212 Patrick Vonderau Die Logik organisierter Sensationen. Dogma 95 und die Kunst, in Europa einen Film zu vermarkten Kunst = Kapital Joseph Beuys, 1979 Einem traditionellen Denkmuster zufolge stehen der europäische und der amerikanische Film in einem Gegensatzverhältnis: Der eine ist Kunst, der andere Ware. Die gängige Unterscheidung hat historische Gründe in der Struktur der Filmmärkte und in institutionalisierten Um- gangsweisen mit dem Medium Kino. Sie lässt sich bis in die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurückverfolgen, als das Problem «Holly- wood» nach einer europäischen Lösung verlangte. Um ihre Produktion vom US-amerikanischen Spielfilm zu differenzieren, dessen dauerhafte Vormachtstellung rasch absehbar wurde, führten die europäischen Film- hersteller einen «Mechanismus der Diskriminierung» (Neale 1981, 14) ein: Sie positionierten ihre Werke über nationalkulturelle Merkmale und eine ‹Ernsthaftigkeit› des Ansatzes, die dem populären amerikanischen Unterhaltungskino mit seiner Amalgamierung von Stilen und Identitä- ten leicht abzusprechen war. Damit gelang es zugleich, jene staatliche Schirmherrschaft für das Kino zu beanspruchen, die seit der Aufklärung für eine Förderung der Künste und die Protektion der Kunstmärkte sorgte (vgl. O’Hagan 1998). Aus ökonomischer Sicht handelt es sich hierbei um eine Tendenz der Monopolisierung. Trotz wiederholter Anläufe – eben im Rahmen der paneuropäischen Vertriebsstrategien Mitte der 1920er Jahre, aber auch der «Neuen Wellen» in den 60er Jahren oder im Zuge der Gatt- Verhandlungen Mitte der 90er – sind diese Versuche zur Schließung des Marktes letztlich erfolglos geblieben. Für das europäische Filmmarketing spielen die ihnen unterliegenden Strategien gleichwohl bis heute eine zentrale Rolle. Max Weber hat frühzeitig auf deren ökonomische Logik verwiesen: Konkurrenz lässt sich einschränken, indem «irgendein äußer- lich feststellbares Merkmal» der Konkurrierenden zum Anlass genom- men wird, «ihren Ausschluß vom Mitbewerb zu erstreben» (1980 [1922], 213 201). Ein solches Kriterium, über welches sich der ausschließliche Cha- rakter der Ware Film behaupten lässt, ist eben die Idee des nationalkul- turellen Erbes (ibid., 530). Wie die «Nation» auch, sind Kunst und Kultur mit Distinktions- und Prestigevorstellungen verbunden, über die sich Filme bewerben und filmpolitische Ansprüche legitimieren lassen. Selbst wenn diese Aufspaltung des Marktes gelegentlich infrage ge- stellt wurde (nicht zuletzt durch die Diversifizierung der amerikani- schen Produktion selbst), hat sie sich doch bis heute als ein Leitprinzip der europäischen Filmproduktion und -vermarktung bewährt. Auch die Europäische Kommission bedient sich, wenn sie von der «dual nature of cultural assets» spricht, der scheinbaren Dichotomie von Kunst und Kommerz, um ihre Fördermaßnahmen kulturell zu legitimieren.1 Um dieses Leitprinzip und die mit ihm verbundenen Mittel der Filmwer- bung einer Analyse zu unterziehen, ist zunächst sein konstruierter Cha- rakter zu verdeutlichen. Einmal abgesehen von der Frage, inwiefern ein solches Prinzip ästhetisch, politisch oder kulturell berechtigt ist, wirft es doch Probleme auf, die über einen verengten Kunstbegriff und kulturelle Stereotypien weit hinausgehen. So wären aus Sicht der Pragmatik «Kunst» und «Ware» ohnehin keine dem Film innewohnenden Eigen- schaften, sondern lediglich Nutzungsformen, die an einem bestimmten Moment seiner Auswertungsstrecke in den Vordergrund treten. Und aus ökonomischer Perspektive funktioniert die Gegenüberstellung schon deshalb nicht, weil sie impliziert, dass Kunst keine Ware sei. Dabei kann kein Zweifel daran bestehen, dass Werke der Bildenden Kunst oder der Literatur ebenso ökonomische Funktionen erfüllen, wie dies Filme tun. Ich möchte im Folgenden in einer Fortführung dieser pragmati- schen und ökonomischen Argumentationslinien skizzieren, worin die Warenaspekte der Filmkunst bestehen und mit welchen Strategien euro- päische Filme als Kunst vermarktet werden. Ich will dies in einer verglei- chenden Sichtweise tun und Übereinstimmungen zwischen dem euro- päischen Kunst- und Filmmarkt herausarbeiten, die für dessen (Selbst-) Verständnis aufschlussreich sind. Im Mittelpunkt wird dabei die Lancie- rung der so genannten Dogma-Filme stehen, die überraschende Paralle- len zu den Verfahren aufweist, derer sich der Werbemogul Charles 1 So geschehen im Rahmen einer Debatte über die Verabschiedung des Media- Plus-Programmes. 2261st Council Meeting, Cultura/Audiovisual Affairs. Brüssel, 16.5.2000, zitiert nach der Pressemitteilung 8349/00 (Presse 154). In den Empfehlun- gen des Europäischen Parlaments heißt es: «Kinofilme sind ein wesentlicher Bestand- teil unseres Kulturerbes und verdienen daher unseren vollen Schutz. [...] Sie zeugen vom Reichtum der europäischen kulturellen Identitäten und der Vielfalt ihrer Völker» (KOM 2004). 214 Saatchi 1997 für die Ausstellung «Sensations» bediente. Doch zuvor eini- ge Klärungen, was Film und Kunst als kulturelle Güter anbelangt. Die Kunst als Ware Individualität und Originalität sind Kriterien, anhand derer gern zwi- schen Kunst und Nicht-Kunst unterschieden wird.2 Für den Zuschauer, der im Kinosaal einen Film erlebt, ist das Gefühl der individuellen An- sprache dabei ebenso wesentlich wie für den Besucher einer Galerie oder eines Konzertes. Hierfür hat sich nicht nur eine bestimmte ästhetische Form, sondern seit der Romantik auch ein Künstlerbild als funktional er- wiesen, das den Urheber des Werks gleichsam spiegelbildlich seinem Re- zipienten gegenüberstellt: als ein innerlich motiviertes, Erkenntnis suchendes Individuum, das vom Markt und von den materiellen Moti- ven, die das Umfeld der Erlebnissituation prägen, unabhängig ist oder ihnen sogar ablehnend gegenübersteht. Individualität gilt jedoch auch aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht als ein Schlüsselkriterium, eben um den Warencharakter der Kunst zu beschreiben. Die Vertreter der Kunstökonomik betrachten Künstler und ihr Publikum als Individuen, die Kosten und Nutzen von Handlun- gen im Vergleich zu alternativen Möglichkeiten rational abwägen, wobei sie in ihren Entscheidungen von bestimmten Einschränkungen abhängig sind (individuellen Präferenzen, Einkommen, informellen Regeln etc.) (Pommerehne/Frey 1993, 5).3 Aus dieser Perspektive bringt Kunst Indi- viduen einen Nutzen und ist deshalb auch Gegenstand individueller Nachfrage. Kunst wird von Individuen geschaffen und stellt eine indivi- dualisierte, also heterogene Ware dar, deren Angebot mit dem Leben des Künstlers erlischt (Throsby 1997, 54). Mithin unterliegen Herstellung und Verbrauch von Kunst der Knappheit; sie erfordern den Einsatz be- grenzter Ressourcen in Form von Arbeit, Kapital, Zeit und Einfallsreich- tum. Kunst ist jedoch nicht nur eine knappe Ware, sondern steht zu- gleich auch in Konkurrenz zu anderen kulturellen Gütern. Gerade im Blick auf öffentliche Subventionen wird deutlich, dass Kunst keinen Ab- 2 Vgl. hierzu den Beitrag von Joëlle Farchy in diesem Band. 3 Bislang haben die Cultural Economics nur wenig Resonanz in der Filmwissenschaft hervorgerufen, von Ausnahmen wie Douglas Gomery und Samuel Cameron einmal abgesehen. Im Journal of Cultural Economics sowie den einschlägigen Sammelbänden (Towse 1997a) finden sich Anknüpfungspunkte, um über den Film als kulturelles Gut nachzudenken. 215 solutheitsanspruch geltend machen kann, sondern sich stets gegenüber Substitutionsgütern bewähren muss. Film und Kunst sind echte ökonomische Güter, die hinsichtlich ih- res Warencharakters einige deutliche Übereinstimmungen aufweisen. Sowohl das Herstellen eines Kunstwerks als auch das eines Spielfilms lässt sich mit der Anfertigung eines Modells oder Prototyps vergleichen: Beide müssen ohne Rezepte auskommen, die ein erfolgreiches Resultat garantieren. Auch was die Gütertypologie betrifft, haben Film und Kunst mehr miteinander gemein als mit anderen Waren: Sie vereinen Merkma- le von öffentlichen Gütern, Erfahrungsgütern und Dienstleistungen (weshalb sie auch als «goodsandservices» bezeichnet werden), an denen der Konsument Geschmack erst durch Konsum entwickelt (Towse 1997b, xvii). Schließlich kommt dem Künstler für das, was bei Film und Kunst die ästhetische Erfahrung und den wirtschaftlichen Charakter ausmacht, gleichermaßen zentrale Bedeutung zu. Er oder sie steht nicht nur für die Produktionsinstanz, sondern auch für das wichtigste Distinktionsmerk- mal, mithilfe dessen ein künstlerisches Werk von konkurrierenden Wer- ken und nicht-künstlerischen Artefakten unterschieden wird. Bezeichnenderweise geht das romantische Bild des Künstlers als al- leinigem Urheber eines Werks just seit dem späten 19. Jahrhundert um, als die zunehmende Rationalisierung und Standardisierung industrieller Produktionsabläufe die menschliche Individualität infrage zu stellen be- gann (Vaughan 1983, 8f.). Seitdem vermittelt das in- und außerhalb des Werkes angelegte Image des Künstlers zum Publikum und sorgt dafür, dass der Eindruck der persönlichen Kommunikation selbst dort auf- rechterhalten bleibt, wo der Künstler nicht mehr direkt in Erscheinung tritt. Neben dieser kommunikativen Funktion erfüllt der Künstler also zu- gleich eine produktinformelle und damit wertende: Sein Name dient als eine Art Etikett, das bestimmte Eigenschaften eines Artefaktes beschreibt und so dessen Verständnis und Zirkulation regelt. Joëlle Farchy spricht in diesem Zusammenhang von einem «Signal», an dem sich (nicht nur) die Konsumenten auf dem europäischen Filmmarkt bei ihren Kaufent- scheidungen orientieren (in diesem Band). Schließlich dient der Name des Schöpfers traditionell einem wichtigen juristischen Zweck. Er ist mit den Eigentumsaspekten eines kulturellen Gutes verbunden, was im Falle des Films nicht nur die Rechte der Urheberschaft, sondern eben auch die Originalität der «Vision» und «Handschrift» des öffentlichen Gutes tan- giert – Merkmale, die sich zur Vermarktung von Nachfolgeprodukten ei- nes Prototyps einsetzen lassen. Angesichts dieser Übereinstimmungen scheint es wenig plausibel, wenn im herkömmlichen Kulturmarketing eine prinzipielle Unterschei- 216 dung kultureller Güter eingeführt wird (Colbert 1994). Demnach diffe- rierten Film und Kunst hinsichtlich der Position, die sie auf einer Skala zwischen Produkt- und Marktorientierung einnehmen. Die Güter der multinational organisierten Medienindustrie seien, so die Behauptung, im Gegensatz zu den in handwerklicher Manufaktur erzeugten Werken der Bildenden Kunst nicht auf die Kreation des Produktes selbst, son- dern allein an der Nachfrage ausgerichtet. Kunst im herkömmlichen Sin- ne würde sich darauf beschränken, ihr Angebot zu vermarkten; es hand- le sich also um einen product to client-Ansatz, bei dem es lediglich darum gehe, die Konsumenten zu finden, von denen erwartet werden kann, dass sie das Produkt mögen: «Marketing gibt einem Künstler nicht vor, wie er sein Werk gestalten soll. Vielmehr besteht die Aufgabe des Mar- keting darin, ein passendes Publikum für die Schöpfungen und Interpre- tationen des Künstlers bereitzustellen» (ibid., 13). Die Unterscheidung ist problematisch, weil sie unterstellt, dass sich Kreation und Kapital, ästhetische Ambition und der Blick auf den Markt ausschließen, und weil auf diese Weise zugleich übersehen wird, dass die Vermarktung oftmals genuiner Bestandteil des Kunstwerks selbst ist. James Joyce etwa wäre ein bekanntes Beispiel, anhand dessen sich die Behauptung, Kunst sei nicht nachfrageorientiert, leicht widerlegen ließe. Denn zweifellos erlangte der Literat auch wegen seiner Kontrolle über das Marketing von Ulysses (1922) dauerhafte Berühmtheit: Er schrieb nicht nur einen der sensationellsten Romane seiner Zeit, sondern sorgte sich auch um den Versand, die Rekrutierung geeigneter Kritiker und die Verbreitung von Schlagworten, mithilfe derer das Distinkte seines Stils anzupreisen war (Patterson/Brown 2000). Dass Kunst die ultimative Ware ist, belegt auch das Engagement von trend collectors wie Charles Saatchi, die aus der Kommodifizierung der Kunst hohe persönliche Vor- teile ziehen. Der Mitbegründer der global agierenden Werbeagentur Saatchi & Saatchi kaufte während der Boomphase des Kunstmarktes in den 80er und 90er Jahren Kunst für Investmentzwecke und nutzte einen ganzen Apparat aus Galerie, Ausstellungen, Verleih und Katalogen, um den Status und damit den monetären Wert seines Besitzes zu erhöhen. Saatchi gehört heute zu den super collectors, die den Preis eines Bildes allein dadurch heraufzusetzen vermögen, dass sie es sich anschauen (Hatton/Walker 2000, 159). Was das Kino betrifft, so wird der Warencharakter der Kunst wohl in keinem Bereich augenfälliger als in dem des Autorenfilms. Die Auto- renpolitik hängt in ihren verschiedenen nationalen und historischen Spielarten direkt mit dem strukturellen Informationsgefälle zusammen, das den Markt für kulturelle Güter insgesamt prägt. Wenn jedes kultu- 217 relle Produkt ein Prototyp ist, dann bedeutet dies, dass der potenzielle Konsument vor der Kaufhandlung erheblichen Aufwand betreiben muss, um den Nutzen zu ermitteln. Während der Anbieter zumindest weiß, was sein Produkt nicht leistet, muss der Zuschauer die Information darüber, was es leisten könnte, mühsam aus verschiedenen Quellen zu- sammentragen. Der Regisseur ist, wo er zum alleinigen Urheber erklärt wird, ein «Label» in Farchys Sinne (in diesem Band), mithilfe dessen der Konsument einen produktübergreifenden Nutzen mit verringertem Auf- wand kalkulieren kann. Das bedeutet, dass der Autorenfilm im Grunde nichts anderes als die europäische Variante dessen darstellt, was die Genreproduktion Marke «Hollywood» seit jeher versucht. In Anlehnung an Peter Nelson (1970) ließe sich der Autorenfilm als Erfahrungsgut beschreiben, im Ge- gensatz zu Genres, die Eigenschaften von Suchgütern aufweisen. Auf der produktinformellen Ebene dienen beide dazu, dem Zuschauer über Ver- gleichsangebote die Kaufentscheidung zu erleichtern. Dabei werden die Qualitäten eines neuen Actionfilms im Vorfeld eher in der Art eines all- gemeinen Leistungsprinzips vermittelt: Action «delivers speed in a sto- ry», wie Richard Dyer treffend vermerkt (1994). Einem Film von Lars von Trier hingegen begegnet der Zuschauer mit sehr konkreten Vorstel- lungen, was formale und thematische Merkmale sowie die zu erwarten- de emotionale Gratifikation anbelangt. Seine Kaufentscheidung hängt in diesem Fall von subjektiven Merkmalen ab, die er schon im Umgang mit einem Prototyp oder durch Vertrauenspersonen erfahren hat. Zu diesen gehören (neben Cineasten, Kritikern und Wissenschaftlern) nicht zuletzt die Film-Künstler selbst, wird doch unterstellt, dass die distinkten Attri- bute, mit denen ein Urheber im paratextuellen Umfeld des Films ausge- stattet wird, auch das Werk «prägen»: Lars von Triers öffentliche Persona ist mit der moralischen Zwiespältigkeit ebenso wie mit Existenzangst verbunden, und so dürfen wir erwarten, dass die Filme dem «intentional self» (Corrigan 1991, 108) ihres Schöpfers entsprechen. Während Genres also eine Kosten/Nutzen-Balance vorgeben, leitet ein Auteur-Image die ganze Kommunikationssituation an. Obwohl Genre- und Autorenfilme auf diese Weise ein unterschiedliches Publikum ansprechen (die ersten eher ein breites, letztere eher ein spezialisiertes), dienen somit beide dem Versuch, die Kontrolle über die Kaufentscheidung und Filmwahrneh- mung des Publikums sicherzustellen. 218 Probleme der Produktinformation Dogma, so die These, ist die Reaktion auf das Problem, dass durch die Marktsituation spätestens seit Beginn der 90er Jahre eben diese Kontrolle nicht mehr mit herkömmlichen Mitteln zu erreichen ist. Zugleich reflek- tiert Dogme 95 (wie die «Bewegung» im Original heißt) Eigentümlich- keiten im Wandel des Kunstverständnisses und Kunstmarktes. Ich möchte hier nicht über die Innovativität des Konzeptes spekulieren, wie dies in einem Teil der akademischen Publizistik der Fall ist (vgl. Hall- berg/Wewerka 2001). Auch die Behauptung, Dogma könne auf dem glo- balisierten Markt künftig als Modell für die Filmpolitik kleiner Länder dienen, darf mit einiger Skepsis bewertet werden (vgl. Hjort/MacKenzie 2003). So sind mittlerweile zwar weltweit rund 30 Dogma-Filme entstan- den, doch nur der kleinste und vor allem: dänische Anteil der Produktio- nen hat einen internationalen Verleih und öffentliche Aufmerksamkeit gefunden. Im Blick auf das Marketing spielte Dogma nach Auskunft von Peter Ålbæk Jensen (Zentropa) überdies nur bis 1999 eine Rolle.4 Ich möchte mich deshalb darauf beschränken, einige Übereinstimmungen zwischen Dogma und Saatchis Strategie aufzuzeigen, junge britische Künstler aus seiner Sammlung über die Ausstellung «Sensations» publik zu machen, wobei ich zugleich analysieren werde, welcher Mittel sich diese Strategien jeweils bedienten und aus welchen Gründen dies ge- schah. Die Krise der produktinformellen und kommunikativen Kontrolle hat dabei zu einem Teil mit Veränderungen zu tun, die schon seit den 70er Jahren beobachtbar sind. Die Aufspaltung des Filmmarktes funktio- nierte, solange das Angebot an heimischen Autorenfilmen überschaubar war, solange sich eine eigene Diskurskultur um diese Autoren herausbil- den konnte und solange nationale Institutionen den Kaufentscheidungs- prozess mit ihren inhärenten Normen und Traditionen anleiteten und dabei zugleich gesetzliche Maßnahmen zum Schutz des Marktes verfolg- ten (vgl. Frey 1997). Seitdem der «Autor» jedoch auch im Marketing der amerikanischen Blockbuster zu einem Konsumsignal aufgebaut wird, Regisseure von «major independents» wie Quentin Tarantino in Europa durchschlagen (Nitsche 2000) und Hollywood auf den längst gewinn- 4 Ich möchte an dieser Stelle Thomas Röder danken, der mir sein Interview mit Peter Ålbæk Jensen für diesen Aufsatz zur Verfügung gestellt hat, und ebenso den Studie- renden des Studienganges Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation der Univer- sität der Künste Berlin für anregende Diskussionen, namentlich Sascha Perkins und Maren Müller. 219 trächtigeren Nachfolgemärkten eine neue Autorenpolitik betreibt,5 ero- diert das klassische Orientierungssystem des Autorenkinos. Informatio- nen über neue Filme werden längst nicht mehr allein von nationalen In- stitutionen gefiltert, sondern stehen im Internet oder im Begleitmaterial von DVDs, deren Produzenten – wie im Fall der Criterion Collection – keine Bedenken haben, Liebhaber-Editionen von Michael Bays Armaged- don (USA 1998) und Jean-Luc Godards Le mépris (Die Verachtung, F/I 1963) unter einem Label zu vereinen. Mit der Digitalisierung wird der Film zudem unfreiwillig zu einem kollektiven Gut; potenzielle Nutzer lassen sich nun oftmals selbst dann nicht mehr vom Konsum ausschlie- ßen, wenn sie keinen Beitrag zu seiner Finanzierung leisten (vgl. Hein- rich 1994, 36f.). Was die Produktions- und Vertriebsseite des Kunstkinos anbelangt, so erweist sich auch hier die Globalisierung vor allem als transatlanti- sches Phänomen. Der europäische Filmmarkt schrumpft leicht und un- terliegt zugleich einer Fragmentierung, in der einige große, multinatio- nal ausgerichtete Firmen den Markt in oligopolistischer Manier unter sich aufteilen. So macht das Kino nach dem Fernsehen und dem aufblü- henden Heimkinosektor etwa 7,4 Prozent am Gesamtwert der audiovi- suellen Märkte in Europa aus. Die Anzahl der Kinobesuche ist in den 15 alten EU-Staaten relativ stabil, auch wenn sie im Jahr 2003 um 4,4 Pro- zent zurückging; 26 Prozent der Besuche entfielen dabei auf europäische Filme, die im Übrigen meist hauptsächlich im Inland erfolgreich waren. Rund 80 Prozent aller Unternehmen stellten lediglich einen Film im Jahr her, weil die wenigen, oft in Kooperationsnetzwerken organisierten Marktführer hohe strategische und finanzielle Eintrittsbarrieren errich- ten. Zugleich erhöhte sich der US-amerikanische Anteil am schrumpfen- den europäischen Filmmarkt 2003 leicht um 1,6 Prozent. Das europäi- sche Außenhandelsdefizit gegenüber den USA wächst im audiovisuellen Sektor stetig an; im Jahr 2000 betrug es 8,2 Milliarden US-Dollar. Zwar konnten die großen Firmen der europäischen Filmindustrie ihre Be- triebsspanne zwischen 1997 und 2000 fast verdoppeln, doch haben sich ihre Renditekennzahlen verschlechtert. Mit der Deregulierung nationaler Fernsehmonopole, Joint Ventures, Entwicklungsprogrammen und einer aggressiven Expansionspolitik im Bereich des Aufführungssektors hat sich die US-amerikanische Vormacht weiter verstärkt.6 5 Vgl. hierzu den Text von Lutz Nitsche in diesem Band. 6 Zahlen von der Website der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle (www.abs.coe.int) sowie Aas (2003) und Wirtz (2003). 220 Das Einzige, was in Europa konstant steigt, sind die öffentlichen Beihilfen für die Film- und Fernsehproduktion sowie die Anzahl der um sie konkurrierenden Anbieter. Die Summe an Fördermitteln wuchs von 500 Millionen im Jahre 1996 auf 1,272 Milliarden 2002. Die Struktur- schwäche der europäischen Filmindustrie geht also einerseits mit einer steigenden US-Konkurrenz einher und andererseits mit einem Zuwachs an Mitbewerbern um die nationalen und supranationalen Fördermittel. Für die Anbieter künstlerisch positionierter Produkte bedeutet dies, dass sie neue Strategien der Vermarktung benötigen, und zwar sowohl gegen- über den Förderinstanzen als auch im Blick auf das Publikum, das zum größten Teil dem amerikanischen Mainstream an der Kinokasse den Vor- zug gibt. Anders ausgedrückt, kann die Filmkunst kein reines Erfah- rungsgut bleiben, wenn sie im globalisierten Wettbewerb bestehen will, sondern sie muss werden wie die kulturell homogenisierten Suchgüter aus den USA. Sie muss damit zugleich die Aufteilung des Publikums in «Eingeweihte» und «Laien» überwinden, also in Zuschauer, die Zeit und Ressourcen investieren, um sich eine spezifische Erfahrungsbasis zu schaffen, und solche, die eher spontane Entscheidungen für ein Produkt treffen. Tut sie dies nicht, können die Kosten der Informationsbeschaf- fung gegenüber dem Nutzen im Vergleich zur US-Produktion für die Zuschauer zu hoch werden.7 Dogma und die «Young British Artists» Sowohl die Lancierung des Dogma-Manifestes 1995 als auch die «Sensa- tions»-Ausstellung im Londoner Burlington House 1997 verdeutlichen, in welchem Ausmaß künstlerisches Handeln den Marktbedingungen unterliegt. Beide Phänomene entstanden zunächst im unmittelbaren Zu- sammenhang mit der europäischen Förderpolitik. Als Lars von Trier am 20.3.1995 das «Keuschheitsgelübde» während einer Zusammenkunft aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der Kinematographie in Paris vor- stellte, handelte es sich um ein publicity event, das den internationalen Markteintritt bereits geplanter Produktionen vorbereitete und zugleich deren nationale Finanzierung sicherte. Von Triers spektakulärer Auftritt im Kino Odéon hatte zur Folge, dass die dänische Kulturministerin Jytte 7 Vgl. den Aufsatz von Joëlle Farchy in diesem Band. Die Europäische Kommission ist sich des Problems inzwischen bewusst geworden und hat mit dem Media- Plus-Programm neue Richtlinien geschaffen, welche die Entwicklung neuer Vermark- tungsstrategien ausdrücklich mitfördern. 221 Lars von Trier bei der Präsentation des Dog- ma-95-Manifests in Paris. Hilden die Förderung von vier Low-Budget-Produktionen aus Lottomit- teln in Höhe von 15 Millionen Kronen zusagte. Da hieraus durch Inter- vention des Dänischen Filminstitutes (Det Danske Filminstitut) nichts wurde, weil sich diese zentrale Institution bei der Entscheidung über die Mittelvergabe übergangen fühlte, nutzten von Trier und seine «Brüder» den Hype um das Konzept, um andere Anbieter zu verpflichten. 1998 er- warb der dänische Fernsehsender DRTV die Rechte der geplanten vier Dogma-Filme für 65 Prozent des Budgets, das heißt für ungefähr 700 000–800 000 Euro (Ålbæk Jensen 2003; vgl. Hjort/MacKenzie 2003; Christensen 2000 und 2003). Mit dem Silbernen Bären für Mifunes Sidste Sang (Mifune, DK/S 1999, Søren Kragh Jacobsen) bei der Berlinale 1999 wurde Dogma laut Ålbæk Jensen als Marketing-Plattform obsolet, weil Festivalpreise für die Filmhändler eine weitaus größere Absatzgarantie bedeuten; in der Tat stand zu diesem Zeitpunkt nicht Idioterne (Idioten, DK/S/F/NL/I 1998, Lars von Trier) oder Festen (Das Fest, DK/S 1998, Thomas Vinterberg), sondern eben Mifune für den international größten Verkaufserfolg. Ähnlich wie im Falle Dogma, handelte es sich auch bei den «Young British Artists» (kurz: yBa) um eine «Bewegung», die von einer Einzel- person – nämlich einem Sammler – initiiert worden war. Genau genom- men, begann diese wie bei Dogma mit einer Form von Patronage: Charles Saatchi forderte zu Beginn der 90er Jahre ausgewählte Künstler auf, mit neuen Werken zu seiner Sammlung beizutragen, darunter Damien Hirst, Sarah Lucas, Marc Quinn, Jenny Saville, Rachel Whiteread und Mark Wallinger. Die Show «Sensations. Young British Artists from the Saatchi Collection», 1997 nach einer Reihe von Ausstellungen mit der Royal Aca- demy veranstaltet, folgte dann einer vergleichbaren kommerziellen Lo- gik. Über drei Jahre hatte die aus staatlichen Fördermitteln finanzierte 222 Königliche Akademie Defizite angehäuft, weshalb eine private Finanzie- rung nötig wurde, für die sich aufgrund des spektakulären Konzeptes sowohl das Auktionshaus Christie’s als auch das Stadtmagazin Time Out interessierten (Lewis 1998, 6; Hatton/Walker 2000, 148–187). Der Hype um «Sensations» weckte internationale Aufmerksamkeit für die britische Kunst und hob den Wert der Sammlung Saatchi. Die Organisatoren beider Ereignisse folgten damit der Notwendig- keit, über das herkömmliche Publikum des (Film-)Kunstmarktes hinaus neue Interessenten anzusprechen. Um das general audience für die Kunst zu gewinnen, mussten sie ein Image-Problem überwinden, das dem Kunstbetrieb gerade aus Sicht der jüngeren Konsumenten anhaftet. Die Konkurrenz aus Hollywood und die zahlreichen Substitutionsprodukte im Bereich «populärer» Kultur legten es nahe, das neue Leitbild von Kunst und Künstler jünger, zugänglicher, «sensationeller» zu gestalten, also sinnlich und spektakulär, kurz: so wie die Werbung. yBa und Dog- ma stehen folglich nicht für Avantgarde-Bewegungen, sondern vielmehr für die Konvergenz zweier bislang getrennter Publika, «eines, das die Tendenz der modernen Kunstwelt zur Distanzierung teilt, das andere, das bereit ist, ein Image als Präsenz zu behandeln und eine Wirkung un- mittelbar wahrzunehmen» (Lewis 1998, 6). Die angestrebte Konvergenz von «Eingeweihten» und «Laien» wird dabei bereits produktionsseitig an der Co-Finanzierung durch Time Out und Christie’s bzw. die Beteili- gung des dänischen Fernsehens (DRTV) und dem Nordic Film & Televi- sion Fund bei Festen deutlich. In formaler Hinsicht präsentieren sowohl Dogma als auch yBa Wer- ke, die als ein Cross-Over aus Mainstream und den Ästhetiken «unab- hängiger» Kunstbewegungen angelegt sind. Weder die Arbeiten von Da- mien Hirst noch die von Thomas Vinterberg sind ästhetisch wirklich ra- dikal. Allerdings bieten sie auf thematischer Ebene Anknüpfungspunkte für Kontroversen, indem sie sich bereits skandalträchtiger Stoffe bedie- nen (Inzest, der Kopf einer Kuh) und damit einen pessimistischen und «ungeschminkten» Bezug auf die Kultur des Spätkapitalismus suggerie- ren. Mit ihrer Zusammenstellung stilistisch ganz unterschiedlicher Arte- fakte stellen sowohl die britische als auch die dänische Initiative ein un- terhaltsames Spektakel dar, das für ein breites Publikum leicht konsu- mierbar ist. Oder wie Peter Ålbæk Jensen es im Blick auf Dogme 95 aus- drückte: Das Einzige, was daran schwierig zu verstehen ist, sind die be- gleitenden Manifeste. Auch wenn «Sensations» nicht von Pamphleten begleitet war, bot die Ausstellung wie auch Dogma reichhaltigen Gesprächsstoff. Zunächst jeweils über ein Skandalversprechen lanciert – das vorprogrammierte 223 Eingreifen von Tierschützern im Falle von yBa oder das Engagement von Sittenwächtern angesichts der pornographischen Elemente in Idio- terne –, erreichten beide Konzepte im paratextuellen Umfeld ihres Er- scheinens eine derart breite Öffentlichkeit, dass sich der Eindruck auf- drängt, das Ereignis sei nicht mehr das Werk selbst, sondern die multi- mediale Inszenierung, die es begleitet: Sowohl im Falle der jungen Briten als auch der jungen Dänen darf angenommen werden, dass die Kunstre- zeption für einen Großteil des Publikums nicht mehr anhand der Werke selbst vonstatten ging. Zugleich arbeiteten sowohl Film- als auch Kunst-Release mit den «standard patterns of institutional consecration» (Lewis 1998, 5), die von einem eingeweihten Publikum erwartet werden: Die Werkzusammenstellungen wurden in Begleittexten wie Katalogen oder Kritiken als «Bewegungen» naturalisiert, in die jeweilige Kunstge- schichte eingelesen und mit dem Versprechen versehen, Probleme des bisherigen Kunstmarktes zu beseitigen. Rückblickend bestand die besondere Leistung beider Initiativen da- rin, die Kontrolle über die Kaufentscheidung der Konsumenten unbe- merkt zurückzuerobern. «Neu» daran erscheint weniger der Umstand, dass Beschreibungen von Formkriterien lanciert wurden, die als Stich- wörter für die (im Fall von yBa bezahlte) Kritik und als referenzielle An- kerpunkte für den Zuschauer dienten (vgl. Hatton/Walker 2000, 143). Gewiss, selten hat die Lenkung der Aufmerksamkeit so gut funktioniert wie in diesen beiden Fällen. Die Labels greifen ihrer Klassifikation durch die Wissenschaft vor – insbesondere die Kunstwissenschaft pflegt Werke und Künstler gerne nach Schulen, Gruppen und Manifesten zu ordnen –, weshalb es ihnen leicht gelingt, den akademischen Diskurs aufzubieten. Eine Erfindung der 90er Jahre ist dies gleichwohl nicht: Schon James Joy- ce wusste um die Notwendigkeit, die akademische Welt zu gewinnen, und mühte sich um Anspielungen und Ähnliches, «to keep the profes- sors busy for centuries arguing over what it meant» (Joyce, zit. n. Patter- son/Brown 2000, 75). Hervorzuheben sind vielmehr zwei andere Aspekte. Erstens han- delt es sich um eine auf Langfristigkeit angelegte Strategie. Im Gegensatz zu dem kurzen und intensiven Hype, der um die Premiere eines ameri- kanischen «major independent» herum veranstaltet wird, setzen Dogma und yBa auf eine Kontinuität des Interesses, die das einzelne Werk über- dauert und damit auch Nachfolge- und Vergleichsprodukten den Markt- eintritt erleichtern kann. Nicht die Arbeit eines Künstlers, sondern ein ganzer Kanon von Arbeiten steht im Brennpunkt des Interesses, und durch die aktive Einbindung der akademischen Welt wird dieses Interes- se wach gehalten, bis sich Prototypen finden, die es öffentlich wiederauf- 224 leben lassen.8 Zweitens bieten Dogma und die Lancierung der Young British Artists Lösungen auf das oben beschriebene produktinformelle Problem: Sie behandeln den Künstler wie ein Genre-Etikett. Konstruiert wird ein Prinzip, nicht eine Persona; ein Prinzip, das anhand von ein paar Formkriterien zusammenzufassen und weiterzuerzählen ist. Ganz offensichtlich ersetzt dieses Künstler-Prinzip die Rolle der Reputation (in der Kunst) bzw. jene des Track-Records (in der Filmproduktion), indem es hilft, das unsichere Produktdifferenzierungspotenzial beim Marktein- tritt abzustützen. Was weder Dogme 95 noch die «Sensations»-Ausstellung geleistet ha- ben, war die in den Begleitpublikationen versprochene Demokratisierung und Öffnung des (Film-)Kunstsektors. In den meisten seiner Regeln blieb Dogma konform zu den herkömmlichen Standards des Autorenfilms (keine Genreproduktion etc.), doch deutete das Konzept neue Antworten auf die Frage nach den Urheber- und Eigentumsrechten von Kunst an. Die einfa- chen Spielregeln der «Bewegung»machten Kunst auf den ersten Blick zu ei- nemöffentlichen Gut und ermöglichten es somit scheinbar allen Interessier- ten, selbst zum Künstler zu werden. Hierbei handelte es sich allerdings nur um die Abwandlung des alten Gesetzes, wonach das Image des Künstlers und sein Rezipient in der kommunikativen Situation auf Augenhöhe zuein- ander finden müssen.9 Die Public-domain-Antwort auf die Frage nach der Urheberschaft ist aus ökonomischer Sicht schon insofern widersinnig, als sich ein Künstler erst auf der Ebene von Angebot und Nachfrage definiert: Wo keine Nachfrage nach der Kunst herrscht, macht es wenig Sinn, sich als Künstler zu bezeichnen (Frey 1997, 44). Schließlich ließ sich künstlerische Urheberschaft nicht auf ein globales Kollektiv übertragen, weil sie in der Phase der Marketing-Relevanz von Dogma wesentlich mit dem mächtigen Auteur-Image des Lars von Trier verbunden war. Das in Interviewbüchern, zwei Making-ofs, einem Produktionstagebuch und anderen Paratexten konstruierte Bild der öffentlichen Privatperson schuf einen Hype um die vier ersten Dogma-Filme, ohne dass die Publicity in gleichem Umfang auf einen der anderen Regisseure abfärbte. Auf dem internationalen Markt konnten sich diese «instant auteurs» nicht dauerhaft etablieren; ebenso we- 8 So wird nach der Schließung des Dogma-Büros 2002 auf der Dogma-Website darum gebeten, eventuelle Dogma-Initiativen an den Filmhistoriker Peter Schepelern zu ver- melden (www.dogme95.dk). 9 Wie Dai Vaughan hellsichtig beschrieben hat, gewinnt der Künstlermythos seine Macht aus der Erfahrung der Filmwahrnehmung, «where we, confronted in the flutter of light through celluloid with a structure of signs to which we must impart meaning, aware of the inalienable responsibility which this places upon us, defensively project upon the film’s makers a creative solitude which is nothing but the mirror of our own» (Vaughan 1983, 13). 225 nig ist es bislang gelungen, die Strategien von yBa und Dogma zu kopie- ren.10 Was von den organisierten Sensationen der «jungen» Kunst auf ih- ren jeweiligen Märkten bleibt, ist die Erkenntnis, dass sich ihre Vermark- tungsstrategien letztlich nicht wesentlich von den Maßnahmen der klas- sischen «exploitation» unterscheiden. Auch hier haben wir es mit einer Form der Ereigniswerbung zu tun, die mit der Mitteilung, die sie macht, zugleich ihre eigene übersteigerte Wahrnehmung hervorbringt.11 Wäh- rend die «exploiteers» der ersten Stunde die Boulevardpresse mit Storys über Stars fütterten, bedienen die Initiatoren von Dogma und yBa feuil- letonistische und akademische Diskurse mit Storys über künstlerische Formprinzipien. In Europa unterliegt neben den Filmen eben auch die Filmwerbung bestimmten Dogmen, und das Verdienst der gleichnami- gen Initiative besteht schlicht darin, dass sie diese mitsamt der Institutio- nen, die sie hervorbringen (Filmkritik, Förderstellen, Wissenschaft), in den Dienst einer breitenwirksamen Marketingkampagne genommen hat. Dabei erlauben es die filmpolitischen Regeln, die hier in die Werbung Eingang finden, von der Idee des gemeinsamen europäischen Marktes Ausnahmen zu machen, damit sich «die nationale und regionale Kultur und das im Lande vorhandene kreative Potenzial in den audiovisuellen Medien Film und Fernsehen entfalten können». Diese Regeln lauten: 1. «Die Behilfe muss einem kulturellen Produkt zugute kommen.» (Dar- unter sind Produktionen zu verstehen, «die nach überprüfbaren nationalen Kriterien einen kulturellen Inhalt haben».) 2. Die «Kommission akzeptiert im Rahmen der Förderbedingungen eine Territorialisierung der Ausgaben in Höhe von bis zu 80 Prozent des Pro- duktionsbudgets [...]» (das heißt, dass 20 Prozent des Budgets in anderen Mitgliedsstaaten ausgegeben werden müssen). 3. «Die Höhe der Beihilfe sollte grundsätzlich auf 50 Prozent des Produk- tionsbudgets beschränkt sein, damit für normale marktwirtschaftliche Ge- schäftsinitiativen weiterhin Anreize bestehen [...].» 4. Zusätzliche Beihilfen etwa für die Postproduktion werden nicht geneh- migt (KOM 2001, 8). So sinnvoll diese Maßnahmen sein mögen angesichts der Übermacht von Hollywood, scheint es doch angeraten, die Kulturalisierungsstrate- 10 Ein solcher Versuch ist von Seiten Charles Saatchis überliefert, der aber auf dem Markt nicht angenommen wurde. 11 Vgl. hierzu den Aufsatz von Jane Gaines in diesem Band. 226 gien zu überdenken, mit denen sie zu den Filmemachern und zur Öf- fentlichkeit hin legitimiert werden. Auch Dogma bricht nicht mit der Idee einer national definierten und institutionell geweihten Kultur, die im Blick auf die globale Geschichte des Kinos und die ganz verschieden- artigen Facetten von Filmästhetik problematisch erscheint. Literatur Aas, Nils Klevjer (2001) Challenges in European Cinema and Film Poli- cy. In: Online-Publikationen der Europäischen Audiovisuellen Informa- tionsstelle, http://www.obs.coe.int/, zuletzt besucht am 20.07.2004. 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