they progress, with ›Administrator‹ and ›Double-O Licensed‹ rankings granting them access
to GOD MODE. While the rules for winning the game are a tightly-kept secret, it is believed
that the winner is treated to a night of accolades and praise from Wikipedia overlord Jimbo
Wales. (There’s also pieces of an ›encyclopedia‹ buried in there, among the articles about
18
anime fanboy crap and football.)«
Trolling fällt also in gewissen Hinsichten unter die radikale Satire. Jedoch ist es
Satire ohne festen Raum und damit auch Satire ohne Grenzen. Daher rührt auch
die von Trolls für sich in Anspruch genommene nihilistische Maxime, alles nur
für die Pointe zu tun – only doing it for the lulz – und für die Pointe alles. Hier darf
nicht nur Satire alles, hier darf alles Nicht-Satirische nichts. Damit sind die klas-
sischen Objekte trollender Kritik auch leicht ausgemacht: Trolling wendet sich
18 | https://encyclopediadramatica.rs/Wikipedia.
The Internet is Dead – Long Live the Internet 261
gegen wirkliche oder unterstellte Bigotterie (›Gutmenschentum‹) und ideologi-
sche Bubbles, gegen Technikvergessenheit und mediale Naivität, sowie natürlich
gegen Kontrolle und Zensur. Dabei muss Trolling ein Maß an Amoralität an den
Tag legen, die selbst den Versuchen repressiver Toleranz widersteht. Die Seite
KnowYourMeme.com archiviert und analysiert unter anderem sogenannte 4-the-
lulz-Memes, die Kriegsverbrechen, Terroranschläge und Naturkatastrophen als
Formen von Trolling darstellen. Trolling muss sich also die Möglichkeit vorbe-
halten, wirklich schlimm zu sein. Trolling ist nur als radikale Geste, der nichts
heilig ist, wirklich Trolling. Die rassistischen, sexistischen oder antisemitischen
Resultate, die sich daraus ergeben, sind ausreichend belegt (Nakamura 2008),
und es geht hier nicht darum, sie zu verteidigen. Denn auch wenn man nicht
aus jedem rassistischen, sexistischen oder antisemitischen Posting auf eine Iden-
tifikation des Autors mit seinem Posting schließen kann, lässt sich eine solche
Identifikation eben auch nicht ausschließen, zumal die Frage nach der dadurch
tatsächlich entstehenden rassistischen, sexistischen, antisemitischen Gewalt und
Verletzung von einer vorhandenen oder fehlenden Identifizierung gar nicht be-
rührt wird. Dennoch fällt Trolling nicht einfach mit jeder Form von Hate Speech
in eins. Dass eine Praxis strukturell subtil ist, schließt ihren Missbrauch nicht
aus – im Gegenteil. Umgekehrt verlangen gerade diejenigen Praktiken, bei de-
nen Ge- und Missbrauch ununterscheidbar zu werden drohen, eine besondere
Aufmerksamkeit auf ihre Subtilitäten: Während Hate Speech unter billigender
Inkaufnahme der Verletzung moralischer Gefühle auf eine Herabsetzung einer
Person oder Gruppe zielt, geht es im Trolling vornehmlich und in erster Linie um
jene Verletzung moralischer Gefühle, wofür auch das Mittel der Herabsetzung
von Personen und Gruppen gebilligt wird.
Die heroisierende Verklärung des Trolls im Cyberpunk ist daher schon wäh-
rend der Hochphase des Genres in den 1980er und 90er Jahren (zum Beispiel in
den Filmen Tron von 1982 oder Hackers von 1995) eine Verwechslung des Arche-
typs. Der Troll ist keinHeros, sondern eine Trickster-Figur. Er bewegt sich jenseits
von Gut und Böse und attackiert von dort den Nihilismus seiner Zeit, nicht selten
mit dessen Mitteln. Dass seine Allianzen mit dem Bösen (von russischen Troll-
Fabriken bis zu rassistischen 4Chan-Foren) liberale Intellektuelle von heute so er-
schrecken, ist auch die Konsequenz einer einseitigen, ›braven‹ Foucault-Lektüre,
die immer ignoriert hat, dassWiderstand undÜberschreitung nicht notwendiger-
weise auf der Seite des Guten stehen müssen. Der Troll lebt zwar vomNihilismus
seiner Zeit, ist aber – seiner ganzen, nicht unbeträchtlichenmoralischen Verwerf-
barkeit zum Trotz – nicht schuld an ihm. Der unentwegt erhobene moralische
Vorwurf gegen das Trolling ist also ehrenwert, aber wie das meiste Ehrenwerte
fruchtlos.
Und doch lässt sich der Vorwurf der Differenzvergessenheit mit gleichem
Recht gegen das Trolling selbst erheben. Selbst die oben genannte trollfreund-
liche Encyclopedia Dramatica kennt daher ein »Chronic Troll Syndrome« als Be-
zeichnung für diejenigenAkteure, die unfähig sind, »to tell the difference between
262 Philipp Wüschner
internet and IRL limits« (Coleman 2012: 112 f.). Im chronischen Trollmaterialisiert
sich also die amoralische Gegenfigur zum naiven, bigotten Social-Media-User;
materialisiert sich und tritt wie die Manifestation eines dunklen Unbewusstseins,
und unter Verwendung durchaus demokratischer Mittel, aus dem Internet ins
›echte Leben‹. Sie vergisst damit ihrerseits die Differenz, die sie doch eigentlich
vertritt.
The Internet is Dead –
Überempfindlichkeit und Idiosynkrasie
Die Pädagogik der Grausamkeit und der Troll als ihr Meister lehren, dem Affekt
eine Oberfläche zu geben, auf der er sich verwirklichen kann, ihm aber zugleich
ein Eindringen in die Tiefe zu untersagen. Diese Haltung lässt Affekte entstehen,
die gleichzeitig verbinden und trennen. Sie binden über die Intensität, mit der
sich der Troll in die Auseinandersetzung stürzt, und aus der er seine eigenwillige
Lust gewinnt. Sie trennen, weil diese Lust eineDistanzlust ist, eine Lust amNicht-
wirklich-involviert-Sein (und auch am Nicht-verantwortlich-Sein).
Wenn diese Haltung aber nicht länger bewusst eingenommen wird, nicht per-
formativ markiert wird, dann gerät diese trennend-verbindende Differenz in Ver-
gessenheit. Der Reiz des Spiels wandelt sich dann in Gereiztheit, die sich selbst
nicht mehr versteht, Lust und Ärger nicht mehr auseinanderhalten kann. Dann
wird, in einer Art hysterischem Realismus, alles, was gepostet wird, als Abbild der
Realität ernst genommen, diese Realität aber gleichzeitig als falsche zurückge-
wiesen. Das virtuose Spiel des Trollings verliert sich dann im Idiosynkratischen.
Idiosynkrasien übernehmennun die Funktion, uns anBildschirmundTastatur zu
binden und uns zugleich von ihnen abzustoßen. ImRahmen derDifferenzverges-
senheit bilden diese idiosynkratischen Affekte dann die eigentliche, prärationale
Grundlage für unsere Kommunikation online.
Idiosynkrasien bezeichnen zunächst eigenwillige oder gar eigensinnige (idios)
Überreaktionen (auf bestimmte Geräusche, haptische Erfahrungen – wie beim
Anfassen feuchter Wolle –, oder bestimmte Worte oder Klischees), im weiteren
Gebrauch dann affektive Verneinungen, in denen ästhetisches und moralisches
Urteil in eins fallen. Immer wieder in seinemWerk hat Theodor W. Adorno diese
Impulse mit gebotener Ambivalenz betrachtet.19 Da ist, wie Adorno am Beispiel
des Antisemitismus klarmacht, erstens die reaktionäre Idiosynkrasie gegen die
Minderheit, die sich an der vermeintlichen (physiognomischen) Abweichung vom
Allgemeinen, also am Besonderen, Auffälligen, überwunden geglaubten »Krea-
türlichen« aufhängt und es zumAnlass von Abscheu nimmt (Adorno 1981a: 204).
Es ist die Abscheu des Bürgerlichen vor der »Flut der barbarischen Migranten«,
aber auch die Abscheu des Liberalen vor dem »primitiven Rechten«.
19 | Siehe für das Folgende Vogt 2018.
The Internet is Dead – Long Live the Internet 263
Diese Abscheu ist aber selbst nur möglich, weil darin die gesellschaftlichen
Prozesse, die an jener Produktion des vermeintlich Allgemeinen und des ver-
meintlich Besonderen beteiligt sind, die »dem Geächteten die Male aufgeprägt
hat, von denen der Ekel sich abwendet« (Adorno 1981b: 23), vergessen, ja: ver-
drängt sind. Die Idiosynkrasie gegen die vermeintliche Abweichung ist somit, wie
jedes Ressentiment, eine Schutzbehauptung in Bezug auf die Labilität des für sich
reklamierten Allgemeinen, es liegt in ihr die panische Angst, »vom ekelhaften
Objekt als dessengleichen erkannt zu werden« (Adorno 1981b: 22). Liest man im
Netz von Idiosynkrasie angetriebene Diskussionen, so fallen darin nicht so sehr
die ausfälligen, unflätigen, vulgären Kommentare auf – sondern vielmehr solche,
die sich in peinlichen Bemühungen um Distinguiertheit ergehen und meistens
darin münden, sich gegenseitig Rechtschreibfehler vorzuhalten. Es scheint, als
glaubte die Idiosynkrasie sich ins Rationale retten zu können, indem sie den Du-
den zitiert.
Auf diese Behauptung falscher Allgemeinheit –manmüsste heute von fakeness
sprechen – kann man aber, auch das sieht Adorno, wieder nur idiosynkratisch
reagieren, insofern die Mittel der Vernunft bereits vereinnahmt sind. Diese
Gegen-Idiosynkrasie als zweite Form richtet sich nicht unbedingt gegen den
Inhalt einer Äußerung, kann dieser im Prinzip sogar zustimmen, sondern gegen
diejenige dogmatische Vernunft, die diese Äußerung zuallererst möglich ge-
macht hat. Dient die reaktionäre Idiosynkrasie der Aufrechterhaltung des labilen
Allgemeinen, so versucht sich die Gegen-Idiosynkrasie an dessen endgültiger
Überwindung. Oder wie Silvia Bovenschen es ausdrückt:
»Die Idiosynkrasie – will man sie nicht marginalisieren als eine Angelegenheit der läppisch
Überempfindlichen, derer, die sich, während die Welt in Trümmer fällt, über den Lippenstift
am Weinglas beunruhigen – steht an der Schwelle zu beidem: sie steht in ihren rationali-
sierten (›sozialisierten‹) Formen für den bis ans Körperliche verhärteten Dogmatismus und
in ihren offenen, seismographischen Formen für – aber das ist nur eine Möglichkeit! – ei-
ne beinahe körperliche Aversion gegen jedwede dogmatische Verfestigung.« (Bovenschen
2000: 35)
Somit kann Adorno Avantgardebewegungen als eine zeitliche Abfolge von Idio-
synkrasien lesen, nach der die zum Allgemeinplatz herabgesunkene Idiosynkra-
sie (zum Beispiel rechte Polemiken gegen ›Gutmenschen‹, aber auch zum Kli-
schee geronnene liberale Gegenpositionen), ihrerseits zum Objekt idiosynkrati-
scher Reaktion wird. Genau an diesem Punkt liegen dann auch die – allerdings
seltenen und prekären – Vorzüge der Idiosynkrasie: Insofern sie selbst zur Objek-
tivierung drängt – sei es als Kunst, die selbst immer schon kurz davor sein kann,
Klischee zu werden, sei es als Humor, der selbst immer schon Gefahr läuft, zy-
nisch zu werden – kann sie zum Ausgangspunkt undogmatischer Kritik werden.
Allerdings muss dies als seltener Glücksfall verstanden werden. Viel häufiger
kommt es zum idiosynkratischen Patt, zu einer wechselseitigen Verhärtung und
264 Philipp Wüschner
Verdummung der dogmatischen Positionen. So scheint im Falle jener Affekte,
die uns an Tastatur und Bildschirm binden und uns zugleich von ihnen absto-
ßen, eine Gleichzeitigkeit von Avantgarde und Ressentiment vorzuliegen. Diese
Ablehnungsimpulse, die sich gegen einen als generisch oder fake empfundenen
Anspruch auf Allgemeinheit und eine »obscenity of common opinions« (Lovink
2012: 9) wenden, werden freilich immer nur der anderen Seite unterstellt, wäh-
rend man sich selbst im Besitz des prekären und gerade deswegen ehrenwerten
singulären Standpunktes wähnt. Die Rhetorik der Filterbubble ist gerade nicht
die des Einvernehmens, sondern die des Alarmismus, überall nur von Feinden
umgeben zu sein. Somit sind diese Idiosynkrasien vielleicht doch mehr als ei-
ne bloße Folge von und Reaktion auf Differenzvergessenheit, nämlich die Form
selbst, in der das Vergessene affektiv nachwirkt.
Aber auch wenn derWeg vomReiz desMediums zur Gereiztheit nachgezeich-
net werden kann, und diese Genealogie auch kritisches Potenzial hat, ist diese
Entwicklung nicht rückgängig zu machen: Es gibt ein nostalgisches Erinnern an
die Differenz, aber keine Möglichkeit der Wiederbelebung.
Long Live the Internet
Schon 1999 schreibt Darcy DiNucci:
»The Web we know now, which loads into a browser window in essentially static screenfuls,
is only an embryo of the Web to come. The first glimmerings of Web 2.0 are beginning to
appear, and we are just starting to see how that embryo might develop. The Web will be
understood not as screenfuls of text and graphics but as a transport mechanism, the ether
through which interactivity happens. It will […] appear on your computer screen, […] on
your TV set […] your car dashboard […] your cell phone […] hand-held game machines […]
maybe even your microwave oven.« (DiNucci 1999: 32)
DiNuccis BezeichnungWeb 2.0, die für ein interaktives Internet steht, wird 2004
auf der gleichnamigen Web 2.0 Conference in San Francisco von Tim O’Reilly in
größerem Stil bekannt gemacht, ein Jahr nach der Gründung von Myspace und
noch zwei Jahre bevor Facebook seine Plattform fürUser jeder Art und nichtmehr
exklusiv für Harvard- und andere Universitäts-Mitglieder zu Verfügung stellt. Das
iPhone, das die Etablierung des Smartphones einleitet, kommt 2007, genau zehn
Jahre nach Krämers Text über den Mythos der künstlichen Kommunikation, auf
den Markt. Der Text, der hier als Zeuge für die offline/online-Differenz angeführt
wurde, stammt also aus einer Zeit, in der die eigentlichen Umstürze im Bereich
der sozialen Medien noch gar nicht vollzogen, ja in der sogar diese selbst noch
gar nicht in Erscheinung getreten waren. Die holprige Foren-Kommunikation in
ASCII-Ästhetik, die diese Periode des Internets prägte, ist mit der heutigen Situa-
tion nicht zu vergleichen. Die Wahl auf diesen Text fiel bewusst, denn die Diffe-
The Internet is Dead – Long Live the Internet 265
renzvergessenheit, die dort schon beobachtet wird, ist durch die Bemühungen des
Web-Designs um Benutzerfreundlichkeit, die die ästhetischen Spuren der Diffe-
renz mehr und mehr verwischen, nur vertieft worden.
Wenn Krämer in Bezug auf das Internet also über ein Leitbild »Kommuni-
kation« spricht, so tut sie dies vor dem Hintergrund langsamer Verbindungen,
von aus heutiger Sicht umständlich gestalteten, oft an Interessengruppen gebun-
denen Internet-Foren, die weder ästhetisch noch bezüglich ihrer Reichweite in
die Nähe dessen kommen, was heutige soziale Medien vermögen. Sie schreibt
außerdem über ein Internet, dessen Architektur auf Veröffentlichung und nicht
wie heute auf Partizipation ausgelegt war, und dessen Diskussionen weitestge-
hend abgesondert vom öffentlichen Diskurs stattfanden. Vor allem aber schreibt
sie zu einer Zeit über das Internet, in der der Online-Diskurs beinahe vollständig
bilderfrei war.
Wer hingegen heute eine beliebige App aus seinem Ordner »Soziale Netze«
öffnet, vor dem entfaltet sich eine Kommunikation, die weder mit Schrift noch
mit Gespräch zu tun zu haben scheint, sondern vielmehr eine Regression auf das
ursprünglichste Medium menschlicher Kommunikation darstellt: Bilder. Bilder
selbst dort, wo es scheinbar um Text geht (Vorschaubilder); Bilder dort, wo es um
Namen geht (Profilbilder); Bilder dort, wo es um Gespräche geht (Sprechblasen-
bilder); Bilder dort, wo es umGefühle geht (Emojis); Bilder, wo es umGesten geht
(Reaction GIFs) etc.
Vilém Flusser hat Bilder, deren Hervorbringung von einem Apparat abhängt,
mit der heute etwas retro klingenden Bezeichnung »Technobilder« versehen.
Möchte man Flussers Kritik an diesen Bildern, die er paradigmatisch an der Fo-
tographie entwickelt, an die oben entwickelten Begrifflichkeit anschließen, ließe
sich sagen, dass im Technobild die mediale Differenz zu den vortechnischen
Bildern vergessen ist: Wir verstehen Technobilder immer noch als Bilder (das
heißt als Versuche, die Welt darzustellen), wobei wir ihnen aber viel größere Ob-
jektivität zusprechen. Dagegen verweisen Technobilder laut Flusser gar nicht auf
das, was sie zeigen, sondern auf die Texte, die zur Erfindung der Apparate geführt
haben, die diese Bilder möglich machen – die jedoch vom Bild selbst unsichtbar
gemacht werden. Jedes Bild im Computer verweist also auf die Informatik im
Allgemeinen und den Code im Besonderen, der es beschreibt und der zugleich
von ihm unsichtbar gemacht wird. Zu diesen Texten gehören für Flusser auch die
möglichen Standpunkte, von denen aus Technobilder erzeugt werden können.
Jedes Technobild »bedeutet« (so FlussersWortwahl) den Standpunkt, von dem
aus es gemacht wurde, undmithin die Bedingungen derMöglichkeit dieser Stand-
punkte (Programme), ohne dass diese »Bedeutung« jedoch sichtbar würde. Aller-
dings erweist sich auch Flusser, der 1991 bei einem Autounfall stirbt und also die
weitere technische Entwicklung nicht verfolgen konnte, als Kind seiner Zeit. Er
sieht diese Bilder eingespannt in einen globalen Diskurs, der wie in einem (tota-
litären) Amphitheater ohne jegliche Möglichkeit der Reziprozität in alle Richtun-
gen ausstrahlt und dabei ist,
266 Philipp Wüschner
»unsere ›Wirklichkeit‹ magisch umzustrukturieren und in ein globales Bildszenarium umzu-
kehren. […] Der Mensch vergisst, dass er es war, der die Bilder erzeugte, um sich an ihnen
in der Welt zu orientieren, er kann sie nicht mehr entziffern und lebt von nun ab in Funktion
seiner eigenen Bilder.« (Flusser 1983: 10)
DiesesUrteil hat sich heute zumkulturpessimistischenAllgemeinplatz fortentwi-
ckelt. Dagegen möchte ich zum Ende Entwicklungen skizzieren, von denen sich
mit einiger Hoffnung wenigstens sagen lässt, dass man noch nicht weiß, wo sie
hinführen.
Der Wandel des Internets von einemMedium der Veröffentlichung zu einem
der Partizipation, so anfällig es für Manipulation, Modulation und Kontrolle sei-
ner Beteiligten ist, reibt sich an der kommunikativen Architektur des Amphithea-
ters, in dem ein einzelner Sender über verschiedene Kanäle (Massenmedien) In-
formation in nicht-dialogischer Form verbreitet. Heute sind wir alle Sender. Wir
mögen daran bislang nur die negativen Seiten erkennen: Wenn jedes Technobild
den Standpunkt repräsentiert, den es hervorgebracht hat, hieße das für das Web
2.0, dass jedes Technobild, das irgendwer im Netz postet (und dadurch herstellt),
seinemWesen nach ein Selfie ist und der Selbstpositionierung dient. Noch bevor
der Mythos der Kommunikation überhaupt zu Bewusstsein gekommen ist, steigt
schon der Mythos der Identität als nächstes Leitbild am Horizont auf. Man ist
derzeit kaum in der Lage, diese Entwicklung anders denn als Narzissmus (einer
Generation) zu lesen. Zugleich aber wird diese Entwicklung von neuen Bildprak-
tiken unterlaufen. Anders als bei der Fotografie und generell konträr zu Flussers
Vermutung, das Wesen der Technobilder werde verkannt, ist die Manipulation
des Textes (Codes), der die Technobilder hervorbringt, wenn auch keine allge-
meine Kulturtechnik, so doch etwas, das andauernd und gezielt in der piktoralen
Meme-Kultur sichtbar gemacht wird. Laut Wolfgang Ullrich schieben sich diese
praktischen, aktiven Formen der Kunstrezeption an die Stelle von »logozentris-
tischen Aneignungspraktiken«.20 In diesem massenhaft praktizierten Ikonoklas-
mus (Ullrich 2015), dem kein Bild heilig ist, sucht sich das idiosynkratische Aufbe-
gehren gegen das obszöne Amphitheater der allgemeinen Meinung mit seinem
hysterischen Realismus seine Form.
20 | Zum Thema ist der Vortrag »Die Mobilisierung der Bilder« von Wolfgang Ullrich unter https:
//youtu.be/ptml-Ba0KS8 anzusehen. Siehe auch Ullrichs Blog: ideenfreiheit.wordpress.com.
The Internet is Dead – Long Live the Internet 267
Literatur
Adorno, TheodorW. (1981a). »Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmen-
te«. In: Gesammelte Schriften. Bd. 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
— (1981b). »Versuch über Wagner«. In: Gesammelte Schriften. Bd. 13. Frankfurt
am Main: Suhrkamp, S. 7–148.
Barbrook, Richard (2007). Imaginary Futures: FromThinkingMachines to the Global
Village. London: Pluto Press.
Barth, Niklas (2016). »Kalte Vertrautheiten – Private Kommunikation auf der So-
cial Network Site Facebook«. In: Berliner Journal für Soziologie 25, S. 459–489.
Bateson, Gregory (1985). Ökologie des Geistes. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Baudrillard, Jean (1981). Simulacres et Simulation. Paris: Éditions Galilée.
Beckedahl, Markus (20.07.2016). Mehrheit der jungen Menschen ist gegen Klar-
namenpflicht. url: https : / / netzpolitik . org / 2016 / mehrheit - der - jungen -
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Affektive Netze
Politische Partizipation mit Spinoza
Marie Wuth
Im Oktober 2017 wurde unter dem Hashtag #MeToo in den sozialen Medien, vor
allem über den Mikroblogging-Dienst Twitter, eine internationale Bewegung ge-
gen sexuelle Gewalt und Unterdrückung mobilisiert. Angestoßen von Zeitungs-
berichten über die Vorwürfe der sexuellen Nötigung und Belästigung durch den
US-amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein, wurde eine Welle von
Postings und Tweets losgetreten, die unter dem Hashtag #MeToo millionenfach
Zeugnis von den verschiedensten Formen sexueller Diskriminierung ablegten.
Die Verwendung des Hashtags machte es den Überlebenden sexueller Gewaltta-
ten weltweit möglich, ihre Erfahrungen zu teilen und sich als Teil dieser Bewe-
gung zu verstehen.
Zwar ging MeToo als globale Bewegung von Hollywood aus und mobilisierte
in einer erstenWelle vornehmlich Frauen in Industriestaaten. Tatsächlich aber ist
der Begriff bereits seit 2006 im Umlauf. Die Aktivistin Tarana Burke hatte unter
dem Stichwort MeToo eine Organisation ins Leben gerufen, die auf die sexuelle
Gewalt vornehmlich gegen Black women und Women of Color hinweisen und
ihnen Unterstützung und ein gemeinschaftliches Netzwerk anbieten sollte.
MeToo ist damit eine Bewegung, die weder auf heterosexuelle, weiße Mittel-
klassefrauen begrenzt ist noch auf eine bestimmte Gruppe beschränkt sein kann.
Sexuelle Diskriminierung, das zeigt das weltweite Echo des Hashtags, trifft Men-
schen jedes Geschlechts, jeder Hautfarbe und jeder Klasse. #MeToo heißt daher
unter anderem auch #QuellaVoltaChe, #AnaKaman oder #YoTambien – Wider-
stand zeigt sich in vielen Sprachen und Formen, so wie auch sexuelle Gewalt
weltweit und in verschiedenen Formen erlebt wird, was sich auch in den weg-
bereitenden und begleitenden Bewegungen von MeToo in zahlreichen Ländern
Mühlhoff, R.; Breljak, A.; Slaby, J. (Hg.): Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie
der Digitalen Gesellschaft. transcript 2019, S. 269–290. DOI: 10.14361/9783839444399-
012.
270 Marie Wuth
zeigt. In der Bewegung hinter MeToo laufen Aktionen und Organisationen auf
lokaler wie globaler Ebene zusammen. Was einst als lokale Basisarbeit begann,
»has expanded to reach a global community of survivors from all walks of life and
helped to de-stigmatize the act of surviving by highlighting the breadth and impact
of a sexual violenceworldwide«1. Denn erst die globaleDebatte in den sozialenMe-
dien hat es vielen Überlebenden ermöglicht, derartige Gewalterfahrungen lokal,
etwa am Arbeitsplatz, anzusprechen, Druck auszuüben und Veränderungen zu
bewirken. Daran zeigt sich eindrucksvoll, wie heute globales und lokales Gesche-
hen miteinander verschränkt sind und sich prozessual bedingen.
Die MeToo-Bewegung ist ein Beispiel dafür, wie digitale und soziale Medien
die Dynamik, Reichweite und den Bezugsrahmen von Handlungen und Formen
der Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und Geschehnissen verändert ha-
ben. Es ist möglich bis unumgänglich, über digitale Plattformen oder Nachrich-
tendienste nicht nur in lokale Geschehnisse involviert zu sein, sondern auch an
globalen Ereignissen teilzuhaben. Was sich global und lokal abspielt, ist immer
stärker miteinander verschränkt. Ereignisse im Nahumfeld sind in ihren Effek-
ten nicht mehr lokal beschränkt, sondern können sich auf globale Prozesse aus-
wirken. Ebenso ist das, was sich global ereignet, auch im jeweiligen Nahumfeld
wirksam. Dies zeigt sich mitunter daran, wie im Zuge der technologischen Ent-
wicklung undVernetzungmenschliche Individuen nicht nur als Akteure in ihrem
Nahumfeld auftreten, sondern auch über verschiedeneMedien in globale Kontex-
te eingreifen, darin handeln und partizipieren.
Interessant ist dies nicht zuletzt in Bezug auf die Möglichkeiten der Teilhabe
und des politischen Handelns. Digitale Medien ermöglichen es, wie auch Me-
Too zeigt, unabhängig vom jeweiligen Standort Teil einer politischen Bewegung
zu sein. Dies hängt selbstredend auch mit den Veränderungen politischer Bewe-
gungen durch digitale Medien zusammen. In den letzten Jahren konnte an der
Konjunktur und dem rasanten Zuwachs fundamentalistischer und populistischer
Gruppen, aber auch feministischer und antirassistischer Bewegungen, die Bedeu-
tung sozialer Medien für deren Entwicklung, Verbreitung und Organisation be-
obachtet werden. Die Netzwerke, über welche solche Bewegungen und Gruppen
sich zusammenfinden und kommunizieren, ermöglichen eine dezentrale Orga-
nisation und die Möglichkeit, sich weltweit miteinander zu verbinden.
Dass sich die Formen von Teilhabe und der Spielraum vonHandlungenmit di-
gitalen und sozialen Medien verändert und erweitert haben, kann darauf zurück-
geführt werden, dass diese neuen Medien und technologisch bedingten Netzwer-
ke die Relationen, in denen Einzelne zueinander stehen, erweitert und vervielfäl-
tigt haben. Relationen sind von konstitutiver Bedeutung für das Wesen und Sein
des Einzelnen und prägen daher auch, wie Personen handeln und an Gescheh-
nissen teilhaben. Dieser Zusammenhang zwischen Handlungen, Teilhabe und
sozialen Relationen kann insbesondere aus einer affekttheoretischen Perspektive
1 | https://metoomvmt.org/about/ (Stand: 07.11.2018).
Affektive Netze 271
erhellt werden. Wenn die Relationen, die zwischen den Individuen bestehen, als
prinzipiell affektive verstanden werden, ermöglicht dies nicht nur, Handlungen
innerhalb dieser affektiven Relationen zu betrachten und aus ihren Dynamiken
heraus zu verstehen. Ein affekttheoretischer Ansatz ermöglicht auch, politisches
Handeln sowie politische Prozesse und Ereignisse innerhalb affektiver Relationen
und Dynamiken zu betrachten. Dies soll im Folgenden mit Hilfe von Baruch de
Spinozas Affekttheorie versucht werden.
Spinozas Theoriegebäude eröffnet eine Perspektive auf das Politische, aus der
politisches Handeln innerhalb eines umfassenden transindividuellen Affektions-
geschehens lesbar wird. Ein von Spinoza ausgehender Ansatz ermöglicht es, poli-
tische Partizipation, egal ob aktiv oder passiv, von den Affekten her zu verstehen.
Dabei muss sich auch ein spinozistischer Ansatz denHerausforderungen stellen,
die vernetzte Formationen heute mit sich bringen. Denn die digitale Vernetztheit
menschlicher Individuen schafft ganz neue Bedingungen und Möglichkeiten für
politisches Handeln und politische Partizipation. Ein Versuch, dieser Schwierig-
keit zu begegnen, stellt der Begriff des affektiven Netzes dar, der im Folgenden ent-
wickelt wird. Dieses Konzept kann den spinozistischen Gedanken der affektiven
Relationalität und konstitutiven Verbundenheit aller Einzeldinge auf gegenwärti-
ge vernetzte Formationen übertragen.
1 Affektive Netze
Handeln findet nie kontextunabhängig statt. Es vollzieht und entfaltet sich immer
in Relationen und mannigfaltigen Beziehungsgeflechten. Immersiviert in Sozial-
und Machtgefüge konstituiert und entwickelt sich das individuell Seiende also in
wechselseitiger Bezugnahme auf andere Körper und Dinge; in Beziehungen, die
primär als affektive Relationen zu verstehen sind. Affektive Relationen können
sich zwischen mindestens zwei nicht notwendigerweise menschlichen Individu-
en entwickeln, die sich gegenseitig affizieren und voneinander affiziert werden
können, womit vorerst ein relationales Wirkungsgeschehen beschrieben ist. Die-
se zweiseitige Fähigkeit endlicher Wesen ermöglicht das, was in der Affekttheorie
als Affektionen und Affekte bezeichnet und unterschieden wird. Diese begriff-
liche Differenzierung zwischen Affektion (affectio) und Affekt (affectus) geht auf
Baruch de Spinoza zurück, in dessen Metaphysik jegliche Vorgänge und Ereig-
nisse in der Welt, und damit auch alles Lebendige, Teil eines immanenten Af-
fektionszusammenhangs sind. In einer ersten allgemeinen Bestimmung können
Affektionen als Modifikationen beziehungsweise Ausdrucksformen einer Entität
verstanden werden (siehe Andermann 2016b: 115 ff.). Mit Blick auf endliche Ein-
zelwesen, Spinoza bezeichnet sie als »endlicheModi«, könnenAffektionen an die-
ser Stelle vorläufig als körperliche Zustände begriffen werden. Affektionen gehen
aus der Interaktion mit anderen Körpern hervor – sie sind daher von Grund auf
relational und implizieren stets die Existenz anderer Körper. Bezüglich mensch-
272 Marie Wuth
licher Modi gibt Spinoza eine noch ausführlichere Beschreibung des relationalen
Affizierungsgeschehens: Eine körperliche Affektion, die zunächst eine Spur oder
Wirkung auf den Körper ist, wird immer von einer – mehr oder weniger adäqua-
ten – Idee begleitet, das heißt, es kommt dabei auch zu einer geistigen Affektion.
Denn »[a]lles […], was sich immenschlichen Körper ereignet, muss der menschli-
che Geist wahrnehmen« (Spinoza E E: 2p14dem)2. Hieran wird nicht zuletzt deut-
lich, dass Spinoza anti-dualistisch von einer grundsätzlichen Verbundenheit von
Körper und Geist ausgeht. Gleichzeitig wird damit nochmals die Relationalität
von Affektionen unterstrichen. Insofern der affizierte Körper von der zufälligen
Affektion durch einen anderen Körper nämlich eine Idee bildet, wird sowohl die
Gegenwart und Natur des affizierten als auch die des affizierenden Körpers in
dieser Idee enthalten sein (E: 2p16dem).
Aus körperlichen, zufälligen Affektionen und ihnen zugehörigen Ideen kön-
nen Affekte hervorgehen (siehe E: 3d3). Als Affekte werden in der spinozistischen
Terminologie jene Affektionen bezeichnet, die eine Verminderung oder Steige-
rung derWirkmacht endlicherModi implizieren. Eine solcheWirkmacht zeichnet
die in der Welt existierenden Dinge aus und beschreibt ihre potenzielle Fähigkeit,
tätig zu werden, andere Körper zu affizieren und durch sie affiziert zu werden.
Gilles Deleuze hat insbesondere den transitiven Charakter von Spinozas Af-
fektbegriff betont. Affekt versteht er als »gelebte Dauer«, »die den Unterschied
zwischen zwei Zuständen einschließt«, aber nicht auf eine bloße Vergleichsschau
reduzierbar ist (Deleuze 1988 [1981]: 66). Affekte sind als solche Übergänge nur
dynamisch denkbar und ihnen eignet eine bestimmte Temporalität, die sich in
der erfahrenen Dauer des Übergangs artikuliert. Affekte sind also mehr als eine
Zeitspanne, sie beschreiben eine Veränderung, die der affizierte endliche Modus
körperlich und geistig im Übergang von einem Zustand zu einem nächsten mit
größerer oder geringerer Wirkmacht erfährt. Als Affekte können beispielsweise
Freude oder Trauer bestimmt werden. Einer strengen und eindeutigen (etwa emo-
tionstheoretischen) Klassifizierung entziehen sie sich jedoch, da sie keine indivi-
duellen Zustände beschreiben und stets das Zusammenspiel mehrerer Körper
einschließen (siehe E: 3affd3). Ausgehend hiervon lässt sich festhalten, dass Af-
fektionen und Affekte, die zwischen menschlichen Individuen entstehen, dyna-
mische Vorgänge und Relationen beschreiben und auf der grundsätzlichen Ver-
bundenheit endlich existierender Modi basieren. Affektive Relationen beschrei-
ben Wirkverhältnisse, die sich ausgehend von jedem existierenden Individuum
entfalten; sie schaffen Resonanzen und Synergien mit anderen Körpern und Din-
gen, die das einzelne existierende Seiende formen und wandeln. In einer graphi-
2 | Spinozas Ethik wird im Folgenden abkürzend mit E zitiert. Für die Stellen innerhalb des
Werkes verwende ich die gängigen Abkürzungen der Studia Spinozana. Die Abkürzungen dienen
der Bestimmung der Satzart und stehen für definitio (d.), demonstratio (dem.), propositio (p.),
scholium (s.) und weitere. Angaben zu den Textstellen spiegeln den Aufbau der Ethik und zeigen
den Teil der Ethik (1–5), die Satzart und die Zählung des Satzes an.
Affektive Netze 273
schen Veranschaulichung dieser affektiven Beziehungen würde jeder Körper als
Knotenpunkt in einem Netz dynamischer, stabiler wie instabiler und verschieden
intensiver Verbindungslinien hervortreten. Das individuell Seiende ist mit ande-
renWorten immer schon Teil eines affektiven Netzes aus Relationen und Prozessen,
an denen es aktiv oder passiv partizipiert.
Der Begriff des affektiven Netzes dient hier als ontologischer Strukturbegriff,
mit dem die Relationalität und Immersion des Seins ausgedrückt werden kann,
die Spinozas Ontologie der Immanenz auszeichnen.3 Zugleich fängt der Begriff
des Netzes den dynamischen und kontingenten Charakter der Relationen ein, die
sich zwischen verschiedenen Dingen, die Teil eines Netzes sind, entwickeln kön-
nen. Das affektive Netz als Analysebegriff operiert jedoch nicht nur auf der onto-
logischen Ebene. Der Begriff bietet auch die Möglichkeit, das Nachdenken über
Ontologiemit praktischen gesellschaftspolitischen Beobachtungen, aber auchmit
gelebten Erfahrungen innerhalb konkreter Affizierungsdynamiken zu verbinden.
Zugleich ist der Begriff des affektiven Netzes, gerade weil er aus Spinozas
Theorie gewonnenwurde, um auf heutige gesellschaftliche Formationen und Ent-
wicklungen zu schauen, ein Prüfstein für die Zeitgemäßheit dieser Theorie und
ein Versuch ihrer Aktualisierung. Denn die Immanenzphilosophie Spinozas bie-
tet ein theoretisches Grundgerüst, mit dem sich philosophische Werkzeuge er-
arbeiten lassen, die als affekttheoretische Beschreibungs- und Explikationsres-
sourcen für gesellschaftliche Veränderungen dienen können. Im Folgenden sol-
len diese Werkzeuge auf gegenwärtige Formationen politischer Partizipation und
politischen Handelns angewendet werden, um zu prüfen, ob Spinozas Theorie
die Mittel für eine politische Ontologie der Gegenwart reichen kann. Dahinter
steht die Annahme, dass mittels der grundlegenden Beschreibungen von Sein
und Wirklichkeit Spinozas Immanenzphilosophie in der Ethica ein generatives
Begriffsfeld eröffnet, mit dem gegenwärtige politische Prozesse affekt- und im-
manenztheoretisch betrachtet werden können.
Wie erwähnt handelt es sich beim affektiven Netz um einen ontologischen
Strukturbegriff. Damit wird insbesondere auch verdeutlicht, dass jedes individu-
ell Seiende über seine Affekte und Affektionen mit anderen Einzelwesen, einer
Gemeinschaft, der Umwelt verbunden ist und an diesen Strukturen beständig
partizipiert. Insofern lässt sich auch von einer dynamischenNetzwerkarchitektur des
Seins sprechen. Aus ontologischer Perspektive konstituiert sich, wandelt sich und
handelt das endliche Seiende in affektiven Netzen. Diese spinozistische Perspek-
tive, welche von der Idee einer grundlegenden Relationalität und Verbundenheit
der Dinge ausgeht, bietet sich für eine Betrachtung der gesellschaftlichen, sozio-
politischen Verhältnisse in vernetzten Formationen an. Mit dem Begriff des affek-
tiven Netzes kommt auch die Möglichkeit ins Spiel, die digitale Welt der Gegen-
3 | Zum Thema Immersion und Immersivierung in Anschluss an Spinoza siehe Mühlhoff 2018.
Von besonderer Bedeutung ist der Zusammenhang zwischen Affekt, Macht und Immersion, den
Mühlhoff hier, vor allem mit Blick auf Subjektivierung, herausstellt.
274 Marie Wuth
wart über die affektiven Strukturen, in denen Individuen handeln und an denen
sie partizipieren, neu zu denken.
2 Die Sphäre des Politischen
Affekte sind, wie Spinoza betont, Teil der Natur und Existenz endlicher Modi, wie
etwamenschlicher Individuen, weshalb sie weder alsMakel noch als unbedeutend
angesehen werden sollten (siehe E: 3praef). Geht man wie Spinoza von der affek-
tiven Bedingtheit menschlichen Handelns und Denkens aus, dann sind mensch-
liche Individuen auch im Bereich des Politischen nicht als rein rational denkende
und kalkulierbare Wesen, sondern als affektive Individuen zu verstehen. Refle-
xionen über Politik und das Politische würden unter dieser Annahme Affekte
miteinbeziehen und als wichtige Faktoren in politischen Prozessen berücksich-
tigen. Ein von Spinoza ausgehender affekttheoretischer Ansatz ermöglicht, For-
men der aktiven oder passiven politischen Partizipation als affektive Reaktionen
auf politische Prozesse und in politischen Prozessen zu lesen. Nicht nur poli-
tisches Engagement und Partizipation im Allgemeinen, auch individuelle Aver-
sionen, Desinteresse oder Teilnahmslosigkeit könnten dann als affektiv bedingt
erklärt und müssen in den affektiven Dynamiken, in denen sie sich entfalten,
verortet werden. Dabei ist jedoch wichtig zu klären, welches ontologische Grund-
gerüst und welches Verständnis von Affektion und Affekt zum Einsatz kommen.
Auch der Begriff des Politischen, der in Überlegungen zu politischer Partizipation
zum Tragen kommt, soll im Folgenden konturiert werden. Wenn die Frage nach
politischer Teilhabe vor dem Hintergrund von Spinozas Modell der relationalen
Ontologie gestellt wird, ist nicht zuletzt eine Reflexion des Verhältnisses von On-
tologie und dem Politischen wichtig. Ziel ist es dabei, Hierarchisierungen oder
Privilegierung zu vermeiden. Stattdessen soll die Verquickung und das korrela-
tive Verhältnis betont werden, um die Punkte scharfzustellen, in denen Linien
des Politischen und Ontologischen zusammenlaufen. Dabei ist es essentiell, die
Begriffe und Operatoren zu konturieren, ohne ihre fluide Organisation und Logik
zu unterbinden.
Aufschlussreich ist dafür die in der politischen Ontologie häufig getroffene
Differenzierung zwischen dem Politischen und der Politik. Die Debatte um die so-
genannte politische Differenz wird insbesondere in der French Theory seit den
1980ern geführt, wobei die einschlägigen Referenztexte und -theorien älteren Da-
tums sind und in langen Traditionslinien stehen. Ohne auf das weite Feld von
Bestimmungsversuchen der politischenDifferenz vertiefend einzugehen, soll das
hier vorgeschlagene Verständnis des Politischen mittels einer ersten orientieren-
den Unterscheidung derjenigen Bereiche konturiert werden, die bevorzugt dem
Politischen oder der Politik zugeordnet werden. Während der Bereich der Politik
oftmals spezifische Institutionen, konkrete Regierungs- undVerwaltungsapparate
umfasst, scheint der Bereich des Politischen ein Feld aufzuspannen, das auch ge-
Affektive Netze 275
genüber der Kultur und dem Sozialen nicht klar abgegrenzt werden kann, wie es
im allgemeinen Sprachgebrauch für das galt und immer noch gilt, was als Politik
bezeichnet wird.4
Hält man an der oben genannten groben Unterteilung fest, bietet es sich für
den Bereich der Politik an, Demarkationslinien entlang verschiedener Institutio-
nen und Akteure zu ziehen. Für das Denken des Politischen ist dagegen entschei-
dend, dass es im Gegensatz zur Politik seit der Antike immer mit den Bereichen
des sozialen und gesellschaftlichen Lebens verwoben war (siehe Röttgers 2010:
38). Es gibt keine klaren Grenzen, die das Politische abstecken, da die Verläufe
fließend und dynamisch sind. Vor diesemHintergrund erweist sich die politische
Differenz als fruchtbar, da sie hilft, überkommene Dichotomien, etwa zwischen
Politik und Kultur, zu überwinden und die tiefe Verwobenheit des Politischenmit
sämtlichen Bereichen menschlichen Lebens zu sehen. Verbunden damit ist eine
Öffnung und Erweiterung des Spielraums für politische Handlungen, Aktivitäten
und Ideen, der nicht länger auf bestimmte Akteure und Institutionen beschränkt
ist und Bereiche des Sozialen umfasst.
Unter den verschiedenen Konzeptionen einer ontologisch fundierten politi-
schen Differenz unterscheidet Oliver Marchart zwischen einer dissoziativen Tra-
dition im Anschluss an Carl Schmitt, die das Politische als konfliktäres Machtge-
schehen begreift und auf einen grundlegenden Antagonismus zurückführt, und
einer assoziativen Tradition, die ausgehend von Hannah Arendt das Politische als
Raum der Freiheit, der kollektiven und öffentlichen Deliberation und des acting
together versteht (siehe Marchart 2010: 35–37). Mit Blick auf diese Traditionslini-
en des Politischen, wie sie Oliver Marchart aufzeigt, möchte ich ein Verständnis
des Politischen vorschlagen, das erstens in Anschluss an Hannah Arendt und die
assoziative Traditionslinie primär als Raum des Miteinanderhandelns verstanden
wird, der zweitens weder frei von Macht- und Konfliktbeziehungen noch institu-
tionell gerahmt ist, was zentral für das Verständnis des Politischen in der disso-
ziativen Traditionslinie ist. Eine trennscharfe Zuordnung zu einer dissoziativen
oder assoziativen Traditionslinie ist für dieses Vorhaben jedoch weder zielführend
noch essentiell.
Grob konturiert und bewusst offengehalten kann das Politische hier vorerst als
Sphäre der Interaktion, des affektiven Wechselspiels mannigfaltiger Wirkmäch-
te und des gemeinsamen Handelns bestimmt werden. Das Politische wird hier
als ein »mobiles und ubiquitäres Feld« gedacht (siehe Arditi 1995: 40), das von
Exklusions- wie Inklusionsphänomenen und -mechanismen, die weit in den Be-
reich des Sozialen vordringen, strukturiert und verändert wird. Ein von Spinoza
inspiriertes Verständnis des Politischen muss den Mittelweg zwischen dissozia-
tiven und assoziativen Theorien gehen. Hierbei sind nicht der Charakter oder
die konstituierenden Merkmale der Beziehungen, das heißt etwa, ob sie sich als
4 | Systematisch ausgearbeitet hat dies Oliver Marchart in Marchart 2010.
276 Marie Wuth
antagonistisch, kämpferisch, verbindend oder kooperativ beschreiben lassen, aus-
schlaggebend für die Bestimmung des Politischen. Viel mehr geht das hier vorge-
schlagene Verständnis von der grundlegenden Relationalität und Verbundenheit
der Akteure aus, das heißt, der Blick wird auf die Beziehungen und Relationen
selbst gerichtet und auf das dynamische Wechselspiel der Wirkmächte fokussiert
– und diese sind immer sowohl assoziativ als auch dissoziativ.
Die Kritik, die an einen solchen Begriff des Politischen herangetragen wer-
den kann, gilt einer möglichen allgemeinen Politisierung der Gesellschaft und
gleichzeitigen Usurpation des Politischen durch das Soziale. Einen Großteil der
Autor_innen, die die Debatte umdie politischeDifferenz führen, verbindet gerade
der Anspruch, das Politische gegenüber dem Sozialen abzugrenzen und als einen
eigenständigen Bereich zu bestimmen. Dagegen bietet das hier vorgeschlagene
Verständnis die Möglichkeit, bestimmte Phänomene, die sich aufgrund von Ur-
sachen, Wirkungen, Relationen einer klaren Kategorisierung in den Bereich des
Sozialen, der Politik, der Kultur, des Rechts etc. entziehen, dennoch auf ihren poli-
tischenGehalt hin zu befragen. Das Politischemuss dementsprechend auch nicht
auf den Diskurs oder Bereich der Öffentlichkeit beschränkt werden. Das Private
ist ebenso wie das Soziale politisch, insofern hier politische Entscheidungen zum
Tragen kommen, Unterdrückungs- und Machtstrukturen wirksam werden und
Ausschluss- wie Inklusionsmechanismen greifen. Formuliert werden sollte ein
Begriff des Politischen, der eine intersektionale Perspektive auf politische Prozes-
se eröffnet und beispielsweise verknüpfte Unterdrückungs- oder Herrschaftsver-
hältnisse im Bereich der Kultur, Politik oder im Recht als miteinander verbunden
erkennt. Insbesondere intersektionale Strukturen und Probleme, die für viele po-
litische Bewegungen und Prozesse eminent sind, überschreiten starre Grenzen
und Kategorien.
3 Spinozas Philosophie der Immanenz
Relationale Ontologie
Will man Spinozas Ontologie auf die Betrachtung politischer Phänomene bezie-
hen, ist es unumgänglich, diejenigen Punkte seiner Ontologie aufzuzeigen, die
dafür fruchtbar sind. Seiner metaphysischen substanzmonistischen Position fol-
gend denkt Spinoza das Sein über die eine Substanz. Den Begriff der Substanz
verwendet Spinoza äquivalent zum Begriff Gottes, er kann aber auch als Natur
übersetzt werden. Allerdings soll diese zugleich in sich selbst different und vor-
aussetzungslos sein. Spinoza begreift die eine Substanz als unteilbare Einheit und
unendlich schöpferische Kraft, die gemäß des causa-sui-Prinzips, das in den ers-
ten Lehrsätzen der Ethica postuliert wird, Ursache ihrer selbst ist (siehe E: 1d1 und
1d3). Damit eröffnet Spinoza sein Werk mit einem Paradoxon: Denn wenn die
Substanz sowohl Ursache ihrer selbst als auch aller anderen Dinge ist, schließt
Affektive Netze 277
sie Ursache und Wirkung in sich ein.5 Ausgehend von dieser selbstimmanen-
ten Konzeption der Substanz vertritt Spinoza also einen Substanzmonismus, der
zugleich die faktische Existenz von quantifizierbaren Einzeldingen einschließt.6
Spinoza zeigt, dass aus der unendlichen Natur und dem Schöpfungspotenzial der
Substanz, wodurch ihre Essenz zum Ausdruck kommt, »unendlich vieles auf un-
endlich viele Weisen, also alles, notwendigerweise geflossen ist« (E: 1p17s).7 Die
Substanz ist die ontologische Grundlage einer Wirklichkeits- und Seinsvorstel-
lung, die Immanenz als grundlegendes und strukturierendes Prinzip aller Vor-
gänge, Phänomene und Erkenntnisse setzt – das ist, in Deleuzes Worten »die
Aufdeckung eines gemeinsamen Plans der Immanenz, in dem alle Körper, alle See-
len, alle Individuen enthalten sind« (Deleuze 1988 [1981]: 159).
Das Aufspannen der ontologischen Struktur als Immanenzebene (plan d’im-
manence8) kann als Netz beziehungsweise als Netzwerk verstanden werden, da
zwischen den Individuen, die in ihmeingebettet sind, diverse dynamisch-affektive
Kräftebeziehungen bestehen und die existierenden endlichenModi als relationale
Teile des Netzes zu verstehen sind. Die theoretische Schablone, die Spinoza bietet,
ist nicht auf ein starkes, autonomes und universelles Subjekt zentriert, sondern
fokussiert auf die Relationen und Beziehungen, in die endliche, und nicht aus-
schließlich menschliche, Individuen eingebettet sind. Sein ist also stets relational
und nur in Relationen möglich. Eben diesen Gedanken soll auch der Begriff des
affektiven Netzes auffangen, der Relationalität als Grundgedanken auch auf me-
taphorischer Ebene mitträgt: Ohne Fäden und verknüpfende Bindungen würden
weder die Knoten eines Netzes noch das Netz an sich entstehen.
Die Rekonstruktion von Spinozas Theorie einzelner endlicher Modi muss zu-
erst berücksichtigen, dass die bewirkende Ursache für die Existenz und das We-
sen endlicher Modi, wie bereits erwähnt, die eine Substanz ist (siehe Andermann
2015: 5 f.). Die Modi bestimmt Spinoza als Affektionen, sie sind also Ausdrucks-
formen der Substanz, insofern in ihnen die Macht der Substanz als erschaffende
Natur sichtbar wird (siehe E: 1d5). Aus der unendlichen Natur der einen Substanz
kann jedoch Spinoza zufolge nicht unmittelbar etwas Endliches und spezifisch
Verfasstes folgen. Ein endlicher Modus ist auf die Existenz und Affizierung, das
bedeutet auf Einflüsse und Wirkungen durch andere endliche Modi angewiesen:
5 | Siehe zum causa-sui-Prinzip und weiteren Anfangsparadoxien in Spinoza Stegmaier 2011.
6 | Zu Spinozas Monismus siehe exemplarisch Perler 2015.
7 | Hieraus folgt nicht nur die Unterscheidung von natura naturans, verstanden als schaffende
Natur, und natura naturata, verstanden als geschaffene Natur, sondern auch die Mannigfaltigkeit
der einzelnen Dinge, die aus der unendlichen, produktiven Natur der Substanz (natura naturans)
folgt, in deren Begriff die Vielfalt und Diversität der Dinge (natura naturata) somit bereits angelegt
ist (siehe E: 1p17).
8 | Aufgrund der Mehrdeutigkeit des französischen plan bietet die Übersetzung der Formulie-
rung plan d’immanence Schwierigkeiten. In diesem Kontext ist plan nicht als Plan im Sinne eines
bestimmten Vorhabens zu verstehen, sondern als Ebene.
278 Marie Wuth
»Jedes Einzelding, d.h. jedes Ding, das endlich ist und eine bestimmte Existenz
hat, kann weder existieren noch zu einem Wirken bestimmt werden, wenn es
nicht von einer anderen Ursache zum Existieren und Wirken bestimmt wird, die
ebenfalls endlich ist.« (E: 1p28) Die Konstitution, Stabilisierung und Modulation
des einzelnen Seienden kann Spinoza zufolge ausschließlich im Zusammenhang
und in Interaktionmit anderen existierenden Individuen und innerhalb der einen
Substanz gelingen, aus der Spinoza zufolge alles Existierende folgt (siehe E: 1p17s).
Das Sein der Einzelnen ist daher immer ein Mit-Sein9, ein Leben in relatio-
nalen Gefügen beziehungsweise Netzen, die wesentlich affektiv sind. Der Monis-
mus der einen Substanz sowie das Situieren aller Dinge auf einer Immanenzebe-
ne haben zur Folge, dass die Vorstellung des Individuums in seiner Konstitution
und Definition wie auch das Denken, Fühlen und Handeln von Anfang an rela-
tional konzipiert sind. Denn es ist nicht ein Einzelner, »der fühlt oder sieht oder
denkt, solange das Fühlen, Sehen und Denken einzig und allein auf der Ebene
der Immanenz situiert ist« (Rölli 2012: 241). Relationalität, genauer immanen-
te Relationalität, wird hier als wichtiges Grundprinzip erkennbar, das nicht nur
für die Konzeption der ontologischen, sondern auch der ontischen, epistemologi-
schen und ethischen Ansätze der Ethica von Bedeutung ist. Spinozas Ontologie
der Substanz kann also als relationale Ontologie gelesen werden. Im Rahmen die-
ser relationalen Ontologie ist das endlich existierende Individuum immer schon
eingelassen in soziale Interaktionen, Beziehungsgeflechte und Gemeinschaften,
es ist Teil der einen Substanz beziehungsweise der Natur. Ebenso wie endliche
Modi Teil davon sind, sind sie auch daran teilhabend. Die Interaktion mit ande-
ren lebendigen Dingen ist für die Konstitution und den Erhalt eines jedenWesens
existenzielle Bedingung (siehe Andermann 2016a; Slaby und Mühlhoff 2019).
Mit Blick auf diese relationale Ontologie und den Individuationsprozess ist es
Étienne Balibar zufolge daher angebracht, an der Form des Individuums festzu-
halten, aber anstelle von Individualität von Transindividualität zu sprechen (Ba-
libar 1997). Mit diesem Begriff sollen der prozesshafte und relationale Charakter
des Individuationsprozesses und die konstitutive Verbundenheit der endlichen
Modi betont werden. Ein endlich existierender Modus kann niemals isoliert be-
trachtet oder nur durch sich selbst verstanden werden, da er immer schon in af-
fektiven Relationen zu anderen Dingen steht, in welchen er hervorgebracht wird
und in denen er wirkt. Es ist zugleich von Bedeutung, an der Form des Indivi-
duums festzuhalten, »because only individuals can be said properly to operate or
to be active, and above all because only individuals can be said […] to be affected,
in order to affect« (Balibar 1997: 14). Die hier angesprochene Notwendigkeit der
Realisierung der zweiseitigen Affektionsfähigkeit, das heißt die Fähigkeit eines
9 | Den Begriff des Mit-Seins verwende ich hier schlicht als Ausdruck dafür, dass jedes Sei-
ende immer schon mit anderen Seienden verbunden ist und Sein vor dem Hintergrund einer
relationalen sozialen Ontologie prinzipiell plural gedacht werden muss.
Affektive Netze 279
Modus, zu affizieren und affiziert zu werden, steht in unmittelbarem Zusam-
menhang mit der Wirkungsmacht eines Modus (potentia agendi) und dem Gesetz
zur Selbsterhaltung, demgemäß ein Körper von anderen Körpern affiziert werden
muss, um existieren zu können. Damit ist auch auf die conatus-Lehre verwiesen,
die Spinoza in der Ethica als die ontologische Grundbestimmung des individuell
Seienden setzt.10
Conatus perseverandi
Jedes individuell Seiende strebt Spinoza zufolge danach, sein Sein zu erhalten;
dieses Streben nach Selbsterhaltung ist die Essenz oder Wesenheit eines jeden
endlichen Modus und wird von Spinoza als conatus perseverandi bezeichnet (siehe
E: 3p6 und 3p7). Zugleich ist Spinoza zufolge alles, was in der Natur vorkommt,
das heißt real ist, in seiner jeweiligen Erscheinung vollkommen (siehe E: 4praef).
Der conatus beschreibt dementsprechend das Streben nach Erhaltung dieser Voll-
kommenheit, also die Bewahrung der jeweiligen Form des Seienden gegenüber
äußeren Faktoren. Folglich versucht jeder Modus sich all dem entgegenzusetzen,
was ihm Leiden zufügt oder ihn von außen daran hindert, seine Wesenheit zu
erhalten. Wichtig ist, dass die externen Faktoren, wie etwa andere endliche Modi,
die Selbsterhaltung des Modus nicht nur bedrohen, sondern auch und zualler-
erst ermöglichen, da die Affektionsfähigkeit des endlichen Modus nur durch das
Zusammenspiel mit anderen Modi gewährleistet wird.
Das Konzept des conatus perseverandi impliziert die Möglichkeit und mithin
Notwendigkeit zur Veränderung der transindividuellen Relationen undBeziehun-
gen, in denen der Modus steht. Wird der Modus derart affiziert, dass es seinen
Selbsterhalt gefährdet, wird der conatus eine Veränderung, eine Modulation der
affektiven Relationen, in denen der Modus steht, erstreben. Als Strebensbewe-
gung ist der conatus daher mit einem Modulationsprinzip zur Aufrechterhaltung
des Affizierungsgeschehens verbunden. Die Modulationen betreffen die affekti-
ven Beziehungen und Relationen, in denen der endliche Modus seineWirkmacht
erhalten muss, um andere Körper affizieren und affiziert werden zu können. Die
Beschreibung des conatus als Streben danach, »in seinem Sein zu verharren«,
zielt also auf den Erhalt desModus im dynamischen Zusammenspiel mit anderen
Modi.11
10 | Möglichkeit und Spielraum der Affektionsfähigkeit endlicher Modi entsprechen der jewei-
ligen Organisations- und Komplexitätsstruktur von Körper und Geist, wobei die Organisation des
Körpers über die Struktur und Komplexität des Geistes entscheidet. Der menschliche Geist kon-
stituiert sich durch die Idee des Körpers, dem er zugehört und den er fühlt, beziehungsweise es
korreliert mit jedem ausgedehnten Körper eine Idee, die den Geist bedingt (siehe E: 2p13s).
11 | Auslegungen des conatus-Prinzips als dynamisches (Modulations-)Geschehen bieten des-
weiteren auch Balibar 1997; Kwek 2015; Mühlhoff 2018. Andere Positionen wie Cook 2006 plä-
dieren dagegen stärker für eine Lesart des conatus als Konservationsprinzip.
280 Marie Wuth
Eine Steigerung oder Minderung der Wirkmacht ist durch die vielfältigen af-
fektiven Relationen, in denen endliche Modi eingebettet sind, unumgänglich. Ob
die Affizierung des endlichen Modus durch einen anderen endlichen Modus zu
einer »positiven« oder »negativen« Veränderung seines Seins führt, das heißt zu
einer Steigerung oder Minderung der Wirkmacht, wird anhand seiner Affekte er-
sichtlich (siehe E: 3d3).
Spinoza bestimmt die Affekte nun vordergründig als »Leidenschaften des Ge-
müts« (E: 3affgend), insofern ein endlicher Modus unter seinen Affekten vorerst
primär leidet. Dieses Leiden ist scheinbar unausweichlich, da ein endlicher Mo-
dus als Ausdrucksform der einen Substanz ein ursprünglich aktives Wesen ist,
dessen Aktivität, genauer dessen potenzielle Wirkmacht, von äußeren Ursachen
jedoch eingeschränkt oder vermindert wird, was zu Leiden führt. Eine Vermin-
derung der Wirkmacht eines endlichen Modus lässt sich damit also als Passivität
verstehen, wogegen Aktivität auf eine Steigerung derWirkmacht verweist. Ebenso
kann anhand der Steigerung und Minderung der Wirkmacht zwischen passiven
und aktiven Affekten differenziert werden (siehe Saar 2013: 95). Welcher dieser
Formen ein Affekt zuzuordnen ist, ob der Modus also passiv oder aktiv ist, hängt
von der Einsicht des Individuums in die Wirkursache seiner Affekte ab, das heißt
davon, ob der Modus eine adäquate oder inadäquate Idee von der Ursache seiner
Affekte hat und somit selbstbestimmt handelt oder nicht.
Die Perspektive des endlichen Modus ist jedoch aufgrund seiner affektiven
Befangenheit, aus der eine spezifische Selbstbezüglichkeit resultiert, verzerrt, so-
dass er zunächst keine rationale – das heißt adäquate – Erkenntnis seiner Lei-
denschaften haben kann und ihnen zunächst unterworfen, also passiv ist (siehe
Saar 2013: 102). Die Möglichkeit der adäquaten Erkenntnis ist für Spinoza durch
die prinzipielle Intelligibilität aller Dinge gegeben, sodass für ihn grundsätzlich
aus Perspektive der Substanz (beziehungsweise Gottes) alles rational erklärbar
ist. Dieser grundsätzlichen Intelligibilität untersteht auch das individuelle Leben
des einzelnen Modus, dessen Gelingen an die Einsicht in die Kausalität der Welt
gebunden ist (siehe Bartuschat 2010: VIII). Jedoch ist die Perspektive des einzel-
nen endlichen Modus von einer perspektivischen Verzerrtheit geprägt, die eine
metaphysische Erkenntnisperspektive wie diejenige Gottes beziehungsweise der
Substanz verunmöglicht. Die adäquate Erkenntnis der Affektursachen, das heißt
die Einsicht in den Zusammenhang der inneren Zustände und äußeren Relatio-
nen des Modus, ist dem endlichen Modus daher nicht unmittelbar gegeben. Sie
ist jedoch Bedingung dafür, dass der Modus die Wirkungsverhältnisse, in denen
er steht, rational erklären und verändern kann (siehe E: 3d2 und 3p12). In diesem
Zuge ermöglicht die adäquate Erkenntnis demModus nicht zuletzt einen Ansatz
immanenter Kritik und einen höheren Grad an Freiheit durch selbstbestimmtes
Handeln – verstanden als Handeln, das den conatus realisiert.
Die Ethica argumentiert also nicht, dass sich etwa menschliche Individuen
von ihren Affekten zu befreien hätten, was aufgrund der affektiven Verfasstheit
endlicherModi und ihrer Verbundenheitmit anderenModi imGrunde auch nicht
Affektive Netze 281
möglich ist. Spinozas Gedankengang zufolge sollen Menschen danach streben,
einen klugen Umgang durch adäquate Erkenntnis zu erreichen und innerhalb
des Naturzusammenhangs das ihnen je eigene Potenzial zu realisieren, das heißt
aktiv zu werden. Vor demHintergrund der Ontologie und Affekttheorie Spinozas
impliziert dies einen klugen Umgang mit anderen endlichen Modi, mit denen
der Einzelne in affektiven Beziehungen steht (siehe E: 4p35d). Weiterhin kann
festgehalten werden, dass das Handeln durch Adäquatheit bestimmt wird:
»Ich sage, wir sind aktiv, wenn etwas in und oder außer uns geschieht, dessen adäquate
Ursache wir sind, […] wenn aus unserer Natur etwas in uns oder außer uns folgt, das durch
sie allein klar und deutlich eingesehen werden kann. Dagegen, sage ich, erleiden wir etwas,
wenn in uns etwas geschieht oder aus unserer Natur etwas folgt, wovon wir nur eine partiale
Ursache sind.« (E: 3d2)
Entscheidend ist aber, dass eine Idee nicht nur entweder adäquat oder inadäquat
und ein menschlicher Modus nicht vollkommen aktiv oder passiv ist, sondern
dass die Verläufe zwischen Adäquatheit und Inadäquatheit, ebenso wie die zwi-
schen Aktivität und Passivität, fließen. Auch geleitet von einer inadäquaten Idee
ist der endliche Modus noch handelnd, er ist jedoch nur partielle Ursache, dem-
entsprechend passiv und unter dieser Passivität und Inadäquatheit leidend.12 So-
lange Menschen in affektiven Relationen stehen und affektiv bestimmt sind, wer-
den sie mehr oder weniger von ihren Affekten betroffen sein und dementspre-
chend nie zu einer vollkommen adäquaten Einsicht gelangen. Es ist jedoch mög-
lich, über den Weg der verschiedenen Erkenntnisarten, der opinio/imaginatio, ra-
tio und scientia/cognitio intuitiva stufenweise zu einer adäquateren Erkenntnis-
form zu gelangen (siehe E: 2p40s), mehr und mehr Ursache seiner Handlungen
und damit einhergehend aktiver zu werden.13
Interessant ist nun weiterhin, dass der ausschlaggebende Faktor für die Aus-
gestaltung und das Gelingen von Handlung nicht unbedingt ist, ob der einzelne
Modus als Konsequenz seines Handelns ein Mehr oder Weniger an Wirkmacht
erzielt. Von größerer Bedeutung ist, durch welche Idee von sich, von anderen und
seinen Beziehungen zu anderen eine Handlung begleitet wird. Je adäquater die
Idee von der eigenen Natur, desto mehr wird der einzelne menschliche Modus
gewillt sein, sich mit anderen zusammenzuschließen, sie nicht als Feinde oder
Ursprung negativer Affekte zu sehen, sondern sie, wie auch sich selbst, als Teil
eines gemeinsamen Ganzen zu verstehen. Geleitet von seinen Affekten, auf der
12 | Bartuschat 2017 differenziert zwischen Handeln in allgemeinen Sinn, das auch mensch-
liches Leiden in inadäquater Erkenntnis einschließt insofern Handeln eine ontologische Grund-
bestimmung ist, und Handeln im strengen Sinne als Akt adäquater Erkenntnis. Siehe hierzu vor
allem Teil 2.
13 | Die komplexe Konzeption der drei Erkenntnisarten kann an dieser Stelle nicht dargelegt
werden. Einen Überblick bietet hierfür Ellsiepen 2006.
282 Marie Wuth
allgemeinen und ersten Erkenntnisstufe der imaginatio, meint der einzelne Mo-
dus von etwas ihm Äußeren gehemmt zu werden. Das bloßeMeinen ist zu unter-
scheiden vom Wissen, das der Modus auf der zweiten Erkenntnisstufe, der ratio,
erlangt, und das ihn die Gemeinsamkeiten zwischen sich und anderen sehen lässt
(siehe Bartuschat 2017: 17 ff.). Auf dieser zweiten sowie auf der dritten Erkenntnis-
stufe, derjenigen der intuitiven Erkenntnis, gelangt der endliche Modus zu einer
adäquaten und wahren Einsicht und ist in der Lage, seine eigene Natur und sich
als Teil des Gesamtzusammenhangs zu verstehen. Durch die Erkenntnis wandelt
sich das gesamte Verständnis des endlichenmenschlichenModus von sich selbst,
von anderen, vom Leben als solchem – eben dieser Perspektivwandel kann als
Spinozas ethisches Projekt verstanden werden (siehe Ellsiepen 2006: 133). Sofern
menschliche Individuen eine adäquate Erkenntnis haben, werden sie sich Spino-
za zufolge ihrer gegenseitigen Nützlichkeit bewusst und erkennen, dass sie im
Verband zu mehr fähig sind als allein und dass sie auch nur im Verband und mit
anderenMenschen dazu in der Lage sind, sich selbst zu erhalten und nach besten
Kräften zu entfalten (siehe E: 4p35s).
Vor diesemHintergrund kann das conatus-Prinzip, das zuvor als Streben nach
Selbsterhaltung undVerharren im eigenen Sein bestimmtwurde, leicht angepasst
werden. Denn wenn aus dem conatus erstens ein Modulationsgeschehen folgt,
das die Umwelt immer miteinbeziehen muss, und zweitens Individuation sowie
Realisierung des endlichen Modus transindividuelle Prozesse sind14, ist der co-
natus als Erhaltungsgesetz der individuellen Wirkmacht noch nicht ausreichend
beschrieben. Aus seiner Essenz folgt für den endlichen Modus und für die Erhal-
tung seines Selbst schließlich, wie Balibar hervorhebt, eine »doppelte Nezessität«:
»he must both constantly strive [conatus] to preserve his own being, and he must seek to
constitute, together with other individuals of the same nature as himself, a more powerful
individual so as to counterbalance those ›external causes [which are] contrary to their
nature‹« (Balibar 2008: 83 f.).
Gelesen als Ausgangspunkt eines transindividuellen Modulationsgeschehens er-
weist sich die conatus-Theorie als eine Theorie kollektiver Praxis. Daran schließt
sich jedoch die Frage an, auf welche Weise eine Modulation der Verhältnisse, in
denen der endliche Modus eingefasst ist, gelingen kann. Eine Antwort darauf ist
bereits der Zusammenschluss mit anderen endlichen Modi zu einem Kollektiv,
denn das bedeutet für den einzelnen Modus eine Modulation der Relationen.
Kräfte zu bündeln, zu vereinen und gemeinsam gegen Bedrohungen anzugehen,
vergrößert die Möglichkeit aller beteiligten Modi, fortzubestehen. Indem der ein-
zelne endlicheModus sich anderen anschließt und sichmit ihnen verbindet, wird
nicht nur er selbst durch die Gemeinschaft gestärkt, sondern er erleichtert auch
die Existenzbedingungen anderer endlicherModi. Zugleich kann der conatus auch
14 | Zu transindividueller Affizierung und Individuation siehe auch Andermann 2016b.
Affektive Netze 283
das Lösen aus Gruppen und Kollektiven oder soziale Umorientierung des endli-
chen Modus erfordern, insofern die affektiven Dynamiken und Relationen in ei-
ner Gruppe denModus leidend machen. Dennoch gilt, dass der Modus sich dann
in seinen affektiven Relationen umorientieren muss, sich etwa anderen Gruppen
anschließt oder in neue Konstellationen eintritt. Niemals kann der endliche Mo-
dus allein sein Selbst erhalten.
Eine andere Möglichkeit der Modulation stellen Handlungen dar. Handelnd
schreibt der Modus sich in das ihn umgebende Beziehungsgeflecht ein, kann es
beeinflussen und formen. Über ein Verständnis des conatus als Streben nach Er-
halt durch Modulation der transindividuellen, affektiven Relationen eröffnet sich
im conatus eine Dimension des Handelns. Spinoza bietet also über diese Lesart
des conatus-Prinzips einenHandlungsbegriff an, derHandeln als kollektive Praxis
fasst.
In dieser Interpretation des conatuswird insbesondere die Interdependenz der
endlichen Modi verdeutlicht und in Rückgriff auf Balibar die Bedeutung von kol-
lektiver Praxis und der Bildung kollektiver Körper für die Existenz des einzelnen
Modus aufgezeigt. Obgleich also die conatus-Theorie mit ihrer Bestimmung der
Essenz endlicher Modi als Selbsterhaltungstrieb zunächst eine individualistische
Fokussierung auf das Streben des einzelnen endlichen Modus zu geben scheint,
ist doch das Gegenteil der Fall. Es wäre dementsprechend akkurater, wenn man
von dem conatus als transindividuellem Erhaltungsprinzip spräche. Es kann mit
dem conatus eben nicht nur die Bewahrung eines beziehungsweise des jeweiligen
Modus gemeint sein, da dieses wesentlich von anderen erhalten wird, ebenso wie
seine Existenz Bedingung für die Erhaltung anderer Modi ist. Durch die Erkennt-
nis des Gesamtzusammenhangs, der gegenseitigen Bedingtheit und Relationali-
tät, sollte dem erkennendenModus bewusst werden, dass der Erhalt seines Selbst
an den Erhalt seines Umfeldes gebunden ist.
Da Spinoza eben nicht vor der Schablone eines starken, autonomen Sub-
jektbegriffs operiert, sondern in einer transindividuell verfassten Sphäre ansetzt,
eröffnet sich im Anschluss an seine Theorie eine Perspektive, in der politische
Akteure nicht fertige Entscheidungsträger_innen oder autonome, abgeschlosse-
ne Entitäten sind, sondern dynamische wandelbare Zusammenschlüsse. »Politik
und Staatlichkeit« werden, wie Martin Saar im Anschluss an Balibar hervorhebt,
»Schauplätze kollektiver Prozesse und Kämpfe, […] in der sich Handlungsformen
einspielen und Quasi-Akteure herausbilden, die nicht mehr den Eigengesetzlich-
keiten individuellen Handelns allein zuzurechnen sind« (Saar 2006: 186).
4 Affektive Netze und Politische Partizipation
Der für Spinozas Philosophie bedeutende Gedanke, dass der Einzelne immer
schon Teil eines Ganzen und verschiedener Gemeinschaften ist, ist sowohl für
ein auf dem conatus-Prinzip aufbauenden Handlungsbegriff als auch für die Fra-
284 Marie Wuth
ge nach politischer Partizipation von Bedeutung. Erst über diesen Gedanken wird
letztlich deutlich, weshalb der Begriff Partizipation noch zu unbestimmt ist und
genauer nach dem Charakter politischen Handelns gefragt werden sollte, wenn
mittels eines spinozistischen Begriffsapparats Spielarten politischer Teilhabe hin-
terfragt werden sollen.
Wenn aus Spinozas Perspektive auf die Ebene des Politischen geschaut wird,
ermöglicht dies, die Relationalität und Verbundenheit endlicher Modi, die Spino-
za auf ontologischer Ebene statuiert, im politischen Geschehen zu sehen.15 Wird
angenommen, dass politische Prozesse sich in affektiven Netzen entfalten, in die
Individuen immer schon eingebettet sind, dann sind Individuen auch Teil dieser
politischen Prozesse. Wenn man Spinozas Modell auf das Politische anwendet
und diese als affektives Netz begreift, dann muss man menschliche Individuen
als immer schon teilhabend an politischen Prozessen denken. Anders formuliert:
Es ist dann für keines dieser Individuen denkbar, sich dem Politischen zu ent-
ziehen, da sich niemand aus den affektiven Beziehungen innerhalb des Netzes
lösen kann. Damit sind menschliche Individuen auf ihre je spezifischeWeise Teil
politischer Prozesse, und diese spezifische Weise gilt es zu explizieren. Es geht
also nicht um die Frage, ob Menschen am Politischen partizipieren oder nicht.
Vielmehr gilt es, danach zu fragen, in welcher Weise sie aktiv oder passiv inner-
halb politischer Prozesse sind und in welchen Momenten sie selbst- oder fremd-
bestimmt handeln.
Wenn ein Konzept politischenHandelns die conatus-Theorie von Spinoza zum
Ausgang hat, sollte sich der relationale und immanenztheoretische Charakter die-
ser Philosophie in ihm widerspiegeln. Ausgehend von der Annahme, dass Hand-
lungen sich in affektiven Netzen entfalten, lässt sich festhalten, dass erst in diesen
Netzen affektiver Relationen und durch wechselseitige Bezugnahme eine Sphäre
eröffnet wird, in der Handeln möglich ist. Ausgehend von Spinozas Theorie kann
zudem einHandlungsbegriff entwickelt werden, der auch aufmachttheoretischer
Ebene von Relevanz ist. Machtbeziehungen und -positionen sowie affektive Rela-
tionen einzelner wie kollektiver Körper werden imHandeln austariert (siehe auch
Saar 2013: 133 ff.). Für die Betrachtung politischer Phänomene würde dies impli-
zieren, dass anhand von Handlungen im Bereich des Politischen beispielsweise
Unterdrückungs- und Ausschlussmechanismen analysiert werden könnten. Vor
demHintergrund des bisher Gesagten lässt sich festhalten, dass politisches Han-
deln von anderem Handeln darüber abgegrenzt wird, dass es Mit-Sein realisiert
und organisiert, Wirkmächte mindert und steigert, was zugleich impliziert, dass
politisches Handeln auf Pluralität und Transindividualität beruht.
Der Begriff des affektiven Netzes erlaubt in Bezug auf politische Handlungen
nicht nur eine metatheoretische Betrachtung, sondern ermöglicht auch, konkre-
15 | Kwek 2015 zeigt, wie aufschlussreich Spinozas Ontologie, insbesondere die ontologische
Machtkonzeption, nicht nur für die Auslegung seiner eigenen politischen Theorie ist, sondern
auch generell für die Bedeutung von Affekten im Bereich des Politischen.
Affektive Netze 285
te Handlungen, Handlungsspielräume und -motive bestimmter Akteure aufzu-
schlüsseln. Als Analysewerkzeug ermöglicht der Begriff in diesem Zusammen-
hang auch, transversale Beziehungen zwischen Praxis und Theorie einzuholen.
Zum einen sollten Begriff und Konzept auf konkrete Erfahrungen bezogen wer-
den können, um beispielsweise Aufschluss über situative Beziehungs- oder Pro-
zessdynamiken zu geben. Zugleich sollten praktische Erkenntnisse aus konkre-
ten Erfahrungen helfen, übergreifende (affektive) Strukturen und Beziehungs-
geflechte zu erkennen. Auf diese Weise ließe sich das theoretische Konzept des
Begriffs auch praktisch informieren. Über die Rekonstruktion der affektiven Net-
ze, in die Menschen eingebettet sind, können Erklärungen für Ursachen, Motive
oder auch Zwecke von Handlungen gewonnen werden. Eine solche Rekonstrukti-
on würde beispielsweise über die Beleuchtung der Beziehungen, des kulturellen
und biografischen Hintergrunds – der die affektive Disposition mitbestimmt, die
wiederum affektive Relationen formt – erfolgen.
Innerhalb affektiver Netze werden die Möglichkeiten und Potenziale austa-
riert, die der einzelne endlicheModus in Interaktionmit anderen hat. Dabeimuss
bedacht werden, dass die affektiven Relationen, die menschliche Individuen auf-
bauen, vom Standort, der Zeit und den Möglichkeiten eines Akteurs abhängig
sind. Eben diese Bedingungen haben sich mit der Entstehung sozialer Netzwer-
ke, digitaler Medien und anderer Begleitformen der Digitalisierung entscheidend
verändert. Wird die Gesamtheit neuer Nachrichten- und Messenger-Dienste, so-
zialer Netzwerke und dem Internet der Dinge als virtuelles Netz aus Beziehungen
undKräften verstanden, dann bieten sich Begriffewie affektiveNetze alsmögliche
Untersuchungswerkzeuge für diese vernetzten sozialen Formationen an. Durch
virtuelle Netzwerke und ihre Verschränkung mit der Lebenswelt werden die po-
tenzielle Reichweite, Temporalität und Dynamik affektiver Beziehungen transfor-
miert. Sie übersteigen den jeweiligen Standort, erschaffen, reproduzieren und
veranschaulichen die Verbindungen lokaler und globaler Prozesse.
Wenn neue digitale Räume und Netze die Dynamik und Topographie affekti-
ver Beziehungen transformieren, beeinflussen sie damit auch politische Prozesse
und Phänomene. Spinoza bietet ein theoretisches Gerüst, mit dem Kollektivität,
politische Partizipation und Handeln in verschiedenen affektiven Netzen, ob im
Virtuellen oder der faktischen Umwelt, betrachten werden können. Der heuris-
tische Effekt und die methodologische Perspektive einer spinozistischen Imma-
nenzphilosophie bieten einen Weg, die Veränderungen affektiver Beziehungen,
aber auch die Struktur von Affektionen und Affekten selbst in sozialvernetzten
Formationen zu explizieren.
5 Schlussbetrachtung
DerWandel der geographischen und ökonomischen Landschaftmöglicher affekti-
ver Relationen hat starke Auswirkungen auf dieMöglichkeiten, an politischen Ge-
286 Marie Wuth
schehen und Prozessen in der Welt zu partizipieren und handeln zu können. Das
Beispiel der MeToo-Bewegung zeigt, dass es möglich ist, Teil politischer Prozesse
und Bewegungen zu sein, die sowohl auf lokaler wie globaler Ebene stattfinden.
Nun gilt es auch zu sehen, dass Tarana Burke und ihre Mitarbeiter_innen be-
reits über eine Dekade, bevor MeToo zu einer globalen Bewegung wurde, mit
Überlebenden sexueller Gewalt unter eben diesem Schlagwort zusammengear-
beitet hatten. Damit zeigt sich nicht nur das Potenzial sozialer Medien, sondern
auch, dass diese globale Bewegung nicht aus dem Nichts entstanden ist und auf
jahrelanger Arbeit und lokalen Kämpfen aufbaut. Nicht nur im Süden der Verei-
nigten Staaten, woMeToo 2006 offiziell gegründet wurde, sondern in verschiede-
nen Gemeinschaften, Organisation, Frauen- und Antidiskriminierungsbewegun-
gen weltweit. Ohne die wegbereitenden Diskurse, ohne Errungenschaften im im-
mer noch anhaltenden Kampf um gleiche Bezahlung, sexuelle und reproduktive
Gesundheit, Wahlrecht etc., ohne die Aufdeckung älterer wie aktueller Skandale
hätte #MeToo 2017 wahrscheinlich nicht dieselbe Reichweite gehabt.
Obwohl #MeToo anfangs insbesondere Strukturen, Gemeinschaften und Er-
eignisse in den Vereinigten Staaten in den Blick genommen hat, ist sexuelle Ge-
walt und Diskriminierung ein weltweit verbreitetes Problem, was ähnliche und
begleitende Bewegungen in anderen Ländern zeigen. Soziale Medien helfen da-
bei nicht nur, Aufmerksamkeit auf ein tief verwurzeltes, strukturelles Problem
zu richten. Sie können, beispielsweise in Form digitaler Plattformen, Überleben-
den zeigen, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht allein sind, dass es sowohl in
ihrem Nahumfeld als auch auf anderen Kontinenten Menschen gibt, die diese
Erfahrungen teilen, die wie sie zum Schweigen gebracht wurden und denen ein
Narrativ aufgezwungen wurde, das ihre Erlebnisse, ihre Affekte und affektiven
Relationen in einer bestimmten Weise rahmt – und zwar in einer passivierenden
Weise. Dass eine Vielzahl der Überlebenden beispielsweise von Scham in Bezug
auf ihre Erfahrungen sexueller Gewalt berichtet, verweist darauf, wie schwer es
ist, in den Konfigurationen ihrer sozialen und politischenUmfelder eine adäquate
Idee von diesen gewaltvollen Erfahrungen zu erringen. Zu sehen, dass es andere
Narrative und Strategien sowieUnterstützung für denUmgangmit solchen Erleb-
nissen gibt, kann helfen, die eigenen Erfahrungen aus einer anderen Perspektive
zu betrachten. Dabei geht es auch darum, eine Erkenntnis über die Ursache von
Affekten wie Scham zu erlangen, um sich so aus einer passivierenden Position
zu befreien.
Was im Kontext vonMeToo als consciousness raising und empowerment bezeich-
net wird, kann als Umschlagmoment von Passivität zu Aktivität verstanden wer-
den, oder zu einem solchen Umschlag führen, indem die affektiven Relationen
verändert werden und Wirkmacht gesteigert wird. Die Berichte und Geschich-
ten, die über #MeToo geteilt werden, sind intim und persönlich. Obwohl jede Er-
fahrung von den jeweiligen, oftmals intersektionalen Unterdrückungsstrukturen
geprägt ist, handelt es sich andererseits offensichtlich nicht um Einzelfälle oder
lokal begrenzte Gewaltstrukturen – Sexismus ist ein globales Problem.
Affektive Netze 287
MeToo ist also auch eine Bewegung, der es darum geht, globale wie lokale
Machtstrukturen, die sexistische Diskriminierung und Gewalt ermöglichen und
befördern, umzugestalten. Andererseits steht dabei auch die Veränderung von
Machtverhältnissen im affektivenUmfeld der Überlebenden selbst auf dem Spiel.
Diese zwei Ebenen der Macht, die Strukturen der Gewalt und die affektiven Re-
lationen der Formung, sind nicht voneinander zu trennen, sie beeinflussen sich
immer gegenseitig. Mit MeToo verdeutlicht sich, dass die affektiven Beziehungen
im Nahumfeld auch von globalen Machtbeziehungen und Unterdrückungsstruk-
turen geprägt sind und umgekehrt. Für all jene Menschen, die derartige diskrimi-
nierenden Erlebnisse nicht erfahrenmussten, kann die Einsicht in diesen Zusam-
menhang ein Motiv sein, auf lokaler Ebene aktiv zu werden. Schließlich können
die Handlungen und Kämpfe auf lokaler Ebene, das zeigt sich an der Arbeit von
Tarana Burke, eine globale Bewegung und Debatte anstoßen. Nicht zuletzt wird
mitMeToo auch deutlich, dass der politische Charakter einerHandlung nicht vom
Amt desHandelnden oder der institutionellen Rahmung abhängt. Ob im privaten
Umfeld oder auf öffentlichen Plattformen: Eine Handlung ist politisch, wenn da-
durch Machtverhältnisse in affektiven Relationen beeinflusst oder neuorganisiert
werden. Insofern ist MeToo vor allem eine politische Bewegung.
MeToo ist aber auch eine transnationale Bewegung. Dass dabei globale und
lokale Handlungsebenen miteinander verbunden werden können, liegt auch an
der Nutzung digitaler Plattform und Medien, die affektive Dynamiken und Re-
lationen neu zusammenbringen. Denn in den sozialen Netzen teilen User nicht
nur Informationen, sie teilen auch die Geschichten ihrer Affektemiteinander und
stellen darüber affektive Relationen zueinander her. Dass Empathie, Solidarität,
Verbundenheit, verstanden als affektive Relationen, zwischen physisch meilen-
weit voneinander entfernten Individuen entstehen können, hängt aber auch mit
der doppelten Bedeutungsebene sexueller Gewalttaten zusammen: einerseits als
intimes, persönliches Erlebnis, andererseits als Ausdruck einer systematischen
Unterdrückungsstruktur. Schmerz, Wut, Scham anderer werden dadurch nach-
vollziehbar, Affekte teilbar, und ein gemeinschaftsstiftendes Moment möglich.
Wenn Überlebende die Geschichten ihrer Affekte über soziale Netzwerke teilen
und sich beispielsweise aufgrund einer gemeinsamen affektiven Disposition mit
anderen zusammenfinden, ein Kollektiv bilden, knüpfen sie untereinander neue
affektive Bänder, die ermächtigend sind. Das Band der Affekte und die Unter-
stützung, die aus gegenseitigem Teilen und Teilhabe erwachsen, verändern und
stärken die Wirkmacht des Individuums. Was beispielsweise an Widerstand oder
Verarbeitung von Erlebnissen durch lokale Strukturen verunmöglicht wird, kann
auf anderen sozialen Plattformen und in kollektiven Handlungen geleistet wer-
den. Die affektiven Beziehungen, die über soziale Medien, also im globalen Netz,
geknüpft werden, haben so Auswirkungen auf das Verhältnis der Wirkmächte im
Nahumfeld. Der Zusammenschluss mit anderen und das Wissen, nicht allein zu
sein, hat einen mobilisierenden und ermächtigenden Effekt, der zu einem ande-
288 Marie Wuth
ren Umgang mit den eigenen Erlebnissen und Affekten und einer Veränderung
der affektiven Relationen zum Umfeld verhilft.
Da ein Kollektiv gebündelter Kräfte mehr vermag als eine einzelne Person,
konnten viele der Überlebenden, die sich unter MeToo zusammengeschlossen
haben, eine Vielzahl positiver Veränderungen auf lokaler Ebene erreichen, darun-
ter sind nicht nur die öffentlichkeitswirksamen Abdankungen und Absetzungen
hochrangig gestellterMänner inWirtschaft und Politik zu zählen. Die Erfolge, das
heißt die Durchsetzung von Forderungen der Bewegungen um MeToo, differie-
ren auf lokaler Ebene aufgrund der jeweiligen politischen, sozialen wie religiösen
Kontexte stark voneinander. Dass Leistungen und Erfolge einzelner Gruppenmit-
einander geteilt werden, ist gleichzeitig immer auch potenzielle Motivation und
Inspiration für andere. Die Schlagkraft eines Hashtags beweist sich gerade dort,
wo auch lokale Errungenschaften als Erfolge der globalen Bewegung gezählt wer-
den können und wo die dadurch sich aufbauende internationale Aufmerksamkeit
Druck auf andere Stellen bewirken und Unterstützung vergrößern kann. Dass
durch die Verschränkung lokaler und globaler affektiver Netze die Handlungs-
möglichkeiten verändert werden, zeigt sich mitunter auch daran, dass Anklagen
vonÜberlebendenwiederaufgenommenwurden, die vor langer Zeit erhobenwur-
den, und dass es vielenÜberlebenden erst auf diesen Plattformenmöglich wurde,
ihre Erfahrungen zu teilen.
Durch die Verschränkung digitaler beziehungsweise technischer und unmit-
telbar lebensweltlicher Umgebung, das zeigt das Beispiel MeToo, werden nicht
nur die Möglichkeiten zu handeln, zu affizieren und affiziert zu werden, beein-
flusst, auch das Verständnis von politischen Körpern als Kollektive oder Bewe-
gungen wird verändert. Die affektiven Relationen, in die die Einzelnen eingebet-
tet sind, sind im Zuge der digitalen Entwicklung und der damit einhergehenden
Verschränkung virtueller und realer Räume längst nicht mehr auf den faktischen
lebensweltlichen Raum begrenzt. Eine Betrachtung der affektiven Beziehungen,
der Kollektivität und Sozialität innerhalb technisch vernetzter Formationen könn-
te eine Konkretisierung, aber auch eine Bewährungsprobe für Spinozas Affekt-
theorie sein.
Die Beschäftigung mit (politischem) Handeln und Partizipation in vernetzten
Formationen erfordert es, die Konstitution und Materialität affektiver Beziehun-
gen, die im Virtuellen geknüpft werden, genauer zu betrachten. Besondere Auf-
merksamkeit sollte dabei der Funktion und dem Einfluss neuer Formen und We-
ge von Kommunikation gelten. Dabei wäre weitergehend zu untersuchen, ob und
inwieweit Quantität und Qualität des Affizierungsgeschehens in virtuellen und
realen affektiven Netzen voneinander differieren. Speziell die Rolle von Körpern
und Körperlichkeit, die in Spinozas Affekttheorie grundlegend für die Möglich-
keit und Realisierung von Affizierung sind, wäre dabei in den Blick zu nehmen.
Denn obwohl Akteure, die sich in virtuellen Netzen begegnen, nicht in unmit-
telbaren physischen Kontakt stehen, gelingt es ihnen, affektive Beziehungen zu-
einander zu entwickeln, die das Spiel der Wirkmächte sowohl im virtuellen als
Affektive Netze 289
auch im faktisch-lebensweltlichen Bereich beeinflussen. Anknüpfend daran stellt
sich nicht zuletzt die Frage nach Synergien und Disruptionen, die sich aus der
Verschränkung virtueller und lebensweltlicher Netze ergeben.
Danksagung
Ich danke den Herausgeber_innen Anja Breljak, Rainer Mühlhoff und Jan Slaby
für ausführliche Kommentare und kritische Hinweise zu einer früheren Fassung
des Textes.
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Öffentlichkeit trotz alledem
Polemisches Erscheinen und Archivarbeit postdigitaler Proteste
Jan Beuerbach
»Öffentlichkeit ist nichts fest Umrissenes, sondern polemi-
schen Wesens: was einmal nicht öffentlich war, soll es wer-
den.« (Adorno 1990 [1964]: 533)
1 Öffentlichkeit trotz alledem …
Die Frage, ob das Internet als ein Raum politischer Öffentlichkeit gelten kann,
ja möglicherweise einen erneuten Strukturwandel der Öffentlichkeit eingeleitet
hat, wurde in den letzten 30 Jahren in Schüben und mit wechselnden Vorzeichen
immer wieder diskutiert. Das erste Aufkommen der Usenet-Gruppen und virtual
communities führte in den 90ern aufgrund der neuen Ausdrucks- und Verbin-
dungsmöglichkeiten zu einer euphorischen Bejahung dieser Frage (vgl. Rhein-
gold 1994). Habermas hingegen kritisierte die Zersplitterung der Diskursräume
und die Kakophonie der ungefilterten Kommunikationsakte, die nicht mehr in
Politik übersetzbar seien (Habermas 2008: 162). Die Rede von Facebook- und
Twitter-Revolutionen im Zuge des arabischen Frühlings beschwörte das politi-
sche und demokratische Potenzial der Social-Media-Plattformen, während heute
Schlagwörter wie ›Fake News‹ und ›Hate Speech‹ einen politischen Handlungs-
druck zu mehr Regulierung, Zensur und Kontrolle des Internets erzeugen. Die
Einsichten in die umfassende Überwachung von Online-Aktivitäten seit den Ver-
öffentlichungen Edward Snowdens sowie die zunehmende Kommerzialisierung
undZentralisierung von Internetdiensten stimmen dabei selbst Netzenthusiasten
pessimistisch (vgl. Lobo 12.01.2014).
Die Extreme von Begeisterung undResignation, vonAffirmation undÜberfor-
derung leiten sich zumindest teilweise aus dem Fehlschluss ab, digitalen Techno-
Mühlhoff, R.; Breljak, A.; Slaby, J. (Hg.): Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie
der Digitalen Gesellschaft. transcript 2019, S. 291–314. DOI: 10.14361/9783839444399-
013.
292 Jan Beuerbach
logien wäre diese oder jene gesellschaftliche Entwicklung notwendigerweise ein-
geschrieben (vgl. Thiel 2014: 220–222). Ein solcher Technikdeterminismus ver-
gisst, dass Technologien selbst in gesellschaftlichen Kontexten stehen und daher
stets einer Dual-Use-Problematik unterliegen. Darüber hinaus neigt eine solche
Perspektive in der Diskussion über digitale Medien dazu, das Internet als einen
eigengesetzlichen Raum zu betrachten, der vom ›realen‹ Geschehen losgelöst sei.
Im Folgenden soll stattdessen ein Begriff der politischen Öffentlichkeit skizziert
werden, der die neuen Qualitäten digitaler Kommunikationsmöglichkeiten be-
rücksichtigt, ohne in eine Teleologie oder Zwei-Welten-Lehre zu verfallen. Erst vor
diesem Hintergrund werden bestimmte Entwicklungen des Internets und Funk-
tionsweisen von Internetplattformen spezifisch problematisch, während es ande-
rerseits UmgangsweisenmitMedien gibt, die – trotz alledem – subversive, emanzi-
patorische und politische Potenziale entfalten, was an zeitgenössischen Protesten
wie der Occupy-Bewegung oder #BlackLivesMatter abzulesen ist. In diesem Sinne
wird der Beitrag unter Rückgriff auf Hannah Arendt, Jacques Rancière und Ju-
dith Butler politische Öffentlichkeit als polemisches Erscheinen entwerfen (Kap.
2). Ein so verstandener Protest birgt jedoch die Gefahr, der Aufmerksamkeits-
ökonomie digitaler Medien anheimzufallen, also entweder marktschreierisch zu
agieren oder überhört zu werden (Kap. 3). Als Gegenstrategie wird daher zuletzt
eine Archivarbeit des Protests angedeutet, bei der die aktuell verfügbaren Mittel
zur Herstellung von Erfahrung angeeignet werden, um eine affektive Spur der
Unterdrückungserfahrung im kollektiven Gedächtnis offenzuhalten (Kap. 4).
2 Von der deliberativen Öffentlichkeit
zum polemischen Erscheinen
Der Begriff der Öffentlichkeit ist in der politischen Theorie nicht bloß ein deskrip-
tiver, sondern birgt selbst in den gemäßigten Ansätzen normative Kriterien zur
Bewertung politischer Prozesse. Spätestens mit Kant, der das Öffentliche nicht
mehr der Repräsentation der Herrschaft oder dem Amtsgeschäft zuordnet, son-
dern es in den zivilen Diskurs um relevante Belange verlagert (Kant 1784), wird
dem Staatsapparat eine Größe gegenübergestellt, an der sich Legitimität und Ef-
fizienz politischer Systeme messen lassen müssen.1 Öffentliche Kommunikation
in verschiedenen Arenen undMedien (vonmassenmedialen Nachrichten zu Info-
blättern der Graswurzelbewegungen, von wissenschaftlichen Kongressen zur po-
litischen Kaffeehauskultur) bündelt sich zu einer öffentlichen Meinung, die mit-
tels institutioneller Verfahren in politische Forderungen und schlussendlich Ge-
setzgebungen übersetzt werden. Nach diesem deliberativenModell gelten für den
öffentlichen Diskurs Regeln der Rationalität, der Gleichheit sowie »der zwanglose
1 | Die Kriterien der Legitimität und Effizienz stützen sich auf Überlegungen Nancy Frasers, die
Habermas’ Ansatz klassifiziert und kritisch erweitert (Fraser 2007).
Öffentlichkeit trotz alledem 293
Zwang des besserenArguments und dasMotiv der kooperativenWahrheitssuche«
(Habermas 1995). Ein solches Konsensmodell des Diskurses, das gleichermaßen
eineWahrheitstheorie wie eine politische Theorie formuliert, wurde verschiedent-
lich herausgefordert: Die konsensuelle Idealkonzeption verpasst die Ausschlüsse
und ungleichen Machtbeziehungen, die in öffentlicher Kommunikation gegen-
über Minderheiten angelegt sind, sodass von einem gleichen und zwanglosen
Austausch nicht die Rede sein kann (Fraser 2007: 9–15). Nun könnte man einer-
seits versuchen, die deliberativen Kriterien als Bewertungsmaßstäbe anzusehen,
woraus sich klarerweise Imperative der Ausweitung des Diskursraums ergeben
würden. Agonistische Theorien der Öffentlichkeit hingegen setzen strukturell tie-
fer an, indem sie nicht den Konsens, sondern den Streit als das Hauptmerkmal
des Politischen auszeichnen.2
ImagonistischenModell kann einKonsens zwar einwichtigesZwischenergeb-
nis sein, dieQualität des Politischen bemisst sich aber daran, dass es stets auch un-
vereinbare Gegenpositionen gibt:Die öffentliche Meinung, die hegemonial ist, ist
dies notwendigerweise auf Kosten anderer Positionen. Streitbar sind nach diesem
Modell nicht nur die Inhalte, sondern auch die Strukturen der Repräsentation der
jeweiligen Positionen. Die Frage danach, wie insbesondere subalterne Positionen
im je aktuellen Diskurs berücksichtigt werden, wird zum integralen Bestandteil
der öffentlichen Auseinandersetzung und gemahnt nicht bloß einer diskursiven
Dysfunktion. Für den agonistischenAnsatz stellt dieMultiplizierung vonDiskurs-
räumen durch das Internet daher kein strukturelles Problem für die Konsensfin-
dung dar. Vielmehr erlauben Internetforen, Blogs und Social-Media-Plattformen
dieHerausbildung größerer Gegenöffentlichkeiten, die sich unabhängig von klas-
sischenMassenmedienmit redaktionellen Gatekeeper-Funktionen und sogar jen-
seits territorialer Grenzziehungen herausbilden können.3
Wenngleich das agonistische Öffentlichkeitsmodell das deliberative um zen-
trale Punkte erweitert und gleichermaßen besser die politische Realität abzubil-
den versteht, geht es über die funktionalistische These, wonach es Gegenöffent-
lichkeiten in einer Demokratie braucht, nicht hinaus. Es ließe sich daher fragen,
was eine solcheHegemonie-Theorie von einem liberalistischenWettstreit der Ide-
en qualitativ unterscheidet. Demgegenüber lassen sich möglicherweise weitere
Einsichten gewinnen, wenn das Politische von der Versammlung im Protest her
konzipiert wird. Der Blick soll sich im Folgenden daher weniger auf die jeweilige
Artikulation von Interessen richten, sondern auf den Modus und die Bedingung
des Erscheinens als Konstituens vonÖffentlichkeit. In dieser Betrachtung werden
auch digitaleMedien nicht bloß als kompartimentierte Artikulationsorte, sondern
2 | Stichwortgeber für diese Ansätze sind die Arbeiten von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau,
die sich wiederum auf die Hegemonietheorie Antonio Gramscis stützen.
3 | Dabei macht Dahlberg darauf aufmerksam, dass nicht nur emanzipative Positionen eine
Gegenöffentlichkeit bilden können (Dahlberg 2007: 134).
294 Jan Beuerbach
– weniger funktionalistisch – als irreduzible Dimension unserer politischenWirk-
lichkeit verhandelt.
Der Erscheinungsraum des Politischen (Arendt)
Vor demHintergrund einer Konzeption deliberativer Öffentlichkeit stellt der Pro-
test die Ausnahme dar, aus der sich negativ ableiten lässt, dass das Aufbegehren
aus einer mangelnden Vermittlung zwischen Zivilgesellschaft und Staat resul-
tiert: Bürokratie, Lobbyismus, einseitige Maßnahmen, mediale Hegemonie, Kli-
entelpolitik, Korruption oder Ignoranz können auch demokratische Staaten an
Bedürfnissen vorbeiregieren lassen, autoritäre Systeme betreiben darüber hin-
aus die systematischeUnterdrückung der öffentlichenAuseinandersetzung.Nach
dieser Betrachtungsweise entladen sich im Protest aufgestaute Enttäuschungen;
entlang bestimmter Forderungen entwickeln sich Unruhen, Aufstände und Ak-
tionen des zivilen oder gewaltsamen Ungehorsams, um der Empörung über die
Verhältnisse Raum zu geben, deren Mitgestaltung auf dem üblichen Verfahrens-
weg nicht möglich war. Wenngleich es (auch für das Folgende) wichtig ist, das
disruptive Moment am Protest zu betonen, gilt es doch gegenüber einer rationa-
listischen Auffassung zunächst daran zu erinnern, dass im Protest als ziviler Ver-
sammlung auch ein konstruktives Moment liegt, das sich zunächst mit Arendts
Begriff des Politischen als gemeinsames Handeln einfangen lässt.
Arendt bestimmt die Sphäre des Öffentlichen in zweierlei Hinsicht. Zum
einen wird als öffentlich dasjenige bezeichnet, »was vor der Allgemeinheit er-
scheint, für jedermann sichtbar und hörbar ist« und dem daher »Wirklichkeit
zukommt« (Arendt 2015 [1958]: 62). Es steht damit privaten Tätigkeiten, die im
Verborgenen ablaufen, entgegen.Handeln und Sprechen – also die beidenWeisen
des öffentlichen Erscheinens – gelingen nach Arendt strukturell nur im Modus
der Mitteilung: Sie werden mit Anderen geteilt und fallen daher der Auslegung
durch andere anheim. Das In-Erscheinung-Treten vor Anderen setzt also die Viel-
heit der Anderen notwendigerweise voraus. Die Anderen sind bei Arendt jedoch
nicht als homogene Masse gedacht, sondern konstitutiv plural. Vom Prinzip der
»Gebürtlichkeit« (ebd.: 217) leitet Arendt ab, dass jede_r Einzelne aufgrund der
jeweiligen Perspektiviertheit und Situiertheit prinzipiell einen Neuanfang bedeu-
tet. Realisiert wird diese Einzigartigkeit in den Tätigkeiten des Handelns und
Sprechens, also im Erscheinen vor den (jeweils einzigartigen) Anderen.4 Öffent-
lichkeit als Erscheinungsraum ist damit nicht bloß ein funktioneller Bestandteil
demokratischer Staaten, sondern erhält hier die weitaus fundamentalere Rolle der
Realisierung der jeweiligen Singularität vor Anderen, wobei »die Erschaffung des
Menschen als eines Jemands mit der Erschaffung der Freiheit zusammenfällt«
4 | Diese Konzeption des pluralen Wir, das konstitutiv für die Einzelnen ist, wird Nancy später
als »singulär plural sein« wieder aufgreifen. Auch hier kommt dem Ausgesetztsein gegenüber
Anderen, der Mit-Teilung, eine zentrale Rolle zu (Nancy 2004 [1996]).
Öffentlichkeit trotz alledem 295
(ebd.: 216). Aus dieser Anlage erklärt sich der emphatische Begriff des Politischen
bei Arendt, der einzig in der Sphäre der Öffentlichkeit als Raum gemeinsamen
Handelns und Sprechens seinen Platz hat.
Die zweite Bedeutungsdimension des Öffentlichen verweist auf die geteilte
und gemeinsam bewohnte Welt, was die hergestellte Umgebung (von Institutio-
nen, Räumen, Ordnungen) und die für alle relevanten Belange umfasst. Die Welt
der gemeinsamenDinge und Angelegenheiten, also die sozial ausgestalteten, his-
torisch gewachsenen materiellen wie diskursiven Voraussetzungen jeder Situati-
on, wird von Arendt als ein »Zwischen« (ebd.: 66) konzipiert, das gleichermaßen
trennt und verbindet. Nur in Bezug auf dieses Zwischen, das den gemeinsamen
Horizont darstellt, ist eine politische Auseinandersetzung möglich. Oder stärker
noch: Nur in der gemeinsamen Auseinandersetzung wird die Basis der Ausein-
andersetzung als eine hergestellte – und damit als prinzipiell veränderbare – zum
Thema. Die öffentliche Thematisierung verläuft wiederum multiperspektivisch.
Die Welt wird geteilt und ist zugleich umstritten. So lässt sich zumindest negativ
aus Arendts Kritik an der »Massengesellschaft« schließen, in welcher »die Welt
die Kraft verloren hat, zu versammeln, das heißt zu trennen und zu verbinden«
(ebd.: 66). Weil aus Arendts Sicht die moderne Gesellschaft die Sphäre der Öf-
fentlichkeit nicht im emphatisch politischen Sinne als gemeinsames Handeln
und Sprechen entwirft, sondern Politik als haushälterische Verwaltung privater
Interessen fungiert, wird den Menschen zugleich die Möglichkeit der Realisie-
rung ihrer singulären Eigenständigkeit und die Grundlage für die gemeinsame
Gestaltung der Welt entzogen. Die auf diese Weise etablierten Strukturen treten
den auf Privatinteressen reduzierten (und damit homogenisierten) Individuen als
fremde gegenüber – die Bedingung von politischer Freiheit nach Arendt ist aus
ihrer Sicht in modernen Gesellschaften nicht erfüllt.
Einerseits besticht Arendts Ansatz durch eine emphatische Betonung der
Öffentlichkeit als einer politischen Sphäre, die nicht einfach institutionalisiert
ist, sondern entsteht, »wo immer Menschen handelnd und sprechend miteinan-
der umgehen« (ebd.: 251), also in der aktiven Versammlung zum gemeinsamen
Austausch. Eine bloße Ansammlung von Menschen realisiert noch keine politi-
scheMacht. Und ein einstmals erzeugter politischer Erscheinungsraum hat nicht
zwangsläufig auf Dauer bestand, »sondern verschwindet […], wenn die Tätigkei-
ten, in denen er entstand, verschwunden oder zum Stillstand gekommen sind«
(ebd.: 251). Die politische Öffentlichkeit als Erscheinungsraum wird von Arendt
also prozessual und performativ gedacht, was die systematische Verbindung einer
Struktur (oder eines Kollektivphänomens) mit der jeweiligen Exponiertheit der
Einzelnen erlaubt.
Andererseits jedoch basiert Arendts Konzeption auf einer strikten Trennung
von Privatheit undÖffentlichkeit, woraus ein blinder Fleck in derMachttheorie re-
sultiert. So zeigt Juliane Rebentisch, dass mit der Arendt’schen Verbannung aller
Interessen in das Private die Sphäre der Öffentlichkeit so modelliert wird, »dass
Sprechen und Handeln zu selbstzweckhaften Vollzügen, zu ›reinen Aktualitäten‹
296 Jan Beuerbach
werden, die allein die Einzigartigkeit der Einzelnen enthüllen« (Rebentisch 2012:
366).5 Die phänomenologische Einsicht in die prinzipielle Exponiertheit der Ein-
zelnen gegenüber den Vielen wird so zu einer problematischen politischen The-
se, in der die Gleichheit der Einzelnen, die interesselos um ihre Vortrefflichkeit
streiten, die materiellen Unterschiede in Bezug auf politische Teilhabe verdeckt.
Schon die Festlegung der Scheidung des Privaten vomÖffentlichen ist eine politi-
sche Entscheidung und setzt Zugangsbedingungen, die in Arendts Modell selbst
nicht mehr thematisiert werden können. In der Ausklammerung der Interessen
wird die Arendt’sche Theorie der Versammlung zum gegenseitigen Austausch
»individualisiert und damit in gewisser Weise depolitisiert« (ebd.: 372).
Der polemische Bruch und der Anteil der Anteillosen (Rancière)
Zwischen Vita activa und Rancières Das Unvernehmen liegen fast 40 Jahre, in de-
nen sich die Theoretisierung sozialer und politischer Verhältnisse insbesondere
in Frankreich intensiviert hat: Die Debatten des linguistic turn erhöhten die Sen-
sibilität für symbolische Strukturen und Ordnungen, während die Macht- und
Souveränitätstheorien durch die Arbeiten Althussers und Foucaults zur Subjekti-
vierung auf eine neue Grundlage gestellt wurden. Vor diesem Hintergrund kann
Rancière an Arendts politischer Theorie des Erscheinens anknüpfen und sie zu-
gleich machttheoretisch erweitern.
Die zentrale begriffliche Verschiebung, die Rancière unternimmt, entwirft die
etablierte politische Ordnung (inklusive aller institutionalisierten Verfahren, der
statistischen Erfassung politischer Interessen, der Repräsentation von Gruppen
und der Strukturierung der Räume) als ein spezifisches Regime der Sichtbarkeit.
Er stellt dieses als Polizei – im Sinne der ›allgemeinen Ordnung‹ nach einer Be-
griffsbestimmung des 17. und 18. Jahrhunderts – der Politik gegenüber, die als das
Aussetzen der allgemeinen Ordnung des Sichtbaren verstanden wird. Mit diesem
Konzept von Polizei trägt Rancière dem Umstand Rechnung, dass das Sichtbare
(oder der Erscheinungsraum) vorstrukturiert und hierarchisiert ist: Es gibt vor
jedem Handeln und Sprechen Reglements, die Machbares und Sagbares ebenso
wie Anerkennbares und Hörbares festlegen – also »eine Ordnung der Körper […],
die dafür zuständig ist, dass diese Körper durch ihre Namen diesem Platz und
jener Aufgabe zugewiesen sind; […] dass dieses Wort als Rede verstanden wird,
und jenes andere als Lärm« (Rancière 2002 [1995]: 41).
In diese polizeiliche Ordnung fällt auch die Unterscheidung, welche Ange-
legenheiten öffentlich und welche Privatsache sind, also die wesentliche Unter-
scheidung dessen, was als politisch verhandelbar gilt.6 Mit wenigen Strichen
5 | Die Ausführungen im folgenden Abschnitt verdanken große Teile den Einsichten Rebentischs.
6 | So sind Arbeitsbedingungen in der kapitalistischen Marktwirtschaft eine Frage der privaten
Aushandlung mit dem Arbeitgeber, denn schließlich steht es den Lohnarbeiter_innen offen, den
Job zu wechseln, vgl. Rancières Beispiel (ebd.: 41).
Öffentlichkeit trotz alledem 297
zeichnet sich hier die Weiterentwicklung des Arendt’schen Modells ab, wonach
die Unterscheidung öffentlich/privat als ein spezifisches diskursives Resultat
und der öffentliche Erscheinungsraum selbst als von Machtbeziehungen durch-
zogen konzipiert sind. Auch bei Rancière ist das Erscheinen eine fundamentale
Kategorie des Politischen; sie wird jedoch machttheoretisch reflektiert.
Der Gefahr, mit einer solchen Konzeption in die Banalität einer Aussage wie
›Alles ist politisch!‹ zu rutschen und damit eine unproduktive Verwischung von
Öffentlichem und Privatem, Politischem und Apolitischem zu bewirken, entgeht
Rancière (ebd.: 43 f.). Zwar ist alles potenziell politisch, die etablierte Ordnung
des Sichtbaren verhindert jedoch die tatsächliche Politisierung vieler Belange. Das
Politische (oder Demokratie) wird von Rancière daher dezidiert als eine Gegenbe-
wegung entworfen, als konkrete Aussetzung und Unterbrechung der Ordnung,
als ein polemisches Erscheinen, das »genau die Opposition zweier Logiken, der
polizeilichen Logik der Verteilung der Plätze und der politischen Logik gleich-
heitlichen Zugs, ins Spiel« (ebd.: 110) bringt. Erst in der konkreten Gegenwehr,
die von innerhalb einer etablierten Ordnung subjektivierten Subjekten gegen die-
se Subjektivierung geleistet wird, indem die Kategorien der polizeilichen Vertei-
lung um des »Anteils der Anteillosen« (ebd.: 109) willen herausgefordert werden,
ereignet sich das Politische. Die Gleichheit, die bei Arendt in Bezug auf den Er-
scheinungsraum problematischerweise vorausgesetzt ist, wird in Rancières Mo-
dell Gegenstand der polemischen Forderung in einemungleich stratifizierten und
hierarchisierten Regime der Sichtbarkeit.7 Gelingt es Protesten, diese Störungen
gegen die bestehende Ordnung hervorzubringen und Gleichheit einzufordern,
kann man mit Rancière von einem politischen Protest oder einer politischen Ver-
sammlung als polemisches Erscheinen sprechen:Öffentlichkeit trotz alledem – also
eine spezifische politische Öffentlichkeit in Absetzung vom Sichtbarkeitsregime
seiner Entstehung, eine Öffentlichkeit aller polizeilichen Verwaltung des Sichtba-
ren zum Trotz.
Verletzbarkeit und die Performativität von Versammlungen (Butler)
Mit Arendt konnte ein Verständnis davon entwickelt werden, dass politisches
Handeln das Handeln vor und mit Vielen bedeutet; dass die Multiperspektivi-
7 | Der feministische Kampf um das Recht auf Abtreibung oder die Berücksichtigung von Care-
Arbeit formuliert also gerade eine politische Forderung nach Gleichheit, die auf dem Feld des –
polizeilich so etablierten (und auch von Arendt dem Bereich des Notwendigen zugeschriebenen)
– Privaten agiert, beziehungsweise dieses als politisches zuallererst konstituiert. So ist auch
Rebentischs abschließende Bemerkung zu verstehen: »Demgegenüber gilt es, heute vielleicht
mehr denn je, ein politisches Erscheinen zu verteidigen, das weder mit dem Reich der Freiheit
zusammenfällt noch aber das Reich der Notwendigkeit mit ihm verwechselt, sondern bei dem es
um die Bedingungen geht, unter denen vom einen ins andere gewechselt werden kann« (Reben-
tisch 2012: 372 f.).
298 Jan Beuerbach
tät konstitutiv für die politische Öffentlichkeit ist; und dass Multiperspektivität
nicht funktionalistisch institutionalisiert werden kann, sondern aufgrund der
aktiven Praxis der Auseinandersetzung im Austausch besteht. Rancière erlaubt
es, den politischen Erscheinungsraum aus gegebenenMachtbeziehungen heraus
zu entwickeln, sodass seine materiellen Zugangsbedingungen selbst Gegenstand
des politischen Streits werden. Rancières Konzeption des Politischen als pole-
misches Erscheinen verbleibt jedoch an dieser Stelle gewissermaßen in einer
(hochkomplexen) Strukturbeschreibung und erfordert eine theoretische Rück-
bindung an konkrete Praktiken konkreter Körper an konkreten Orten – ohne
dabei jedoch in eine naive Subjekttheorie zurückzufallen. Judith Butler, die hin-
sichtlich der Subjektivierungstheorien einen ähnlichen Theoriehintergrund wie
Rancière aufweist, entwirft in ihren Anmerkungen zu einer performativen Theorie
der Versammlung und unter Rückgriff auf Arendt eine solche Perspektive.
Auch Butler macht den politischen Erscheinungsraum als das Zwischen, das
in der gemeinsamen Praxis entsteht, stark und entwickelt das Konzept an zeit-
genössischen Protestphänomenen weiter. An Arendt wird jedoch die strikte be-
griffliche Aufteilung von Öffentlichkeit und Privatheit kritisiert, da sie den Körper
und dessen Vulnerabilität in das Reich des Notwendigen verbannt und damit aus
dem Politischen ausschließt. Weil aber gerade die Vulnerabilität (oder Prekarität)
von Körpern keine natürliche Tatsache ist, sondern eine soziale, deren Bedingun-
gen in Gesellschaften (und Regionen) ungleich verteilt sind, werden Fragen der
Versorgung, der körperlichen Unversehrtheit und des lebbaren Lebens politisch
relevant (Butler 2015: 67). Das Erscheinen ist für viele Gruppen nicht bloß Be-
dingung der Freiheit – es geschieht häufig als ein gefährliches Ausgesetztsein
auf Basis ungleicher Verteilung von Verletzbarkeit: Trans*-Personen, die sich mit
ihrem Auftreten in der Öffentlichkeit oftmals Repressionen oder gar Gewalt aus-
gesetzt sehen; Personen mit Migrationshintergrund, die in den Fokus von Racial
Profiling geraten oder im öffentlichen Raum von vermeintlich Einheimischen für
ihre vermeintliche Fremdheit angegangen werden; Frauen, die in vielen Situa-
tionen immer noch mit sexueller Bedrängung und Nötigung rechnen müssen.
Dies sind keine Einzelschicksale, sondern Konsequenzen einer Ungleichvertei-
lung undHierarchisierung von Prekarität, die sich in der Konstitution sozialer Po-
sitionen, in Subjektivierungen und in Anerkennungsverhältnissen niederschlägt
(ebd.: 38). Vor diesem Hintergrund kann schon das bloße Erscheinen eines Kör-
pers in einer gesellschaftlich ungewohnten Weise ein disruptives und politisches
Erscheinen sein, das die bisherigen Praktiken in Frage stellt – auch und gerade
dann, wenn dies bedeutet, sich auszusetzen (Dora Richter, die als Trans*-Person
mehrfach wegen Travestie in der Öffentlichkeit eingesperrt wird, bis ihr Arzt,
der für seine Forschung öffentlich angegriffene Sexualwissenschaftler Magnus
Hirschfeld, für sie eine polizeiliche Erlaubnis, Frauenkleider zu tragen, erstreitet
und ihre Geschlechtsangleichung vollzieht; die schwarze Bürgerrechtlerin Rosa
Parks, die sich im für Weiße reservierten Abschnitt des Busses niederlässt; Kath-
Öffentlichkeit trotz alledem 299
rine Switzer, die als erste Frau bei einemMarathonmitläuft und von Renndirektor
Jock Semple, der ihr die Startnummer entreißen will, verfolgt wird).
Mit diesen basalen Überlegungen zum Verhältnis von Politik, Erscheinung
undKörper lässt sich das PhänomenProtest neu bestimmen.Das In-Erscheinung-
Treten imProtest ist ein öffentliches Sich-Aussetzen gegenüber den Repressionen
der Ordnung und zugleich eine Kritik der ungleichen Verteilung von Vulnerabi-
lität innerhalb der Ordnung, die – wie bei Rancière – in diesem polemischen Akt
verschoben wird:
»This kind of plural performativity does not simply seek to establish the place of those
previously discounted and actively precarious within an existing sphere of appearance.
Rather, it seeks to produce a rift within the sphere of appearance, exposing the contradiction
by which its claim to universality is posited and nullified« (ebd.: 50).
Proteste verfolgen zwar jeweils konkrete Interessen – in ihrer Qualität als öffentli-
ches In-Erscheinung-Treten wird jedoch zugleich eine Forderung nach Gleichheit
laut, »making a set of claims about the right to be recognized and to be accorded
a livable life, but […] also […] laying claim to the public sphere« (ebd.: 51).8 Lokale
Kontexte verhandeln diese grundsätzlichen Fragen jeweils spezifisch: Occupy Ge-
zi/Taksim entwickelte sich von einem Streit über die Gentrifizierung Istanbuls zu
einem generellen Protest gegen zunehmenden Autoritarismus in der Türkei; das
globalisierungskritische Bündnis Blockupy Frankfurt nahm die unsoziale Austeri-
tätspolitik, die in der EU als alternativlose Eindämmung der sogenannten Euro-
Krise betrieben wurde, zumAnlass der Besetzung öffentlicher Plätze; die Proteste
in Ägypten, die sich im Zeltlager auf dem Tahrir-Platz verdichteten, richteten sich
gegen Staatschef Mubarak, dasHong Kong Umbrella Movement gegen Chinas Ein-
fluss auf die autonome Region und der Rothschild-Boulevard in Tel Aviv wurde
wegen zu hoher Lebenshaltungskosten, mangelndem Wohnraum und sozialer
Ungleichheit zur Zeltstadt umfunktioniert.
All diesen Bewegungen ist bei lokaler Spezifik gemein, dass sie ihre Forderun-
gen im gemeinsamenHandeln in die Öffentlichkeit tragen und damit den formal
öffentlichen Raum der Straßen und Plätze zum politischen Erscheinungsraum
transformieren (Butler 2015: 71). Dies geschieht in einerWeise, die dieUnterschei-
dung vonÖffentlichem und Privatem unterläuft. Plötzlich wird auf offener Straße
geschlafen, gekocht, diskutiert und gelehrt – gerade weil die private Versorgung
mit Notwendigem (im Sinne Arendts) nicht funktioniert. Aus alltäglichen Durch-
gangsräumen werden belebte Räume des Austausches, der geteilten Erfahrung
und der gemeinsamen Tätigkeit, losgelöst von der kodifizierten Ordnung des vor-
maligen Regimes der Sichtbarkeit. Für Butler ist die Performativität dieser Protes-
8 | Dabei ist der Körper eine irreduzible Bedingung: »If you appear as a body on the street, you
help to make the claim that emerges from that plural set of bodies, amassing and persisting
there« (ebd.: 58).
300 Jan Beuerbach
te »not only speech, but the demands of bodily action, gesture, movement, con-
gregation, persistence, and exposure to possible violence« (ebd.: 75). Dennmit der
Gefahr, dass das Protestcamp jederzeit geräumt werden kann (und darüber hin-
aus auch innerhalb von Zeltlagern Gewalt entstehen kann), wird selbst der triviale
Akt des Schlafens ein politischer. In gewisser Weise findet sich hier das realisiert,
was Arendt auch für die Öffentlichkeit der Polis formuliert: »Den schützenden
Bereich von Hof und Haus zu verlassen […] erforderte Mut […] und nur dieje-
nigen, die ihn besaßen, konnten in eine Gemeinschaft aufgenommen werden,
deren Zweck und Inhalt politisch waren […]« (Arendt 2015 [1958]: 46). Mit Butler
jedoch lässt sich sagen, dass dieserMut, sich der Öffentlichkeit auszusetzen, nicht
auf Basis der Befriedigung aller Notwendigkeiten im Privaten geschieht, sondern
gerade umgekehrt als Resultat und Mobilisierung ungleich verteilter Prekarität.
Statt-finden: Verräumlichung postdigitaler Proteste
DieRückführung auf die körperlicheDimension vonProtest ermöglicht nicht nur,
den Einsatz des Aussetzens besser zu bestimmen, sondern das Angewiesensein
der Körper auf andere Körper und auf Infrastruktur als ihre notwendige Bedin-
gung zu berücksichtigen. Vulnerabilität heißt für Butler immer auch: konstitutive
Abhängigkeit eines Körpers von anderen Körpern und Dingen – kein Körper ist
autark und selbstgenügsam. Ganz grundsätzlich ermöglicht dieses Theorem in-
nerhalb einer postsouveränen Subjekttheorie und einer politischen Theorie des
Erscheinens eine Thematisierung materieller Grundlagen. Das ist besonders für
das Nachdenken über die Bedeutung digitaler Medien für den Protest (und das
Politische des Digitalen) hilfreich.
Es zeigte sich, dass der politische Erscheinungsraum ein Raum ist, der durch
die jeweiligen Praktiken des Protests zu einem solchen gemacht wird. Er ist gewis-
sermaßen von den architektonischen, symbolischen und rechtlichen Gegeben-
heiten abhängig, doch werden diese Gegebenheiten im Protest angeeignet und
umgewidmet.9 Diese lokalen Bedingungen des Erscheinens verschränkt Butler
mit den medialen. Medien berichten nicht bloß über Proteste, sondern sind in-
tegraler Teil des Aktionsgeflechts einer Protestsituation, deren Sichtbarkeit sie
mitbestimmen. »Put differently, the media constitutes the scene in a time and
place that includes and exceeds its local instantiation« (Butler 2015: 91). Das Lo-
kale des Protests konstituiert sich demnach innerhalb der medial vermittelten
globalen Nachrichtenströme als Lokales (in Differenz zu anderen Orten). Durch
Berichterstattungen in Zeitungen, Live-Übertragungen im Fernsehen, aber auch
und immer häufiger durch Aufnahmen von Smartphones, die gepostet werden,
9 | Der bis hierhin skizzierten Politik des polemischen Erscheinens liegt also ein Raumbegriff
zugrunde, der seit dem spatial turn und den Schriften Henri Lefebvres in den Kultur- und Sozi-
alwissenschaften wichtig geworden ist und die soziale Produktion von Raum ins Zentrum stellt
(vgl. Lefebvre 2000 sowie Bachmann-Medick 2010: 284–328).
Öffentlichkeit trotz alledem 301
durch Tweets, YouTube-Videos und Facebook- oder Instagram-Einträge erweitert
sich die Reichweite des Erscheinens und damit zugleich die Kontaktfläche des
Ausgesetztseins. Die (scheinbar) banale Aussage, dass ein Protest nicht stattfin-
det, der nicht gehört oder gesehenwird, erhält innerhalb einer politischen Theorie
polemischen Erscheinens eine konstitutive Bedeutung. Betont wird die Rolle der
Infrastruktur des Erscheinens, also der materiellen wie medialen Voraussetzun-
gen des Protests.
Was sagt uns das über das Internet und die neuenQualitäten digitalerMedien?
Zunächst einmal können zwei naive Vorstellungen des Internets zurückgewiesen
werden, die immer noch gerne bemüht werden.
1) Das Internet ist keine Struktur, die gänzlich enträumlicht oder deterri-
torialisiert wäre. Auch wenn die Prinzipien der Dezentralität und Redundanz
Grundbausteine der aktuellen Internetarchitektur sind und Datenströme natio-
nale Grenzen überschreiten, sind Server und Services, Firmenzentralen und
Endgeräte jeweils an konkrete Orte rückgebunden, die innerhalb bestimmter
Rechtsräume liegen. Das wird umso deutlicher, wenn Staaten wie China, Iran
oder Türkei die temporäre oder vollständige Abschottung des Internets durchset-
zen. Aktivist_innen, die aus dem Protest heraus filmen, sind lokalisierbar und
damit immer noch »bodies on the street […] holding the camera or the cell phone,
face-to-face with those they oppose, unprotected, injurable, injured, persistent if
not insurgent« (ebd.: 92). Und auch Kommentator_innen, die vomHeimrechner
aus mit dem Protest interagieren, können aufgrund geteilter Videos oder kriti-
scher Beiträge in polizeiliche Verfolgung geraten (wie zumBeispiel die staatlichen
Gegenreaktionen auf die sogenannten ›Facebook-Revolutionen‹ in der arabischen
Welt gezeigt haben).
2) Aber auch die ›Zwei-Welten-Lehre‹ des Internets kann dank der hier verfolg-
ten Argumentationslinie ad acta gelegt werden. Der ›Cyberspace‹ ist keine virtuel-
le Welt als das Andere der Realität, in der es eigengesetzliche und losgelöste Inter-
aktionen gäbe, die mit dem ›echten‹ Leben nichts zu tun hätten. Vielmehr muss
von einer permanenten Koproduktion von On- und Offline-Räumen gesprochen
werden, die gleichermaßen Bestandteil alltäglicher Lebenswelten und Praktiken
sind (Beuerbach 2018: 115–119). So lässt sich der online geführte Diskurs auf Social-
Media-Plattformen genauso als Aneignung von (Kommunikations-)Räumen und
Infrastrukturen begreifen (vgl. Drüeke 2013; Wimmer 2014) wie das Aufschlagen
von Zelten auf dem Zentralplatz der Stadt. Ebenso bedingen Diskussionen im
Netz oder online geteilte Informationen und Symbole die Ausgestaltung der Pro-
testräume zwischen Beton, wie auch das Wirken auf der Straße die Debatten im
Netz weiter stimuliert. Die qualitative Neuerung von Web 2.0-Anwendungen ge-
genüber statischen Webseiten, für alle User – zumindest teilweise – gestaltbar
zu sein, und die ubiquitäre Verteilung mobiler Sende- und Empfangsgeräte eb-
nen die Unterscheidung digital/analog oder Netz/Straße hinsichtlich der Theorie
der Raumproduktion und des polemischen Erscheinens ein. Postdigitaler Protest
findet immer zugleich online und offline statt, macht sich zugleich digitale und
302 Jan Beuerbach
analoge Strategien und Infrastrukturen zu Nutze, ist gleichermaßen auf alle Ka-
näle angewiesen, um zu erscheinen. Das Digitale ist eine irreduzible Dimension
unserer Lebenswelt10 und damit integraler Bestandteil politischen Protests (ob für
die Koordination von Aktionen, Verbreitung von Standpunkten und Solidaritäts-
bekundungen; oder für Funkzellenabfragen, Überwachung von Onlinekommu-
nikation, stille SMS und polizeiliche Metadatenanalysen).11
Geradezu paradigmatisch kann die Verwobenheit digitaler und analoger Stra-
tegien wie auch von Körpern und Infrastrukturen am Protestcamp des Umbrella
Movement inHongkong nachvollzogenwerden, das sich gegen die Einflussnahme
Chinas auf die (noch) autonome Zone Hongkong ausspricht. Die Zeltstadt wurde
für mehrere Wochen (von September bis Dezember 2014) in Admiralty errich-
tet, einem Viertel des Hongkonger Distrikts Central and Western, in dem »große
Bankfilialen, Einkaufszentren, aber auch die wichtigsten Regierungsgebäude und
[…] das Hauptquartier der chinesischen Volksbefreiungsarmee« (Godehardt 2017:
54)12 an zentralen Verkehrsadern liegen. Durch die Besetzung dieser exklusiven
und dem geschäftlichen Verkehr vorbehaltenen Zone wurde ein Durchgangsort
zu einer belebten Stadt in der Stadt, mit Küchen, Diskussionszentren, Urban
Gardening, Kunstausstellungen, Schlafplätzen und sogar Schulen. Die Heraus-
bildung dieser neuen Infrastruktur bezog die Körper des Protests nicht nur auf-
einander, sondern wies entlang der Versorgungsketten bis in die Privaträume ver-
schiedenster Unterstützer_innen imGroßraumHongkong, die einkauften, koch-
ten, bastelten, schrieben, spendeten. Einemediale Besonderheit des Protestcamps
stellte die LennonWall dar (siehe Abbildung 1), eine über und über mit Post-its be-
klebte Treppe, die zuvor lediglich dem Zugang zum Regierungsgebäude gegolten
hatte. Auf den Post-its wurden die Forderungen und Leiderfahrungen der Protest-
ler_innen formuliert – auf Papier, weil man um die chinesischen Überwachungs-
möglichkeiten im Internet wusste, und doch als Simulation der heutigen Praxis
des Online-Postens. Zugleich konntenmittels der von Künstlern programmierten
10 | Die Verschränkung von digitalen und analogen Räumen, das Zugleich aller möglichen all-
täglichen Praktiken und computerbasierter Berechnungen sowie die materiellen wie technischen
Bedingungen der zeitgenössischen Lebenswelt bekommt Benjamin Bratton sehr eindrücklich und
komplex in seinem layer-Modell zu fassen (Bratton 2015).
11 | Aus diesem Grund sind die verschiedenen Occupy-Proteste aus meiner Sicht exemplari-
scher für Protest in der digitalisierten Gesellschaft, als die – für sich genommen dennoch unter-
suchenswerten – Spezialfälle digitalen zivilen Ungehorsams wie DDoS-Attacken, Whistleblowing
und Hacktivism (vgl. Scheuerman 2016). Oft wird in diesen Spezialfällen die Zwei-Welten-Ansicht
des Internets implizit mitgetragen.
12 | Diesem Aufsatz und den anregenden Gesprächen mit der Autorin verdanke ich wesentliche
Einblicke in die Spezifitäten und Implikationen des Protests der Regenschirmbewegung sowie
den Anstoß zur Beschäftigung mit dem Problemkontext Raum-Digitale Medien-Protest. Meine
Mitarbeit am Projekt Urbane Räume. Proteste. Weltpolitik. war der Ausgangspunkt für die Ent-
wicklung der vorliegenden theoretischen Überlegungen.
Öffentlichkeit trotz alledem 303
Abbildung 1: Ansicht der Lennon Wall, einem zentralen Ort des Protestraums während der
Besetzung des Hongkonger Admiralty-Platzes durch das Umbrella Movement. Die interaktive
Projektion »Stand By You: Add Oil Machine« der Künstler SampsonWong & Jason Lam prangt
über tausenden von Post-it-Nachrichten. Foto: © Becky Sun,mit freundlicher Genehmigung.
Installation »Stand By You: Add Oil Machine« von überall auf der Welt Solidari-
tätsbekundungen auf die Wand projiziert werden, womit die analoge Situation
mit dem Netz und damit mit dem Rest der Welt verbunden war.
Wenn wir (mit Arendt) das Politische im Erscheinungsraum zwischen den
Vielen verorten wollen, als Praxis des multiperspektivischen öffentlichen Aus-
tauschs; wenn wir (mit Rancière) dieses Erscheinen als ein Polemisches begreifen
wollen, das die bisherige Ordnung des Sichtbaren unterbricht, um eine erneute
Forderung nachGleichheit zu formulieren; und wennwir (mit Butler) den Protest
als Performanz von Vulnerabilität entwerfen wollen, sein Erscheinen als Ausge-
setztsein also an materielle Voraussetzungen und Infrastrukturen rückbinden,
die politische Subjekte konstituieren und dennoch angeeignet werden können –
erhalten wir eine postdigitale Perspektive auf das Internet und eine verräumli-
chende Theorie politischen Erscheinens: Protest findet Statt – trotz alledem – und
entlang verschiedenster Trajektorien.
304 Jan Beuerbach
3 Zwischenruf: Internet und Spektakel
Aber Moment! – so wird wohl die ein oder andere Leser_in einwerfen – gehen Sie
mit einer Theorie des politischen Erscheinens nicht der Realität des Bestehen-
den beinahe schon nachlässig naiv auf den Leim? Ist nicht die Verlagerung des
Politischen in die Dimension des Erscheinens gerade das Problem, das postde-
mokratische Gesellschaften am nachhaltigsten heimsucht? Hat denn nicht De-
bord das Spektakel so charakterisiert, dass es sagt: »Was erscheint, das ist gut;
was gut ist, das erscheint« (Debord 1996 [1967]: 17)? Wenn nun das Politische
vom Erscheinen her gedacht wird, zwingt man dann nicht den Protest in die-
selbe Aufmerksamkeitsspirale, die mit den neuen Medien nicht nur schneller,
sondern auch schriller und beliebiger geworden ist? Ein Großteil der Internet-
kommunikation findet innerhalb von Plattformen von Konzernen statt, deren Ge-
schäftsmodell in der Aktivierung der Nutzer_innen besteht, um werberelevante
Informationen zu generieren sowie selbst Werbeflächen anzubieten. Das Liken
und Teilen von Tweets, Facebook- und Instagram-Posts oder YouTube-Videos zahlt
immer auch in die Kasse der jeweiligen Dienstleister ein und ist schon deshalb
von der Besetzung öffentlicher Plätze zu unterscheiden, weil diese öffentliche
Güter, Online-Plattformen jedoch Räume in privater Hand sind. Darüber hinaus
haben die neuen Medien vor allem diejenige Tendenz der klassischen Massen-
medien Zeitung, Radio und Fernsehen verstärkt, die das Marktschreierische und
Aufmerksamkeitsheischende betont, denn wo bislang Einschaltquoten und Auf-
lagenhöhe maßgeblich waren (für verkaufte Einheiten und mit Blick auf Anzei-
gekunden), entscheiden nun Klickzahlen und Kommentierungen über den Er-
folg einer Nachricht. Der Politikbetrieb passt sich dieser Situation an und so wird
die mittlerweile gewohnte Inszenierung von politischem Streit in den Polit-Talks
der Fernsehsender um markige Sprüche und Skandälchen erweitert, die in ih-
rer Knappheit darauf ausgelegt sind, sich in sozialen Medien zu vervielfältigen.
Woche für Woche jagen sich die News und Brennpunkte, sodass das Agenda Set-
ting zu einem Spießrutenlauf wird, bei dem die Politik immer auch mit der Un-
terhaltungsindustrie konkurriert. Muss nicht, wer in derselben Arena antritt wie
Katzenvideos, Teenager-Mutproben, Donald Trump, Superhits, virale Werbungen
und Memes, ebenso eskalativ wie enthemmt kommunizieren, um wahrgenom-
men zu werden? Ist nicht Empörung eine der stabilsten Devisen in einer spekta-
kulären Kommodifizierung von Affekten? Kurzum, führt eine politische Theorie
des polemischen Erscheinens nicht zwangsweise in die Produktion von effektvol-
len Bildern (angezündete Autos und Barrikaden!), in die Vorhölle der brandaktu-
ellen Live-Schaltung?Und erklärt sich nicht zuletzt daraus die Schalheit von Inter-
netaktivismus, der spontane Erregungen mit einem Klick befriedigt, um sogleich
zum slacktivism zu verkümmern, weil schon nächste Woche ein neuer Hashtag
trenden wird?
Öffentlichkeit trotz alledem 305
4 Archivarbeit der Proteste
»[…] weaving is for oppositional cyborgs.«
(Haraway 2013 [1985]: 170)
Erfahrung in der Herstellung von Erfahrung
Ein Kritikpunkt an dem Modell, Protest gleichermaßen von seinem Erscheinen
wie von der mobilisierten Vulnerabilität der Körper des Protests her zu denken,
wäre nach diesem Einwurf also die Anfälligkeit des Protests durch die Logik der
medialen Aufmerksamkeitsökonomie. Da Medien in dem hier entworfenen Mo-
dell konstitutiv sind, zielt die Kritik auf das konzeptuelle Fundament des Ansat-
zes, ist jedoch selbst nicht begrifflich, sondern leitet sich von einer – wie wir sehen
werden – einseitigen Analyse des Bestehenden her. Sie kann deshalb höchstens
die praktische Ausgestaltung von Proteststrategien treffen.
Einigermaßen naiv wäre die komplette Ablehnung eines bestimmten Medi-
ums, wonach es sich – als Medium – per se nicht für die Entstehung und Vermitt-
lung politischer Inhalte eignen würde, denn vomManifest zur Rede, von der Kari-
katur zum Tweet, vom Roman zum Film oder von der Photographie zum Protest-
lied konnte wohl jedwedesMediummal im politischen Sinne genutzt werden. Die
Kritik richtet sich also auf bestimmteMediendispositive und ihre konkrete Ausge-
staltung wie den Zeitungsmarkt, staatlich vergebene Senderechte im öffentlichen
und privaten Radio und imFernsehen oder privatwirtschaftlich aufgesetzte Social-
Media-Plattformen mit ihrer Einbettung in einen Markt für Nutzerdaten. Hier
könnten neben den wirtschaftlichen Grundstrukturen des jeweiligen Dispositivs
vor allem die Gatekeeper-Funktionen kritisiert werden, die in klassischenMassen-
medien von relativ wenigen Stellen ausgeübt werden (und in autoritären Staaten
der Zensur unterliegen). Demgegenüber bietet das Internet eine Reihe von Medi-
en und Kommunikationsräumen, die auch den Nutzer_innen die Sendefunktion
ermöglicht. Bereits bei den klassischen Usenet-Gruppen und Foren steht die Be-
teiligung und der Austausch untereinander im Vordergrund, was schließlich in
Web 2.0-Anwendungen zur dominanten Praxis wird. Diese Diversifizierung von
Kanälen schlägt auch auf die alten Massenmedien zurück, die das Netzgesche-
hen kommentieren. Daher bleibt zu kritisieren, dass sich Onlinekommunikation
mittlerweile auf wenige kommerzielle Angebote reduziert hat. Aber auch hier wä-
re ein Argument, das das Stattfinden von Protest auf kommerziellen Plattformen
ausschlösse, zu einseitig: Selbst innerhalb dieser Infrastrukturen ereignen sich
Kommunikationsakte, die für das politische Erscheinen des Protests förderlich
sind (ganz davon abgesehen, dass es nach wie vor noch eine Reihe alternativer
Software- undWebangebote gibt, die eine Nutzung des Internets fernab von kom-
merziellen Plattformen ermöglichen, selbst wenn die Kommerzialisierung des
306 Jan Beuerbach
Netzes eine kritikwürdige Tendenz13 darstellt). Die #BlackLivesMatter-Bewegung
hat nicht zuletzt durch die Kommunikation auf den kommerziellen Plattformen
Twitter, YouTube und Facebook Fahrt aufgenommen (Thimm 2017).
In diesem Zuge ist es interessant, dass Habermas die Herausbildung einer
bürgerlichen Öffentlichkeit teilweise der Entstehung der Presse zuschreibt, die
historisch auf das steigende Informationsbedürfnis antwortet, das der zunehmen-
de (und zunehmend vernetzte) Handel des merkantilistischen Kapitalismus ent-
wickelt (Habermas 1990 [1961]: 77 f.). Ohne einem Determinismus zu verfallen,
kann man hierin trotzdem eine marxistische These angedeutet sehen, wonach
auf dem Rücken systemischer Entwicklungen auch – oder sagen wir ruhig: trotz
alledem – neue Potenziale des Widerstands entstehen können.
Gerade diesemUmstand aber wird das hier skizzierteModell des polemischen
Erscheinens (mit Butler) gerecht: Weil Infrastruktur (und auch mediale Infra-
struktur) konstitutives Moment ist, kann Protest nur auf Basis dieser – immer
auch vermachteten – Infrastruktur entstehen. Und mehr noch: In der prekären
Nutzung der korrumpierten Infrastruktur wird die politische Dimension einer
Monopolisierung von Kommunikationsräumen als Enteignung des Gemeinsa-
men bewusst und als solche mitverhandelt (Butler 2015: 126). Da das Digitale eine
irreduzible Dimension unserer Wirklichkeit ist, sollte Protest nicht nur mit sozia-
len Medien und dem Internet umgehen können, um zu erscheinen. Er müsste
zugleich auch die neuen technischen Möglichkeiten der Überwachung reflektie-
ren und netzpolitisch eine demokratischere Ausgestaltung der Kommunikations-
infrastruktur fordern – zusätzlich zu den jeweiligen thematischen Forderungen.
»The possibility of doing that, however, depends upon the performative efficacy
of creating a political space from existing infrastructural conditions« (ebd.: 126).
Das Potenzial der Aneignung von Kommunikationsräumen ist – für progres-
sive wie für regressive Kräfte – enorm gestiegen. Ein Teil der empfundenen Über-
forderung, die mit Troll-Armeen, Social Bots, Desinformation und der Beschleu-
nigung des Informationsaustauschs einhergeht, hängt mit einer Vervielfältigung
der Möglichkeiten und Stimmen zusammen, die an vielen Stellen noch kaum ka-
nonisiert oder für deren Handhabung kaum praktische Normen entwickelt wur-
den.14 Statt aber einen Verfall der Öffentlichkeit durch das Internet heraufzu-
beschwören, sollte gerade die Ausgestaltung neuer Kommunikationsinfrastruk-
13 | Eine Tendenz, die übrigens schon in den 90ern vom Internet-Enthusiasten Rheingold fest-
gestellt wurde: »Dass sie viel leichter vermarktet als erklärt werden kann, ist die größte Schwäche
der Idee von elektronischer Demokratie. Die Kommerzialisierung und Konsumorientierung des
öffentlichen Diskurses ist nur eines der gravierenden Probleme, vor das uns die immer ausge-
feilteren Kommunikationsmedien stellen« (Rheingold 1994: 350).
14 | Vgl. dazu (Esposito 2000), die sehr konzise und unaufgeregt den Strukturwandel von Text-
und Subjektmodell von der Antike über die Moderne zur Postmoderne nachzeichnet, und die
Schwierigkeit telematischer Kommunikation beschreibt, wonach ebenso die Texte wie die Sub-
jektivitäten beweglich sind.
Öffentlichkeit trotz alledem 307
turen politisch umkämpft werden. Diese Notwendigkeit wird durch eine politi-
sche Theorie des polemischen Erscheinens unterstrichen. Neben der Nutzung
bestehender Plattformen kommt es hier auch auf deren Umnutzung an. Dafür
ist eine eingehende Analyse bestehender Kommunikationsinfrastruktur, die so
fundamental an der Konstitution des Regimes der Sichtbarkeit beteiligt ist, uner-
lässlich.15
Reinszenierung der Gleichheit und das Weben von Geschichten
So wichtig der Verweis auf die ökonomischen Verhältnisse digitaler Infrastruktu-
ren ist, er spricht nicht gegen, sondern für die in Kapitel 2 entwickelte Perspek-
tive, lässt diese doch die Forderung nach einer kritischen Beschäftigung mit den
medialen Voraussetzungen unserer Lebenswelt deutlich hervortreten. Man kann
aber den Einwurf in Kapitel 3 auch als ein Angriff auf die begriffliche Struktur
des Modells polemischen Erscheinens verstehen: Rancière konzipiert das Politi-
sche als Einbruch in die Ordnung, als disruptives Ereignis. Auch Butlers Perfor-
mativitätstheorie scheint in der Rekursion auf den jeweiligen Akt des Protests
gefangen zu sein, sodass sich der Eindruck einschleicht, dass aus der situativen
Öffnung nichts weiter folgt. Dies wiederum weist Ähnlichkeiten mit der Zeitlo-
gik des permanenten (und belanglosen) Up-to-date-Seins auf, die das Medienge-
schehen heute dominiert. Ist ein solches Erscheinen in seiner Disruption also
notwendigerweise spektakulär?
Um auf diesen Kritikpunkt adäquat antworten zu können, müsste nun ne-
ben der Raumtheorie auch die Zeittheorie differenztheoretischer postsouveräner
Subjektivität genauer expliziert werden, die bei Butler und Rancière mindestens
implizit vorliegt. Verkürzend könnte man auf Derridas Diktum der unmöglichen
Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen (Derrida 2003), verweisen, wonach das
Hier und Jetzt als momenthaftes akutes Ereignis nicht fassbar ist. Nur in Spra-
che (beziehungsweise Schrift im weitesten Sinne) zugänglich, ist es lediglich als
zu erinnerndes Ereignis wiederholbar – ein Umstand, der den Ereignischarakter
unterläuft, wenngleich sich die Erinnerung vom Ereignis her bestimmt. Butlers
Performativitätstheorie und Rancières Politikverständnis, die auf Derridas Ein-
sichten beruhen, dürfen deshalb nicht als Feier des Moments oder Apologie einer
permanenten Gegenwart missverstanden werden.16 Innerhalb dieser Theorietra-
dition werden stattdessen Begriffe wie das Erbe, die Trauerarbeit oder das Archiv
15 | Diese Forderung nach einer kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit den materiellen Be-
dingungen, technischen Funktionalitäten und psychischen Wirkungsweisen der öffentlichkeits-
konstituierenden Medien haben schon (Negt und Kluge 1972) formuliert und als »Erfahrung in
der Herstellung von Erfahrung« (ebd.: 27) bezeichnet.
16 | Vgl. dazu die Kritik Eckhard Schumachers an Peggy Phelans Performance-Begriff, die die
Performance wieder im Sinne einer Präsenz und authentischen Erfahrung versteht und gegen die
Erinnerung ausspielt (Schumacher 2002: 393 ff.).
308 Jan Beuerbach
bedeutsam17 – Konzepte, die sowohl epistemologisch als auch geschichtsphilo-
sophisch gehaltvoll sind. Den Protest verräumlichen hieße zugleich, ihn zu ver-
zeitlichen: Um polemisch zu erscheinen, wäre ein Bruch mit dem Regime der
Sichtbarkeit nötig. Um als Bruch zu erscheinen jedoch, wäre dieses disruptive
Ereignis erinnernd zu wiederholen. Der Protest ist nicht nur eine Aneignung des
Raumes – er ist ebenso sehr eine (historische) Intervention innerhalb des kultu-
rellen Gedächtnis.
Rancière hat in einem Aufsatz, der als Vorarbeit zu seinem Hauptwerk Das
Unvernehmen gelten kann, das polemische Erscheinen ebenfalls in die Zeitlich-
keit des wiederholenden Aufschubs gestellt. Die revolutionäre Forderung nach
Gleichheit ist vor dem Hintergrund der bestehenden Verhältnisse eine kontra-
faktische Behauptung, eine »Künstlichkeit« (Rancière 1994 [1990]: 126), die mit
der bestehenden Ordnung des Sichtbaren, der Aufteilung der sozialen Positionen
bricht. »Aus der kommunitären Erfindung ergibt sich eine bestimmte Zahl von
Wirkungen, die sich in das Gewebe des Gesellschaftlichen einschreiben« (ebd.:
128) und daher Bezugspunkte für weitere Proteste, für weitere politische Arbeit
bilden. So verklammert Rancière das disruptive Moment der Öffnung der Ord-
nung, das im gemeinsamen Akt polemischer Öffentlichkeit performt wird, mit
der notwendigerweise anWiederholung gebundenen Praxis des Protests (und des
Verstehens von Protest). Das Ereignis der Disruption kann immer nur reinsze-
niert werden, »der polemische Ort einer Gemeinschaft ist selbst nur möglich
durch die Rückprojektion der egalitären Voraussetzung hinter sie selbst« (ebd.:
124). »Diese Inszenierung stützt sich nicht auf eine feste Grundlage, sie beruft
sich auf ein es hat gegeben, das immer auf ein weiteres es hat gegeben verweist«
(ebd.: 128).
Mit dieser anspruchsvollen Konstruktion lässt sich der Protest anders be-
schreiben. Zentral ist nun weniger das spektakuläre Aufbegehren der Massen,
sondern die solidarischen Verknüpfungen zwischen den Körpern, die sich inner-
halb der Protestpraxis herausbilden.
»In short, what some would call ›horizontal relations‹ among the protestors formed easily
and methodically […]. So the social form of the resistance began to incorporate principles
of equality that governed […] how people cared for their various quarters within the square,
the beds on the pavement, the makeshift medical stations and bathrooms, the places where
people ate, and the places where people were exposed to violence from the outside« (Butler
2015: 89).
Die Stiftung neuer sozialer Beziehungen ist dabei verbunden mit Kommunika-
tionsakten und einer enormen kulturellen Produktion von Symbolen, Zeichen,
Forderungen, Sinn. Das gemeinsame Handeln und Sprechen im polemischen
17 | Vgl. dazu beispielsweise (Derrida 2004; Derrida 1997; Derrida und Roudinesco 2006:
11–40; Derrida und Stiegler 2006).
Öffentlichkeit trotz alledem 309
Erscheinen bildet einen Erfahrungshorizont, der auch nach der Auflösung des
konkreten Protestcamps erinnert werden kann. Auch die Kunstwerke und Instal-
lationen, die im Laufe der Besetzung vonAdmiralty inHongkong entstanden sind,
wurden gesammelt und aufbewahrt durch The Umbrella Movement Visual Archive
andResearchCollectiveundUmbrellaMovement Art Preservation, die auch nach dem
Protest Ausstellungen organisierten.18 Die Botschaften der LennonWall – selbst ja
schon ein historischer Verweis auf die Prager LennonWall, die nach John Lennons
Tod 1980 zunächst zu seinemGedenken, in der Folge immer stärker auch als Aus-
druck des Protests gegen die kommunistische Herrschaft Gustáv Husáks bemalt
wurde – sind in zahlreichen Fotografien festgehalten worden und werden online
wie offline neu zusammengesetzt.19 Es entstehen zivilgesellschaftliche Archive
und Verweissysteme, die für weitere Proteste und Diskussionen Anknüpfungs-
punkte erzeugen, wobei die Streuung der Eindrücke durch soziale Medien die
Zahl möglicher Anschlüsse erhöht. Neben dieser Archivarbeit im engeren Sin-
ne können auch die Erinnerungen und Beziehungen der Protestbeteiligten, von
denen viele zum ersten Mal politisch involviert waren, als Anschlüsse für weite-
re Aktionen betrachtet werden. Die Erfahrungen von Solidarität, Unterstützung
und Widerstand werden in Tweets und Facebook-Posts ebenso erinnert wie in
Ausstellungen von Protestkunst oder der im Freundeskreis geteilten Erzählung
einer Oma, die ihren Enkeln ein Lunchpaket für den Protesttag zurechtgemacht
hatte.20
In einer ganz fundamentalen (weil begrifflichen) Weise ist der Protest daher
mit einer Arbeit am Archiv verbunden. Sie erfordert einen kritischen und reflek-
tierten Umgang mit den selbst- und fremdproduzierten Bildern, Texten, Filmen
und Erinnerungen, gerade gegen die Logik des permanenten Updates (oder bes-
ser: trotz alledem). Das Offenhalten einer affektiven Spur der Leiderfahrung ist
zugleich die Forderung nach Gleichheit in einer Welt, die Vulnerabilität ungleich
verteilt, in einer Ordnung der Sichtbarkeit, die Hierarchien festschreibt und ver-
deckt – denn »wie schön auch immer die Welt der Dinge, die uns umgibt, sein
mag, sie erhält ihren eigentlichen Sinn erst, wenn sie die Bühne für Handelnde
und Sprechende bereitstellt, wenn sie durchwebt ist von dem Geflecht mensch-
licher Angelegenheiten und Bezüge und den Geschichten, die aus ihnen entste-
hen« (Arendt 2015 [1958]: 258).
18 | Vgl.Wikipedia: »Art of the Umbrella Movement«, https://en.wikipedia.org/wiki/Art_of_the_
Umbrella_Movement und Duarte 04.11.2014.
19 | Vgl. Inocencio 17.10.2014.
20 | In einer ganz anderen Weise kann auch die #BlackLivesMatter-Bewegung als aktive Ar-
chivierung und Erinnerungsarbeit gelesen werden: Aufnahmen von Polizeigewalt zirkulieren in
sozialen Medien, Menschen teilen Leiderfahrungen unter bestimmten Hashtags (Thimm 2017),
es formen sich Proteste auf Straßen, es werden Bücher geschrieben (Khan-Cullors und Bandele
2018).
310 Jan Beuerbach
5 … und alledem …
»Trotz alledem!«, so schallt bebend und blechern die Stimme Erwin Piscators auf
der LP Vorwärts und nicht vergessen. Musik der Arbeiterbewegung in Dokumentarauf-
nahmen.Mit Pathos und im besten Bühnendeutsch der 20er Jahre (schnarrendes
Zungenspitzen-R!) rezitierte der Theatermann für die KPD-nahe Schallplatten-
zentrale ›Arbeiter-Kult‹ 1928 den letzten Text seines Spartakusverbündeten Karl
Liebknecht. Vor seiner Schallplattenaufnahme hatte Piscator bereits 1925 in ei-
ner Agitprop-Revue unter dem Titel »Trotz alledem« das Schicksal Liebknechts
und Rosa Luxemburgs aufgeführt und dabei kurzerhand das dokumentarische
Theater erfunden (Piscator 1986: 62–69). Noch am Abend der Publikation des
Textes »Trotz alledem!« in der Parteizeitung Die Rote Fahne wurden Liebknecht
und Luxemburg am 15. Januar 1919 ermordet. Die Formel »Trotz alledem!« hallt
vom Schluss der Liebknecht’schen Schrift als Durchhalteformel des Widerstands
in Folge der erlittenen Niederschlagung des Spartakusaufstandes nach und wur-
de in der DDR spätestens seit der gleichnamigen DEFA-Filmbiografie Günter
Reischs aus dem Jahre 1972 ikonisch mit dem prominenten Marxisten verknüpft.
Aber Liebknechts Äußerung ist bereits das Echo vieler Jahrzehnte sozialistischen
Aufbegehrens. Sie entstammt einem politischen Lied Ferdinand Freiligraths, der
erstmals 1843 das schottische Arbeiterlied »For a’ that« von Robert Burns über-
setzte, seine bis dahin gefällige Hofdichterei beendete und prompt in der Zensur
hängen blieb, da das Gedicht der »gegen die bestehende, soziale und politische
Ordnung der Dinge ankämpfenden Tendenzen«21 das Wort rede. Der englische
Text von Burns wurde 1795 verfasst und bezieht sich auf Thomas Paines revo-
lutionäre Schrift »The Rights of Man«. Mit dialektalem Spracheinschlag besingt
Burns den Arbeiter, der sich trotz Armut seiner Redlichkeit rühmen kann, anders
als die Herren, die sich seiner Arbeit bedienen. Schon in Schottland eine wichtige
Weise der sozialistischen Bewegung, wird auch Freiligraths Dichtung ein bekann-
tes Lied, jedoch vor allem in der variierten Fassung von 1848 (erschienen in der
von Karl Marx herausgegebenenNeuen Rheinischen Zeitung), die auf das Scheitern
der Märzrevolution reagiert (Freiligrath 1848). Der unregelmäßig in die Strophen
eingewebte formelhafte Refrain »trotz alledem und alledem« lässt das Lied zwi-
schen der Hoffnung auf eine bessere Zeit und der Anerkennung einer erlittenen
Niederlage changieren: Denn trotz der Kämpfe der Bewegung steht »die Bour-
geoisie am Thron – / Der annoch steht, trotz alledem« – aber am Ende beschwört
er: »Unser die Welt trotz alledem!« (ebd.: 1). Die Ambivalenz dieses Refrains –
und wir erinnern uns, dass das französische refraindre nicht nur für die Wieder-
holung im Gesang steht, sondern auf das lateinische refringere für »zerbrechen,
21 | So verlautet das königliche Ober-Censurgericht in »Erkenntniß des königlichen Ober-
Censur-gerichtes in Sachen der ›Kölnischen Zeitung‹«, Berlin, den 13. Februar 1844, zitiert nach
Houben 1924: 185. Freiligrath veröffentlichte den Text daher nicht wie geplant in der Kölnischen
Zeitung, sondern erstmals in Freiligrath 1844: 97–99.
Öffentlichkeit trotz alledem 311
zerreißen« verweist – machte es auch über die Stilisierung des Liebknecht-Erbes
in der DDR hinaus für politische Liedermacher des 20. Jahrhunderts attraktiv.
In immer neuen Varianten erhielt die Formel anhaltende Popularität. Wolf Bier-
mann, die Gruppe ›Karls Enkel‹, Walter Mossmann, Hannes Wader sangen ihre
Versionen, bevor das Lied zu belangloseren Anlässen aufgewärmt und zersungen
wurde (van Stekelenburg 1993).22
Was bleibt, ist das »trotz alledem und alledem!«, eine über Jahrhunderte wie-
derholte Präpositionalfügung, in der das »trotz« für denBruchmit »alledem«,was
ist, steht und seine Iterabiltität selbst im »und alledem« reflektiert. Diese Formel
bleibt als Aufforderung, in der ausweglos scheinenden Situation an ein »es hat
gegeben« zu erinnern. So führt uns diese Spurensuche an die Grenze zwischen
Kunst und Politik, zwischenHoffnung undResignation, zwischen Protest und do-
kumentarischem Theater, zwischen Erinnerung und Propaganda. Und in dieser
Suchbewegung wird die unendliche Frage danach, wie die Forderung der Gleich-
heit heute reinszeniert werden kann, gestellt worden sein, die Frage, die darum
weiß, dass die Demokratie im Kommen bleibt … trotz alledem und alledem …
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22 | Dieses Kapitel speist sich zudem aus den Beiträgen von Büttner 2002, Robb und John
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»Die Mächte verstehen, die am Werk sind«
Ein Gespräch mit Toni Negri
Anja Breljak und Jorinde Schulz
Juni 2017. Wir treffen Toni Negri en passant, am Rande einesWorkshops in Berlin,
zwischen zwei Vorträgen, die um die Frage nach den neuen Modi von Subjekti-
vierung und Kontrolle in postindustriellen, affektbasierten Ökonomien kreisen.1
Das Treffen findet in einer Hotellobby statt, in einem jener anonymen und steri-
len Kongresszentren, die sich parasitisch vomUniversitätsbetrieb ernähren. Blick
auf einen Parkplatz, ein wenig Rasen, Glas, Beton. Auf uns zu tritt ein älterer,
freundlicher Herr mit zwinkernden Augen. Er schnappt sich unsere ausgedruck-
ten Fragen, die zu stellen wir kaum hinterherkommen. Das Interview findet auf
Französisch statt, unserem common ground. Aber tatsächlich bewegt sich das Ge-
sagte zwischen Toni Negris Italienisch, seiner ersten Sprache, dem Französisch
seiner Exiljahre und unserem deutschdenkenden, ins Französische übertragenen
Versuch, passende Nachfragen zu stellen und die Worte aufzunehmen, die zwi-
schen klapperndem Geschirr, lachenden Menschen und Loungemusik auf uns
zuschwirren. Hinterher werden wir immer wieder erstaunt sein darüber, wie sehr
wir das Interview als Format unterschätzt haben. Wir haben es nicht einfach mit
einem Gespräch zu tun, das einmal aufgenommen, bloß in Text überführt zu
werden braucht. Das Interview ist ein hoch artifizielles Produkt, das zwar auf dem
Gespräch basiert, aber nicht in gesprochener Sprache gedruckt, nicht uneditiert
und sich selbst überlassen werden kann, das gekürzt und neu angeordnet werden
muss, um schließlich in einer Übersetzung, die dann auch zu einer Neufassung
wird, zu sich selbst zu finden. Wir werdenmanch einen Fluch von uns geben und
1 | Der Workshop Governing by Affect. Subjectivity and Control in Times of Post-industrial Eco-
nomy wurde von Rainer Mühlhoff und Jan Slaby am Sonderforschungsbereich Affective Societies
der Freien Universität Berlin organisiert und fand vom 22. bis 24. Juni 2017 statt.
Mühlhoff, R.; Breljak, A.; Slaby, J. (Hg.): Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie
der Digitalen Gesellschaft. transcript 2019, S. 315–336. DOI: 10.14361/9783839444399-
014.
316 Anja Breljak und Jorinde Schulz
uns oftmals an die Aufgabe der Übersetzer_in erinnern, die Walter Benjamin so
treffend beschrieben hat: »[A]lle Übersetzung [ist] nur eine irgendwie vorläufige
Art […], sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen.« (Benjamin
1992: 56)
Trotz oder gerade wegen dieser Unwegsamkeiten hat sich dieses Gespräch
als ein großer Glücksfall erwiesen. Denn als generationeller und linguistischer
Brückenschlag, als historischer Crashkurs hat uns diese Begegnung einen uner-
wartet produktiven Impuls für unsere praktischen wie theoretischen Vorhaben
gegeben. Toni Negri, geboren 1933 in Padua, Italien, ist als politischer Theoretiker
und Philosoph vor allem mit seinen Überlegungen zu Marx, Spinoza, zur Multi-
tude und zur Veränderung von Arbeit, Macht und Gesellschaft unter den Bedin-
gungen derGlobalisierung und Informatisierung in Erscheinung getreten. Neben
diesen Fragen interessierte uns Toni Negri auch als Zeitzeuge der italienischen
68er-Bewegung und der ersten postindustriellen Veränderungen der Fabrik, als
involvierter Aktivist des Operaismus und als Vordenker der Affect Studies. Die
Verschiebungsprozesse der Produktion, die sich im Hintergrund der operaisti-
schen Bewegung abspielten, waren Vorboten einer globalen Veränderung, die
nicht nur die Fabrik transformiert, zerteilt und ›modernisiert‹ hat, sondern auch
gesellschaftliche Umwälzungen mit sich brachte – in Italien wie global. Unse-
re Frage war, was es gesellschaftlich bedeutet, wenn Fabriken ausgelagert, Arbeit
flexibilisiert und Produktionsprozesse roboterisiert werden. Diese heutige Erfah-
rung eines digitalisierten Postfordismus, so neuartig sie mit Blick auf neue Kom-
munikationstechnologien auch sein mag, hat einiges mit dem Geschehen ab den
1960er Jahren gemeinsam.
Eine weitere historische Gemeinsamkeit betrifft eine gewisse Tendenz zur
Nostalgie, die sich heute nicht nur in rechten Bewegungen zeigt. Während kon-
servative Kreise die 1950er Jahre mit ihrem vermeintlich stabilen Werte- und Eth-
noregime zum Verdichtungspunkt ihrer Projektionen auserkoren haben, ist in
linken Diskurslandschaften eine Sehnsucht nach der guten alten Industriearbeit
zu finden. Die (wichtige) Beobachtung, dass Kämpfe um die Klasse in den letzten
Jahren zumindest diskursiv vernachlässigt waren, führt mithin zu einer roman-
tisierenden Aufwertung der ›wahren Arbeiter‹, einer vereinheitlichenden Imagi-
nation, die mit ihrer Ausblendung komplexer Ausbeutungsverhältnisse das beun-
ruhigende Chaos der Gegenwart zu bannen versucht. Das hat seinen Preis. Denn
als Sündenbock dieser Vernachlässigung werden nicht selten die vermeintlich
luxuriösen Belange von Feminist_innen, Migrant_innen, People of Color, Trans-
personen und all jenen, die mit identity politics in Verbindung gebracht werden,
angeführt und delegitimiert. Der Blick in die Geschichte der 60er und 70er Jah-
re in Italien, den Toni Negri uns gewährt hat, zeigt eine ›revolutionäre Klasse‹,
die schon damals aus ihrer Monolithik ausgebrochen war. Dafür zentral waren
auch die migrantischen und insbesondere die feministischen Kämpfe, die Aus-
beutungsverhältnisse jenseits der Lohnarbeit und ihrer Klassenstruktur in den
Fokus rückten. Gerade weil die Operaist_innen schon früh Arbeitswelten und
»Die Mächte verstehen, die am Werk sind« 317
-verhältnisse im Blick hatten, die dem in der Fabrik konzentrierten Proletariat
nicht mehr ähnelten, sondern umDienstleistungs- und Sorgearbeit kreisten, sind
ihre Erkenntnisse heute anschlussfähig.
Theoretisch ist diese Erfahrung von den Operaist_innen in drei zentralen Be-
griffen verdichtet worden: Das ist erstens der »operaio sociale« oder die »gesell-
schaftliche Arbeiter_in«, die den »Fabrikarbeiter« ablöst. Als Begriffsfigur nimmt
sie die Prämisse in sich auf, dass gesellschaftliches Leben als solches zur Stätte der
kapitalistischen Wertschöpfung wird. Zweitens ist das die »Multitude«, ein Kon-
zept, das Michael Hardt und Toni Negri der Philosophie Spinozas entlehnen und
für eine Vorstellung von Kollektivität in Anschlag bringen, die zum Zwecke des
Aufbegehrens Singularitäten (Subjekte) zusammenbringt, ohne ihre Differenzen
zu verneinen und ihnen eine glättende Einheit aufzuzwingen. Über die Ambi-
valenz dieses Begriffs im postfordistischen Kapitalismus, der auch die Differenz
undVielfalt als abschöpfbareNische gefunden hat, gab esmit Negri einiges zu dis-
kutieren. Als methodisches Prinzip kommt drittens die »enquête«, die sogenannte
»militante Untersuchung« oder »Arbeiter-Untersuchung« hinzu – ein Konzept,
dass Theoriearbeit mit aktivistischer Praxis verknüpft und zum Kontakt mit der
Empirie anleitet.
Technologie, Algorithmus, Daten. Diese Trinität der gegenwärtigen Maschi-
nenverehrung, unter deren Begriffsoberfläche sichMachtverhältnisse, soziale Re-
lationen, Körperverstrickungen verstecken – auchhierzu befragtenwir ToniNegri,
stellt dieser Themenkomplex doch einen Schwerpunkt des vorliegenden Bands
dar. Entgegen der typischen intellektuellen Gewohnheiten erwiderte uns Negri
weder mit Technikdystopie noch mit Kulturpessimismus. Auf die gegenwärtig vi-
rulente Figur und lustvolle Horrorvorstellung einer Machtergreifung der Maschi-
nen, desÜberhandnehmens der Technik, ließ sichNegri nicht ein. Stattdessen riet
er uns, »die Mächte zu verstehen, die amWerk sind«, zu analysieren also, welche
Kräfteverhältnisse in der aktuellen Ausprägung des Kapitalismus wirksam sind,
um wiederum auf diese einwirken zu können – und damit ein waches Auge zu
behalten für das, was sich ändert, für die Widerstände, die sich regen.
*
Anja Breljak, Jorinde Schulz: Für uns heute, die wir mit befristeten Arbeitsverträgen,
ständiger Onlinekommunikation und prekärer Projektarbeit zu tun haben, ist es völlig
offensichtlich, dass die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts nicht mehr viel gemein hat mit
der Arbeitswelt, die Karl Marx im 19. Jahrhundert beschrieben hat. Die Operaist_innen
in Italien scheinen diese Entwicklung bereits in den 1970er Jahren gesehen zu haben,
jedenfalls prägten sie damals schon den Begriff der »gesellschaftlichen Arbeiter_in«. Da
auch Ihre Überlegungen zur »immateriellen Arbeit« davon ihren Ausgang nahmen:
Was genau hat diese Überlegungen damals angestoßen? In welcher Situation sind diese
Begriffe entstanden?
318 Anja Breljak und Jorinde Schulz
Und was hat Sie persönlich damals dazu angeregt, über die Informatisierung der
Gesellschaft nachzudenken und letztlich auf den Begriff der »immateriellen Arbeit« zu
bringen? Das sind ja doch eher ungewöhnliche Fragestellungen für einen Philosophen.
Toni Negri: Anfang der 1960er Jahre ist es der Arbeiter-Subjektivität gelungen,
neue Perspektiven für ihre Kämpfe zu eröffnen. Gruppen von jungen Genoss_in-
nen2 entwickelten in diesem Zusammenhang ein neues Interventionsformat:
die »militante Untersuchung« [l’enquête],3 verstanden als »conricerca«, also Co-
Recherche oder gemeinsame Forschung. Diese Gruppen, die sehr häufig um
Zeitschriften herum organisiert waren, die sowohl einen theoretischen als auch
einen aktivistischen Ansatz verfolgten (wie zum Beispiel Quaderni Rossi, Clas-
se Operaia oder Potere Operaio,) setzten sich aus Studierenden, Arbeiter_innen
und Angestellten, aus Frauen und Männern zusammen. Die »Untersuchungen«
hatten nicht nur ein objektives Wissen über bestimmte Situationen zum Ziel,
vielmehr ging es um die Konstitution und Organisation politischer Situationen. Es
ging darum, mit den Arbeiter_innen Situationen des Kampfes herzustellen. Dies
fand in zahlreichen, insbesondere in den größten Fabriken statt. Die Gruppen
ermutigten die Arbeiter_innen – entgegen der gewerkschaftlichen Kontrolle der
Arbeitskämpfe – autonom aktiv zu werden, vor allem in Bezug auf Löhne und
Arbeitszeit. Im Laufe der 1960er Jahre vervielfältigten sich derartige Gruppen
und etablierten sich – zwischen Universität und Fabrik – in den größten urbanen
Zentren von Nord- und dem zentralen Süditalien. Von hierher rührt zweifellos
der grundlegende Unterschied zwischen der italienischen und den anderen eu-
ropäischen 68er-Bewegungen. Das italienische ’68 war vor allen Dingen ein ’68
der Arbeiter_innen. Für uns ging es immer darum, in die Fabrik zu gehen um
zu lernen. Das war weder ein demonstrativer Maoismus noch eine ideologische
Position: Wir hielten es für notwendig, uns in die Kämpfe hineinzubegeben,
dabei zu lernen und zu versuchen, Gegenmächte zu organisieren.
2 | Für diesen Band wurde die editorische Entscheidung getroffen zu gendern, es sei denn, es
handelt sich um Wortkompositionen. Das Interview haben wir in die gegenderte Form übertragen
– auch wenn Toni Negri im Gespräch zumeist das generische Maskulin verwendet hat. (Anm.
AB/JS.)
3 | Die »militante Untersuchung«, auch bekannt als »Arbeiter-Untersuchung« oder »Mitunter-
suchung«, ist eine operaistische Methode zur Intervention in Betrieben. Sie diente dazu, Arbei-
ter_innen durch eine Selbstreflexion ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen zu politisieren und
zu radikalisieren. Grundlage dafür, um mit den Arbeiter_innen ins Gespräch zu kommen und
gemeinsame Aktionen zu entwickeln, waren oftmals Fragebögen – als Alternative zu den traditio-
nellen Flugblättern, die vorgefertigte ideologische Positionen enthielten. Historischer Vorläufer
dieser Methode ist der von Karl Marx 1880 entwickelte »Fragebogen für Arbeiter«, vgl. Marx 1985.
Als Forschungsmethode bedeutet die »militante Untersuchung« eine praktische Aufhebung der
klassischen wissenschaftlichen Trennung zwischen Untersuchungsobjekt und Forschungssub-
jekt. (Anm. AB/JS.)
»Die Mächte verstehen, die am Werk sind« 319
Diese revolutionäre Hoffnung, welche die italienische Jugend buchstäblich
mehr als zehn Jahre getragen und die Studierende und Arbeiter_innen einmal
mehr zusammengebracht hat, fand 1979 ein abruptes Ende. 1979 war das Jahr
der Verhaftung aller Mitglieder meiner Gruppe und auch meiner eigenen Verhaf-
tung,4 und darüber hinaus war es auch der Beginn einer großen Repression, die
fast 60.000 Menschen ins Gefängnis brachte. Es ist diese Geschichte, welche die
tiefgreifende Beziehung der Studierendenbewegung zur Arbeiterklasse und zum
Kampf stiftet – ein Kampf, der im Lauf der 1970er Jahre immer härter wurde, und
der aus der Perspektive des Kapitals unmöglich zu kontrollieren war.
Allerdings ging es dabei nicht nur um einen neuen Typ der Beziehung zwi-
schen der Arbeiterklasse und der Studierendenbewegung. Denn im gleichen Ma-
ße, wie in den 1970er Jahren der Klassenkampf um die Fabriken durch die kapita-
listischen Reformen geschwächt wurde (insbesondere durch das Projekt der tech-
nologischen Modernisierung der Automatisierung, die in diesem Moment Form
annahmundmit der von da an experimentiert wurde) – wurden die Kämpfe selbst
zunehmend sozial. In diesem historischen Moment kam die Frage des Wohnens
auf, das Phänomen der großen Besetzungen ganzer Viertel, die Kämpfe um die
Gesundheit, um die Schule, und ganz allgemein Fragen im Zusammenhang mit
dem Sozialwesen [welfare].
Natürlich waren dies nicht nur italienische Kämpfe, die aufgeworfenen Pro-
bleme waren global. Aber in Italien gab es diese ganz besondere Charakteristik,
die ich gerade betont habe: eine extrem starke Verbundenheit zwischen den Stu-
dierenden und den Arbeiter_innen. Es ist diese glückliche, praktische wie auch
theoretische Erfahrung, die als italienischer Operaismus bezeichnet wird. Unsere
Idee als Operaist_innenwar es,mit denArbeiter_innen beimVerlassen der Fabrik
Kontakt aufzunehmen und ihnen die sozialen Probleme zu unterbreiten, die das
›Regime der Fabrik‹ produzierte. Es ging darum, anzuerkennen, welchen Einfluss
diese Fragen auf ihr Leben und das der anderen haben, und sich der Probleme
der Arbeiter_innen als gesellschaftliche Probleme im Allgemeinen anzunehmen.
Hinzu kam eine andere soziale Verschiebung [déplacement], mit der wir uns zu
beschäftigen begannen: das Phänomen der Migration. Zu dieser Zeit (und seit
Ende des 19. Jahrhunderts) war die Migration in Italien eine andere als heute. Die
Italiener_innen emigrierten dorthin, wo sie Arbeit finden konnten, also nicht nur
4 | Toni Negri wurde, mit einer Reihe von anderen Aktivist_innen und Intellektuellen, die mit der
italienischen Autonomia in Verbindung standen, am 7. April 1979 verhaftet. Die Anklage lautete
auf Terrorismus und bewaffneten Aufstand gegen den Staat. Diese Anklage wurde später wegen
Unhaltbarkeit zurückgezogen, trotzdem erhielt Negri aus politischen Gründen eine Haftstrafe von
mehr als 30 Jahren. 1983, noch während man die formale Anklage vorbereitete, wurde Negri für
die Partito Radicale ins italienische Parlament gewählt und konnte kurz vor der Aufhebung der
politischen Immunität nach Frankreich fliehen. Dort lebte und lehrte er 14 Jahre, bis er 1997
nach Italien zurückging, um seine in der Zwischenzeit verkürzte Strafe bis 2003 zu verbüßen.
(Anm. AB/JS.)
320 Anja Breljak und Jorinde Schulz
nach Norditalien mit seinen Fabriken, sondern auch in die am stärksten indus-
trialisierten Länder Europas. Ab 1969, nach dem sogenannten »autunno caldo«,
dem »Heißen Herbst«, einer Zeit der sehr harten und weit verbreiteten Kämpfe,
begannen wir also, den italienischen Arbeiter_innen in ihren Migrationsbewe-
gungen zu folgen, nach Deutschland, nach Frankreich, in die Schweiz.
Sie haben gerade von einer »technologischen Modernisierung der Automatisierung« ge-
sprochen. Was genau ist da passiert?
Die kapitalistische Antwort auf die Kämpfe der Arbeiter_innen, die in den 60ern
Fahrt aufnahmen, bestand in einer Reihe von Operationen, die man anfangs die
»japanischen Operationen« nannte. Es war die Einführung des Toyotismus. Auf
der einen Seite ging es mit diesen Operationen um die Reduktion der menschli-
chen Handgriffe im Produktionsprozess, womit natürlich die Zentralität der po-
tenziell revolutionären Arbeiter_innenminimiert wurde.WenigerMenschen, we-
niger Subversionsgefahr. Auf der anderen Seite erlebten wir eine Transformation
des Verhältnisses zwischen Fabrik und Distribution in einer Reihe von Experi-
menten damit, die Beziehung zwischen dem Innen und dem Außen der Fabrik
zu regulieren. Die ersten Versuche einer Auslagerung, eines Outsourcings der
Produktion, fanden zu dieser Zeit statt. Die Fabrik wurde dadurch neu aufgeteilt:
Während bestimmte Sektoren intern verblieben, wurden andere Sektoren einzel-
nen Arbeiter_innen anvertraut und außerhalb des Fabrikgeländes delokalisiert.
Dadurch fußte die Produktion zunehmend auf einer Art ›Diffusion‹ der Arbeit
in die Gesellschaft, ins soziale Gewebe. All dies fand noch vor der eigentlichen
Informatisierung statt, die ab Ende der 1970er und im massiven Umfang erst in
der Mitte der 1980er Jahre in Gang kam.
Diese ›Diffusion‹ der Produktion betraf nicht nur die Industrie, es handelte
sich dabei viel weitergehender um eine politische Entscheidung, bei der der Ein-
satz der gesamten Gesellschaft und ihrer Funktionen gefragt war. Das alles stand
im engen Zusammenhang mit dem Bericht von Samuel P. Huntington, Michel
Crozier und Joji Watanuki für die Trilaterale Kommission von 1975:5 Diesem zu-
folge war es notwendig, die Gesellschaft zu reorganisieren, um ihre Regierbarkeit
wiederherzustellen, da die jüngsten politischen Bewegungen in der ersten Welt –
die Schwarzen, die Frauen, die Studierenden, die Arbeiter_innen etc. – sie destabi-
lisiert und ihre Regierungspraktiken weniger wirksam und zusehends zufälliger,
fragiler gemacht hätten.
Die Bedeutung dieses reaktionären Berichts der Trilateralen Kommission
kann man gar nicht überschätzen: Er hat den liberalen Initiativen von Kissin-
ger und Nixon – wie zum Beispiel dem Ende der keynesianischen Verträge von
Bretton Woods und der damit einhergehenden Liberalisierung der Finanzmärkte
durch die Abkopplung des Dollars vom Goldstandard – eine politische Tonalität
5 | Vgl. Crozier, Huntington und Watanuki 1975.
»Die Mächte verstehen, die am Werk sind« 321
der Klasse verliehen. Allerdings handelte es sich dabei um einen Klassenkampf
ausgehend von einem ›kapitalistischen Kollektiv‹, das sich aus all den großen
Figuren des globalen Kapitalismus zusammensetzte. Das war auch die Geburts-
stunde des globalen und globalisierten Neoliberalismus.
Angesichts dessen war unsere erste Hypothese daher eine rein politische:Was
machen wir mit dieser Reorganisation des Kapitalismus, die sich von der Fabrik
als exklusivem Ort der Produktion hin zur gesamten Gesellschaft verschiebt? In
Mailand war ich zum Beispiel Teil einer Gruppe, die Interventionen in den Fabri-
ken organisierte. Es gab dort große Fabriken – Alpha Romeo beispielsweise, ein
Automobilhersteller, oder Pirelli, ein Reifenfabrikant. In den Fabriken waren die
Arbeiter_innen organisiert, sie streikten und wir unterstützten sie. Wir verließen
das Fabrikgelände sogar mit ihnen, um den Kampf auch in der Stadt sichtbar zu
machen. Nun war die Reaktion der Wirtschaftsbosse [patrons] die folgende: Eini-
ge Sparten wurden nach Norditalien ausgelagert und die Arbeiter_innen rausge-
schmissen. Gleichzeitig mussten die Bosse sicherstellen, dass die Arbeiter_innen
an weiteren Kämpfen in den Fabriken gehindert, aber weiterhin in der Produk-
tion gehalten wurden, die ihre Arbeitskraft ja benötigte. Also gab man ihnen die
Möglichkeit, Teilstücke der Produktionmit nach Hause zu nehmen. Das war sehr
häufig außerhalb der Städte, denn die Arbeiter_innen der großen italienischen
Industriestädte lebten fast alle im Umland. Nun fanden sie sich dabei wieder, von
zu Hause aus zu arbeiten, und sie transformierten ihre Häuser nach und nach
in kleine Industrien. Die Externalisierung, die Auslagerung, sie haben sie buch-
stäblich getragen und gestützt. Bis dahin war die Arbeiterklasse eine Klasse der
Fabrik. Die Revolution [von 1917] machten damals die Arbeiter_innen der Putilov-
Fabrik! Wir hingegen mussten ein neues Problem angehen: eine Arbeiterklasse
außerhalb der Fabrik. Das ist das theoretische wie politische Problem, das sich an
den Grundfesten meiner Arbeit befindet.
In den 70er Jahren gab es also eine Umstrukturierung der Fabrik, bei der die Produk-
tion in die Gesellschaft verlagert wurde, eine Art Informatisierung avant la lettre. Aber
von der »Arbeiterklasse außerhalb der Fabrik« zur Vergesellschaftung der Arbeit musste
noch einiges passieren, damit ein Konzept wie dasjenige der »gesellschaftlichen Arbei-
ter_in« produktiv werden konnte?
Theorie ist immer mit der Singularität verbunden. Ihr Philosoph_innen müss-
tet euch gelegentlich mehr für Soziologie interessieren. Von diesem Gesichts-
punkt bin ich nicht sicher, wirklich ein Philosoph zu sein. Denn den strengenUn-
terschied zwischen Politik, Geschichte, Philosophie und empirischer Forschung
[recherche] habe ich nie gesehen. Für mich war der Punkt ihrer Begegnung das,
was wir damals »militante Untersuchung« [enquête] nannten – , das war das ers-
te, was ich mit meinen Genoss_innen machte. Wenn du keine Untersuchung
gemacht hast, konntest du nicht mitreden. Es war ein absolutes Prinzip: Ohne
Untersuchung keine politische Legitimität. Es war eben ein Prinzip, das in den
322 Anja Breljak und Jorinde Schulz
70ern geboren wurde. Aber man muss sich darüber einig sein, was man mit Un-
tersuchung meint: nicht nur eine objektive Studie der Arbeitsbedingungen oder
eine Vorgehensweise, die zum exklusiven Ziel hat, Erkenntnis [connaissance] zu
erlangen; nein, vielmehr ging es um das Herstellen einer politischen Beziehung
zwischen Aktivist_innen und Arbeiter_innen, die es erlaubte, beide gleicherma-
ßen zu politisieren. Das Ziel war also eine Art wechselseitige Transformation,
eine reziproke Konstitution – heute würde ich sagen eine reziproke politische
Subjektivierung, die uns als Aktivist_innen und die Arbeiter_innen als Subjekt
der Kämpfe konstituierte.
Was die Restrukturierung der Produktion betrifft: Schon vor der Informatisie-
rung im strengen Sinne gab es diese Verbindung zwischen dem Entstehen und
der Entwicklung dieser Techniken auf der einen Seite, und der Form der Produkti-
on auf der anderen Seite. Die Automatisierung geht der Informatisierung voraus,
auch wenn die Roboterisierung sie vereint hat. Die Automatisierung entsprach
anfangs einer Rationalisierung des fixen Kapitals, die über eine »wissenschaft-
liche Organisation der Arbeit«, das heißt den Taylorismus vonstattenging. Aber
klarerweise ist dieser Prozess der technologischen Transformation erst mit der in-
formatischen Integration abgeschlossen. Damit kommen wir zu einemMoment,
wo sich die kapitalistische Reorganisation, die bis dahin die Fabrik betraf, die Le-
bensformen zum Ziel nimmt. Dem traditionellen Fabrikarbeiter entsprach ein
Arbeitstag, der in acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit (wobei darin auch
Zeit für die Anfahrt zum Arbeitsplatz enthalten ist, und natürlich auch Zeit für
die Mahlzeiten, die sozialen Beziehungen, die Familie etc.) aufgeteilt war und –
um zu überleben – acht Stunden Schlaf. Aber sobald die Arbeit ›vergesellschaftet‹
wird, sobald man also die Idee verwirft, dass die Arbeit der Zeit und dem Raum
der Fabrik entspricht und man sich damit in einer neuen Situation wiederfindet,
in der die Arbeit sozusagen zerstreut, zerbröselt, auf alle Räume der Gesellschaft
verteilt wird (beginnend mit der Heimarbeit), handelt es sich um eine ganz ande-
re Sache, auch was den theoretischen Standpunkt angeht. Wie bemisst man dann
die Zeit? Wie bemisst man dann den Raum? Die Arbeitswerttheorie, auf der die
traditionelle Analyse des Kapitalismus fußte, wird dadurch grundlegend modifi-
ziert, da es eine Theorie der Bemessung der Arbeit ist. Das ist es, was sich Anfang
der 1970er Jahre grundlegend geändert hat und neu gedacht werden musste: Es
wird zu dem Problem.
Die »gesellschaftliche Arbeiter_in« ist also gewissermaßen die begriffliche Antwort auf
die Restrukturierung der Arbeit. Wie genau kam darin der operaistische Aktivismus
zum Tragen?
An der Seite der Arbeiter_innen zu sein war eine Art und Weise, die Arbeiter_in-
nen-Macht [force ouvrière] zurückzuerobern, Institutionen der Arbeitermacht in-
mitten der Fabrik neu aufzubauen – und es war auch die einzige Möglichkeit,
die Veränderungen zu verstehen, die dort geschahen. In der kommunistischen
»Die Mächte verstehen, die am Werk sind« 323
Tradition, in der ich groß geworden bin – mein Vater war einer der Gründer der
Kommunistischen Partei Italiens –, waren wir diesem Typ von Aktivismus eng
verbunden. Gemeinsammit den Arbeiter_innen aktivistisch tätig zu werden und
sich dank ihrer als Aktivist_in bestimmen zu können, war etwas ganz anderes,
als sie in einer Gewerkschaft oder in einer Partei zu organisieren. Daran hat die
Sozialdemokratie die Erinnerung verloren.
Die Entwicklung hat uns jedenfalls Recht gegeben: Alle bestehenden politi-
schen Formen wurden durch diesen anderen aktivistischenModus transformiert.
Jedes gemeinsame Agieren mit den Arbeiter_innen überzeugte uns mehr davon,
dass es möglich war, die Dinge grundlegend und auch demokratisch zu verän-
dern. Der Begriff der »gesellschaftlichen Arbeiter_in«, den wir ausgehend von
unseren Beobachtungen der unausweichlichen Transformation der Arbeit zu ent-
wickeln begannen – eine Transformation, die, das sei nochmals betont, von den
Kämpfen selbst hervorgebracht worden war: weil es den Wirtschaftsbossen nicht
mehr gelang, die Fabriken zu regieren, mussten sie die Produktion verlagern und
über die gesamte Gesellschaft verteilen oder streuen –, dieser Begriff der gesell-
schaftlichen Arbeiter_in ist also aus der Wahrnehmung einer Veränderung der
Produktion entstanden. Was sich außerdem änderte, war die Idee der Revolution
an sich. Wenn man beginnt, über Arbeit nicht mehr als Fabrikarbeit, sondern als
gesellschaftliche Arbeit nachzudenken (in dem Sinne, dass sich die Arbeit ver-
gesellschaftet hat), hat man eine ganze Reihe von Überlegungen in Gang gesetzt.
Vorhin habe ich von der Zeit und vom Raum der Fabrik gesprochen. Nun standen
wir vor einem Schlachtfeld, das unendlich viel komplexer war: die Zeit und der
Raum des gesamten gesellschaftlichen Lebens.
Die Neukonzeption der Form der Revolution, mit all ihren theoretischen Fol-
gen, ist das Thema eines Buchs, das ich 1979 geschrieben habe:Marx oltre Marx6,
ein Kommentar derGrundrisse7. Aus einer theoretischen Perspektive war dasmei-
ne Art und Weise, mit der normativen Vereinnahmung des Marxismus durch die
sowjetische Geschichtsschreibung abzuschließen, und mit dem von ihr festge-
zurrten und zur einzigen Wahrheit erhobenen Marxismus. In diesem Buch habe
ich eine neue, offene Konzeption des Marxismus vorgeschlagen: einen Marxis-
mus, der nicht dogmatisch ist, sondern den man als Werkzeug betrachten muss,
das dazu berufen ist, sich zu erneuern, weil nichts statisch und alles in Entwick-
lung begriffen ist. Die einzige Regel, die man sich dafür geben muss, immer, ist
der Kampf für die Interessen der Arbeiterklasse. Die Arbeit dagegen, die Produk-
tion, die Art und Weise, wie der Kapitalismus sich organisiert, all dies ist Verän-
derungen unterworfen – genau das haben wir seit den 1960ern in Italien erlebt.
6 | Ital. Erstausgabe: Negri 1979, deutsche Übersetzung: Negri 2019.
7 | Gemeint ist das von Karl Marx ab 1857 verfasste Manuskript Grundrisse der Kritik der politi-
schen Ökonomie, welches ab 1968 erstmals in italienischer Übersetzung vorlag und wesentlich
für die Entstehung des Operaismus in Italien war. Vgl. Marx 1968. (Anm. AB/JS.)
324 Anja Breljak und Jorinde Schulz
Marx lag nicht richtig oder falsch, er war nützlich – unter der Voraussetzung, dass
es einem gelang, die im Gang befindlichen Veränderungen zu erkennen.
Welche Rolle spielte dafür die zu der Zeit aufgekommene zweite Welle der Frauenbewe-
gung?
Die Frauenbewegung formierte sich in den 1970er Jahren rund um die Frage der
häuslichen Arbeit. Es war völlig klar, dass, wenn man an einer traditionellen Kon-
zeption von produktiver Arbeit (verstanden als entlohnte, üblicherweise indus-
trielle Arbeit) festhielt, alle nicht entlohnte Arbeit der Frauen, die innerhalb der
Familie und der Wohnung stattfand – die Sorgearbeit, Dienstleistungsarbeit, die
sogenannte ›häusliche Arbeit‹ – nicht als im echten Sinne produktive Arbeit an-
gesehen wurde und keinerlei Anerkennung bekam, und dementsprechend auch
keine Bezahlung. Nur die als produktiv verstandene Arbeit erlaubte eine Anerken-
nung, mit der auch eine Würde der Arbeit einherging. Nur der proletarischen Ar-
beit, die wesentlich dem Männlichen zugeneigt war, wurde Würde zugestanden.
Heute würde man zweifellos hinzufügen: Diese Würde der Arbeit war männlich,
sie war weiß und sie war deutlich ›national‹.
Gerade weil wir versuchten, die zunehmende Vergesellschaftung der Arbeit
und deren Transformation durch die Verlagerung in die gesamte Gesellschaft zu
verstehen, wurde es unmöglich, nicht auch das in Betracht zu ziehen, was bis
dahin von der Lohnarbeit ausgenommen war, das aber ebenso Arbeit war wie die
Fabrikarbeit. Hatte die produktive Arbeit die Fabriken verlassen, so war sie nun
in die Häuser gegangen. Man begann zu erkennen, dass sich die strenge Unter-
scheidung zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit nicht mehr aufrecht
erhalten ließ. Die Frauen waren zentral für diese Wende: Sie begannen, einen
Lohn für Hausarbeit [salaire domestique] zu verlangen, denn schließlich verdient
alle Arbeit eine Entlohnung. Die Forderung eines Lohns für Hausarbeit war der
erste sichtbare Effekt der Vergesellschaftung der Arbeit, die durch die Kämpfe
der feministischen Kollektive enthüllt wurde. Die kommunistischen und gewerk-
schaftlichen Organisationen hatten bis dahin die Arbeit der Frauen nicht als aus-
gebeutete Arbeit verstanden.Was nun aber zumVorschein kam, war eine schreck-
liche Ausbeutung, deren Zielscheibe die Frauen waren, wobei sie die sich verall-
gemeinernde Vergesellschaftung der Arbeit antizipierten.
In welcher Weise sind Sie damals mit den feministischen Kollektiven in Berührung ge-
kommen?
Ich hatte das Glück, in den 1960er Jahren, in einem sehr jungen Alter, zum Pro-
fessor der Staatstheorie an der Universität von Padua ernannt zu werden. Das war
am Institut für Politikwissenschaften, zu dessenDirektor ich dann ernanntwurde.
Ummich herum bildete sich eine Art Gruppe für proletarische Studien [études ou-
vriéristes]. Eine ganze Reihe von Frauen arbeiteten an diesem Institut und spielten
»Die Mächte verstehen, die am Werk sind« 325
eine entscheidende Rolle. Ich denke dabei an die Bedeutung von Mariarosa Dalla
Costa oder Alisa Del Re; aber ich denke auch an Selma James, an Silvia Federici
oder Gisela Bock, die sehr aktiv und absolut fundamental waren … Das feminis-
tische Denken hat eine Theorie der Ausbeutung der häuslichen Arbeit hervorge-
bracht,8 die es uns grundlegend ermöglichte, das, was wir als wachsende Verge-
sellschaftung zu beschreiben versuchten, besser zu verstehen. Ohne diese Theori-
en wären wir nie darauf gekommen: Wir hatten eine Idee von der Transformation
des Massenarbeiters zum gesellschaftlichen Arbeiter, aber wir hatten keine Vor-
stellung vom Ausmaß dieser Veränderung. Und wir dachten noch immer, dass
die Arbeit eine Sache derMänner wäre – vermutlichweil wir selbstMänner waren!
Aber es war extrem wichtig, für uns und für die Arbeiter_innen, mit diesem poli-
tischen und theoretischen Projekt gemeinsame Sache zu machen. 1969 gründe-
ten wir die Zeitschrift Potere Operaio (»Arbeitermacht«) – das war auch der Name
unserer Gruppe. Weil wir die sehr klare Idee hatten, dass alle soziale Aktivität pro-
duktiv ist (und daher sowohl eineWürdigung als Arbeit als auch eine Entlohnung
als Gegenleistung verdient), hatten wir die erste Ausgabe im September 1969 ei-
nem Programm rund um das bedingungslose Grundeinkommen gewidmet. Das
war unsere Art zu sagen, dass die gesellschaftliche Arbeiter_in die Lohnarbeit, die
Dienstleistungsarbeit, die kognitive Arbeit und dann auch bald die migrantische
Arbeit in sich vereint hatte. Damit war dieser Begriff die Überschreitung des alten
Konzepts der Arbeiterklasse und das Aufkommen eines neuen Klassenbegriffs,
der es ermöglichte, innerhalb der Arbeiterklasse ›Differenzen‹ auszumachen. Ei-
ne neue, vollkommen unerhörte Zusammensetzung der Klasse also.
Dennochmussman auch die andere Seite des Ganzen in Betracht ziehen. Da-
mit meine ich, dass nicht nur wir die Transformation der Arbeit entdeckt hatten,
sondern auch das Kapital. Und das Kapital antwortete mit einer technologischen
Neuerung, die absolut fundamental war: die Informatisierung. Die kapitalistische
Entscheidung, die Informationstechnologie zu entwickeln, mündete auch in der
Entwicklung einer neuen Form der Kontrolle, die es erlaubte, die Zeit und den
Raum der Produktion außerhalb der Fabrik zu regieren. Da man damit die Diszi-
plin der Fabrikarbeit verlassen hatte, musste ein neues Dispositiv erdacht werden,
und das war die soziale Kontrolle durch die Informatisierung. Die Digitalisierung
der Welt umfasst nicht nur eine Geschichte der Technik, sie umfasst, genauer
betrachtet, auch eine neue Technik der Kontrolle.
Die Informatisierung stellt also vornehmlich ein Instrument des Kapitals dar. Nimmt
Ihr Konzept der Multitude nicht eine neue Wendung angesichts dieses Prozesses?
Schließlich hängt die Multitude, verstanden als »Singularitäten, die gemeinsam han-
deln«, wie Sie in Empire und in Multitude immer wieder betonen,9 auch von den
8 | Vgl. Costa und James 1972, ein Buch, welches die Debatte um die Entlohnung häuslicher
Arbeit nicht nur in Italien anfeuerte. (Anm. AB/JS.)
9 | Vgl. Hardt und Negri 2002 und Hardt und Negri 2004.
326 Anja Breljak und Jorinde Schulz
Möglichkeiten der Kommunikation, des Ausdrucks und der Selbstorganisation ab, die
sich wesentlich mit der digitalen Kommunikation vervielfältigt haben. Gegenwärtig ist
es allerdings recht offensichtlich, dass gerade die digitale Kommunikation längst vom
Kapital rekuperiert wurde. So sind heute viele linke und antikapitalistische Bewegungen
von Technologien abhängig und werden von eben jener kapitalistischen Logik verein-
nahmt, gegen die sie ankämpfen. Hat diese Entwicklung Ihre Sicht auf den Begriff der
Multitude verändert?
Mein Begriff der Multitude stammt von Spinoza. Als ich anfing zu Spinoza zu
arbeiten, ging esmir auch darum, das zu beschreiben und zu verstehen, was Ende
der 1970er Jahre geschehen war. Spinozas Denken – und insbesondere der Begriff
derMultitude – erwies sich als sehr nützlich, um die Arbeiterklasse nichtmehr als
eine Klasse, die durch die Einheit des Raums, nämlich denjenigen der Fabrik, de-
finiert war, zu verstehen. Das Problemwar nicht der Begriff der Klasse als solcher,
es war vielmehr die Vorstellung, dass dieser Begriff notwendigerweise eine Ein-
heit darstellen sollte, demGesetz des Einen unterworfen wäre. Fürmich aber ging
es imGegenteil darum, die Assoziation der Singularitäten in ihrenDifferenzen zu
denken. Das bedeutete, mit einer Reihe von geschlossenen Darstellungen zu bre-
chen, wobei es alles andere als einfachwar, den damals tonangebendenBegriff des
Proletariats hinter sich zu lassen. Foucault und Deleuze sind in den 1970er Jahren
zu denselben Ergebnissen gekommen wie ich und meine Genoss_innen in un-
seren Diskussionen, wenn auch auf anderen theoretischen Wegen. Dahingegen
hatten wir sehr polemische Auseinandersetzungen mit der Kritischen Theorie.
Anfangs war die Perspektive der Kritischen Theorie extrem wichtig für uns.
Dabei denke ich hauptsächlich an die Forschung der 1930er Jahre, als die Ver-
knüpfung von Philosophie und Soziologie ihr einige Dinge ganz grundlegend
neu eröffnete. Es handelte sich dabei um eine absolut fundamentale Relektüre des
Marxismus. Trotzdem glaube ich, dass sich die Kritische Theorie, nach der »Auf-
klärung«10 von Adorno und Horkheimer, gewissermaßen selbst blockiert hat. Sie
hat ihr Vermögen zum Entwerfen theoretischer und politischer Ideen eingebüßt,
als sie sich einer deterministischen Weltsicht ergeben hat – ich denke, das zeigt
sich an bestimmten Ideen vomSchicksal der Arbeit, des Begehrens, der Freiheit …
Auch den Begriff der Produktion haben sie ziemlich schnell hinter sich gelassen.
Übrig blieb also der Begriff des Konsums, verstanden als das eigentliche Derivat
der Subjektivität. Was die Eventualitäten einer widerständigen Subjektivierung
angeht, so werden diese einfach ins Jenseits des Möglichkeitenhorizonts verab-
schiedet. Marcuse wendete diese Position, in der eine Befreiung unmöglich ist,
schließlich ins Utopische. Was aber wird dann aus der Marx’schen Dialektik von
Arbeit und Emanzipation? Und angenommen, das, was Adorno undHorkheimer
beschreiben, sei wahr, was wäre denn zu tun gewesen, um aus dieser neuen Situa-
tion, die ja die unsere war, herauszukommen? Wenn wir also in die Fabriken ge-
10 | Vgl. Horkheimer und Adorno 1969.
»Die Mächte verstehen, die am Werk sind« 327
gangen sind, umdie Arbeiter_innen zu fragen, was wir gemeinsamunternehmen
könnten, haben wir dabei tatsächlich geradewegs gegen Adorno und Horkheimer
angedacht.
Für uns bedeutete das, dass alles neu aufgerollt werden musste. Denn im In-
neren dessen, was man als Lebensformen bezeichnen könnte, finden sich zugleich
Produktion, Reproduktion, Zusammensein, Wissen, Affekte, Erfindungskraft –
und all dies ist Gegenstand von Ausbeutung. Aber selbst noch im Begriff der Aus-
beutung steckt unmittelbar auch der Widerstand gegen die Ausbeutung. Und da-
her gilt auch: Im Zustand vergesellschafteter Ausbeutung – die stattfindet, sobald
produktive Subjektivitäten zusammenfinden und sich die Form einer Multitude
geben – hatman zugleich das Vermögen, affiziert (ausgebeutet) zu werden und zu
affizieren (zu widerstehen). Von etwas affiziert zu werden bedeutet gleichzeitig,
das Vermögen zu haben, dem etwas zu erwidern. Je umfassender die Ausbeutung
sich auszubreiten scheint, desto größer wird die Macht des Widerstands.
Demmöchte ich noch einen anderen Gedanken hinzufügen. Ich binmir über
die Ambiguität des Begriffs der Multitude im Klaren. Es ist einleuchtend, dass
sich die Multitude als gut oder als schlecht erweisen kann. Gut, wenn sie sich in
Form von gemeinsamer Arbeit und Solidarität manifestiert; schlecht, wenn sie
nur von Groll und Geld beseelt wird, wenn sie die Differenzen, die sie vereinigen
und versammeln soll, hierarchisiert, oder wenn sie verfügt, dass einige Differen-
zen willkommen sind und andere nicht. Es gibt diese Ambiguität, aber das genügt
nicht, um einen Begriff zu disqualifizieren, der eine radikale Kritik aller Varianten
des Einen darstellt – Volk, Nation, Klasse, was auch immer –, wenn diese Einheit
eine Neutralisierung der Feinkörnigkeit der Differenzen und ihres Reichtums er-
zwingt. Der Begriff der Multitude ist in gewisser Hinsicht ein doppelter.
… und zugleich sollte sich darin die Veränderung der Arbeit ausdrücken?
Ja. Als Michael Hardt und ich begonnen hatten, an Empire zu arbeiten, zogen
wir die Multitude als ein Konzept der immateriellen Arbeit in Erwägung. Damit
meine ich: Es handelte sich dabei um jenen Typus von Subjektivität, der dieser
neuenRealität der Arbeit entsprach, die wir zu beschreiben versuchten. Denn dort
ließ sich beobachten, wie nach und nach anstelle der einen einzigen materiellen,
physischen Arbeitskraft (nämlich die der Massenarbeiter_innen, die der Proleta-
rier_innen der Fabriken) eine Arbeitskraft aufkam, deren produktive Beschaffen-
heit mit Affektivität, Intelligenz, mit den Formen des Sozialen und Relationalen,
mit dem Reichtum der Singularitäten zusammenhing. Wenn wir also »immate-
riell« sagten, wollten wir all das sagen – dies erwies sich aber als ungeschickt, da
es einfach als Gegensatz zur »materiellen Arbeit« wahrgenommen wurde.
Wie wurde auf diesen neuen Begriff damals reagiert? Und hat er sich wirklich bewährt?
328 Anja Breljak und Jorinde Schulz
Es gab sehr großeWiderstände gegen unsere Hypothesen. Man sagte uns: »Wenn
die Arbeit zu dem geworden ist, was ihr sagt, dann ist es ja selbst Arbeit, Liebe zu
machen!« Das ist nicht unbedingt falsch, denn es geht ja darum, Arbeit als etwas
zu verstehen, das sozialen Wert hervorbringt … Infolgedessen fanden wir uns an
einer anderen Front kämpfend. Man sagte uns: »Eure Multitude, das könnte doch
auch der Plebs sein, der Pöbel, die Massen, der schlimmste Ausdruck von Groll
derjenigen, die nichts haben und nach Verantwortlichen für ihr Unglück suchen
…«Die aktuelle Debatte über Populismen ist eineWiderspiegelung dessen.Wir er-
widerten: »Wir möchten es vermeiden, vom Volk zu sprechen, weil dieser Begriff
historisch mit dem der Souveränität zusammenhängt und weil er nicht denkbar
ist ohne eine Form der Einheit – und, wie Hobbes bemerkte, notwendigerweise
mit einer Form des Gehorsams: Erst der Souverän bringt das Volk hervor und
gibt ihm seine Einheit, weswegen ihm das Volk im Gegenzug absoluten Gehor-
sam schuldet.« Uns dagegen ging es um die Art und Weise, wie Menschen sich
selbst organisieren, ohne einer wie auch immer gearteten Transzendenz gehor-
chen zu müssen oder eine Einheit vorauszusetzen. Eine reine Organisation der
Differenzen als Differenzen.
All das bewahrheitete sich auch direkt im Feld der Arbeit: Die Mannigfaltig-
keit der Differenzen war zumPrinzip der Kapitalverwertung geworden, und dafür
brauchte es die Affekte, die Sprachen, die Relationen, die Sorgearbeit, die Dienst-
leistungen, die Zirkulation des Wissens – all dies wurde vom Kapital abgegriffen.
Das war es, was den Übergang zum Postfordismus charakterisierte und den Ein-
tritt in eine neue Form der Organisation von Arbeit und Produktion bedeutete
– gegründet auf einer paradoxalen Anerkennung der ontologischen Macht der
Multitude durch das Kapital.
Um noch einmal auf die Transformation der Arbeit zurückkommen: Es gibt
also eine Vergesellschaftung der Arbeit, die wir nicht mehr mit dem Ausdruck
der immateriellen Arbeit bezeichneten, sondern kognitive oder vergesellschafte-
te Arbeit nannten. Diese überlappt sich zu beträchtlichen Stücken mit dem, was
noch immer als »materielle Arbeit« fortbesteht, zum Beispiel in der Industrie. In
dieser aber gibt es eine zusätzliche kooperative Dimension, die für die Verwer-
tungsprozesse in der Produktion immer wichtiger wird. Heute macht das koope-
rative Element einen guten Teil der Produktivität der Arbeit aus: Wenn nämlich
zwei Menschen zusammenarbeiten, das wissen wir seit Langem, produzieren sie
gemeinsammehrWert, als die Summe ihrer einzelnenArbeit anWert hervorbrin-
gen könnte.DiesenÜberschuss, der aus 1 + 1 imErgebnis immermehr als 2macht,
nennt man Mehrwert. Wenn wir das auf heute übertragen: Tausende von Men-
schen, Hunderttausende, Millionen, arbeiten heute vernetzt oder in kooperativen
und relationalenKonfigurationen.Das bestimmtunmittelbar denMehrwert. Folg-
lich findet sich das Kapital in einer bizarren Situation wieder: Um immer mehr
Mehrwert extrahieren zu können, muss die Vergesellschaftung intensiviert wer-
den. Abermit dieser Vergesellschaftung gehen auch Subjektivierungsphänomene
einher, die widerständige Subjektivitäten hervorbringen, weil diese Subjektivitä-
»Die Mächte verstehen, die am Werk sind« 329
ten frei sind – viel freier, als die atomisierten und zerstreuten Subjektivitäten der
damaligen Fabriken. Diese Vorstellung einer totalen Beherrschung der Affekte,
die die Realität des Kapitals heute angeblich ausmachen soll, ist gleichzeitig rich-
tig und falsch. Richtig, weil das Kapital seit damals seine Vereinnahmung auf das
gesamte Leben erstreckt hat. Falsch, weil Beherrschung immer mit Widerstand
einhergeht, und weil dieserWiderstand sich ebenso weit erstreckt wie das Kapital.
Das Kapital braucht die Leben, um aus ihnenWert zu extrahieren, es ist von ihnen
abhängig. Es ist also am sozialen Leben, den Widerstand zu organisieren.
Aber vielleicht ist das Problem heute nicht so sehr die totale Beherrschung als vielmehr
eine technologische Erfassung der menschlichen Regungen, mit der eine subtile Kontrolle
allenGeschehens einhergeht, die es vermag, auch noch denReichtumunserer Affektivität
auszuschlachten. Es ist diese subtile Kontrolle, die auch algorithmisch daherkommt,
die eine Art Manipulation und Neuausrichtung des Verhaltens ermöglicht, und zwar
gerade dann, wenn wir uns – im Kontext heutiger Arbeitsverhältnisse etwa oder digitaler
Widerstandsorganisation – frei und selbstbestimmt fühlen.
Ja, ich stimme Ihnen zu. Und zugleich ist es nie so einfach, wie man denkt. Zu-
nächst müssen wir noch einmal auf das zurückkommen, was wir Singularität ge-
nannt haben. Vor langer Zeit bezeichnete man das als »Erfindungskraft« – ich
finde das gar nicht so schlecht. Wenn man als Singularität, das heißt als irredu-
zible Differenz, an der Multitude teilhat, lebt man in permanenter Kooperation
und Kommunikation mit den anderen Singularitäten, mit den anderen Differen-
zen. Die Multitude ist so gesehen gleichermaßen eine linguistische Form: Der
permanente Austausch findet vermittelt durch die Sprache statt. Die Arbeit von
Paolo Virno dreht sich um diesen Punkt.11 Bei Virno ist die Kommunikation –
das, was er das Vermögen der Sprache nennt – zugleich natürlich und bestän-
dig konstitutiv für das, was wir sind, denn diese Natürlichkeit, dieses »Vermö-
gen«, das uns als Menschen ausmacht, existiert nicht außerhalb der historischen
und sozialen Materialität der Beziehungen, in die wir eingebettet sind. Aus dieser
Perspektive betrachtet ist Ihre Frage in Wirklichkeit: Was passiert, wenn dieses
Vermögen der Sprache – unwissentlich – vereinnahmt und neu organisiert wird,
zum Beispiel durch Algorithmen? Was passiert, wenn wir, während wir uns frei
auszudrücken vermeinen, in Wirklichkeit beeinflusst werden, einer Herrschaft
unterworfen sind, von der wir, entfremdet, nichts wissen?
Aus diesem Grund habe ich Lust, Ihnen Folgendes zu antworten: Es gibt kei-
nen Algorithmus ohne Arbeit, weil der Algorithmus eine Form der Ausbeutung
zerebraler Produkte ist. Der Algorithmus ist keine Magie, keine Hexerei, es ist
ein neues Werkzeug der Vereinnahmung. Er ist aber eben nicht mehr als ein
Werkzeug – das heißt, dass man es sich wieder aneignen kann. Man muss den
Kampf also auch an dieser Front organisieren: Verstehen, wie die Algorithmen
11 | Vgl. Virno 2005.
330 Anja Breljak und Jorinde Schulz
funktionieren, sie transparent machen, sie öffnen und darum kämpfen, sie sich
anzueignen. Die Technik ist nicht das Böse: Die Frage der Technik ist, dabei bleibt
es, wer sie besitzt und was man daraus macht.
Aber dieser Kampf ist schwach und wird aktuell von kleinen und extrem spezialisier-
ten Gruppen geführt. Die wenigsten Menschen können mit einem offenen Algorithmus
überhaupt etwas anfangen.
Ja, das ist, weil das Problem der Macht nach wie vor existiert.
Aber macht das den Kampf und die Möglichkeiten des Widerstands nicht zunehmend
schwächer?
Ja, man kann sagen, dass deren Macht verglichen mit derjenigen des Kapitals
lächerlich ist. Ich habe nie behauptet, dass das Kapital nicht mehr das Komman-
do hat und dass jetzt alles auf die beste aller Welten zuläuft. Ich sage nur, dass
es hier einen Irrtum darüber gibt, was als Problem erscheint. Aus meiner Sicht
besteht die Aufgabe darin, die Mächte zu verstehen, die am Werk sind. Als wir
anfangs, also vor mehr als einem halben Jahrhundert, in die Fabriken gegangen
sind, wussten wir, dass es nicht leicht sein würde und dass es gefährlich war: Da
gab es den Boss der Fabrik, interne Spione, Kontrollen, Drohungen – und außer-
halb der Fabrik waren die Polizei und all die anderen staatlichen Strukturen. Das
hat uns nicht daran gehindert, zu kämpfen – sondern dazu geführt, dass wir auf
der Grundlage eines zunehmend feineren Verständnisses der Kräfteverhältnisse
kämpfen konnten. Heute ist es das Gleiche. Wir stehen vor einem kleinen, nicht
besonders neuen Problem: das des Eigentums. Auch wenn es neu ist, sich zu fra-
gen, wem die Algorithmen gehören und wer sie benutzt, und man dafür arbeiten
muss, zu verstehen, wie man dieses Kräfteverhältnis umdrehen kann.
Der Kampf ist also nie zu Ende?
Natürlich ist der Kampf nie zu Ende. Die Schwierigkeit besteht darin, ihn zu ge-
winnen. Manchmal klappt das halbwegs, manchmal ganz und gar nicht, manch-
mal geht es voran, manchmal nicht. Was aber ist dieser Kampf? Es ist ein Kampf
gegen den Tod. Es ist ein Kampf um die Menschlichkeit dessen, wonach wir stre-
ben – und das menschliche Streben, sagte Spinoza, ist die Ewigkeit. Es ist ein
Kampf um die Transformation der Arbeit des Menschen durch den Menschen.
Wir sind Zeugen ungeheurer Transformationen der Arbeit geworden, die sich in
den letzten Jahrzehnten abgespielt haben und die zweifellos erst durch unsere
Kämpfe möglich wurden: das Ende der Fabrik, das Ende der Unterdrückung der
Frauen, die enormen Fortschritte im Bereich der Kommunikation und Koopera-
tion, der wachsende Raum, der den Subjektivitäten zugestanden wird, und heute
natürlich das Aufkommen der digitalen Werkzeuge, dieser neuen Techniken im
»Die Mächte verstehen, die am Werk sind« 331
Herzen unseres Lebens. Das Problem der Wiederaneignung des fixen Kapitals
durch die Arbeiter_innen bleibt bestehen, stellt sich in der Ära der Digitalisierung
aber in einer radikal neuen Art und Weise. Das Kapital hat sich schon immer
aus zwei Teilen zusammengesetzt: dem fixen Kapital und der Arbeitskraft, also
dem, was man das variable Kapital nennt. Seit der Industrialisierung hat es eine
permanente gegenseitige Durchdringung des fixen und des variablen Kapitals ge-
geben, aber die Produktionsmittel gehörten bisher den Kapitalist_innen [patrons].
Natürlich musste sich in diesem Prozess der gegenseitigen Durchdringung auch
das fixe Kapital transformieren – zum Beispiel ging die Manufaktur in die Fabrik
über. So hat auch die Transformation der Arbeiter_innen eine Transformation der
Industrie herbeigeführt. Mit dem Aufkommen des sogenannten kognitiven Kapi-
talismus ist die Arbeitskraft heute gesellschaftlich und kooperativ, sie beschränkt
sich nicht mehr auf die physische Kraft, sondern enthält auch qualitative Elemen-
te, ohne welche die Wertschöpfung nicht mehr möglich wäre. Das bedeutet, dass
nun auch die sozialen Fähigkeiten, Intelligenzen, Affekte etc. zumBestandteil des
fixen Kapitals geworden sind. Die gegenwärtigen »Maschinen« sind nicht mehr
das Eigentum der Kapitalist_in. Denn das, was den Arbeiter_innen der Fabriken
damals abspenstig gemacht wurde, steht heute im Zentrum des Geschehens: Es
sind unsere Gehirne, unsere Beziehungen, unsere Fähigkeit, gemeinsam zu han-
deln, unsere Erfindungskraft.
Sie haben vorhin die enge Verbundenheit zwischen Studierenden und Arbeiter_innen in
den 1960ern in Italien angesprochen. Diese Zeit, wie Sie vorhin auch schon angedeutet
hatten, war auch geprägt von den aufkommenden feministischen Bewegungen und, ei-
nige Jahre später, der sogenannten Identitätspolitik(en). Heute gibt es neue – oder sind
sie vielleicht gar nicht so neu? – kapitalismuskritische Stimmen, die der Linken vorwer-
fen, die Arbeiterklasse missachtet zu haben, und die eine Rückkehr zum Klassenkampf
einfordern.Wie sehen Sie diese neuerliche Renaissance eines dogmatischenMarxismus?
Werden hier die Kämpfe und politischen Einsichten der 1970er vergessen?
Diese Sache mit dem vermeintlichen Gegensatz zwischen Klasseninteressen und
Identitätspolitiken …Wenn ich das richtig verstanden habe, gibt es da eine heftige
Debatte in Deutschland, insbesondere innerhalb und rund um die Partei Die Lin-
ke. Vor kurzem habe ich mich im Rahmen eines Treffens der Forschungsgruppe
Euronomade mit ein paar italienischen und deutschen Genoss_innen über diese
Frage unterhalten. Wir Italiener_innen hatten dort einen Vorschlag zur Lösung
dieses Problems unterbreitet, der in einer Analyse jüngerer feministischer Kämp-
fe gründete. Wir bezogen uns darin auf die Mobilisierung argentinischer Frauen
gegen die dortigen Feminizide im Rahmen der Bewegung Ni una menos, die 2015
begann und sich schnell in andere lateinamerikanische und einige europäische
Länder verbreitet hat. In Italien wurde diese Bewegung unter dem Namen Non
una di meno fortgeführt. Dabei handelt es sich um einen extrem wichtigen Kampf
– einerseits natürlich in quantitativer Hinsicht, denn es gingen Millionen von
332 Anja Breljak und Jorinde Schulz
Frauen auf die Straße, andererseits aber auch in qualitativer Hinsicht, denn in
diesem offenen Kampf haben sich um eine spezifische Initiative herum eine Rei-
he von essenziellen politischen Elementen herauskristallisiert. Die Überlegungen
der Bewegung haben sich tatsächlich auf die Position der Frauen als Frauen kon-
zentriert, dabei aber weniger ihre Identität als ihre Funktion im gegenwärtigen
Produktionssystem analysiert. Wenn man bedenkt, dass das Produktionssystem
heute das ganze Leben in Angriff nimmt, ist zumindest aus einer marxistischen
Perspektive offensichtlich, dass sich die Rolle der Frauen im Zentrum dieses En-
sembles befindet, da die Frauen imHerzen der sozialen Reproduktion des Lebens
stehen. Dazu zwei Sachen: Die Analyse des Kapitals macht man im Allgemeinen
ausgehend von drei Ebenen, die man bisher streng voneinander unterschieden
hat: Produktion, Reproduktion und Zirkulation. Heute befinden wir uns in einer
Situation, in der sich mindestens zwei dieser Begriffe nicht mehr klar vonein-
ander abgrenzen lassen, nämlich Produktion und Reproduktion. Denn die Wert-
schöpfung beruht auf der sozialen Reproduktion, welche direkte Wertschöpfung
ist (und nicht mehr bloße Bedingung der Möglichkeit dessen, was man früher
Arbeit nannte). Das bedeutet, dass die Position der Frauen zentral für die Analyse
des Kapitals ist. Deswegen sind ihre Kämpfe nicht nur für sie, sondern in einem
viel weiteren Sinne für alle, für den Klassenkampf im Allgemeinen, von funda-
mentaler Bedeutung. Damit ist klar, dass die Rede von einem vermeintlichen Ver-
gessen des Klassenkampfes aufgrund von Feminismus unsinnig ist. Heute kann
es keinen Klassenkampf ohne die Frauen geben. Und umgekehrt kann es keinen
Feminismus geben, der nicht auch Widerstand gegen das Kapital ist.
Wenn die Produktion also vergesellschaftet worden ist, rückt auch die Frage nach der
sozialen Reproduktion in deren Zentrum, seien dafür nun Frauen oder andere zustän-
dig?
Genau. Ich erinnere mich noch an die Feminist_innen der 1960er und 70er Jah-
re und ihre Kämpfe. Sie mussten sich abgrenzen, um sich Geltung zu verschaf-
fen, um die politische Dimension ihres Sprechens klarzustellen. Vielleicht waren
wir (Männer) uns in den politischen Bewegungen der damaligen Zeit nicht so
im Klaren darüber. Manchmal agierten wir auch ziemlich patriarchal in diesen
Bewegungen, auf jeden Fall waren wir nicht immer vorbildlich. Aber das, was
die Feminist_innen zu ihrer Lage sagten, antizipierte auf schwindelerregende Art
und Weise eine Veränderung, die bald die Arbeitswelt in ihrer Gesamtheit betref-
fen würde. Wir haben von ihnen gelernt; und heute sind ihre Kämpfe ungeheuer
wertvoll – für sie selbst, natürlich, aber auch für uns alle.
Nun wurde (nicht nur) Europa in letzter Zeit von neuen Bewegungen erfasst, in denen
eine populistische politische Reaktion auf die soziale Frage zum Ausdruck kommt. Die-
se wird dabei in einer Weise gestellt, die man dann als anachronistisch oder verdreht
bezeichnen müsste.
»Die Mächte verstehen, die am Werk sind« 333
Ja, letztendlich ist der Populismus sehr anachronistisch. Ich glaube, dass der Ana-
chronismus in der Konzeption der nationalen Souveränität liegt, die der Populis-
mus immer voraussetzt – wie ein altes, schreckliches Überbleibsel der Moderne.
Als hätten die Nationalismen nicht die uns allen bekannten historischen Katastro-
phen zur Folge gehabt … Dennoch schreiben sich die Populismen in eine Rück-
kehr der »Identitäten« ein, indem sie sich auch des Prinzips der Hierarchisierung
und der Exklusion bedienen. Daraus folgt dann: Das Volk zuerst, also keine Frem-
den. Die Obsession der nationalen Bevorzugung im Namen eines Volkes ist eine
schreckliche Sache. Man findet sie sowohl links als auch rechts, in Diskursen, die
einander scheinbar entgegengesetzt sind, deren Symmetrie es einem aber übel
werden lässt.
Sie haben vorhin das bedingungslose Grundeinkommen erwähnt. Seine Befürworter_in-
nen argumentieren, dass es eine Antwort auf die Vergesellschaftung der Produktion sein
könnte. Was halten Sie davon?
Die Frage des bedingungslosen Grundeinkommens ist nicht neu. Man bezeich-
net es auch als Bürgerlohn, unter der Bedingung, dass Bürgerschaft hierbei nicht
nationale Zugehörigkeit, sondern soziale Teilhabe bedeutet. In letzter Zeit hat das
bedingungslose Grundeinkommen sehr viel Sichtbarkeit erfahren. Zum Beispiel
spielte es im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2017 eine große Rolle. Ei-
ner der Kandidaten der Parti socialiste, Benoît Hamon, hatte bei den Vorwahlen
seiner Partei vorgeschlagen, das Thema ins Zentrum seiner Wahlkampagne zu
stellen, und er hat damit den Sieg über die anderen Kandidaten davongetragen.
Aber er hat für dieses Wagnis bezahlt: Heute ist er nicht einmal mehr Delegier-
ter. Die Idee, dass Einkommen und Arbeit, und zwar eine alte Vorstellung von
Arbeit, voneinander entkoppelt werden können, und dass das Einkommen die
gesellschaftliche Produktivität entlohnen soll, die viel weiter reicht als die klassi-
schen Formen bezahlter Arbeit, spricht heute viele Menschen an, vor allem sehr
junge Menschen und prekarisierte Bevölkerungen wie zum Beispiel die Arbei-
ter_innen des kognitiven Prekariats.
Aber genau das ist es auch, was für die Gewerkschaften und für eine Partei
wie die Parti socialiste, deren Geschichte sich als Verteidigung der Rechte von Ar-
beiter_innen darstellt, wenn nicht gar als Verteidigung der Arbeit als solcher, so
unerträglich ist. Die Notwendigkeit, Arbeit neu zu denken, ihre Bedeutung aus-
zuweiten, sie als gesellschaftliche Produktion neu zu verstehen, ist eine Pointe,
die noch weit davon entfernt ist, sich durchgesetzt zu haben. So behaupten zum
Beispiel die Gegner_innen eines bedingungslosen Grundeinkommens, dass nie-
mandmehr Lust hätte zu arbeiten, wenn alle ohne Bedingungen ein Einkommen
bezögen – anstatt einzusehen, dass es den Menschen erlauben würde, Arbeit un-
ter schlechten Bedingungen (bezüglich des Gehalts, der Stundenzahl, der Sicher-
heit …) zu verweigern, und dass dies notwendigerweise eine Aufwertung der Ar-
beit mit sich bringen würde. Die Reaktion kam in Frankreich von rechts wie von
334 Anja Breljak und Jorinde Schulz
links: aus einleuchtenden Gründen von der liberalen Rechten (und insbesondere
von Macron, ungeachtet seines Pseudo-Diskurses »weder recht noch links« zu
sein); aber auch von links. Hierbei denke ich an Mélenchon, der sich als Chef der
»Linken der Linken« dargestellt hat und sich noch heute in dieser Rolle gefällt.
Das bedingungslose Grundeinkommen lehnte er im Namen einer Verteidigung
der Arbeiter_innen ab, die angeblich in die Fabriken ihrer Väter zurückkehren
wollen, im Namen eines Mythos des Massenarbeiters und der Verteidigung der
nationalen Produktion. Eine mehr als unerträgliche jakobinische Rhetorik.
Aber jenseits dieser kleinen französischen Geschichten ist das zentrale Pro-
blem das der Würde der Arbeit. In den 1960ern lancierten wir das Motto einer
Verweigerung der Arbeit. Die Arbeit ist weder gut noch schlecht, verstehen muss
man die Organisation der Arbeit. Denn noch einmal, die Arbeit setzt sich zu-
sammen aus der Arbeitskraft und dem, was die Bosse [patrons] der Arbeitskaft
an schädlichen [délétère] Bedingungen aufzwingen, um sie auszubeuten und sich
den maximalen Profit zu sichern (und die maximale Effizienz in der Praxis der
Regierung der Arbeiter_innen).
Über eine Sache denke ich häufig nach: Wie Sie vielleicht wissen, besagt der
erste Artikel der italienischen Verfassung, dass die italienische Republik auf der
Arbeit gegründet ist. Das ist einzigartig. AmEnde des ZweitenWeltkriegs sindwir
dem Faschismus entkommen, wir haben die Monarchie hinter uns gelassen und
sind zur Republik übergegangen. Die Arbeiterklasse war für die Widerstandsbe-
wegungen gegen den Faschismus und den Nazismus essenziell, und der Partisa-
nenkampf war ungeheuer hart. Die Wertschätzung gerade der Arbeit als Funda-
ment der italienischen Republik schien angemessen, um die entscheidende Be-
deutung der Arbeiterklasse und die Würde ihrer Existenz anzuerkennen – denn
die Arbeit ist es auch, die uns einander gleichmacht, die befreit, die den Privilegi-
en qua Geburt entgegensteht. In Wirklichkeit war die Republik aber nicht auf der
Arbeit gegründet, sondern auf dem Kapital, beziehungsweise auf der kapitalisti-
schen Organisation der Arbeit, und das ist etwas ganz anderes. Arbeit zu sagen
heißt hier, Kapital zu sagen – es ist das Gleiche. Innerhalb der kapitalistischen
Organisation hat es die Würde der Arbeit niemals gegeben, weil der Kapitalismus
auf einer Mystifizierung beruht, in der das Gehalt als faire, angemessene Entloh-
nung für die von der Arbeiter_in geleistete Arbeit daherkommt. Wäre das wahr,
würde der Kapitalismus keinenMehrwert generieren. Damit es Profit geben kann,
muss es also Ausbeutung geben. Daher existiert zwar die Würde der Arbeitskraft
und der Arbeiter_in – aber dieWürde der Arbeit gibt es nicht. Wenn es sie gibt, ist
sie ein Klassenprivileg, denMeistbegünstigten vorbehalten, während es denMen-
schen weiter unten auf der sozialen Leiter, dort wo die Lebensrealität Ausbeutung
ist, vorenthalten wird.
Heute wird gewissermaßen das ganze Leben in Arbeit gebracht, um Wert zu
produzieren. Warum sollte man dafür keine angemessene Entlohnung fordern?
Es muss einem nur gelingen, Arbeit ausgehend von der Idee (und der neuen Rea-
lität) der gesellschaftlichen Produktion zu verstehen. Der Bürgerlohn oder das
»Die Mächte verstehen, die am Werk sind« 335
bedingungslose Grundeinkommen, wie man es auch nennen mag, ist alles ande-
re als ein ›Einkommen für die Armen‹, eine neue Version des Mindestlohns oder
eine Art Subvention für die Schwächsten. Es ist keine kompensatorische Maß-
nahme, sondern eine gerechte Vergütung für das, woraus heute Wert geschöpft
wird – das, was der Kapitalismus aus unseren Leben extrahiert. Hierfür sollteman
kämpfen. In Frankreich hat das Benoît Hamon verstanden, und er hat – politisch
gesprochen – den Preis für seinenMut gezahlt. Soweit ich weiß, ist er niemals zu-
rückgerudert, auch wenn ihn das ohne Zweifel seine politische Karriere gekostet
hat. Von solchen Politiker_innen bräuchte es mehr in Europa heute.
Mit Empire ist Ihnen und Michael Hardt damals nicht nur ein Coup in aktivistischen
und globalisierungskritischen Kreisen gelungen, sondern auch eine theoretisch tiefgrün-
dige Analyse des politischen Geschehens heute. Was ist Ihr nächster Coup?
Michael Hardt und ich haben kürzlich ein weiteres gemeinsames Buch publiziert,
Assembly.12 Wir schreiben bereits das nächste Buch – eine Art ›Empire: 20 Jahre
danach‹. Darin geht es uns um die Frage, worin und wie die Welt sich in den
letzten 20 Jahren verändert hat. Im Großen und Ganzen hatten wir die Arbeit
an Empire 1995 beendet. Wir befanden uns mitten in einem enormen globalen
Umbruch, der auf den Fall der Berliner Mauer und den Zusammenbruch der So-
wjetunion folgte. Das ging mit einer Art allgemeinen ›Renaissance‹ der USA in
der ganzenWelt einher: Die bipolare Welt war zu ihrem Ende gekommen und die
Vereinigten Staaten hatten anscheinend gewonnen. Man konnte keinen Vertrag
aufsetzen, ohne auf das US-amerikanische Recht zu rekurrieren, die allgegenwär-
tige US-amerikanische Zentralität schien keine Grenzen zu kennen.
Unsere Frage war deshalb: Was ist dieses amerikanische ›Empire‹? Haben die
Vereinigten Staaten diese Partie gewonnen, ist die Globalisierung in Wirklich-
keit ihr endgültiger Sieg, oder ist es doch komplizierter? Was die Neoliberalen
damals auch behaupteten: Uns war klar, dass der globale Markt, den die Globa-
lisierung hervorgebracht hatte, notwendigerweise eine Ordnung brauchte. Diese
nannten wir »Empire« und wir versuchten zu verstehen, wie sie funktionierte.
Heute, 20 Jahre später, ist diese Ordnung immer noch virulent, aber die bestim-
menden Elemente haben sich verändert. Neue Akteure sind aufgetaucht, die stra-
tegischen Linien wie auch die geopolitischen Kristallisationspunkte haben sich
verschoben. Wir müssen weiterdenken und reflektieren, um diese Prozesse zu
verstehen. Leicht wird es nicht!
12 | Vgl. Hardt und Negri 2018.
336 Anja Breljak und Jorinde Schulz
Literatur
Benjamin, Walter (1992). »Die Aufgabe des Übersetzers«. In: Sprache und Ge-
schichte. Philosophische Essays. Berlin: Reclam.
Costa, Mariarosa Dalla und James, Selma (1972). The Power of Women & the Sub-
version of the Community. Bristol: Falling Wall Press.
Crozier, Michel, Huntington, Samuel und Watanuki, Joji (1975). The Crisis of De-
mocracy. Report on the Governability of Democracies to the Trilateral Comission.
New York: New York University Press.
Hardt, Michael und Negri, Antonio (2002). Empire – die neue Weltordnung. Frank-
furt am Main: Campus.
— (2004).Multitude – Krieg und Demokratie im Empire. Frankfurt amMain: Cam-
pus.
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pus.
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losophische Fragmente. Frankfurt: S. Fischer.
Marx, Karl (1968). Lineamenti fondamentali della critica dell’economia politica. 1857-
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— (1985). »Questionnaire for Workers«. In: Werke, Artikel, Entwürfe, Mai 1875
bis Mai 1883. Bd. 25. Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Bearbeitet von
Schwab, Herbert and Katzer, Eva and Kösling, Peer and Kozianka, Kurt. Berlin:
De Gruyter.
Negri, Antonio (1979).Marx oltre Marx – quaderno di lavoro sui Grundisse. Mailand:
Feltrinelli.
— (2019). Über das Kapital hinaus. Berlin: Karl Dietz Verlag.
Virno, Paolo (2005). Grammatik der Multitude. Untersuchungen zu gegenwärtigen
Lebensformen. Berlin: ID Verlag.
Negri und Wir: Affekt, Subjektivität und Kritik
in der Gegenwart
Ein Nachwort
Jan Slaby
»To work today is to be asked, more and more, to do without
thinking, to feel without emotion, to move without friction,
to adapt without question, to translate without pause, to
desire without purpose, to connect without interruption.«
Stefano Harney & Fred Moten (2013: 87)
Affekt Macht Netz. Der Titel dieses Bandes beschreibt ein Verhältnis und eine Ent-
wicklung. Er verweist auf das Eintreten einer neuen Intensitätsstufe der Verwo-
benheit von Macht und Subjektivität, basierend auf einer Entgrenzung netzba-
sierter Sozialität. Die Affekte – das spätmoderne Elixier menschlicher Sozialbezie-
hungen – sind zunehmend geprägt von einer maschinischen Konnektivität, die
keine Enklaven kennt und vor keiner Dimension der Existenz haltmacht. Teils
offen, teils schleichend setzt sich darüber die Kapitalisierung des sozialen wie in-
dividuellen Lebens, sämtlicher Handlungen, Ausdrücke, Regungen immer weiter
durch. Untrennbar von dieser Vereinnahmung und restlosen Abschöpfung ist die
Entgrenzung der Regierbarkeit. Noch der subtilste affektive Impuls des begeh-
rensökonomisch kartierten Subjekts bietet Angriffspunkte für Regierungsbemü-
hungen im Rahmen neuer Infrastrukturen der Kontrolle. Um die biopolitische
Konstellation der Gegenwart, das immer engere Ineinander von Kapitalisierung
und Gouvernmentalität, zu ermessen, helfen daher schon einfache Selbstbetrach-
tungen. Daran, wie wir heute arbeiten und kommunizieren, und vor allem daran,
Mühlhoff, R.; Breljak, A.; Slaby, J. (Hg.): Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie
der Digitalen Gesellschaft. transcript 2019, S. 337–351. DOI: 10.14361/9783839444399-
015.
338 Jan Slaby
wie wir begehren, hoffen und lieben, zeigt sich, wie es um die Verwertungs- und
Abschöpfungslogik der Gegenwart bestellt ist.
Erster Gegenstand dieses Nachworts ist das noch relativ neue transdisziplinä-
re Diskursfeld der Affect Studies, um dessen Potenziale für ein den genannten
Entwicklungen angemessenes Verständnis von ›Kritik‹ es hier gehen soll. Die
Affect Studies sind ein heterogenes Feld von Befassungen mit einer dynamisch-
relationalenAffektivität, die weder auf »den«Menschennoch auf eine individuelle
Psyche begrenzt ist und deren ontologischeGrundlegung auf Spinoza zurückgeht
(vor allem in der durch Deleuze kanonisierten Lesart; vgl. dazu Slaby und Mühl-
hoff 2019 sowie die Einleitung dieses Bandes). Es umfasst verschiedene kultur-
und sozialwissenschaftliche Herangehensweisen ebenso wie Arbeiten der Queer
Studies, kontinentalphilosophisch und empirisch informierte Beiträge zu lebens-
weltlichenWirkweisen neuer Technologien; zudemwartet esmit unkonventionel-
len Formen der Text- und Diskursproduktion auf. Kritiker_innen haben denAffect
Studies einen Mangel an analytischer Distanz zu den betrachteten Gegenständen
vorgeworfen (vgl. insbesondere Leys 2011 sowie Wetherell 2012). Doch gerade in
der Verwobenheit von Gegenstand und Betrachtungsweise, von Thema und Er-
fahrungshorizont der Theoretiker_in liegt aus meiner Sicht ein Spezifikum und
Wahrheitsmoment der Affect Studies. Dies möchte ich im Folgenden untermau-
ern (eine direktere Auseinandersetzung mit den genannten Kritiken findet sich
in Slaby 2018).
Affekt relational zu verstehen bedeutet, die gesellschaftliche Zirkulation von
Energien und Erregungen mit der subjektiven Verfasstheit vernetzter Individuen
kurzzuschließen. Damit rührt dieses Verständnis von Affekt an den Kern heu-
tiger Subjektivierungsverhältnisse. Das wird augenfällig bei der intensiven Bin-
dung von Individuen an prekäre und auszehrende Jobs und ebenso bei einer zu-
nehmend marktkonform verfassten Subjektivität, wie sie sich in den Praktiken
desOnlinedatings, der professionellen Selbstpräsentation in sozialenNetzwerken
oder der ständigen Abrufbereitschaft des kognitiven Prekariats zeigt (vgl. Govrin,
in diesem Band, sowie Schulz, in diesem Band). Heutige Subjekte können sich
aus den sie umgebenden Verhältnissen möglicherweise noch schwieriger lösen
als ihre ausgebeuteten Vorfahren, weil sie affektiv, also nicht bloß ökonomisch
oder kognitiv, an sie gebunden sind. Diese gegenwartstypische Konstellation lässt
sich auch an Endgeräten und Benutzeroberflächenmit Suchtpotenzial feststellen,
deren lockende Effekte Arbeit und soziales Leben immer organischer verschal-
ten (vgl. Weigelt, in diesem Band). Oft gehen diese Praktiken und Seinsweisen
mit einer ebenfalls affektiv verfassten Kehrseite einher, mit zeittypischen Formen
von Melancholie, Frust, Einsamkeit, Depression oder wechselnd starken Gefüh-
len der Überforderung, des Zurückbleibens, mit subtiler Scham oder unterdrück-
tem Zorn. Lauren Berlants Bezeichnung cruel optimism charakterisiert einen Zug
dieser gegenwartstypischen Gefühlsstruktur (Berlant 2011): das Festhalten, entge-
gen besserem Wissen, an Idealen, die längst als unerreichbar durchschaut wur-
Negri und Wir 339
den. Cruel optimism ist Chiffre einer habituell gewordenen Paradoxie gegenwärti-
ger Verhältnisse.
Viele der Autorinnen und Autoren dieses Bandes sind in die Affektuniver-
sen der vernetzten Gegenwart unmittelbar verstrickt. Für sie ist cruel optimism
zugleich Theoriefigur und existenzielles Motiv; Prekarisierung ist ihnen oftmals
nicht nur vomHörensagen bekannt.Mit Blick darauf stellt sich die Frage nach Kri-
tik undWiderstand in neuer Schärfe.Wie lässt sich angesichts eigenemBetroffen-
seins überhaupt mit Präzision bestimmen, was die gegenwärtigen Ausbeutungs-
und Abschöpfungsverhältnisse ausmacht? Für jene, die durch die alte Schule der
kritischen Theorie gegangen sind, präsentiert sich der kritische Diskurs, der im
Umkreis der Affect Studies gepflegt wird, tendenziell als diffus, unentschieden,
wenn nicht ganz und gar kraftlos. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man
einen Rückzug in private Befindlichkeiten vermuten, zudem identitätspolitisches
Klein-Klein und exzessiv mikrologische Haltungen. Wäre das alles, stünde es
schlecht um die Sache von Kritik und Widerstand in der Gegenwart. Ich möchte
im Folgenden aufzeigen, dass es sich in wichtigen Punkten anders verhält, und
damit zu einem besseren Verständnis neuer Formen von Kritik in Zeiten der
kapitalgetriebenen Digitalisierung beitragen.
Der Name Toni Negri steht für eine aktivistische Theorie, die gerade in der
eingangs skizzierten Konstellation – gesellschaftliche Entgrenzung der Arbeit
und affektive Formatierung des Intellekts – die historische Chance für einen
erfolgreichen antikapitalistischen Kampf ausmacht. Eine vernetzte und techno-
logisch selbstorganisierte Multitude soll die Waffen des Empires gegen dieses
selbst wenden und Autonomisierungsprozesse in Gang bringen, die der globa-
len Abschöpfungsmaschine die Stirn bieten. Mögen wir es auch nicht länger
Klassenkampf nennen, die Kontinuität zu früheren Formen des Ringens um die
Befreiung und Autonomisierung ausgebeuteter Bevölkerungsgruppen ist offen-
kundig. Angesichts dessen eignet sich die Perspektive Negris gut als Bezugspunkt
für die hier versuchte Bestandsaufnahme zu Affekt, Subjektivität und Kritik in
der Gegenwart.
So bildet insbesondere Negris intellektuell-aktivistische Haltung den zweiten
Gegenstand des vorliegenden Textes. Der Titel »Negri und Wir« verweist auf fol-
gende Fragen: Wie lässt sich in der Gegenwart ein dem italienischen Operaismus
vergleichbares Programm konzipieren, dass die Unterschiede der historischen
Situationen und die veränderte Lage des kritischen Bewusstseins seit den 1960er
Jahren berücksichtigt? Welche Aspekte der Programmatik Negris und seiner Mit-
streiter_innen sind aktualisierbar, welche eher hinderlich im Bemühen um eine
zeitgemäße kritisch-transformative Perspektive auf Arbeit, Macht und Subjekti-
vierung? Gibt es Formen des theoretisch informierten Aktivismus, die nicht voll-
ends anachronistisch oder hoffnungslos anmuten? Welche Rolle kommt dabei
dem Konzept des relationalen Affekts und der dynamischen Affizierungsverhält-
nisse zu?
340 Jan Slaby
Insbesondere das vorstehende Interview mit Negri liefert wichtige Stichwor-
te für dieses Nachwort. Die Auskünfte des Veteranen europäischer Gegenkultur
und antikapitalistischer Theoriebildung rufen imZeitraffer wichtige Stationen so-
zialer Kämpfe und kritisch-theoretischer Interventionen des 20. Jahrhunderts in
Erinnerung. Eine charakteristische Gestalt kritischen Denkens und emanzipato-
rischer Praxis kommt darin noch einmal zur Geltung und reklamiert ihre Dring-
lichkeit. Es lässt sich nicht bestreiten, dass Toni Negri, obschon Jahrgang 1933, in
der netzkapitalistischen Gegenwart angekommen ist. Er setzt weiterhin Akzente
in linkstheoretischen Debatten, und zwar in einer Form, die zugeschnitten ist auf
die Arbeits- und Lebenswelten des netzbasierten Postfordismus.
Freilich werden durch den Abstand der Jahrzehnte auch Bruchlinien sichtbar,
die auf Seiten der später Geborenen neben Interesse auch Skepsis und konträre
Intuitionen mobilisieren. Vor dem Hintergrund großer Bewunderung für die in-
tellektuelle Vitalität des bei Erscheinen dieses Buches 86-Jährigen,möchte ich auf
den folgenden Seiten die Zentralität des Paradigmas der Arbeit in Negris Denken
hinterfragen. Auf dieser Basis stelle ich anschließend Überlegungen dazu an, wie
ein Affektverständnis aussehen könnte, das mit dem Produktionsparadigma der
Moderne bricht. Nachdem ich dafür zunächst das klassische Bild einer widerstän-
digen Subjektivität kritisiere, die bei Negri zentral bleibt, und dazu eine Alterna-
tive vorschlage, schließe ich mit Bemerkungen zu einer intellektuellen Haltung,
die ich in Teilen der heutigenAffect Studies sowie in einigen der hier abgedruckten
Beiträge angedeutet sehe. Es ist diese Haltung, die uns am Ende wieder zurück-
führt an den Glutkern dessen, was Toni Negri als kritischen Intellektuellen und
Aktivisten ausmacht.
Arbeit heute: Die Fabrik in uns allen
Es fällt schwer, sich das Ausmaß der Transformationen klar zu machen, die sich
auf dem Feld der organisierten Arbeit – ihrer praktischen Wirklichkeit sowie kul-
tureller Virulenz – seit den für Negri prägenden 1960er Jahren zugetragen ha-
ben. Das von Marx prognostizierte Dilemma der Arbeit hat sich heute vollends
realisiert (vgl. dazu und zum Folgenden Postone 1993). Im selben Maße, wie
die menschliche Industriearbeit aus Sicht des Produktionsprozesses überflüssi-
ger wird, wird Arbeit insgesamt gesellschaftlich, kulturell und subjektiv aufgewer-
tet. Auch ohne eine detaillierte Rekapitulation der Marx’schen Arbeitswerttheorie
wird diese systemische Tragik offenkundig: Solange (abstrakte) Arbeit das allei-
nige Maß des gesellschaftlichen Werts bleibt, führt technologischer Fortschritt in
der Produktion gerade nicht zu der dadurch prinzipiell ermöglichten Befreiung
einer Mehrheit vom Joch einer das Leben bestimmenden Lohnarbeit. Im Gegen-
teil, als Kulturwert und Schablone des Subjektseins wird Arbeit erst jetzt zum
Maß aller Dinge. Alle durch technologischen Fortschritt gewonnenen Freiräume
werden unversehens, aus systemimmanent schlüssigen Gründen, in den Dienst
Negri und Wir 341
intensivierter Kapitalverwertung gestellt. Diese vonMarx visionär umrissene Kon-
stellation führt heute an den größer werdenden Rändern der Arbeitsgesellschaft
zu brutaler Ausgrenzung, im globalen Süden zu Verelendung in einem Umfang,
der für Vertreter_innen westlicher Mittelschichten nahezu unvorstellbar ist. Zu-
gleich kommt es im noch einigermaßen wohlsituierten Kern westlicher Demo-
kratien zur Verinnerlichung und Verabsolutierung des arbeitsbasierten Produkti-
vitätsethos. Du bist, was Du tust – das heißt, was und wie Du arbeitest. Und wehe,
dabei läuft etwas schief. Dann drohen Sanktionen von allen Seiten. Ganz beson-
ders hart gehen die Betroffenen indes mit sich selbst ins Gericht. Scham und
Schuldgefühle, Selbstzweifel, stete Unrast, hartnäckiges Sich-selbst-Anspornen
auch entgegen klarsten subjektiven Evidenzen und Gefühlen, die in ganz andere
Richtungen deuten. Für dieMehrheit, zumindest hierzulande, die sich über einen
Mangel an Arbeit noch nicht beklagen kann, bezieht sich dieser innere Druck auf
die Performance, auf das Fortkommen, auf Output und Standing, auf Fragen von
berufsbedingtem Prestige und Status. Je seltener industrielle Produktionsstätten
in denwestlichenNationenwerden, desto inniger imaginiert sich die heutige Sub-
jektivität in den Begriffen und Affekten der gesellschaftlich approbierten Produk-
tivität: der Fabrik in uns allen.
Die von Negri beschriebene Diffusion der Arbeit in die Gesellschaft, die seit
den 1970er Jahren unter anderem als Strategie des Kapitals gegen Kritik, Streiks
und Aufstände betrieben wurde, muss also auch als Diffusion von Arbeit, Arbeits-
ethos und Produktivitätsparadigma bis in die feinsten Kapillaren der modernen
Subjektivität verstanden werden. Und dies nicht nur im von den Operaist_innen
primär betonten Sinne, dass heute jeder seelischeZustand, jede soziale Praxis und
Lebensform, ja selbst jede noch so irre Masche, jeder Habitus und Persönlich-
keitstyp faktisch kapitalkonvertibel ist und aktiv vereinnahmt wird (vgl. Berardi
2009) – sondern vor allem auch im Sinne eines Ethos werktätiger Bereitwilligkeit.
Ein marktkonformer Produktivismus dominiert als Lebensform und Seinsweise.
Vielfalt der Formen, Einklang der Tendenz: Die Arbeit mag sich grundlegend ver-
ändert haben, sie gibt aber als Ideal und Quelle von Wert gebieterischer denn je
den Ton an.
Marx, der entgegen dem vulgärmarxistischen Mythos nicht die Befreiung (ge-
schweige denn »Diktatur«), sondern die Abschaffung des Proletariats und der
Lohnarbeit insgesamt forderte, hätte die heutigen Auswüchse einer Subjektivie-
rung durch Arbeit als Bestätigung seiner These verstanden, wonach das sich his-
torisch wandelnde Kapital immer genau die Subjekte hervorbringt, die es für sein
reibungsloses Prozessieren benötigt (vgl. Postone 1993). Damit wird die Frage
dringlich, was sich diesemDominantwerden oder Dominantbleiben von Arbeit in
der heutigen Situation entgegensetzen lässt. Hier zeigt sich eine erste bedeutende
Bruchlinie, die uns – die Autorinnen und Autoren dieses Bandes, aber auch eine
wachsende Zahl anderer Vertreter_innen der Affect Studies – von Negri trennt.
Für Negri stehen die Arbeit selbst und die Idee gesellschaftlicher Produktion
nicht in Frage. Es geht ihm weiterhin darum, sich mit den Arbeitenden, so sehr
342 Jan Slaby
sich deren Klassenzusammensetzung und die Form der jeweils zu verrichtenden
Arbeit auch verändert haben mag, zu solidarisieren und Organisationsformen
herbeizuführen, in denen sich die Erträge der gesellschaftlichen Arbeit gerech-
ter verteilen lassen. Dass Arbeit zentral für gemeinschaftliches wie individuelles
Leben ist, wird damit nicht in Frage gestellt. Offen spricht Negri aus, dass die von
ihm anvisierte Form des Widerstandes in vom Kapital vorgezeichneten Bahnen
verläuft, also als direkte Gegenbewegung verstanden werden kann: Jede Beherr-
schung gehe mit Widerstand einher; der Widerstand erstrecke sich ebenso weit
wie das Kapital (vgl. in diesemBand, S. 329). An anderer Stelle heißt es, es komme
darauf an, die neuen Werkzeuge – Algorithmen, Kommunikationsmittel, Platt-
formen etc. – zu verstehen, um sie sich wieder aneignen zu können, um daraus
»etwas zu machen« (vgl. in diesem Band, S. 330). Damit wird das Produktivitäts-
ethos nicht gebrochen, sondern im Einklang mit den historischen Transformatio-
nen und Modi der Effektivitätssteigerung, die dessen Entwicklung und Ausdiffe-
renzierung prägen, neuerlich affirmiert. Negri betont die Vorzüge der Kooperati-
on und dezentralen Organisation, des Einbezugs und der Anerkennung von Ar-
beitsformen außerhalb klassischer Lohnarbeit (wie beispielsweise kulturelle Ar-
beit) sowie den aus seiner Sicht immensen Wert immaterieller, also kognitiver
und affektiver Arbeit, die durch die neuen Kommunikations- und Netzstrukturen
der Gegenwart zunehmend ermöglicht werde. Doch lässt sich die »Fabrik in uns
allen« tatsächlich in einem nachhaltig kollektiven und emanzipatorischen Sinn
in Besitz nehmen? Ist der homo laborans als solcher emanzipationsfähig? Kann
genuine Befreiung im Windschatten des Kapitals, seiner Produktionslogik und
unerbittlichen Akzelerationstendenz gelingen? Das Credo der (sich freilich erst
abzeichnenden) kapitalismuskritischen Fraktion der Affect Studies lautet anders:
Keine Befreiung der unter der Herrschaft des Kapitals Unterdrückten – der Pre-
karisierten, Verelendeten, physisch und mental Ausgezehrten – ohne vorherige
Selbstbefreiung des Denkens und sozialen Lebens von der Dominanz der Arbeit;
Selbstbefreiung von einem bis ins Innerste nach dem Produktivitätsparadigma
gemodelten Horizont des Denkens, Fühlens und Seins.
Damit ist eine Aufgabe umrissen, die sich im Rahmen dieses kurzen Textes
nicht vollständig darlegen, geschweige denn bewältigen lässt. Hiermöchte ich nur
einen Aspekt etwas näher beleuchten, nämlich die Frage nach einem Verständnis
von Affekt, das diesem kritischen Unterfangen angemessenen wäre.
Affekt und Subjektivität heute:
Von der Produktion zur Dispersion
Von Negri etwas über Affekte zu lernen kann demnach nicht heißen, einen An-
satz fortzuschreiben, der dem produktivistischen Paradigma der entfesselten eu-
roatlantischenModerne verhaftet bleibt. Affekte sollten nicht einfach als Ressour-
Negri und Wir 343
cen im Interaktionsgeschehen, als Energieträger produktiver Sozialbeziehungen
gedacht werden. Denn damit würden sie sich umstandslos von Prozessen ge-
sellschaftlicher Arbeit einverleiben lassen. Ein ungebrochen an den dynamischen
Substanzmonismus der Spinoza-Deleuze-Tradition anschließendes relationales
Affektverständnis, das Wirkverhältnisse und produktive Machtbeziehungen be-
tont, kann sich leicht von der totalen Mobilmachung der Moderne vereinnahmen
lassen. Die Spinozisten Hardt und Negri kommen inMultitude (2004) einem sol-
chen Verständnis nahe; Affekte werden dort als Triebkräfte des gesellschaftswei-
ten Produktionsprozesses gefeiert. Die dort betonte affektbasierte Sozialität trägt
die Züge der Arbeit, in all ihren Spielarten. Nicht zufällig ist ein wichtiges in die-
sem Zusammenhang bemühtes Konzept das der »affektiven Arbeit«.
Von Negri etwas über Affekte zu lernen heißt im Gegensatz dazu, Anleihen
bei einem anderen seiner von Spinoza entlehnten Begriffe zu machen: dem Kon-
zept derMultitude. Dieser Begriff vermag es, eine Gefahr klassischer Verständnis-
se von Gemeinschaft, Gruppe, Nation oder Volk zu bannen, nämlich die Gefahr
der Homogenisierung und Totalisierung einer Menge vonMenschen zu einer ge-
schlossenen Einheit. Das bietet ein Muster dafür, wie ein Begriff des Affekts zu
konzipieren ist, der nicht noch mehr Wasser auf die Mühle einer kapitalistisch
entfesselten Moderne gießt. Das Konzept der Multitude enthält eine komposi-
torische Vorkehrung gegen die Vereinnahmung der Menge unter dem Zeichen
des Einen (vgl. in diesem Band, S. 326, sowie Saar 2013: 350–368). Multitude,
das heißt: offenes Kollektiv, ungefügte Menge; das ungeordnete Viele, das sich
aufgrund seiner Verteilt- bzw. Zerstreutheit den Vereinnahmungsversuchen zen-
tralisierender Mächte entzieht. In ähnlicher Weise wäre ein Affektbegriff zu prä-
gen, der Vorkehrungen zur Abwehr des Paradigmas von Arbeit und Produktion
enthält, und der zugleich den immer invasiveren Zugriffen von Regierungstech-
niken etwas entgegensetzt, der affektive Milieus und affektive Subjektivitäten vor
lückenloser Vereinnahmung schützt. Das wäre ein Affektbegriff, der sowohl das
Kraftartige und Produktive von Spinozas Dynamizismus zurückschraubt und der
kapitalistischen Verwertungslogik entzieht, als auch die Lehre des Konzepts der
Multitude nicht nur übernimmt, sondern radikalisiert. Das heißt: Heterogenität,
Zerstreuung, Flüchtigkeit müssten an die Stelle einer teleologischen Zentriert-
heit, Hierarchisierung, Einstimmigkeit und Eindeutigkeit treten.
Anhaltspunkte dafür, wie das konkret umzusetzen wäre, lassen sich einem
Strang neuerer Arbeiten der Affect Studies entnehmen. Die oben angesproche-
ne Figur des cruel optimism von Lauren Berlant gehört zu einer jüngeren Strö-
mung des Nachdenkens über Affekt, in der es um die affektive Textur alltäglicher
Verweigerungs- und Ausstiegstendenzen geht. Lauren Berlant (2011), Sianne Ngai
(2007), Kathleen Stewart (2007) und Ann Cvetkovitch (2012) – um nur einige der
prominenteren Vertreterinnen dieser Richtung zu nennen – beschreiben Konstel-
lationen affektiver Blockade, Stagnation und Leere in von Austerität und Neolibe-
ralismus verwüsteten Regionen undMilieus und somit Spielarten einer charakte-
ristischen affektiven Textur der Gegenwart. Diese Affektlagen, Atmosphären und
344 Jan Slaby
Haltungen stehen in Kontrast zu typisch modernen Figuren von Initiative und
Selbstbestimmung, von Empowerment und Agency. Sie passen damit auch nicht
in das klassische Schema einer Thematisierung problematischer Affekte, da hier
nicht sogleich eine Wende aus dem leidvollen Pathos ins (vermeintlich) Positive
angestrebt wird, keine »Lösungen« oder Auswege geboten werden. Zwar werden
die genannten affektiven Tendenzen und Formationen der Gegenwart durchaus
als primär negativ, leidvoll und somit als etwas zu Vermeidendes beschrieben.
Jedoch verweilt die theoretische Betrachtung zunächst im Schwingungsbereich
dieser Affektlagen, um ein fokussiertes Aufmerken, einHorchen auf das, was sich
an nuanciertem Gehalt in diesen Atmosphären und affektiven Texturen manifes-
tiert, zu ermöglichen. Dem von Berlant für stagnierende Milieus diagnostizierten
impasse entspricht auf Seiten der Theorieperspektive ein begriffliches Innehalten,
ein Verweilen in der pathischen Zuständlichkeit und fahlen Indifferenz ausweg-
loser Lagen. Auf diese Weise wird eine Alltagspoetik der Affekte angestoßen, die
auf Distanz geht zu klassisch-humanistischen und konventionell politisierenden
Interpretationen.
Nun sind die genannten Arbeiten nicht direkt und bewusst als Gegengift ge-
gen das moderne Ethos der Produktivität angelegt. Die Autorinnen verfolgen an-
dere Ziele als die hier umrissenen. Eher geht es ihnen um feinsinnige Deutungen
zeittypischer Stimmungslagen, kultureller Formen und ästhetischer Tendenzen,
die keinem Masterplan unterstehen. Das sich dabei abzeichnende begriffliche
Tableau, das die Rubrik »Affekt« in der Gegenwart konturiert, enthält sehr un-
terschiedliche Elemente. Viele Vertreter_innen der Affect Studies verstehen ihre
Arbeit als einen Bruch mit dem Projekt einer kritischen Theorie oder mit Kritik
insgesamt. Entscheidend aus meiner Sicht ist eine neue Perspektive auf Affekti-
vität als Dimension von Wirklichkeit und als Epochensignatur der globalen Ge-
genwart. Affekt wird in diesen Arbeiten als ein Schwebezustand zwischen Selbst
und Umgebung anvisiert, jenseits der Dualität von passivem Erleben und täti-
ger Initiative, überhaupt außerhalb des Zugriffsbereichs eines selbstidentischen
handlungsfähigen und handlungswilligen Subjekts. Damit stehen die genannten
affektiven Texturen und Formationen in ihrer unentschiedenen Figuration für ein
kulturelles und theoretisches Innehalten undmitunter für einenMoment, in dem
auch sehr radikale Optionen dämmern.
Ich möchte diesen Aspekt festhalten und weiterführen, indem ich die Frage
nach demOrganisationstyp von Subjektivität aufwerfe, der dieses Affektverständ-
nis informiert. Verständnisse des Affektiven verweisen jeweils implizit auf eine
Subjektvorstellung – auf eine Organisationsidee des Selbstseins im Hintergrund
des Affektgeschehens. Innerhalb der Theorie wirkt dieser jeweilige Subjektivi-
tätstypus formgebend auf das Denken von affektiven Relationen, beispielsweise
durch die Vorgabe einer Hierarchie, die affektive Impulse und Tendenzen ordnet,
durch eine konkrete Handlungsorientierung des Affektiven oder durch spezifi-
sche Modalitäten von Zeitlichkeit, in denen sich Affektivität abspielt. Somit bietet
die Theoriestelle der Subjektivität einen komplexen Hebel, mit dem sich Affekt-
Negri und Wir 345
verständnisse justieren lassen. Angelehnt an Félix Guattari (2014 [1992]) lässt sich
von der »Metamodellierung von Subjektivität« sprechen: Dabei geht es um den
Entwurf von Organisationsideen des Subjekts, die in einem bestimmten Milieu
die Ausprägung von Subjektivität und die Vollzüge subjektiven Seins bestimmen.
Diese Organisationsideen tragen häufig die Züge jener politischen Formationen,
von denen sie soziohistorisch geprägt wurden. Es sind also bestimmte Regie-
rungsarten, mit denen die »regierte Psyche« strukturell korrespondiert. Ein klas-
sisches Beispiel ist der autoritäre Charakter im totalitären Staat. Die Perspektive
derMetamodellierung eröffnet dieMöglichkeit, solche politischen Korresponden-
zen früh zu antizipieren und Vorkehrungen zu treffen, damit Subjektivität nicht
zum Spiegelbild einer dominanten Herrschaftsform wird. Es kommt dann dar-
auf an, eine begriffliche Konstellation herzustellen, die ihren Gegenstand so weit
entfernt wie möglich von formierenden Zugriffen durch Politik und Governance
positioniert.
Angestrebt ist die Erschwerung oder Vereitelung von Regierbarkeit durch
die In-Spiel-Setzung eines Kompositionstyps von Subjektivität, der den Zugrif-
fen stratifizierender Mächte und kapitalistischer Verwertung möglichst wenige
Angriffspunkte bietet. Mir schwebt hierzu, angelehnt unter anderem an Félix
Guattari (2014 [1992]) und María Lugones (1994), ein soziales Dispersionsmodell
von Subjektivität vor. Dieses hat zwei Leitmotive: Erstens steht in ihm Sozialität
vor Individualität, und zwar in einem ontologisch grundlegenden Sinn als Kon-
stitutionsbedingung des Selbstseins, woraus aber auch eine ethische und existen-
zielle Priorisierung von Verbundenheit und Solidarität abgeleitet wird (Näheres
dazu unten). Zweitens baut das Dispersionsmodell, wie der Name schon sagt,
auf eine Art Zerstreutheit oder »Verteiltheit« – auf ein Jenseits von Organisation.
Zerstreutheit bedeutet hier sowohl interne Pluralität ohne Zentrierung auf einen
Kern, also Heterogenität als positiven Modus des Selbstseins, als auch eine »nach
außen« gelebte Pluralität, manifestiert durch vielfältige Bezüge und Verortungen.
Die dispersive Subjektivität ist an unterschiedliche Bezugsuniversen und existen-
zielle Territorien angeschlossen, ohne diese Aktivitätsfelder einem übergreifen-
den Plan oder Prinzip zu unterstellen. Zugleich unterliegt das Dispersionsprinzip
selbst einem heterogenetischen Vorbehalt: Es soll nicht gebieterisch Zerstreuung
und Pluralisierung vorschreiben, so dass bloß ein neuer Zwang an die Stelle des
früheren Zentrierungsgebots gesetzt würde. Vielmehr geht es um Offenheit,
Nicht-Bestimmtheit im Herzen des Subjekts selbst. So werden Momente von
Stagnation, Fixierung oder reduktive Selbstentwürfe nicht etwa ausgeschlossen
oder pathologisiert, sondern verbleiben im nun deutlich ausgeweiteten und we-
niger gebieterischen Rahmen des Zulässigen. Damit wird der Zwangscharakter
von Subjektivität an sich, das Gebot der Form im Subjekt, zumindest der Ten-
denz nach aufgebrochen. Die beiden Leitmotive des Modells stehen in einem
Zusammenhang dadurch, dass die Preisgabe von Identitätszwang und Zentriert-
heit im Subjekt die Entfaltung und Ausgestaltung einer grundlegenden sozialen
Verbundenheit begünstigen kann.
346 Jan Slaby
Wichtig imHinblick auf ein Affektverständnis im Kontext von entgrenzter Re-
gierbarkeit ist, dass Flüchtigkeit und Zerstreuung dort einkehren, wo Regierung
primär ansetzt: bei der Festlegung auf Form, Richtung und Ziele eines zeitlich
stabilen und inhaltlich geschlossenen – also stabil individuierten – Subjekts. In Be-
zug auf die Ausprägung von Affektivität bedeutet dies atmosphärische Offenheit
des Fühlbaren im Vorfeld von Initiative, Programm oder Plan. Gefordert ist, das
transindividuelle Affektgeschehen aus dem Verfügungsbereich handlungsorien-
tierter, innerlich »gesammelter« und teleologisch verfasster Subjekte herauszulö-
sen. Es bedeutet, Affekte als Wirkfelder und Trajektorien des Anderswerdens und
des Heraustreibens aus etablierten Gefügen zu verstehen. Dies ist nicht gemeint
im Sinne eines eskapistischen Ästhetizismus und Passiv-Bleibens, sondern als
dissidente, flüchtende Initiative, die mit den vorgegebenen Mustern kapitalkon-
vertibler Existenz bricht – und die diesen Akt des Bruchs, der kaum je vollständig
gelingt, wieder und wieder vollzieht. Zudem bedeutet es, eine elementare sozia-
le Verbundenheit zu kultivieren und zu leben, die im Vorfeld von Individuation
und unabhängig von individueller Zielorientiertheit die lebendige Substanz der
Subjektivität ausmacht. Subjektivität ist diesem Verständnis zufolge gerade kein
individuelles, sondern ein transindividuelles Geschehen (vgl. Balibar 1997).
Dies ist nicht der Ort, die erforderliche philosophische Diskussion um den
Kompositionstyp permissiver oder gar »chaoider« Subjektivitäten in der gebo-
tenen Ausführlichkeit auszutragen. Eine solche Diskussion scheint auch inso-
fern dringlich zu sein, als die hier umrissene Konstellation an heute notorische
Subjektivierungsformen der digital natives erinnern mag. In der Tat gibt es Be-
rührungspunkte mit Formen polyphoner und assoziativer Subjektivierung in
heutigen netzbasierten Arrangements (die Guattari schon Anfang der 1990er
Jahre in verstreuten Ausführungen über partizipative Medien herbeisehnte; vgl.
2014 [1992]: 13). Allerdings bestehen auch bedeutende Unterschiede. Die Zer-
streutheit des Modellsubjekts aus der »Generation Facebook« hat wenig Wider-
ständiges an sich, ist weitgehend vom Abschöpfungsdispositiv der Programm-
industrien auferlegt und geht nicht selten mit Formen einer individualistischen
Selbstverwirklichungsideologie einher. Das »Nicht-regiert-werden-Wollen« hat
in diesem Kontext also andere Quellen, Voraussetzungen und Ziele, als es in
der hier beschriebenen Modellierung von pluraler und zerstreuter Subjektivität
angedacht ist. Auch entspricht die in heutigen Online-Umgebungen kultivierte
netzbasierte Interaktivität nicht ohne Weiteres jener sozialen Verbundenheit und
Solidarität, die ich als erstes Leitmotiv des Dispersionsmodells benannt habe.
Bestenfalls gilt, dass heutige Netzumgebungen und deren Praxisformen einer
sozial verfassten, dezentrierten und dissidenten Subjektivierung nicht entgegen-
stehen, sondern ihr Möglichkeiten der Realisierung und Ausgestaltung bieten.
Inwiefern diese Möglichkeiten aber tatsächlich ergriffen werden, in welchem
Maße es dagegen eher zu neuen Spielarten einer Subjektivierung in den Bahnen
von Arbeit, Produktivität und Konsumismus kommt, ist eine Frage, die nur auf
der Basis detaillierter Analysen beantwortet werden kann.
Negri und Wir 347
Das, was mir vorschwebt, steht in vielfältiger Resonanzmit Konzeptionen von
»Exodus« (Virno 2004 [2001]), mit der »maschinischen Heterogenese« von Sub-
jektivität (Guattari 2014 [1992]), mit der feministischen und postkolonialen Kritik
an Einheits- und Reinheitskonzeptionen des Subjekts (Lugones 1994), mit tech-
nofeministischen Konzepten einer nicht-normativen Körperlichkeit (Haraway
1991), sowie mit nicht-hierarchischen Begriffen wie agencement oder Fluchtlinie
(Deleuze und Guattari 1977 [1972]). Wesentlich sind zudem Bezüge zu feminis-
tischen Spinoza-Deutungen, die eine grundlegende Relationalität und Sozialität
von Ressourcen und Prozessen der Subjektivierung betonen, gerade auch mit
Blick auf ein relationales Affektverständnis, das ontologisch im Vorfeld der Her-
ausbildung und Stabilisierung von Subjektpositionen verortet ist (Armstrong
2009, Sharp 2011; siehe auch Mühlhoff 2018 sowie Wuth, in diesem Band).
In unterschiedlicher Form geht es dabei jeweils auch um Ausbrüche aus der
erzwungenen, das Bestehende affirmierenden Alternative von direkter Oppositi-
on und Totalausstieg aus herrschenden Verhältnissen. Denn die Alternative zwi-
schen Opposition oder Ausstieg tastet die Prinzipien der vorherrschenden pro-
duktivistischen Logik nicht an, sondern kehrt nur die Vorzeichen um, wie von
Negri im obigen Interview bestätigt. Dagegen habe ich die Konturen eines Affekt-
begriffs angedeutet, der Formen einer »diffundierenden« internen Vereitelung,
Unschädlichmachung und Außer-Spiel-Setzung von Operationen des Regierens
und Regiertwerdens begünstigt. Unausgeführt bleiben an dieser Stelle die hierfür
ebenfalls wichtigen Bezüge zuArbeiten derBlack Studies, etwa jenen FredMotens,
dessen Variationen der black aesthetic tradition darauf abzielt, blackness als regierte
Unregierbarkeit zu exponieren: »[B]lackness means to render unanswerable the
question of how to govern the thing that loses and finds itself to be what it is not«
(Harney und Moten 2013: 49). Motens Arbeiten haben Vorbildcharakter für das
hier Versuchte, da darin die dominante Subjektvorstellung der euro-modernen
Perspektive und die damit verbundene Idee von Politik auf radikale und zugleich
reflektierte Weise destruiert wird (vgl. Moten 2018).
348 Jan Slaby
Unterwegs zur Unlesbarkeit: Kritik als Desartikulation
Sich unregierbar machen: konsequent fliehen – aus der Arbeit, aus der festen
Form, aus sich selbst. Ich möchte mit Blick darauf einen Prozess der Destrukti-
on und Desartikulation anstoßen. Die bisher umkreisten Motive des Bruchs mit
und Abwendens von denHauptlinien der produktivistischen und subjektzentrier-
ten Moderne verdeutlichen die Art von Kritik, die in Teilen der Affect Studies, in
einigen Beiträgen dieses Bandes und in diesem Nachwort anvisiert wird. Kritik
meint hier den Abbau von Sinnzusammenhängen und vonMustern der Verständ-
lichkeit, die für gesellschaftliches Funktionieren und damit konforme Subjekti-
vierungsweisen maßgebend sind. Angestrebt ist die Unschädlichmachung von
Denkformen und Seinsweisen und eine intellektuelle »Entwöhnung« – ein un-
learning und unthinking – von Mustern und Routinen, die das Denken, Streben
und Handeln in problematischen Bahnen halten (zum Prozess des »unthinking«
von Herrschaftsdenken siehe Singh 2018). In Bezug auf ein Paradigma der werk-
tätigen Produktivität als gesellschaftliches Credo und subjektive Sinnquelle, und
mit Blick auf hierarchische und selbstidentische Subjekte habe ich oben angedeu-
tet, was das bedeuten könnte.
Ein praktischer Aspekt einer solchen kritischen Haltung liegt in der Abwehr
einer Reihe von individualethischen und politischen Imperativen, etwa dem Ge-
bot der Selbstverbesserung (mit der impliziten Voraussetzung eines Defizits oder
gar einer Pathologie auf Seiten der Adressat_innen), dem Aufruf zur Verantwort-
lichkeit (sofern diese lediglich auf Komplizenschaftmit unterdrückenden Verhält-
nissen hinausliefe) oder der Forderung nach politischer Organisation (die verlan-
gen würde, eine Form genau jener stratifizierenden Gewalt an sich selbst zu ver-
üben, die eigentlich gerade abgewehrt werden soll). Ebenfalls Ziel des Rückbaus
wären Gebote öffentlicher Kommunikation, Praktiken der Bekenntnis und der
Sichtbarkeit, vor allem dort, wo sich diese auf die Bekundung und Kultivierung
von »Vorlieben« und »Interessen« beziehen. Die dadurch ermöglichte Lesbar-
keit auch des Abweichenden, Noch-nicht-Normalisierten führt den hegemonia-
len Mächten umstandslos neues Material zu – leicht zu verarbeitender Input für
Regierungsbemühungen und Policy-Initiativen von oben. Auch in diesem Punkt,
in der Aussetzung einer heute notorischen Gesprächigkeit und eines verbreite-
ten Exponierens subjektiver Vorlieben und Anliegen, besteht Einvernehmen mit
den Autoren der Undercommons, Stefano Harney und Fred Moten: »When what
emerges from below is interests, when value from below becomes politics from
below, self-management has been realized and governance has done its work«
(Harney und Moten 2013: 55). Dagegen wäre ein Ethos der Schweigsamkeit und,
grundlegender noch, der Selbst-Intransparenz zu kultivieren. Im Sozialenmüsste
diesmit demVerzicht auf invasives Nachspüren,Wissenwollen, Festlegen der An-
deren auf Identitäten, Vorlieben, Perspektiven einhergehen. Dagegen stünde eine
Haltung des Gewährenlassens, der Nachsicht und Rücksicht. Kritik als Desartiku-
lation bestünde hier, wie auch bei den vorher angesprochenen Punkten, weniger
Negri und Wir 349
in einer direkten Opposition zu den üblichen Routinen als in einem langsamen
Entzug, einem Abzug von affektiven Besetzungen sowie im Bemühen um Auflö-
sung der Sinngrundlagen der genannten Gebote, Imperative und Gepflogenhei-
ten.
Die letzten Zeilen dieses Nachwortes führen uns zurück zu Toni Negri. Unver-
zichtbar für jede Form von Kritik ist die Haltung, das gelebte Ethos, in dem Kritik
lebenspraktisch verwurzelt ist. Negri mag die hier entfaltete inhaltliche Perspek-
tive nicht in jeder Hinsicht teilen. Was aber seine intellektuelle Haltung angeht,
hat er für das hier Umrissene Vorbildcharakter. Das umfasst mindestens zwei
zentrale Aspekte.
Der erste Aspekt von Negris Haltung ist ein konsequentes Bekenntnis zur
Solidarität und sozialen Verbundenheit mit Ausgebeuteten, Unterdrückten, pre-
kär Existierenden. Diese »primäre Sozialität« Negris – eine Verbundenheit im
Vorfeld konkreter Programme, Inhalte und Aktionen – ist denkbar weit entfernt
von intellektuellen Solidaritätsadressen aus der Distanz akademischer Enklaven.
Negris Haltung umfasst eine elementare lebensweltliche Verbundenheit. Sein
Standpunkt ist der eines genuin eingebetteten Intellektuellen; seine Forschung
ist Mit-Forschung, sein Denken ein thinking in concert. Das wird etwa augenfällig
in der Praxis der enquête (vgl. in diesem Band, S. 317, 321), der kritischen Unter-
suchung, mit der Negri und andere die Lebens- und Arbeitsbedingungen jener
Menschen zu verstehen trachten, deren Emanzipation vom Joch ausbeuterischer
Verhältnisse angestrebt ist. Noch deutlicher kommt das Gemeinte in einem, wie
ich es nennen möchte, Theoriegestus der Wärme zum Ausdruck. Wenn ich recht
sehe, würde Negri niemals den Zusammenhalt der Bewegung um höherer Ideale
oder politischer Ziele willen preisgeben. Lieber gemeinsam untergehen als die
Bande einer gewachsenen Sozialität aufkündigen. Dieses tendenziell antipoliti-
sche Bekenntnis zum Sozialen diesseits von Zielen, Strategien, Idealen oder Zu-
kunftsvisionen markiert ein Moment in der ethischen Perspektive Negris, das
auch für die hier angezielte Idee von Kritik eine wichtige Orientierung ist. Damit
ist nicht zuletzt eineWarnung formuliert, vielleicht sogar so etwas wie ein Leitbild
der Kritik: Möge Kritik nicht jenes soziale Leben gefährden, das zu verteidigen sie
einst angetreten war.
Der zweite Aspekt ist Negris Haltung als Intellektueller und als Kämpfender,
als Aktivist im Ringen um gerechte Verhältnisse angesichts der Übermacht des
Kapitals. Wie auch in diesem Band deutlich wird, hat Negri über die Jahre nichts
von seiner aktivistischen Insistenz und Kampfbereitschaft eingebüßt. Zu diesem
Aspekt seiner Haltung gehört auch eine unerbittlich realistische Einschätzung
des Einflusses, der Effektivität und Allgegenwart des Kapitals, dazu gehören il-
lusionslose Bestandsaufnahmen und eine fortgesetzte Lernwilligkeit bezüglich
gegenwärtiger Verhältnisse, Arbeits-, Produktions- und Lebensbedingungen. Es
weht nicht der kleinste Hauch von Resignation durch Negris Ausführungen. Dies
ist streng zu unterscheiden von einer Haltung und einem Diskurs der Hoffnung,
der sich in seichten Visionen einer besseren Zukunft ergeht. Diese ansteckende
350 Jan Slaby
Vitalität, diese Heiterkeit – selbst auf verlorenem Posten – ist ein weiterer We-
senszug einer Spielart von Kritik, die ohne Ausflüchte und Beruhigungen aus der
Immanenz des generellen Antagonismus operiert.
Der intellektuell-aktivistische Gestus Negris erinnert von fern an Worte Wal-
ter Benjamins, mit denen dieser eine latente Dimension des Klassenkampfes be-
schreibt.Was auch immerman zu der folgenden Passage aus den »Geschichtsphi-
losophischen Thesen« noch sagen möchte, im Kern verweist uns Benjamin hier
darauf, dass es bei allen inhaltlichen Differenzen eine grundlegende Ebene vitaler
und affektiver Widerständigkeit gibt, eine Zuversicht und Energie, deren Wirken
bedeutender ist als konkrete Programme, deren Erschöpfung sich entsprechend
umso verheerender auswirken würde:
»Der Klassenkampf, der einem Historiker, der an Marx geschult ist, immer vor Augen steht, ist
ein Kampf um die rohen und materiellen Dinge, ohne die es keine feinen und spirituellen
gibt.Trotzdem sind diese letzteren im Klassenkampf anders zugegen denn als die Vorstellung
einer Beute, die an den Sieger fällt. Sie sind als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als
Unentwegtheit in diesem Kampf lebendig, und sie wirken in die Ferne der Zeit zurück. Sie
werden immer von neuem jeden Sieg, der den Herrschenden jemals zugefallen ist, infrage
stellen.« (Benjamin 1965: 80)
Mögen uns in diesem Sinne Zuversicht, Mut, Humor und Unentwegtheit beglei-
ten in den kommenden Auseinandersetzungen über dieMöglichkeiten von Leben
und Überleben in der digitalen Gesellschaft.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Informationen zu den Herausgeber_innen
Rainer Mühlhoff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich
1171 »Affective Societies« an der Freien Universität Berlin. Seine Schwerpunkte in
Forschung und Lehre liegen im Bereich Affekttheorie, kritische Sozialtheorie der
digitalen Gesellschaft, Technik- und Medienphilosophie. Er studierte Mathema-
tik, theoretische Physik, Philosophie und gender studies in Heidelberg, Münster,
Leipzig und Berlin. Er ist der Autor von »Immersive Macht. Affekttheorie nach
Spinoza und Foucault« (Campus, 2018). In früheren Phasen seines Lebens hat er
als Softwareentwickler und Unternehmensberater gearbeitet.
Anja Breljak ist Doktorandin am Forschungskolleg »SENSING: Zum Wissen
sensibler Medien« am Brandenburgischen Zentrum für Medienwissenschaften
(ZeM) in Potsdam. Sie hat Philosophie, Volkswirtschaftslehre und Informatik in
Berlin, Paris und Sarajevo studiert. Ihre Forschungsinteressen umfassen Körper-
und Mediengeschichte, Affekt- und Machttheorien, Feminismus und Techno-
logie. Sie arbeitet zwischen den Disziplinen, organisiert und moderiert Veran-
staltungen im Feld der politischen Ökonomie, performativen Philosophie und
digitalen Gesellschaft.
Jan Slaby ist Professor für Philosophie des Geistes und Philosophie der Emotio-
nen am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Er ist Vorstands-
mitglied im dortigen Sonderforschungsbereich 1171 »Affective Societies«. Seine
Forschungsschwerpunkte liegen am Schnittpunkt von Philosophie des Geistes,
Sozialphilosophie und politischer Philosophie. Weitere Arbeitsgebiete sind Wis-
senschaftstheorie der Humanwissenschaften, Phänomenologie, Philosophie der
Psychiatrie, Technikphilosophie. Zu seinen wichtigsten Publikationen gehören
dieMonographieGefühl undWeltbezug (mentis 2008), das gemeinsammit Supar-
na Choudhury herausgegebene Handbuch Critical Neuroscience (Wiley-Blackwell
2012), sowie der kürzlich zusammen mit Christian von Scheve herausgegebene
Sammelband Affective Societies: Key Concepts (Routledge 2019).
354 Affekt Macht Netz
Informationen zu den Beiträger_innen
Jan Beuerbach studierte Philosophie, Soziologie, Germanistik und Biochemie
an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Er promoviert derzeit in Philosophie
zum Begriff des Eigentums vor dem Hintergrund der Digitalisierung und ist als
wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Kulturphilosophie des kulturwissen-
schaftlichen Instituts der Universität Leipzig tätig. Forschungsinteressen: Sozial-
und Rechtsphilosophie, Sprach- und Technikphilosophie, Wissenschaftsethik,
Literaturtheorie, Ästhetik, Politische Theorie sowie Digitalkultur und Netzpolitik.
Katharina Dornenzweig verbindet philosophische Konzeptarbeit (vor allem zu
philosophy of mind, affect, agency) produktiv mit empirischen Daten und Erfah-
rungen aus aktuellen Entwicklungen in Technologie, Politik und wissenschaftli-
chen Experimenten. Ziel ist es dabei, konkrete, grundlegendeWechselwirkungen
zwischen philosophischer Theorie und realer Praxis zu ermöglichen. Dies eröff-
net neue, kritische Perspektiven, deren praktische Konsequenzen in unterschied-
lichsten Bereichen aufgezeigt werden.
Jule Govrin ist Philosophin, ihre Forschung situiert sich an der Schnittstelle von
Politischer Theorie, Sozialphilosophie und Ästhetik. Sie hat an der Freien Univer-
sität Berlin und der Universität Paris VIII studiert und über die Theoriegeschich-
te von Begehren und Ökonomie promoviert. Aktuell arbeitet sie am Philosophi-
schen Seminar der Europa-Universität Flensburg und untersucht das Verhältnis
von Authentizität und Autorität in der politischen Ideengeschichte der Moderne
undSpätmoderne. Sie ist Autorin vonSex, Gott und Kapital. Houellebecqs Unterwer-
fung zwischen neoreaktionärer Rhetorik und postsäkularen Politiken (2016) undneben
ihrer akademischen Arbeit journalistisch tätig, zum Beispiel bei ZEIT Online.
Henrike Kohpeiß studierte Philosophie an der Freien Universität Berlin, Uni-
versitá degli Studi Roma Tre Rom und Akademie der bildenden Künste Wien
und Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Sie forscht über den Zusammenhang zwischen negativen Erfahrungen und Sub-
jektivierung in der Philosophie Theodor W. Adornos und den Black Studies. Wei-
tere Interessen liegen im Bereich Ästhetik und feministische Theorie. Bisher ver-
öffentlichte sie Texte in Zeitschriften und Sammelbänden wie Polish Theatre Jour-
nal, Trajectoires, Movement Research und Theater der Zeit. Zurzeit ist sie wissen-
schaftliche Mitarbeiterin an der Leuphana Universität Lüneburg und arbeitet als
Dramaturgin in Performance und Tanz.
Felix Maschewski ist Literatur- undWirtschaftswissenschaftler, Mitglied des PhD-
Nets »Das Wissen der Literatur« der Humboldt-Universität Berlin / Princeton
University und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Wirtschaftsgestal-
tung (Berlin). Sein Forschungsinteresse gilt dem kybernetischen Realismus, der
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 355
Verhaltensökonomie und ihrer ›Poetik‹ sowie den (Selbst-)Technologien des Ho-
mo oeconomicus. Neben seinen akademischen Publikationen schreibt er als
freier Autor Essays für das Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung, Die Republik,
Agora42 etc. über den digitalen Wandel, seine ideologischen Bedingungen und
polit-ökonomischen Konsequenzen. Er istMitherausgeber der Zeitschrift engagée.
politisch-philosophische Einmischungen.
Toni Negri ist Philosoph, Politikwissenschaftler, Soziologe, Aktivist und Essayist.
In den 1960er Jahren war er Professor für Staatstheorie in Padua, Italien und
prägte dort die Bewegung des Operaismus wesentlich mit. Später lehrte er an der
Unversität Paris 8 und am Collège International de Philosophie. Neben seinen
Arbeiten zuMarx und Spinoza hat er mit Empire – die neue Weltordnung (Campus,
2002), gemeinsam mit Michael Hardt, eine Theorie der Machtformationen im
ausgehenden 20. Jahrhundert vorgelegt. Es folgten weitere gemeinsame Werke
wieMultitude: Krieg und Demokratie im Empire (Campus, 2004) und Assembly. Die
neue demokratische Ordnung (Campus, 2018).
Anna-Verena Nosthoff ist Doktorandin am Institut für Soziologie der Universität
Freiburg und Lehrbeauftragte am Institut für Politikwissenschaften der Univer-
sität Wien. Im Rahmen ihrer Promotion beschäftigt sie sich insbesondere mit
der gegenwärtigen Relevanz von frühen philosophischen Kritiken der Kyberneti-
sierung. Als freie Autorin schreibt sie zudem regelmäßig unter anderem für die
NZZ (Feuilleton) und die Republik. Jüngste wissenschaftliche Veröffentlichung
sind unter anderem in Behemoth, Cultural Politics, Culture, Theory & Critique, Criti-
cal Research on Religion, Jahrbuch Technikphilosophie sowie Thesis Eleven und Sam-
melbänden erschienen. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift engagée. politisch-
philosophische Einmischungen.
Jorinde Schulz studierte Philosophie und Politikwissenschaften an der Freien
Universität Berlin und der Université Paris-Nanterre. Als Fellow verbrachte sie
2018 zwei Monate am Nietzsche Kolleg Weimar mit einem Textprojekt zu Fried-
rich Nietzsche als Denker zwischen Hypersensibilität und Abschottung. Für die
Filmidee »Bo – Life is Sheep« gewann sie gemeinsam mit Ruth Olshan ein
Stipendium der Deutschen Filmförderungsanstalt. Sie ist Redakteurin des po-
litischen Magazins Neuköllnisch und gemeinsam mit Kilian Jörg Autorin der
philosophischen-literarischen Collage Die Clubmaschine (Berghain) (Textem Ver-
lag, 2018).
Shirin Weigelt hat Philosophie, Publizistik und Kommunikationswissenschaft an
der FreienUniversität Berlin studiert. IhreMasterarbeit in Philosophie schrieb sie
zum Thema »Politik in postfaktischen Zeiten«. Schwerpunktmäßig gilt ihr For-
schungsinteresse moderner und zeitgenössischer Philosophie, darin insbesonde-
re dem französischen Poststrukturalismus sowie dessen Vorläufer- und Nachfol-
356 Affekt Macht Netz
getheorien. Inhaltlich setzt sie sichmit Subjektivierung und Kritik,Medialität und
affektiv-materiellen Gefügen auseinander. Aktuell arbeitet sie an einem Promoti-
onsprojekt zum Tastsinn in digitalen Gesellschaften.
Christian Ernst Weißgerber studierte Philosophie und Kulturwissenschaft in Je-
na, Berlin und Paris. Er arbeitet als politischer Bildungsreferent und Autor zum
Themenkomplex Radikalisierung mit Schwerpunkt auf der Kritik rassistischer
und nationalistischer Politiken. Hierzu hält er Vorträge und gibt Workshops an
Schulen, Universitäten und zu Abendveranstaltungen. Zuletzt erschien von ihm
das BuchMein Vaterland!Warum ich ein Neonazi war (Orell Füssli, 2019). Er lebt in
Berlin und ist alsÜbersetzer undVerleger imgemeinnützigenZusammenschluss
devians e. V. – Plattform für Debatte und Dissens tätig. Zu seinen wissenschaftlichen
Interessenfeldern zählen Ideologie- und Hegemonietheorien, Affektökonomien
und Geschlechterverhältnisse sowie Geschichte und Gegenwart politischer Öko-
nomie(n).
PhilippWüschner arbeitet als Philosoph undÜbersetzer in Berlin. Seit seiner Pro-
motion zu Aristoteles Begriff der Haltung an der Freien Universität Berlin (Eine
aristotelische Theorie der Haltung, Hamburg 2017), veröffentlichte er verschiedent-
lich im Bereich der Philosophie der Emotionen und Affekttheorie (unter anderem
zu Scham, Schuld, Langeweile, Autorität etc.) Seine aktuellen Forschungsinter-
essen betreffen Aby Warburg und die Pathosformeln der digitalen Gesellschaft,
Immersion und Absorption, sowie das Verhältnis von Autorität und Authentizität.
Zuletzt erschien seineÜbersetzung vonAlexandre Kojève:Der Begriff der Autorität,
Merve Berlin 2019.
Marie Wuth ist Doktorandin an der University of Aberdeen und Marie-Skłodows-
ka-Curie-Stipendiatin. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit der Rolle von
Affekten im Bereich des Politischen und entwickelt ausgehend von Spinoza ei-
nen affekttheoretischen Begriff politischer Handlungsfähigkeit. Ihre Forschungs-
schwerpunkte umfassen Sozialphilosophie, Philosophie der Neuzeit, Poststruktu-
ralistische Theorie, Theorien der Macht und des Politischen sowie Feministische
Theorie. Sie hat Philosophie und Kulturwissenschaften in Berlin und Lüneburg
studiert.
Soziologie
Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)
movements.
Journal for Critical Migration
and Border Regime Studies
Jg. 4, Heft 2/2018
Februar 2019, 246 S., kart.
24,99 €(DE), 978-3-8376-4474-6
S ybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)
Smart City –
Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung
in Städten
2018, 364 S., kart.
29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7
E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1
EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7
W eert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf
Erloschene Liebe?
Das Auto in der Verkehrswende
Soziologische Deutungen
2018, 174 S., kart., zahlr. Abb.
19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2
E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6
EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten
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S oziologie
Gianna Behrendt, Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Fakten
2 018, 166 S., kart.
16,99 € (DE), 978-3-8376-4362-6
E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4362-0
Heike Delitz
Kollektive Identitäten
2018, 160 S., kart.
14,99 € (DE), 978-3-8376-3724-3
E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3724-7
Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Materialität
2018, 122 S., kart.
15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1
E-Book: 13,99 €(DE), ISBN 978-3-8394-4073-5
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