Meta / Dia Zwei unterschiedliche Zugänge zum Medialen Dieter Mersch 1. Stellung des Mediums im kulturellen Diskurs In seinen raren Bemerkungen zum ›Medium‹ hat Hans-Georg Gadamer vor allem eines festgestellt: dass es sich – wie er sich etwas süffi sant ausdrückt – um einen »interessanten« Begriff handelt.1 Philosophisches Interesse weckt er durch die Nähe zu den Ausdrücken ›Vermittlung‹ oder ›Vermitteltheit‹, die ebenfalls in der Hegelschen Dialektik eine prominente Rolle spielen und als Grundfunktion des ›Medialen‹ gelesen werden können. Im allgemeinsten Sinne des Wortes hält sich das Medium dabei ›in der Mitte‹, um zwischen zwei Positionen Übergänge zu stiften. Kultur scheint auf diese Übergänglichkeit angewiesen – so birgt der Begriff das Potenzial, zu einer universellen Kategorie oder Schnittstelle zu avan- cieren, die als transzendentale ›Bedingung der Möglichkeit‹ kultureller Praxis überhaupt fungiert und sich vor allem dort als unverzichtbar erweist, wo wir es mit Darstellungen und Übersetzungen wie auch mit Prozessen der Kommunika- tion und des Gedächtnisses zu tun haben. Denn der Mensch kann nicht anders als zu vermitteln, als zwischen sich und der Welt »Begriff e« (Hegel) oder »Distanzen« (Cassirer) zu schieben, um auf diese Weise deren ›Entfernungen‹ wieder zu ent- fernen und dadurch von Neuem in eine Nähe zu rücken. Referentialität bedarf der Medialität: Das Vermögen zur Diff erenz, zum Einschnitt oder zur »Zäsur der Medien«2 wäre dann Teil der conditio humana und der Grundkonstellation aller kulturellen Ordnung – und doch stellt sich die Frage, ob der Medienbegriff damit adäquat modelliert ist oder, um es anders auszudrücken, ob wir ihn nicht an einem Ort suchen, wo er nicht hingehört. Der Zusammenhang von Medialität und Referentialität ist vor allem den Sprach- und Kunstphilosophien aufgegangen. Es verwundet darum nicht, dass besonders Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ernst Cassirer oder auch Martin Hei- 1 Hans-Georg Gadamer: Kultur und Medien, in: Axel Honneth [et al.] (Hg.): Zwischen- betrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. 1989, S. 715. 2 Georg Christoph Tholen: Die Zäsur der Medien, Frankfurt/M. 2002 ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 186 Dieter Mersch degger und die französischen Strukturalisten und Poststrukturalisten zu den vor- züglichsten Adressaten einer allgemeinen Medienphilosophie zählen. Ähnliches gilt für Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, deren Überlegungen zum Medialen gerade da Modell stehen, wo es um den innigen Konnex zwischen Kunst und Sprache geht. Denn beide, die Arbeit der Künste wie der Sprache, gehor- chen einer ›ursprünglichen‹ Diff erentialität, die, wie es gleichfalls Heidegger und Jacques Derrida hervorgehoben haben, eigentlich kein Ursprüngliches bezeichnet, sondern einen ›Ur-Sprung‹, eine Bewegung, die eine fortlaufende Diff erenzierung erzeugt, welche mal um mal durch neue Diff erenzen ›überschrieben‹ und verscho- ben wird. Jede ›Über-Tragung‹ – wie auch ›Über-Setzung‹ – bedeutet nämlich bereits eine Diff erenzierung, weil sie sowohl das Übertragene als auch das Über- tragende modifi ziert und damit einen Prozess initiiert, der sich ins Unendliche fortschreibt, ohne je eine Ankunft oder einen Abschluss zu fi nden.3 Benjamin hatte dies in seinem frühen Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen von 1916 mit Blick auf die jüdische Sprachtheologie aus der Opposition zwischen ›reiner‹ göttlicher und menschlicher Sprache entwickelt.4 Zugrunde liegt die Idee einer unmittelbaren Nennung des Namens, der gleichsam in jedem Augenblick schon die Singularität des »Wesens« off enbart, welcher nur einer göttlichen Natur gemäß wäre, der gegenüber die Sprache des Menschen einer unablässigen Übersetzung bedarf, um gleichzeitig an einer chronischen Fremdheit oder Verfehlung zu leiden.5 Es ist aufschlussreich, dass Adorno in seinen ästhetischen Schriften eine ähnliche Idee verfolgt hat, welche die Kunst, im be- sonderen die Musik, derselben Verstellung anheimgibt: Denn »[d]ie meinende Sprache«, lautet ein zentraler Passus aus dem Fragment über Musik und Sprache von 1956, »möchte das Absolute vermittelt sagen, und es entgleitet ihr in jeder ihrer Intention, lässt eine jede als endlich hinter sich zurück. Musik triff t es unmittelbar, aber im gleichen Moment verdunkelt es sich […].« Deswegen enthülle Musik ihre Sprachähnlichkeit gerade darin, »dass sie als scheiternde gleich der meinenden Sprache auf die Irrfahrt der unendlichen Vermittlung geschickt wird, um das Unmögliche heimzubringen. Nur entfaltet ihre Vermittlung sich nach anderem Gesetz als dem der meinenden Sprache […].«6 Nirgends vermag daher der Mensch 3 Vgl. bes. Jacques Derrida: Die Diff érance, in: ders.: Randgänge der Philosophie, Wien 21999, S. 31 – 56. 4 Walter Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Ge- sammelte Schriften, Bd. II.1., Frankfurt/M. 1977, S. 140 – 157. Dazu auch: Winfried Men- ninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt/M. 1995. 5 Vgl. dazu auch meine weiteren Ausführungen in: Medium. Schlüsselbegriff e der Philo- sophie des 20. Jahrhunderts, in: Archiv für Begriff sgeschichte 6 (2010), S. 235 – 248. 6 Theodor W. Adorno: Fragment über Musik und Sprache, in: ders.: Musikalische Schriften I-III, Frankfurt/M. 1978, S. 251 – 258, hier S. 254. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Meta / Dia 187 den Dingen selbst, ihrer Materialität gerecht zu werden: »Der philosophische Be- griff lässt sich ab von der Sehnsucht, welche die Kunst als begriff slose beseelt«7 und dekuvriert im selben Augenblick deren vermeintliche Unmittelbarkeit als Schein. Das Wahre wie das Symbolische verdanken sich einer unvermeidlichen Mediation wie umgekehrt alle Mediation die Spur eines nicht zu behebenden Risses enthält, der das Schicksal kultureller Praktik besiegelt. Man kann den derart mitgeführten Messianismus genauso verwerfen wie die darin anklingende Diff erenz zwischen einem Medialen und einem Unmittelbaren, woran ersteres sich misst – allein, nicht diese Unterscheidung, sondern die darin eingewobene Figur einer notwendigen Vermitteltheit aller menschlichen Verhältnisse, des Zusammenhangs von Kulturalität und Medialität, erscheint von Belang. Zum ersten Mal macht sich damit ein radikaler Medienbegriff vernehmlich, der das Mediale als ein unhintergehbares Apriori postuliert, und zwar so, dass das Me- dium immer schon auf das Mediatisierte einwirkt, es verwandelt und umprägt. Zugleich entdeckt sich das Medium aus der Funktion der Übersetzung. Es ist diese Bestimmung der Übersetzung oder Übertragung, die für alle weitere Medienthe- orie leitend geworden ist – doch bildet ihre eigentliche Herausforderung die Klä- rung dessen, was die behauptete Transzendentalität des Medialen besagt, worin die Wirkung des Mediums, seine Kraft zur Modifi kation des Denkens, Wahrneh- mens oder Handeln genau besteht. Die vorliegenden Überlegungen verstehen sich als Beitrag zu dieser Klärungsarbeit. Sie operieren daher vorzugsweise im Grund- begriffl ichen. 2. Lokalität des Medialen Begonnen sei mit der Schwierigkeit, einen so skizzierten Medienbegriff zu begründen. Sie besteht vor allem darin, dass, wo der Mediation ein derart univer- saler Status zukommt, wo jede Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen dem Medialen und Nichtmedialen schwindet, sein eigentlicher Ort fehlt. Besetzt das Mediale, vom Wortsinn her, einen Zwischenraum, der allein vermöge eines Un- terschieds markiert werden kann, bedeutet es weder das eine noch das andere, wozwischen es Platz nimmt, sondern deren Relation – doch scheinen wir es dann mit einem Phantom zu tun zu bekommen, das seine Erscheinung in dem Maße verweigert, wie wir ihm habhaft zu werden versuchen. Unterstellt der Begriff der Relation die Bekanntheit der Relata sowie ihrer Struktur – nichts anders kenn- zeichnet die gängige mathematische Formalisierung durch ›aRb‹ – gilt Vergleich- bares für den Medienbegriff nicht, weil er im Grunde drei Unbekannte miteinan- 7 Ders.: Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt/M. 1973, S. 27. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 188 Dieter Mersch der in Beziehung setzt, deren Stellen zudem durch die Mediation erst konstituiert werden. Formal handelt es sich also um die Reihung [a]–[M]–[b], deren Positionen sämtlich eingeklammert bleiben müssen, insofern sowohl ›a‹ als auch ›b‹ durch das M, ihre unentscheidbare Mitte, ›be-dingt‹ werden, wie umgekehrt die Struktur von ›M‹ erst durch ›a‹ und ›b‹, die das Mediale als Index bereits mittragen, ermit- telt werden kann. Anders ausgedrückt: Das Mediatisierte ist ohne Medium sowe- nig darstellbar, wie umgekehrt das Medium ohne Rückgriff auf das Mediatisierte. Stattdessen bewegen wir uns in einem Zirkel, der aus einer Reihe von Negationen besteht, welche den Medienbegriff als einen ›negativen‹ ausweisen.8 Die Folge ist, dass dem Medialen keine präzise Lokalität zugewiesen werden kann. Was wäre z. B. die spezifi sche Medialität von Sprache: ihre propositionale Struktur, wie manche Philosophen unterstellen, die fi gurale Kraft des Rhetori- schen, ihre kommunikative Funktion, das Illokutive des Sprechakts, die gesamte Szene der Verständigung oder die Schrift, die ihr, wie Derrida es ausdrückt, »über den Tod des Autors hinaus« eine Dauer und Geschichtlichkeit sichert?9 Gewiss liefern alle diese Bestimmungen ›Beiträge‹ zu dem, was das Mediale der Sprache ausmacht, doch bedeutete jede Auszeichnung eines Gesichtspunkts bereits den Ausschluss oder die Herabsetzung der anderen und damit einen Reduktionismus – wie auf der anderen Seite die Anerkennung aller Aspekte zusammen auf die Tautologie zuliefe, die Medialität von Sprache sei die Sprache selber. Es gibt folg- lich keine ausschöpfende Medienphilosophie der Sprache, die sie nicht wesentlich engführte oder in ihren Möglichkeiten beschnitte10 – aus diesem Grund hatte Ludwig Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen vorgeschlagen, statt von Sprache nunmehr von der Praxis des Sprechens anhand von »Sprachspielen« zu handeln und dabei ein »weites Gedankengebiet, kreuz und quer, nach allen Richtungen hin« zu durchreisen.11 Wie »Landschaftsskizzen« exemplifi zieren die Untersuchungen das Mediale der Sprache, ohne es zu erklären:12 Lediglich vermöge 8 Die Einsicht bildet zugleich die Einsatzstelle einer negativen Medientheorie; vgl. vorläu- fi g meine Versuche in: Medialität und Undarstellbarkeit. Einleitung in eine negative Medientheorie, in: Sybille Krämer (Hg.): Performativität und Medialität, München 2004, S. 75 – 96; sowie Tertium datur. Einleitung in eine negative Medientheorie, in: Stephan Münker/Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium, Frankfurt/M. 2008, S. 304 – 321. 9 Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext, in: ders.: Randgänge der Philosophie (wie Anm. 3), S. 325 – 351, hier S. 333 f. 10 Vgl. dazu meine Überlegungen in: Medienphilosophie der Sprache, in: Mike Sandbothe/ Ludwig Nagl (Hg.): Systematische Medienphilosophie, Berlin 2005, S. 113 – 128. 11 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1971, Vorwort, S. 9. 12 Ders.: Philosophische Grammatik, Frankfurt/M. 1973, § 30, S. 66. Vgl. auch ders.: Denk- bewegungen, Tagebücher, Frankfurt/M. 1999, S. 84 (No. 183). ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Meta / Dia 189 ihrer Verwendungsweisen enthüllt sich dann die Sprache in ihrer Medialität, deren Analyse wiederum nicht anders als performativ vollzogen werden kann. Das Me- dium zeigt sich durch seinen Gebrauch, ohne als solches manifest zu werden. Das Wittgensteinsche Bild mag als Modell für eine ›andere‹ Medienphilosophie dienen, die weder das Mediale in einem Modus von ›Übertragung‹ verankert noch in ihr eine ›Transzendentalität‹ erblickt. Ähnliches lässt sich auch über den Film sagen: Filmwissenschaft bildet die selbst unabschließbare Rekonstruktion einer Mediation durch die Prozesse ihrer Lektüre und Anschauung hindurch. Nicht nur der sichtbare Film präsentiert das Mediale, sowenig wie allein das Filmmaterial, die Techniken seiner Herstellung, die spezifi sche Weise der Kameraführung, die Montage und Beleuchtung oder auch ›la Cinema‹ (Metz) im Unterschied zu den einzelnen Genres der Produktion oder der gesamten Industrie mit ihren Macht- strukturen, von denen das Kino nicht getrennt werden kann. Aber zu behaupten, das Medium realisiere sich durch eine Serie solcher Einschlüsse, hieße von einer sich endlos verschachtelnden Intermedialität zu sprechen, die – im Luhmannschen Begriff srepertoire – schließlich von der ›Form‹ des Mediums zum Medium der ›Formen‹ wie der ›Form der Formen‹ usw. überzugehen zwingt.13 Zwar scheint der Ansatz von Niklas Luhmann wie kaum ein anderer geeignet, komplexe intermediale Konstellationen abzubilden und ihre Hierarchien aufzu- schlüsseln, doch ergibt sich in Ansehung der Fritz Heider entnommenen Unter- scheidung zwischen »loser« und »fester« Kopplung von Elementen die systemati- sche Frage nach der Konstitution der Elemente selbst.14 Auch wenn in dieser Kon- struktion das Mediale allein durch jene Formen aufweisbar erscheint, die es generiert – und die damit den Annahmen einer ›negativen Medientheorie‹ nicht unähnlich ist –, besteht das hauptsächliche Problem in der Identifi kation der For- men selbst, weil diese wiederum nicht unabhängig von ihren medialen Bedingun- gen existieren. Entweder müssten die Elemente in strikter Kopplung bereits vor- liegen und aufzählbar sein, um das Band ihrer »losen« Verknüpfung zu rekonstru- ieren – dann aber unterstellt man eine diskrete Ordnung, deren Glieder bereits vorliegen –, oder ›es gibt‹ keine dechiff rierbaren Elemente, die miteinander kop- pelbar wären, weil das, was ein ›Element‹ genannt werden kann, selbst noch das Resultat einer medialen Form und damit Projektionsfl äche seiner spezifi schen theoretischen Perspektive bildet. Unklar mithin, was die in »loser« oder »fester« Fügung zusammengesetzten Elemente sind: Wir berühren hier einen ähnlichen Punkt, den der späte Wittgenstein gegen seine frühe Theorie der Elementarsätze im Tractatus einwandte, weil diese als hypothetische Atome einer ›Logik‹ der Spra- 13 Vgl. bes. Joachim Paech (Hg): Intermedialität. Analog/Digital: Theorien, Methoden, Analysen, München 2007. 14 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. 31999, bes. S. 170 ff . ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 190 Dieter Mersch che unauffi ndbar seien: »Aber welches sind die einfachen Bestandteile, aus denen sich die Realität zusammensetzt? – Was sind die einfachen Bestandteile eines Ses- sels? – Die Stücke Holz, aus denen er zusammengefügt ist? Oder die Moleküle, oder die Atome? – ›Einfach‹ heißt: nicht zusammengesetzt. Und da kommt es darauf an: in welchem Sinne ›zusammengesetzt‹? Es hat gar keinen Sinn von den ›einfachen Bestandteilen des Sessels schlechtweg‹ zu reden. […] Die Frage ›Ist, was du siehst, zusammengesetzt?‹ hat wohl Sinn, wenn bereits feststeht, um welche Art des Zusammengesetztseins […] es sich handeln soll. […] Auf die philosophische Frage: ›Ist das Gesichtsbild dieses Baumes zusammengesetzt, und welches sind die Bestandteile?‹ ist die richtige Antwort: ›Das kommt drauf an, was du unter ›zu- sammengesetzt‹ verstehst.‹ (Und das ist natürlich keine Beantwortung, sondern eine Zurückweisung der Frage.)«15 3. Nietzsches Schreibmaschine Um der Schwierigkeit zu begegnen, sei ein Umweg gewählt, der die ›Lösung‹ des Paradox anhand von zwei prominenten medientheoretischen Positionen dis- kutiert: dem Medienmaterialismus Friedrich Kittlers und der ›Metaphorologie des Medialen‹ Christoph Tholens. Dazu sei auf das oft zitierte Diktum Friedrich Nietzsches zurückgegriff en: »unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedan- ken«. Der Kontext scheint klar: »Sie haben Recht«, notierte Nietzsche in seiner Antwort auf einen Brief von Heinrich Köselitz: »unser Schreibzeug arbeitet mit an unsere Gedanken. Wann werde ich es ueber meine Finger bringen, einen lan- gen Satz zu drücken!« Und, wie verzweifelt, beendete er den Brief mit den Wor- ten: »Können Sie das auch lesen!«16 Wenige Tage zuvor hatte Köselitz an Nietzsche geschrieben: »Nun ich möchte gerne sehen wie mit dem Schreibapparat manipu- lirt wird. […] Vielleicht gewöhnen Sie sich mit dem Instrument eine neue Aus- drucksweise an […], ich leugne nicht, dass meine ›Gedanken‹ in der Musik und Sprache oft von der Qualität der Feder und des Papiers abhängen […].«17 Tatsäch- lich stammt die originale Idee also von Köselitz und tatsächlich greift das ›Schreib- zeug‹ nicht nur in unsere Gedanken beim Schreiben ein, sondern auch in die Vorgänge des Lesens. Indessen ist nicht philologische Korrektheit relevant, son- dern die darin angerissene Konstitutionsproblematik. Sie verbirgt sich vor allem im präpositionalen Präfi x ›mit‹. Was bedeutet das ›Mit‹ in ›Mitarbeit‹, was ist sein 15 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (wie Anm. 11), § 47, S. 36 – 38 passim. 16 Friedrich Nietzsche: Brief an Peter Gast, Feb. 1882, in: Kritische Gesamtausgabe, Bd. III.1, Berlin/New York 2002, S. 172. 17 Ebd. Briefe III.2, S. 229. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Meta / Dia 191 spezifi sches epistemisches Surplus? Gewöhnlich übersehen, bezeichnet es die spe- zifi sche Praxis des Medialen, seine Verwicklung ins Denken, und doch bleibt unklar, welcher Art diese Verwicklung ist, d. h. ihre besondere Modalität. Kittler hat nicht gezögert, dem zu entnehmen, dass alles Denken technisch über- formt und damit ›immer schon‹ mediatisiert sei: Die Schreibmaschine mechanisiert die diskrete Ordnung des Alphabets, die sich der von ihr formulierten Gedanken imprägniert. Dem ›Mit‹ kommt folglich ein transzendentaler Sinn zu – aber ist damit bereits geklärt, was ›immer schon‹ bedeutet und welcher Rang der apriori- sche Perfekt im Medialen besitzt? Das Präfi x ›Mit‹ konnotiert zunächst keine Ko- operation, woran beide Seiten des Prozesses, das Denken wie das Werkzeug, be- teiligt wären, sondern die Unterwerfung des Gedankens unter den Triumph der Maschine.18 Wir haben es also mit einer Abhängigkeit, einer Determination zu tun, sodass die spezifi sche Modalität des ›Mit‹ in die Annahme einer technischen Kons- titution mündet – gleichwohl stellt sich abermals die Frage, was ›Konstitution‹ in diesem Zusammenhang meint: ein generatives Prinzip, eine ›Bedingung der Mög- lichkeit‹ im Sinne Kants, eine conditio sine qua non, ohne die nicht auszukommen ist, oder ein historisches ›Apriori‹, ein diskursives Postulat, von dem wir ausgehen müssen, wenn wir von der Vermittlung als basaler Struktur kultureller Praxis sprechen wollen? Hatte Peter Strawson in seiner Untersuchung über Individuals die transzendentalen Bedingungen überhaupt unter der Perspektive von conditiones sine quibus non diskutiert, gilt es diese noch von den Kantischen ›Bedingungen der Möglichkeit‹ zu unterscheiden, weil diese allein in Ansehung eines Subjekts und seines Vermögens zur Refl exivität gebraucht werden.19 Transzendentale Begrün- dungen sind dann refl exive Begründungen, und es bleibt fraglich, was deren Äqui- valente mit Bezug auf Medien wären. Insbesondere erfordert, was als ›Bedingung der Möglichkeit‹ ausgewiesen werden kann, eine rekonstruktive Geste, während ein mediales Transzendental, zumal in seinem technischen Gewand, auf Realbe- dingungen abhebt, die in Form von Apparaten und ihren technischen Operatio- nen ins Symbolische und seine Produktion eingehen – doch entsteht erneut das Problem, von welchem Ort dies geschehen soll, welche diskursive Formation für sie verantwortlich zeichnet und was für ihre Geltung verbürgt.20 18 Friedrich Kittler (Hg): Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, Paderborn 1980. 19 Peter Strawson: Einzelding und logisches Subjekt. Ein Beitrag zur deskriptiven Meta- physik, Stuttgart 1972; Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, A1 – 6, B1 – 10. 20 Dies bedeutet nicht, dass die Möglichkeit medialer Selbstrefl exivität bestritten würde – künstlerische Projekte machen nichts anderes. Gemeint ist, dass im Medialen die diskur- sive Refl exion nicht selbst Gegenstand der Mediation sein kann. Es gilt, Diskursivität und Medialität zu unterscheiden. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 192 Dieter Mersch Wir sind also entweder mit einer theoretischen Lücke konfrontiert oder wir haben zu präzisieren, was im Kontext von Medientheorie ›be-dingen‹ meint und ob das ›mit‹ bei Nietzsche und Köselitz lediglich eine Beeinfl ussung, eine Koinzi- denz oder im starken Sinne eine Konditionierung bedeutet. Unbestreitbar gibt es Wechselwirkungen – doch sind diese von conditiones sine quibus non ebenso zu tren- nen wie im strengen Sinne von Generativität oder Transzendentalität. Einerseits zu behaupten, dass Denken, Wahrnehmungen und ähnliches ohne Medien nicht auskämen, hieße allein zu negativen Schlüssen zu gelangen, die ihre Auskunft darüber missen lassen, in welchem Sinne sie notwendig seien; andererseits führt die – weit anmaßendere – Rede von der Generativität oder Konstruktivität der Medien nicht nur zu zahlreichen Paradoxien, sofern jede Konstruktion selbst noch des Analytikers bedarf, der sie durchschaut, sondern sie ruft darüber hinaus auch ein Souveränitätsphantasma auf, das ihnen gleichsam ›zu viel‹ Macht zutraute. Augenscheinlich konvergieren die meisten medientheoretischen Lektüren – hinsichtlich der Konstitutionsthese – in der Annahme einer genuinen Produkti- vität des Medialen, wie sie gleichermaßen in den Sprach- und Kunstphilosophien Benjamins oder Adornos angedeutet wurde, dort allerdings im Hinblick auf die Dialektik von Hervorbringung und Einschränkung, wie sie im übrigen genauso in Heideggers »Streit« zwischen »Erde« und »Welt« zur Geltung kommt.21 Haben wir es hier mit einem ›ur-sprünglichen‹ Chiasmus zu tun, bleibt dort die Bedeu- tung der Produktivität, ihre spezifi sche Modalität – nicht unähnlich der ›Mitar- beit‹ von Nietzsches Schreibmaschine – undefi niert. Mehr noch, unbestimmt bleibt ebenfalls, wie die Produktivität der Produktion rekonstruiert werden kann, ohne auf die Generativität der Rekonstruktion selbst zu rekurrieren und damit ihre eigene Medialität in Rechnung stellen zu müssen. Transzendentale Theorien der Erfahrung oder Erkenntnis inkludieren stets beides, weil das Vermögen der Wahrnehmung oder des Wissens mit deren Refl exion zusammenfällt, wie auch Michel Foucaults Archive und deren ›historisches Apriori‹ im Register diskursiver Formationen operieren, während die Transzendentalität des Medialen Realbedin- gungen adressiert, die wiederum von ihrer Thematisierungsweise zu unterschei- den sind. In der Tat widersetzt sich diese Diff erenz einer einfachen Übertragung auf den allgemeinen Medienbegriff und weckt Zweifel an der Haltbarkeit der Generativitätsthese. Denn nicht der Medialität des Mediums selbst vermag eine Philosophie des Medialen habhaft zu werden, vielmehr gilt es, das Medium bei seiner ›Arbeit‹ zu beobachten, und zwar durch die Praktiken hindurch, die es performativ vollzieht. Dann scheint aber nicht ohne weiteres ersichtlich, was der 21 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks, in: ders.: Holzwege, Frankfurt/M. 1972, S. 7 – 68; vgl. dazu auch meine Deutung in: Posthermeneutik, Berlin 2010, S. 109 ff . ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Meta / Dia 193 Ausdruck ›Generierung‹ mit Bezug auf das Mediale bedeuten soll, nicht nur, weil nicht klar ist, welchen Ort Medien besetzen, sondern weit mehr noch, weil die medialen Praktiken wie ebenfalls ihre Struktur und Performanz deren perma- nente ›Be-Wegung‹ zwar wach zu halten vermögen, nicht jedoch konstituieren. 4. Zwischen Informationstheorie und Strukturalismus Um Kittler gerecht zu werden, sei freilich ergänzt, dass dieser den Begriff der Technik im ursprünglichen Sinne von techné sehr weit fasst und sich dabei gleich- falls auf Heidegger bezieht. Techné ruft den ganzen Kreis zwischen ›Kunst‹, ›Kunst- fertigkeit‹, ›Wissen‹ und ›Wissenschaft‹ auf, wie ebenfalls die techniké, tektonia, archi- tektonia und teknosis mitgemeint sind. Heidegger hat darum die Technik überhaupt als ein Denken verstanden, zugleich aber deutlich gemacht, dass sich die techni- sche Kultur seit dem 19. Jahrhundert in eine »Raserei« verwandelt hätte, die die Vergessenheit des »Sinns von Sein« noch einmal zur »Seinsverlassenheit« gewendet habe.22 Auff allend ist, dass Kittler daraus ausgerechnet die technikkritische Note gestrichen hat und das Technische in ein Wahrheitsgeschehen einrückt, das, in der Bedeutung der Heideggerschen Aletheia, Welt in ihrer »Unverborgenheit« zeige und damit überforme. Ihre Grundlagen bilden Operationen, die in formalen Al- gorithmen oder Rechnungen wurzeln, die wiederum die Stellungen der Sprache, des Denkens und des Symbolischen übernehmen.23 Von dort her vermag Kittler dann die gesamte Geschichte westlicher Kulturen auf der Basis von Mathematik und den von ihr abgeleiteten Kultur- und Medientechnologien neu aufzurollen: Nicht Inhalte oder symbolische Ordnungen zählen, sondern, so der provokante Bescheid in Grammophon, Film, Typewriter, lauter Buchstaben, Signale und Daten- verarbeitungen – »einzig Schaltungen, dieser Schematismus von Wahrnehmung überhaupt«.24 Der Vorstoß gilt der überlieferten Metaphysik, um zuletzt das Pro- gramm einer medientechnischen Rationalitätskritik zu formulieren, auf deren Rücken sich ein »informationstheoretischer Materialismus«25 abzeichnet, der die herkömmliche »Geschichte der Seelen und ihrer Nosologien« in Arsenale aus Nachrichtentechnologien aufl öst.26 Nicht nur erweisen sich daher Wahrnehmun- gen, Denken oder Gedächtnis im allgemeinsten Sinne durch Technologien ge- 22 Martin Heidegger: Überwindung der Metaphysik, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 41978, S. 93, 95; sowie ders.: Über den Humanismus, Bern 1947, S. 85 f. 23 Bes. Friedrich Kittler: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 58 – 80. 24 Ders.: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, S. 332. 25 Ebd. S. 182. 26 Ders.: Aufschreibesysteme, München 31995, S. 10. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 194 Dieter Mersch formt, sondern auch noch ihre Theoretisierungen bilden deren Eff ekte: »Was Mensch heißt, bestimmen keine Attribute […], sondern technische Standards.«27 Die Radikalität des Tons speist sich aus der Überzeugung, einer »Achsenzeit« (Koselleck) anzugehören, in der alle vormaligen medialen Formate sich zu einer einzigen, universalen Medienmaschinerie verschmelzen. Kittler hält für sie nur- mehr das Kürzel UDM bereit: Mit ihr sei »das Mediensystem geschlossen. Spei- cher- und Übertragungsmedien gehen beide in einer Prinzipienschaltung auf […]. Eine menschenleere Bürokratie übernimmt alle Funktionen, die zur formalen Defi nition von Intelligenz hinreichend und notwendig sind.«28 Der polemische Befund verdankt sich allerdings einer Hypothese, deren vermeintliche Plausibili- tät dem Kurzschluss entstammt, Informationstheorie wie Strukturalismus und Poststrukturalismus arbeiteten derselben Entwicklung zu. Die Einschätzung war vor allem in den 1960er und frühen 70er Jahren prominent, weil beide Theorie- blöcke an ihrer Oberfl äche von allen besonderen Interpretationen abzusehen schienen, um stattdessen auf das »Wie« der Prozesse oder Strukturen zu achten – Claude Shannons Mathematische Theorie der Kommunikation beginnt gleich auf der ersten Seite mit dem folgenschweren Satz, dass die »semantischen Aspekte der Kommunikation […] irrelevant [sind] für das technische Problem«.29 Irrelevant sind sie freilich nicht wegen des Technischen, sondern mit Bezug auf die zu lösende Aufgabe der Übertragung. Die Brücke zum Strukturalismus schlugen denn auch schon Benoit Mandelbrot, Abraham Moles und in Deutschland Max Bense30 sowie der frühe Helmut Heißenbüttel in seiner Auseinandersetzung mit der Medienthe- orie Marshall McLuhans. In seinem Aufsatz Das Medium ist die Botschaft, geschrie- ben für den Merkur 1968, hieß es beispielsweise, dass auf der Grundlage des Shan- non-Weaverschen Modells die »traditionelle Unterscheidung zwischen Inhalt und Form […] zugunsten einer absoluten und permanent in sich selbst rückläufi gen Formalisierung« ersetzt würde, um einem allgemeinen Strukturalismus zuzuspie- len, »für den sich auch jede Einzelbedeutung und jeder Inhalt aufl ösen kann in 27 Ders.: Draculas Vermächtnis (wie Anm. 23), S. 63. 28 Ders.: Die künstliche Intelligenz des Weltkrieges: Alan Turing, in: ders./Georg Chris- toph Tholen (Hg.): Arsenale der Seele: Literatur- und Medienanalyse seit 1870, München 1989, S. 196. Ebenso Wolfgang Coy: Aus der Vorgeschichte des Mediums Computer, in: Norbert Bolz/Friedrich Kittler/Georg Christoph Tholen (Hg.): Computer als Medium, München 1994, S. 30. 29 Claude Shannon: Eine mathematische Theorie der Kommunikation, in: Ein/Aus. Aus- gewählte Schriften zur Kommunikations- und Nachrichtentheorie, hrsg. v. Friedrich Kittler [et al.], Berlin 2000, S. 9. 30 Vgl. Benoit Mandelbrot/Léo Apostel/Albert Morf: Logique, Language et Théorie de L’information, Paris 1957; Abraham Moles: Kunst und Computer, Köln 1973, S. 12; sowie Max Bense: Einführung in die informationstheoretische Ästhetik, in: ders.: Ausgewählte Schriften, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 1998, S. 251 – 417, hier S. 404 f. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Meta / Dia 195 eine Funktion der Struktur«.31 Damit brachte die anfängliche Rezeption eine Reihe von Missverständnissen hervor, verschärft sowohl durch ein unzureichen- des Bild des Mathematischen als auch die irrige Hoff nung auf eine globale Ver- ständigung, wie sie die medientechnologische Revolution des Digitalen zu ver- sprechen schien.32 In vielerlei Hinsicht war ebenso Jacques Lacan derselben Faszination erlegen, wenn er in seinem Vortrag Psychoanalyse und Kybernetik die Logik der Binärzahlen mit den »grundlegenden Oppositionen des symbolischen Registers« in Beziehung setzte und dabei die Kybernetik jenem »unbestimmten« Bereich zuwies, der so heterogene Theorien wie die Wahrscheinlichkeitslehre, die Spieltheorie, die Kombinatorik und Informationstheorie umfasste33 – eine Operation, die seit der Zusammenarbeit zwischen Claude Lévi-Strauss und Henry Weil in Bezug auf eine mathematische Theorie der »elementaren Verwandtschaftsstrukturen« für sich zu sprechen schien. Lacan benutzte sie jedoch wiederum, um die begriffl ichen Fun- damente der Psychoanalyse, vor allem den Begriff des Unbewussten als psychi- schen Apparat, tiefer zu legen. Deswegen sprach er bevorzugt vom Zusammen- hang zwischen Konjektur und Kombinatorik und deren Verhältnis zum »Realen«, sowie von der »Korrelation der Absenz und Präsenz« in der »Welt der Symbole« und ihrer verwandten »Aufrichtung« durch die Strukturen des Binären – doch fi ndet die vermeintliche »Konvergenz«, wie er hellsichtig eingesteht, ihre Grenzen dort, wo es um den »Sinn« und das »Imaginäre« gehe – insbesondere bereite die kybernetische Handhabung der »Funktionen der Gestalt […] extreme Schwierig- keiten«; sie verweisen für Lacan auf das »Bild«, den »Körper« und das »Begehren« als primäre Funktionen des Psychischen.34 Kittler wird den Konvergenzgedanken bereitwillig aufnehmen, um die »Welt des Symbolischen« mit der »Welt der Ma- schine« gleichzuschalten und Lacan einen Medien-»Materialismus« zu unterschieben,35 dessen Kernpunkt die Homologie zwischen den Einheiten des Digitalen und den Strukturen aus lauter Signifi kanten sei – das Schaltungsschema 0/1 bzw. Aus/Ein sei nichts anderes als das Scharnier zwischen ›Absenz‹ und ›Prä- senz‹, das damit erlaube, Lacans psychoanalytischem Strukturalismus »auf Infor- 31 Helmut Heißenbüttel: Das Medium ist die Botschaft, in: Merkur 11/22 (1968), wieder abgedruckt in und hier zitiert nach: McLuhan. Für und Wider, hrsg. v. G. E. Stearn, Düsseldorf / Wien 1969, S. 293 – 314, hier S. 294 u. 302. 32 Hans Magnus Enzensbergers Baukasten zu einer Theorie der Medien folgt letztlich derselben Einschätzung. Der Text löste eine Debatte aus, die sich wieder abgedruckt fi ndet in: Claus Pias [et al.] (Hg.): Kursbuch Medienkultur, Stuttgart 42002, S. 264 – 299. 33 Jacques Lacan: Psychoanalyse und Kybernetik, in: ders.: Das Seminar, Buch II, XXIII, Weinheim 21991, S. 373 – 390, hier S. 375 f., 380, 385 ff . sowie S. 117. 34 Ebd. S. 380 f. u. bes. 387 f. 35 Vgl. Kittler: Draculas Vermächtnis (wie Anm. 23), S. 59 f. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 196 Dieter Mersch mationstechniken« zurückzurechnen: »Das Symbolische […] ist einfach eine Ver- ziff erung des Reellen in Kardinalzahlen. Es ist, expressis verbis, die Welt der Informationsmaschinen.«36 Deswegen konstituiere Medientechnik Sprache und Denken, sogar das Unbe- wusste, und deshalb auch können umgekehrt die Illusionen des Sinns und des »sogenannten« Menschen als zoon logikon oder animal symbolicum auf Technologien und ein Stück Informationstheorie umgerechnet werden.37 Der Fehlschluss folgt hier jedoch dem äußeren Schein einer Analogie, der die strukturale Verkettung mit der Syntax digitaler Codes und die elementare Diff erenz zwischen Abwesen- heit und Anwesenheit mit digitalen 0-1-Reihen verwechselt. Schon informations- theoretisch wäre zwischen ›Nachricht‹ als codierter Botschaft und ›Information‹ als statistischem Maß einer Übertragung zu unterscheiden, erst recht jedoch zwi- schen der strukturalistischen Idee der ›Struktur‹ und der Befehlsmatrix einer Tu- ringmaschine. Beide scheinen zwar algebraischer Natur zu sein, im ersten Fall aber wird lediglich von der Metapher der Algebra gezehrt, während die zweite alge- brai schen Modellen entstammt. Gewiss gibt es Nachbarschaften – im Falle des Strukturalismus – zwischen der Mathematik Nicolas Bourbakis und der Linguis- tik Émile Benvenistes oder der strukturalen Anthropologie Lévi-Strauss’ wie ebenso zwischen der Formelsprache Georges-Théodule Guilbauds und Lacans,38 doch bestehen zwischen ihnen mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Jede beliebige Serie von Zahlen oder Funktionen kann auf digitale Schemata zurück- geführt werden – die Diff erenz von Absenz und Präsenz führt jedoch zur Frage der Schwelle und des Übergangs, d. h. der Nichteindeutigkeit, zu der es im Digi- talen keine Entsprechung gibt. Lacan hat dem in seinen Refl exionen über das Schema der Türe, dem »Symbol par excellence« entsprochen, soweit diese gleich- zeitig einschließe und ausschließe, insbesondere aber durch die Schlusspassage seiner Ausführungen über Psychoanalyse und Kybernetik, wenn er feststellt, dass die »fundamentale Beziehung des Menschen« zur »symbolischen Ordnung« in der »Beziehung des Nicht-Seins zum Sein« bestehe. So erteilt er am Ende gegenüber den rein formalen Spielen der Kybernetik, die immer der Erwartung genügen, dem Nichts, d. h. dem Ereignis den uneingeschränkten Vorrang.39 36 Ebd. S. 69, 73. 37 Ebd. S. 232. 38 Zur Beziehung zwischen Mathematik und Strukturalismus vgl. François Dosse: Ge- schichte des Strukturalismus, Bd. 1, Hamburg 1996, bes. S. 132 ff .; sowie Amir D. Aczel: The Artist and the Mathematician, New York 2006. 39 Lacan: Psychoanalyse und Kybernetik (wie Anm. 33), S. 382 ff ., 390. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Meta / Dia 197 5. Ohne différance Man kann an dieser Stelle noch einen Schritt weiter gehen. Denn Mathematik oder formale Sprachen wie ›Semi-Thue-Systeme‹, die nur auf Alphabeten und Produktionsregeln beruhen, generieren ausschließlich das, was Oswald Wiener »fl ache Formalismen« genannt hat.40 Sie folgen dem »Satz der Identität«, dessen Unbedingtheit wiederum für die Geltung des principium contradictionis notwendig zeichnet. Daher die Rolle, die die Negation als formaler Operator in den Kalkü- len einnimmt; sie gehorcht den Gleichungen non [non] 1 = 1 sowie non 1 = 0 und non 0 = 1, um gleichzeitig alle Zwischentöne, insbesondere die Einbeziehung des Unentscheidbaren oder Nicht-Identischen zu tilgen. Dann bedeutet Iteration iden- tische Wiederholung, wie umgekehrt jede Wiederholung das Gleiche produziert, wohingegen im Symbolischen Wiederholung Diff erenz bedeutet und nach Der- rida eine Alteration einschließt.41 Zeichen verweisen in ihrer zeitlichen Reihung auf andere Zeichen und inkludieren damit den Vollzug einer Erinnerung, die, trotz prinzipieller Iterabilität, aus ihnen etwas anderes macht. Jede Wiederholung ist – und hier schließt sich die Derridasche Grammatologie an die Psychoanalyse an – eine Zurückholung oder Verschiebung im anderen Kontext. Sie zeichnet den Vorrang der Diff erenz aus, weil, so Derrida in Die Schrift und die Diff erenz, »durch die Wiederholung« das Zeichen in seinem »ersten Mal« geteilt sei42 und somit das Siegel einer »ursprünglichen Spaltung« trage: Die Zeichen sind nicht eins, vielmehr eine Eins, die bereits eine gefaltete Zwei enthält, mithin »Zwei ohne eins. Eins immer [...] davon abgezogen […]«.43 Für diese beinahe kabbalistische Rechnung gibt es im Mechanischen kein Äquivalent, sowenig wie ein informationstheoretisches Diff érance-Prinzip exis- tierte, vielmehr hat jede informationelle Übertragung und jeder Algorithmus das Diff erenzielle bereits ausgeschlossen. Demgegenüber entfaltet sich das Symboli- sche kraft einer fortgesetzten Figuration, die beständig von Metapher zu Metony- mie und von Metonymie zu Metapher übergeht. Die Bewegung ihrer Diff erenzi- alität – die diff érance als Generativität – ist dabei weder anwesend noch abwesend: »Der Trennungsstrich des Symbolischen kommt gleichsam dazwischen«, wie es Tholen formulierte.44 Zwischen formalen Sprachen und Turingmaschinen einer- seits und der strukturalen Linguistik oder den poststrukturalistischen Diff erenz- Theorien andererseits klaff t demnach eine unüberbrückbare Lücke, weil weder 40 Oswald Wiener: Probleme der künstlichen Intelligenz, hrsg. v. Peter Weibel, Berlin 1990, bes. S. 43 ff ., 61 ff ., 73 ff . 41 Vgl. Derrida: Signatur Ereignis Kontext (wie Anm. 9), S. 333. 42 Ders.: Die Schrift und die Diff erenz, Frankfurt/M. 1972, S. 373. 43 Ders.: Dissemination, Wien 1995, S. 258, 309, 213. 44 Tholen: Die Zäsur der Medien (wie Anm. 2), S. 188. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 198 Dieter Mersch die Iteration der Zeichen noch die Prozesse der Figuration dem mathematischen Begriff der Regel folgen. Statt von ›Iterabilität‹ wäre deshalb besser von ›Rekur- sivität‹ zu sprechen, die nicht nur Identität, sondern jene strikte Anwendung von Regeln voraussetzt, die Wittgenstein gleichermaßen an Befehle wie an Maschinen kettete und zu deren Erfüllung er eine bestimmte Art von »Abrichtung« unter- stellte.45 Darum hat Tholen konsequent die Sprache vor die Maschine gesetzt: »[D]ie Struktur der Austauschbarkeit und Ersetzbarkeit, die der Sprache zukommt, ist die nicht-technische, uneinholbare Voraussetzung der technischen Medien selbst.«46 Der Satz fi ndet seine Entsprechung in mathematischer Grundlagenforschung, so- weit formale Sprachen, Turingmaschinen und rekursive Funktionen sich wech- selseitig ineinander überführen lassen. Denn die Basis der ›Grammatik‹ formaler Sprachen sowie der Sprachen des Typs ›Chomsky-Grammatiken‹ bildet ein Set von Transformationsregeln, die wiederum den Programm-Matrizen der Turing- Maschinen entsprechen, sodass letztlich nicht die Digitalisierung ihren Kern aus- macht – diese betriff t lediglich die Darstellungsweise ihrer Elemente –, sondern die Algorithmik ihrer Verkettung. Sie wird im Repertoire von Sprache durch eine Figuralität besorgt, die nicht in Funktionen und ihrer Berechenbarkeit aufgeht. Der Missgriff des Vergleichs zwischen Informationstheorie und Strukturalismus besteht also vor allem darin, allein auf die Ähnlichkeit zwischen Bits und Signi- fi kanten zu achten, statt auf die Diff erenz zwischen Regel und Figur. Anders gewen- det: Das Paradigma der Analogie beruht auf der Betrachtung der Einheiten – gleichsam auf der ›Ontologie‹ der Systeme, als ob Sprachen auf Zuständen beruh- ten wie Spiele auf Konfi gurationen ihrer Spiel-Figuren – und nicht auf Praktiken und deren Performanzen. Hier kommt Tholens ›Metaphorologie des Medialen‹ zum Tragen, weil sie von vornherein bei der Figur ansetzt. Insbesondere versucht sie drei unterschiedliche Operationen miteinander zu verknüpfen: erstens die historisch überlieferten Me- taphern des ›Mediums‹ oder ›Dazwischenliegenden‹, wie sie sich seit Aristoteles durch die Geschichte der Philosophie ziehen und immer neue »Umbesetzungen« (Blumenberg) oder Dislokationen erfahren haben, zweitens die Dekonstruktion jener metaphysischen Leitdiff erenz zwischen ›Begriff ‹ und ›Metapher‹, der ›ei- gentlichen‹ und ›uneigentlichen‹ Rede, wie sie sich bei Heidegger und Derrida fi ndet, sowie drittens die ›Metaphorisierung‹ des Medialen selbst im Rückgriff auf die literale Bedeutung von meta-pherein, der ›Hinüber-Tragung‹ oder ›Über- Setzung‹ in einen anderen Bereich. Tholen buchstabiert damit die Metapher der »Übertragung«, wie sie ebenfalls für Harold Innis, McLuhan und in jüngster Zeit 45 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (wie Anm. 11), § 6, 195 ff . 46 Tholen: Die Zäsur der Medien (wie Anm. 2), S. 187. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Meta / Dia 199 für Sybille Krämer leitend geworden ist,47 neu aus. Im Zentrum steht weiterhin die Sprache, deren eigene ›Metapher‹ nicht nur das Konzept der Mediation, son- dern auch die Methode ihrer Analyse bietet, wie sie gleichzeitig an einer eigenen ›Übersetzung‹ arbeitet, nämlich der zwischen sprachlichen Translations- und Ver- mittlungsprozessen in die digitalen Transmissionsprozesse technischer Medien. Dann gerät die Translations-Transmissions-Transformations-Beziehung selbst zum all- gemeinen Medienmodell, die im Sinne einer ebenso ortlosen wie fortgesetzten Bewegung des meta-pherein lauter Übergänge stiftet. Tholen sucht somit einen nichttechnischen wie nichtmetaphysischen Medienbegriff zu etablieren, der das in Frage stehende Konstitutionsproblem an den Zwischenraum einer permanen- ten Übergänglichkeit heftet, dessen wesentliches Prinzip die Beweglichkeit oder andauernde Prozessualität selbst darstellt. Gleichzeitig radikalisiert er, was bei Benjamin und Adorno bereits angelegt war: die Fundierung des Medialen in der ›Über-Tragung‹ oder ›Über-Setzung‹, die weniger von konkreten oder techni- schen Übersetzungsprozessen zehrt, als vielmehr auf das ›Hinüber-Tragen‹ und ›Hinüber-Setzen‹ als ebenso diff erentielle wie vermittelnde Praxis abhebt. Allerdings bleibt in dieser Konzeption das ›Meta‹ des meta-pherein noch unthe- matisch. Verdankt sich die Kernstruktur der Mediation im entscheidenden Maße einer Serie von Präpositionen oder Präfi xen, die immer dort zur Geltung kommen, wo eine Relation gekennzeichnet werden soll, deren Relata einen Ebenenwechsel beinhalten – meta im Griechischen, Trans im Lateinischen oder ›Über‹ im Deut- schen –, wäre noch deren eigene Struktur zu befragen. Präpositionen referieren auf Verhältnisse; sie setzen die sich im Spiel befi ndlichen Substantive in eine to- pologische Beziehung zueinander: ›Zwischen‹, ›nach‹, ›über‹, ›unter‹, ›durch‹ etc. formulieren zugleich räumliche wie zeitliche Ordnungen. Fragt man nach der Art dieser Ordnungen, gelangt man zu Modalitäten, die mit einer generellen Theorie des Medialen verknüpft werden können.48 Zwar ist, nach dem eingangs Gesagten, dem Medialen kein präziser Ort zuweisbar – es scheint, nach Samuel Weber, ein bloß Virtuelles49 –, wohl aber ›ent-faltet‹ dieses sich in Gestalt relationaler Modi, um buchstäblich zwischen den Relata verschiedene ›Faltungen‹ zu erzeugen. Von diesen kann wiederum nicht gesagt werden, sie konstituierten Gedanken oder Er- fahrungen – wie überhaupt der Ausdruck ›Er-Fahrung‹ gegen Paul Virilio weni- ger das ›Fahren‹ assoziiert als vielmehr das durch eine Fahrt Durchgemachte und Erkundete: die entsprechenden lateinischen Vokabeln experiens, experientia oder 47 Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frank- furt/M. 2008, bes. S. 9 ff . 48 Vgl. insb. Christoph Hubig: Die Kunst des Möglichen I. Technikphilosophie als Refl e- xion der Medialität, Bielefeld 2006. 49 Vgl. Samuel Weber: Virtualität der Medien, in: Sigrid Schade/Georg Christoph Tholen (Hg.): Konfi gurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 35 – 49. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 200 Dieter Mersch experior, die mit ›Experiment‹ verwandt sind, drücken eben diesen Sachverhalt aus: Plötzlich öff nen sich die Augen, werden neue Verhältnisse sichtbar, ähnlich dem Performativ, das weniger die Bedeutung eines Sprechaktes generiert, als vielmehr Variationen seiner praktischen Modi. Dann bildet das Performativ keine ›Bedin- gung der Möglichkeit‹, kein Transzendental, sondern, ähnlich der Schreibmaschine Nietzsches, eine ›Mitarbeit‹ – doch haben wir damit bereits weit vorgegriff en. 6. ›Dia‹ versus ›Meta‹ Wendet man sich im engeren Sinne dem ›Meta‹ zu, bedeutet die Präposition oder das Präfi x je nach Gebrauch ›nach‹, ›hinüber‹, ›von … weg‹, ›in der Mitte‹, ›unter‹ etc., wobei jedes Mal die Überschreitung einer Grenze impliziert ist. Das sprachliche Partikel enthält damit – wie das meta-pherein selbst – einen ›Sprung‹; ihm gelingt, gleichsam ereignishaft, die Überbrückung des Disparaten, wobei das Mediale den ›Ort‹ des Sprungs, die nichtrationale Stelle seiner nichtkausalen Ver- mittlung besetzt. Das gilt schon für die Metapher, die ›Übertragung‹ an einen anderen Platz, der wiederum das Bild des Fährmanns innewohnt, der mit seinem Nachen zur Toteninsel hinübersetzt. Ähnliches lässt sich von Ausdrücken wie metaballon, die Verwerfung oder Umkehr, metamelos, der Sinneswandel oder Ton- wechsel, oder metastasis, die Ausgründung oder Übersiedlung an einen fremden Ort sagen. Überall besteht jedoch die Schwierigkeit, ein Getrenntes miteinander zu verbinden, ohne dass klar würde, was die Verbindung stiftet. Der Medienbe- griff scheint genau an dieser Stelle einzuspringen. Doch lässt er gleichzeitig im Dunkeln, von woher oder wodurch die Vermittlung geschieht, weil es vom Sprung oder Übergang nicht selbst wieder eine Vermittlung geben kann: ›Springen‹ heißt vielmehr, wie es Heidegger formulierte, sich loslassen in einen Abgrund.50 Auf- fallend ist mithin, dass wir es erneut mit einer Metaphorisierung zu tun bekom- men, die die Möglichkeiten des Sprungs ihrerseits schon ›über-sprungen‹ hat. Das Mediale als ›Meta‹ ist nämlich einer Diff erenz geschuldet, deren Diff erenz selbst off en bleibt; es performiert gleichsam eine metabasis eis allo genos, die sich jeder weiteren Analyse sperrt. Tholen scheint diese Diff erenz der conditio humana selber zurechnen zu wollen, weil wir nicht nichts ohne jene Unterscheidungen, »die Unterschiede machen«, wahrnehmen, erfahren oder erkennen können; ja, Denken selbst bedeutet schon, Distinktionen zu treff en, sodass eine Diff erenz immer schon ›ge-geben‹ ist, bevor ›es‹ Denken, Verstehen und dergleichen ›gibt‹. Anders ausge- drückt: Diff erenz ist – und hier folgt Tholen Derrida – die erste Schrift vor der Schrift; sie ist gleichsam die Vorschrift oder ›Urschrift‹ des Medialen, die jedem 50 Martin Heidegger: Identität und Diff erenz, Pfullingen 61978, S. 20. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Meta / Dia 201 einzelnen Medium zuvorkommt und den Raum des Symbolischen schon gespalten haben wird. Gleichwohl ist die Weise der ›Über-Springung‹, die Undarstellbarkeit des Bruchs, der im Wortsinne ›passiert‹, nicht schon die Antwort, sondern erst die Frage. Das wird besonders anhand der lateinischen Übertragung von ›Meta‹ in ›Trans‹ deutlich. Denn jede ›Trans-Latio‹ – dem Inbegriff des Medialen als Über- setzung seit Benjamin – vollführt einen Sprung zwischen den Sprachen, der beide, sowohl die übersetzende wie die übersetzte, tangiert. Buchstäblich impliziert sie ein Risiko, weil kein Kriterium, kein tertium comparationis existiert, das ihr Glü- cken verspräche. Im selben Sinne transportiert jede Transmission nicht nur etwas von einem Ort zu einem anderen, sondern ›deplatziert‹ und verwandelt die ›Mis- sion‹, trägt in sie eine Alteration ein – ähnlich wie eine Transformation keine bloße Umgestaltung bedeutet, sondern eine metamorphosis. Deswegen die Fülle von ana- log gebildeten Ausdrücken, die angeführt werden, um die zentrale Funktion des Medialen aufzurufen: Neben ›Über-Tragung‹ und ›Über-Setzung‹ die Transgression oder Transposition sowie ebenfalls die Transsubstantiation, wie es Jochen Hörisch mit Blick auf den katholischen Ritus der Verwandlung von Brot und Wein vorgeschla- gen hat.51 Dann drückt das Meta oder Trans, je nach Sprache, eine Transzendenz aus, die die verführerische Vorstellung beinhaltet, es handele sich um eine Stätte ›ur-sprünglicher‹ Umwandlung, sei es von Materie in eine immaterielle Form, von Dingen in ein Symbolisches oder von Einzeichnungen in Vinyl in die Klänge der Welt.52 Es gibt, wie man sagen könnte, ein theologisches Moment im Medialen, das inmitten der Figuren des Sprungs und des Meta an ein Enigma rührt, um – in Verbindung mit dem Konstitutionsgedanken – die gesamte Bürde der klassischen Metaphysik und ihrer Rätsel, von der Kluft zwischen Natur und Kultur oder Körper und Geist bis zum »Balken«, der Signifi kat und Signifi kant voneinander trennt, auszutragen. Mit einem Schlag scheint sich der Riss ›zwischen‹ ihnen auf- zulösen, sobald ein ›Drittes‹ ›dazwischen‹ tritt – das jedoch die Vermittlung nur besorgt, um die Diff erenz ebenso zu eskamotieren wie sie gleich einem Wider- gänger an anderer Stelle zurückkehren zu lassen, weil nunmehr das Medium selbst, vergleichbar einer black box, die Dimension der Spektralität übernimmt. Off enbar ist anders anzusetzen und das problematische Präfi x durch einen an- deren Ausdruck zu ersetzen, dessen Richtung weniger vertikal und ›sprunghaft‹ verläuft als vielmehr horizontal und damit fl acher und bescheidener. Die Idee führt auf die Materialität von Übergängen sowie die Praktiken der Verwandlung von etwas in etwas ›durch‹ etwas anderes. Gemeint ist das ›Durch‹, dem im Lateinischen 51 Jochen Hörich: Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls, Frankfurt/M. 1991; ders.: Gott, Geld und Medien, Frankfurt/M. 2004. 52 Vgl. Kittler: Film, Grammophon, Typewriter (wie Anm. 24), S. 27 ff . ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 202 Dieter Mersch das Per entspricht, etwa wenn wir per Schiff reisen oder per Boten eine Nachricht übermitteln – per auch im Sinne des performare oder der ›Perlokution‹, welche im Sprechakt auf dessen außersprachliche Eff ekte verweist oder in experiens auf das Herausbringen eines Neuen. Im Griechischen wäre ihnen der Ausdruck ›Dia‹ zuzuordnen, der ebenfalls ›durch‹ oder ›mittels‹ bedeutet und sich zuweilen von ›Meta‹ nur durch eine Nuance unterscheidet – etwa in dihairesis [Trennung, Un- terscheidung], diáthesis [Anordnung, Einteilung], diástasis [Entfernung oder Ab- trennung] oder diabasis [Brücke, Durchgang]. Tatsächlich kommen den Partikeln, die hier zunächst nur heuristisch aufgezählt seien, um den Gedanken plausibel zu machen, in Ansehung des Medialen eine weit größere Rolle zu als es zunächst den Anschein hat: So weist per-sona auf die Medialität der Maske, die verhüllend- enthüllend ein Gesicht dadurch off enbart, dass sich die Stimme ›durch‹ (per) einen Laut (sono) artikuliert, wie die per-spectiva wörtlich »eine Durchsehung« (Dürer) bedeutet,53 die sich weniger einer Transparenz verdankt, als vielmehr ›durch‹ jene mathematische Struktur zu erkennen gibt, die das Sichtbare allererst gewährt. Ähnliches gilt für die Platonischen dialogoi, die ›Durchsprechung‹ [dialogizomai], welche eine Erörterung vermittels des logos vollzieht, um einen Gedanken oder eine Überzeugung auf ihre geteilte Wahrheit hin ›durchsichtig‹ zu machen, wie die diáphora an die Saat und den Sämann, d. h. die Urszene der Dissemination, gemahnt.54 Zwar liegt allen diesen Formen ebenfalls eine Diff erenz oder Teilung zugrunde, doch so, dass diese nicht übersprungen wird, sondern mittels der poiesis und ihrer materiellen Bedingungen ›durch‹gearbeitet werden muss.55 53 Vgl. Erwin Panofsky: Die Perspektive als ›symbolische Form‹, in: ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1998, S. 99. Ähnliches legt Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München 22008, S. 23, nahe. Das Wort ›perspectiva‹ lässt sich im Übrigen schon bei Boethius bezeugen, doch fi ndet es mit Blick auf die Medialität der Bildlichkeit erst bei Dürer seine prägnante Deutung als »Durchsicht« auf eine sichtbar gemachte Welt. 54 Vgl. Derrida: Dissemination (wie Anm. 43). Insbesondere referiert Derrida auf Platons Motiv vom Sämann, der wiederum auf den älteren Mythos der Demeter und die Figur des Triptolemos als eigentlichen Kultivierer zurückgeht. John Peters erkennt in der Dis- semination die eigentliche Produktivität des Medialen; vgl. John Durham Peters: Spea- king into the Air: A History of the Idea of Communication, Chicago 2000. 55 Erste Überlegungen zu dieser Diff erenz fi nden sich vom Verfasser in: Irrfahrten. Laby- rinthe, Netze und die Unentscheidbarkeit der Welt, in: Georg Mein/Stefan Börnchen (Hg.): Weltliche Wallfahrten, München 2010, S. 41 – 56. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Meta / Dia 203 7. Performativität des Medialen Wenn derart paradigmatisch zwei griechische Präfi xe – Meta und Dia – gegen- einander ausgespielt werden, dann nicht um ihrer Worte willen, sondern um die Transzendenz des Sprungs, wie sie dem Meta eignet, auf Verfahren zurückzufüh- ren, die in Materialitäten fundiert sind. Zugleich ergibt sich noch ein weiterer Wink. Mit Bedacht hatten wir zuletzt auf die poeisis hingewiesen, um sie mit ›Dia‹ oder ›Per‹ in Verbindung zu bringen. Weniger sei damit ihre instrumentelle Be- stimmung unterstrichen, als vielmehr ihre künstlerische Seite, wie überhaupt Kunst und Ästhetik für den hier anvisierten Medienbegriff Pate stehen. Während also Meta, Trans oder Über auf eine Übertragung verweisen, deren Grund fraglich bleibt, deuten sich im Dia oder Per verschiedene Wege oder Modalitäten an, den Übergang zu gewährleisten. Sämtlich wurzeln sie im Realen. Eingebunden in ein Netzwerk von Dingen und Handlungen beruht das Mediale folglich auf performa- tiven Praktiken und nicht im Ereignis einer diff érance. Deswegen auch die Betonung auf die Praxis der Künste: Anstelle einer Metabasis, eines Übergangs in eine andere Ordnung, verfolgen sie eine Diabasis, die zwar gleichfalls einen Übergang nennt, jedoch vermöge solcher Passagen, die auf konkreten ›Architekturen‹ bauen.56 Das- selbe gilt für den Unterschied zwischen transformare und performare: Erstere ver- wandelt von Grund auf, während letztere auff ührt oder verkörpert, indem sie sich der Mittel der Welt bedient. Nicht die Verwandlung ist dann das Resultat, son- dern, im Wortsinne, die ›Dar-Stellung‹.57 Dann steht auch nicht länger die ›Über- Tragung‹ oder das metapherein als Paradigma für den Prozess der Mediation ein, sondern jene Formen des experiens oder Experimentellen, durch welche etwas zur Erscheinung gelangt, »gesetzt« oder »ausgesetzt« wird, um sich ebenso in der Wirk- lichkeit zu manifestieren wie diese zu »ent-setzen«.58 Dies sei anhand von zwei weiteren Komposita mit ›Dia‹ und ›Per‹ erläutert, die im übrigen die alternative Modellierung des Medienbegriff s erst motiviert haben: das Diaphane bei Aristoteles sowie der Begriff des Performativen, wie er 56 Erinnert sei daran, dass architektonia im Wortsinne die erste oder grundlegende Technik bzw. Kunst bedeutet. 57 Der Ausdruck ›Dar-Stellung‹ enthält sowohl Herstellung als auch ein Vor-Augen-Stellen, d. h. Gestaltung und Präsentation. In diesem Sinne hat Lyotard den Begriff der Darstel- lung mit dem der Anzeige in Verbindung gebracht; vgl. Jean François Lyotard: Streitge- spräche oder: Sätze bilden ›nach Auschwitz‹, in: Elisabeth Weber/Georg Christoph Tho- len (Hg.): Das Vergessene, Wien 1997, S. 18 – 50, hier S. 32 f. 58 Zum Begriff der Setzung im Zusammenhang des Performativen vgl. meinen Versuch in: Das Ereignis der Setzung, in: Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Matthias Warstat (Hg.): Performativität und Ereignis, Tübingen/Basel 2002, S. 41 – 56. Insbesondere wird das Ereignis der Setzung aus dem dreifachen Moment der Einsetzung (Instantiierung), Aussetzung (Exposition) und Entsetzung (Transposition) entfaltet. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 204 Dieter Mersch von John Langshaw Austin und John Searle in die Philosophie eingeführt wor- den ist. Statt auf die Platonische Schriftkritik und den schillernden Begriff der Chora im Timaios sowie die daran anschließende Frage des pharmakons – und damit letztlich des ›Meta‹ – zu rekurrieren, wie dies im Namen einer Diff erenz-Theorie des Medialen geschehen ist,59 sei so zum einen auf die Aristotelische Aisthesislehre zurückgegriff en, deren Übersetzung ins Lateinische historisch der Medienbegriff entstammt,60 sowie zum anderen an Performativitätstheorien angeschlossen, die ins Mediale die Dimension des Praktischen einzutragen vermögen. Insbesondere fungiert bei Aristoteles das Diaphane als Leitfaden eines Medienverständnisses, das die Wahrnehmung thematisiert, um, ausgehend von der Annahme eines Metaxu oder ›Dazwischenliegenden‹, das den ›Kontakt‹ zwischen Auge und Ding hält, zum Begriff der ›Durchscheinung‹ [diaphaino] überzugehen, das – ganz ähnlich wie die ›perspectiva‹ – deren Vermittlung garantiert. Folgt der hypothetisch eingeführte Begriff des Metaxu, der erneut das ›Meta‹ unterstreicht und gleichsam eine ›Zwi- schenheit‹ markiert, der Vorstellung, dass das Wahrgenommene sich dem Wahr- nehmenden mitteilen muss, vermag dafür jedoch weniger das metapherein einstehen als vielmehr der Vorgang eines ›Durchgangs‹ durch einen Raum, in dessen Leer- stelle das Diaphane tritt. Abermals sind wir so mit dem Gegensatz zwischen ›Meta‹ und ›Dia‹ konfrontiert, wobei diaphaino dasjenige nennt, was überhaupt erscheinen lässt, und Aristoteles kein Zweifel an seiner stoffl ichen Qualität lässt. Anders aus- gedrückt: Etwas, ein Materielles, ermöglicht ein Erscheinen – doch führt dabei die Vorstellung eines ›durchscheinenden Stoff es‹ letztlich in die Irre. Vielmehr erweist sich das Erscheinen selbst als ›durch-sichtig‹, sofern sich durch es überhaupt etwas sichtbar macht. Erst die lateinische Übersetzung durch ›Transparenz‹ legt die An- nahme nahe, ein an sich Opakes gebe sich vermittels eines Schleiers oder Schirms zu erkennen; dagegen bedeutet das Diaphane die Sichtbarmachung selbst, an die Aristoteles freilich die Dialektik knüpft, dass diese nicht an sich selbst sichtbar wird, sondern, wie es in De Anima heißt, »durch die ihm fremde Farbe«.61 Der Begriff des Diaphanen macht so den ›modalen‹ Aspekt des Medialen deut- lich. Er kann schärfer noch anhand linguistischer Performativitätstheorien erläu- tert werden, insbesondere in Ansehung der seit Searle vernachlässigten Seite der Perlokution. 59 Der Rückgriff auf Platon bildet die Folie einer an Derrida anschließenden Medientheo- rie; vgl. dessen Dissemination (wie Anm. 43), 1. Teil; sowie ders.: Chora, Wien 2005, wobei sowohl das pharmakon als auch die Chora Figuren des Ambivalenten aufrufen, die zuletzt den Sprung des Meta vollziehen. 60 Vgl. Wolfgang Hagen: Metaxy. Eine historiosemantische Fußnote zu einem Medien- begriff , in: Münker / Roesler (Hg.): Was ist ein Medium (wie Anm. 8), S. 13 – 29, sowie meine Ausführungen in: Medientheorien zur Einführung, Hamburg 2006, S. 18 ff . 61 Aristoteles: De Anima, 418b. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Meta / Dia 205 Bekanntlich hatte Austin zwischen illokutionären und perlokutionären Äuße- rungen unterschieden: Erstere tun etwas »in saying something«, letztere »by saying«.62 Illokutionen inaugurieren sprachliche Akte vermöge einer Identität von Sagen und Tun,63 während Perlokutionen Eff ekte erzeugen, die in Diff erenzpro- zessen fundiert sind64 – in beiden Fällen aber verändert das ›Per‹ der Performati- vität den Modus sowohl der Äußerung als auch der Handlung.65 Entsprechend wäre die Medialität sprachlichen Handelns an die Struktur performativer Moda- litäten zu knüpfen: Die mediale Praxis der Sprache erfüllt sich weder in der Ord- nung der Signifi kation noch im Geschehen einer Figuralität, soweit diese konsti- tutiv an Diff erenz festgemacht sind – das hieße, weiterhin den ›Unter-Schied‹ zwischen Signifi kant und Signifi kat, sein unauslotbares ›Dazwischen‹ und mithin den Trennungsstrich, der – buchstäblich – ›dazwischen kommt‹, als den eigentli- chen Ort des Medialen auszuweisen und so letztlich Zeichen und Medium mitei- nander verwechseln –, vielmehr zeigt sich das Mediale anhand der je verschiedenen performativen Praktiken und der durch sie induzierten Modi. Um im Bild zu bleiben: Handelt es sich im ersten Fall um eine vertikale Diff erenz, die dem ›Meta‹ entspricht und das Senklot zwischen Sprache und Welt oder Medium und Wirk- lichkeit ausrichtet, ist im zweiten Falle von einer ununterbrochenen Kette hori- zontaler Verschiebungen auszugehen, deren konstitutive Eff ekte in jedem Einzel- fall allererst zu überprüfen wären. Entsprechend interessieren auch weniger die Regeln und Konventionen, die die sprachlichen Äußerungen ins Reale platzieren, als vielmehr das, was diese auf der kommunikativen Szene bewirken. Nicht die Frage des Symbolischen ist für das Mediale relevant, sondern die an Akteure und Kontexte sowie an Diskurse und Materialitäten gebundenen Praktiken, um im eigentlichen Sinne situativ ›durchzuschlagen‹. 62 John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Stuttgart 1979, S. 114 ff . 63 Vgl. dazu Willard Van Orman Quine: Theorien und Dinge, Frankfurt/M. 1991, S. 116; Donald Davidson: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/M. 21994, S. 161. 64 Vgl. insb. meine Auseinandersetzung mit Austin und Searle in: Posthermeneutik (wie Anm. 21), S. 220 – 245, insb. S. 240 ff . 65 Zur modalen Interpretation des Performativen vgl. Donald Davidson: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/M. 21994, S. 163 – 180. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 206 Dieter Mersch 8. Nietzsche Schreibmaschine, revisited So führt der Schritt vom ›Meta‹ zu ›Dia‹ zuletzt zu einem performativen Begriff des Medialen. Er impliziert einen ›Über-Tritt‹ vom Transzendentalen und dem Problem der Konstitution zur Produktion als Frage poietischer Praktiken und ihrer Ereignisse. Sie wären gleichermaßen von Teleologie wie von Intentionalität zu trennen. Wenn daher von ›Ereignissen‹ die Rede ist, so ebenso um der Ver- führung des Subjekts wie technischer Zweck-Mittel-Setzungen zu widerstehen. Um dies an einem Beispiel zu erläutern: Eine Person kann eine andere dadurch verletzen, dass sie ihr Hilfe anbietet, da die Hilfestellung bereits den Akt einer Superiorität einschließt. Dann mediatisiert die Hilfeleistung Überlegenheit durch Rekurs auf eine unschuldige Höfl ichkeit. Das ›Medium der Mediatisierung‹ wäre hier nicht auffi ndbar; sie liegt nicht in der Sache der angebotenen Unterstützung, sondern in der Art ihrer ›Ver-Wendung‹. Solche Wendung ›passiert‹ gleichsam als ›perlokutionäre‹ Verschiebung, die die gemeinte Zuvorkommenheit als Geste der Gewalt hervorbringt, ohne sogleich schon die Konstitution des Aktes als Akt oder seines Symbolischen zu besorgen. Die vorgeschlagene Lesart verleugnet also nicht schlechthin die Möglichkeit medialer Generativität, wohl aber ihre Verbin- dung mit ›Apriorität‹ – die Auff assung, dass ›es‹ Wahrnehmung oder Signifi kanz nur ›gibt‹, weil es Medien gibt, oder dass z. B. Nietzsches Schreibmaschine die Gedanken und der technisch-mediale Komplex der Übertragung von sich her die Möglichkeit der Kommunikation determiniert. Vielmehr wandelt sich die Kon- stitutionsfrage zum Modusproblem: Praktiken zeitigen Eff ekte, die etwas als etwas erscheinen lassen, wobei es weniger um den Schein der Erscheinung, als um das Ereignis des Als geht, das sich, je nach der Szene des Performativen in ein mediales Als allererst umschreibt. Das Mediale fungiert also nicht als eine primordinale Hypo- these, sondern existiert allein in Abhängigkeit jener Praktiken und Materialitäten, deren ›Ver-Wendung‹ es zugleich auf immer neue Weise ›wendet‹. Was das Mediale ist, kann nicht gesagt werden – es entzieht sich seiner Feststellbarkeit;66 gleich- wohl zeigt es sich durch seine ›Bewegungen‹ und deren ›Wendungen‹ hindurch. Sie dulden sowenig eine Synopsis wie eine allgemeine Theorie, bestenfalls nur regionale Kasuistiken von Fall zu Fall. Medien situieren sich, jenseits operativer Strukturen, in einem indeterminativen Feld von Potentialitäten: Sie sind nicht – sondern sie werden erst. Gleichzeitig bemisst sich daran das ›Maß‹ ihrer Refl exivität. Anders als der diskursive Begriff der Refl exion und dessen Verankerung in transzendentalen Begründungen, bekommen wir es also mit einem performativen Begriff der Refl exion 66 Zum Entzug des Medialen vgl. meine Ausführungen in Posthermeneutik (wie Anm. 21), S. 148 – 169. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 Meta / Dia 207 zu tun. Er hat den Vorteil, nicht in die Falle einer prinzipiellen Teilung zwischen medialen Prozessen einerseits und ihrer Refl exion in anderen Medien andererseits zu geraten – dem scheinbar einleuchtenden Diktum der Systemtheorie, dass Me- dien immer nur in anderen Medien thematisch werden können. Stattdessen ver- weisen performative Refl exivitäten auf Störungen oder Subversionen sowie die Erfi ndung von Gegenprogrammen, die konträre ›Ver-Wendungen‹ und Wider- sprüche ausnutzen, um andere, überraschende oder noch unausgelotete Aspekte freizulegen.67 Nichts anderes bedeutet die ›Negativität des Medialen‹. Sie zeigt sich allein auf der Grundlage gegenläufi ger Interventionen, die in die medialen Prak- tiken eingreifen, sie ›umbrechen‹ oder perforieren und damit erkennbar machen, was sich gewöhnlicher Erkennbarkeit versperrt. Heidegger hatte dafür in Anse- hung der Sprache den treff enden Ausdruck des »Aufrisses« gefunden: Statt ihrer Totalisierung gleichsam durch eine ›Blaupause‹, die eine strukturelle Ordnung böte, gelangt ihre ›Ver-Wendung‹ zu lauter disparaten Ansichten, die ebenso sehr eine Serie von Momentaufnahmen off enbaren wie diese durch sie ›geschnitten‹ und ›aufgerissen‹ werden.68 Die Paradoxie der Refl exion – im Sinne einfacher ›Drauf- sicht‹ – wäre also nicht zu lösen, allenfalls zu umgehen und durch lauter Fassetten und Fragmente ›aufzuheben‹. Was folgt daraus für unseren Ausgangspunkt, die Einsichten Nietzsches und Heinrich von Köselitz’, dass das Schreibzeug oder die Qualität von Feder und Papier an unseren Gedanken mitarbeitet? Nicht das diskrete Tableau des Typewri- ters, die Tastatur als mechanisches Alphabet, die bereits die Digitalisierung vor- wegnimmt, verändert das Denken, sondern die verschiedenen Modalitäten ihrer Nutzung und Gegennutzung, zu denen das Technische ebenso einlädt wie zu ihr der ›Entwurf‹ einer nichttechnischen Kreativität gehört. Beide arbeiten – auf der Grundlage performativer Praktiken – Hand in Hand. Dann ›be-dingt‹ das ›Drü- cken‹ der Schreibmaschinentasten, die Anstrengung des Ungeübten, nicht nur eine Verdichtung und Konzentration des Denkens, wie sie an die frühe Vorsokratik erinnert, sondern es setzt auch, für den Fingerfertigen, ganz andere Potenziale frei – z. B. eine Erzeugung endloser textueller Verkettungen, ihre ironische ›Ent-Wen- dung‹ durch Zufallsprozesse, ihre Bildwerdung wie bei frühen Bild-Übertragun- gen mittels Fernschreibern usw. Kurz: Die ›Mitarbeit‹ der Schreibmaschine am Denken kommentiert weniger die Apriorität des Medialen, als vielmehr die un- erschöpfl iche Möglichkeit ihrer ›Ver-Wendung‹, welche zugleich an der Enthül- 67 Flusser hat in seinem Aufsatz zum Bilderstatus ganz ähnlich argumentiert: Es bedürfe der Gegenwendung, um die Apparate zu überlisten und mittels der »Gelenkigkeit« der Kunst oder Ars den Status der Bilder in den alten und neuen Medien zum Vorschein zu bringen: Vilém Flusser: Medienkultur, Frankfurt/M. 1997, S. 77. 68 Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 51975, S. 241 u. ö. Vgl. dazu auch meine Ausführungen in: Posthermeneutik (wie Anm. 21), S. 164 ff . ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2 208 Dieter Mersch lung wie Verhüllung des Mediums mitarbeitet. Was aber bedeutet das schließlich für das ›Mit‹ der Mitarbeit? Es bedeutet kein ›Zwischen‹, kein ›Meta‹ sowenig wie eine Transzendenz oder ein Transzendental, sondern eine Weise der Praxis, die in unsere Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse mit eingeht. Wir denken nicht in der Einsamkeit unseres Geistes, genauso wenig wie wir umgekehrt ›durch‹ das Mediale ›gedacht‹ würden, sondern wir erfahren Welt vermittels jener Praktiken, mit denen wir sie bearbeiten, deren Fremdheit und Materialität umgekehrt auf sie wieder zurückschlagen, um in sie ein gleichermaßen unbeherrschbares wie ›un- fügliches‹ Element einzutragen. ZMK 2/2010 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2010 | DOI: 10.28937/ZMK-1-2