FRANK KESSLER Kafka, Brescia, die Aeroplane und die Kinematographie September 1909 - drei junge Männer aus Prag genießen die Sommerfrische in dem Badeort Riva am Gardasee. »In das Idyll des Madonninabads platzte die Zeitungsmeldung herein[ ... ], daß in Brescia das erste Flugmeeting stattfinde. -Aeroplane hatten wir noch nie gesehen, mit großer Begeisterung faßten wir den Entschluß, trotz knappen Kassenbestandes nach Brescia zu fahren.«' Treibende Kraft ist dabei offenbar Franz Kafka, der mit seinen Reisegefähr- ten Max und Otto Brod die Fahrt aus Riva, das damals noch, ebenso wie Prag, zur k. u. k. Monarchie gehört, über die Grenze ins italienische Brescia antritt. Der Flugwettbewerb ist auch ein großes Medienereignis: Kafka selbst verfaßt einen Bericht, der am 29. September 1909 in gekürzter Fassung in der Prager Zeitung Bohemia erscheint und der, genau wie die eingangs zitierte Erinne- rung Max Brods, in seiner ursprünglichen Fassung gleich zu Beginn auf einen anderen Zeitungsartikel verweist, der die drei Urlauber auf die Flugtage in Brescia aufmerksam macht: La Sentinella Bresciana vom 9. September meldet und ist davon entzückt: Wir ha- ben in Brescia eine Volksmenge wie noch nie, wie nicht einmal zur Zeit der großen Wetdahrten der Automobile, die Fremden aus Venetien, Ligurien, Piemont, Toska- na, Rom, ja bis aus Neapel, die großen Herrschaften aus Frankreich, England, Ame- rika drängen sich auf unseren Plätzen, in unseren Hotels, in allen Winkeln der pri- vaten Wohnungen: alle Preise steigen ausgezeichnet; die Beförderungsmittel reichen nicht aus, um die Menge bis zum circuito aereo zu bringen; die Restaurationen auf dem Flugfeld können zweitausend Menschen vorzüglich bedienen, vor den vielen Tausenden müssen sie versagen, Militär wäre nötig, die Buffets zu schützen; auf den billigen Plätzen stehen fünfzigtausend Menschen den ganzen Tag.' Doch nicht nur die Presse berichtet über dieses Großereignis, das sich über zwei Wochen bis zum 20. September hinzieht: Der Kinematograph ist zur Stelle, um der internationalen Öffentlichkeit auch einen visuellen Eindruck von den Flugtagen in Brescia zu vermitteln. Die italienische Firma Adolfo Croce & C. aus Mailand annonciert ihre Aufnahmen bereits am 8. sowie am 1 5. September 1909 in dem deutschen Branchenblatt Der Kinematograph und behauptet, ihren Kunden die » Exklusive Kinematographie des Ersten Inter- nationalen Wettbewerbs für Luftschiffe u. Flugmaschinen, Brescia« anbieten zu können.J Die Anzeige wird bereits während der Flugtage geschaltet. Der III Auftrag hierzu ist also wahrscheinlich sogar noch vor Beginn der Veranstal- tung bei der Redaktion des Düsseldorfe r Blatts eingegangen. Dies allein be- legt schon die Bedeutung des Ereignisses sowie die Hoffnung der Produk- tionsgesellschaft auf guten Absatz dieser Aufnahmen. Eine (offenbar unvollständige) italienische Kopie mit Aufnahmen der Fir- ma Croce fand sich in einer Sammlung von Nitrokopien, die Daniel N. Casa- grande 2002 der Cineteca del Commune di Bologna übergab. Die Kopie wur- de 2003 im Kopierwerk Immagine Ritrovata restauriert und im selben Jahr auf den Festivals 11 Cinema Ritrovato (Bologna) und Le Giornate del Cinema Muto (Sacile) wiederaufgeführt. Somit ergibt sich die außergewöhnliche Möglichkeit, das Zeugnis eines Schriftstellers und die kinematographische Dokumentation desselben Ereig- nisses im Zusammenhang betrachten zu können, zumal die überlieferten Auf- nahmen sich in etwa auf die gleiche Phase der Veranstaltung beziehen wie der Bericht Kafkas. Dabei kann es nicht um einen Vergleich im eigentlichen Sinn gehen: Zu unterschiedlich sind die Zugangsweisen des Schriftstellers und des Kinematographen. Auch soll hier kein Beitrag zur Kafka-Forschung geliefert werden. Gegenstand der Untersuchung ist in erster Linie der frühe nicht-fik- tionale Film. Dennoch verspricht die Gegenüberstellung von Literatur und Film Einblicke in jeweils spezifische mediale Sichtweisen-daß gerade der eif- rige Kinogänger Kafka sich hier als Autor mit einem Großereignis beschäf- tigt, das aufgrund seiner internationalen Bedeutung auch das Interesse der Filmbranche auf sich zieht, verleiht der Sache allerdings einen besonderen Reiz. Der Wettbewerb Flugschauen wie die in Brescia werden zu ihrer Zeit auch als Beleg dafür angesehen, daß das Fliegen in neue Dimensionen vorstößt. Im Jahr 1909 wer- den ständig neue Hochleistungen erzielt: Flugdauer und -entfernungen neh- men ständig zu, und im Juli gelingt es Louis Bleriot als Erstem, den Ärmel- kanal zu überqueren. Die verschiedenen Wettbewerbe, die im Laufe dieses Jahres veranstaltet werden, sind regelrechte Leistungsschauen: Der enorme Fortschritt, den die Aviatik von Monat zu Monat gemacht hat, zeigt sich nicht zum mindesten darin, daß es im Hochsommer I 909 möglich wurde, eine gut bestrittene aviatische Konkurrenz zu veranstalten. Die Flugwoche, welche vom 22. bis 29. August in Reims stattfand, wurde von mehr als zwanzig Aviatikern mit einigen dreißig Maschinen bestritten.4 Die Flugtage in Brescia im September 1909 sind also nicht die erste Veranstal- tung dieser Art in Europa: Schon kurz zuvor wurde eine Flugwoche in Reims II2 abgehalten, und die beiden international renommiertesten Aviatiker, der Franzose Louis Bleriot und der Amerikaner Glenn Curtiss, reisten im An- schluß von dort nach Brescia.5 Die zehn übrigen Teilnehmer stammen alle aus Frankreich und Italien. Sie konkurrieren um die folgenden Großen Preise: 1. Der Große Preis von Brescia für den Piloten, der fünfzig Kilometer in der kürze- sten Zeit zurücklegt; 2. Der internationale Modigliani-Preis für den Piloten, der am höchsten fliegt; 3. Der internationale Passagierflugpreis für die schnellste Beförderung von einem oder zwei Passagieren auf einer Strecke von neun Kilometern; 4. Der Fliegende-Start-Preis für den Piloten, der nach einem Anlauf von hundert Metern einen Kilometer in der kürzesten Zeitspanne zurücklegt; 5. Der Oldofredi-Preis (ein Kilometer in der kürzesten Zeit); 6. Der Corriere-della-Sera-Preis für den Piloten, der zwanzig Kilometer in der kür- zesten Zeit zurücklegt.6 Laut der Anzeige im Kinematograph dauert die Veranstaltung in Brescia vom 5. bis 20. September, doch bereits am 3. September finden die ersten Testflüge statt. Ebenfalls an diesem Tag wird der Programmablauf verkündet: Das Komitee legte nun auch die genauen Daten der Wettbewerbe fest. Der circuito sollte offiziell am 8. September, einem Mittwoch, eröffnet werden und bis zum Sonntag, den 12. September dauern, wobei die letzten Wettbewerbe und die Preis- verleihungen am Sonntag, den 19. und Montag, den 20. auf dem Programm standen. Piloten, die an der Berliner Flugschau im September teilnehmen wollten, wurden für den 19. und 20. freigestellt, verzichteten aber auf das Privileg, an diesen beiden letzten Tagen in Brescia anzutreten/ Hier wird deutlich, daß die Flugschau in Brescia Teil einer ganzen Reihe von Wettbewerben ist, wobei offenbar manche Aviatiker in einer regelrechten Tournee von einer Veranstaltung zur nächsten weiterziehen und um die Preis- gelder konkurrieren. Der Hauptteil des Geschehens in Brescia konzentriert sich auf die Zeit zwischen dem 8. und dem 12. September, und tatsächlich ver- lassen unter anderem Bleriot und Curtiss schon am 13. September die Stadt, letzterer bricht über Frankfurt nach Berlin auf.8 Auch an den eigentlichen Wettbewerbstagen wird nicht durchgehend ge- flogen, dennoch strömen die Zuschauer auf das Flugfeld. Am 8. und 9. Sep- tember kann das Publikum zwar eine Reihe von Flügen bestaunen, doch muß es jeweils bis zum Nachmittag warten. Am 10. September machen die Wind- verhältnisse das Fliegen unmöglich. Am 11. September, dem Tag, an dem sich auch Kafka und seine beiden Freunde unter den Zuschauern befinden, gelingt Curtiss der Flug, mit dem er am Ende den Großen Preis gewinnt, während der italienische Marineleutnant Mario Calderara den Oldofredi-Preis erringt. Der zwölfte Tag, der laut Peter Demetz »allgemein als giomata meraviglio- sa« galt, bringt erneut zahlreiche Flüge und Rekordversuche.9 113 Nachdem am 1 3. September die bekanntesten Piloten Brescia verlassen haben, ereignet sich bis zu den beiden Finaltagen unter anderem wegen un- günstiger Witterungsbedingungen nicht allzu viel. Am 19. September gewinnt Mario Calderara auch den Corriere-della-Sera-Preis. Am 20. September, dem Tag, an dem der italienische König Vittorio Emmanuele III. den Wettbewerb besucht, entscheidet der Franzose Henri Rougier den Kampf um den Mo- digliani-Preis für sich.10 Am Ende der Veranstaltung werden die folgenden Preise und Auszeich- nungen vergeben: Der Große Preis von Brescia (über fünfzig Kilometer) 1. Preis (30000 Lire) Glenn Curtiss in 51'52 11 11 2. Preis (10000 Lire) Mario Calderara 1:3'32 3. Preis ( 5 ooo Lire) Henri Rougier :9 '62 11 1 3/ 5 Der internationale Modigliani-Preis (Höhe) Henri Rougier (5 ooo Lire) 198,50 Meter Der internationale Passagierflugpreis (mindestens neun Kilometer) Mario Calderara mit einem Passagier 18 '8 1 11 / 5 Der Fliegende-Start-Preis (ein Kilometer) 1. Preis Glenn Curtiss 8 2// 2. Preis Alfred Leblanc 9 11 3/5 Der Oldofredi-Preis (ein Kilometer) Mario Calderara 2'15 11 3/5 Der Corriere-della-Sera-Preis (zwanzig Kilometer) Mario Calderara 21'4311 Der Pokal des Königs ging an Leutnant Calderara für seinen Fünfzig-Kilo- meter-Flug; die königliche Goldmedaille erhielten die Ingenieure Buzio und Restelli für die Konstruktion des Rebus-Motors, der von Calderara, Rougier und Moncher verwendet wurde. 11 · Die Flugschau in Brescia zieht - neben Kafka, den beiden Brüdern Max und Otto Brod sowie dem König samt Gefolge - eine Reihe von Prominen- ten an. Auch der Komponist Giacomo Puccini sowie der Schriftsteller Ga- briele d'Annunzio befinden sich unter den Zuschauern. D'Annunzio, der 1910 seinen Roman Forse ehest, forse ehe no veröffentlicht, in dem das Flie- gen eine wichtige Rolle spielt, macht in Brescia am 12. September seine erste Flugedahrung: Erst nimmt er neben Curtiss in dessen Doppeldecker Platz, danach fliegt Mario Calderara mit ihm um den Flugplatz. 12 Innovative Technik, Höchstleistungen von Mensch und Maschine, promi- nente Besucher - damit ist der Circuito Aereo di Brescia zweifellos eine Ver- anstaltung, die das Interesse des breiteren Publikums und damit auch der Medien auf sich zieht. Was genau jedoch läßt sich von den vielfältigen Ereig- nissen in Schrift und Bild fassen? Worauf richtet sich der Blick des angehen- den Schriftstellers Franz Kafka, worauf der des Kinematographen? Kafka in Brescia Kafkas Bericht über die Flugtage in Brescia ist alles andere als eine journali- stische Auftragsarbeit. Den Erinnerungen Max Brods zufolge handelt es sich weit eher um eine Art literarische Fingerübung, um den Versuch, den Freund über die Herausforderung zu einem Wettstreit zwischen ihnen beiden zum Schreiben zu bringen: Ich verlangte von Franz, er möge all das, was er beobachten würde, sofort nieder- schreiben und in einem Artikel zusammenfassen. Durch die Idee eines sportlichen Zweikampfs zwischen ihm und mir machte ich ihm diese Idee schmackhaft. Auch ich wolle einen Artikel schreiben, und wir würden feststellen, wem die treffenderen Bemerkungen gelungen seien. Solche spielerische, fast kindliche Zielsetzungen ver- fehlten meist ihre Wirkung auf Kafka nicht. Namentlich machte es ihm großen Spaß, daß wir während des Ausflugs uns große Mühe gaben, unsere Aperc;:us vor- einander zu verstecken, nichts von unserer Einstellung zu all dem, was wir sahen, zu verraten. Erst zum Schluß würde man sehen, wer den Vogel abgeschossen habe ... '' Literaturhistorisch ist der auf diese Weise entstandene Artikel vor allem hin- sichtlich der schriftstellerischen Arbeit Kafkas interessant, als Dokument aus dem Frühwerk, das meist mit Blick auf sein späteres Schreiben gelesen wird. Darüber hinaus markiert Kafkas Artikel auch den Beginn der literarischen Beschäftigung mit dem Thema der Aviatik überhaupt. Daneben ist er aber auch die Beschreibung eines öffentlichen Ereignisses, ein historisches Zeug- nis, das sich auf ein datierbares und mit einer Vielzahl anderer Quellen beleg- bares Geschehen bezieht. 14 Der Artikel Kafkas ist in der Form eines Reise- und Erfahrungsberichts gehalten, die in der Bohemia veröffentlichte Fassung beginnt mit den Worten: »Wir sind angekommen.« 1 1 Auch danach behält er die Erzählperspektive die- ses Gruppensubjekts bei (die Vornamen Otto und Max werden im Text ge- nannt), das auch den übrigen Zuschauern gegenüber eine gewisse Distanz markiert (in bezug auf das Publikum verwendet Kafka meist das unpersönli- che »man«). In einigen 1909 nicht veröffentlichten Passagen gleich zu Beginn des Berichts erscheinen die Menschenmassen in Brescia und die organisatori- schen Folgen, von denen ja bereits in dem Artikel in der Sentinella Bresciana die Rede ist, als geradezu bedrohlich: 115 Als meine Freunde und ich diese Nachrichten lesen, bekommen wir Mut und Angst zugleich. Mut: denn wo ein so schreckliches Gedränge ist, pflegt alles hübsch demo- kratisch zuzugehen, und wo gar kein Platz ist, muß man ihn nicht suchen. Angst: Angst vor der italienischen Organisation derartiger Unternehmungen, Angst vor den Komitees, die sich um uns sorgen werden, Angst vor den Eisenbahnen, denen die Sentinella vierstündige Verspätungen nachzurühmen weiß.[ ... ] Noch als wir in das schwarze Loch des Bahnhofs in Brescia einfahren, wo die Men- schen schreien, als brenne der Boden, ermahnen wir einander ernsthaft, was auch geschehen sollte, uns immer beisammen zu halten. Fahren wir nicht mit einer Art Feindschaft ein?16 Auch der Transport aus der Stadt hin zum Flugfeld erweist sich als schwierig. Die drei Prager benutzen die zu diesem Zweck eingerichtete Straßenbahn. Doch wie Peter Demetz schreibt: »Die neue, eigens aus Belgien kommende Dampftramway, die Abhilfe bei den Transportproblemen schaffen sollte, ver- schärfte diese noch zusehends.« 17 Die Straße, die zum Ort der Veranstaltung führt, ist hoffnungslos überlastet durch die verschiedenen Fahrzeuge, die sich hier drängen. Kafka schildert anschaulich das Verkehrschaos (die Passage fehlt allerdings ebenfalls in der gedruckten Fassung von 1909): Das Flugfeld liegt in Montechiari, mit der Lokalbahn, die nach Mantua fährt, ist es in einer kleinen Stunde zu erreichen. Diese Lokalbahn hat sich auf der allgemeinen Landstraße einen Schienenstrang vorbehalten, auf dem sie ihre Züge nicht höher, nicht tiefer als der übrige Verkehr bescheiden hinfahren läßt zwischen Radfahrern, die mit fast geschlossenen Augen in den Staub hineinfahren, zwischen den vollstän- dig unbrauchbaren Wagen der ganzen Provinz - die Passagiere aufnehmen, wie vie- le man will, und die überdies noch rasch sind, man kann es nicht begreifen - und zwischen den oft ungeheuren Automobilen, die losgelassen sich förmlich augen- blicklich überschlagen wollen mit ihren in der Schnelligkeit einfältig gewordenen vielfachen Signalen. Bisweilen verläßt einen die Hoffnung, mit diesem jämmerlichen Zug bis zum circui- to zu kommen, ganz und gar.18 Und auch am Veranstaltungsort selbst setzt sich das Chaos fort (diese Passa- ge findet sich im einleitenden Absatz der gedruckten Fassung): Ungeheure, in ihren Wägelchen fett gewordene Bettler strecken uns ihre Arme ent- gegen, man ist in der Eile versucht, über sie zu springen. Wir überholen viele Leute und werden von vielen überholt. Wir schauen in die Luft, um die es sich ja hier han- delt. Gott sei Dank, noch fliegt keiner! Wir weichen nicht aus und werden doch nicht überfahren. Zwischen und hinter den tausend Fuhrwerken und ihnen entge- gen hüpft italienische Kavallerie. Ordnung und Unglücksfälle scheinen gleich un- möglich.19 Der Text hat somit einen deutlich subjektiv eingefärbten Ton, er berichtet von Beobachtungen, die immer wieder einen geradezu widersprüchlichen oder I16 paradoxen Charakter haben (»vollständig unbrauchbare Wagen [ ... ]-die Pas- sagiere aufnehmen, wie viele man will«; »in ihren Wägelchen fett gewordene Bettler«; »Ordnung und Unglücksfälle scheinen gleich unmöglich«). Kafka nimmt ganz gewiß nicht die Haltung eines Journalisten ein, der seinen Lesern das >Wer-wann-was-wo-wie-warum< eines Ereignisses vermitteln will. Der Artikel handelt vielmehr von Erfahrungen und Wahrnehmungen, von asso- ziativem Erleben und einfühlender Anschauung. Wenn es sich, wie Brod es darstellt, hier tatsächlich in erster Linie um einen freundschaftlichen Wett- streit zweier Schriftsteller handelt, dann erklärt dies Kafkas offensichtliche Suche, wo nicht nach »treffenden Bemerkungen« und »Aper~us«, so doch nach überraschenden Formulierungen und unerwarteten Wendungen. Einmal auf dem Flugfeld angekommen, richtet sich die Aufmerksamkeit Kafkas und seiner Begleiter auf die Aviatiker, auf deren Maschinen sowie auf die - zunächst eher spärlichen -Aktivitäten der Wettbewerbsteilnehmer. Tat- sächlich weht am Morgen des 11. September zunächst eine grüne Flagge, wel- che ankündigt, daß nicht geflogen werden kann, doch nach Unmutsbekun- dungen seitens der Zuschauer folgt erst eine weiße: »V ielleicht wird geflogen«, schließlich eine rote: »W ir fliegen«.2° Zunächst geschieht also we- nig: Die Hangars stehen da »wie geschlossene Bühnen wandernder Komödi- anten«:21 Auf ihren Giebelfeldern stehn die Namen der Aviatiker, deren Apparate sie verber- gen, darüber die Trikolore ihrer Heimat. Wir lesen die Namen Cobianchi, Cagno, Rougier, Curtiss, Moncher ( ein Tridentiner, der italienische Farben trägt, er vertraut ihnen mehr als unsern), Anzani, Klub der römischen Aviatiker. Und Bleriot? fragen wir. Bleriot, an den wir die ganze Zeit über dachten, wo ist Bleriot?22 Glenn Curtiss sitzt, gemächlich den New York Herald lesend, vor seinem Hangar: »Fliegen will er heute offenbar nicht.«23 Nur Henri Rougier, »ein kleiner Mensch mit auffallender Nase«, ist »in äußerster, etwas unklarer Tä- tigkeit, er wirft die Arme mit den stark bewegenden Händen, betastet sich im Gehen überall, s~hickt seine Arbeiter hinter den Vorhang des Hangars, ruft sie zurück, geht selbst, alle anderen von sich drängend, hinein«.24 Laut dem von Hartmut Binder auf Grundlage zeitgenössischer Zeitungs- berichte rekonstruierten Tagesverlauf werden am Vormittag nur Bleriot und Rougier aktiv. •s Bleriot versucht vergeblich zu starten, Rougier prüft die Mo- toren. Das »elegante Publikum« trifft gegen 14 Uhr, zum offiziellen Wettflug- beginn, ein. Doch erst ab 16 Uhr kommt der Wettkampf in Gang. Bleriot dreht mehrere Platzrunden, und Curtiss absolviert zwischen 17.30 und 18.30 Uhr seinen Flug, mit dem er den Großen Preis gewinnt. Anschließend, als Kafka und seine Freunde den Platz bereits verlassen, steigt Rougier auf und ~bertrifft mit einer Flughöhe von 11 7 m mühelos seinen Konkurrenten Ble- not. II7 Kafkas Interesse gilt ganz besonders Louis Bleriot. In Brescia laboriert er noch an den Folgen eines Absturzes während der Flugtage in Reims und ist dadurch möglicherweise nicht ganz auf der Höhe seines Könnens - er ge- winnt jedenfalls keinen der Preise.26 Kafka betont, wie klein Bleriots Flugzeug den Zuschauern erscheint und porträtiert den Piloten in seiner Maschine: Schon sitzt Bleriot auf seinem Sitz, hält die Hand auf irgendeinem Hebel, läßt aber noch die Mechaniker gewähren, als seien sie überfleißige Kinder. Er schaut langsam zu uns her, schaut von uns weg und wieder anderswohin, behält aber den Blick im- mer bei sich. Er wird jetzt fliegen, nichts ist natürlicher. Dieses Gefühl des Natürli- chen mit dem gleichzeitigen, allgemeinen Gefühl des Außerordentlichen, das sich von ihm nicht abhalten läßt, gibt ihm diese Haltung.'7 Nach langem Warten und einer Reihe vergeblicher Versuche, den Motor zum Laufen zu bringen (»Aber der Motor ist unbarmherzig, wie ein Schüler, dem man immer hilft, die ganze Klasse sagt ihm ein, nein, er kann es nicht, immer wieder bleibt er stecken, immer wieder bei der gleichen Stelle bleibt er stek- ken, versagt.« ),28 kann Bleriot endlich aufsteigen. Erneut beschreibt Kafka die Spannung, die sich aus dem Verhältnis zwischen Mensch und Maschine er- gibt, das Einswerden beider (das »Gefühl des Natürlichen«) wie auch die Zer- brechlichkeit dieser Beziehung (das »Gefühl des Außerordentlichen«): [ ... ]und Bleriot ist in der Luft, man sieht seinen geraden Oberkörper über den Flü- geln, seine Beine stecken tief als Teil der Maschinerie.[ ... ] Und alles sieht mit ge- renktem Hals, wie der Monoplan schwankt, von Bleriot gepackt wird und sogar steigt. Was geschieht denn? Hier oben ist zwanzig Meter über der Erde ein Mensch in einem Holzgestell verfangen und wehrt sich gegen eine freiwillig übernommene unsichtbare Gefahr. '9 Ganz anders behandelt Kafka den Flug des Amerikaners Glenn Curtiss bei dessen erfolgreichem Versuch, den Großen Preis von Brescia zu gewinnen. Hier gibt es keinen Kampf, keine Gefahr, keine Unsicherheit, kein Schwan- ken. Curtiss, so scheint es, erfüllt geradezu emotionslos seine Aufgabe, pro- fessionell, mit unterkühlter Präzision. Auch Kafkas Beschreibung ist hier eher sachlich und distanziert. Curtiss gebührt Anerkennung, er erntet aber keine Bewunderung. Er kommt um den Signalmast herum und wendet gleichgültig gegen den Lärm der Begrüßung, geradeaus dorthin, von wo er gekommen ist, um nur schnell wieder klein und einsam zu werden. Er führt fünf solche Runden aus, fliegt fünfzig Kilo- meter in neunundvierzig Minuten und vierundzwanzig Sekunden und gewinnt da- mit den großen Preis von Brescia, dreißigtausend Lire. Es ist eine vollkommene Leistung, aber vollkommene Leistungen können nicht gewürdigt werden, vollkom- mener Leistungen hält sich am Ende jeder für fähig, zu vollkommenen Leistungen scheint kein Mut nötig. Und während Curtiss allein dort über den Wäldern arbeitet, [ ... ] hat die Menge ihn fast vergessen.i0 II8 Dies ist im übrigen die einzige Stelle in dem Artikel, an der Kafka seiner >Chronistenpflicht< als Berichterstatter von einem Wettkampf nachkommt und dem Leser den Namen des Siegers, die Siegeszeit sowie die Höhe des Preisgelds mitteilt. Mit dem relativierenden Kommentar zu Curtiss' Leistung nimmt Kafka jedoch gleich wieder eine andere, eher subjektive Haltung ein. Curtiss, der »arbeitet«, steht eindeutig im Gegensatz zu Bleriot, der sich, »in einem Holzgestell verfangen«, freiwillig einer Gefahr aussetzt. Curtiss' Er- folg löst keine Begeisterung aus, selbst der Applaus nach seiner Landung ge- hört nicht eindeutig ihm allein, er mag ebensogut Bleriot oder Rougier gel- ten.J' Kafkas Sympathien liegen deutlich bei Bleriot, dem damals nicht nur wegen seiner Kanalüberquerung, sondern vielleicht auch gerade wegen seiner zahlreichen Abstürze und Unfälle wohl in Europa populärsten Aviatiker. Die Flugaktivitäten konzentrieren sich an diesem 1 1. September auf den Nachmittag. Während der langen Wartezeiten richtet Kafka offenbar seine Aufmerksamkeit genau wie die übrigen Zuschauer auf die andere Attraktion des Flugtreffens: die prominenten Besucher, die sich auf den Tribünen ein Stelldichein geben. Man zeigt einander die Principessa Laetitia Savoia Bonaparte, die Princi- pessa Borghese, eine ältliche Dame, deren Gesicht die Farbe dunkelgelber Weintrauben hat, die Contessa Morosini. Marcello Borghese ist bei allen Da- men und keiner, er scheint von der Ferne ein verständliches Gesicht zu ha- ben, in der Nähe aber schließen sich seine Wangen über den Mundwinkeln ganz fremd. Gabriele d'Annunzio, klein und schwach, tanzt scheinbar schüchtern vor dem Conte Oldofredi, einem der bedeutendsten Herren des Komitees. Von der Tribüne schaut über das Geländer das starke Gesicht Puc- cinis mit einer Nase, die man eine Trinkernase nennen könnte.12 Die alles in allem wenig schmeichelhaften Porträts italienischer Adliger und Künstler, die Kafka zeichnet, stehen, wie so vieles in diesem Artikel, in deutlichem Gegensatz zu allen journalistischen Gepflogenheiten. Die Anwe- senheit solch prominenter Persönlichkeiten bietet den Reportern ja nicht nur die Möglichkeit, auch an Tagen, an denen nicht geflogen werden kann, ihren Lesern Interessantes zu berichten, sie wertet natürlich auch die Veranstaltung als solche auf. Den Prominenten wiederum bestätigt das Interesse an ihrer Person die eigene Bedeutung. So stellt d'Annunzio sich bereitwillig den Pho- tographen für Aufnahmen zur Verfügung und posiert vor den Flugmaschi- nen.n Kafkas maliziöse Charakterisierung des berühmten Schriftstellers kon- trastiert mit den Artikeln der Berufsjournalisten, für die d'Annunzio mit seiner Anwesenheit dem Ereignis zusätzlichen Glanz verleiht. Auch hier ist Kafkas Blick nicht der eines Berichterstatters, der gebildete Leser unterhaltsam über Verlauf und Umstände einer Veranstaltung infor- mieren will. Das Ende des Wettkampftags erleben er und seine Freunde gar nicht mehr mit. Als Rougier sich aufmacht, einen neuen Höhenrekord aufzu- stellen, müssen sie die Rückreise antreten und das Flugfeld verlassen. Wie 'Der Xinemätograph Organ Jür aie gesamte Projektionskunst. No. 141, DOsseldorf, 8. September. -1.90.9.. • ~:;~\~' l.:!;,t lt:t Manufaktur kinematographischer Films f'ii~':f:t::':O·t.•r:,·~~o. Adolf oC roce &C ., 11oilnnd F'abrik-Gebiude: Via Carlo Ravlna, 11; Via Ylllorla Colonna, 40. Comptolr und Verkauf: Via GluHppe Revere 15 Exklusive Kinematographie des :: Ersten .I nternationalen IDettbecoerbs :: fD r Luftschiffe u. f Iugmoschinen, Brescio vom 5. bis 20. September 1909. · • Hierdurch teilen wir unaerer verehrten Kundschaft einstweilen mit, dass wir uns da, 1us1chD111llch1 Aufnahmt- ruht des ein&ig dastehenden ,.Enten Internationalen Wettbewerbs für Lultschiffo und Flugmaachinen", welcher vom li. bia 20. September a. c. in Breaci& abgehalten werden wird, gesichert. Nlben. abaolu~u~:=h~:;2~0:in!~~~::WCabri~hJ'~ =~/!:!n~,=~·~~!f~trof~feh:' le!1!!>~t J'! et von eeit.en der Behördo offiziell verboten ist, andere kinemat.ographiache Ma.schmen, a.uner UIUlrigen, in den Sportplatz einzuführen. - Wir machen dcsbnlb jet.2.t schon apeziell darauf aufmerk&am, anderen eve.ntuellen Offerten dieses interessanten Wettbewerbe kein Gehör schenken :ra wollen, da es tich nur um mlnderwtrUft Auf. nahmen, welche lediglich ausserhalb des SportplaUes gemacht werden können, handeln kann. Wir halten es für iiberllüsaig:, w~ter über dio aua56rordentJich wichtige Bedeutung dieses internationalen :r:r;!=:e:x;r~= j:n~~m~~!:~:t:;; ~:.de~~:::esc~m~:i:nult-~:= sportlichen Penönlichkeiteu aufmerksam zu machen, wie z. B.: Blirlot, der Bemeger des Aermel-Kanals~atbam, Farman, Dt111ran11, dl• Leutnants Calderara und Savola, aowie Guido Moncher und viele, viele aodere. Ausserdem wurde auch bereits das Eracheioeu von 8. M, des K6nlp von ltallen und I, M. dtr Kcinl,:ln • Mutter cugesichert. Wir seihet haben bereita alle Vorbereitungen für die Fabrikation getroffen, und werden eine .Anzahl tüchtiger, :OT.:1:r ~s:r:~e;:zr". !~~ ::Jklwa::t::u1Mv8;a1}!!~lich:;;r~~~J:=1:rl?r::,e~edJre ~~:{:~ ~.!i~ei:;!~ werden, garantieren können. Reute i.at ea wa noch nicht möglich, amugeben, wie vielo Serien wir von diesen Ver- a.mtaltungen verllflentlichen werden, da dietee von dem Gang der Ereignisse abhängt. Auf jeden Fall dürfte es in ihrem Intereue ~legen aein, aicb sofort-für d.ia ente Serie vormerken r.u lassen :~~:,:1~~::~:t:!!':11i:!:!. #:C~JT1:i:Sa': ir~.;~:,t,~~:wä~:~r:~~~: Aurtrire werden rtnau der Relhtnfolr• dn Eln1an111 nach trltdlrt und nur In feste Rechnunr c•r•n Vortln· Hndunr einer Anuhlunr von Frcs. 200 akupU1rt. Bestellung,n otrne Anuhlunr werden nicht berücklfchtlrt. Telegra.mm•Wort: .,AROPLANI•• 1'elegrammwort: .,AROPLANI·• !.!an bit~t, alle Bestellungen zu adresl!lie.ren an: ADOLFO CROCE & C., MILANO,"_Via Giuseppe Revere, 15. 1 Hanns Zischler bemerkt, gelingt es Kafka hier, »die Teilhabe an einem großen mechanischen Spektakel als eine Vision unter Einbeziehung der Zuschauer zu beschreiben«.34 Kafka schildert die Ereignisse des 11. September 1909 als Schriftsteller, nicht als Chronist. Der Kinematograph in Brescia Als die Manufaktur kinematographischer Films Adolfo Croce & C., Mailand, am 8. September 1909 ihre erste Anzeige für ihre Aufnahmen der Flugtage in Brescia auf der Titelseite des Düsseldorfer Fachblatts Der Kinematograph schaltet, hat also der eigentliche Wettbewerb noch nicht einmal begonnen. Für die Firma geht es dabei offenbar nicht nur darum, die deutschen Kinobe- sitzer auf ihre noch nicht fertig gedrehten Filme hinzuweisen, sondern auch um die Markierung des Terrains. Gleich mehrfach wird auf die Exklusivität des angebotenen Materials hingewiesen. Man teilt der prospektiven Kund- schaft mit, »[ ... ] dass wir uns das ausschliessliche Aufnahmerecht [ ...] gesi- chert haben.«H Doch wie auch die Firma Croce weiß, bietet ein solches Ex- klusivrecht keinerlei Garantie, daß nicht doch Filme anderer Anbieter auf den Markt kommen: An Hand von speziellen Vereinbarungen, welche wir mit dem Organisations-Ko- mitee getroffen haben, ist es absolut ausgeschlossen, dass eine andere Filmfabrik dieses interessante Sportereignis kinematographieren kann, da es von seiten der Be- hörde offiziell verboten ist, andere kinematographische Maschinen, ausser den uns- rigen, in den Sportplatz einzuführen. - Wir machen deshalb jetzt schon speziell dar- auf aufmerksam, anderen eventuellen Offerten dieses interessanten Wettbewerbs kein Gehör schenken zu wollen, da es sich nur um minderwertige Aufnahmen, wel- che ausserhalb des Sportplatzes gemacht werden können, handeln kann.l6 Derlei ist in der Frühzeit des Films keine Seltenheit. Exklusive Aufnahme- rechte bei Veranstaltungen können nur innerhalb eines abgegrenzten Bereichs gelten und einigermaßen wirkungsvoll überwacht werden.J7 Im freien Gelän- de jedoch lassen sich die Konkurrenten nicht daran hindern, ihre Kameras zu installieren. Bei einer Flugveranstaltung ist natürlich der Himmel über dem Flugfeld auch von außerhalb der Absperrungen leicht zu filmen. Zwei italie- nische Konkurrenten der Firma Croce bieten 1909 Aufnahmen des Ereignis- ses an: Cines offeriert lL CIRCUITO AEREO DI BRESCIA, Ambrosio lL CIRCUITO DI BRESCIA.J8 Diese Filme sind heute verschollen, so daß sich nicht feststellen läßt, ob die Operateure der Konkurrenz tatsächlich das Ereignis nur von außerhalb des Fluggeländes drehen konnten oder ob es ihnen nicht vielleicht doch gelungen ist, ihre Kameras einzuschmuggeln. Die Firma Croce bietet unter dem Titel AvIAZIONE A BRESCIA eine zwei- teilige Serie an: 1. PRIMA GIORNATA DELLE GARE DI AVIAZIONE; 2. PRIMO CIRCUI- 121 TO AEREO. Nur der zweite Teil ist erhalten.39 Er berichtet vor allem von den Ereignissen des 11. September 1909, dem Tag, an dem auch Kafka zusammen mit Max und Otto Brod den Wettkampf verfolgen. Laut der Anzeige im Kinematograph beabsichtigt die Produktionsfirma, mehrere Serien herzustellen und strebt an, die Aufnahmen so bald es geht den Kunden zur Vedügung zu stellen. Das Inserat verspricht umfassende Bericht- erstattung und Aktualität: Wir selbst haben bereits alle Vorbereitungen für die Fabrikation getroffen, und wer- den eine Anzahl tüchtiger, geschulter Operateure mit erstklassigen Maschinen wäh- rend der ganzen Dauer der Sportfeste in Brescia halten, sodass wir für eine rasche und wirksame Veröffentlichung verschiedener Films, die die einzelnen Phasen wie- dergeben werden, garantieren können. Heute ist es uns noch nicht möglich, anzu- geben, wie viele Serien wir von diesen Veranstaltungen veröffentlichen werden, da dieses von dem Gang der Ereignisse abhängt.4° Aus dem Anzeigentext läßt sich auf die Schwierigkeiten beim Vermarkten von Aufnahmen derartiger Ereignisse schließen: Der Anbieter kann zum Endprodukt keine genauen Angaben machen, da aber auch größtmögliche Aktualität angestrebt wird, kann man nicht bis zum Ende der Veranstaltung warten und erst dann die Filme bewerben. Nicht einmal die Kosten, die auf den Kunden zukommen, lassen sich genau beziffern. Einzig der Meterpreis (»Frs. 1,25 p. Mtr., wie gewöhnlich«)4 ' ist bekannt: »Die genaue Länge des ersten Film [sie] werden wir s. Zt. noch bekannt geben, da wir dies jetzt noch nicht bestimmen können.«42 Der Auswerter muß also auf die Anziehungs- kraft des Ereignisses selbst vertrauen, da weder die Qualität der Aufnahmen, noch deren Länge, ja nicht einmal die Anzahl von Einzelfilmen der angekün- digten Serie bekannt ist. Darum gilt es, die Filme möglichst kurze Zeit nach der Veranstaltung vorzuführen, und der Hersteller nutzt dies aus - Croce nimmt Vorbestellungen nur gegen Vorauskasse entgegen, wobei die frühen Besteller im Vorteil sind. Die Unwägbarkeiten bei der Herstellung und dem Vertrieb von Aktualitäten-Filmen werden also zumindest teilweise auf den Auswerter abgewälzt: Aufträge werden genau der Reihenfolge des Einganges nach erledigt und nur in fe- ste Rechnung gegen Voreinsendung einer Anzahlung von Frs. 200 akzeptiert. Be- stellungen ohne Anzahlung werden nicht berücksichtigt.4J Obwohl in der Anzeige der Anspruch erhoben wird, in den Filmen die ver- schiedenen Phasen des Wettkampfs wiederzugeben, fehlt in dem erhaltenen Material jeglicher Hinweis darauf, wann genau die Aufnahmen entstanden sind. Das ist allerdings beim frühen Aktualitäten-Film durchaus nicht unüb- lich, zumal die Bilder ja in jedem Fall erst einige Zeit nach dem Ereignis ge- zeigt werden können und damit auf ein Publikum treffen, das bereits aus der 122 Presse über dessen Verlauf unterrichtet ist. Daß Croce offenbar keine Filme über den zweiten Teil des Flugwettbewerbs drehen ließ, ist bemerkenswert, da zumindest aus italienischer Sicht nicht nur der Erfolg Mario Calderaras beim Flug um den Corriere-della-Sera-Preis, sondern zudem noch der Be- such des Königs zum Abschluß der Veranstaltung durchaus auf Interesse stoßen müßte. Möglicherweise ist die Zahl der Vorbestellungen hinter den Er- wartungen der Produktionsfirma zurückgeblieben und hat diese dazu be- wegt, auf weitere Aufnahmen zu verzichten. In der Anzeige versucht die Firma Croce, ihre Kunden mit der Behaup- tung zu beeindrucken, weitere Erklärungen zur Bedeutung des Ereignisses seien eigentlich nicht nötig. Nicht nur die Namen der Piloten (wobei nicht alle der Genannten in Brescia tatsächlich antreten), sondern auch der Hinweis auf die wahrscheinliche Anwesenheit von Mitgliedern des italienischen Kö- nigshauses werden als Verkaufsargumente angeführt: Wir halten es für überflüssig, weiter über die ausserordentlich wichtige Bedeutung dieses internationalen Sport-Ereignisses zu sprechen, denn jedermann ist es bereits bekannt, dass an demselben die berühmtesten Aviateure mit den erstk.lassigsten Flugmaschinen und Luftmaschinen teilnehmen werden. Es genügt schon, nur auf einige dieser sportlichen Persönlichkeiten aufmerksam zu machen, wie z.B.: Ble- riot, der Besieger des Aermel-Kanals, Latham, Farman, Delagrange, die Leutnants Calderara und Savoia, sowie Guido Moncher und viele, viele andere. Ausserdem wurde auch bereits das Erscheinen von S. M. des Königs von Italien und 1. M. der Königin-Mutter zugesichert.44 Umso erstaunlicher ist es, daß die zum Zeitpunkt der Aufnahmenanwesen- den Prominenten - von denen Kafka ja berichtet - in dem erhaltenen Film nicht zu sehen sind und es auch in den sonstigen verfügbaren Dokumenten keinerlei Hinweise auf entsprechende Bilder gibt. Soweit bekannt existieren weder von den Vertretern der italienischen Aristokratie noch von Puccini oder d'Annunzio (der sich ja offenbar durchaus bereitwillig hat photogra- phieren lassen) Filmaufnahmen, die sie auf den Flugtagen von Brescia zeigen. Dafür sind jedoch die Aviateure und ihre Flugmaschinen ausführlich zu se- hen. Dem erhaltenen Material nach zu schließen, entspricht die Folge der Se- quenzen in AVIAZIONE A BRESCIA-PRIMO CIRCUITO AEREO im großen und gan- zen dem gängigen Aufbau früher nicht-fiktionaler Filme.4' Er gliedert sich in mehrere Teile, die einer gewissen narrativen Logik folgen: Ankunft der Flug- maschinen und letzte Vorbereitungen, Präsentation einiger Aviatiker, tech- nische Einrichtungen (Signalmasten und Windgeschwindigkeitsmesser), der eigentliche Flugwettbewerb mit einigen Resultaten und zum Abschluß ein Schwenk entlang der Tribünen.46 Damit werden verschiedene Etappen der Veranstaltung in einer zeitlichen Folge präsentiert. Zu Beginn der erhaltenen Kopie, nach dem Haupttitel und 123 zwei Zwischentiteln, welche die Ankunft der Flugzeuge und die letzten Vor- bereitungen ankündigen (Titel: »Arrivo degli aeroplani sul Campo di Avia- zione«; »Gli ultimi preparativi«), transportieren Arbeiter eine große Kiste, danach sieht man eine Flugmaschine, die noch ohne Flügel von einer Gruppe Männer über das Gelände gefahren wird. Im folgenden Abschnitt treten erst Curtiss, dann Rougier in Erscheinung (Titel: »Curtiss«; »Rougier«), danach sieht man jeweils die Flugmaschinen. Auch Curtiss selbst ist zu erkennen, zusammen mit einer (seiner?) Frau sowie zwei Offiziellen. Nach der Titel- liste, die Aldo Bernadini dokumentiert, werden direkt anschließend auch Bleriot und Cobianchi präsentiert, doch die entsprechenden Aufnahmen sind in der erhaltenen Kopie erst später zu sehen. Es folgt stattdessen ein Flugver- such Calderaras und Bilder seiner durch den Absturz beschädigten Maschine (Titel: »L'aeroplano di Calderara attera dopo un breve volo e s'infrange«).47 Danach zeigt der Film in einer Art Zwischenspiel die Signalanlage sowie eine Demonstration der Windgeschwindigkeitsmessung (Titel: »Le segnalazioni«; »Come si controlla la velocita del vento«). Als erste Aufnahmen vom eigent- lichen Wettbewerb vermeldet ein Zwischentitel die Leistung Rougiers im Höhenflug (Titel: »Rougier vola a II6 m d'altezza«). Aufnahmen vom Start der Maschine und mehrere Einstellungen seines Flugzeugs während des Flugs sowie der Landung illustrieren diesen Flug. Danach sieht man das Wechseln eines Propellers (laut der Titelliste Bernadinis an der Maschine Anzanis, doch der entsprechende Titel fehlt in der Kopie). Erst anschließend erfolgt die Prä- sentation von Bleriot und Cobianchi (Titel: »Bleriot«, »Cobianchi«). Auf Cobianchis Maschine turnt ein kleiner Affe herum, und vor Bleriots Maschi- ne bekommt ein Mann einen Schlag des Propellers ab. Dann behandelt der Film das Duell der beiden Aviateure Bleriot und Curtiss: Zunächst sieht man Bleriot bei seinem Versuch, den Großen Preis zu gewinnen (Titel: »Bleriot concorre al Gran Premio di Brescia«), dann Curtiss bei seinem Siegesflug (Ti- tel: »Curtiss alla gara del Gran Premio di Brescia copre 50 km in 49°24"«). Gezeigt werden jeweils Startvorbereitungen und Aufnahmen während des Fluges, vor allem Bilder von der Umrandung der Zielstange. Den Abschluß der Kopie bildet ein (fragmentarischer) Schwenk über die Tribüne. Inwieweit diese Schnittfolge (o der nicht doch die von Bernadinis Titelliste abzuleiten- de) den zeitgenössischen Kopien entspricht, läßt sich anhand der Material- lage nicht sagen. Deutlich ist jedoch, daß der Film keinesfalls eine rekonstruierbare Chro- nologie der Ereignisse wiedergibt - oder wiederzugeben behauptet. Er zeigt die Aviateure in Bewegung und die Aeroplane im Flug, die fragilen Konstruk- tionen der Maschinen und die Mechaniker bei der Arbeit. Der Kinemato- graph fängt verschiedene Aspekte der Veranstaltung ein. Er bietet dem Zu- schauer die Möglichkeit, »sich ein Bild zu machen«, mit eigenen Augen die berühmten Piloten und ihre Maschinen zu sehen. Nicht der Nachrichtenwert der Aufnahmen steht im Mittelpunkt, sondern das Angebot einer besonderen 124 AVIAZIONE A ßRESCIA. l, PRIMO CIRCUITO AEREO (Croce 1909) 125 AVIAZIONE A ßRESCIA. l.. PRIMO CIRCUITO AEREO (Croce 1909) 126 AVIAZIONE A BRESCIA. 2, PruMO CIRCUITO AEREO. (Croce 1909) visuellen Erfahrung. Deren Stellenwert erschließt sich allerdings nur, wenn der Film vor dem Hintergrund der Beziehung zwischen Kinematographie und Aviatik betrachtet wird. Kinematographie und Aviatik Wie andere moderne Verkehrsmittel auch ist das Flugzeug für den Kinema- tographen ein gesuchtes Objekt, zumal der Film in gewisser Weise ein direk- ter Zeitgenosse der aufkommenden Aviatik ist. Dennoch lassen die Art und Weise, wie Eisenbahn, Automobil, Schiff, Tram oder Aeroplan sich zur Kine- matographie verhalten, nicht so ohne weiteres auf ein und derselben Ebene ansiedeln.48 Wenn Züge sowohl als Objekt im Bild, als Element einer Erzäh- lung wie als Transportmittel für die somit in Bewegung versetzte Kamera eine Rolle spielen, dann scheint es zunächst logisch, dasselbe auch für das Flug- zeug anzunehmen. Dennoch ist das visuelle Ereignis der Eisenbahn im frü- hen Kino ein ganz anderes als das des Fliegens. Die Aviatik wirft für die Ope- rateure ganz neue Darstellungsprobleme auf: Im Vergleich mit den »early train films« sind die meisten dieser »early flight films« wenig spektakulär: Statt der Aggressivität eines herannahenden Fahrzeugs steht nun die Kontemplation eines in der Feme verschwindenden Flugzeugs im Mittelpunkt. Die Kamera wird nicht mehr attackiert (oder ,überfahren,), sondern sie folgt so gut es geht dem unvorhersehbaren Flug durch die Luft.49 Die Bilder der Flugmaschinen auf dem eintönigen Hintergrund des Himmels ergeben in der Tat kaum einen dem Herandonnern eines Zuges vergleichba- ren Effekt. Wird die Kamera auf dem Aeroplan befestigt, so sieht man entwe- der den Horizont als schwankende Linie oder wiederum den leeren Himmel. Der Blick ist gewissermaßen >standpunktlos,, desorientiert und nahezu ohne Gegenstand.1° Luftaufnahmen findet man deutlich seltener als Filme, die von einem fah- renden Zug aus aufgenommen sind, was angesichts der Fragilität der frühen Aeroplane auch praktische Gründe hat. Allerdings dreht schon 1897/98 (die Datierung ist unsicher) ein Operateur der Firma Lumiere ein PANORAMA PRIS o'UN BALLON CAPTIF (Nr. 997 des Catalogue Lumiere) aus der Gondel eines FesselballonsY Doch dieser Film dokumentiert bereits die Schwierigkeiten, aus der Luft ein >lesbares< Bild zu produzieren, da dem Blick die Anhaltspunk- te fehlen, um die Raumkoordinaten eindeutig rekonstruieren zu können.Joa- chim Paech beschreibt die sich hier ergebende Blickkonstellation wie folgt: Die Wahrnehmungssituation ,fliegen< ist eine doppelte, Ziel und Ursprung des Blicks: Vor allem zu Beginn machen die Flugapparate den Himmel zur Bühne bzw. 128 zur Leinwand als riesiger Projektionsfläche, wo Bewegungen der Flugapparate wie Jahrmarktattraktionen verfolgt werden (Flugzirkus), während die Kinoleinwand gerade erst den Jahrmarkt zugunsten des dunklen Illusionsraums verlassen hat." Dies ist für die institutionelle Rahmung eines Ereignisses wie dem der Flug- tage in Brescia gewiß zutreffend (auch wenn in diesem Fall der Begriff »Jahr- markt« dem gesellschaftlichen Status der Veranstaltung nicht gerecht wird). Doch als Ziel des Blicks sind die Aeroplane in der Tat kaum mehr als flüchti- ge Himmelserscheinungen, während sie als Ursprung des Blicks diesem we- der einen festen Ort noch eine klare Sicht auf einen Gegenstand bieten. Den- noch liefern solche Aufnahmen dem Publikum eine auf andere Weise kaum zugängliche Edahrung, wie Luke McKernan anmerkt:»[ ... ] zweifellos sahen die meisten Menschen der westlichen Welt zu jener Zeit ihr erstes Flugzeug nicht am Himmel, sondern projiziert auf eine Leinwand.«n Kafkas Bericht und die Bilder des Kinematographen Der filmgeschichtliche Kontext, in dem die Aufnahmen der Firma Croce von den Flugtagen in Brescia ihren historischen Ort haben, ist der frühe nicht-fik- tionale Film, und insbesondere die kinematographischen Bilder von Aeropla- nen. AvrAZIONE A BRESCIA berichtet einerseits von einem aufsehenerregenden Ereignis, doch darüber hinaus können die Zuschauer hier etwas sehen, was im Alltag nur sehr wenigen unter ihnen zugänglich ist, nämlich die Attraktion fliegender Aeroplane. Im Film kommt der Wettbewerbscharakter der Veranstaltung etwas deut- licher zum Ausdruck als in Kafkas Text, auch wenn die Bilder, wie gezeigt, den Gang der Ereignisse nicht wirklich wiedergeben. Doch auch hier gilt, was Roland Cosandey in einem anderem Zusammenhang schreibt (zu einem Film über die erfolgreiche Alpenüberquerung 1910 durch Geo Chavez, der kurz vor der Landung abstürzt und an den Folgen dieses Unglücks stirbt): Ganz Europa konnte Weymann in seinem Doppeldecker sehen, wie er am Gummi- band der Brille zieht, um ihren Halt zu überprüfen. Farman selbst sah man neben dem Flugzeug, das er hergestellt hatte. Und Chavez, den Höhenrekordhalter (2587 Meter), sah man starten ins Unbekannte und in der Feme verschwinden. Das sind die Bilder des Kinos. Sie verlängern, was die Zeitungen Tag für Tag über das Ereig- nis veröffentlichten. Sah man Bilder vom Unfall? Die Resultate sah man sicher: Einen Haufen Holz auf einem Karren, der von zwei Soldaten eskortiert wird.5• Filme über Ereignisse, die das öffentliche Interesse auf sich ziehen, werden also flankiert von Presseberichten (zu denen letztlich auch die Veröffent- lichung Kafkas zu rechnen ist), die für die Zuschauer einen Bezugsrahmen setzen, der dabei hilft, den Bildern Bedeutung zuzuschreiben. Da die Aufnah- 129 men erst in einigem zeitlichen Abstand zum jeweiligen Ereignis auf der Lein- wand gezeigt werden können, ist dieses in seinen Grundzügen weitgehend bekannt. Der Nachrichtenwert besteht also vor allem darin, daß nun visuell erfahrbar wird, was zuvor an Informationen und Eindrücken durch Lektüre angeeignet wurde. Durch die Presseberichte wird die Veranstaltung zum Ge- genstand eines öffentlichen Interesses, von dem wiederum die Auswertung des Films profitiert. Zwischen Kafkas Artikel und dem Film der Firma Croce gibt es keinerlei hypertextuelle Beziehung im Sinne Gerard Genettes, d.h. keiner von beiden dient als »V orlage« für den anderen.' 5 Vielmehr beziehen sich beide unabhän- gig voneinander auf dasselbe Ereignis. In der Terminologie des Kunsthistori- kers Michael Baxandall könnte man also sagen, daß sich anläßlich derselben Veranstaltung Kafka und dem Kinematographen jeweils nicht nur eine ande- re Aufgabe (charge) stellt, sondern diese auch mit einer anderen Vorgabe (brief) verbunden ist. Mit der »Aufgabe« meint Baxandall die allgemeine Pro- blemstellung, der sich ein Werk stellt, und mit der Vorgabe die konkreten historischen, lokalen usw. Bedingungen, unter denen die Aufgabe angegangen wird.s6 Für Kafka geht es darum, der Beschreibung der Veranstaltung eine literarische Form zu geben, und dabei »treffsichere Bemerkungen« und »Aper~us« anzustreben. Die Perspektive ist die eines kommentierenden Be- obachtens, es geht darum, um abermals Hanns Zischler zu zitieren, »die Teil- habe an einem großen mechanischen Spektakel als eine Vision unter Einbe- ziehung der Zuschauer zu beschreiben [ ... ] und ihre Beschreibung lebt von der unmittelbaren Anschauung und der inspirierten Übersetzung der techni- schen Himmelserscheinung«.57 Die Vorgabe betrifft dann unter anderem die Zugangsmöglichkeiten zum Ereignis, die den Beobachterstandpunkt bestim- men, die Art des Ereignisses, sowie vor allem alle historisch spezifischen Be- dingungen literarischen Schreibens, auf welche Kafka wie auch immer - posi- tiv, negativ oder indifferent - Bezug nimmt. Für die Operateure der Filmgesellschaft Croce dagegen stellt sich die Auf- gabe, verwertbare Bilder des Ereignisses einzufangen, wobei es weniger dar- um geht, dessen Ablauf zu dokumentieren, als vielmehr den (unterstellten) Interessen des Publikums zu entsprechen, d. h. vor allem die Aviatiker zu zei- gen sowie die Aeroplane am Boden und in der Luft. Zur Vorgabe gehören auch hier die spezifischen lokalen Gegebenheiten und die Art der Veranstal- tung, die Zugangsbedingungen für die Kameras, die eingeschränkten Mög- lichkeiten zur Wiedergabe des Geschehens sowie die impliziten generischen Normen des nicht-fiktionalen Films zu dieser Zeit und der mediale Kontext, in dem die Aufnahmen stehen. Angesichts dieser Unterschiede läge es vielleicht nahe, die gleichzeitige Anwesenheit Kafkas und des Kinematographen auf dem Flugfeld von Brescia als ein rendez-vous manque zu bezeichnen. Doch letztlich ermö,glicht es ge- rade ihre Verschiedenheit, sie ineinander zu spiegeln, zu sehen, welche 130 Aspekte der Veranstaltung jeweils in den Blick geraten, wie Literatur und Ki- nematographie auf je spezifische Weise das Schauspiel der frühen Aviatik zu erlassen suchen. Für ihre Unterstützung bei der Recherche danke ich Herbert Birett, Edina Fritsch, Doris Kern, Martin Loiperdinger und Patrick Vonderau, sowie ganz besonders Mariann Lewinsky, Davide Pozzi und der Cineteca del Commune di Bologna, die mir den Zugang zu dem Film der Firma Croce ermöglichten und die Abbildungen zur Vedügung stellten. Anmerkungen 1 Max Brod, Franz Kafka. Eine Biogra- Reihe späterer Publikationen ausgewertet, phie, Fischer Bücherei, Frankfurt 1963, dazu die Zeitungen La Sentinella Bresciana s. 107. (d ie auch von Kafka erwähnt wird), La Pro- 2 Franz Kafka, »Die Aeroplane in vincia di Brescia und den Corriere della Brescia«, in Brod (Anm. 1), S. 273. Brod Sera. Vgl. auch die grundlegende Arbeit gibt den Gesamttext von Kafkas Bericht im von Felix Philipp Ingold, Literatur und Anhang seines Buches wieder (S. 273-282). Aviatik. Europäische Flugdichtung 1909- Ein Wiederabdruck der gekürzten Fassung, 1927, Birkhäuser Verlag, Basel, Stuttgart die in der Bohemia veröffentlicht wurde, 1978. erschien in Franz Kafka, Drucke zu Leb- 6 Demetz (Anm. 5), S. 6d. (Die Angaben zeiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt am sind dem offiziellen Programm entnom- Main 1994, S. 401-412. Laut Hartmut Bin- men.) der (Kafka-Kommentar zu sämtlichen Er- 7 Ebenda, S. 73- zählungen, Winkler, München 1982, S. 77) 8 Vgl. ebenda, S. 89. wird Kafkas Artikel am 28. 9. 1909 in der 9 Vgl. ebenda, S. 70-88, das Zitat findet Deutschen Zeitung Bohemia veröffentlicht. sich S. 86. 3 Dreiviertelseitige Titelanzeige in Der 10 Vgl. ebenda, S. 89-102. Kinematograph, Nr. 141, 8. September 11 Ebenda, S. I02f. Vgl. aber auch S. 85: 1909. Dieselbe Annonce, nun aber ganz- Dort wird, wie bei Kafka und auch im seitig, erscheint erneut am 1 5. September in Film, die Zeit von Curtiss mit 49' 24" ange- Nr. 142. geben. 4 Aviatik, 16. Sonderheft der Woche, 12 Zu d'Annunzio, seinem ersten Flug August Scher! Verlag, Berlin 1909, S. 57. und seiner Beziehung zur Aviatik vgl. 5 Hier und im folgenden entnehme ich ebenda S. 88 sowie 153-190. Ein Photo S. die Informationen zu den Ereignissen in 163 zeigt d'Annunzio neben Glenn Curtiss Brescia der facettenreichen Studie von Pe- auf einem Flugzeug sitzend. Vgl. auch In- ter Demetz, Die Flugschau in Brescia, Paul gold (Anm. 5), S. 28-49. Zsolnay Verlag, Wien 2002. Für eine Be- 13 Brod (Anm. 1), S. 108f. Die Texte der schreibung des Ablaufs der Veranstaltung beiden Autoren sollten ursprünglich in vgl. dort S. 70-103. Demetz hat für seine Brods Buch Über die Schönheit häßlicher Darstellung u. a. die offizielle Programm- Bilder (Verlag Kurt Wolff, Leipzig 1913) broschüre aus dem Jahr 1909 sowie eine aufgenommen werden, mußten jedoch IJ I schließlich entfallen, weil der Umfang des sivrechten bei Sportveranstaltungen wie Bandes zu groß war. Vgl. hierzu auch Franz Pferderennen oder Fußballspielen an der Kafka, Drucke zu Lebzeiten. Kommentar- Tagesordnung. Vgl. Luke McKernan, Topi- band, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main cal Budget. The Great British News Film, 1996, s. p3-p5. BFI, London 1992, S. 96-100. 14 Alle drei Aspekte fließen bei Demetz 38 Vgl. Aldo Bernadini (Hg.),Archivio del (Anm. 5) und lngold (Anm. 5) ein. cinema italiano. Vol. I: II cinema muto 15 Kafka, Drucke zu Lebzeiten (Anm. 2), 1905-1931, Edizioni Anica, Roma 1991, S. s. 401. 83 (Cines, Referenznr.911) und S. 84 (Am- 16 Kafka in Brod (Anm. 1), S. 273. brosio, Referenznr. 912). Der Film der 17 Demetz (Anm. 5), S. 77. Ambrosia wird auch von Prolo (Anm. 36), 18 Kafka in Brod (Anm. 1), S. 274. S. 12 5 aufgelistet. 19 Ebenda, S. 275. 39 Ebenda, S. 78 (Referenznr. 844). Die 20 Vgl. Demetz (Anm. 5), S. 64. Länge des zweiten Teils wird mit 240 m an- 21 Kafka in Brod (Anm. 1), S. 276. gegeben, die der erhaltenen, viragierten 22 Ebenda. In dieser Ausgabe wird der Kopie beträgt 223 m. Vgl. auch Aldo Ber- Name des Fliegers Guido Moncher als nadini, Cinema muto italiano. I film »dal »Moucher« angegeben, ein offensichtlicher vero« 1895-1914, La Cineteca del Friuli, Druckfehler. Monchers Heimat ist, genau Gemona 2002, S. 116f. Herbert Birett (Das wie Prag, Teil Österreich-Ungarns, er fliegt Filmangebot in Deutschland 1895-1911, jedoch, wie Kafka festhält, unter italieni- Filmbuchverlag Winterberg, München scher Flagge. 1991, S. 173) listet den Film unter dem Titel 23 Ebenda, S. 277. ERSTER INTERNATIONALER WETIBEWERB FÜR 24 Ebenda, S. 276f. LUFI'SCHIFFE UND FLUGMASCHINEN, BRESCIA 2 5 Vgl. hier und im folgenden Binder (Referenznr. 3681) auf. Ich habe den Film (Anm. 2), S. 76. 2003 auf den Festivals in Bologna und in 26 Vgl. Demetz (Anm. 5), S. 49f. und 197. Sacile als 35mm-Kopie projiziert gesehen. 27 Kafka in Brod (Anm. 1), S. 278. Diese Für diese Untersuchung stand mir eine Vi- Passage fehlt in der veröffentlichten Fas- deokopie aus der Cineteca di Bologna zur sung. Verfügung. 28 Ebenda, S. 279. 40 Anzeige vom 8. 9. 1909 (Anm. 3). 29 Ebenda, S. 280. 41 Ebenda. 30 Ebenda, S. 281. 42 Ebenda. 31 Vgl. ebenda, S. 282. 4 3 Ebenda. Im Original fett gedruckt und 32 Ebenda, S. 279f. unterstrichen. 33 Vgl. Demetz (Anm. 5), S. 83. 44 Ebenda. Alle Namen und Titel sind im 34 Hanns Zischler, Kafka geht ins Kino. Original fettgedruckt. Rowohlt Verlag, Reinbek 1996, S. 25. 45 Vgl. hierzu Frank Kessler, »Was 35 Anzeige vom 8. 9. 1909 (Anm. 3; Herv. kommt zuerst? Strategien des Anfangs im i. Orig.). frühen nonfiction-Film«, Montage/AV, Jg. 36 Ebenda (Herv. i. Orig.). In Italien wird 12, Nr. 2, 2003, S. 103-118. offenbar derselbe Text als Rundschreiben 46 Die Liste der Zwischentitel in Berna- dem Bestellformular hinzugefügt ( »una let- dini, I film »dal vero« (Anm. 39), S. 116f., tera gia stampata a cui era unito un modulo läßt allerdings eine leicht abweichende Se- per l'ordinazione delle copie delle pelli- quenzfolge vermuten: 1. Arrivo degli aero- cole« ). Vgl. Maria Adriana Prolo, Storia del plani; 2. Anzani cambia un'elice; 3. Ultimi cinema muto italiano, Bd. 1, Poligono, Mi- preparativi; 4. Bleriot; 5. Curtiss; 6. Rou- lano 1951, S. 103. gier; 7. Cobianchi; 8. Caldera,ra tenta di vo- 37 Noch im Großbritannien der 192oer lare e l'aeroplano s'infrange; 9. Bleriot ten- Jahre ist offenbar das Verletzen von Exklu- ta di guadagnare il gran premio di Brescia; 132 10. Cuniss compie i 50 km in 40'29"; 11. psychology.msstate.dedu/gallery/movies, Rougier sale a 116! metri; 12. La stazione di WB_onboard.html findet sich ein Film, be segnalazione; 13. Come si misura Ja veloci- dem die Kamera auf dem Flugzeug Wilbu1 ta de! vento. Der Unterschied betrifft vor Wrights montiert ist und der die genannter allem die Tatsache, daß dieser Liste zufolge Probleme gut illustriert. Laut Wanda Strau· die Aufnahmen der Signalanlage und der ven (Anm. 49) wird dieser Film auf der In- Windgeschwindigkeitsmessung erst am ternetseite irrtümlich auf 1907 datiert, statl Ende des Films gezeigt werden. Im erhalte- richtig auf 1909. nen Material ist nach den Bildern, die Rou- p Vgl. Michelle Aubert, Jean-Claude Se- giers Leistung beim Höhenflug illustrieren, guin (Hg.), La Production cinematogra- das Wechseln eines Propellers zu sehen. phique des Freres Lumiere, BIFI/Eds. Me- Diese Sequenz könnte den Bildern nach moires de cinema, o. 0. 1996, S. 193. Zwischentitel 2 in Bernadinis Liste entspre- 52 Joachim Paech, »D as Sehen von Filmen chen. und filmisches Sehen. Anmerkungen zu1 47 Der Absturz Calderaras, den dieser un- Geschichte der filmischen Wahrnehmun~ verletzt übersteht, ereignet sich am 8. 9. im 20.Jahrhundert«, in: Christa Blümlinge1 1909. Vgl. Demetz (Anm. 5), S. 78f. (Hg.), Sprung im Spiegel. Filmisches Wahr- 48 Zum Verhältnis Eisenbahn und frühes nehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Kino gibt es zahlreiche Untersuchungen. Sonderzahl, Wien 1990, S. 43. Stellvertretend sei hier genannt: Lynne Kir- 53 Luke McKernan, »Aufbruch in die by, Parallel Tracks. The Railroad and Silent Lüfte: Die Anfänge des Filmens und Flie- Cinema, Duke UP, Durham 1997. Zum gens«, in: Die Kunst zu Fliegen in Film und Thema Photographie, Film und Aviatik vgl. Fotografie (Anm. 48), S. 105f. McKernan den Katalog zu einer Ausstellung in Düs- vergleicht die Aufnahme vom Aeroplan seldorf, Die Kunst zu Fliegen in Film und Wrights mit einemphantom ride, geht aller- Fotografie, NRW Forum für Kultur und dings im Gegensatz zu Strauven (Anm. 49) Winschaft, Düsseldorf 2004. Am 22. 10. nicht auf die grundlegenden Unterschiede und 7. 11. 2000 zeigte Roland Cosandey im in der visuellen Erscheinung beider ein. Stadtkino Basel ein Filmprogramm unter 54 Roland Cosandey, »Fliegen, filmen, dem Titel »Der Traum vom Fliegen«. Wäh- träumen: Ein Patchwork«, Basler Magazin, rend der Giornate de! Cinema Muto in Sa- Nr. 42, 21. 10. 2000, S. 9. eile im Oktober 2003 präsentierten Stephen 55 Vgl. Gerard Genette, Palimpsestes. La Herbert und Luke McKernan das von ih- litterature au second degre, Eds. du Seuil, nen zusammengestellte Programm »T aking Paris 1982. to the Air: Early Film and Early Flight«. 56 Vgl. Michael Baxandall, Ursachen der 49 Wanda Strauven, »>Lookin up, looking Bilder. Über das historische Erklären von down,. Huldiging van 100 jaar vliegkunst Kunst. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1990, tijdens het 22e Pordenone Silent Film Fe- S. 66. Zur Produktivität dieser Begriffe für stival, Sacile, 11-18 oktober 2003«, Tijd- filmhistorische Untersuchungen vgl. Frank schrift voor Mediageschiedenis 7, 1, 2004, Kessler, »Historische Pragmatik«, Monta- S. 138 (Übers. FK). ge!AV,Jg. 11, Nr. 2, 2002, S. 104-112. 50 Auf der Internetseite http://invention. 57 Zischler (Anm. 34), S. 25. 133