118 Dissertationsprojekte Elisa Pollack Medien und kollektive Identität Biographische Annäherungen an Mediennutzung und -bewertung von Ost- und West-Berliner*innen in der Nachwendezeit Seit den frühen 1990er-Jahren attestiert die Mediennutzungsforschung den Menschen in Ost und West Unterschiede in Mediennutzung und -bewertung. Die meist von westdeutschen Re- daktionen gestalteten überregionalen Presseangebote finden im Osten des Landes weitaus we- niger Beachtung. Ostdeutsche bewerten die öffentlich-rechtlichen Rundfunkprogramme kriti- scher und allgemein schätzen sie die Qualität und Glaubwürdigkeit der Medieninformationen in Deutschland im Schnitt schlechter ein als Westdeutsche.1 Erklärungen dafür reichen von einer mangelnden Informationskompetenz seitens der Ostdeutschen über soziodemo- graphische Faktoren bis zum Vorhandensein einer speziellen Ost-Identität.2 Das Dissertationsprojekt hinterfragt bestehende Erklärungsansätze. Dazu wird nicht nur ost- sondern auch westdeutsches Rezeptionsverhalten aus identitätstheoretischer Perspektive in den Blick genommen. Im Fokus steht der bislang nicht ausreichend berücksichtigte Zu- sammenhang zwischen der Nutzung klassischer Massenmedien und kollektiver beziehungs- weise sozialer Identität. Denn der Blick auf Identitäten hilft dabei zu verstehen, wie und warum Menschen bestimmte Medien nutzen.3 Die Dissertation setzt an den Mediennutzer*innen und ihren Bedürfnissen an und ist so in der Lage, die Rolle der Massenmedien im Prozess deut- scher Identitätsformationen nach 1989 – die bisher überwiegend anhand von Medieninhalten erforscht wurde – zu spezifizieren. Im Rahmen der Untersuchung werden die Erlebnisse der Nachwendejahre, aber auch (Medien)Erfahrungen vor 1989 als mitausschlaggebend für die Etablierung noch heute vor- handener Nutzungsmuster betrachtet. Die Arbeit interessiert sich dementsprechend vor allem für (identitätsbezogene) Nutzungsmuster, Motive und Bewertungen, die sich im Kontext von Mauerfall und Transformationsprozess erhalten oder neu entwickelt haben. Die Unter- suchung beschränkt sich dabei auf das Gebiet der einstigen Mauerstadt Berlin, das hier zu- 1 Vgl. Inge Mohr und Gerlinde Frey-Vor: Radio- und Zeitungsnutzung im Ost-West-Vergleich. Ergeb- nisse der ARD/ZDF-Studie Massenkommunikation 2015. In: Media Perspektiven, 2016, Nr. 7–8, S. 392–400; Christian Breunig und Eva Holtmannspötter: ARD/ZDF-Massenkommunikation Trends 2019: Fernseh- und Radioprogramme im Systemvergleich. Repräsentativbefragung zur Bewertung öffentlich-rechtlicher und pri- vater Angebote. In: Media Perspektiven, 2019, Nr. 7–8, S. 334–349; WDR: Glaubwürdigkeit der Medien 2020. Eine Studie im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks. Oktober 2020. Online: https://www.ard.de/die-ard/ Glaubwuerdigkeit-der-Medien-WDR-Studie-100.pdf, abgerufen am 11.01.2021. 2 Vgl. Gerlinde Frey-Vor, Heinz Gerhard und Inge Mohr: Mehr Unterschiede als Annäherung? Informationsnutzung von Ost- und Westdeutschen: Erwartungen und Einstellungen. In: Media Perspektiven, 2002, Nr.2, S. 70–76; Werner Früh und Hans-Jörg Stiehler: Fernsehen in Ostdeutschland. Eine Untersuchung zum Zusammenhang zwischen Programmangebot und Rezeption. Berlin 2012. 3 Vgl. Peter Vorderer: Rezeptionsmotivation: Warum nutzen Rezipienten mediale Unterhaltungsangebote? In: Publizistik 41, 1996, Nr. 3, S. 310–326; Nathalie Huber und Michael Meyen (Hg.): Medien im Alltag. Quali- tative Studien zu Nutzungsmotiven und zur Bedeutung von Medienangeboten. Münster 2006. https://www.ard.de/die-ard/Glaubwuerdigkeit-der-Medien-WDR-Studie-100.pdf https://www.ard.de/die-ard/Glaubwuerdigkeit-der-Medien-WDR-Studie-100.pdf 119Dissertationsprojekte nächst exemplarisch für die restliche Bundesrepublik stehen soll. Ebenso wie zwischen Ost- und Westdeutschen ließen sich hier Unterschiede in den Nutzungsgewohnheiten von Ost- und Westberliner*innen beobachten, etwa im Bereich des Regionalfernsehens. Während die Ost- Berliner*innen zu gleichen Teilen den Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) und den Sender Freies Berlin (SFB) einschalteten, interessierten sich die West-Berliner*innen kaum für die Inhalte der 1991 neugegründeten Ost-Rundfunkanstalt. Sie blieben dem alten Westberliner Sender treu.4 Als theoretischer Hintergrund zur Beantwortung der Fragestellung fungieren die Identi- täts- sowie die Strukturationstheorie von Anthony Giddens. Mit Giddens wird Identität nicht als Eigenschaft verstanden, sondern als die Fähigkeit eine kohärente Lebenserzählung aufrecht- zuerhalten.5 Die Kontinuität der Selbsterzählung wurde im Rahmen des 1989 einsetzenden ge- sellschaftlichen Umbruchs potentiell gefährdet. Die Identitätsproblematik gewann für die Be- wohner*innen beider Stadthälften an Brisanz. Giddens’ Überlegungen werden mit denen der kommunikationswissenschaftlichen Uses-and-Gratifications-Forschung verknüpft.6 So kann Mediennutzung als in gewissem Sinne bewusstes und funktionales Handeln beschrieben wer- den, welches sich in Abhängigkeit von (Identitäts)Bedürfnissen vollzieht. Identitätsarbeit über Medien ist mit Prozessen der Identifikation und Distinktion verbunden, wobei gerade auch Bindungen an gesellschaftliche Gruppen von Relevanz sind. Sowohl die Konfrontation von Ost und West (und dadurch ausgelöste Prozesse der Identitätsformation) als auch das in Folge der Wiedervereinigung stark gewandelte Medienangebot Berlins lassen vermuten, dass es gerade in der Nachwendezeit zur Ausprägung neuer Mediennutzungsroutinen kam. Darauf aufbauend wird gefragt, welche Rolle den Medien bei der Aufrechterhaltung, Ausprägung oder dem Abbau von Ost- und West-Sonderidentitäten zuzuschreiben ist. Denn Massenmedien stellen symbolisches Material bereit, das Kollektive heranziehen, um ihr Selbst- bild zu entwerfen.7 Kollektive Identitäten werden oft mit Bezug auf historische Narrative kon- struiert.8 Indem Medienangebote Interpretationen der Vergangenheit vermitteln, sind sie nicht nur Träger, sondern zugleich Produzenten des kulturellen Gedächtnisses, auf dessen Grund- lage kollektive Identitäten konstruiert werden.9 Wie also massenmedial an die DDR-Ver- gangenheit erinnert wird – ob in Spielfilmen oder Zeitungsartikeln – beeinflusst, wie Medien genutzt und bewertet werden und hat dahingehend Konsequenzen für deutsche Identitäten. 4 Vgl. Lothar Mikos und Elizabeth Prommer: Publikumserwartungen und Programmqualität: Studie zur Fusion von ORB und SFB. Potsdam 2003 (unveröffentlichter Forschungsbericht), S. 4. 5 Vgl. Anthony Giddens: Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age. Cambridge 1991, S. 54. 6 Vgl. Alan M. Rubin: Die Uses-And-Gratifications-Perspektive der Medienwirkung. In: Angela Schorr (Hg.): Publikums- und Wirkungsforschung. Wiesbaden 2000, S. 137–152. 7 Vgl. Lothar Mikos: Serial Identity. Television Serials as Resources for Reflexive Identities. In: Enric Castelló, Alexander Dhoest und Hugh O’Donnell (Hg.): The Nation on Screen. Discourses of the National on Global Television. Newcastle upon Tyne 2009, S. 97–116. 8 Vgl. Rudolf De Cillia, Martin Reisigl und Ruth Wodak: The Discursive Construction of National Identities. In: Discourse & Society 10, 1999, Nr. 2, S. 149–173, hier S. 154. 9 Vgl. Michael Meyen: „Wir haben freier gelebt“. Die DDR im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Bielefeld 2013, S. 40. 120 Dissertationsprojekte Um das Verhältnis von Medien(nutzung) und kollektiver Identität zu erforschen, wird eine qualitative Herangehensweise verfolgt. Die Untersuchung stützt sich primär auf bio- graphische Leitfadeninterviews. Im Sinne theoriegeleiteter Forschung wird ausgehend von den theoretischen Vorannahmen ein Kategoriensystem entwickelt, das sowohl die Konstruktion des Interviewleitfadens als auch den Auswertungsprozess anleitet.10 Das Kategoriensystem be- steht aus vier Hauptkategorien. Diese umfassen die strukturellen Handlungsbedingungen der Individuen auf der Mikro- (1) und der Makroebene (2) – hierzu zählen biographische Ereig- nisse ebenso wie gesamtgesellschaftliche politische oder wirtschaftliche Gegebenheiten und massenmediale Diskurse –, die Identität der Akteure (3) sowie die entsprechenden Medien- nutzungsgewohnheiten (4). Bei der Auswahl der Befragten war es wichtig, dass sie das Leben in der geteilten Stadt wie auch die Nachwendezeit bewusst miterlebt haben und über eigene Erfahrungen mit dem damaligen Medienangebot verfügen. Entsprechend einer theoretischen Sättigung sollten innerhalb dieser Gruppe möglichst heterogene Stimmen zu Wort kommen.11 Bisher wurden rund 50 Interviews mit gebürtigen und zugezogenen Ost- und West-Berli- ner*innen geführt, die zwischen 1933 und 1972 geboren wurden. Dabei fand die Auswahl zunächst anhand der Kriterien Jahrgang, Geschlecht, Bildungsgrad und Herkunft statt, be- vor in einem zweiten Schritt nach ‚speziellen‘ Fällen gesucht wurde, etwa nach Menschen mit Brüchen in der Berufsbiographie. Ergänzend einbezogen werden zeitgenössische Nutzungs- studien, beispielsweise der ARD/ZDF-Zuschauerforschung. Hinweise auf den Stellenwert verschiedener Rundfunkprogramme und einzelner Sendungen für Ostdeutsche vor 1989 und während der Umbruchszeit liefern außerdem die Bestände der Zuschauerforschung des DDR- Fernsehens im Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam. 10 Vgl. Maria Löblich: Theoriegeleitete Forschung in der Kommunikationswissenschaft. In: Stefanie Averbeck- Lietz und Michael Meyen (Hg.): Handbuch nicht standardisierte Methoden in der Kommunika- tionswissenschaft. Wiesbaden 2016, S. 67–79. 11 Vgl. Werner Fuchs-Heinritz: Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. Wiesbaden 2000, S. 230ff.