Theo Hug, Tanja Kohn, Petra Missomelius (Hg.) Medien – Wissen – Bildung: Medienbildung wozu? innsbruck university press EDITED VOLUME SERIES innsbruck university press Theo Hug, Tanja Kohn, Petra Missomelius (Hg.) MEDIEN – WISSEN – BILDUNG Medienbildung wozu? Theo Hug Tanja Kohn Petra Missomelius Institut für Psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung, Universität Innsbruck Arbeitsbereich Medienpädagogik und Kommunikationskultur ims – Innsbruck Media Studies, Medienforum Innsbruck Diese Publikation wurde mit finanzieller Unterstützung des Vizerektorats für Forschung der Universität Innsbruck, des interfakultären Forums Innsbruck Media Studies und des Instituts für Psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung der Universität Innsbruck gedruckt. © innsbruck university press, 2016 Universität Innsbruck 1. Auflage Alle Rechte vorbehalten. Produktion: Prime Rate Kft. www.uibk.ac.at/iup Titelgrafik: © Christoph Pirker ISBN 978-3-903122-16-1 Inhaltsverzeichnis Theo Hug, Tanja Kohn, Petra Missomelius Editorial .................................................................................................................................. 9 Nahtstellen von disziplinären Ansätzen und Zugängen Rainer Leschke Normative Selbstmissverständnisse. Medienbildung zwischen normativer Bewahrung und technologiegetriebener Normsetzung ...................................... 17 Manfred Faßler Broadcast Your Self, yourself. Überlegungen zur Neufassung des medialen Selbst .............................................................................................................. 33 Hans-Martin Schönherr-Mann Medienbildung als politische Bildung? ................................................................................ 55 Stephan Münte-Goussar Medienbildung, Schulkultur und Subjektivierung ............................................................... 73 Julius Othmer & Andreas Weich Und noch ein paar Sätze mehr… Anmerkungen zu “Medienbildung in fünf Sätzen” .............................................................. 95 Zielbilder und normative Begründungen Ben Bachmair Skizzen zu einem Kultur-Paradigma für Pädagogik in einer Kultur disparater Transformation .............................................................................. 107 6 Inhaltsverzeichnis Petra Missomelius Zur Dimension der Kritik als Zielvorstellung von Medienbildung ................................................................................... 127 Rudolf Kammerl Medien-Bildung wozu? Hat Medien-Bildung Zwecke und wenn ja, wer legt diese warum fest? .............................................................. 139 Theo Hug Mobilität und Medienbildung im digitalen Zeitalter. Konzeptuelle Überlegungen ............................................................................................... 151 Manuela Pietraß Von der Vorführung zur Aufführung. Bildungstheoretische Implikationen der Interaktivität mit digitalen Bildern ........................................................ 173 Patrick Bettinger Medienbildung als prozessanalytische Perspektive auf Transformationen in sozio-medialen Kollektiven ........................................................ 189 Konkrete Konzepte und Anwendungsbeispiele Heinz Moser Digital Citizenship als Leitlinie der Medienbildung .......................................................... 211 Tanja Kohn Do It Yourself Trends für Medienbildung nutzen – Praxisbeispiele und Erfahrungsberichte ............................................................................. 231 Lisa Haußmann Erlebensorientierte Film-Bildung als Beispiel cinephiler Filmvermittlung ............................................................................. 241 Inhaltsverzeichnis 7 Yvonne Fritze, Geir Haugsbakk & Yngve Nordkvelle Why a formal training for TV and Filmmaking? ................................................................ 257 Monica Gavrielidou & Anna Chronaki Children’s Narratives of their Digital Gameplay Experience ............................................. 273 Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren ...................................................................... 287 Editorial 9 Editorial Der vorliegende Band enthält die Beiträge zur internationalen Tagung Medien – Wissen – Bil- dung: Medienbildung wozu? Die Veranstaltung wurde am 27. und 28. Februar 2015 an der Universität Innsbruck vom interfakultären Forum Innsbruck Media Studies in Kooperation mit der AG Medienkultur und Bildung der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) sowie der Sektion Medienpädagogik der Österreichischen Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen (ÖFEB) durchgeführt.1 Die inter- und multidisziplinäre Ausrichtung sowie die diskursive Orientierung erwiesen sich dabei wie auch bei den früheren Veranstaltungen der Reihe Medien – Wissen – Bildung als ausgesprochen fruchtbringend. Die Ausgangslage zeichnet sich durch vielfältige Paradoxien und Ambivalenzen aus. Fragen der Medienbildung haben Hochkonjunktur und die Wozu-Frage scheint in vielen Hinsichten längst schon beantwortet zu sein: Um in medialisierten Lebenswelten kommunikationsfähig zu werden und zu bleiben, um in mediatisierten Gesellschaftsbereichen ökonomisch weiter zu kommen und bestehen zu können, um an medienkulturellen Entwicklungen aktiv und passiv teilhaben zu können, um die Komplexität medialer Dynamiken verstehen und partiell mitge- stalten zu können, usw. Über solche Allgemeinplätze hinaus geben unter anderem auch die pointierten Kurzantworten und Statements, die bereits im Vorfeld der Tagung Medienbildung wozu? online veröffentlich worden sind,2 vielfältige Anhaltspunkte für Antwortperspektiven. Dabei spielen das Spannungsfeld von Fremd- und Selbstbestimmung und Aspekte der Nütz- lichkeit, der Brauchbarkeit und der Verzweckung eine ausgezeichnete Rolle. Ähnlich wie zweckfrei gedachte Formen der Bildung und Fragen nach dem Sinn und Zweck von Bildung3 kontrovers diskutiert werden, sind auch im Zusammenhang der aktuellen Medienbildungs-De- batten bei näherer Betrachtung sehr unterschiedliche Begründungsformen und Antwortperspek- tiven auszumachen. In diesen Debatten wird zunehmend deutlich, dass jene Bildungsdiskurse, in denen Medien und Aspekte von Medialität und Medialisierung allenfalls am Rande, überhaupt nicht oder in der Hauptsache als zu bekämpfende kulturindustrielle Unternehmen berücksichtigt werden, nach der medialen Wende denkbar fragwürdig geworden sind. Umgekehrt können wir nicht davon ausgehen, dass alle Formen der Thematisierung von Medienaspekten in Bildungskontexten gleichermassen relevant und tragfähig sind. Vor allem sehr einseitige Betrachtungsweisen, die einen Primat medientechnologischer, -rechtlicher, -ökonomischer, -anthropologischer, -psy- 1 Siehe http://medien.uibk.ac.at/mwb2015. Einzelne Beiträge zur Tagung wurden in der Ausgabe 2/2015 der Medien- impulse zum Themenschwerpunkt „Begründungen und Ziele der Medienbildung“, hrsg. von Alessandro Barberi, Theo Hug, Tanja Kohn und Petra Missomelius veröffentlicht (siehe http://www.medienimpulse.at/ausgaben/2-2015- begruendungen-und-ziele-der-medienbildung). 2 Siehe http://media.brainity.com/uibk2/mwb2015/?page_id=32. 3 Vgl. exemplarisch die Diskussionsbeiträge, abrufbar unter http://purposed.org.uk/, http://educationforthecrisis. wikispaces.com/ und http:// www.ted.com/conversations/20241/what_is_the_purpose_of_educati.html. 10 Theo Hug, Tanja Kohn & Petra Missomelius chologischer, -pädagogischer oder –philosophischer Aspekte beanspruchen, ohne ein Zusam- menspiel derselben und medienkulturelle Entwicklungsdynamiken mit zu berücksichtigen, erweisen sich mitunter als Teil des Problems, dessen Lösung sie darstellen wollen. Ähnliches gilt für undifferenzierte Redeweisen von “digitaler Bildung”. Der Ausdruck ‘Medienbildungʼ fungiert seit einigen Jahren – ähnlich wie schon seit rund 20 Jahren ‘Medienkompetenzʼ – als Drehtürbegriff, der in wissenschaftlichen, politischen, techno- logischen, pädagogisch-praktischen sowie alltagsweltlichen Zusammenhängen verwendet wird. Dabei treffen unterschiedliche Fachdiskurse, theoretische und methodische Herangehenswei- sen, Praxisanliegen und kontroverse Fragen und Interessen aufeinander. Was die bildungspoli- tischen Dimensionen betrifft, so ist eine Reihe von Entwürfen und Initiativen auf globaler4 und europäischer5 Ebene sowie in vielen Ländern6 zu verzeichnen. Die Modalitäten der “Umset- zung” und die Budgets für anwendungsorientierte Forschung sowie nutzenorientierte und theo- retisch motivierte Grundlagenforschung in den diversen Teilbereichen der Medienbildung kor- respondieren in aller Regel keineswegs mit Relevanzbekundungen. Die Forschungslage in den Bildungs-, Kommunikations- und Medienwissenschaften zu Medi- enerziehung, Medienkompetenz und Medienbildung ist vielgestaltig und muss über weite Stre- cken als disparat bezeichnet werden. Dies betrifft ebenfalls regionale, nationale und transnatio- nale Situationseinschätzungen, Auffassungen von Bedarfslagen, Aufgabenbereichen und Zu- ständigkeiten sowie Kritikverständnisse, Interventionsmöglichkeiten und Ideen zur Transfor- mation von Lernkulturen. Ist es zwar weithin Minimalkonsens, dass Medienkompetenzvermittlung und darüber hinaus- gehende Medienbildung der mündigen und kritischen Nutzung medialer Angebote dient, so stellt sich doch die Frage, mit welcher Intention und in welcher institutionellen Rahmung Me- dienbildungsbemühungen unterschiedlicher Couleur und theoretischer Begründung vorange- trieben werden sollen. Sowohl bei disziplinären als auch bei multi- und interdisziplinären Zu- gängen, welche mit dem Begriff ‘Medienbildungʼ verknüpft sind, stellt sich die Frage: Welche Zielvorstellungen generiert Medienbildung hier? Wozu wird diese betrieben? 4 Vgl. die Rolle der Medien in den UNESCO-Zielsetzungen einer “Education for the 21st Century” (http://en.unesco.org/themes/education-21st-century) sowie der UNESCO-Bewegung “Education for All” (EFA) (http://www.unesco.org/new/en/education/themes/leading-the-international-agenda/education-for-all/). 5 Vgl. den Entwurf einer Entschließung des Europäischen Parlaments zu Medienkompetenz in der digitalen Welt (2008/2129(INI)) (http://bit.ly/1UwJYq3). 6 Vgl. insbesondere die Initiative “Keine Bildung ohne Medien” (KBoM, http://www.keine-bildung-ohne-medien.de/) und die Forderung nach „Grundbildung Medien für alle pädagogischen Fachkräfte“ (http://www.keine-bildung-ohne- medien.de/pages/grundbildung-medien/), die “Leitperspektive Medienbildung” im Rahmen der zur Bildungsplanre- form in Baden-Württemberg (Deutschland), die u.a. im aktuellen Online-Magazin der PH Ludwigsburg reflektiert wird (https://www.ph-ludwigsburg.de/fileadmin/subsites/1b-mpxx-t-01/user_files/Online- Magazin/Ausgabe18/Inhalt18.pdf), die Initiative „Medienbildung JETZT!“ (http://www.medienbildungjetzt.at/) in Österreich, das “Manifesto for Media Education“ in UK (http://www.manifestoformediaeducation.co.uk/symposium- podcasts/) oder die “Déclaration de Bruxelles pour l'éducation aux Médias tout au long de la vie“ (http://www.csem.be/sites/default/files/files/declaration%20de%20bruxelles%20-%20fr.pdf) in Belgien. Editorial 11 Inwiefern richten wir unsere Aktivitäten in der Medienbildung weiterhin an Bildungsidealen von Kritik und subversivem Denken aus? Inwieweit ist es ein Kennzeichen der Medienbildung, dass sie sich in ihrer kulturellen Dimension als Antipode zum Primat der Ökonomisierung versteht? In welchen Hinsichten ist das Eigenwillige und Unbequeme denn überhaupt noch in pädagogischen Institutionen und Handlungsfeldern denk-, vermittel- oder lebbar? Die Beiträge fragen weiter nach aktuellen Überlegungen, wenn es um die Nutzung medienkul- tureller Codes, um Medienökologien, Hacking und Remix in der Bildung geht. Inwiefern kann gerade die Medienbildung neue Kulturtechniken als veränderndes Moment in die theoretische Konzeption von Bildungsprozessen einbringen? Was bedeuten ökonomisch oder bürokratisch motivierte Technisierungsprozesse für die Medienbildung? Welche konkreten Didaktiken und Vermittlungsideen in pädagogischen Handlungsfeldern der Schul- und Erwachsenenbildung zeichnen sich als zukunftsweisend ab? Der Band setzt sich zum Ziel, in dieser interdisziplinären und internationalen Gemengelage Synergien zu eruieren und Prozesse der fachübergreifenden Verständigung zu ermöglichen. Er ist in drei Teile gegliedert, wobei die entsprechenden Akzentuierungen und Leitfragen über- wiegend in deutscher Sprache, teilweise auch in englischsprachigen Beiträgen behandelt wer- den. Im ersten Teil sind Aufsätze zu den Nahtstellen von disziplinären Ansätzen und Zugängen versammelt. Rainer Leschke befragt in seinem Beitrag “Normative Selbstmissverständnisse. Medienbildung zwischen normativer Bewahrung und technologiegetriebener Normsetzung“ erziehungswissen- schaftliche und medienpädagogische Zugänge und Grundlagen auf ihre theoretische Schlüssig- keit sowie ihre Implikationen für weitere Schlussfolgerungen in Fragen medienkultureller Bildung. Er macht etwa in Bezug auf das zugrundeliegende Subjektmodell auf Missverständ- nisse und Schieflagen aufmerksam, um sich schließlich für eine metatheoretische Konsilidie- rung der Medienbildung auszusprechen. Auch im Beitrag von Manfred Faßler nimmt der Mensch eine zentrale Stellung ein. Unter dem Titel “Broadcast Your Self, yourself. Überlegungen zur Neufassung des medialen Selbst“ the- matisiert er das Verhältnis von Information und Ich sowie vor allen Dingen die Konsequenzen, die eine notwendige Neufassung der Medienbildung für das Leben in sozio-, bio- und infotech- nischen Umwelten mit sich bringt. Hans-Martin Schönherr-Mann wendet sich der Frage nach dem Gelingen oder Scheitern von Medienbildung zu. Dieser Situation steht Bildung innerhalb der Medienkultur gegenüber, wenn sie verunsichert und die Teilnahme an ambivalenten Prozessen im medialen und privaten Le- ben deutlich wird. Kann eine solchermaßen konfigurierte “Medienbildung als politische Bil- dung“ betrachtet werden? Anhand vielfältiger philosophischer Positionen von Arendt bisWeber über Kittler und Rousseau zeigt der Beitrag die Verflechtungen von Medien- und politischer Bildung auf. Mit den Grundbegriffen der Medienpädagogik setzt sich Stephan Münte-Goussar in seinem Beitrag “Medienbildung, Schulkultur und Subjektivierung“ auseinander. Auch hier stellt sich 12 Theo Hug, Tanja Kohn & Petra Missomelius noch einmal vehement die Frage nach dem, den Bemühungen zugrunde liegenden, Subjektbe- griff. Den Diskurs um die Verständnisse von Medienkompetenz und von Medienbildung auf- greifend, wird die Frage nach Medienbildung in der Schule aufgeworfen und vorgeschlagen, Medienbildung als Schulentwicklung auszulegen. Aus medienwissenschaftlicher Perspektive und vor dem Hintergrund der Medientheorie setzen sich Julius Othmer & Andreas Weich in ihrem Beitrag mit der von Winfried Marotzki und Benjamin Jörissen entworfenen Strukturalen Medienbildung auseinander und erweitern damit das mit Benjamin Jörissen auf der Tagung geführte Fachgespräch um Medienbildung. Die Beiträge des zweiten Teils fokussieren Fragen zum Themenkreis Zielbilder und normative Begründungen. Ben Bachmair spricht sich in “Skizzen zu einem Kultur-Paradigma für Pädagogik in einer Kultur disparater Transformation“ dafür aus, Medien sowie ihre Nutzungsformen als Kultur- ressourcen zu fassen und diese ökologisch kritisch zu rahmen. Somit steht Medienbildung im Anspruch der Lebensbewältigung und in Verbindung mit Elias' Vorstellung des Zivilisations- prozesses vor einer großen Aufgabe gegenüber dem kindlichen Subjekt. Am Beispiel der Zielvorstellung Kritik exemplifiziert Petra Missomelius den grundlegenden Wandel, welcher durch Digitalisierungsprozesse insbesondere Bildung affiziert. Vor diesem Hintergrund erscheinen neue Bildungsdesiderate wie Datenkritik und cultural hacking, welche bildungstheoretische Zielvorstellungen von Selbstbestimmtheit und der Abwehr von Verein- nahmungsbestrebungen in digitale Medienkulturen transformieren. Rudolf Kammerl greift das derzeitige Ringen um konkrete Inhalte und Zielvorstellungen von Medienbildung in der schulischen Bildung auf. Er problematisiert, inwiefern Medienkompe- tenzförderung, Medienerziehung, Bildungstheorie und schulpädagogischer Diskurs in der Ka- nonisierung von Bildungsgütern, einem gemeinsamen Subjektbegriff und einer konsensuellen Gegenwartsdiagnose zusammenfinden können. Das Paradigma der Mobilität liegt dem Beitrag von Theo Hug zugrunde. In “Mobilität und Medienbildung im digitalen Zeitalter. Konzeptuelle Überlegungen“ werden transmediale und -versale Dimensionen ebenso reflektiert, wie Aspekte nachgesellschaftlicher Organisation sowie Fragen der Wissensformen und ihrer Kontexte. Dem Beitrag von Manuela Pietraß liegt die Annahme zugrunde, dass die Grundlage und Be- sonderheit der Bildung durch digitale Medien im Unterschied zu vorhergehenden Medien die Interaktivität darstellt. Der Text “Von der Vorführung zur Aufführung. Bildungstheoretische Implikationen der Interaktivität mit digitalen Bildern“ macht deutlich, dass sich Bildung im Kontext digitaler Medien durch handelnde Erfahrung vollzieht. Patrick Bettinger trägt mit seinem Artikel “Medienbildung als prozessanalytische Perspektive auf Transformationen in sozio-medialen Kollektiven“ bei. Er diskutiert Medien und Bildung unter anderem aus der Praxistheorie und der Akteur-Netzwerk-Theorie, zwei aktuelle bildungs- theoretische Rezeptionslinien, wobei ein Schwerpunkt auf dem Wechselverhältnis von Men- schen und Medien in der Diskussion liegt. Es liegen auf der einen Seite Veränderungen bei den Editorial 13 menschlichen Akteuren und auf der anderen Seite bei den medialen Artefakten vor, wobei Themen wie die Verantwortung der Medien als Teil unserer Kultur, mediale Prägkräfte und die Menschen als digitale Subjekte behandelt werden. Im Fokus des dritten Teils stehen konkrete Konzepte und Anwendungsbeispiele. Heinz Moser zeigt mit seinem Artikel “Digital Citizenship als Leitlinie der Medienbildung“ unterschiedliche Möglichkeiten auf, anschauliche und interessante Vorgehensweisen an Schu- len umzusetzen. Er stellt fest, dass sich der Umgang mit Medien in der Schule oft nur auf das Internet, seine Gefahren und Risiken beschränkt, wobei es kaum um den technischen Wandel geht, der uns alle als Teil der digitalen Gesellschaft verändert. Tanja Kohn beschreibt in ihrem Artikel aktuelle Beispiele aus der Praxis wie Do It Yourself Trends für die Medienbildung genutzt werden können. Sie berichtet aus der Vermittlungspraxis und zeigt auf, dass neben der rein technischen Bildung in Schulen und außerhalb der Schule auch die Medienbildung wichtig ist, die ein tiefgreifendes Verständnis im Hinblick auf Medien insgesamt, ihre Funktionsweisen, Möglichkeiten aber auch Gefahren vermittelt. Lisa Haußmann argumentiert in ihrem Beitrag “Erlebensorientierte Film-Bildung als Beispiel cinephiler Filmvermittlung“ ausgehend von den Schriften des europäischen Filmtheoretikers und frühen Medienpädagogen Béla Balázs (1884-1949) und seinem Begriff des Erlebens den Mehrwert durch die Verknüpfung von Filmtheorie und Bildungstheorie für die Medienbildung. Sie durchleuchtet aus filmwissenschaftlicher Perspektive die Bedeutung des Films als Erkenn- nismedium, welches das Potential des Erlebens mit sich bringt. Dieses kann somit als trans- formatorischer Bildungsprozess gesehen werden. Yvonne Fritze, Geir Haugsbakk und Yngve Nordkvelle gehen in ihrem Text “Why a formal training for TV and Filmmaking?“ der Frage nach, welche Konzeptualisierungen film- und fernsehbezogenen Bildungsgängen zugrunde liegen und welche Umschreibungsprozesse von vermeintlich normativen Bildungsansprüchen in kreative Produktionsprinzipien angegliederter Medienindustrien stattgefunden haben. Monica Gavrielidou und Anna Chronaki beschäftigen sich aus diskursanalytischer Perspektive mit der visuellen und sprachlichen Thematisierung kindlicher Spielerfahrungen im Beitrag “Children’s Narratives of their Digital Gameplay Experience“. Abschließend wollen wir allen danken, die zum Gelingen des kooperativen Projekts beigetra- gen haben. Unser besonderer Dank gilt MA Ulrike Pfeiffenberger und ihrem Team bestehend aus Maria Anegg, Susannah Haas, Maria Kühne, Mag. Bettina Larl, Sandra Mauler, Julia Raich und Anna Schnöll für die organisatorische und Mag. Gerhard Ortner für die technische Unterstützung bei der Tagungsveranstaltung sowie Petra Grassnig für die allseits verlässliche Betreuung im Sekretariat. Weiters gebührt unser Dank den Gutachterinnen und Gutachtern im Review-Prozess sowie Christoph Pirker für die Gestaltung der Titelgrafik und Birgit Holzner und Carmen Drolshagen von innsbruck university press (iup) für die verlegerische Betreuung. Last but not least, danken wir auch an dieser Stelle dem Vizerektorat für Forschung der Uni- versität Innsbruck, dem interfakultären Forum Innsbruck Media Studies und dem Institut für 14 Theo Hug, Tanja Kohn & Petra Missomelius Psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung der Universität Innsbruck für die Ermöglichung der Drucklegung der Publikation. Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre und freuen uns über Rückmeldungen und weiterführende Überlegungen zu den aufgeworfenen Fragen und Ant- wortperspektiven. Innsbruck, im Mai 2016 Theo Hug, Tanja Kohn & Petra Missomelius Nahtstellen von disziplinären Ansätzen und Zugängen Normative Selbstmissverständnisse 17 Normative Selbstmissverständnisse. Medienbildung zwischen normativer Bewahrung und technologiegetriebener Normsetzung Rainer Leschke Zusammenfassung Die implizite Normativität des eigenen Vorgehens gehört bekanntlich zu den am besten bewahr- ten Geheimnissen der meisten kulturwissenschaftlichen Projekte. Im allgemeinen kulturwissen- schaftlichen Feld mag das noch angehen und als lässliche Schwäche kodiert werden können, im Bildungsbereich hingegen ist das geradezu fatal, werden doch Biographien mit Zielvisionen be- schwert, deren sie sich - wenn überhaupt - nur noch schwer wieder entledigen können. Diese im- pliziten Leitmodelle von Medienbildung präformieren daher nicht nur Bildungsprogramme und strapazieren damit kollektive Ressourcen, sie statten Biographien mit kulturellen Leitplanken und Reiseprogrammen aus, die eigentlich durch nichts, wenigstens nicht durch Reflexion gedeckt sind. Am normativen Grund der Medienbildung herrscht mithin ein systematisches Reflexionsde- fizit und dass dieses angegangen werden soll, ist sicherlich nicht zufällig, denn zumindest eines dürfte gegenwärtig Konsens sein: die zunehmende Erschlaffung der normativen Kraft und Ver- bindlichkeit von für mehr oder minder ewig erachteten Vorstellungen von Subjektivität, Wissen und Bildung. Der zunehmende Verlust der Legitimität und Anerkennung dieser impliziten Nor- mativität setzt Medienpädagogik unter einen enormen Rechtfertigungsstress. Sie erzeugt so jene Spannung, die medienpädagogische Bemühungen zwischen einem kaltschnäuzig blinden ‘Weiter so!‘, das die Scheuklappen nur umso entschlossener ins Gesicht zieht, und zaghafter Orientie- rungslosigkeit, die sich an jeden vorbeiziehenden Strohhalm klammert, wenn sie in jeglichem neuen medientechnologischen Feature zugleich ein neues Menschenmodell heraufziehen sieht. Dabei wird das Menschenbild – im Übrigen ein Bild, und damit eine mediale Kategorie – entwe- der bewahrpädagogisch konserviert – und insofern verfügt die Medienpädagogik in normativer Hinsicht über einen bewahrpädagogischen Kern, wiewohl sie gerade gegen bewahrpädagogische Vorstellungen angetreten war – oder aber outgesourct und damit an die medientechnologische Findigkeit der Medienindustrie abgegeben. Beide Reaktionsmuster scheinen gleichermaßen hilflos zu sein und daher dringend der Reflexion zu bedürfen, zumal es sich um eine Existenzfra- ge der Medienbildung handelt, die systematisch nicht ohne normativen Hintergrund auskommen und daher nicht in metatheoretische Gefilde entfliehen kann. Gezielte Irritationen – Schiller und Goethe geraten unter die Video-Aktivisten Wenn eines klar sein sollte, dann das, dass die Medienpädagogik angetreten war, die Pädago- gik gründlich zu renovieren und das bei weitem nicht nur technologisch. Eine tiefe Verachtung bewahrpädagogischer Reflexe jeglicher Art schien medienpädagogische Akteure durch die Bank zu einen. Man ist nicht nur technologisch aufgeklärt, man ist schlichtweg modern, ohne 18 Rainer Leschke genau zu wissen, was das denn genau bedeuten könnte. Die Renovierung der Geisteswissen- schaften durch die Frankfurter Schule hatte mit der Medienpädagogik quasi einen natürlichen Ort gefunden, auch wenn man sich damit anschickte, sich in eine der drei Höllen der kritischen Theorie zu begeben. Medienpädagogik einte der Gestus vom großen Aufbruch und wie es bei solchen Gesten meist ist, hat das Symbol seinen Grund vergessen: Die Medienpädagogik hat quasi verdrängt, was sie einstmals als Eintrittsgeld für ihre Teilnahme an der Moderne entrich- tet hatte. Für die Medienpädagogik gilt Latours ketzerisches Diktum “Wir sind nie modern gewesen” zweifellos nicht. Die Medienpädagogik hat sich das enorme emotionale Potential der aufkläre- rischen Konstruktionen des Selbst als eines ebenso freien wie selbstbewussten und unabhängi- gen Subjekts kaum entgehen lassen. Der Kick an dieser Konstruktion war, dass hier beherzt etwas Kontrafaktisches unterstellt und als geltend angenommen wurde, und so das, was eigent- lich erst mühsam hätte errungen werden müssen, schlechterdings als gegeben verbucht wurde. Das Subjekt hat all die pädagogische Arbeit schon hinter sich und verbuchte das Lob und den Glanz der Souveränität, noch bevor es überhaupt die Ausstattung erworben hatte. Die Partizi- pation am selbstbewussten Subjekt geschieht so gewissermaßen auf Pump und wie meist in diesen Fällen, werden die Kosten des Kredits zu niedrig kalkuliert. Denn, was es heißt, immer und überall ein souveränes Subjekt unterstellen und in einem fort die Gewissheit seiner Exis- tenz versichern zu müssen, wird deutlich, wenn jene Serien systematischen Ungenügens und Scheiterns in den Blick kommen, die immer dann zwangsläufig eintreten, wenn dieses Subjekt ernstlich zum Maß empirischer Menschen gemacht wird. Immer wenn regulative Prinzipien vorschnell mit Fakten verwechselt werden, dann handelt man sich quasi als Kompensation des längst verbrauchten Genusses der Souveränität jenes systematische Versagen ein, denn regula- tive Prinzipien lassen sich nun einmal konstruktionsbedingt nicht empirisch einlösen. Katego- rienfehler rächen sich solcherart mit realem Scheitern. Dieser Kategorienfehler im Umgang mit dem Begriff des Subjekts ist aber noch längst nicht der einzige, sondern die Urszene der Medienpädagogik wird gleich durch eine ganze Serie solcher kategorischen Fehleinschätzungen bevölkert: Medienpädagogik gründet sich quasi in einem systematischen Selbstmissverständnis und es ist durchaus bemerkenswert, dass ein solch kolossales Missverständnis zugleich so enorm erfolgreich sein kann. Dass Kompetenz und Performanz1 schlicht verwechselt werden, dass diskrete Unterscheidungen mit Kontinua ver- 1 So behauptet Baacke keck: “Dieser Sprachgebrauch ist zulässig und widerspricht keineswegs dem, was ‘Kompetenz‘ meint; freilich wird eher auf die Performanz-Ebene abgehoben (das konkrete Handeln und Verhalten), während die tieferliegenden Hintergründe weniger zum Vorschein kommen.” (Baacke 1996, S. 114f.) Faktisch ist das schlichter Unfug: Der Sprachgebrauch ist definitiv unzulässig, es gibt keine Performanz-‘Ebene‘, auf die abgehoben werden könnte, sondern Kompetenz und Performanz unterschei- den sich qualitativ. Das Ganze hat auch nichts mit der Differenz von Oberfläche und Tiefe zu tun. Ebenso funktioniert das ‘eher‘ bei diskreten Unterscheidungen nicht. Baacke kombiniert hier - getrieben von einem vorbegrifflichen, also umgangssprachlichen Verständnis – ein substantielles semantisches Missver- ständnis mit einem Kategorienfehler, was schon an sich eine bemerkenswerte Kombination darstellt. Dass dabei gleich zwei Theorien grundlegend nicht verstanden wurden – nämlich die von Chomsky und Ha- Normative Selbstmissverständnisse 19 tauscht werden, dass dabei semantische Fehlschlüsse mit Kategorienfehlern kombiniert wer- den, dass sich ein elementares Unverständnis gegenüber allen relevanten Theoriemodellen2 nachweisen lässt, all das gehört zu den Gründungsakten einer Medienpädagogik, die unsere Vorstellungen von Medienbildung bis heute regulieren. Navigationsversuche bei abwesendem Nordpol Dabei betrifft dieses Selbstmissverständnis keineswegs einen lässlichen, weil marginalen As- pekt, sondern es geht um nicht weniger als um den Kern medienpädagogischer Bemühungen, denn zur Diskussion steht das Zielkonstrukt, an dem Medienbildung sich ausrichtet. Von dem Subjekt, um das es geht und das mit jener merkwürdigen Qualifikation der Medienkompetenz ausgestattet werden soll, ist noch nicht einmal klar, ob es sich um ein prinzipiell empirisch unerreichbares Telos oder aber um ein einigermaßen realistisches Lernziel organisierter Bil- dungsprozesse handelt. Das aber bedeutet: auf Medienkompetenz zielende pädagogische Pro- zesse bewegen sich in einem offenen Feld divergenter Zielvorstellungen, die darüber hinaus auch noch einen systematisch differenten Status aufweisen. Und das Spiel des Austauschs zwischen faktisch realisierbarer Medienbildung und utopischer Medienkompetenz ist ein poli- tisches Spiel, das die illusionäre Qualifikation mit dem Ziel, möglichst hohe Anteile gesell- schaftlicher Ressourcen zu akquirieren, vor sich herträgt und am Ende allenfalls eine Schrumpfversion liefert. Die Frustration aller Beteiligten mit Ausnahme der Medienpädagogen selbst ist solchen Strategien inhärent: Die Objekte von Erziehungsprozessen leisten dann selbstverständlich nicht das, was zuvor annonciert wurde. Das Ganze wird dann ebenso als individuelles wie als systemisches Scheitern kodiert: die Zöglinge haben genauso versagt wie bermas – lässt deutlich werden, dass Baackes Ansatz sich letztlich einem Missbrauch von Theoriemodel- len verdankt. 2 “Medienkompetenz ist, um mit Luhmann zu sprechen, eine systemische Ausdifferenzierung aus diesen Zusammenhängen. Daneben gibt es Berufskompetenz, vielleicht Familienkompetenz, demokratische Kompetenz, ästhetische Kompetenz etc. ‘Medienkompetenz’ meint also grundlegend nichts anderes als die Fähigkeit, in die Welt aktiv aneignender Weise auch alle Arten von Medien für das Kommunikations- und Handlungsrepertoire von Menschen einzusetzen.” (Baacke 1996, S. 119) – Natürlich handelt es sich bei der Medienkompetenz um keine systemische Ausdifferenzierung, ja Luhmann kann sich nur schwer dazu durchringen, überhaupt von einem Mediensystem zu sprechen und damit Medien als gesellschaftli- ches Subsystem zu modellieren. Medienkompetenz, wie andere personale Qualifikationen auch verfügen über keinerlei systemisch relevanten Status. Auch hier lässt sich Baacke wieder von einem vorbegriffli- chen, an der Umgangssprache orientierten Verständnis leiten und bedient sich bedenkenlos in begriffli- chen Kontexten, deren theoretische Obligationen ihm offenkundig prinzipiell verschlossen sind. Ähnlich unzulässig sind dann auch die oben festzustellenden Analogieschlüsse, die endlose Kompetenzketten bilden sollen. Jede dieser Kompetenzen – Familienkompetenz, Berufskompetenz, demokratische und ästhetische Kompetenz – müsste selbst begründet und legitimiert werden. Der Analogieschluss weckt nur falsche Hoffnungen. 20 Rainer Leschke die politisch-finanzielle Unterstützung halbherzig und defizitär war. Das sich unklaren Ziel- konstrukten verdankende systematische Scheitern kann so problemlos in die Forderung nach mehr und intensivere Förderung3 umcodiert werden. Was mithin in diesem Kontext als syste- matisches historisches Defizit aufscheint, ist die Abwesenheit eines auch nur einigermaßen realistischen Ziels von Medienbildung. Glückliche Irrtümer Das Konzept der Medienkompetenz gründet sich mithin in einem weitgehend verschlafenen Skandal: es verdankt sich ebenso elementarer Unbildung wie keckem theoretischem Unvermö- gen und bornierter Ignoranz. Und das Erstaunliche ist, dass ein System, das immerhin Bildung zum Ziel hat, solche ebenso elementaren wie gravierenden Irrungen nicht nur toleriert, sondern geradezu proliferiert. Dass das Konzept der Medienkompetenz reüssieren konnte, basiert of- fenbar genauso gut auf einer beunruhigenden wissenschaftlichen Toleranz wie politischer Sen- sibilität. Die Angelegenheit war in den 90er Jahren einfach historisch und politisch an der Zeit: Medien machten offenkundig Probleme, sie wurden unübersichtlich und erzeugten Widerstän- de, gleichzeitig wurden immer größere Anteile von System- und Lebenswelt medial grundiert. Medien wurden zu einem zentralen Bestandteil gesellschaftlicher Infrastrukturen genauso gut wie Wasserwerke, die Energieversorgung und die Verkehrswege. Allerdings wiesen sie eine Art systematisches Natürlichkeitsdefizit auf, sie waren nicht als Infrastruktur enkulturiert, sondern als eine Art populärkulturelles Additiv, nämlich als Unterhaltung. Für ein solches lässliches Surplus lassen sich kollektive Bildungsprogramme kaum plausibilisieren. Die Umstellung der gesellschaftlichen Codierung der Medien von einer reinen Populärkultur hin zu einem relevanten Teil der gesellschaftlichen Infrastruktur fiel mit dem Übergang von einem konventionellen zu einem postkonventionellen Mediensystem zusammen, was einen zusätzlichen Bildungsbedarf schaffte. Für einige Jahrzehnte lang hatte man alles in schönster Ordnung gewusst, denn jedes Medium hatte seinen Platz und seine kulturelle Funktion. Der Bildungswert und damit die pädagogischen Hierarchien der Medien waren abgesteckt und wurden fraglos akzeptiert, so dass ein stabiler medienkultureller Status quo gleichsam voraus- gesetzt werden durfte4. Diese prästabilierte Harmonie von Medien und Bildungswerten wurde durch das Aufkommen der unentwegten Verschränkung und wechselseitigen Bezugnahme der Einzelmedien aufeinander in einem transversal vernetzten Mediensystem Ende der 90er Jahre 3 Dass es zuvörderst so obskure Bewahrpädagogen wie Spitzer sind, die auf solche Zusammenhänge verweisen, heißt nicht, dass derartige Zusammenhänge nicht existierten. Im Übrigen hat auch Kübler, dem solche bewahrpädagogische Attitüde nicht unterstellt werden kann, bereits in den 90er Jahren auf ein solches Dilemma verwiesen. (vgl. Kübler 1996). 4 Dabei wurde zumeist ignoriert, dass auch dieser Status quo allererst historisch erarbeitet werden musste und seine Selbstverständlichkeit sich einzig dem Vergessen der historischen Bedingungen der Medienen- kulturation von Medien wie dem Buchdruck, der Fotografie, dem Film und dem Rundfunk verdankt. Normative Selbstmissverständnisse 21 des letzten Jhs. plötzlich gestört. Und damit gab es auf einmal einen enormen Entstörungsbe- darf. Es ging, wenn nicht um die Wiederherstellung des Status quo, zumindest um die Herstel- lung von medienkultureller Stabilität. Dass eine mit vollkommen überzogenen Zielvorstellungen bewaffnete Medienpädagogik just in diesem Moment in den Startlöchern steckte, war eines jener glücklichen Zusammentreffen, die Theorien so richtig erfolgreich werden lassen. Ohnehin war von medienpädagogischer Seite – gleichsam vorauseilend und das Terrain bereitend – bereits ein historischer Kompro- miss entworfen worden: nämlich die Allianz von Kulturkritik und Technologie bzw. Ökono- mie. Im Konzept der Medienkompetenz finden sich beide unversöhnlichen Fraktionen ein- trächtig nebeneinander, ohne dass ihr systematischer Dissens zuvor geschlichtet worden wäre. Das medienkompetente Subjekt trägt die ganze Last der Aufklärung mit all ihren rationalen und ästhetischen Obligationen und zugleich ist es ganz auf seine technologisch-ökonomische Funktionalität ausgerichtet. Eine derart hemdsärmelige Aussöhnung mit der Ökonomie wäre der Frankfurter Schule nicht nur ein Graus, es wäre die schlichte Implosion kritischer Theorie. Baacke erledigt das quasi im Vorübergehen, nicht aus souveränem philosophischem Kalkül, dazu war er definitiv nicht in der Lage, sondern aus schlichtem politischem Opportunismus. Dass die Hälfte der Bedingungen der Medienkompetenz5 den Interessen von Medienindustrie und Politik geschuldet sind und der verbleibende Rest einerseits als regulatives Prinzip oder aber konkrete Utopie sowieso nicht ganz ernst zu nehmen ist, anderseits er aber nachhaltig der Beruhigung bildungsbürgerlicher Attitüden zu dienen vermag, sollte eigentlich für sich spre- chen. In einem ziemlich waghalsigen theoretischen Salto versichert sich Baacke dann auch noch so gut es geht der Rückendeckung durch Geschichte und historischen Materialismus: “Es ist die Informationsgesellschaft, die den Modus unseres In-der-Welt-Seins heute bestimmt. Nicht das Proletariat (so Marx), sondern das Kognitariat ist heu- te bestimmend. Minutiös eingestellte Technologien bauen unsere Massendemo- kratie (und die Massenmedien) ab; es entsteht vielmehr ein Prozeß der Entmas- sung mit Kommunikationsinhalten, die auf Gruppen, Individuen und bestimmte Kulturen zugeschnitten sind. Unterhaltung, Medien, Konsumartikel und ihr Ver- kauf, aber auch Arbeitsbedingungen lassen einen entmassten Menschen entste- 5 ‘Medien-Kunde’ und ‘Medien-Nutzung’ bilden die Voraussetzungen für einen infrastrukturellen Medi- eneinsatz, wobei das Ganze dann auf eine ziemlich unbestimmte Informationsgesellschaft hinauslaufen soll, die mit einer Medienkultur, auf die Vorstellungen von Medienbildung abzielen, nicht mehr allzu viel zu tun hat. ‘Medien-Kritik’ und ‘Medien-Gestaltung’ repräsentieren die Zugeständnisse an ein bildungs- beflissenes Bürgertum bzw. dessen Nachfahren. “Wollen wir die so vierfach ausdifferenzierte Medien- kompetenz (Medien-Kritik, Medien-Kunde, Medien-Nutzung, Medien-Gestaltung) nicht subjektiv- individualistisch verkürzen, müssen wir ein Gestaltungsziel auf überindividueller, eher gesellschaftlicher Ebene ‘anpeilen’, nämlich den ‘Diskurs der Informationsgesellschaft’.” (Baacke 1996, S. 119) So werden mit erstaunlicher Chuzpe Subversion und Affirmation schlicht aufaddiert und um den Preis medienpäda- gogischer Förderprogramme neutralisiert. 22 Rainer Leschke hen, der nicht mehr in erster Linie vor dem Großen Bruder Staat Angst haben muß […], sondern vor der Privatwirtschaft, die über seine Kommunikations- und Eingabeprozesse seine Daten kontrollieren und weitergeben kann.” (Baacke 1996, S. 122) Die rhetorisch6 verkappte Analogie von Industrie- und Informationsgesellschaft, bei der noch nicht einmal die Funktion der phonetischen Kontraktion von Prole- und Kognitariat einigerma- ßen logisch durchdacht erscheint, wird das Kognitariat doch nicht durch irgendeine Klassenla- ge bestimmt, sondern – wenn es überhaupt Sinn machen soll - durch den Zugang zu Informati- on, wobei Information nun sicherlich kein Produktionsmittel ist, zielt offenkundig nur auf den Versuch, die Effekte der Modularisierung und Konfektionierung industrieller Massenprodukti- on zu beschreiben. Dass Massen zwischenzeitlich anders aussehen, als sich eine Arbeiterbewe- gung das noch vorstellen konnte, mag ja durchaus ein Grund zur Irritation und Anlass für einen Paradigmenwechsel sein, nur lässt sich solch ein Bruch nicht mittels an den Haaren herbeige- zogener Analogien begreifen, sondern er benötigte elementare Analyse und theoretische Arbeit und beides lässt sich in der medienpädagogischen Urszene gleichermaßen nicht finden. Zusammengenommen bedeutet das, dass die Medienpädagogik ein vollkommen unbestimmtes Terrain eröffnet hat und eigentlich noch alles unklar ist. Weder ist einsichtig, was Medienkom- petenz nun faktisch bedeuten soll, noch welche Vorstellung vom Subjekt und seiner Gesell- schaft denn angewandt werden sollen. Wenn Pädagogik als normativer Wissenschaft die Nor- men abhandengekommen sind oder aber sie sich so weit von jeglicher Faktizität entfernt ha- ben, dass jeder Schritt in ihre Richtung zwangsläufig vergeblich erscheinen muss, dann stimmt etwas Elementares an der Konstruktion nicht mehr. Die Medienpädagogik ist quasi in den Graben zwischen einem regulativen Prinzip – also dem souveränen Subjekt der Aufklärung – und dem faktischen Mediennutzungsverhalten gefallen und schlägt dort große Wellen, kommt aber nicht so recht voran. Frappant ist vor allem die hartnäckige Weigerung der Medienpäda- gogik, irgendwelche Margen unterhalb des universell kreativen Mediensubjekts7 auch nur anzudenken. 6 Mittels eines als Homoioteleuton konstruierten Neologismus wird ein Zusammenhang suggeriert, der leider ohne jeglichen Sachgehalt auskommen muss. 7 Noch keine historische Gesellschaft hat diese Idee eines universellen gleichen Mediensubjekts ernstlich verfolgt. Denn noch haben bislang alle historischen Gesellschaften für ihre Medienkulturen gestufte Kompetenzniveaus entwickelt, die elementar zwischen professioneller und privater Mediennutzung unter- scheiden und dann bei diesen unterschiedlichen Verwendungsweisen noch zusätzlich zwischen unter- schiedlichen Kompetenzniveaus, Professionalisierungsgraden und Professionen differenzieren. Diese ebenso elementaren wie systematischen Unterscheidungen werden von dem Konzept der Medienkompe- tenz vollständig ignoriert. Ihnen ist dabei nicht klar, dass sie sich auf die Enkulturalisierungsphase von Medien beziehen, in der die kulturelle Verwendungsweise eines Mediums bestimmt, Berufsrollen ausdif- ferenziert, die Medienproduktion professionalisiert und die Struktur des Repertoires festgelegt werden. Beim Film war diese Phase bereits nach zwanzig Jahren abgeschlossen, beim Rundfunk, Fernsehen, Internet und neuen sozialen Medien ging es sogar noch schneller. Wenn aber eine orientierende Enkultur- Normative Selbstmissverständnisse 23 Dabei scheint es sich um eine Art systematischen Konstruktionsfehler mit Normen operieren- der Wissenschaften zu handeln. Das schlechte Gewissen, das Normen in wissenschaftlichen Umgebungen offenbar spontan auszulösen vermögen, soll dadurch kompensiert werden, dass die Norm absolut gesetzt wird und damit als regulatives Prinzip fungiert. Derartig für alle gleichermaßen unerreichbare Konstrukte lassen sich entwerfen, ohne sofort in den Verdacht zu geraten, spezifische Dispositionen und historische Konstellationen zu privilegieren: D.h., sie entheben sich zumindest für eine gewisse Zeit der politischen Auseinandersetzung. Demge- genüber ist jede konkrete und d.h. realistisch einlösbare Norm immer schon politisch und gene- riert damit zwangsläufig einen Legitimationsbedarf, der nur schwer theoretisch und d.h. eini- germaßen allgemeingültig zu erfüllen ist. Das Operieren mit regulativen Prinzipien führt daher zu theoretischen Entlastungen, die aber mit einer Belastung der Objekte des Verfahrens also derjenigen, um deren Medienbildung es gehen soll, erkauft werden. Denn diese werden mit systematisch derart überzogenen Erwartungen konfrontiert, dass sie nur scheitern können. Politische Pragmatik Heraus kommt man aus dieser verschobenen Bredouille nur, wenn man akzeptiert, dass es sich bei Medienbildung um ein normatives Konzept handelt, dessen Margen pragmatisch bestimmt werden müssen, ohne dass es irgendeinen Halt in absoluten Konstrukten wie dem Subjekt der Aufklärung gibt. Es gilt also eine normative Pragmatik ohne doppelten Boden oder metaphysi- sche Rückversicherung ernstlich anzudenken. Normen und Margen sind dann, da sie sich nicht mehr nach dem Absoluten strecken müssen, zunächst einmal ziemlich frei verhandelbar8. Ihr Maß ist ein funktionales und die Funktion besteht im gesellschaftlichen Funktionieren von Kommunikation. Für derartige Funktionszusammenhänge haben sich historisch Differenzen eingespielt, die aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung abgeleitet wurden und die damit insti- tutionell und nicht pädagogisch9 entstanden sind. Derartige Differenzen, nämlich die von pro- fessioneller und privater Medienverwendung, in die dann noch weitere Differenzen wie die von künstlerischer und kommerzieller Mediennutzung10 eingeschrieben wurden, sind historisch alisierungsphase mit der Existenzform von Medien verwechselt wird und sich pädagogische Leitvorstel- lungen daran orientieren, dann sind Fehlentwicklungen bis hin zum Scheitern des Konzept zwangsläufig zu erwarten. 8 Und das anders als unter den Konditionen von Habermas‘ herrschaftsfreiem Diskurs: Dieser pragmati- sche Normendiskurs muss nämlich systematisch ohne Leitbilder auskommen. Die Pragmatik ist gleich- sam auf sich selbst zurückgeworfen und dann keine Universalpragmatik im Habermasschen Sinne mehr. 9 In dieser Hinsicht teilt die Pädagogik das Schicksal der Philosophie: Sie kommt immer schon zu spät. 10 Hierbei handelt es sich um systemische Differenzierungen, denn es handelt sich um eine schlichte Akkommodation an die Ausdifferenzierung von ökonomischen und ästhetischen gesellschaftlichen Sub- systemen. 24 Rainer Leschke noch bei jedem Medium etabliert worden und sie sind so gewöhnlich, dass sie in der Regel gar nicht mehr auffallen. Medienbildung ist in die Falle dieses Nicht-mehr-Auffallens gegangen: Sie ignoriert all die Serien historisch etablierter und gesellschaftlich institutionalisierter Differenzen und unterlegt ihren Bildungsprozessen ein gleichermaßen differenzloses wie absolutes Konzept von Medien- nutzung, das alle historisch ausdifferenzierten Margen und Leistungen in sich vereint. Die Forderung nach kreativer Medienproduktion stellt nichts weniger als die Forderung nach einer Medienproduktion dar, die künstlerische Geltung behaupten kann, und nichts ist illusorischer als in Bildungsinstitutionen mit einem solchen Leitbild hausieren zu gehen. Umgekehrt sind die eingespielten Margen für historisch etablierte Medientechniken ziemlich moderat: Kein Pädagoge träumt ernstlich davon Schriftsteller, Musiker und bildende Künstler ausbilden zu können, sondern er gibt sich mit deutlich pragmatischeren Anforderungen zufrie- den11. Die Absolutheit der Media-Literacy ist mithin historisch merklich erodiert, sie ist bei Schrift, Malerei und Musik pragmatisch geschrumpft auf das, was Amateure erwarten lassen dürfen und selbst das gilt nicht absolut, sondern unterliegt deutlichen historischen und regiona- len Schwankungen. Das aber bedeutet, dass bei jedem Medienbildungsprozess zumindest drei differente Niveaus festzulegen sind: nämlich die von privater, künstlerischer und kommerzieller Mediennutzung. Und diese Niveaus sind zudem noch in unterschiedlichen Dimensionen zu verhandeln: nämlich in Selektion, Rezeption und Produktion12. Es handelt sich mithin um ein ziemlich komplexes Ensemble von Niveaudifferenzen und damit von Bildungsformen, das es auszudifferenzieren gilt, und all diese Medienbildungsformen sind nicht auf ein wie auch immer definiertes Abso- lutes abonniert, sondern basieren auf gesellschaftlich verhandelten Modi der Medienkommuni- kation, die sich wiederum ziemlich enervierenden und prinzipiell antagonistischen Enkulturali- sierungsprozessen verdanken. Wenn Pädagogik über derartige, in sozio-kulturellen Prozessen 11 Gelegentlich leiden die Akteure bekanntlich unter solchen permanenten Differenzerfahrungen und haben Schwierigkeiten damit, sie biographisch zu integrieren. 12 Und das bedeutet, dass die abstrakte Forderung nach der interaktiven Grundausstattung von Medie- numgebungen und den korrespondierenden Kompetenzen eines Subjekts ebenso differenziert werden muss, wie die Medienkompetenz an sich. Insofern ist Baackes Kreativitätsimperativ auch vollständig unangemessen und von einem kardinalen Missverständnis des Funktionierens von Mediensystemen ge- kennzeichnet: “Es entstand eine handlungsorientierte Pädagogik, die an die Stelle des ‘Medienrezipien- ten’ die ‘Medien-Nutzer’ setzte. Medien-Nutzung ist doppelwertig: Sie besteht nicht nur in der ‘Rezepti- on’ produzierter Botschaften, sondern auch in der ‘Produktion’ eigener Inhalte.” (Baacke 1996, S. 113, Herv. i. O.) “Gewendet auf medienpädagogische Begründungen, meint das Theorem: Jeder Mensch ist ein prinzipiell ‘mündiger Rezipient’, er ist aber zugleich als kommunikativ-kompetentes Lebewesen auch ein aktiver Mediennutzer, muß also in der Lage sein (und die technischen Instrumente müssen ihm dafür zur Verfügung gestellt werden!), sich über die Medien auszudrücken. Dies muß geübt und gelernt wer- den, aber wir können solche Prozesse mit der Zuversicht beginnen, daß sie auch zu einem sinnvollen Ziele führen.” (Baacke 1996, S. 117) Normative Selbstmissverständnisse 25 etablierte Formen und Formate hinauswill, dann generiert sie einen kolossalen Legitimations- bedarf, den sie kaum auf die Philosophiegeschichte wird abschieben können. Doch gegenwär- tig geschieht noch nicht einmal dies: Die Anleihen beim Subjekt der Aufklärung sind so unbe- stimmt wie unreflektiert, dass sie gar nicht mehr wahrgenommen werden. Sie werden schlicht als gegeben und unverrückbar verbucht, so dass deren aus der Zeit gefallen sein noch nicht einmal bemerkt wird. Renovierte Subjekte und neue Medien Ganz generell fällt auf, dass die vordringliche Beschäftigung mit absoluten Zielen den Blick für konkrete Enkulturationsprozesse von neuen Medien zu verstellen droht. Die Idee vom Sub- jekt war schon fertig, bevor es überhaupt elektrische Medien geschweige denn postkonventio- nelle Mediensysteme gab. Und da bislang noch alle historischen Menschenbilder medienindu- ziert waren, hat eine am Subjekt der Aufklärung13 sich ausrichtende Normativität, die Medien- 13 Dies bezieht sich ausschließlich auf eine Medienpädagogik, die - ob bewusst oder unbewusst - wie Baackes Ansatz in einer geisteswissenschaftlichen Tradition argumentiert. Allerdings wird von dieser Position aus der weit überwiegende Teil der medienpädagogischen und eben auch medienpolitischen Debatte bestritten. Konstruktivistische oder aber systemtheoretische Ansätze, die mit durchaus gravierend modifizierten bzw. ganz ohne Subjektkonstruktionen sich bemühen auszukommen, sind davon selbstver- ständlich nicht betroffen. Umgekehrt haben derartige Ansätze, wie die Argumentation etwa von Gapski deutlich werden lässt, der sich gezwungen sieht, Medienkompetenz als Systemeigenschaft zu definieren, systematische Schwierigkeiten mit dem Konzept der Medienkompetenz, da ihnen quasi der Adressat verloren gegangen ist. Das macht deutlich, dass es bei den Selbstmissverständnissen der Medienpädago- gik nicht um eigentlich ‘vermeidbare Fehler’ geht, sondern um epistemologische Probleme, die zu voll- ständigen Neuansätzen zwingen. Jörissens Reflexion des Verhältnisses von Subjekt und Medien, die eben dieses geisteswissenschaftlich universalisierte Subjektverständnis der Medienpädagogik außerordentlich differenziert historisiert, gelangt dann für die aktuellen Konstellationen zu durchaus anderen Vorstellun- gen vom Subjekt wie etwa der Online-Identität. Bemerkenswert ist der von ihm in diesem Kontext kon- statierte “Spill-Over-Effekt”: Als “Spill-Over-Effekte sind solche Phänomene bekannt, in denen mediale Interaktionen nachhaltige Wirkungen in außermedialen Kontexten hervorrufen.” (Jörissen 2014, S. 75) Interessant ist, dass Jörissen diesen “Spill-Over-Effekt” zwar für die aktuelle Medienlandschaft stark macht, er ihn historisch aber eigentlich eher unterschätzt. Denn das bürgerliche Subjekt, soviel kann man bereits bei Habermas lernen, ist selbst nichts anderes als das Resultat eines solchen “Spill-Over-Effekts”: Denn es ist letztlich das Produkt eines historischen Mediendispositivs. Insofern gilt es Jörissens Interven- tion eigentlich noch zu verstärken, ja zu universalisieren. Vor diesem Hintergrund verwundert die äußerst moderate, ja geradezu gutmütige Auseinandersetzung mit der Medienkompetenzdebatte umso mehr. Jörissen geht auf dem Wege einer formalen Relationierung von einem weitgehend ‘entsubjektivierten’, prozessorientierten Medienbildungsbegriff aus, wobei “Bildung als qualitativ-empirisch rekonstruierbarer Prozess der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen” (ebd., S. 96) aufgefasst wird. Wenn dann versöhnlich von “fruchtbare[n] Anschlüssen” und “losen Kopplungen” (ebd., S. 98), bei denen bekannt- lich auch Luhmann nicht so genau wusste, was das sein sollte und so das bloße Sein-Sollen den Aus- schlag gab, die Rede ist, dann droht die zuvor so sorgfältig herausgearbeitete epistemologische Differenz 26 Rainer Leschke dynamiken zumindest der letzten 130 Jahre verschlafen. Nun lässt sich zweifellos ein Miss- trauen in medieninduzierte Konstruktionen des Menschen problemlos nachvollziehen, nur müsste eine jede normative Alternative zumindest die mediale Induktion aufheben können. Die weitgehende Ignoranz hingegen ist immer schon bewahrpädagogisch grundiert: Es geht um die Bewahrung eines Identitätskonzepts einer gesellschaftlichen Elite des 18. Jhs., das der histori- schen Medienkonstellation zweifellos angemessen14 gewesen ist. Die Urszene der Medienpä- dagogik bleibt der bürgerliche Salon, ein Szenario, bei dem man sich sicher sein kann, das es definitiv über keinerlei Repräsentation in der gegenwärtigen Realität mehr verfügt. Die Frage ist nur, ob die alten Maßstäbe immer noch gelten, ob medieninduzierte Subjektkonstrukte, von denen es zwischenzeitlich bekanntlich eine ganze Reihe gegeben hat, einfach übergangen wer- den können und ob es schlicht Sinn macht, mit einem normativen Apparat des 18. Jhs. die Gegenwart kurieren zu wollen. Gerade wenn die Mediendynamiken des letzten Jahrhunderts nicht nur rasant gewesen sind, sondern sie über weite Strecken, spätestens aber seit der Pop Art auch noch die ästhetische kulturelle Dynamik übernommen haben, dann ist eine solche Dyna- mik normativ kaum ernstlich zu ignorieren. Damit aber muss man sich für eine wenigstens einigermaßen viable Subjektkonstruktion15 zumindest mit den gegenwärtigen medieninduzierten Formatierungen des Subjekts auseinan- aus disziplinärer Rücksichtnahme wieder verschenkt zu werden, was schade ist und der eigentlich erfor- derlichen Katharsis dramaturgisch im Wege steht. 14 Vgl. Habermas‘ Analyse in Strukturwandel der Öffentlichkeit (1971). Im Übrigen macht Habermas denselben Fehler wie die Medienpädagogik, indem er in seiner Theorie der Kommunikativen Handelns versucht, das Subjektmodell an die Sprachstruktur und damit an ebenso universelle wie ahistorische Bedingungen zu knüpfen. Von daher versucht Habermas immer noch, postmoderne Gesellschaften und Ökonomien mit der Idealisierung einer kleinen gesellschaftlichen Elite des 18. Jhs. zu bekehren und die Medienpädagogik tut es ihm im besten Fall gleich. Bei Baacke hört sich das dann wie folgt an: “Ich mei- ne, daß die […] Grundforderung, die ‘kommunikative’, also auch ‘Medien-’Kompetenz jedes Menschen zu fördern, unabhängig vom historischen Wandel, gültig sei.“ (Baacke 1996, S. 114) 15 Interessant ist, dass diese Debatte um die aktuellen Identitätskonzepte in der Pädagogik weitgehend abgeschottet von den medienpädagogischen Überlegungen zur Medienkompetenz bleibt. So wird etwa von Keupp eine ‘Lebenskompetenz’ entworfen, die keinerlei Überschneidungen mit den Konzepten der Medienkompetenz aufweist: “Fassen wir diese sozialpsychologisch begründeten Lebenskompetenzen noch einmal zusammen. Was brauchen Subjekte für eine gelingende Lebensbewältigung: • Sie müssen ihre eigene Lebenserzählung finden, die für sie einen kohärenten Sinnzusammenhang stiftet. • Sie müssen in einer Welt der universellen Grenzüberschreitungen ihr eigenes ‘Boundary Management’ in Bezug auf Identität, Wertehorizont und Optionsvielfalt vornehmen. • Sie brauchen die ‘einbettende Kultur’ soziale Netzwerke und die soziale Kompetenz, um diese auch immer wieder mit zu erzeugen. • Sie benötigen die erforderliche materielle Basissicherung, die eine Zugangsvoraussetzung für die Verteilung von Lebens- chancen bildet. • Sie benötigen die Erfahrung der Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der sie ihr Le- bensprojekt verwirklichen wollen. • Sie brauchen einen Kontext der Anerkennung, der die basale Voraus- setzung für eine gelingende Identitätsarbeit ist. • Sie brauchen Voraussetzungen für den alltäglichen interkulturellen Diskurs, der in einer Einwanderungsgesellschaft alle Erfahrungsbereiche durchdringt. • Sie müssen die Chance haben, in Projekten des bürgerschaftlichen Engagements zivilgesellschaftliche Normative Selbstmissverständnisse 27 dersetzen. Wenn Walter Benjamin davon ausgeht, dass Medien die Wahrnehmung beeinflussen und sie auf den historisch erforderlichen Stand bringen, dann stellt sich die Frage, warum aus- gerechnet die Medienpädagogik mit einem statischen Identitätskonzept16 arbeitet. “Die narrative Funktion verliert ihre Funktoren, den großen Heroen, die großen Gefahren, die großen Irrfahrten und das große Ziel. Sie zerstreut sich in Wolken, die aus sprachlich-narrativen, aber auch denotativen, präskriptiven, deskriptiven usw. Elementen bestehen, von denen jedes pragmatische Valenzen sui generis mit sich führt. Jeder von uns lebt an Punkten, wo viele von ihnen einander kreu- zen. Wir bilden keine sprachlich notwendigerweise stabilen Kombinationen, und die Eigenschaften derer, die wir formen, sind nicht notwendigerweise mitteilbar. So hängt die kommende Gesellschaft weniger von einer Newtonschen Anthropo- logie […] und viel eher von einer Pragmatik der Sprachpartikel ab. Es gibt viele verschiedene Sprachspiele – das ist nur die Heterogenität der Elemente. Sie füh- ren nur mosaikartig zur Institution – das ist der lokale Determinismus.” (Lyotard 1981, S. 14f.) Dass Subjektkonstruktionen, wie sie nach wie vor von der Medienpädagogik präferiert und benutzt werden, an das Modell der Narration gekoppelt sind, ist offenkundig. Dennoch ist unklar, wieso sie daran festhalten, wiewohl selbst in den literarischen Narrationskonzepten spätestens seit der klassischen Moderne dynamische Subjektmodelle nicht nur denkbar, son- dern geradezu obligatorisch geworden sind. Lyotards Modell der Konstrukte des Selbst vom Anfang der 80er Jahre – wie im Übrigen auch Halls der 90er Jahre – muss zwar noch ohne Medien auskommen, dennoch gibt es Hinweise darauf, wie Identitäten unter den Konditionen der Postmoderne sich konstituieren: Man könnte Identität analog zu dem Sprachmodell, mit dem Lyotard operiert und das ganz offensichtlich netztauglich17 ist, als eine vorübergehende, Basiskompetenzen zu erwerben.” (Keupp 2009, S. 70) Es fragt sich, wie lange eine solche Argumentation in Parallelwelten noch haltbar ist. 16 So geht auch Stuart Hall von der Überprüfungswürdigkeit des Identitätskonzepts aus: “Die Frage nach der ‘Identität’ wurde und wird in der Gesellschaftstheorie heftig diskutiert. Alte Identitäten, die die sozia- le Welt lange stabilisiert haben, sind im Niedergang begriffen, machen neuen Identitäten Platz, das mo- derne Individuum als einheitliches Subjekt wird fragmentiert – so lautet ein wesentliches Argument. Diese ‘Krise der Identität’ ist als Teil eines umfassenden Wandlungsprozesses zu sehen, der die zentralen Strukturen und Prozesse moderner Gesellschaften verschiebt und die Netzwerke unterminiert die den Individuen in der sozialen Welt eine stabile Verankerung gaben.” (Hall 1994, S. 180) “Diese Arbeit ist von einer Position aus geschrieben, die grundsätzlich mit der Behauptung sympathisiert, daß moderne Identitäten ‘dezentriert’, ‘zerstreut’ und fragmentiert sind.” (ebd., S. 180) “In diesem Beitrag geht es um eine neue Dimension dessen, was oftmals als unsere postmoderne Welt beschrieben wird, nämlich daß jede gesicherte oder essentialistische Konzeption der Identität, die seit der Aufklärung den Kern oder das Wesen unseres Seins zu definieren und unsere Existenz als menschliche Subjekte zu begründen hatte, der Vergangenheit angehört.” (ebd., S. 181) 17 Interessant ist, dass Hall zwar fünf Modi der Dezentrierung des Subjekts der Aufklärung – die des theoretischen Antihumanismus Althussers, die der Psychoanalyse Freuds und Lacans, die der strukturalen 28 Rainer Leschke von spezifischen Konstellationen abhängige und damit situative, aktive Konstruktion eines Akteurs rekonstruieren. Das geht bereits weit über jene negativen Deskriptionen, die wie etwa noch Hall den Wandel vornehmlich als Verlust18 codieren, hinaus. Identität wird damit schlicht durch Performanz ersetzt und das ist dasjenige, was in den aktuellen Medienumwelten geschieht, nämlich eine generelle Umstellung auf Performanz, die sich nicht mehr auf stabile Positionen festklopfen lässt. Identität verfügt nicht mehr über substantielle Referenzen, sondern allenfalls noch über situative19, die sich aus einer Performanz innerhalb spezifischer Konstellationen ergeben. Es wurde nämlich zwischenzeitlich, ohne dass die Medienpädagogik es groß bemerkte, vom Linguistik, die der Diskurstheorie Foucaults und die des Feminismus (Hall 1994, S. 198) – kennt, die mediale bei ihm jedoch überhaupt nicht vorkommt. Diese Medienvergessenheit, die nicht nur bei Hall Subjektkonzepte generell kennzeichnet, macht deutlich wieso in der Medienpädagogik ein Medienwech- sel überhaupt ohne seine strukturellen Implikationen für das Selbst gedacht werden kann. Die medien- technologische Renovierung der Pädagogik macht ausgerechnet vor ihren Implikationen für das Selbst halt. 18 “Es [das Subjekt; Anm. d. Verf.] ist nicht aus einer einzigen, sondern aus mehreren, sich manchmal widersprechenden oder ungelösten Identitäten zusammengesetzt. Entsprechend befinden sich die Identitä- ten, welche die soziale Landschaft ‘außerhalb’ bilden und unsere subjektive Übereinstimmung mit den objektiven ‘Notwendigkeiten’ der Kultur sichern, als Resultat des strukturellen und institutionellen Wan- dels im Umbruch.” (Hall 1994, S. 182) 19 Grundsätzlich sind beim Übergang vom ‘Was’ zu ‘Wie’ noch zwei Zwischenstufen einzukalkulieren: Zum einen die Differenz vom ‘konditionierten Was’ zum ‘unkonditionierten bzw. wählbaren Was’: “Identität wird hiermit auch wähl- und machbar, und das bei einer stetig wachsenden Anzahl an bereitge- stellten, konsumierbaren ‘Identitätspaketen’. Shopping wird zur Identitätsarbeit. Medien, allen voran das Fernsehen, werden zum Schaufenster im Identitätsbasar.” (Koerber/Schaffar 2002, S. 81) Die nächste, zweite Stufe im Übergang vom ‘Was’ zum ‘Wie’ wäre die einer Identitätskonstruktion als permanenter Prozess, in dem das Telos der Identität zwar mitgeschleppt wird, es aber den Status eines regulativen Prinzips erhält: “Identität ist also etwas, das in andauernd wirksamen unbewußten Prozessen über die Zeit hinweg gebildet wird; sie ist nicht seit der Geburt von Natur aus im Bewußtsein. Es gibt immer etwas ‘Imaginäres’, Phantasiertes an ihrer Einheit. Sie bleibt immer unvollständig, befindet sich immer im Prozeß, im ‘Gebildet-Werden’.” (Hall 1994, S. 193) Analog konstruiert Nassehi eine operative Identität: “Diese Theorie einer operativen Identität verzichtet darauf, die Identität des Besonderen als Identität mit einem Allgemeinen zu formieren. Zugleich verzichtet sie darauf, Identität für eine gewissermaßen un- vermeidliche oder normativ wünschenswerte Eigenschaft zu halten, sondern beobachtet Identität als eine spezifische Semantik, die damit erst hervorbringt, was sie als existent beschreibt: die vorgestellte Identität von Personen nämlich. Sie verzichtet damit auf all jene subjekttheoretischen Implikationen, die der Iden- titätstheorie anhaften – das besondere Allgemeine zu sein nämlich.” (Nassehi 2002, S. 231) Schorb geht davon aus, dass dieses Telos einer “konsistente(n) und überdauernde(n) Identität” (Schorb 2006, S. 162) aus der Perspektive der Betroffenen notwendig beibehalten werden müsse. Insofern ist der Übergang zwischen den unterschiedlichen Identitätskonzepten auch nicht als abrupter, diskreter Wechsel, sondern als einigermaßen kontinuierlicher Prozess zu rekonstruieren. Normative Selbstmissverständnisse 29 ‘Was’ auf das ‘Wie’ umgestellt und damit haben Formfragen offensichtlich Fragen der Identi- tät abgelöst. Derartige Prozesse wurden traditionell und d.h. in der Moderne von Heidegger bis Giddens in Termini der Sorge oder Furcht codiert20, nur scheint unter postmodernen Konditionen diese existentielle Sorge offenbar einer spielerischen Sorglosigkeit gewichen zu sein, was die Bedin- gungen grundsätzlich verändert. Vielleicht mag die Sorglosigkeit und Unbefangenheit neu sein, das Hadern mit der Identität ist es zweifellos nicht, denn diese ist schon seit geraumer Zeit eine ziemlich prekäre Konstruktion: Bekanntlich kratzte schon Adorno ganz vernehmlich so lange an der Identität, bis sich ihre Nichtidentität erwies, und auch Luhmann zog es vor, mit der Differenz zu beginnen, so dass offenbar beiden Hegels unverbrüchlicher Optimismus gründlich abhandengekommen ist. Nur die Medienpädagogik nutzt noch einigermaßen unver- drossen die unverbrauchte Variante des Selbst des 18. Jhs. Das Problem ist dabei nicht nur, dass überhaupt zu diesem Konstrukt des Selbst so eisern gestanden wird, sondern dass es das einzige Zielkonstrukt ist, was weit und breit überhaupt ausgemacht zu werden vermag. Der Imperativ der Kritik etwa, der mit ziemlich viel Aufwand zentral in die Mediennutzung eingeschrieben wurde und der zunächst einmal nichts anderes besagt, als dass Vernunft Gel- tung beanspruchen solle, wird allein schon durch die diversen Relativierungen des Rationalen, die zumindest die Spätmoderne kannte, beschnitten. Denn letztlich wird der kritische Imperativ vollkommen unverständlich, wenn Habermas etwa drei differente Rationalitätsprinzipien syn- chron installiert oder aber Lyotard die Rückversicherung auf eine einigende Vernunft als philo- sophisches Narrativ des 19. Jhs. decouvriert und damit die ganze Konstruktion selbst delegiti- miert. Damit aber, mit dieser normativen Götterdämmerung, entfällt die Referenz für Kritik und die Basis des rettenden Eingriffs. Der kritische Imperativ benötigt einen ungebrochenen Rückgriff auf die Aufklärung, denn andernfalls würde Medienpädagogik zwangsläufig blind und was bliebe, wäre bloßer Aktionismus. Die Konstruktionen des Selbst, die die Medienpädagogik normativ grundieren, sind insofern strukturell unterkomplex und es ist an der Zeit, sie einigermaßen auf Stand zu bringen. Fak- tisch wurde im Schatten einer medientechnologischen Renovierung der Pädagogik eine struk- tur-konservative Subjektkonzeption beibehalten und so die technologische Innovation mit traditionellen Normen quasi domestiziert. Und selbst der kritische Impuls, der daraus hervor- gehen mag, dass das Mediensystem des 18. Jhs. vielleicht eine höhere Integrität, eine organi- schere Struktur oder was der normativen Eigenschaften noch sein mögen, aufweisen könnte, und insofern sich die Moderne und erst recht die Postmoderne an ihr messen lassen sollte, diese Neuauflage einer Verfallsgeschichte, dürfte allein schon medienhistorisch einigermaßen problematisch sein, sind doch konventionelle Mediensysteme vor allem durch die Geschlos- senheit ihrer Einzelmediendispositive gekennzeichnet, so dass von Integration und Natürlich- keit wohl kaum ernstlich die Rede sein kein. Insofern entfällt auch der Impuls rettender Kritik weitgehend. 20 Vgl. Giddens 1991, S. 35 ff.: The Self: Ontological Security and Existential Anxiety. 30 Rainer Leschke Ohne Leitbild Das Problem ist nun also, dass die Medienpädagogik definitiv einer renovierten normativen Ausstattung bedarf und ihr zugleich offenkundig die Bezugsquellen ausgegangen sind. Darüber hinaus hat sie offenbar auch der Mut zu solchen Anstrengungen weitgehend verlassen, denn damit würde zugleich der historische Kompromiss zwischen Kritik und Ökonomie, der immer- hin zu den Gründungsakten der Medienpädagogik gehört, nachhaltig gefährdet: die Kritik würde blind und die Ökonomie grenzenlos. Insofern mögen Versuche, Identität als regulatives Prinzip und sei es auch nur als “Patchworkidentität” (Keupp 2009, S. 59) weiter mitzuführen, verständlich sein, und so erklären sich dann auch solche Ideen wie die einer medienvermittelte ‘Arbeit an der Identität’21. Nur passt das alles kaum mehr mit den medialen Konditionen zu- sammen, da in denen ein final statisches Konstrukt22 dysfunktional ist. Insofern gilt es davon Abschied zu nehmen, dass mit einer Konstruktion des Selbst zugleich ein hinreichender norma- tiver Überschuss23 gegeben sei, der als bedingungsloses Leitbild einer Medienpädagogik funk- 21 Medien sollen offenbar bei der Identitätsarbeit behilflich sein: “Medien sollen nicht zur moralischen Anstalt gemacht werden, aber sie sollen mehr und bewusst Angebote machen, die es den lndividuen möglich machen, mit Modellen des “richtigen Lebens” reflexiv-kritisch umgehen zu lernen.C (Keupp 2009, S. 75) Interessant ist nur dass die narrativen Identitätsmodelle allesamt dem aufklärerischen Identi- tätskonzept strukturell verpflichtet und da auch nicht herauskommen. Insofern haben Medien gar nicht die Wahl, ob sie eine moralischen Anstalt sein wollen oder nicht (vgl. Leschke 2004). Sie sind es notwendi- gerweise. Die Differenz entsteht erst in dem Moment, in dem die konventionelle Identität durch die trans- versale Integration diverser Medien aufgelöst wird und zwischen differenten Konzepten gesurft werden kann. Keupps implizite Rückkehr zu konventionellen Konzepten ist dabei durchaus charakteristisch und korrespondiert mit der Verfallsnarration, die auch hinter dem Patchworkkonzept steht, denn Patchwork entsteht als Reorganisation irgendwelcher Reste und kaum als positive Lösung. 22 So etwa bei Schorb: “Trotz des Verlustes traditioneller Orientierungsquellen bleibt den Jugendlichen also noch immer die Aufgabe, eine eigene Persönlichkeit herauszubilden, eine Identität, die für ein Leben trägt oder doch zumindest in ihrem Kern so gestaltet ist, dass sie die Bewältigung der Anforderungen des Lebens ermöglicht.” (Schorb 2009, S. 86) Und weiter: “Die heutige Gesellschaft und ihre Medien stellen an die gesellschaftlichen Subjekte die Hauptaufgabe, ihre Identität individuell zu entwickeln und zu ge- stalten. Sie bieten ihnen dazu die vielfältigsten Möglichkeiten, aber liefern weder Hilfen zur Strukturie- rung und Bewertung dieser Möglichkeiten, noch Kriterien zur Messung des Erfolges der Identitätsarbeit, weil der sichere Arbeitsplatz, der im industriellen Zeitalter das entscheidende Kriterium war, nicht mehr vorhanden ist.” (ebd., S. 91) 23 “Wahrscheinlich ist es also tatsächlich ratsamer, von einer Theorie Abstand zu nehmen, die nach neuen Identitätskonzeptionen sucht. Stattdessen lautet die Frage, wo, wie und von wem das Beobachtungssche- ma Identität/Differenz kommunikativ in Anspruch genommen wird und wo, wie und von wem aus das nicht geschieht. Dass der Identitätstheorie damit der präskriptive, normative Aspekt einer Begründbarkeit gelungener oder gar vernünftiger Identitätsbildung verloren geht, mag man dann für einen Verlust halten. Aber man präferiert dann eben eine andere Art von Theorie.” (Nassehi 2002, S. 234) Das ist allerdings längst nicht nur eine Frage theoretischer Präferenzen, sondern schlicht eine der Beschreibungsleistung von Theorie. Denn letztlich hat diese merklich gelitten und Szenarien realen Scheiterns konfiguriert, denen es zu entkommen gilt. Normative Selbstmissverständnisse 31 tionieren könne. Offenbar haben solcherart verfasste Theoreme sich inzwischen so weit von den Konditionen der Postmoderne entfernt, dass sie noch nicht einmal mehr zu einigermaßen zuverlässigen Alltagsbeschreibungen taugen. Medienpädagogik müsste sich insofern dringend auf die andere Seite des Spektrums von Identitätskonstrukten, das von der statischen Identität der Aufklärung, über die Identität als Resultat eines Prozesses und über Identität als permanen- ten Prozess mit hinausgeschobenem Telos, über die Identität als Wahl und die Patchwork- Identität bis hin zur Identität als Performativität reicht, schlagen: Es geht um die Bestimmung gesellschaftlich erwünschter Performanzniveaus in medienkulturellen Umgebungen und damit um eine kulturelle Definition von Medienbildung, die ein Surfen zwischen differenten Identitä- ten in den jeweils gewählten Dimensionen unterschiedlichster Medienformate nicht mehr nur als pathologisch disqualifiziert, sondern als eine aktuelle Lebensform identifiziert. Insofern kann die längerfristige Abwesenheit der großen Leitbilder als Chance für eine Verständigung über die vielen differenten kleinen Normen und Performanzniveaus wahrgenommen werden, die für einen kulturellen Umgang mit jenem ebenso omnipräsenten wie transversal vernetzten postkonventionellen Mediensystem unerlässlich sind. Jene ebenso abstrakten wie unrealisierba- ren Leitbilder hingegen überließen die Definition künftiger medienkultureller Umwelten letzt- lich der Straße. Ohnehin wäre die Hoffnung, Medienbildung durch importierte finale Leitbil- der, die nur das alltägliche pädagogische Elend zusätzlich noch mit abgründigem Versagen belasten, fixieren zu wollen illusorisch, denn es handelt sich um einen Prozess, der aus syste- matischen Gründen niemals wird abgeschlossen werden können und der so eine jener medien- kulturellen Sisyphusarbeiten darstellt, mittels derer Kulturen am Leben bleiben. 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Überlegungen zur Neufassung des medialen Selbst Manfred Faßler Zusammenfassung Datentechnologien speichern inzwischen Lebensbedingungen vielfältiger Art. Online-Offline-Ha- bitate (Faßler 2014) verdrängen Gesellschaftssoziales. Die intensive Nutzung von digitalen Netz- werken bringt ein Datensoziales hervor, in dem der Mensch sich neu konfiguriert. User-Selbst mausert sich zum transsozialen Superkonzept. Es muss Anpassung und Kreativität, fortwährende Änderung der Netzzustände und Innovation ermöglichen, außerhalb bisheriger Normen und Ver- sprechen. Meine Überlegungen sind deshalb im Themenfeld „Zielbilder und normativen Begrün- dungen“ der Innsbrucker Tagung 2015 angesiedelt. Mich interessiert die Frage, wie soziologisch und anthropologisch das Konzept Selbst in Abhän- gigkeit von seiner medialen Verfassung diskutiert werden kann und muss. Dies kommt Erzie- hungswissenschaften nahe, wie ich vermute. These ist: Geistiges Selbst bildet nicht mehr das Zen- trum sozialer Ich-Theorien. Ein Daten-Selbst, gekoppelt an ein in allen Netzwerken einsetzbares User-Konzept, breitet sich aus. I “Wenn das bewusste geistige Erleben von der impliziten Gegenwart des Selbst in geistigen Akten abhängt, dann müssen wir die funktiona- le Rolle des geistigen Selbst und/oder seine implizite Repräsentation in diesen Akten verstehen, um die Bewusstheit geistigen Erlebens zu verstehen.” (Prinz 2013, S. 39) Der kognitive und soziale Zustand eines Menschen, den wir bis heute ‘Selbstʼ nennen, ist eine der interessantesten renaissance-humanistischen Erfindungen. Mit ihr wird es möglich, die sozialen und funktionalen Anforderungen an das biologische Individuum als dessen Eigenleis- tungen zu behaupten: die bedingte Selbstbestimmung wird zu einem der wichtigsten Verspre- chen der Moderne. Und zum Kritikhebel: zur Aufforderung, die ‘selbstverschuldete Unmün- digkeitʼ (I. Kant) zu beenden. ‘Selbst´ wird in dieser Denkweise von unpersönlichen Strukturen entlastet, wird mit Vernunft in enge Beziehung gebracht. Der Modus gilt immer noch in be- stimmten Denktraditionen: Selbst wird oft noch als Repräsentation von Vernunft verwendet, womit über eine unverrückbare Trennung zwischen dieser und dem kongnitiven, sozialen Selbst-Konzept entschieden ist. In soziologischen, anthropologischen oder psychologischen Theorietraditionen wird dementgegen ‘Selbstʼ nicht nur funktional verstanden, sondern als jene geistige Aktivität, die sich ‘selbst´ erst hervorbringt und damit auch die Welt, auf die sie sich bezieht. Selbst ist in diesen Disziplinen ebenso ein emergentes Phänomen wie dies für jede 34 Manfred Faßler dingliche, sachliche, kommunikative, mediale Realität gilt, auf die sich die Unterscheidungs- lust und -fähigkeit des Menschen beziehen. Eine instabile, vielfach verwendbare Bestimmung begleitet Selbst also seit einigen Jahrhunder- ten: mit diesem Terminus wird im positiven Sinne eigenartige Individualität von sozial-sy- stemischen Verbindungen abgegrenzt, wird Kollektivität eingefordert (Selbstbestimmungsrecht der Völker), weltliche, legitimierte Souveränität von Person (Repräsentation) ebenso möglich wie die ungehemmte selbstverantwortete Aktion. Herkömmlich füllt Selbst das Niemandsland zwischen Gesellschaft und biologischem Individuum. Dies begründet die enge Bindung dieses Modells kontinuierlicher Anwesenheit mit interpersonaler Kommunikation. Über wenigsten zwei Jahrhunderte wurde ein dritter Systembereich ignoriert: Technologien. Seit Morse ist echtzeitige Kommunikation in die Kabel der Informationstechnologien verlegt. Telegrafie, Telegramm, Telefonie, Rundfunk, Television, Computernetze, Teletext sind bishe- rige Folgen. Das ideologisch-moderne Dual ‘Gesellschaft - biologisches Individuumʼ wird eingefügt in eine datenintensive, nach-gesellschaftliche, vorherrschend globale und topologi- sche Teleaktionalität. So der gegenwärtige Zustand. Weder eine repräsentative noch individu- ell-aktionale Fortschreibung des Selbst-Versprechens ist möglich. Anstelle der Repräsentation und Reflexion werden sich die Menschen, die dem Selbst-Verspre- chen noch trauen, mit den Fragen der Streuung (Barad 2012, S. 12) beschäftigen müssen, mit der Unwahrscheinlichkeit des Selbst, also mit den Bedingungen seiner teleaktionalen Möglich- keiten. Selbstkonzepte müssen sich innerhalb der datenkommunikativen Netzzustände als nütz- lich, hilfreich, schützend, resilient erweisen, d.h. als Broad-Cast-Zustände. Vielfach sind die erforderlichen konzeptionellen Anstrengungen nicht klar. Denkbar ist, dass im Verlaufe der globalen Konventionalisierung anonymer, teleoperativer informationstechnologischer Daten- Netze die moderne Distinktion Gesellschaft-Individuum daran scheitert, dass sie nicht mehr funktional ist. Selbst wird über die Stellung des Menschen in technosozialen IT-Netzwerken bestimmt werden. Hierfür gilt: “Was wir brauchen, ist ein posthumanistisches Verständnis der Rolle des Apparats und des Menschen und der Beziehung zwischen ihnen.” (Barad 2012, S. 29) Gegenwärtig betreiben 3,4 Milliarden Menschen unabsichtlich die Transformation des Distink- tionskampfes zwischen Gesellschaft-Individuum - von der unverwechselbaren, selbstbehauptenden Marke Ich - zur seriellen, endlos wirkenden Beteiligungskonkurrenz der User in den diversen Netzwerken, getrieben von der Angst, ‘von anderen vergessen zu werdenʼ. Das in diesen Prozessen entstehende User-Ich agiert nach der Devise: nichts ist so praktisch, wie keine verpflichtenden Beziehungen zu haben, sondern sekündlich Tweets, Bilder, Emoti- cons, Situationsaufnahmen, geteilte Videos nachzureichen. Verlässlichkeit besteht in der situa- tiv abrufbaren Biografie-Clowd. Die soziotechnischen Betriebs- und Geschäftsbedingungen des Selbstkonzeptes werden durch das Subjekt derzeit fortwährend verändert. Die möglichen Zei- ten des begründenden Voraus-Denkens, der Selbst-Beobachtung, des Nach-Denkens Selbstbe- denkens werden weniger (oder zumindest: völlig anders ökonomisiert). Der Schalter hierfür ist Broadcast Your Self, yourself 35 der globale Modus der Teleoperation: Clicks and Uses verpackt in der Behauptung, es handle sich um eine Art reziproker Interaktion mit/im Interface. Ein absurdes Missverständnis, in dem die Chancen eines evolutionär erfolgreichen neuen Modells menschlicher Kommunikation unterschlagen werden. II Teleoperation überspringt die mikro-soziologischen Erforschungen von angesichtiger Kom- munikation ebenso wie die Forschungen zu langfristigen Bedeutungsbildungen in Human- Computer-Interaction. Dies liegt an der Masse und Geschwindigkeit von Daten, den Zufalls- mengen von Korrelationsanfragen, der “discontinuity” (Peter Drucker) der Informationsnetz- werke, dem Verzicht auf “finalization”. Die teleoperativen Strukturen der IT sind keine Be- triebsanleitung für den Körper oder für das Gehirn (vgl. Meyer-Drawe 2008, S. 95). Vielmehr sind sie die Betriebsanleitung für den - Übergang von Reflexion zur Selbstvermessung, - von legitimierter Institution zur marktförmigen Überwachung. Der Mensch ist in seinem Selbstkonzept erweitert um zwei neue Dimensionen: Clicker / User. Er liefert Daten dafür, dass er anderen Menschen, Märkten, Produkten, automatisierten Fragen zugeordnet werden kann. So können Warenwünsche, Liebeswünsche, politische Meinung, Aktivitäten ‘im Vorausʼ benannt werden. “A term of art has emerged to describe the digital trail that people leave in their wake: >data exhaust<. It refers to data that is shed as a byproduct of people’s ac- tions and movements in the world. For the Internet, it describes user’s online in- teractions: where they click, how long they look at a page, where the mouse- cursor hovers, what they type, and more.” (Mayer-Schönberger & Cukier 2013, S. 113). Dieses „data exhaust“ (Datenabsaugen) wird mit “data recycling” verbunden und liefert das Material für eine “big data value chain” (ebd., S. 132). Aus der Datenernte, entsteht ein Vor- Profil des entsprechenden Users, – oder ältlich gesagt: der entsprechenden Person. Das medientechnische Mittel dafür ist das digital optimierte “Quantifying”. Mit ihm lässt sich eine Art “errechneter möglicher Person” darstellen. Nicht das genaue vorhersagbare Verhalten ist wichtig, sondern die berechenbaren Möglichkeiten. Die User-Persönlichkeit wird aus ge- fischten Daten geformt. Person errechnet sich durch die Variationsstandards. User wird damit nicht nur über multi-modale Verhaltensformen bestimmt. Seine Eigenarten gehören zu Akti- onsketten, die durch den - Gesamtkonsum von Anfrage- und Darstellungsmöglichkeiten - sowie durch die Fülle unachtsam hinterlassener Datenspuren gebildet werden. 36 Manfred Faßler “The crux of dataʼs worth is its seemingly unlimited potential for reuse: its op- tion value. Collecting the information is crucial but not enough, since most dataʼs value lies in its use, not its mere possession.” (Mayer-Schönberger & Cukier 2013, S. 122). Ich nenne dies eine datentechnische Options-Ökonomie. Sie ist gekoppelt mit einem Options- Selbst. Auffällig an dieser Options-Ökonomie ist, dass sie nicht nur von Daten-Konzernen betrieben wird. Längst gehört sie zum Selbst-Monitoring der User. Im Zentrum dieses Selbst- Monitoring stehen augenblicklich zwei Programme: - das Programm des Quantified Self und - das Programm des Lifelogging. Sie sind miteinander verwoben. Das Basiskonzept besteht darin, - alle Daten, die für teleoperative Kommunikation hilfreich sein könnten, - alle Daten, die meine (gewünschten und öffentlichen) Beziehungen zu anderen Usern, Dingen, Netzwerken, Orten, Dateien dokumentieren, und - alle Daten, die der einzelnen irgendwann benötigen könnte, aber im Moment aus Effek- tivitätsgründen ‘vergisstʼ, so zu speichern, dass sie in jeder Sekunde für jede Korrelation abrufbar sind. Ein Qualified Self taucht darin nicht auf, da der Anspruch der strukturierten und bewerteten Dauerhaftigkeit nicht wichtig ist. Dies führt zum zweiten Programm. Die Markt-Idee, die kom- plette Biografie (ob in Bildern, Texten, Zeitachsen etc.) darzustellen, d.h. berechenbar zu erhal- ten, wird von verschiedenen Modellen angesprochen. Neben den Biografie- und Präsenz-Markt ist allerdings eine bio-politisch agierende Angstindustrie getreten, – betrieben von epidemi- schen Bedrohungsszenarien, Nahrungsreligionen und Fitness-Propaganda. Also: Logging-Netzwerke als Casting-Shows des Selbst? Ja, eindeutig: Techno- und Datacas- tings. Aber das scheint weniger wichtig als die drastische Veränderung des Netzkonzeptes - von einem Pionier- und Freiraum-Konzept (1980er und 1990er) - über Client-Server-Strukturen und ‘selbstbestimmterʼ Verlinkung (1990er und 2000er) - zum ‘selbst-kontrollierendenʼ Präventions-Assistenten. Das Lifelogging wird darin zum präventiven und normativen Gesundheits-, Verhaltens-, Kon- summonitoring. - In Fitness-Zentren wird mittels Polar-Uhren eine elektronische „Own-Zone“ angeboten. - Die “eigenen Daten“ werden als Unterstützung für ein ‘richtiges Lebenʼ, für einen ‘ge- sunden Körperʼ glaubwürdig herangezogen. Broadcast Your Self, yourself 37 - Human-Tracking Programme ermöglichen Kontrolle von Straftätern als Freigänger, er- möglichen die teleoperative Kontrolle der Kinder durch Eltern, von Ehepartnern unter- einander. - Ambient Assisted Living setzt auf elektronische Kontrolle von älteren Menschen. Die “Überwachung von Oben” – “sur-veillance” – wird erweitert durch “Selbstvermessung von Unten” – “sous-veillance” (Selke 2015). Für das Thema “Medienpädagogik” stellt sich die Frage, um welches “mediale Selbst” sich Pädagogik bemühen sollte? Gibt es überhaupt ein Konzept des medialen Selbst, das diesen schwer zu beobachtenden Anpassungsbilanzen als Lernbilanzen nahe genug kommen kann? Es wird nicht reichen, von gestörten Lern-Ziel-Bilanzen zu sprechen (wie dies unter folgenden Beobachtungsstandards erfolgt: content standards, curriculum standards, opportunity-to-learn- standards, performance-standards, output-standards). Oft wird damit noch ein Perfektionsmaß oder ein Maß der möglich gemachten individuellen Anpassungs- und Lernleistungen einge- führt. Übersetzt in pädagogische Praxis, wird das Maß zum Maßstab, prüfbar, benotbar. Dieser Maßstab setzt logisch voraus, dass er gegenüber einer Messkontinuität oder Normkontinuität formuliert werden kann, – und damit selbst Kontinuität gewährleistet. Und gerade dies wird durch big data (hier als vereinfachtes Konzept angeführt) übersprungen. III Die Zusammensetzung von Daten- und User-Selbst zu diskutieren heißt, wissenschaftlich die aktuelle “funktionale Rolle des geistigen Selbst“ zu klären, wie dies im Eingangszitat von W. Prinz angesprochen ist. Die Arbeitsthese ist: Die gegenwärtigen Entwicklungen von Quanti- fying, Life-Logging, Big Data sind gegen diese Rolle des ‘geistigen Selbstʼ, ja gegen das Kon- zept eines ´geistigen Selbst´ gerichtet. Dabei ist zu bedenken, dass Selbst ein bürgerlich- mittelständischen Versprechen war, dem Institutionen beigestellt wurden, um Person und Ich im gesellschaftlichen Kontext aktiv zu machen und zu halten. Dieses sozial-organisatorische Gebäude wankt. Selbst ist keine normativ und funktional klare Adresse mehr. Daten, Informa- tionen, Vernetzung, Instantaneität, Netz, Netzwerke, Abo-Leben und etliches mehr haben die Konstruktionsbedingungen für ein Selbst verändert, – vor allem durch die User-Menschen selber. Tweets, Selfies, Blogs, Facebook, Foren, Kommentare haben ein Broadcasting-Selbst entstehen lassen. Like it or dislike it. Das Self-Broadcasting hat kaum mehr Bezüge zum typo- grafischen Selbst, zu den Zeit- und Kausalitätsvermutungen, mit denen ein reflexives und ge- sellschaftliches Selbst sich befassen musste. Was folgt? Welche Selbst-Typologie, welche Selbst-Topologie? Ich stelle dem Thema ‘Selbstʼ den Spruch von Jim Gemmell (Microsoft Research) gegenüber: “Itʼs all about MYself”, womit er die sich ausbreitenden Nutzungen von Lifelogging-Software ansprach. Diese Selbstvermessungsszene leitet weltweit eine nicht umkehrbare Veränderung des Konzeptes des (typografischen, industriellen, institutionellen, bürokratischen, demokrati- 38 Manfred Faßler schen, gesellschaftlichen) Selbst ein. Da wir “blinde Flecken in unserer Wahrnehmung und Lücken in unserer Aufmerksamkeit” hätten, so Garry Wolf in The Data-Driven Life, einem Manifest zur datentechnischen Selbstüberwachung (Selke 2015), solle der mangelhafte Körper durch Datenmaschinen verbessert werden. A. Gehlens merkwürdige These vom halbfertigen, defizitären biologischen Menschen kommt da in Erinnerung (1940 / 1961). Selke sieht darin einen Rückbau des sozialen und strukturellen Außen, den er mit dem Termi- nus Endogenisierung des Selbstkonzeptes belegt, mithin auch der Überwachung und Kontrolle. Ein wenig erinnert dies an M. Foucaults “Dispositive”. Denkbar ist, dass damit ein anderer Prozess verstärkt wird: ein Abschied von der modernen, aufklärerischen Umgebungsbindung des Selbst, ein disembedding (A. Giddens ), eine Strategie der Diskontinuität, des Zwangs zu ruhelosen Korrelationen, zur Schwächung der Unterscheidungs-, Entscheidungs- und Wider- standsfähigkeit. An deren Stelle sollen Unterscheidungs- und Entscheidungsmaschinen treten, unsterbliche Speicherstrukturen, die den einzelnen Menschen von seiner (lückenhaften, selek- tiven aber das Selbst begründenden) kognitiven Erinnerung entlasten: ein Selbst-Abo/Assistent im automatisierten ‘communication designʼ entsteht. So wird am Konzept des Selbst ein Machtkonflikt sichtbar: Erinnerung und kognitiv erforderli- ches vergessendes Verarbeiten versus Total-Speicherung, Kausalität versus Korrelation, ler- nende Veränderung versus lückenloser Selbstdokumentation, zivilisierte Großzügigkeit versus rigider, datentechnischer Kleinlichkeit. Dies ist, sozialtheoretisch gefasst, ein Konflikt zwi- schen der (modern) gebildeten Mittelschicht und der Global Middle Class der Social Networks und Big Data. Aber für die zuletzt genannten nach-gesellschaftlichen Sozialstrukturen gibt es bislang weder Kultur-, noch Sozial- oder Selbstkonzepte. Hinzu kommt, dass die Kritiker der ´Selbst-Überwachung´ durch Netznutzung, wie Selke / Wolf (s. o.), in ihrer Konzentration auf den ‘Körper des Menschenʼ oder ‘den Menschenʼ, nicht nur dessen multiplen Sozialkodes unterschlagen, sondern auch seine koevolutionären Entwicklungen. Weder ‘Menschʼ noch ‘Selbstʼ gibt es ‘frei Hausʼ oder ‘all inclusiveʼ. Informationsökonomisch lässt sich deshalb fragen: Warum soll ab jetzt selektive Erinnerung mangelhaft sein? Wer definiert Vergessen als Mangel und warum? Warum sollten wir alles erinnern müssen, was als unabsichtliche, zufällige, im Moment unbedeutende Ereignis-, Pro- zess- oder Verbunddaten registrierbar ist? Gerade dafür ist das evolutionär aktive Gehirn nicht ausgelegt. Sollten wir in eine totalitäre Struktur endloser Daten-Gegenwart investieren, in der Menschen auf das zeitlich-kontingente Werden ihrer individuellen Zukunft ebenso verzichten (müssen), wie auf die Chancen unsicherer, sicherer, kreativer, lebensdienlicher Zukunft? Restlose datentechnische Lebensdokumentation ist nicht nur formale, additive Quantifizierung. Es ist ein aggressiver Anspruch, der keinen Rückzug, keine Notizen, keine frei mitgeteilten freien Gedanken mehr kennt; im Kern ist es die Verkümmerung des alten Selbstkonzepts ohne eine humanisierende Fortschreibung. Weder der biographische, noch soziale und kognitive Nutzen einer solchen Strategie ist erkennbar. Menschen müssen diese neu erfinden, und zwar gegen den Imperativ der User-Architektur (s. u.). In ihr wird auf Auszeiten, Denkpausen, auf Schmierzettel, auf brain-storming verzichtet. Selbst wird nachgereicht, als zeitverschwendende, überflüssige Diskursgröße, selbstverständlich. Broadcast Your Self, yourself 39 IV Was also ist mit Selbst – und mit dessen Veränderung – gemeint? Um die Reichweiten dieser Veränderung zuordnen zu können, gehe ich sehr kurz auf einige Grundaspekte des bislang vermittelten Konzeptes eines ´Selbstʼ ein. Sie sammle ich unter klassisch / kausal / kommuni- kativ. • Soziologisch, philosophisch, psychologisch beschreibt der Terminus Selbst adaptiv- erlernte und individualisierte Fähigkeiten eines Menschen, sich innerhalb einer exis- tenziell vorgefundenen, fremdorganisierten Welt zu positionieren, sich erkennbar, wiedererkennbar darzustellen. • Die wissenschaftlichen Bemühungen zielten auf ein Selbst, das durch Anpassung an Handlungs- und Positionsalternativen ‘sich hervorbringtʼ. Die Alternativen sind struk- turell, systemisch. Die dadurch mögliche disziplinierende ‘Selbstbildungʼ, die N. Elias “Konfiguration” nannte, bringt bestimmte Wahrnehmung, Entwurfsfähigkeit, Ent- scheidungs-, Kollaborations- oder Konfliktfähigkeit (G. Simmel) hervor. Dem Einzel- nen ist Anpassungs- und Variationsfreiheit überlassen. • Diese Chancen sind positiv formuliert und sind hoch bewertet im (normativ eingesetz- ten) Terminus ‘Selbstbestimmungʼ. • Selbst ist, so betrachtet, keine Norm ‘in sichʼ, sondern ein Potenzial. Dieser Potenzial- begriff begleitet Erziehung, Konkurrenz, Kooperation. Selbst ist weder Substanz noch Null. Es bewährt sich als kognitives und kommunikatives Konzept in den komplexen Systemen industriell-bürokratisch organisierter Gesellschaften. • ‘Selbstʼ ist, im klassisch-modernen Verständnis, demnach an Soziogenese gebunden, ist ‘eingebettetʼ (A. Giddens), strukturell gekoppelt (N. Luhmann), systemisch (S.J. Schmidt) oder ein symbolischer Interaktionszustand (G.H. Mead). Dies kann hier nicht vertieft werden. • Angesprochen ist damit, dass das ‘Selbstʼ über Rolle, Aufgabenstellungen, Status, Kollaboration, wechselseitige Abhängigkeiten, ständige Rekonfigurierung (N. Elias) auf eine Zusammenhangsidee bezogen ist, die wir für gewöhnlich als ‘Bedeutungʼ an- sprechen. • Dieses (in der Selbsteinschätzung) ‘bedeutende Selbstʼ wird durch die Datengenese eines technologisch aktualisierten Selbst, durch Big-Data-Konzepte, entmischt. Von Kontinuität, unterscheidender Selbsterinnerung keine Spur. Kausalität wird durch Korrelationseffekte ersetzt, oder soll durch diese ersetzt werden. Dies blockiert wis- senschaftlich (und auch individuell-biografisch) die Chance eines komplexen Ver- ständnisses von Selbst. Lokalisierendes, geistiges, von sich aus begründet unterschei- dendes Selbst wird ‘unmöglichʼ, verliert seine Potenzialität. 40 Manfred Faßler • Die Reduktion von ‘Selbstʼ auf Datenströme (und damit die Abkehr von Information als gedeutete, begründete, ‘verdichteteʼ Datenorganisation) blockiert die wissenschaft- liche Erforschung systemisch entstehender Intelligenz. Wie stark das gesellschaftsintegrierte Konzept des Selbst damit angezählt ist, wird sich zeigen. Unruhe genug gibt es bereits. Ungewissheit darüber, wie lange es mit den Konzepten Ich, Selbst oder Identität noch gut gehen wird, wie lange sie als Bindemittel für einzelmenschliche Selbst-Organisation dienen können, ist offensichtlich. Bei Wolf und Gimmell ersetzen fehlerlose Datenströme als ‘weiche Technologieʼ die Maschi- nentechnik des Industriezeitalters. Der datentechnische total recall sickert als proto-soziale und vor-körperliche Allpräsenz in die Selbstkonzepte ein; sie werden zu deren Baumaterialien. Aber es zeigt sich wissenschaftliche Kritik. Ein interessantes Spannungsverhältnis ist entstan- den. Immer häufiger wird versucht, einem in sich unplausiblen Technikdeterminismus dadurch zu entgehen, dass entweder ein konstruktivistisches Subjekt (W. Prinz), Kollektiv (W. Prinz 2014; D. Baecker), Kooperation (J. Bauer 2010), Calculation and Contingency (B. Trigger 1998), Altruismus, Sharing, Antizipation und Empathie (Tomasselo 1999), kollaborative, symmetrische Netzwerke (B. Latour; M. Callon) oder die ‘soziale Eroberung der Erdeʼ (Wilson 2013) besonders positiv bewertet werden. V Diese Kritiken und Entwürfe sammle ich unter transklassisch, korrelativ, kollateral, kontin- gent, komplex. Sie haben sehr viel mit veränderter Sach- und Dinglichkeit (auch der Dinge, die im Internet nach IP v 6 ihre ‘Adresseʼ haben) unserer Welt zu tun. Gegen den Druck von gut 10.000 Offline-Dingen, die den europäischen, us-amerikanischen, japanischen Menschen konfiguieren, gegen über 440 Milliarden Websites, die die WayBack- Machine inzwischen für die letzten vier Jahrzehnte gespeichert hat, gegen Millionen von Da- tenuniversen, die uns erfassen, gegen Milliarden täglich versandter Tweets und Selfies, gegen all diese offensive Technopräsenz wird opponiert. Nicht als Verweigerung, sondern wohl eher als Vorschlag für einen veränderten, also historisch neuen Entwicklungsvertrag zwischen ‘derʼ Gesellschaft und ‘demʼ Individuum. Der alte Gesell- schafts-Vertrag war europäisch und bürgerlich, christlich und humanistisch. Unklar ist, was davon zu retten sein wird, was gerettet werden kann. Klar ist dafür, dass alle Bestrebungen darauf verzichten müssen, dem einzelnen Menschen (und der Gattung) genetisch kodierte Auf- gaben- und Zielpakete zuzuweisen. Kein Gehirn ist zum lesen oder zählen entstanden, wohl aber durch diese Fähigkeiten zum “social brain” (R. Dunbar) geworden. Keine Hand hat als genetisch-evolutionäre Zielfunktion schreiben, schlagen, Straßenverkehr regeln, Eier kochen, Koffer packen, Haare kämmen. Die menschlichen Fähigkeiten sind genetisch möglich, werden aber erst epigenetisch zu Funktionen. Broadcast Your Self, yourself 41 Alles, was wir als menschlich erkennen und verstehen, ist der koevolutionären Selbstorganisa- tion und ebensolchem Eigensinn zuzuschreiben. Weder gibt es ein determinierendes geneti- sches Vorher, noch ein lenkendes, essentielles Außen, noch ein vorherbestimmtes, von Ent- scheidungen unberührtes (teleologisches) Ziel. Selbst ist eine Figuration der Kommunikation und des Medialen. Wir erleben und praktizieren die Transformation des medialen Selbst des gedruckten, verlegten, gebundenen Schriftselbst. Dies ist durch die Aktualität datentechnologischer Entwicklungen bestimmt. Dabei handelt es sich nicht mehr um die Frage, ob und wie einkanalige Massenmedien funktionieren, oder, etwas avancierter gefragt: Wie Menschen sich in informationstechnologischen Netzen zu Recht finden, wie sie und in welcher Menge sie Links herstellen, ob und wie sie sich ‘präsentʼ ma- chen. Die früher einmal gestellte Frage: ‘Wo bin ich, wenn ich online bin?ʼ wirkt gegenüber den Surveillance-, Souveillance-, Big Data-, Lifelogging-Themen naiv. Nun, es gab eine Zeit, da war diese Frage neu, richtig und seriös. Diese ist vorbei. Derzeit bewegen sich 3,4 Milliar- den Menschen täglich in teleoperativen Ordnungen, in denen sie ständig lokalisiert, in ihren Bewegungen registriert und verfolgt werden. Menschen sind datentechnisch an ihre Vergangenheit gekoppelt, ohne eine selbstbestimmte Zukunft zu haben. Kopplung heißt Konfiguration, und - sie besteht in den Körper-Verträgen, die mit über 100 Billionen Clicks am Tag ge- schlossen werden, - und in den Sozialverträgen, in die milliardenfach User einwilligen, wenn sie die Allge- meinen Geschäftsbedingungen der Medienanbieter bestätigen, – wieder mit einem Häk- chen und Click. Diese Nutzer-/Nutzungsverträge leiten in ein neues bio-politisches Paradigma über: Privatisier- te Medien und biologische Individuen (egal wo sie leben) entwickeln einen eigenständigen systemischen Zustand. Er wird durch eigenlogisches operatives Schließen immer weiter gefes- tigt. Victor Schönberger & Kenneth Cukier formulieren treffend: “And again, the real revolu- tion is not in the machines that calculate data but in data itself and how we use it” (2013, S. 7). Sie benennen die Verarbeitungsweise: “55 trillion links either automatically generated or by algorithm-body connectivities“. Diesen “algorithm-body-connectivities“ möchte ich einige historisch-evolutive und einige nutzungs-theoretische Gedanken widmen. Genau genommen finden wir unsere Körperdaten nicht in irgendeiner Digitalisierung wieder, sondern in der Algorithmisierung der Welt. Menge, Geschwindigkeit, Schaltungszeit und Speichergröße, Konnektivität, Korrelationen bestimmen die Zustände: “The change of scale has led to a change of state” (a.a.O., S. 8). Es entsteht User As Non-Person Politics. Selbst als Teil überlieferter (typografischer, industrieller, vernunftide- aler, ordnungsaffiner) Heuristiken ist kaum mehr zu finden. Diese Debatten um den Wechsel zwischen dem operativen zum apparativen Selbst des Men- schen sind schon seit dem Turing-Test in Gang. Ihre aktuelle Pointe ist: Wenn der Mensch 42 Manfred Faßler nicht mehr zwischen operativem und apparativem Selbst unterscheiden kann, bedarf es keines Turingtests mehr. Anderenteils ist dies mit der Frage verbunden, wie weit sich das operative Selbst des Menschen auf ein anonymes Selbst einlässt. Dass dies bereits im Gange ist, lässt sich an der unbegründe- ten Lässigkeit erkennen, mit der von ‘userʼ gesprochen wird, angefangen beim ‘graphical user interfaceʼ, über ‘user-Kontenʼ, ‘User-Namenʼ, bis ‘User-Generated-Contentʼ. Weltweit wird zwar von Social-Networks gesprochen, aber es ist ein Soziales, das Biologen und Informatiker gerne mit Ameisen, Termiten, Nacktmulchen oder Bienen verbinden: genetisch determinierte Eu-Sozialitäten. Man sollte das abstrakte, indirekte, koordinierende, kollaborative Soziale nicht auf diese Weise kastrieren, sondern die enormen Erfolgsquoten menschlicher Selbstorganisationen ernst neh- men. Und diese hängen an dem, was ich an anderer Stelle (2014) als Zusammenhang von me- dialem Selbst und Sozialem 3. Ordnung angesprochen habe. Gegenwärtig führt die Selbstan- wendung von Informations- und Computertechnologien auf alle überlieferten Sozialverhältnis- se dazu, dass - das mediale Selbst, das Ich- und Selbstmodellierungen ermöglichte, - über das operative Selbst, den User, - in die Situationen einer medientechnischen Anonymität (oder auch sozialen Banalität), oder in das unschöne Dilemma eines anonymen Selbst. Es ist so konfiguriert, dass es zu den Echtzeit- und Sofort-Reaktionen passt. Seine Struktur ermöglicht es, sich ständig anwesend machen zu können in raum-zeitlichen Zuständen, die ‘abgerufenʼ werden. Das anonyme Selbst verbündet sich mit dem ‘broadcasting Selbstʼ des Users. Stand noch in Industriegesellschaften die Frage nach deren Bedeutung im Zentrum, stets verbunden mit der Warheits-Welt der Texte und nationalen Institutionen, so wird in Informati- onsdynamiken nicht nur Hermeneutik gegen Heuristik getauscht. Diese akuraten Modelle strukturierter Welt werden durch skalierte und nicht saklierte Netzwerke, deren dynamischer Konnektivität ständig umgestürzt. VI Aufschlussreich für die Richtungsdebatten um globale, medien-technologische Vernetzungen und Dynamiken ist, dass sie von tradtionellen Kategorien des Wissens, der Willensfreiheit und der Bildung begleitet werden. Für manche ist unentschieden, ob dies eine Neuauflage von Individualisierungserklärungen oder Kollektivierungsansprüchen erfordert. - Im Gegensatz zu einer an M. Weber orientierten Denkweise, die Handlung immer auf individuelles Einzelhandeln zurückführt, setze ich vorläufige, anonyme, serielle Daten- User-Gruppen als Akteure an; Broadcast Your Self, yourself 43 - im Gegensatz zu klassischen Kollektiv-Modellen, die riskant mit Authentizität spielen (Michael Rössner, Heidemarie Uhl mit “Renaissance der Authentizität”; neuerdings auch Dirk Baecker), verwende ich Daten-User-Gruppen als ein Passagenmodell. o Eine Kosmetik des Handlungs-Begriffs ist nicht vonnöten. Wir benötigen eine Theo- rie des Passierens, oder auch eine Infrastrukturtheorie des Geschehens. Empirische Grundlage dafür ist die Emergenz von Aktivitätszuständen. o Aktivität weist auf sich verändernde Zustände der gegebenen ‘Verhältnisseʼ hin. Übersetzt man ‘Gegebenʼ mit sozio-technisch ‘vorgefundenʼ, ‘geerbtʼ, lässt sich Ak- tivität als gattungsgeschichtliche Dimensionen beziffern. o So betrachtet ist Aktivität evolutionär gekoppelt. Die Anforderungen an ein Denken, welches sich selbst in der Infrastruktur des Geschehens konzipiert, das soziotechnische Datenkollektive als Akteure anerkennt, lassen sich schwerlich abweisen. Umso mehr überrascht der Hang, dem einzelnen Menschen eine Sonderstellung innerhalb der ökologischen, industriellen oder medientechnischen Nische zuzusprechen, die sein Denken, seine Wahrnehmungen erst möglich machen. Informationstechnologien, Informa- tions- und Kommunikations-Technik, oder auch Human-Computer-Interaction kommen sehr gut ohne klassische Individualisierungsrhetorik oder sozialethischen Anforderungen klar. Die Zusammenhänge, die von Menschen programmiert werden, werden aktions- und schaltungs- spezifisch entworfen, aber individualitätsfrei gedacht. - Erst die Nutzung fügt einen nicht-eindeutigen Zustand hinzu, - den einzelnen Men- schen. Und dieser anonyme Mensch wird als konfigurierbar gedacht, – repräsentierbar durch seine Clicks. o Ein Rückgriff auf z. B. Mancur Olson: “The Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory of Groups” (1965) und daran anschließende Gruppentheorien hoffen auf vor-mediale Gruppen. o Das sollten wir aber rasch vergessen. o Allenfalls ließe sich die anonyme Netzfreundschaft in Abhängigkeit von User-/ Pro- jekt-Communities ansprechen. Der weltweit durchgesetzte Terminus ist User, wie schon angesprochen. User ist eine techni- sche oder betriebswirtschaftliche Kategorie, - radikal entlastet von soziologischer Gliederung nach I / Me / Self, - wie sie George Herbert Mead in seinem symbolischen Interaktionismus darlegte, - auch freigestellt von den Anforderungen, symbolisches, soziales oder kulturelles Kapi- tal zu repräsentieren, - wie dies noch von Pierre Bourdieu vorgeschlagen wurde. User beschreibt den einzelnen Menschen als Input-Output-Schalter. 44 Manfred Faßler Er ist weder für Input verantwortlich, noch für Output. Dies ist in einer überraschenden Gleichzeitigkeit zweier Zustände begründet. - Der eine besteht in datentechnologischen Netzwerken, in denen Verbunddaten (Big Da- ta) nur dann zu sozialen Interaktionsketten oder Netzwerken werden, wenn ihre errech- neten Weltangebote für den Moment anwendbar sind. Anders formuliert: anwendbare Inhalte entstehen erst in der korrelierenden Nutzung von Daten. Vorher sind sie ‘un- praktischʼ. Die Erwartungen gegenüber einer normativen und institutionellen Kontinui- tät und Stabilität gehen an den Informations- und Medientechnologischen Zuständen vorbei. Die Welt, die wir meinen und nutzen, findet als Daten- und Dinge-Welt statt. - Der zweite Zustand betrifft den einzelnen Menschen. Weder hat er, noch besitzt er ein vorbestimmtes Rollenset, ist keinem Rahmenwerk angepasst, das eindeutige Statusrefe- renzen oder Funktionsbezüge garantiert. Die theater-nahe Rollenformulierung von Ervin Goffman greift nicht; auch die Konzepte der funktionalen Differenzierung gehen ins Lehre. Beides: Netz und User weisen auf eine schwierige soziale Verfassung hin. Ich verwende für ihre Beschreibung den Terminus des Mehrkörperproblems, das aus der Phy- sik bekannt ist und darauf hinweist, dass dieselbe Information, kombiniert mit anderen, immer wieder zu neuen ‘Körpernʼ führt, zu verschiedensten Anschlussmöglichkeiten, zu ständig wechselnden Deutungs- und Bedeutungsversprechen. Angedeutet hat sich dies bereits im The- ma der “milles plateaus” bei Gilles Deleuze. Die heutigen Prozesse lassen aber nicht mehr die freudigen Debatten um eine zu begrüßende offene Vielfalt zu. IT-Netze und ihre Durchgangsformate, die Netzwerke, machten weltweit agierende Datentrusts und Informationsmonopole möglich, in denen markt-aggressive Kontext-Produktion und Kon- text-Steuerung durchgesetzt wurden. Darauf möchte ich mich aber heute nicht beziehen. In derselben Weise wichtig sind die weltweiten Anstrengungen, eine globale Akteurs-Figur zu erzeugen, die nichts mehr mit i.w.S. moderner, bürgerlicher Privatheit, Individualität, Öffent- lichkeit zu tun hat, aber auch nichts mehr mit den institutionellen Regeln von Beteiligung, Funktion, Repräsentation. Unter den Leitkonzepten der “internet readyness”, der Entwicklung einer ICT-basierten Globa- le Middleclass, der zahllos möglichen User Generated Contents, entstehen - netzintegrierte Projekt-Sozialitäten (poly-soziale IT-Netzwerke) - hunderttausende von informationsbasierten / netzintegrierten Lebensbereichen (Online- Offline-Habitaten) - und die globale Standardisierung eines Menschenbildes, das über datenintensives und komplexitätssensibles Agieren (= Using) bestimmt wird. Dabei steht, aus meiner Sicht, nicht Biopolitik im Vordergrund. Die IT-Universal- und Quer- schnittstechnologien stellen in gleicher Weise herkömmliche Körper-, Bio- und Dingkonzepte Broadcast Your Self, yourself 45 in Frage. Vermutlich werden wir uns auf IT-gekoppelte Ding- und Sachverhältnisse einstellen müssen, um die Durchsetzung eines überall auf der Welt aktivierbaren Medien-Selbst erfassen und erforschen zu können. VII Ich verstehe diese Entwicklungen eines informations- und vernetzungskompetenten Menschen (statt kommunikations- und wissensintegrierten Menschen) nicht per se als humanitäts- belastend (oder traditionell: als entfremdend). Die Zustände informations- und vernetzungskompetenter Lebenszusammenhänge sind das, was Menschen aus sich und ihren Umwelten machen. Anthropologisch moderne Menschen- Gruppierungen treiben ihre indirekten Beziehungs- und Entwurfsmöglichkeiten voran. Es ist sehr schwer nachvollziehbar, in den sozial, technologisch und kulturell veränderten Bedingun- gen der Anwesenheit und Teilnahme eine “Entfremdung des Menschen von seiner unmittelbar irdischen Behausung” (Arendt 1981, 247) zu sehen. Mit der neolithischen Revolution ist das ‘unmittelbareʼ, ‘direkteʼ Soziale zweite Wahl der Menschheitsentwicklung. Es tritt hinter Zah- len, Verwaltung, Schriftzeichen, Bildzeichen, Schriftwissen, Schriftrecht, Rechenregeln zu- rück. Geistige, technische, semantische, soziale Entwicklungen ermöglichen es erst, die Frem- de, das Andere, die Ferne zu begreifen und zu betreten. Dass damit viele Fehlentscheidungen verbunden waren und sind, hebt den dinglichen, abstrakten, technischen, materialen Entwick- lungsstatus nicht auf. Es gibt keinen singulären Sinn des menschlichen Denkens. Es ist multi-sensorisch, multi-mo- dal und einer unvorhersehbaren Menge sozialer Zustände eigen. Geist, Wissen und Bildung sind keine ewigen Größen, - auch nicht in der Behauptung “unmittelbarer irdischer Behau- sung”. Die Veränderungen, in denen wir uns aktiv bewegen, die mit uns erzeugt werden, lassen sich als Umformung der Distinktionsregeln beschreiben: - vom Ich als Marke - zum Selbst als Informationsserie. Genau betrachtet ändern sich nicht nur die Regeln der Unterscheidung, Zuweisung, der Aner- kennung einer Position in sozio-technischen Gefügen. Da Unterscheidung innerhalb der wa- renwirtschaftlichen Zusammenhänge immer Konkurrenz und Konflikt heißt, werden die Dis- tinktionskämpfe neu gefasst. Von der unverwechselbaren Marke Ich zum technologisch- dinglich gekoppelten medialen Selbst. Dieses Selbst macht sich mit jeder echtzeitigen Schal- tung anwesend, abhängig vom Zuspruch der Dinge, des Netzes, des Sozialen Netzwerkes, der Milliarden scheinbar befreundeter Daten (Transferadresse als Freund). 46 Manfred Faßler Beim Ich zeigte sich die Norm der Individualisierung als Kult des Besonderen, das sich “vor allem im Glauben an die nahezu unbegrenzte Fähigkeit des Einzelnen” ausrichtete, “sein Leben nach eigenem Entwurf zu gestalten” (Bröckling 2000, S. 158). Man kann es einen logischen und einen gebildeten bürgerlichen Kurzschluss nennen, so zu tun, als ließe sich das denkende Ich ‘in sich selbstʼ begründen. “Warum sieht der Mensch die Dinge nicht”, fragte Friedrich Nietzsche (1988, § 438). Seine Antwort: “Er steht selber im Wege: er verdeckt die Dinge”. Epistemologisch sind die Gegensätze von Ding und Denken als solche in der Phänomenologie und im Konstruktivismus bearbeitet (Maurice Merleau-Ponty; Bernhard Waldenfels; Käte Meyer-Drawe). Es wird nicht genügen. Denn die algorithmischen Bedingungen der IT-Netz- werke haben die Sperren zwischen Ding und Denken weggeräumt. Denken ist Moment der Dinge geworden – und umgekehrt. Es ist deshalb einesteils schlüssig, vom Internet der Dinge zu sprechen. - Dabei gehe ich weiter, als der gegenwärtige Konsens. Es sind nicht allein die Sillionen Internet-Protokoll-Adressen, die durch IP v 6 möglich sind. Form und Status des Den- kens und der Dinge gehen in dem kognitiven und dinglichen Status der Daten zusam- men. - Dieses ‘zusammen gehenʼ meint nicht nur Konvergenz und friedliches Spazierengehen. Es spricht an, dass die Distinktionskonkurrenzen nicht mehr zwischen Individuum und Ding erfolgen, – wobei ein positives Verständnis von Individualität in der strikten Wei- gerung und Ablehnung bestand, verdinglicht zu werden. - Distinktionskonkurrenzen werden zu Korrelationskonkurrenzen, zum Wettbewerb um schnellere, präzisere, usernahe Angebote und Anwendungen. Die drei Dʼs: Dinge – Daten – Denken zeigen an, dass 50 Jahre nach der gesellschaftlichen Einführung der Computernetzwerke, die Reichweiten von rechnenden Abstraktionen in jeder Gesellschaft angekommen sind, dass Soziales über diese Ökonomie der zeitlichen und räumli- chen Reichweiten hervorgebracht wird. Was wir heute als Smart, intelligent, als Cyberspace, als Cyber Physical Systems oder als Phy-Gital bezeichnen, ist eingefasst in dieser datentechni- schen Neufassung von Dingen-Denken-Daten. - Es könnte sein, dass Sprache und sprachliches Denken zurückverlagert werden in Mate- rialität, in Dinge. o Verlegte Geschichte, wie Michel Serres (1994, 147) schrieb, “ihr Interesse von der Realität auf die Sprache, von der Sache auf das Zeichen und von der Energie auf die Information”, so ist nicht auszuschließen, dass derzeit die Verhältnisse zwischen diesen nicht nur neu verhandelt werden. o Die anorganischen und organischen Bedingungen des unterscheidungsfähigen Den- kens und Entwerfens werden weltweit neu zusammengesetzt. Damit wird es mög- lich, dass Denken sich über diese Rückverlagerung in die Präsenz der gegenständli- chen und ungegenständlichen Dinge neu beobachten lernt, – sich vom überzeitlichen Broadcast Your Self, yourself 47 Tonfall unbedingter Individualität löst, und sich als permanent informationsabhän- gig, bedingt verstehen lernt. o (Kleine Anfrage: was bedeutet die Tatsache, dass Google für seine Suchmaschinen 450 Millionen unterschiedlichste mathematische Modelle getestet hat, für die Rela- tionen von Denken-Daten-Dingen?) Denken muss sich seinen Erfindungen widmen, seinen Verdinglichungen, ohne die es keine Bedeutung besäße. Denken muss als historisch-evolutive Erfindung entziffert werden. Käthe Meyer-Drawe spricht an, dass wir “nicht in einer Welt bloßer Gegenstände” leben, “vielmehr in expressiven Milieus, die durch Dinge mitgestaltet werden” (2008, 176 f). VIII Eine Neufassung des medialen Selbst muss sich den Technologien, Abstraktionen, den Nut- zungsgewohnheiten, der Sozial- und Individualorganisation (beides als systemische Selbstor- ganisation) ebenso zuwenden wie den aktuellen Erfindungen und Veränderungen. Dabei geht es einesteils um die Kurzzeitgenerationen von Maschinenkodes, Speicher-, Darstellungs-, Ver- knüpfungssoftware, um Clowds und Apps; und es geht um Wünsche, Empfindungen, Erwar- tungen, individuelles Selbstverständnis als Akteurin oder Akteur, als Agentin, Konsument, pseudonymer Partner oder Klarnamen-Community. In allen Fällen lässt sich die Frage nach den Fremd- und Selbstzuschreibungen stellen, mit denen innerhalb der Datenmedialität es möglich wird, dass man mit anderen unterhaltsam kommuniziert, zusammenarbeitet, lernt, Probleme löst, Probleme formuliert, über die man ausgeschlossen, verbrannt, beobachtet oder freudig begrüßt wird, – mit dem Ausgangsdual like / dislike. Es gibt also eine Menge ungeklärter Verhältnisse. Z.B.: Soziales 3. Ordnung und Selbst als Identitäts- und Dauerversprechen. Nach vier Jahrzehnten, in denen daten-, informations- und medientechnologische Transformationen gestaltet und erforscht wurden, in denen ein mediales Außen (‘exterriorʼ von J.v. Neumann über M. McLuhan bis zu V. Flusser) angenommen wurde und Interface-Theorien die vermeintlichen Kontaktzonen zwischen Mensch und Medien sor- tierten, stellen sich medienevolutionäre Fragen Zeit anders: nicht mehr körperliches, sinnliches Außen oder Hybrides, das der ´Originalität´ eines imaginierten Menschbildes widerspricht, nicht mehr (da-)zwischen oder inter sind die Ordnungsbegriffe. Mediale Prozesse werden kon- stitutiv mit evolutionären menschlichen Fähigkeiten verbunden, mit lernender Unterscheidung, mit entwerfender Veränderung, Experiment, Konflikt, Dominanz, Vergessen, Zurücklassen. Erfundene semiotisch-materiale Umwelten werden als “Endo-Welt” (O.E. Rössler), als “intra- aktiv” (K. Barad), als koevolutionär (Ch. Lumsden; M. Faßler) angesprochen. Mediales wird, - in der heute radikalsten Fassung der höchst variablen ‘Big Dataʼ – Prozesse –, als Intelligenz- netzwerk des Menschen verstanden, als nächster kognitiver Verwandter des Menschen. Nicht mehr M. McLuhans “exteriorisierte Medien”, sondern mediale Sozialorganisation als “exten- ded phenotype” (R. Dawkins). 48 Manfred Faßler In einer Untersuchung des IBI (Forschungsinstitut für Finanzdienstleister) an der Uni Regens- burg, über “Digitalisierung der Gesellschaft 2014” las ich, dass 58 % der Befragten aus Wirt- schaft und Berufsleben davon ausgehen, dass Digitalisierung die Arbeitswelt beeinflusse, 13% vermuteten dies auch bei Wirtschaft, 2% sahen Einfluss bei Bildung und 0% bei Gesundheit. Betrachtet man den Hype, der mit Industrie 4.0, mit den Smartness-Konzepten der Cyber Phy- sical Systems oder Phygital-Systems verbunden ist, zeigt sich in den 2% datentechnologischer Bildungs-Einfluss und 0% bei Gesundheit nicht nur Naivität. Die Zahlen drücken ein unge- schicktes, weil hilfloses Missverständnis aus, nämlich den Gedanken, dass Umwelten, zumal technogene und infogene Umwelten, vom Körper des Menschen ferngehalten werden könnten. Unterstellt wird damit, dass Technologie, Medien, Devices ‘das Andere sindʼ, dem Menschen fern. Entwicklungswissenschaftlich ist dies nicht haltbar. Technologie fände nicht nur am Körper vorbei statt, sondern ohne rekursive Wechselwirkun- gen. Dieses Selbst- und Körper-Verständnis ist nicht romantisch, sondern in einer nervigen Weise essentialistisch. Alles, was Menschen als Gattungswesen sind, sind sie nur durch ihre adaptiven, selektiv lernenden, verstärkenden, entwerfenden Verhaltensweisen. Sie sind ding- lich-gegenständlich ebenso hervorgebracht, wie kognitiv-geistig. Ohne die ständige Verände- rung semiotisch-materieller Welt wäre der genetisch-kognitive Körper eine Evolutionsbrache. Einfach gesagt: Ohne Zisterne gäbe es keine Festplatte, ohne Faustkeil keine Daten-Maus, ohne kollektive Religionssysteme keine I-Cloud, ohne Abstraktion kein Kalkül, ohne Domesti- zierung von Gräsern und Tieren keine Biopolitik des 21. Jahrhunderts. Nicht Linearität, nicht kausale Folgelogik ist damit angesprochen, sondern die sich fortwährend verändernden organi- schen und anorganischen Verhältnisse, die wir Leben und Lebens-Umwelten nennen. Sie ha- ben ‘in sichʼ kein Form-Ziel, bilden keinen Ideal-Zustand. Sie sind zusammengesetzt aus Ge- nen, biologischen und physikalischen Gesetzen, aus technischen Regelwerken, menschlich- sozialen Kollektiven. Und mit dem Menschen kommt etwas hinzu: in diesen Netzwerken aus Evolution, Entwicklung, Dingen, Umwelten sind biologische Individuen aktiv, die sich mit dem vorgefundenen nicht zufrieden geben, die unterscheiden, Unterschiede hierarchisieren, die entwerfen, verwerfen, gestalten, formen, verallgemeinern, – also abstrahieren und diese Abs- traktionen zu nicht-natürlichen Selbstverständlichkeiten machen. Ohne diesen ‘extended phenotypeʼ (R. Dawkins), der in jeder Millisekunde über die informati- onell-nervöse Lebendigkeit von Gene, Gehirn, Gesellschaft berichtet, könnte ich diesen Text nicht am Schreibtisch auf einem Computer schreiben, berichtigen, speichern. Mit früheren Schriften, früherem Schreiben, mit Notizen auf Papier, dem Papierkorb neben mir, meinem Schreiben durch die und auf der Tastatur etc. verfertigen sich meine Gedanken. Es ist eine Emergenz-Gemeinschaft, multisensorisch, polymorph und mit offenen Unterschieden ausge- stattet. Geschlossen werden diese erst in der Gruppe, in der Maschine, im Kollektiv. Um diese ´Offenheit´ geht es mir, um die Emergenz-Gemeinschaft aus Maschine, Medien, Körper, sozia- le Strukturen, Konflikt, Kooperation. Broadcast Your Self, yourself 49 Wird es möglich sein, eine Pädagogik so zu formulieren, dass sie - nicht der Situierung des Sozialen und der Kultur in der Innenwelt des einzelnen Men- schen und eines sie verbindenden kollektiven Geistes folgt, - nicht der reinen Repräsentation, - nicht irgendwelchen Mentalismus-Varianten? Ließe sich Pädagogik als Praxistheorie fassen, als “praktisches Wissen, ein Können, ein know how, ein Konglomerat von Alltagstechniken, ein praktisches Verstehen im Sinne eines ‘Sich auf etwas verstehenʼ”? Der Ort der Pädagogik wäre damit nicht der kollektive Geist, nicht die philosophische Selbstdeutung des Menschen, sondern die ‘sozialen Praktikenʼ: Die Dusche, der Kühlschrank, die Online-Zeitung, das Twittern, die Online und Offline – Recherche, etc. (Reckwitz 2003, S. 289) “Praktik” wird verstanden als “bestimmte […] routinisierte […] Be- wegungen und Aktivitäten des Körpers. ” (ebd., S. 290) Womit auch deutlich ist: “Die soziologisch gängige Gleichsetzung von ‘Sozialitätʼ mit ‘Inter- subjektivitätʼ erscheint nicht plausibel.” (ebd., S. 292) Pädagogik, zumal solche, die sich der Entwicklung des individuellen medialen Selbst ver- pflichtet, wird sich nicht (mehr) mit vermuteter Substanz von Bildung und Erziehung befassen können. Sie wird, um dem einzelnen Menschen ‘gerechtʼ zu werden, dessen Unterscheidungs- fähigkeit in einer Welt der ziellosen, komplexen, nicht-linearen Dynamiken fordern müssen. Dies heißt: Pädagogik des ‘erweiterten Phänotypsʼ betreiben, Organisation des Selbst (im Sin- ne der ich-, konkurrenz- und kollaborationsfähigen Selbstbegrenzung) als bereicherte Selbstor- ganisation in sozio-, bio-, infotechnischen Umwelten zu ermöglichen. Nur dies birgt die Chance, innerhalb der medientechnologischen Umwelten auf spezifische daten- und informationstechnische Mitwelten so zu reagieren, dass das Selbst als Lern- und Konfliktzustand des biologischen Individuums erhalten bleibt. Sollte dies nämlich nicht gelin- gen, würde die mediale Selbstbefähigung an ihren Produkten scheitern, an den hochflexiblen Zuständen der Big-Data-Logik wie ein nasser Sack oder Pudding abrutschen. Die mediale Selbstbefähigung verfinge sich im Markt und den quantifizierenden Logiken des ‘Lifeloggingʼ, des ‘Quantified Selfʼ, den Surveillance- und Souveillance-Strukturen. “Es wird jemanden geben, der sich dafür interessiert, welche Songs Sie unter der Dusche singen. Früher war es unmöglich, da es weder die Sensoren dafür gab noch die Vernetztheit, um alles aufzuzeichnen. Aber da es nun möglich ist, alles zu erfassen und zu katalogisieren, wird es vielleicht auch einen Shampoo- Hersteller geben, der in Echtzeit diese Informationen kaufen will. In diesem Sin- ne wird unser gesamtes Leben zu einem gigantischen Marktplatz.” (Morozov 2015, S. 15) 50 Manfred Faßler “Wenn der Mensch in Zukunft Teile seines Selbst in Maschinen wie etwa Robo- ter oder Drohnen auslagert, ist es durchaus von Wichtigkeit, ob und wie weit wir uns dabei selbst als Handelnde betrachten – und ein Bewusstsein für unsere Handlungen entwickeln oder diese den Maschinen zuschreiben.” (Matting 2014) Literatur Actor-Network Hypothesis Belliger, Andréa & Krieger, David J. (2006): Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. In: Belliger, Andréa; Krieger, David J. (Hrsg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: Transcript, S. 13–47. Kozinets, Robert V. 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Hans-Martin Schönherr-Mann Zusammenfassung Je nach Politikverständnis spielt die Medienbildung für die politische Bildung eine unterschiedli- che Rolle. Bei den zwei demokratischen Modellen hat die politische Bildung mit Partizipation zu tun. Doch nur das Konfliktmodell im Anschluss an Lyotard und Rancière betrachtet Medien und Politik als eine Einheit, so dass Medien- oder politische Bildung letztlich die so medial wie poli- tisch geprägte Wirklichkeit genealogisch und dekonstruktiv hinterfragen und sich nicht wie das Konsensmodell im Anschluss an Rawls und Habermas mit dem öffentlichen Vernunftgebrauch als Aufgabe der politischen Bildung zufrieden geben können, bei dem Medienbildung peripher bleibt. Neoliberal tritt die Ökonomie an die Stelle der Politik, hat auch Medienbildung nur einen ökonomischen Sinn. Ordnungsvorstellungen im Stile Platons – daran anschließend das konserva- tive Denken – oder Politik nach Carl Schmitt und Max Weber als Krieg betrachtet brauchen Me- dien- und politische Bildung nicht als Förderung der Mündigkeit, sondern der Untertänigkeit, hat für sie Politik nur wenig mit Demokratie zu tun. Einleitung Wozu Medienbildung? Um in der Ökonomie zu bestehen! Um den Alltag in einer media- lisierten Welt zu bewältigen! Um privat nicht zu vereinsamen, vielmehr um zu kommunizieren, somit sein Glück zu machen! Um die Früchte der Kultur zu goutieren! Um am Gemeinwesen zu partizipieren! Diese Reihenfolge verbunden mit abnehmender Wichtigkeit dürfte der Werte- hierarchie der meisten Zeitgenossen entsprechen, die eine neoliberale Epoche repräsentiert, in dem die Ökonomie nicht nur gegenüber der Politik einen zunehmend hegemonialen Diskurs entfaltet. Colin Crouch sieht darin “eines der ernstesten Symptome für den Anbruch des post- demokratischen Zeitalters, da der Aufstieg der Wirtschaftseliten mit einem Schwinden der kreativen Dynamik der Demokratie einhergeht” (2008, S. 70). Für jene jedoch, die wie Wolfgang Streeck und Oskar Negt diese Entwicklung für eine Gefähr- dung des Gemeinwesens halten, könnte sich die Frage Wozu Medienbildung? mit Als politische Bildung! beantworten lassen, um dadurch dem Prozess der Ökonomisierung zu widerstreiten. Denn so Streeck: “Mit einem demokratischen Staat dagegen ist der Neoliberalismus unverein- bar” (2013, S. 90). Aber lässt sich das Problem so einfach wie allgemein lösen? 56 Hans-Martin Schönherr-Mann 1. Die Beziehung zwischen Medien- und politischer Bildung 1.1. Der Neoliberalismus Offenbar nicht. Vertreter des Neoliberalismus werden diese Antwort bestreiten: Medienbildung brauchen die Menschen aus ökonomischen Gründen. Da die Neoliberalen den Staat minimie- ren wollen, ist politische Bildung marginalisierbar und hat mit Medienbildung nichts zu tun. Dann zielt Medienbildung auf ein pragmatisches Wissen und technische Fertigkeiten, die pri- mär ökonomisch verwertbar sind, damit sich die Zeitgenossen stärker für Ökonomie als für Politik interessieren. Medienbildung hätte dann einen entpolitisierenden Sinn, soll nicht poli- tisch, sondern unpolitisch bilden. Das aber wäre die richtige Politik, nämlich Ökonomie als Po- litik. Dieses Verständnis ist heute weit verbreitet und hat unter anderem zur Ökonomisierung des Bildungs- und Sozialsystems sowie des Gesundheitswesens geführt. 1.2. Autoritäre Politikverständnisse Doch einen ähnlichen Zweck der Medienbildung könnten Vertreter autoritärer Herrschaftsfor- men propagieren, für die politische Bildung das Ziel hat, den Bürgern zu vermitteln, dass Füh- rung und Einheit für den Erfolg des Staates unabdingbar sind. Daher wird in solchen Regimen kaum von politischer Bildung gesprochen, die nicht auf die Befähigung zur politischen Teilha- be abzielen soll. Dass die Medien dazu ihren Teil beitragen, sollte durch Medienbildung nicht unbedingt hervorgehoben werden. Unter autoritären Regimen hat weder politische noch Medi- enbildung aufklärenden Charakter. Entweder gibt es das so wenig wie im Neoliberalismus, oder sie verlieren ob ihres affirmativen Charakters ihren politischen, ist das Unpolitische poli- tisch. 1.3. Die Konsensdemokratie Für ein demokratisches Denken, das primär auf Konsens abzielt, soll politische Bildung dage- gen über die Funktion demokratischer Institutionen und politische Zusammenhänge aufklären, sowie ein kritisches Denken fördern. Dazu darf man dem Mainstream der Philosophie entspre- chend eine analytische Kompetenz addieren, damit der Bürger das politische Geschehen sys- temadäquat und rational zu verstehen in der Lage ist. Dazu gehört Medienbildung nur soweit, wie sie die wichtige Rolle von Medien und Meinungsfreiheit für die Demokratie vermittelt. Den meisten Vertretern dieses Politikverständnisses reicht es völlig, wenn die Zeitgenossen der medialen Wirklichkeit mit einer objektivierenden Kritik begegnen, die politische Interessen unterscheidet, politische Institutionen nach ihren Funktionen abklopft und die politische Spra- che weitgehend so nimmt, wie sie sich zu verstehen gibt. Dazu reichen dann allemal eine Ana- lyse der Fakten und eine kritische Würdigung von Zusammenhängen, nimmt man Medien und Politik weitgehend, wie sie sich selbst präsentieren. Da Medienbildung nicht die Aufgabe hat, die politische und mediale Konstruktion von Wirklichkeit zu analysieren, bleibt sie ein von der politischen Bildung getrennter Bereich. Medienbildung als politische Bildung 57 1.4. Die Dissensdemokratie Wer die Politik indes dissensorientiert begreift, der hinterfragt diese evidenten Zusammenhän- ge zwischen Medien und Politik: Konstruieren Medien die Wirklichkeit und auf diese Weise auch die Politik? Entfaltet umgekehrt die Politik ihre Macht primär dadurch, dass sie vermittels der Medien das Wirklichkeitsverständnis der Zeitgenossen prägt? Dazu braucht man medien- theoretische Zugänge genauso wie konstruktivistische Differenzierungen der medial gestalteten Wirklichkeit, die das Denken der Zeitgenossen prägt. Damit präsentiert sich Medienbildung als politische Bildung. Marshall McLuhan bemerkte bereits 1967, dass das Medium hintergründig die Wirklichkeit stärker prägt als der Inhalt, den es transportiert: “Das Medium ist die Botschaft. Das Medium ist verborgen der Inhalt offensichtlich. Aber die eigentliche Wirkung rührt vom verborgenen Grund her, nicht von der Figur.” (2001, S. 9) Das Medium konstituiert dadurch Wirklichkeit, dass es den Rezipienten anschließt, nicht dadurch dass es Inhalte vermittelt. Was in der media- len Welt inhaltlich passiert, mag Skandale auslösen, entscheidend ist, dass die Zeitgenossen sich freiwillig den medialen Systemen anheimgeben. 2. Was ist Politik und welche Rolle spielen die Medien? Damit ist das Verhältnis von Medien- und politischer Bildung zunächst oberflächlich gemäß gewisser Vorverständnisse umrissen. Aus welchen Hintergründen das jeweils so ist und ob sich dabei begriffliche Schemata verschieben, das gilt es anhand gängiger Politikverständnisse zu untersuchen. Dazu differenziere ich die Modelle von Politik etwas anders als zuvor. Denn in der Tradition der politischen Philosophie wird vornehmlich aus politischer Perspektive gedacht, nicht aus ökonomischer. So möchte ich auf das platonische Modell der Politik als Polizei oder Verwal- tung zurückgreifen; auf das konsensorientierte Modell im Anschluss an Rawls und Habermas; auf das am Krieg orientierte Modell von Carl Schmitt und Max Weber; auf das Konflikt- Modell im Anschluss an Dahrendorf, Lyotard und Rancière. Die beiden ersten Modelle unter- stellen, dass sich politische Konflikte durch Ordnungs- und Verfahrensstrukturen lösen lassen. Die letzteren gehen von einem nicht konsentierbaren Konflikt aus. Das dritte Modell will den Konflikt daher gewaltsam beenden. Das vierte will ihn aufrechterhalten und auf verschiedene Weise moderieren. Beim ersten und beim dritten entfaltet sich Demokratie höchstens in elitärer Perspektive. Das zweite und das vierte betrachten sich selbst als originär demokratisch. Der Neoliberalismus lässt sich dem Platon’schen Modell zuordnen. Denn politische Probleme löst der Neoliberalis- mus autoritär durch ein bestimmtes Prinzip, das Gesetz des Marktes. In diesem Sinn entspricht er allen monokausal operierenden klassischen Utopien. Die Weisen sitzen dann aber nicht mehr wie bei Platon in den Schaltzentralen der politischen Institutionen, sondern in denjenigen der Konzerne. Neoliberal wäre Platons untere Ebene des Nährstandes die wichtigste, während 58 Hans-Martin Schönherr-Mann sich Wächter und Herrscher in Nachtwächter transformieren, abgesehen davon, dass manche Radikalliberalen die Nachtwächterfunktion des Staates privatisieren möchten. 2.1. Politik als Polizei oder Verwaltung Das Platon’sche Modell geht von einer straffen Ordnung aus, die von erleuchteten Eliten ge- lenkt wird. Politik besteht nicht aus konfligierenden Interessen, sondern heißt Verwaltung oder Polizei mit einem Programm, das bei Platon bis in die Züchtung der Nachkommenschaft reicht. Es gibt keine Teilhabe der ungebildeten Schicht an dieser polizeilichen Lenkung, was aber die Aufklärung fordert. So kritisiert Leo Strauss 1953, dass bei Hobbes die Bürger selber entschei- den, ob ihr Leben gesichert wird: “Wenn aber jeder noch so törichte Mensch von Natur aus darüber richten kann, was für seine Selbsterhaltung notwendig ist, dann kann mit Recht alles als für die Selbsterhaltung unerlässlich angesehen werden: alles ist dann von Natur aus ge- recht. Wir können dann von einem Naturrecht der Torheit sprechen.” (1977, S. 192) Daher müssen sich die Bürger nach Strauss von den politischen Eliten lenken lassen. Sie kön- nen ihre natürlichen Rechte nicht selber vertreten. Vielmehr werden sie ihnen wie bei Hegel vom Staat gewährt oder entzogen. Jeder Stand erfährt bei Platon die entsprechende Erziehung, die er zur Ausübung seiner Funk- tionen benötigt. Politische Bildung betrifft daher nur die führenden politischen Eliten. Ihr In- halt ist die Philosophie, die Einblick in die wahre Wirklichkeit gewährt, in Platons Reich der Ideen, wie heute in der analytischen Philosophie bei Russell in die “Gewissheit, dass die Tatsa- chen immer der Logik und der Arithmetik gehorchen werden” (1967, S. 77). Allerdings wären es heute eher die Natur- oder die Rechtswissenschaften. Die Medien sind keinesfalls frei, son- dern haben einen Lenkungsauftrag, der auf keine selbstreflexive mediale Bildung abzielt. 2.2. Das deliberative Modell der Politik Ein zweites Politikverständnis denkt wie das platonische von einem allgemeinen Standpunkt aus, genauer universalistisch, ist nicht auf eine bestimmte Ordnung fixiert, sondern stellt diese demokratisch den Beteiligten zum Aushandeln frei, also deliberativ, insistiert aber auf logisch abgeleiteten Grundprinzipien bzw. einem übergreifenden Konsens, was alle vernünftigen Mit- glieder einer Gesellschaft akzeptieren. Das hat noch wenig mit Deliberation zu tun. Diese folgt erst danach, wenn es um konkrete politische Probleme geht. Wer sich darauf nicht einlässt – Islamisten, Katholiken, Marxisten, Dekonstruktivisten – der gilt Rawls als unvernünftig. Für Apel und Habermas produziert die Verbreitung der Vernunft keine bloße Rationalisierung wie für Weber. Da sich die Vernunft sprachlich präsentiert, besitzt sie einen kommunikativen Charakter, der nicht nur ihre Universalität absichert. Vielmehr führt sie zu einer Humanisie- rung der Lebenswelt. So stellt Habermas fest: “Es gibt keine reine Vernunft, die erst nachträg- lich sprachliche Kleider anlegte. Sie ist eine von Haus aus in Zusammenhängen kommunikati- Medienbildung als politische Bildung 59 ven Handelns wie in Strukturen der Lebenswelt inkarnierte Vernunft” (1985, S. 374). Vernünf- tige Diskurse befördern den friedlichen Umgang der Menschen miteinander, indem sie sich nicht auf Gewalt stützen, sondern auf die Überzeugungskraft des Arguments. Für Apel liegt darin die transzendentale Letztbegründung des vernünftigen Argumentierens, das die Basis des demokratischen Rechtstaates darstellt. “Die in modernen Rechtssystemen und in den Spielre- geln der demokratischen Regierungsform implizierten Moralprinzipien”, so Apel “repräsentie- ren sogar durchweg ein höheres, postkonventionelles Niveau des moralischen Bewusstseins als das von der Mehrzahl der Bürger erreichte” (1988, S. 364). Die Demokratie beruht daher auf der Philosophie, nimmt die Demokratie nämlich Schaden, wenn in ihr kein öffentlicher Ver- nunftgebrauch möglich ist, wenn die Vertreter der Vernunft nicht frei über Moral- und Rechts- prinzipien wachen, wie umgekehrt Philosophie sich nur unter der Bedingung der demokrati- schen Kommunikationsfreiheit entfaltet. In der Politik sind also nicht bloß Rechts- und Natur- wissenschaften nötig. In gewisser Hinsicht ist Philosophie durchaus verbreitet, wiewohl sie kleine Spezialistenkreise dominieren und die interessierten Bürger bloße Rezipienten bleiben. Eine derartige deliberative Demokratie sollte dementsprechend die öffentlichen, d.h. die me- dialen Diskurse lenken. Denn die Medien haben vor diesem Hintergrund die Aufgabe politi- schen Konsens zu fördern, politisch zu informieren und auch ein Stück weit zu bilden. Medi- enbildung klinkt sich hier ein, indem sie darauf abzielt, Nutzungsmöglichkeiten zu eröffnen und über die Rollen der jeweiligen Medien aufzuklären. Der medial und politisch gebildete Bürger wird die politischen Diskurse rationaler gestalten. Medienbildung ist trotzdem nicht mit politischer Bildung gleichzusetzen, denn zu ersterer braucht man keine Philosophie, sondern PC- bzw. Internetkenntnisse und etwas Medienwissenschaften. Trotzdem haben beide die Auf- gabe, zu dieser rationalen Lenkung politischer Diskurse beizutragen. 2.3. Das Kriegs-Modell der Politik Oder man versteht Politik primär als irrationalen Konflikt, der sich grundsätzlich auf die Mög- lichkeit des Krieges bezieht. Die wichtigsten Protagonisten dieses Modells sind Schmitt und Weber: “‘Herrschaft’ soll, definitionsgemäß die Chance heißen, für spezifische (oder: für alle) Befehle bei einer anggebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden” (1980, S. 122). Demokratie bedeutet für Weber nur eine gewisse punktuelle Auswahlmöglichkeit der Führung, während die Untertänigkeit den Dauerzustand charakterisiert. Nach Schmitt schreibt der Sou- verän seinen Untertanen vor, wer öffentlicher Feind ist, und entscheidet über den Ausnahme- zustand. Schmitt schreibt: “Der Ausnahmefall offenbart das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten. Hier sondert sich die Entscheidung von der Rechtsnorm, und [...] die Autorität beweist, dass sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht” (2004, S. 19). Dieses Politikverständnis schließt politische Partizipation der Bevölkerung oder auch einen öffentli- chen Vernunftgebrauch praktisch aus oder reduziert beides auf ein Minimum. Angesichts stän- dig drohender Konflikte ist das nötig, um Einheit als Voraussetzung des Krieges herzustellen. Die Medien dienen dabei primär der Propaganda bzw. nehmen Teil an einem impliziten oder expliziten Krieg. Sie werden dementsprechend staatlich kontrolliert und gelenkt. Presse- oder gar Meinungs- und Kommunikationsfreiheit gibt es nicht – man denke an China. Politische 60 Hans-Martin Schönherr-Mann Bildung im demokratischen Sinn ist nicht möglich. Vielmehr gilt für die Untertanen der Satz Jacques Bénigne Bossuets: “Ketzer ist der, der eigene Gedanken hat” (zit. bei Camus 1969, S. 156). Also derjenige, der sich außerhalb der herrschenden Traditionen stellt. Wenn politische Bildung zur Mündigkeit führen soll – und anderes kann sie unter demokrati- schen Bedingungen schwerlich bezwecken – dann wäre sie für das Politikverständnis als Krieg kontraproduktiv. Das gilt auch für die Medienbildung. Wie der Zugang zu Bibliotheken in diktatorischen Regimen geregelt ist, so wird der Zugang zum Internet kontrolliert. Hier besteht höchstens eine negative Gemeinsamkeit zwischen Medien- und politischer Bildung. Wenn man von beiden überhaupt sprechen will, dann symbolisieren sie den Naturzustand im Internet, der für Schmitt politisch überall und ständig droht. So ist das Internet heute Teil des Krieges, nicht nur eines Propagandakrieges, ist das Internet nicht bloß im Schmittʼschen Sinn überhaupt Krieg. 2.4. Politik als Konflikt Das vierte Politikverständnis geht wie das dritte davon aus, dass Politik sich dem Konflikt verdankt, der auf der politischen Ebene ausgetragen wird, ohne dass er unbedingt gelöst oder unterdrückt werden müsste. Denn im Unterschied zum dritten Modell ist Gewalt oder Krieg nicht das bestimmende Raster, soll der Krieg vielmehr vermieden werden. Im Unterschied zum zweiten Modell geht es in der Politik nicht um die Herstellung von Konsens, sondern darum, dass Politik sich mit Dissensen einrichtet, ohne dass sie in den Krieg abgleiten. Einer der eher konventionellen Wegbereiter eines Konfliktmodells ist der Soziologe Ralf Dahrendorf, aller- dings lange vor der Postmoderne-Debatte. Bereits in den sechziger Jahren ärgerte er damit Konservative wie Marxisten, dementierten erstere ein solches Politikverständnis zugunsten einer Einheit, wollten letztere den Konflikt durch Revolution final lösen. Jean- François Lyotard begründet Politik als Konflikt nicht mit den unterschiedlichen Interes- sen, sondern mit unterschiedlichen Sprachen, die die an der Politik Beteiligten sprechen und die sich nicht adäquat ineinander übersetzen lassen: “die Politik ist die Drohung des Wider- streits.” (1987, S. 230) Dabei gibt es für Lyotard auch Diskurse, die nach Hegemonie streben, heute primär die Ökonomie. Doch im Gegensatz zu Neoliberalen wie Marxisten kann sich eine solche Hegemonie nicht nachhaltig durchsetzen, weil sie die sprachlichen Differenzen nicht aufzuheben vermag. Mag dergleichen etwas mechanistisch klingen. Jacques Rancère betrachtet Politik als einen sprachlichen Konflikt zwischen Ausgeschlossenen und Eingeschlossenen, bei dem die reale oder vermeintliche Sprachkompetenz die entscheidende Rolle spielt. Politik ist für Rancière nicht Verwaltung, sondern passiert, wenn Ausgeschlossene Anspruch auf Teilhabe erheben, wenn sie sich Gehör verschaffen, damit ihre Aussagen Anerkennung finden. Rancière schreibt: “Es gibt Politik, weil diejenigen, die kein Recht dazu haben, als sprechende Wesen gezählt zu werden, sich dazuzählen und eine Gemeinschaft dadurch einrichten, dass sie das Unrecht ver- gemeinschaften, das nichts anderes ist als der Zusammenprall selbst, der Widerspruch der zwei Welten, die in einer einzigen beherbergt sind” (2002, S. 38). Medienbildung als politische Bildung 61 Daraus folgt beinahe von selbst, dass Bildung Teil der Politik ist. Denn um gehört zu werden, muss man sich Gehör verschaffen. Das gelingt häufig durch Gewalt, manchmal durch außerin- stitutionelle Formen der politischen Partizipation, die gewaltlos zumeist nur dann gelingen, wenn sich die Teilnehmer um originelle Kommunikationsformen bemühen. Die gängige politi- sche Bildung soll die herrschende politische Ordnung stabilisieren, also primär im Sinn des deliberativen Modells. Politische Bildung zum Zwecke linguistischer Involution öffnet indes Türen der Teilhabe für jene, die keine Stimme haben, nicht gehört werden und die daher lernen müssen, sich auf vielfältige Weise auszudrücken. Als Sprachrohr der Inkludierten verteidigen die Medien den Status quo, indem sie die Involuti- on der Exkludierten verhindern. In diesem Sinne nehmen sie Teil an einem verwaltenden Dis- kurs und versuchen zu vermeiden, dass dieser sich in einen Konflikt transformiert, also poli- tisch wird. Aber die Exkludierten müssen ihre Ansprüche auf Involution selbstredend medial generieren, müssen sie kommunizieren. Dann heißt politische Bildung allemal Medienbildung, lassen sich bei diesem vierten Konfliktmodell beide kaum voneinander trennen. 3. Politik als Produkt von Medien: Sprache und Massenmedien Damit stellt sich die Frage, welche Rolle die Medien unter diesen verschiedenen Perspektiven in der Politik spielen. Daraus sollte sich das Verhältnis von Medien- und politischer Bildung klären lassen, vor allem ob dabei begriffliche Verschiebungen stattfinden. Als mögliche vierte Gewalt treten die Medien heute einerseits in den Kreis der politischen Institutionen ein, um dadurch gleichzeitig aus der Politik ausgegrenzt zu werden. Journalisten sind keine Politiker und die modernen Massenmedien werden als ein eigener Bereich verstanden, der von der Poli- tik möglichst nicht beeinflusst werden soll, wie umgekehrt seit langem die Klage ertönt, die Demokratie verkomme zur Mediendemokratie. 3.1. Die Medien der Sprache und der Schrift Der Schein trügt. Dass Politik nämlich medial verfasst ist, gerät just im Zeitalter der Massen- medien in Vergessenheit, bzw. wird metonymisch verdrängt. Politik beruht, wie es Aristoteles formulierte, auf der Sprache, die nicht nur wie bei den Tieren Lust und Schmerz ausdrückt: “die Sprache dagegen dient dazu, das Nützliche und das Schädliche mitzuteilen und so auch das Gerechte und Ungerechte” (1973: 1253 a 9-18). Der Mythos von Ödipus berichtet von der Stiftung der Polis als ein Akt des Rätsellösens, nämlich das der Sphinx, damit das der Her- kunft, der Erinnerung, der Teilhabe. Ohne den Mythos bliebe die Sprache auf der Ebene der Tiere. Ohne Berichterstattung, ohne Homer keine Ilias und keine Odyssee, keine Polis. Diese verdankt sich Königen und Bürgern, die sich um ihre Probleme kümmern, indem sie darüber kommunizieren. Damit gründet die Politik auf dem Medium Sprache wie auf der Schrift, die Erinnerung, Problemstellung und die Zukunft als Antizipation erst möglich machen. Gescheh- nisse müssen in Worte gefasst, aufgeschrieben werden, damit sie nicht in Vergessenheit gera- 62 Hans-Martin Schönherr-Mann ten und damit man aus ihnen für die Zukunft lernen kann. So bemerkt Arendt: “Betrachtet man die Dinge der Welt vom Gesichtspunkt ihrer Dauerhaftigkeit, so ist offenbar, dass Kunstwerke allen anderen Dingen überlegen sind” (2000, S. 289). Dass Politik dadurch über Jahrtausende eine elitäre Angelegenheit bleibt, versteht sich beinahe von selbst. Ohne Bildung kann man nicht an der Politik teilnehmen und die meisten Menschen waren Jahrtausende lang Analpha- beten. Über die Schrift verfügen wie bei Platon und Aristoteles nur die Eliten, während die Plebejer namenlos, schriftunkundig und beinahe sprachlos bleiben, die Sprache zwar verstehen, sich ihrer aber nicht politisch angemessen bedienen können. 3.2. Die Entstehung der Massenmedien Das Modell ändert sich durch das Christentum keineswegs. Es herrscht eine Elite der Schrift- gelehrten, die mit dem Adel als militärischem Arm und geschäftstüchtigen Patriziern um die Vorherrschaft ringt. Mit dem Buchdruck um 1450 verbreitert sich die Möglichkeit politischer Partizipation. Flugschriften und Zeitschriften öffnen im 18. Jahrhundert weiteren Kreisen die Teilhabe an der Bildung, die bis ins 19. Jahrhundert zu einer allgemeinen Schulpflicht avan- ciert. Doch das Schulsystem differenziert sich immer weiter aus. Teilhabe an der Sprache ist nicht automatisch Teilhabe an der Information, zu der es Buch und Zeitung braucht – das erste Massenmedium, das zumindest den Anschein erweckt, dass damit niemand mehr ausgeschlos- sen würde. Die Sozialbewegung des 19. Jahrhundert erkennt die Notwendigkeit der Arbeiter- bildung. Abgesehen davon, dass Bildung auch seit dem Zeitalter der Aufklärung die soziale Hierarchie keinesfalls milderte, transformiert sie sich in ein von ökonomischen und nicht von politischen Bedürfnissen gelenktes System, dass seine politischen Ein- und Ausschlussverfahren differen- zierend verschärft. Wenn sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet, dann verhindert das sich ausdifferenzierende Bildungssystem Involution. Andererseits tritt zwischen Politik und Bevölkerung ein Stand der Journalisten, die professionell Politik beobachten und darüber berichten. Seither präsentiert sich Politik als eine von Journalisten erzählte Politik, was ihre Medialität nicht erzeugt, höchstens verschleiert und den Anschein erweckt, als unterschei- de sich eine wahre Politik von einer medialen. 3.3. Die Zentrierung von Radio und Fernsehen Dieser medialisierte Charakter intensiviert sich durch die Funkmedien und durch das Internet. Die klassischen Massenmedien wirken zentrierend. Sie werden von einer Berufsgruppe getra- gen und senden ihre Produkte an die Bevölkerung, die ihrerseits darauf höchstens einen indi- rekten Einfluss ausübt, in ihnen aber nicht selber zu Wort kommt. Sprachkompetenz, Bil- dungszertifikate und ökonomische Relevanz erlauben bestimmten Bevölkerungsgruppen Ein- fluss auf Medien und Politik zu nehmen. Andere werden höchstens durch die weitverbreiteten Meinungsumfragen indirekt berücksichtigt oder ihr Verhalten wird im Internet beobachtet. Dergleichen Ein- und Ausschlussverfahren lenken die Subjektivierungsprozesse. Zu einer Medienbildung als politische Bildung 63 Involution führen sie nicht, sondern verkleinern die Gruppe derjenigen, die überhaupt Beach- tung findet. So bemerkt Chomsky: “Eine Partizipation der Bürger an den Medien würde als Beschneidung der Pres- sefreiheit, als Schlag gegen die Unabhängigkeit der Medien betrachtet, der diese nur bei der Erfüllung der von ihnen übernommenen Mission, unerschrocken und unparteiisch die Öffentlichkeit zu informieren, behindern würde.” (Chomsky 1999, S. 79) Große Gruppen der Armen werden nicht als Subjekte behandelt, sondern nur als Objekte. An der Politik – verstärkt durch die Massenmedien – haben sie keinen Anteil. Für das Ordnungs- und das Kriegsmodell stellt diese Sachlage die der Politik angemessene Struktur dar. Im Ange- sicht des Kinsey-Reports, dem Helmut Schelsky eine die sittliche Ordnung “erschütternde und verderbliche Wirkung” (1955, S. 7) zuschreibt, fordert er, dass die Sexualmoral in der Öffent- lichkeit nicht diskutiert werden dürfte. Das deliberative Modell indes passt zu einer Demokra- tie, die sich auf die klassischen Massenmedien stützt, während die neuen Internet-Medien den politischen Institutionen größere Schwierigkeiten bereiten, Diskurse zu lenken. Zwar schließt das deliberative Modell Diskurse in der Bevölkerung nicht völlig aus. Politisch einflussreich bleiben primär die Diskurse unter den Experten. 3.4. Die Peripherieorientierung des Internet Obgleich das Internet massive Kontrollmöglichkeiten erlaubt, obgleich es sich zudem in einer Art Naturzustand befindet, so unterscheidet es sich doch von den modernen Massenmedien durch seine fehlende Zentriertheit bzw. seine Peripherieorientierung. Im Internet kann jeder, der zumindest über den technischen Standard verfügt, öffentlich die Stimme erheben bzw. etwas publizieren, das von allen Angeschlossenen wahrgenommen werden kann und auf das öffentliche Antworten möglich sind. Hier öffnen sich ansatzweise gewisse Ausschließungssys- teme, so dass Ausgeschlossene Ansprüche auf bisher nicht zugelassene Anteile erheben kön- nen. Das ist die demokratische Dimension, die von vielen Internetaktivisten als neue politische Freiheit gefeiert wird. Zumindest erlaubt sie neue Formen der Politik oder gemäß des Kon- fliktmodells überhaupt Politik dort, wo sie bisher nicht möglich war. So bestätigt sich, dass es der Medienbildung in Sinne des Konfliktmodells darum geht, nicht nur seine eigene Mündigkeit zu entwickeln, sondern Ansprüche auf Teilhabe geltend zu ma- chen, sich um Involution zu bemühen. Das verbindet im Konfliktmodell Medienbildung und politische Bildung, während sie im Konsensmodell als verschiedene Bereiche erscheinen, die sich gegenseitig ergänzen. 64 Hans-Martin Schönherr-Mann 4. Wer wird politisch oder medial gebildet? Der Blick auf die Mediengeschichte zeigt, dass Ordnungs- und Kriegsmodell auf dem medialen Auge blind sind, und dass selbst das Konsensmodell zur Medienvergessenheit beiträgt. Trotz- dem könnte Medienbildung für die politische Bildung irrelevant sein, weil der politisch zu bildende Mensch eine entsprechende Anlage hat, die es zu fördern gilt, ohne dass man die Medien besonders berücksichtigen muss. Wie zeigt sich das Verhältnis zwischen Medien- und politischer Bildung im Hinblick auf den zu bildenden Menschen? Welche Subjektivierungs- prozesse finden statt und welche Rückwirkungen hat das auf das Verhältnis von Medienbil- dung und politischer Bildung? 4.1. Die Ungleichheit der Menschen Wer wird also gebildet? Mit der banalen Antwort ‚der Mensch‘ ist der Frage nicht beizukom- men. Denn die verschiedenen Politikmodelle verstehen darunter nicht dasselbe. Das polizeili- che Ordnungsmodell Platons rekurriert auf die Unterschiedlichkeit der Menschen. Die Natur des Menschen bestimmt die Struktur des Staates. Die richtige politische Ordnung orientiert sich daran, dass der Mensch seine Natur erfüllen soll. Jedem steht das Seinige zu, also die Realisierung seiner Fähigkeiten, die ihn seinem Stand zuordnet, dem der Ernährer, der Wächter oder der Lehrer. Nur letztere benötigen eine politische Bildung, die indes schon zu Zeiten Pla- tons eine Medienbildung bedeutet, nämlich der Sprache und der Schrift, was zum Einblick in die Ideen führen soll, also in Begriffe, mit denen man die Welt begreift. Nur dass sich Platon dessen nicht bewusst war. Übersetzt in die Moderne folgt daraus, dass nur die Eliten politische Bildung benötigen, was implizit eine entsprechende Medienbildung bedeutet. Die Ordnung beruht auf unterschiedli- chen sozialen Rollen. Involution der von der Politik Ausgeschlossenen ist damit nicht gemeint. Die arbeitenden Klassen sollten das Internet wie auch andere Bildungsangebote nur dazu nüt- zen, ihre beruflichen Qualifikationen zu verbessern und sich von ihm wie von den anderen Medien unterhalten zu lassen, was indirekt eine politische Funktion entfaltet: Medien dienen dazu, dass sich die jeweilige Natur des Individuums realisiert – in welcher sozialen Lage auch immer, der sie sich auch verdankt. Das wäre dann im ökonomischen Sinn für den Neolibera- lismus die Aufgabe der Medienbildung die derart mit der politischen Bildung in eins fiele. Neoliberal ist die Ökonomie die wahre Politik. 4.2. Der Mensch als Zuchtwesen Im Kriegsmodell Carl Schmitts spielt die Anthropologie eine ähnliche Rolle wie bei Platon oder Strauss. Der Mensch ist gefährdet und gefährlich zugleich und muss daher diszipliniert werden. Arnold Gehlen betrachtet den Menschen gar als Mängelwesen, dem man durch Autori- täten, Institutionen und Technik unter die Arme greifen muss. Er verstärkt diese Lenkung durch eine Züchtung. Damit befindet er sich gleichfalls in der Nähe Platons, der ja Züchtungs- phantasien entwickelt, von denen nur die weisen Herrscher wissen, nicht aber das gezüchtete Medienbildung als politische Bildung 65 Volk, das sich bewusst schwerlich gerne Züchtungsexperimenten aussetzt. Eine mediale Ver- schleierung ist folglich nötig: die Hochzeitsfeste Platons, bei denen die Paare durch gezinkte Lose zusammengeführt werden. “Es scheint, dass unsere Herrscher allerlei Täuschungen und Betrug werden anwenden müssen zum Nutzen der Beherrschten” (Platon 1958, 459c). Medi- enbildung heißt dann, den Medien glauben lernen. Und wenn Krieg Politik ist, dann dient eine solche Form der Medienbildung wiederum der politischen Bildung, kennen beide nur einen Zweck, nämlich Glaube an die Führung sowie an die von dieser vertretenen Ideologie. Also mediales Einüben in Nationalismus oder Sozialismus. 4.3. Der Mensch als vernünftiges Wesen Für das deliberative Modell lässt sich eine ganze Reihe von Anthropologien anführen. Rawls bestimmt den Menschen durch Vernunft und: “Die Fähigkeit zu einem Gerechtigkeitssinn (...) dürfte eine Bedingung der Gemeinschaftsfähigkeit des Menschen sein.“ (1979, S. 247) Bei Apel und Habermas beseelt den Menschen die Sprache mit ihrem kommunikativen Wesen, was Michael Tomasello noch durch Primatenforschung untermauert: “Die Frühmenschen wurden an einem bestimmten Punkt durch ökologische Umstände zu kooperativeren Lebensweisen gezwungen [...]” (2014, S. 18), weil diese ihnen einen höheren Nutzen brachten – fast schon der Homo oeconomicus, durchaus im Stil des Moralphilosophen Adam Smith. Damit erhält die kritische Philosophie einen Rousseauʼschen Grundzug: der Naturmensch ist freundlich und technisch geschickt, nur dass diese Vernunft bei Rousseau noch keinen morali- schen Charakter entfaltet. Beinahe ist die Natur ja die eigentliche Moralität, die Kooperations- bereitschaft, will der Wille durch Natur das Gute für den Körper, will der Gemeinwille, “der immer auf die Erhaltung und auf das Wohlbefinden des Ganzen und eines jeden Teiles zielt,” (1977, S. 15) das Gute und das Richtige für das Gemeinwohl. Der Naturmensch lässt sich zwar nicht mehr wiederherstellen, bleibt aber die Richtschnur, hat Rousseau dementsprechend eine Naturnähe der Kindheit entdeckt und macht das Kind zum Orientierungspunkt des Pädagogen. Damit löst er zugleich die Grundfrage jeder Erziehungsdiktatur wie bei Platon: Wer erzieht den Erzieher? Das Kind! Oder die Naturanlage des Menschen, nämlich seine Vernunft und sein Sinn für Gerechtigkeit bzw. die Kommunikativität der Sprache. Im Grunde hat das bei A.S. Neill und bei Ivan Illich ihre radikalsten Vertreter gefunden: Man schaffe die Schule ab und unterstelle, dass das kulturell unverbildete Kind schon selber weiß, was gut und richtig ist. Auf solche Experimente mit unsicherem Ausgang wollen sich die Vertreter der deliberativen Politik nicht einlassen, rekurrieren lieber auf ein bürgerliches Bildungsideal, hat Habermas ja sein Basis-Argument vom zwanglosen Zwang des besseren Arguments im Salon des 18. Jahr- hunderts entdeckt. Hier liegt sein Problem. Wer spricht, “hat als Argumentierender“, so Apel, „die Voraussetzung der unbegrenzten kritischen Kommunikationsgemeinschaft immer schon implizit anerkannt” (1973, S. 222). Das kommunikative Modell von Apel und Habermas setzt damit den Salon als eine ideale Kommunikationsgemeinschaft voraus, das den allseits gebilde- ten Menschen im Stile von Goethes Wilhelm Meister braucht. 66 Hans-Martin Schönherr-Mann Oskar Negt geht daher lieber von einer negativen politischen Anthropologie aus: Anders als Aristoteles bemerkt er: “Kein Mensch wird als politisches Lebewesen geboren,” (2010, S. 13) muss er zum politischen Wesen erst gebildet werden, braucht politische Bildung. Dass diese mit Medienbildung zu tun hat, daran denkt Negt nicht, appelliert er vielmehr an den Begriff des Gemeinwesens, wie ihn Rousseau prägte. Politische Bildung will Negt in allen Alterskohorten zur Pflicht zu machen. 4.4. Der Mensch als das, wie er erscheint Das Konfliktmodell unterstellt im Anschluss an Foucault keine Anthropologie. “Der Mensch, [...] zu dessen Befreiung man einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung” (Foucault 1976, S. 42). Es gibt keine Natur des Menschen, um sich an einer solchen zu orien- tieren, selbst wenn man damit nur einen vernünftig und moralisch beseelten meint – ein Ver- ständnis, wie es die Aufklärung benutzte, um sich gegen eine klerikal adlige Weltanschauung zu wehren – und zwar mit deren Muster, wird an die Stelle Gottes die Natur gesetzt und an- sonsten genauso universal und moralrigoristisch weiterargumentiert. Wenn Politik nach Rancière stattfindet, wenn Ausgeschlossene Ansprüche der Involution erhe- ben, formulieren sie diese in einer verpönten Sprache, am falschen Ort zur falschen Zeit. Vor allem werden sie von Leuten ausgesprochen, denen die Politik das verweigert. Doch sie lassen sich nicht vorschreiben, was sie sagen dürfen. Das impliziert im Stil des Existentialismus die Mündigkeit des Individuums, und zwar nicht weil es vernünftig und moralisch ist, also schon anerkannt wäre, sondern weil es in der Lage ist, sich zu wehren. “Eine der wenigen philoso- phisch stichhaltigen Positionen ist demnach die Auflehnung.” (Camus 1959, S. 49) Damit versucht Medienbildung dem Menschen zu helfen, wie er erscheint, wie ihn die Soziali- sierungs- und Disziplinarmechanismen geprägt haben. Politische Bildung als Medienbildung muss im Sinne partizipatorischer Demokratie sowie im Zeitalter von Individualisierungspro- zessen diesen mündigen Bürger stärken, der sein Leben emanzipiert selber in die Hand nimmt, sich seine eigenen Moralvorstellungen wählt und sich derart zum Subjekt macht. Medienbil- dung als politische Bildung sollte zu einer politischen Lebenskunst beitragen, nicht zu einer Unterordnung unter welchen höheren Zweck auch immer. Dadurch macht das Individuum sich selber zum politischen Subjekt und dazu müsste politische Bildung beitragen. Dass es dabei in einem starken Maße um Medienbildung geht, versteht sich von selbst, weil Politik im Sinn von Hannah Arendt Kommunikation ist, die immer schon via Medien geschieht. Ergo ist politische Bildung Medienbildung. 5. Was wird medial politisch vermittelt? Der Blick auf die Anthropologie zeigt, dass Ordnungs-, Kriegs- und Konsensmodell auf dem medialen Auge blind sein dürfen, weil sie einen idealen Menschen voraussetzen, der die Medi- Medienbildung als politische Bildung 67 enbildung als politische Bildung nicht braucht, oder der gar keine politische Bildung braucht oder politische heißt ökonomische Bildung. Die Medien- und Sprachvergessenheit der Politik- wissenschaft im Allgemeinen hat hier ihre Hintergründe. Aus dem Politikverständnis und dem Menschenbild ergibt sich das Verhältnis zwischen der Medienbildung und der politischen Bil- dung entweder als enge Verbindung bis hin zur deutlichen Trennung. Spiegelt sich dieses Sze- nario in den Strukturen und Gehalten von Medien- und politischer Bildung? 5.1. Die Rollenbildung Wenn es um Ordnung und Krieg geht, dann muss die politische Bildung darauf abzielen, dass der Bürger die Rollen einübt, die ihm die Tradition vermittelt, die nötig sind um die Ordnung aufrechtzuerhalten oder damit kämpfende Gemeinschaften ihre Kriege erfolgreich bestehen. MacIntyre formuliert das folgendermaßen: “Denn nach dieser Tradition bedeutet ein Mensch zu sein, eine Vielzahl Rollen einzunehmen, die alle ihr Ziel und ihren Zweck haben: Familienmitglied, Bürger, Soldat, Philosoph, Diener Gottes” (1995, S. 85). Die einzelnen Rollen lernt man natürlich woanders. Medien- wie politische Bildung aber vermit- teln, dass man sich im Einklang mit dem Wesen des Menschen befindet. So warnt Voegelin vor der Pressefreiheit in der Demokratie bzw. den medialen Verführern, die vom Glauben an die rechte Ordnung abbringen: “die größte Gefahr für eine lebensfähige Res- tauration europäischer geistiger Ordnung sind die Massenkommunikationsmittel: [...] weil sie […] die Bevölkerung in der breiten Masse von allem, was geistige Problematik der westlichen Welt ist, abtrennen” (1996, S. 33). Daher geht es um Gehorsam bzw. Untertänigkeit und Op- ferbereitschaft neben solchen Qualitäten wie Gesundheit und körperliche Stärke sowie eine Portion technischer Intelligenz, also soldatische Eigenschaften und Tugenden. Dementspre- chend bemerkt Ernst Jünger: “Die Technik, das heißt: die Mobilisierung der Welt durch die Gestalt des Arbeiters” (1982, S. 161). Der Krieg verlangt die totale Mobilisierung der Men- schen, der Technologien und der Ressourcen, werden heute Kriege nicht mehr nur vom Mut, sondern von der fortgeschrittenen Medientechnologie entschieden. Das hat für Kittler eine lange Vorgeschichte: “Anstelle der selbständigen, aber ferngesteuerten Offiziere in UKW- Panzern oder U-Booten setzte der Weltkrieg selbstgesteuerte Maschinen: Computer, Raketen, Waffensubjekte. Und der Weg zu Star Wars war vorgezeichnet” (2004, S. 75). Ob das dann mit einem Schuss Sozialismus oder nur mit Nationalismus versetzt wird, bleibt sich beinahe schon gleich. So gehören Medien zu den wesentlichen Vermittlern solcher Einstellungen, dürfen sie weder kritisch hinterfragt werden, noch dürfen Bürger solche Informationen technisch umgehen. Medienbildung, wenn man überhaupt davon redet, heißt höchstens, die im Sinne des Systems guten Medien von den schlechten zu unterscheiden, und sich auf erstere genauso zu verlassen wie auf die politische Führung. Neoliberal heißt das, dass Bildung nicht mehr als Ausbildung bedeutet, die Ökonomie die Rolle der Politik übernimmt, also Wirtschaftslehre und Informatik in der Schule an die Stelle von Philosophie und Literatur treten, so dass die Zeitgenossen öko- nomische Interessen mit politischen gleichzusetzen lernen. 68 Hans-Martin Schönherr-Mann 5.2. Der öffentliche Vernunftgebrauch Politische Bildung im Sinn des deliberativen Politikverständnisses rekurriert nach Habermas auf Philosophie im Sinn einer rationalen Universalwissenschaft. Das zielt auf die Vermittlung von moralischen Normen und politischen Werten sowie auf Einsichten in die objektive Wirk- lichkeit, unterstellt Habermas, dass “ein stets gefährdeter demokratischer Diskurs auch von der Wachsamkeit und Intervention dieses öffentlichen Hüters der Rationalität abhängt” (1999, S. 331). Dabei spielen die Medien nur eine vermittelnde Rolle, kommt es wie in den Ordnungs- modellen darauf an, dass Bürger die Medien denn auch richtig zu nutzen verstehen, gelten hier wie in den beiden anderen Modellen Medienbildung und politische Bildung als zwei verschie- dene Bereiche. So müssen nach dem deliberativen Modell die medialen Diskurse rationalisiert werden, wozu die politische Bildung beiträgt, die auch im Internet zu einem öffentlichen Vernunftgebrauch befähigen soll. Philosophische, journalistische und politische Eliten lenken die Art der Teilha- be, worauf sich die Teilnehmer leichter einlassen, wenn sie solche Formen in den Schulen und an den Universitäten eingeübt haben. Das impliziert zwar die Medialität der politischen Bil- dung, gilt diese Medialität einem kritischen Denken eher als gefährlich für den rationalen Dis- kurs, der stattdessen auf die Anerkennung von demokratischen Institutionen und sozialstaatli- che Regelungen abzielt, die Apel ja als vernünftiger gelten als der einzelne Bürger. Somit trägt diese kritische Medienbildung heute zur Medienvergessenheit bei. Primär heißt politische Bildung, den öffentlichen Vernunftgebrauch einzuüben. Der Bürger soll lernen, besonders in der Öffentlichkeit vernünftig zu argumentieren, damit er auf der politi- schen Ebene ernst genommen wird. wozu Rawls einen Ratschlag gibt: “Als Probe aufs Exem- pel, ob wir der öffentlichen Vernunft folgen oder nicht, mögen wir uns von Fall zu Fall fragen, wie unsere Argumente erscheinen würden, wenn sie in einem Verfassungsgerichtsurteil stün- den. Vernünftig, haarsträubend oder wie sonst?” (1998, S. 362) Dazu soll der Bürger einiges politische und philosophische Wissen erwerben, damit er im Sinn des öffentlichen Vernunftgebrauchs richtig argumentiert. Das birgt ein kritisches und reflexives Potential, hinterfragt aber die Vernunft selbst so wenig wie die Objektivität der Wirklichkeit, die von den Naturwissenschaften begründet wird. Doch allein schon der Hinweis auf die Öf- fentlichkeit impliziert, dass ein solcher Vernunftgebrauch nicht ohne Medien möglich ist, nur innerhalb derselben stattfindet, wie es schon Habermas‘ sprachliche Kleider der Vernunft an- zeigen. Zumindest braucht eine kritische politische Bildung eine entsprechend kritische Medi- enbildung, wiewohl beide deren interne Zusammenhänge nicht weiter hinterfragen. Implizit also beherbergt die kritische politische Philosophie doch eine enge Verbindung von Medien- und politischer Bildung. 5.3. Widerständigkeit und Mündigkeit Medienbildung als politische Bildung heißt damit jedoch nicht, dass sich das Individuum auf die Philosophie verlassen könnte, denn jede heutige Form der Bildung wie der Lehre entfernt Medienbildung als politische Bildung 69 sich immer weiter von philosophischen Ansprüchen, spielt die Philosophie in den Wissen- schaften eine immer geringere Rolle. Das ist die Situation, nachdem in den letzten Jahrzehnten in weiten Teilen der westlichen Welt die analytische oder die kritische Philosophie die Univer- sitäts-, Verlags- und Feuilletonphilosophie beherrscht. Diesen Horizont muss Medienbildung als politische Bildung überschreiten, und zwar in Rich- tung von Medientheorien, Literaturwissenschaft, Psychoanalyse und von philosophischen Randgängern, die Perspektiven einer anderen Politik entwerfen und die medial wie politisch vermittelte Wirklichkeit hinterfragen. Wer in diesem Sinn weiterdenkt, für den sich die Aufklä- rung nicht in der kommunikativen Vernunft vollendet, weil diese entweder den Prozess der Ökonomisierung nicht einzudämmen vermag, oder weil sie Herrschaft nicht abbaut, sondern weiter ausdifferenziert, weil der Universalismus der Vernunft keine Humanisierung, sondern nur eine Rationalisierung bedeutet, wer also den Gedanken einer zweiten, postmodernen Auf- klärung denkt, wird im Hinblick auf eine politische Aufklärung, also Bildung, die Struktur der medial geprägten Wirklichkeit hinterfragen. Für Vertreter des Konfliktmodells fallen derart politische Bildung und Medienbildung zusammen. Dabei geht es dann primär um ein genalogisches, archäologisches oder dekonstruktives Hinter- fragen, dass Macht und Medien nicht nur auf der institutionellen Ebene zusammengehören, sondern auch auf der mikrologischen Ebene. Es geht um eine konstruktivistische Differenzie- rung der medial wie politisch erzeugten Strukturen der Wirklichkeit, somit um die Einsicht darein, dass Wirklichkeit und Objektivität nichts unveränderlich Vorliegendes sind, sondern Konstrukte, die zwar nicht beliebig veränderbar sind, aber durchschaubar und an denen daher das Individuum drehen kann. Wie bemerkt Foucault: “Aber umgekehrt ist die Freiheit der Individuen, verstanden als Herrschaft, die sie über sich selber auszuüben vermögen, unabding- bar für den ganzen Staat.” (1989, S. 105) Bildung darf sich nicht einen bestimmten Typus als Zielvorstellung vornehmen, nicht Rawls Menschen mit einem ausgewogenen Lebensplan, nicht einen Menschen, der sich seine morali- schen Grundsätze vorschreiben lässt, beispielsweise jene der idealen Kommunikationsgemein- schaft. Das Individuum muss vielmehr lernen, sich selbst zu regieren, was erstens ein Indivi- duum voraussetzt, wie es durch die Disziplinarmechanismen konstituiert ist, das trotzdem nicht hilflos Produkt derselben bleiben muss, sondern daran Anteil nimmt, anstatt sich nur selbst zu wiederholen, gelegentlich abzuweichen. Oder um es in den Terminologien der Aufklärung zu formulieren, Medienbildung als politische Bildung muss dazu beitragen, dass das Individuum seine Mündigkeit entwickelt bzw. einsieht, dass es daran ob seiner Fähigkeit zum Widerstand selbst gegen totalitäre Mächte einen eigenen relevanten Anteil hat, dass ihm nicht nur Rechte vom Staat verliehen werden, sondern dass es diese erkämpfen kann. Dass es sich folglich nicht von den Medien die Wirklichkeit konstruieren lassen darf, sondern sich Einblick in solcherart Konstruktionen verschafft, um seinerseits daran zu drehen. 70 Hans-Martin Schönherr-Mann Literatur Apel, Karl-Otto (1988): Diskurs und Verantwortung – Das Problem des Übergangs zur post- konventionellen Moral. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. ders. (1973): Transformation der Philosophie Bd. 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Arendt, Hannah (2000): Kultur und Politik. In: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft – Übungen im politischen Denken I. 2. Auflage, München: Piper (zuerst 1958). Aristoteles (1973): Politik. München: dtv. Camus, Albert (1969): Der Mensch in der Revolte. Reinbek: Rowohlt (frz. Org. 1951). ders. (1959): Der Mythos von Sisyphos. Hamburg: Rowohlt (frz. Org. 1942). Chomsky, Noam (1999): Sprache und Politik. Berlin, Mainz: Philo (engl. Org. 1988). Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (engl. Org. 2004). 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Dabei wird die Figur des selbstbestimmten Subjekts fragwürdig, welche der Medienpädagogik traditionell als Voraussetzung, Ziel und Standpunkt der Kritik dient. Das Subjekt wird vielmehr als Effekt einer medial konfigurierten Struktur vorgestellt – als veränderliches Ergebnis spezifischer Techniken der Subjektivierung. Ebenso wird Schule als eine struktural verstandene Schulkultur gedacht. Schulische Medienbildung sieht sich in dieser Perspektive mit der Herausforderung konfrontiert, grundlegende Organisationsformen von Schule zu befragen und eine schulische Medienkultur ausbilden zu helfen – und zwar im Hinblick auf de- ren subjektivierende Wirkung, das heißt zugleicht: im Hinblick auf eine kritische Theorie der Ge- sellschaft. ‘Medienbildung in der Schule’ Der Ausdruck ‘Medienbildung’ hat Konjunktur. Dies ist nicht zuletzt dem Umstand geschul- det, dass auch ‘Bildung’ sich einer gewissen Renaissance erfreut. Spätestens seit klar ist, dass die ‘Aktivierung und Mobilisierung der Potenziale und Talente des Einzelnen’ von eminenter Bedeutung für die ökonomische Wertschöpfung der Zukunft sind und zugleich soziale Gerech- tigkeit versprechen, gilt Bildung als die umfassendste und vornehmste Bezeichnung für diese gleichermaßen wirtschafts- wie sozialpolitische Aufgabe. Entsprechend hatte die amtierende Bundeskanzlerin 2008 die ‘Bildungsrepublik Deutschland’ ausgerufen. Die Botschaft lautet: ‘Wohlstand für alle heißt heute und morgen: Bildung für alle’. Hier schließt die Rede von der Medienbildung an und betont darin die inzwischen unüberseh- bare, geradezu epochale Tragweite des nicht zuletzt durch die Entwicklung und allgegenwärti- ge Verbreitung der digital-vernetzten Medientechnologien angetriebenen sozialen Wandels – ein Wandel, der oft als Übergang von der ‘Industrie- zur Wissensgesellschaft’ beschrieben wird und schon damit unter ein ökonomisches Vorzeichen gestellt ist. Mit der Veröffentlichung der Empfehlung der Kultusministerkonferenz zur Medienbildung in der Schule (vgl. KMK 2012) – die im Vergleich zu anderen, inhaltlich kaum unterschiedenen Papieren aus den Jahren und Jahrzehnten zuvor große Aufmerksamkeit erfahren hat – ist Medi- enbildung nun auch gesellschaftlich klar verortet und das Verhältnis von Medienbildung und Schule offenbar geklärt: Medienbildung findet in der Schule statt. Die medienpädagogische 74 Stephan Münte-Goussar Praxis rückt damit aus der Ecke der Jugendzentren und außerschulischen Projektarbeit ein Stück weit ins Zentrum des nationalen Bildungsgeschehens ein. Indes ist nicht immer klar, was in dieser Gemengelage mit Medienbildung gemeint ist. Im Folgenden wird dafür plädiert, Medienbildung dezidiert innerhalb einer Theorie der Bildung zu verorten. Damit wird allerdings die Figur eines selbstbestimmt-kreativen Subjekts fragwürdig, welche der Medienpädagogik traditionell als Voraussetzung, Leitbild, Zielmarke und nicht zuletzt als Standpunkt der Kritik gilt. Auch kann Medienbildung dann nicht mehr umstandslos in die Schule eingepflanzt werden. Es gilt vielmehr eine schulische Medienkultur auszubilden. Umgekehrt kann von hier aus eine kritische Haltung gegenüber einem auf Effizienz und funk- tionale Passung ausgerichteten polit-ökonomischen Diskurs umrissen werden, der es tatsäch- lich gelingt, Distanz zu dem zu halten, was die Medienpädagogik traditionell zu kritisieren beansprucht. ‘Medienbildung’ und ‘Medienkompetenz’ Benjamin Jörissen hat sich mehrfach bemüht, unterschiedliche Bedeutungsebenen, Reichwei- ten und Verwendungskontexte des Begriffs Medienbildung auszuloten. Er unterscheidet Medi- enbildung a) “als ‘die Medienbildung’, d.h. als innovationsorientierter Gegenstand von Bil- dungspolitik und -administration bzw. als Bezeichnung für den Output medienpädagogischer Maßnahmen im Bildungswesen”, b) “als Ziel oder Ergebnis von Lernprozessen im Feld der Medien – etwa als Synonym oder Erweiterung zu ‘Medienerziehung’ oder zur pädagogischen Vermittlung von ‘Medienkompetenz’” – sowie c) als Beschreibung transformatorischer “Bil- dungsprozesse im Horizont von Medialität”, wodurch Medienbildung hier explizit einem – sogar spezifischen – bildungstheoretischen Diskurs eingeschrieben wird (Jörissen 2011, S. 87). Es geht auf der dritten Ebene um ein Verständnis von Medienbildung, dass darum bemüht ist, neben Sozialisation, Erziehung, Kompetenz und möglichen weiteren erziehungswissenschaftli- chen Grundbegriffen Bildung als eine eigenständige erziehungswissenschaftliche Begrifflich- keit in Bezug auf Medien auszuweisen. ‘Medienbildung statt Medienkompetenz?’ Die innerfachliche medienpädagogische Diskussion hat das Auftauchen der Bezeichnung Me- dienbildung zum Anlass genommen, sich über Schlüsselbegriffe und den Standort der eigenen Disziplin zu verständigen. Sie changiert dabei innerhalb der beiden soeben zuletzt genannten Verwendungskontexte, ohne sich allerdings der Aufgabe zu versagen, auch dem bildungspoli- tischen Diskurs entsprechende Kommunikationsanschlüsse zu bieten – wie dies beispielsweise die Initiative Keine Bildung ohne Medien in Deutschland oder in Österreich Medienbildung JETZT! in beachtlicher Weise tun. Medienkompetenz oder Medienbildung? lautete die Frage, die Stefan Aufenanger bereits 1999 stellte und damit – so die gängige Erzählung – die Diskussion um Grundbegriffe eröffnete. Medienbildung, Schulkultur und Subjektivierung 75 Winfried Marotzki dachte 2004 über einen möglichen Übergang Von der Medienkompetenz zur Medienbildung nach. So richtig Fahrt nahm die Debatte auf, als Bernd Schorb sich 2009 an- schickte, Medienbildung an die Stelle von Medienkompetenz zu setzen, um sodann aber letzte- re als Schrittfolge auf dem Weg zur Medienbildung auszuweisen. Dieter Spanhel widersprach umgehend und bestimmte Medienbildung auf systemtheoretisch-anthropologischer Grundlage als selbstgesteuerten Prozess und Ziel der Medienerziehung (vgl. Aufenanger 1999; Marotzki 2004; Schorb 2009, Spanhel 2010). Als auch Gerhard Tulodziecki noch einen Diskussionsbei- trag unter der Fragestellung Medienkompetenz und/oder Medienbildung? beisteuerte, in dem er versuchte, die Begriffe miteinander zu versöhnen (vgl. Tulodziecki 2010), weitete sich die Auseinandersetzung in der gesamten Community aus und ist nach ihrem vorläufigen Höhe- punkt in Form einer entsprechend ausgerichteten Tagung der Sektion Medienpädagogik in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft Ende 2010 (vgl. Moser et al. 2011) bis heute virulent (vgl. Tulodziecki 2015; Thomann 2015). Doch die Varianten dessen, was unter Medienbildung verstanden wird, sind weiterhin zahl- reich. Nicht immer gibt es Bezüge zu bildungstheoretischen Denkfiguren. Nicht immer ist man um einen eigenständigen Begriff bemüht. Noch seltener geht es um den Austausch zwischen dezidiert unterschiedlichen Bildungsbegriffen, die der Medienbildung als theoretisch- systematische Grundlage dienen könnten (vgl. Marotzki & Meder 2014). Bezugnahmen auf oder gar Zusammenkünfte mit Vertreterinnen und Vertretern der aktuellen bildungsphilosophi- schen Diskussion gibt es nur vereinzelt. Oft bekommt man den Eindruck, es wird um Konzepte und Bezeichnungen gestritten, die auf unterschiedlichen Feldern operieren, tatsächlich nicht ineinander überführbar sind, und somit auch schwer gegeneinander ausgespielt werden können (vgl. Fromme & Jörissen 2010). Der Kern der Debatte besteht letztlich darin, dass der Begriff der Medienkompetenz zur Dispo- sition steht. ‘Medienkompetenz’ hat ihrerseits eine ungemein erfolgreiche bildungspolitische Geschichte hinter sich, deren Erbe nun unter Umständen ‘die Medienbildung’ antritt. Sie kann zudem für die Identität der medienpädagogischen Disziplin wie auch deren Praxis als grundle- gend angesehen werden. Die zentrale Sorge, welche von Anbeginn der Debatte bis heute be- ständig wiederholt wird, ist die, dass Medienkompetenz Gefahr laufe, technizistisch- funktionalistisch verkürzt, d.h. mit pragmatischem Verfügungswissen gleich gesetzt zu werden – mit ‘media literacy’, mit der individuellen Fertigkeit also, sich den “Vorgaben der Medien als digitalen Maschinen” zu unterwerfen (Schorb 2009, S. 50). Medienbildung – speziell die von Benjamin Jörissen und Winfried Marotzki eingeführte strukturale Medienbildung – würde der Medienkompetenz genau diese Verkürzung unterstellen und als Einwand gegen den Begriff vorbringen. Sie betone dem gegenüber “Orientierungswissen”, “Zweckfreiheit” und das Mo- ment der “Unbestimmtheit”, die mit einem weiten Verständnis von Bildung verbunden seien (ebd.; Tulodziecki 2015, S. 33; Thomann 2015, S. 7). Von wem und in welcher Form die drohende Verengung tatsächlich vorgenommen wird, wird freilich wenig ausgeführt. Eher allgemein werden ‘Politik’ und ‘Wirtschaft’ verantwortlich gemacht. Gemeint sind vermutlich u.a. die großen Kompetenzmessverfahren, wie sie sich in den PISA-Studien paradigmatisch zeigen, und deren Kompetenzbegriff in einen nicht zuletzt 76 Stephan Münte-Goussar konstruktivistisch inspirierten Diskurs der Selbstorganisation und Selbststeuerung eingelasse- nen ist (vgl. z.B. Weinert 2001; Klieme & Hartig 2007). Ebenso gemeint sind vielleicht auch die durchaus wirkmächtigen neoliberalen Theoreme, die einer technokratischen Bildungsre- form und damit einer Ökonomisierung der Bildung Vorschub leisten – namentlich die Theorie des Humankapitals, im Rahmen derer Kompetenz als Kapital auslegt wird, das dem Individu- um als Vermögen zukommt (vgl. z.B. Becker 1995). Emanzipation und Selbstbestimmung Tatsächlich spürte bereits Dieter Baacke die Gefahr eines sich anbahnenden Bedeutungswan- dels des von ihm selbst kreierten Begriffs. Es scheint, als ob ihm dessen Erfolg Angst mache. In einem kleinen Text von 1996 vergewissert er sich entsprechend der ursprünglichen Anliegen von Medienkompetenz und damit der Medienpädagogik ihrer begrifflichen Grundlagen: Diese seien zum einen Chomskys linguistische Theorie der universellen Grammatik – die als anthro- pologische Grundausstattung garantiere, dass wir von Natur aus alle gleich sind und auch po- tenziell sein können – sowie zum anderen die Kritische Theorie Habermas’scher Prägung und ihre positive Idee der Kommunikativen Kompetenz, die für das ‘normative Ideal’ eines herr- schaftsfreien Diskurses – an dem wir alle gleichermaßen teilnehmen können sollen – unab- dingbar ist. Entsprechend war das Zielkriterium der Medienpädagogik von Anbeginn – und sollte dies laut Baacke auch zukünftig sein – “die ‘Emanzipation des Individuums’ aus ‘Be- wußtseinszwängen’, die Förderung seiner ‘Selbstbestimmung’ und seiner ‘Partizipationschan- cen’” (Baacke 1996, S. 113). Medienpädagogisch erworbene Kompetenz erschließe individuel- le Handlungsmöglichkeiten, erweitere ästhetische Erfahrungen und mache schon Kinder an- schlussfähig an öffentliche Diskurse und damit fähig, politisch zu denken und zu agieren. Von daher ist Baackes bekannter Auffaltung der Medienkompetenzdimensionen die innovativ- kreative Mediengestaltung sowie die ethisch-reflexive Medienkritik irreduzibel und unhinter- gehbar eingeschrieben. Medienkompetenz meint keinesfalls nur eine instrumentell- qualifikatorische Mediennutzung und -kunde – sehr wohl aber auch. Hinsichtlich der Frage, wie eine so umfassend gedachte Medienkompetenz zu vermitteln sei, greift Baacke selbst schon die Begriffe der Medien-Bildung und -Erziehung auf. Er denkt dar- über nach, wie die “Dimensionen von ‘Erziehung’ und ‘Bildung’ in die Medienkompetenz” einzudenken seien (ebd., S. 121). Medien-Bildung habe dabei im Vergleich zur Intentionalität der Erziehung den Vorteil, dass darin die “Unverfügbarkeit des Subjekts” besser aufgehoben sei – die Unverfügbarkeit eines Subjekts, das “sich nach seinen eigenen generativen Aus- drucksmustern entfaltet” und in “Selbstverantwortlichkeit seinen kommunikativen Status” bestimmt (ebd.). In vergleichbarer Weise, zum Teil im direkten Bezug auf Baackes Text, wird auch in der aktu- ellen Debatte im Angesicht der vermeintlichen Vereinnahmungen und Verkürzungen vehement daran festgehalten, dass dem traditionellen Medienkompetenz-Begriff das unterstellte funktio- nal-technologische Kompetenzverständnis eben nicht gerecht werde (Tulodziecki 2011, S. 22). Die Infragestellung von Medienkompetenz beruhe also auf einem Missverständnis. Die Ver- wendung des Begriffs als anforderungsorientierter Qualifikationsbegriff müsse von dem Kon- Medienbildung, Schulkultur und Subjektivierung 77 zept unterschieden werden, das ursprünglich gemeint war. Dieses lasse sich nicht nur gegen die auf irrigen Annahmen basierenden Einwände “verteidigen, sondern empfiehlt sich im Gegen- satz zur Medienbildung sogar in positiver Weise als Zielwert medienpädagogischer Praxis” (Thomann 2015, S. 12). Medienbildung wird vor diesem Hintergrund als weitere Dimension oder als Synonym von Medienkompetenz in diese eingedacht – ganz im Sinne Baackes. Medienbildung wird dabei als Prozess verstanden, in dem sich das Individuum aktiv, selbstbestimmt und bewusst in ein Ver- hältnis zu seiner medialen Lebenswelt setzt. Das heißt, dass das Individuum seine Persönlich- keit entwickelt, indem es eine Position zu sich selbst und zur Welt – wenn nötig immer wieder neu – autonom bestimmt, von der aus es auch unter schwierigen Umständen in der Lage ist, frei zu denken und zu handeln (vgl. Thomann 2015, S. 4 und 6). Denn ebenso wie Medien- kompetenz habe Bildung nicht allein die Relation ‘Mensch-Medien’, sondern jene von ‘Mensch-Welt’ im Blick. Diese sei wiederum nicht ohne die Fähigkeit zur kritischen Distanzie- rung zu denken. Medienbildung könne so der Gefahr entgegentreten, dass im Zuge der allge- meinen Ausweitung der Kompetenzorientierung “die von den Medien gestellten Anforderun- gen zu ihrer Nutzung” im Vordergrund stehen und nicht mehr “das Subjekt” mit seinen kri- tisch-reflexiven Möglichkeiten (Pietraß 2011, S. 122). Letztlich entspricht dies der KMK- Empfehlung, wenn diese – hier speziell schulische – Medienbildung als fortlaufende Kompe- tenzentwicklung versteht, die auf ein “sachgerechtes, selbstbestimmtes, kreatives und sozial verantwortliches Handeln in der medial geprägten Lebenswelt” zielt (KMK 2012, S. 3; vgl. Tulodziecki 2015, S. 33f.). Medienbildung ist damit im Begriff der Medienkompetenz aufge- hoben bzw. letztere umetikettiert und als eine ausgewiesen, die sich nach wie vor reflexiv, kritisch und insbesondere subjektorientiert versteht. Kritik, Versöhnung und der Neue Geist des Kapitalismus Tatsächlich unterstellt die bildungstheoretisch informierte Medienbildung dem Medienkompe- tenzbegriff gar keine Verengungen und Verkürzungen in dem vermuteten Sinne. Dass dieser in kritischer Absicht konzipiert wurde, ist unbestritten. Sie bietet sich auch nicht als geweitete Alternative an. Sie stellt lediglich die Frage, ob die Verkürzungen und Verengungen oder ob zumindest das, auf was sich alle Abwehrgefechte derjenigen richten, die Medienkompetenz bewahren wollen, ein Betriebsunfall ist – ein Missverständnis, das man aus der Welt schaffen kann, indem man oft genug beteuert, dass es ursprünglich anders gemeint war; oder aber, ob es womöglich einen Grund in der Anlage des Begriffs gibt, der solche Verkürzungen und Veren- gungen, wie sie vermeintlich von den politischen und ökonomischen Diskursen betrieben wer- den, geradezu notwendig nach sich zieht. Medienbildung fragt nach diesem Grund nicht zuletzt in Bezug auf die Vorstellung, die sich Medienkompetenz vom Subjekt macht. Tatsächlich handelt es sich auch gar nicht um Verkürzungen und Verengungen, sondern um eine Verschmelzung, geradezu um eine Versöhnung. Der historische Beitrag der Medienpäda- gogik der letzten 40 Jahre besteht gerade darin, dass sie – wie dies auch in anderen gesell- schaftlichen Feldern geschehen ist – ihr Projekt der Emanzipation eines kreativen, kommuni- kativ-kompetenten, autonomen Subjekts, das nicht zuletzt angetreten war, der “Kapitalisti- 78 Stephan Münte-Goussar sche[n] Produktion” und der “Kapitalisierung von Kommunikation” kritisch zu begegnen (Baacke 1996, S. 113), mit eben dieser kapitalistischen Produktion vermählt hat. Das Unbeha- gen bezüglich der Medienkompetenz rührt deshalb vielleicht weniger daher, dass man mit ansehen muss, wie der ehemals kritische Begriff von den polit-ökonomischen Diskursen derje- nigen, die man als ‘neoliberale Technokraten’ bezeichnen mag, vereinnahmt, instrumentell umgedeutet und damit die Autonomie des Subjekts gefährdet wird. Viel beunruhigender ist, dass man sich von diesen im Grunde nicht zu unterscheiden weiß. So geht beispielsweise die Theorie des Humankapitals anders als frühere ökonomische Ansätze nicht vom Menschen als betrieblichem Kostenfaktor, sondern von einem individuellen, auto- nomen Subjekt aus, das Eigentümer möglichst umfassender Kompetenzen ist, die es investiert. Sie träumt von einem Unternehmer seiner Selbst, der aktiv, frei und vernünftig am Markt teil- nimmt. Kreativität, selbstständiges, kritisches Urteilen, Unkonventionalität, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung, Selbstregulation, Selbstwirksamkeitserwartung, Individualität, Selbst- verwirklichung, Subjektivität, Optimismus usw. sind längst im Herzen jenes politischen und ökonomischen Denkens und Tuns angekommen. Sie sind Teil jener ‘kapitalistischen Produkti- on’ – ja, die von diesem Standpunkt aus formulierte Kritik ist deren entscheidender Innovati- onsmotor und ein Garant dafür, dass sie trotz allem noch nicht kollabiert ist. Hier findet näm- lich jene Entfesselung der Potenziale des Einzelnen statt, die als maßgebliche Produktivkraft der Wissensgesellschaft über unseren Wohlstand entscheidet. Diese Entfesselung, die als Ent- faltung und Selbstverwirklichung zugleich gedacht wird, macht den Neuen Geist des Kapita- lismus aus (vgl. Boltanski & Chiapello 2006). Das emanzipatorische Projekt der Moderne mag nach wie vor unvollendet sein, aber es befindet sich auf seinem vorläufigen Höhepunkt. Das aufgeklärt-humanistische Bildungsdenken, welches die Freiheit eines selbstbestimmt kreativen Subjekts entdeck hat, welches wiederum die Medienkompetenz bis heute beseelt, hat zugleich der Kapitalisierung des Selbst Tür und Tor geöffnet. An dieser Stelle kann man – neben anderen möglichen Thematisierungskontexten – mit der aktuellen bildungsphilosophischen Diskussion die Frage nach den Grundlagen wie den Anti- nomien der aufgeklärten Moderne stellen. Diese Frage steht in einer Linie mit Adornos und Horkheimers 1944 im kalifornischen Exil im Hinblick auf den Faschismus formulierten These: “Wir hegen keinen Zweifel [...], daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklä- renden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben diesen Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet.” (Horkheimer & Adorno [1944] 1988, S. 3) Das gegenwärtige Nachdenken über Bildung richtet sich in einer vergleichbaren Bewegung an ihre eigene Begriffstradition, eben an ein aufgeklärt-humanistisches Bildungsideal. Die Debatte um Medienbildung kann – ja, sie sollte – diese Spur aufnehmen. Im Zentrum steht dabei – wie gesagt – die Frage nach dem Subjekt. Medienbildung, Schulkultur und Subjektivierung 79 Das Subjekt der Medienbildung Die Sorge des “Bildungsbegriff[s] der Aufklärungstradition gilt dem selbstreferenziellen Sub- jekt und seiner Autonomie” (Kokemohr 2007, S. 21). Hartmut von Hentig bringt diese Selbst- bezüglichkeit trefflich und affirmativ auf den Punkt, wenn er formuliert: “Der Mensch bildet sich. [...] Bilden ist sich bilden” (Hentig 1996, S. 39). Bekanntlich hatte auch Wilhelm von Humboldt den wahren Zweck des Menschen – nicht den, der ihm von außen aufgeben wird, sondern den, dem ihm seine ewig unveränderliche Natur vorgibt – in der Entfaltung der im Menschen angelegten Potenziale, namentlich als die “höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen” bestimmt (Humboldt [1792] 1980, S. 64). Allerdings wusste er schon, dass sich Bildung nicht in einem solipsistischen Kreisen des Selbst um sich selbst ver- wirklicht, sondern dass das Selbst einen Widerstand außer sich braucht, an dem es sich üben kann – namentlich das, was Humboldt die Welt nennt und zu der das Selbst die allgemeinste, regeste und freieste Wechselwirkung knüpfen müsse (ders. [1793] 1980, S. 235). Von hier aus begründet sich die Rede von den Selbst- und Weltverhältnissen, die von Humboldt, nicht zu- letzt über Rainer Kokemohr, Winfried Marotzki und Benjamin Jörissen Eingang in die medi- enpädagogische Debatte gefunden hat. Bildung als Selbst- und Weltentwurf Kokemohr versucht nun aber, Bildung als eine Transformation grundlegender Figurationen des Selbst- und Weltverhältnisses – die im Übrigen auch das Verhältnis zu den Anderen, das Anderenverhältnis, einschließen – vor dem Hintergrund radikaler Fremdheitserfahrung zu fassen. Zentral ist dabei der Versuch, das Selbst nicht als eine vorgängige Instanz zu unterstel- len, sondern vielmehr als Moment eines – sich stetig wiederholenden – Prozesses der textuellen Konstitution dieses Selbst zu beschreiben. Es geht also keineswegs um ein transzendentales Selbst, das sich in einer (selbst-)bestimmten Weise zur Welt verhält, sondern vielmehr um einen sich im Anderen – sich in dem, was dem Selbst nicht eigen ist – vollziehenden Entwurf eines Selbst- und Weltverhältnisses. Mit anderen Worten: Entgegen jener cartesianischen- neuzeitlichen Hypothek des modernen, humanistischen Bildungsbegriffs, die sich in der Prä- supposition eines selbstrefereziellen Subjekts niederschlägt, geht Kokemohr davon aus, dass sich eben diese Unterstellung eines autonomen Subjekts ebenso wie ihr Kontext – das ‘Projekt der Moderne’ – zu Recht einer als postmodern zu bezeichnenden Kritik ausgesetzt sehen (vgl. Kokemohr 2007, S. 21f.). Der vorgeschlagene Bildungsbegriff ist vor dem Hintergrund struk- turalistischer und poststrukturalistischer Theorien folglich darum bemüht, die Bildung eines Subjekts als einen fortlaufenden, symbolisch-imaginären Transformationsprozess auszuweisen, d.h. nicht als ein Selbst-Werden, sondern vielmehr als ein Anders-Werden, welches die Formen und Weisen bestimmt, auflöst und (re-)strukturiert, wie sich ein Subjekt zu sich selbst verhält, wie es in der Welt ist und wie es in Bezug darauf zu denken und handeln in der Lage sein wird. Subjektivität wird hier nicht selbst-, sondern strikt sozialreferenziell gedacht. Das Selbst ist nicht in sich selbst, sondern im Anspruch des Anderen begründet. Der Topos der Autonomie, die Opposition zwischen Selbst- und Fremdbestimmung wird damit untergraben. Die identi- 80 Stephan Münte-Goussar tätslogische Dichotomie zwischen Selbst und Welt – als zwei getrennte, wenngleich interagie- rende Entitäten – wird differenztheoretisch unterlaufen. Die Trennung von Subjekt und Objekt, zwischen res cogitans und res extensa wird in eine verflochtene Textur aufgelöst, in ein Kraft- feld, das die Gleichursprünglichkeit all seiner Momente betont, die sich allein aus der Relation, eben der Differenz zueinander bestimmen. Es handelt sich hier in der Tat um eine Bildungstheorie “nach der postmodernen Dekonstrukti- on der ‘modernen’ Subjekthypertrophien”, wie Norbert Meder formuliert (2014, S. 45). Diese Desillusionierung der ‘Allmacht des Ich’ kann wiederum in der aktuellen bildungstheoreti- schen Diskussion – wie sie insbesondere im deutschsprachigen Raum geführt wird – als weit- hin und seit vielen Jahren geteilte, gemeinsame Arbeitsgrundlage gelten (vgl. z.B. Meyer- Drawe 1990; Schäfer 1996; Koller 2001; Ricken 2006; Wimmer 2006). Subjekt und Medien Die Sorge der Medienpädagogik gilt hingegen – wie oben gezeigt – zumeist dem selbstreferen- ziellen Subjekt und seiner durch die digital-vernetzten Maschinen bedrohten Autonomie. Sie hat ihren Ursprung in einem Denken, in dem ein vorgängiges, zur Selbstbestimmung fähiges sowie zur Selbst-Werdung und -Ermächtigung angehaltenes Subjekt gesetzt ist. Darauf fußen all ihre humanistischen, emanzipatorischen und kritischen Ansprüche. Medienkompetenz denkt das Subjekt als Substanz, als geschlossene, mit sich selbst identische Einheit. Diesem Subjekt sind dann die Medien als eine eigene, ebenso klar abgetrennte Entität gegenüber gestellt – als ein Gegenstand. Das Subjekt wendet sich an diese Medien. Es wendet sie an, es nutzt sie, er- kennt sie, produziert sie, beurteilt sie kritisch, kommuniziert vermittels ihrer usw. Das kompe- tente Subjekt entwirft und entfaltet übend seine Kräfte in die mediale Welt hinein. Medien- kompetenz soll das Subjekt befähigen, sich gegenüber den und mittels der Medien als souve- rän, handlungsmächtig, kreativ und selbstverantwortlich zu behaupten. Dieses Modell ist eben- so der Medienerziehung unterlegt – hier vielleicht in besonderem Maße, da die Normativität des Modells offen zu Tage tritt. Aber auch Mediendidaktik bzw. eLearning bedient sich solcher Vorstellungen. Selbstverständlich wird eine Wechselseitigkeit in Rechnung gestellt. Es handelt sich um eine symbolische Interaktion zwischen Subjekt und dem verallgemeinerten Anderen der Medien. Ziel ist aber stets eine stabile Identität und die Handlungsfähigkeit eines im Ich gegründeten individuellen Selbst. Dies gilt noch dort, wo konstruktivistisch-systemtheoretisch argumentierende Ansätze eher eine Kopplung zwischen autopoetischem personalen System und medialer Umwelt annehmen. Was stets bleibt, ist eine Dichotomie zwischen Selbst und Welt, Individuum und Gesellschaft, Mensch und Dingen – hier zwischen dem medienkompe- tenten Nutzer und den technischen Medien, zwischen selbstbestimmtem Subjekt und seiner medialen Lebenswelt. Subjektivität und Medialität Die Sorge der Medienbildung – dort wo sie strukturalistischem Denken und damit der Skepsis gegenüber dem Subjekt als einem universalen, selbstreflexiven Intentionalitätszentrum zuge- Medienbildung, Schulkultur und Subjektivierung 81 neigt ist – gilt weniger einer bedrohten Orientierung an eben diesem Subjekt. Ihre Aufmerk- samkeit gilt vielmehr den – medial konfigurierten – Formen und Weisen der Konstitution von Subjekten. Ein Subjekt ist in diesem Denken ein Effekt symbolischer Ordnungen und sozialer Praktiken. Es ist dabei zwar historisch-konkret, aber nicht notwendig. Um das Kontingente und Prozesshafte der Hervorbringung von Subjekten zu betonen, spricht Medienbildung bevorzugt von Subjektivitäten. Michel Foucault hält für die Bildung dieser Subjektivitäten den Begriff der Subjektivierung bzw. Subjektivation bereit. Den Prozessen der Subjektivierung Aufmerksam- keit zu schenken, bedeutet in Foucaults Worten die “fundamentalen Codes einer Kultur” zu analysieren, “die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen” – denn diese “fixieren gleich zu An- fang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird” (Foucault 1971, S. 22). Sie fixieren – so könnte man sagen – die Selbst-, Anderen- und Weltverhältnisse, in denen sich der Mensch aller erst als Subjekt erkennt und anerkennt, von denen dem Menschen sein Status als Subjekt aller erst zuerkannt wird. Subjektivation im Sinne Foucaults ist – darin Kokemohrs Ansatz nahe – von dem unhintergeh- baren Paradox gekennzeichnet, dass ein Subjekt nur Subjekt wird, insofern es sich jenen Codes unterwirft und im Zuge dieser Unterwerfung zugleich Handlungsmacht, Autonomie erhält – insofern nämlich jene Kräfte, die das Subjekt hervorbringen, auf sich selbst zurückwirken, sich selbst affizieren. Das Subjekt ist eine Falte, ein Aufwurf innerhalb einer beweglichen Struktur. Medienbildung ist vor diesem Hintergrund die “im Rahmen einer kulturtheoretischen und zeit- diagnostischen Ausrichtung” gestellte “Frage nach den Potentialen komplexer medialer Archi- tekturen im Hinblick auf Subjektivierungs- und Bildungsprozesse”, wie es Jörissen knapp auf den Punkt bringt (2011, S. 88). Medienbildung meint Bildung in einer von Medien durchzoge- nen – mediatisierten – Welt. Medien sind immer schon in die Hervorbringung einer beliebig gearteten Subjektivität und damit in diese selbst untrennbar einverflochten. Subjekte sind Ef- fekte einer nicht zuletzt medialen Struktur. In diesem Sinne ist Medienbildung als Bildung im Medium zu verstehen (vgl. Meyer et all. 2008). Von Interesse sind die verschiedenen und histo- risch veränderbaren Arten und Weisen der Hervorbringung von Subjektivität – also die Medien der Subjektivierung. Damit handelt man sich den Vorwurf ein, Medienbildung habe nicht mehr spezifische Bil- dungsprozesse im Blick – nämlich die medienbezogenen –, sondern werfe einen spezifischen Blick auf jegliche Bildungsprozesse im Allgemeinen – nämlich jenen, der das Bildungsgesche- hen unter der Perspektive ihrer Medialität betrachtet. Das mag sein, scheint aber nicht zuletzt deshalb legitim und sogar angezeigt, da in unserer Gegenwart fast sämtliche Bildungsprozesse von Medien auch im engeren Sinne – also von technischen, digitalen Medien – präfiguriert sind. Diese Medien durchziehen sämtliche unserer Lebensbereiche: von der Arbeit über die Politik, das Soziale, bis hin zur Liebe und hinein in unseren Körper sowie eben die Bildung. Die Codes, von denen Foucault spricht, sind heute nahezu wörtlich zu nehmen. Es handelt sich in zunehmenden Maße um Programmiercodes, um Algorithmen, die unsere Wahrnehmungs- schemata, unseren Austausch, unsere sozialen Praktiken beherrschen. Man muss den Medien- begriff also nicht derart weiten und etwa die primären Medien der Sprache oder des Körpers mit hinzunehmen, um zu dem hier gemeinten Begriff von Medienbildung zu gelangen. Man 82 Stephan Münte-Goussar kann bei jenen ‘Medien’ bleiben, die traditionell zum Gegenstandsbereich der Medienpädago- gik gehören. Medialität und Subjektivität Und dennoch sind ‘Medien’ – auch die technischen, auf die sich die Medienpädagogik vor- nehmlich bezieht – keine Geräte. Sie sind nicht als Gegenstände zu denken; schon gar nicht als solche, zu denen sich ein diesen als vorgängig angenommenes Subjekt kritisch-distanziert, selbstbestimmt und kompetent verhalten könnte. Wir sind schon immer mit diesen Medien verwoben. Sie durchdringen uns. Sie sind in uns. Wir sind sie. Sie sind nicht als uns äußerliche Dinge zu analysieren, sondern als Strukturen mit subjektivierender Wirkung: als Wissens- Archive, als Programme sozialer Praktiken, als Sprachspiele, Rhizome, relationale Wirkge- flechte, Versammlungen, als Macht- und Selbsttechnologien. Dies wird umso augenscheinli- cher, je kleiner, je immaterieller, je schneller, je allgegenwärtiger, je globaler auch die konkre- ten Techiken der Medien werden. Um den prozeduralen, fluiden Charakter der Medien anzu- zeigen, kann man besser und in Analogie zur Rede von Subjektivität von Medialität sprechen. Diese Medialität ist in unserer Gegenwart zumeist als Netzwerk formiert. Eine strukturalisti- sche Betrachtungsweise, die im Kern eine Theorie der Relationen, der Differenz, der Korrelati- onen, der Referenzierungen und Affizierungen ist, wird in den Infrastrukturen der digitalen Netzwerktechniken ganz praktisch. Umgekehrt inspiriert das Netz – die Erfahrung, die wir alltäglich damit machen – unser Denken und wirkt als Paradigma in allen Lebensbereichen. Die stets anwesenden Netzwerke bestimmen, was wir wissen, wie wir denken, was wir wollen, wie wir entscheiden, was wir tun – letztlich wer wir sind. Man kann sie mit Bruno Latour als hybride, sozio-technische Netzwerke ansprechen, die menschlichen und nicht-menschlichen Wesen ein gemeinsames Zuhause geben (vgl. Latour 2008). Ted Nelson, der als Erfinder des Internets gelten kann, hatte dies in der oft zitierten Formulierung gefasst: “Everything is deeply intertwingled. In an important sense there are no ‘subjects’ at all; there is only all knowledge, since the cross-connections among the myriad topics of this world simply cannot be divided up neatly.” (Nelson 1987) Vielleicht sollte man gar nicht von Medien sprechen, sondern schlicht von – digitalen, ebenso programmierten wie programmatischen Netzwerk- – Technologien. Wenn man dabei einen weiten Technikbegriff anlegt – nämlich im Sinne eines mehr oder minder strikt festgelegten Verfahrens, das bestimmt, wie eine spezifische Handlung, eine Operation ausgeführt wird, d.h. als eine Handlungsanleitung, eben ein Programm –, ist diese Vorstellung von Medien unmit- telbar anschlussfähig an jegliches Nachdenken über Pädagogik wie auch über Bildung. Als Handlungswissenschaft hat Pädagogik ständig mit Techniken zu tun. Mit Foucault bietet sich hier der Begriff der Technologien des Selbst an. Die Analyse der Techniken des Selbst ist in besonderem Maße geeignet, der paradoxalen Struktur von Bildung gerecht zu werden, insofern Foucault darunter Handlungsvorschriften versteht, die bestimmen, “was man mit sich selbst tun, welche Arbeit man an sich verrichten und wie man ‘Herrschaft über sich selbst’ erlangen soll durch Aktivitäten, in denen man selbst Medienbildung, Schulkultur und Subjektivierung 83 zugleich Ziel, Handlungsfeld, Mittel und handelndes Subjekt ist” (Foucault [1981] 2005, S. 259). Vor diesem Hintergrund können die komplexen medialen Architekturen, die Jörissen als zent- rales Analysefeld der Medienbildung annimmt, als Dispositiv beschrieben werden. Foucault hatte das Dispositiv als das Netzwerk definiert, welches zwischen Diskursen, Machtpraktiken und Selbsttechniken geknüpft ist (vgl. Münte-Goussar 2015; Othmer & Weich 2015). Kritik und Medienbildung Wenn nun Medienbildung auf ein selbstbezügliches Subjekt verzichtet und dieses allein als Effekt, als Komplikation einer spezifischen Struktur, d.h. als ein aus der Unterwerfung unter soziale, diskursive, mediale Strukturen und Praktiken Hervorgegangenes denkt, verzichtet sie dann nicht auch auf einen Standpunkt der Kritik? Wird sie nicht beliebig? Zumindest entgeht sie der unfreiwilligen Komplizenschaft mit dem, was sie zu kritisieren vor- gibt. Sie entgeht der List der Macht, die dafür sorgt, dass der sich außerhalb wähnende, positi- ve Standpunkt der Kritik immer schon mit dem zusammenfällt, was von dem, auf das die Kri- tik zielt, aller erst hervorgebracht wird. Kritik ist stets auf Immanenz und Negativität verwie- sen. Gerade in seinen frühen Texten betreibt Marotzki Medienbildung als eine “bildungstheoretisch inspirierte Internetkritik in erziehungswissenschaftlicher Absicht”, d.h. in der Nähe einer Netz- kritik im Sinne Geert Lovinks (vgl. Marotzki & Kluge 1999; Marotzki 2000; nettime 1997). In diesem Kontext kann man schon 1997 lesen, inwiefern das Internet eine kapitalistische Um- strukturierung der Gesellschaft in eine ‘neoliberale Kontrollgesellschaft’ katalysieren und ver- stärken werde. Dies ist mit dem Aufkommen des Web 2.0 ein wenig in Vergessenheit geraten, da das neue Web erfolgreich den Anschein erwecken konnte, die radikaldemokratischen Grün- dungsnarrative des Internets revitalisiert zu haben. In diesem dürfen wir nun nämlich alle als Prosumenten mitmachen. Es wird an Berthold Brecht und Walter Benjamin erinnert oder an die Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace von John P. Barlow, zu der Lovink und Pit Schultz damals sofort einen Anti-Barlow verfasst hatten (vgl. Barlow 1996; Schultz & Lovink 1996). In Alvin Tofflers Magna Charta of the Knowledge Age (Toffler et al. [1995] 2007), zu der Baacke in dem besagten Text eine eher zögerlich abwartende Haltung einnimmt (vgl. Baa- cke 1996, S. 112ff.), erblicken Schultz und Lovink sogleich einen beispielhaften Ausdruck einer ‘neoliberalen Ideologie’, die als Handreichung für die Etablierung einer “deregulierten globalisierten Info-Ökonomie” gelesen werden muss (Schultz & Lovink 1996). Das Web 2.0 hat nur noch deutlicher gemacht, was diese kritischen Stimmen schon vor knapp 20 Jahren als Kalifornische Ideologie beschrieben haben, nämlich als die Verschmelzung von neoliberalem Marktfundamentalismus mit Freiheit und Selbstverwirklichung versprechendem, LSD konsu- mierendem und zugleich technikaffinem Hippietum. Diese Verschmelzung ist der Geschichte der Medienpädagogik nicht unähnlich. Entscheidend ist aber, dass diese Kritik nicht von einer jenseitigen Position aus formuliert wird. Die Kritik erwächst aus den Strukturen selbst, die sie kritisiert. Die Netzkritik artikuliert 84 Stephan Münte-Goussar sich aus den Netzen heraus. Es geht um deren Umwendung, nicht um deren Zurückweisung, selbstbestimmte Anwendung oder um die individuelle Bewältigung der mit ihnen verbundenen Risiken. Es hat keinen Sinn, dem Unbehagen an den Netzstrukturen ein autonomes Subjekt mit kompetentem, kritischem Nutzungsverhalten entgegen zu stellen. “Netzkritik ist nicht mehr als eine bestimmte offene Textform” (nettime 1997, S. 5). Sie ist eine Umschrift, eine Reartikula- tion der Textur des Internets. Diese gibt sich der praktischen, mitunter beängstigenden Erfah- rung hin, dass sich “Begriffe von Subjekt, Wissen, Zeit und Raum und Eigentum im ‘Netz’ veraendern” (Lovink & Schultz 1997, S. 345).     Medienbildung und Schule Was bedeutet dies nun für eine Medienbildung in der Schule? Wie ‘befördert’, wie ‘implemen- tiert’ und auch wie untersucht man in diesem Horizont Medienbildung in der Schule? ‘Medienbildung in der Schule’ Die ‘Medienbildung’ etwa im Sinne der KMK-Empfehlungen versucht, Schülerinnen und Schüler einen kompetenten Umgang mit Medien zu vermitteln – auch jenseits des Elternhauses und abseits kommerzieller, konsumorientierter Anwendungen – und sie in die Lage zu verset- zen, diese für das eigene Lernen und Arbeiten einzusetzen. Schülerinnen und Schüler sollen durch eine ‘kluge Pädagogik’ und ‘guten Unterricht’ die Chancen der digitalen Medienangebo- te für eine Optimierung ihres individuellen – nicht zuletzt selbstgesteuerten – Lernens nutzen und ihren Lernerfolg durch deren gezielten Einsatz als Lern- und auch Lernprozess-Analyse- Werkzeug verbessern. Umgekehrt sollen sie die Risiken der Medien kennen und sich in den digitalen Welten verantwortungsvoll und sicher bewegen. Letztlich geht es um die erfolgreiche Teilhabe an der ‘Wissensgesellschaft’ jedes Einzelnen. Mit anderen Worten: Die Bemühungen zielen auf ein Lernen mit und über Medien. Es geht zum einen darum, die digital-vernetzten Technologien im mediendidaktischen Sinne für die Verbesserung der Qualität von Unterricht und zur Erhöhung der Effizienz von Lehr- und Lernprozessen zu nutzen; zum anderen um die Entwicklung von Medienkompetenz seitens der Schülerinnen und Schüler. Der ‘Einsatz von Medien’ scheint in der Schule nur unter dieser Zielsetzung sinnvoll und legitim. Sie müssen – so die allgemein geteilte Forderung – einen pädagogischen ‘Mehrwert’ erzeugen. Wenn man Medien unter dieser Maßgabe lediglich als Lerngegenstand und -mittel begreift, hat dies den Vorteil, dass sie sich – zumindest vermeintlich – recht unproblematisch in schulische Strukturen einfügen lassen. Dass selbst diese ‘Implementierung’ nur schleppend gelingt, dass Medien z.T. regelrecht ausgesperrt werden, hat Gründe, nicht zuletzt diesen: Man ahnt, dass Medien doch mehr sind als ein beherrschbarer Gegenstand, dass ihnen vielmehr eine kaum kontrollierbare Eigendynamik zukommt, dass sie sich in einem rasenden Tempo verändern, dass sie offenbar unendlich vernetzt sind. Man spürt, dass sich in ihnen letztlich ein unabsehba- rer Kulturwandel anzeigt. Medienbildung, Schulkultur und Subjektivierung 85 Schule im Medium Geht man von einem bildungstheoretisch inspirierten Begriff von Medienbildung in Bezug auf Schule aus, kann es kaum allein um ein Lernen mit und über Medien in überkommenen schuli- schen Strukturen gehen. Man bekommt eine Ahnung davon, dass der Versuch, subjektive Handlungsmacht gegenüber und mit ‘den Medien’ zu erwirken, geradezu hilflos erscheint; dass die Förderung individuell zu entwickelnder Fähigkeiten, Medientechnologien selbstbestimmt einsetzen und kritisch reflektieren zu können, nur den Abglanz einer ganz anderen Herausfor- derung darstellt: Wo die komplexen medialen Architekturen, wo die sozio-technischen Hyb- ridwesen – nicht zuletzt über die Schülerinnen und Schüler – aus der Umwelt der Schule in diese selbst eindringen; wenn sie gar wohl überlegt und mit kritischer Distanz in Form von Internetanschluss, iPad-Klassen, WLAN-Ausleuchtung, Cloud-Diensten oder Bring Your Own Device (BYOD) hineingeholt werden, werden die äußeren wie inneren Grenzen der schulischen Ordnung brüchig. Es kommt zur ‘Entgrenzung der Schule’. Die Logiken und Logistiken der Netzwerkkultur lassen sich nicht ohne weiteres in tradierte schulische Abläufe integrieren. Sie machen diese nicht einfach nur ein wenig individueller, kreativer, multimedialer und effizien- ter. Sie stellen die Organisationsweisen des Lernens, die Lehr-/Lernkultur und insbesondere die grundlegenden Organisationsformen der Schule, die Schulkultur, selbst in Frage. Sie zeigen, dass bestimmte Grenzen nur mit hohem Energieaufwand aufrechterhalten werden können. Sie greifen jene Notwendigkeiten an, ohne die Schule kaum denkbar ist, die uns zumindest als selbstverständlich, geradezu natürlich erscheinen. Auch die Schule ist ein Effekt bestimmbarer, historisch-konkreter Strukturen. Im Übergang zur Netzwerkgesellschaft verändern sich diese. So wie Medienbildung als Bildung im Medium verstanden werden kann, kann auch ‘Medien- bildung in der Schule’ sinnvoll nur als Schule im Medium gedacht werden. Vor diesem Hintergrund muss man die Frage stellen, ob Schule weiterhin auf den hergebrach- ten Organisationsstrukturen beruhen kann oder aber heute anders werden muss. Medienbildung in der Schule muss in jedem Fall jene Unverträglichkeiten, die notwendig entstehen, wenn das Netzwerk auf Schule stößt, auf schul-struktureller Ebene mitbedenken. Dies erfordert die Re- flexion – besser eine Reartikulation – des Selbstverständnisses der Institution Schule, ihrer Akteure und ihrer Organisationsformen. Digitale Vernetzungsmedien haben in diesem Sinne eine katalytische, geradezu subversive Funktion (vgl. Hawkridge 1990; Ulbrich et al. 2015). Raum, Zeit, Wissen und Soziale Praktiken Dabei treten zumindest vier Bereiche in den Fokus – und zwar nicht als solche, die quasi na- turwüchsig von den digital-vernetzten Technologien umgewälzt werden, um sich sogleich in eine neue, harmonische Struktur zu fügen, sondern ganz im Gegenteil, als solche, wo es zu Spannungen kommt, wo sich Brüche und Inkompatibilitäten zeigen. Diese Spannungsfelder gilt es zunächst als solche zu erkennen, um sie sodann behutsam und umsichtig neu zu gestal- ten. Dies betrifft erstens die zeitliche Rhythmisierung der Schule, also etwa Fragen nach der Notwendigkeit eines 45-Minuten-Takts, der Anordnung der Lernzeiten mittels Stundenplänen, aber auch die Notwendigkeit von homogenen Jahrgangsklassen – und zwar u.a. vor dem Hin- 86 Stephan Münte-Goussar tergrund der medientechnischen Möglichkeiten asynchroner Kommunikation und eines Al- ways-On. Dies betrifft zweitens die Verteilung und Bewegung der Individuen im Raum, also auch die Architektur, die technische Infrastruktur und damit einhergehend die Frage, wie sich Schule zur Mobilität und Ubiquität digitaler Medien und zu virtuellen Lernorten verhält. Dies betrifft drittens die Darbietungsformen und Verarbeitungsprozeduren des Wissens, also auch den Fächerkanon und das Curriculum. Hier stellt sich auch die Frage, wie der Umgang mit digitalen Technologien im Sinne einer vierten Kulturtechnik – neben Lesen, Schreiben und Rechnen – praktiziert werden kann. Aber ebenso das schulische Leitmedium Buch muss sich etwa im Verhältnis zu dem neu positionieren, was mit dem Schlagwort ‘Open Educational Resources’ verbunden ist. Viertens und schließlich betrifft es die sozialen Praktiken der Schu- le, d.h. die Formen der Kommunikation und des sozialen Austausches, die Verfahren des so- wohl individuellen als auch gemeinschaftlichen Lernens und der Kooperation sowie damit nicht zuletzt die Formen der Bewertung individueller Leistungen, also die Prüfung (vgl. Jöris- sen & Münte-Goussar 2015). Letztlich sind also all jene Ordnungen und Verfahren gemeint, die Foucault als die Machttech- niken der industriellen Moderne, namentlich als die Techniken der Disziplinen beschrieben hatte. Auch die Schule lässt sich als Dispositiv analysieren (vgl. z.B. Pongratz 1990). Die Aus- richtung dieses Dispositivs lässt sich wiederum nur schwer in dem ausmachen, was Schule als ihre vornehmste Aufgabe begreift, nämlich das Lernen und die Bildung jedes Einzelnen best- möglich zu fördern. Das Dispositiv zielt vielmehr auf das, worüber Schule weit weniger gern spricht und dennoch erfüllt: ihre Normalisierungs- und Selektionsfunktion. Tatsächlich ist die im Entstehen begriffene partizipatorische Netzkultur (vgl. Jenkins 2009) mit dieser tradierten Schulkultur zunehmend inkompatibel. Folgt letztere den Prinzipien der Linearität, der Hierar- chie, der Isolation der Einzelnen und der Kontrolle über das Gesicherte, speziell in Bezug auf die Leistungsmessung, ist erstere durch Kollektivität, Vernetzung, Teilung von Wissen, Zusam- menarbeit und der Emergenz von Neuem gekennzeichnet. Medienbildung und Schulkultur – Medienbildung als Schulentwicklung Medienbildung in der Schule sollte dort, wo sie als forschende Perspektive verstanden wird, die Nähe zum Begriff der Schulkultur suchen, wie ihn nicht zuletzt Werner Helsper angelegt und wie er sich in vielfältigen Forschungsaktivitäten ausdifferenziert hat (vgl. Böhme et al. 2015). In ähnlicher Weise wie die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse Bildung als einen symbolisch-imaginär prozessierenden Welt- und Selbstentwurf begreift; vergleichbar mit dem, wie Medienbildung Subjektivierungsweisen im Horizont von struktural gedachter Media- lität analysiert, wird hier Schule im Rahmen eines strukturgenetischen Ansatzes eben als Schulkultur, d.h. als symbolische Sinnordnung und gleichsam als dynamisches Ergebnis und Ausdruck sozialer Praktiken begriffen. Schulkultur in diesem Sinne wird nicht von handelnden, autonomen Subjekte gemacht. Sie ist unabhängig von den Intentionen der Einzelnen. Die Ak- teure sind vielmehr innerhalb einer gegebenen, durchaus dynamischen Struktur an spezifischen Subjektpositionen platziert. Schulkultur hat dabei stets einen medientechnischen Zuschnitt. Sie ist nicht nur soziokulturell, sondern ebenso medienkulturell nachzuzeichnen. In dieser doppel- Medienbildung, Schulkultur und Subjektivierung 87 ten Perspektivierung kommen die Verwobenheit medialer, schulischer und subjektivierender, also bildender Strukturen und deren Veränderungen in den Blick. Es gibt immer eine mediale Schulkultur, die einer schulischen Medienkultur unterlegt ist. Alle drei Ansätze eint zudem ihre Nähe zu ethnographischen Forschungsmethoden. Während die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse eben diese Prozesse in biographischem Ma- terial aufspürt, hat die strukturale Medienbildung u.a. das Verfahren der Online-Ethnographie entwickelt. Die Schulkulturtheorie unterhält wiederum klare Bezüge u.a. zu Claude Lévi- Strauss’ ethnologischem Strukturalismus und bedient sich neben hermeneutisch- rekonstruktiven ethnographischen Forschungsstrategien. Auch Foucault hatte seine Arbeit als eine innere Ethnologie der eigenen Kultur verstanden (vgl. [1967] 2001, S. 767). Insofern Schulkulturtheorie letztlich einen Blick auf die Institution Schule in ihrer kulturellen Gewordenheit wirft und gleichzeitig auf ihren Beitrag zu eben dieser Kultur, stellt sich für forschendes Arbeiten im Feld der Medienbildung in der Schule die Frage, wie sich ein solcher Beitrag gestaltet: Wie muss Schule sich entwerfen? Neben einer strukturanalytisch- ethnographischen Ausrichtung sollte schulische Medienbildung somit eine gestaltungsorien- tierte Perspektive einnehmen. Sie rückt damit in die Nähe des Designs (vgl. Jörissen 2015) und so in die Nähe solcher Ansätze, die unter dem Stichwort Design Based Research diskutiert werden. Diese ebenso praktische wie bildungspolitische Aufgabe, zu der sich Medienbildung aufgerufen sieht, kann man auf die Formel bringen: Medienbildung als Schulentwicklung. Die Funktion der Wissenschaft besteht dabei aber mitnichten darin, spezifische Maßnahmen zur Neugestaltung von Schule anzuregen oder gar vorzuschreiben, um sie sodann ob ihrer Wirk- samkeit und hinsichtlich der Erreichung vorab festgelegter Ziel zu bemessen und zu bewerten. Die Analyse grundlegender Strukturen eröffnet vielmehr Denkmöglichkeiten und Gestaltungs- spielräume. Sie lässt das Anders-Werden von Schulkultur wahrscheinlicher werden. Design stellt immer auch Angebote bereit, auf bestimmte Weise zum ‘Nutzer’ eines Dings oder zum Akteur – besser zum Aktant im Sinne Latours – innerhalb eines sozialen Zusammenhangs zu werden. Praktiken im Umgang mit Dingen und Strukturen sind auch Praktiken des Selbst, die den ‘Nutzer’ als eine Weise des Selbstverhältnisses überhaupt erst hervorbringen. Die zu gestaltende Schulkultur ist also auf ihre subjektivierende Wirkung hin zu befragen, also da- nach, welche verschiedenen Formen von Subjektivität sie hervorbringt, welche sie begünstigt und welche sie ausgrenzt. Kritik, Medienbildung und Schule: ‘School’s out!’ Auch der Blick auf Schulkultur kann sich nicht darin erschöpfen, die Verfassung von ‘Schule am Ende der Buchkultur’ zu konstatieren und das Neue herbeizusehen, welches ohnehin schon an die Tür klopft. Momentan sind es nämlich zumeist ökonomische Rationalitäten, die das Lernen in der Netzwerkgesellschaft vorantreiben. Generell ist die ursprüngliche, verschwende- rische Allmende-Struktur der Netzwerke, in der Inhalte frei und offen hergegeben und ausge- tauscht werden, einer zunehmenden an Effizienz ausgerichteten Ökonomisierung unterstellt: Dabei verdienen diejenigen, die leere Plattformen anbieten und die Aufmerksamkeitsströme 88 Stephan Münte-Goussar lenken, das Geld, während diejenigen, die die Kultur und Inhalte schaffen, leer ausgehen. Dies wird auch Bildung betreffen. Lewis J. Perelman postulierte bereits 1992 unter dem Eindruck von Hyperlearning’ und ‘New Technology’ aus einer offen marktliberalen Perspektive ‘the End of Education: School’s out!’. Man darf also nicht glauben, dass die neu entstehende Netzwerkkultur eine deliberative Demo- kratie, gerechte gesellschaftliche Teilhabe und ein friedliches ‘Global Village’ quasi im Selbst- lauf aus sich heraus entlässt. Die von Manuel Castells beschriebene Netzwerkgesellschaft kennt vielmehr eine tiefe Spaltung: auf der einen Seite die ‘hochtalentierten’, ‘kreativen’ ‘reflexiven’, ‘selbstgesteuerten’ “Selbstprogrammierer”, auf der anderen Seite die “menschlichen Termi- nals”, die neue Reservearmee des dauerhaft prekarisierten ‘Dienstleistungs- und Kulturproleta- riats’ (vgl. Castells 2004, S. 392). Gerade weil dem so ist, braucht es einen Ort zur kritischen Vergegenwärtigung und der Ausbildung einer im Zweifelsfall auch widerständigen Haltung. Wie die Geschichte des Einzuges der jeweils neusten Medien-Techniken in die Schule zeigt, konnten diese sich selten dem Sog entziehen, für die Effektivierung der jeweiligen schulischen und damit der gesellschaftlichen Überwachungs- und Drilltechniken in Dienst genommen zu werden. Das ‘Sprachlabor’ – das nicht von ungefähr an das von Foucault beschriebene Panop- ticon erinnert – oder der ‘Programmierte Unterricht’ mit seiner Teaching Machine sind hier prägnante Beispiele. Die satirische Neuauflage der Teaching Machine als Tablet Edition zeigt etwa, dass dies mehr mit uns heute zu tun hat, als man zunächst glauben mag (vgl. Skinner 1954). Auch die neuen Verfahren und Techniken der Selbststeuerung, Eigenverantwortung und Parti- zipation, an denen sich die Medienpädagogik traditionell begeistern kann und die mit dem Web 2.0 einen Schub bekommen haben, sind womöglich letztlich nur neue Formen der Kontrolle mit freiheitlichem Aussehen. Gilles Deleuze weist bereits 1990 darauf hin, dass auch Foucault um die kurze historische Dauer der Disziplinartechnologien wusste. Die Disziplinargesell- schaft wird von der Kontrollgesellschaft abgelöst (vgl. Deleuze 1993). Ein individuelles, effi- zientes Zeitmanagement, unablässige Bilanzierung der je eigenen Kompetenzzuwächse, stän- dige Verfahren der Selbstoptimierung etc. verbreiten “eine unhintergehbare Rivalität als heilsamen Wetteifer und ausgezeichnete Mo- tivation, die aber die Individuen zueinander in Gegensatz bringt, jedes von ihnen durchläuft und in sich selbst spaltet” (ebd., S. 257). Angesichts dieser Selbstkontrollverfahren im offenen, autonomen Milieu erscheinen uns die straffesten disziplinären Einschließungen vielleicht irgendwann als Relikte einer freundlichen und rosigen Vergangenheit. Verweigert sich Schule aber – aus Borniertheit oder einer falsch verstandenen kritischen Hal- tung gegenüber jenen wenig erfreulichen Zügen der schönen neuen Medienwelt – der Ausei- nandersetzung mit der Netzkultur und damit mit ihren eigenen Organisationsprinzipien, droht sie, von den vermeintlichen Notwendigkeiten eben jener neuen Welt überrollt zu werden. Da- mit läuft sie tatsächlich Gefahr, bestenfalls qualifikatorisch-intrumentelle Medienkompetenz- vermittlung zu machen; schlimmstenfalls langfristig ihre Legitimation und am Ende ihr staat- Medienbildung, Schulkultur und Subjektivierung 89 lich garantiertes Bildungsmonopol zu verlieren. Wo wäre dann aber der kulturelle Ort, um hinsichtlich der sozialen Umwälzungen, die mit dem Übergang zur Netzwerkgesellschaft ge- meint sind, eine kritische Haltung zu bilden? Wo wäre die kleine Welt, die sich selber ein Netzwerk aufbauen kann, wo man sich in Bescheidenheit in den neuen Umgangsweisen aus- probieren, wo man Fehler machen kann, wo eine schulische Medienkultur ausgebildet werden kann? Schule muss jene medialen Strukturen, in die sie eingelassen ist, die sie durchdringen und zersetzten – möglicherweise anders – kultivieren. Dafür gibt es keinen geeigneteren gesell- schaftlichen Ort als die Schule selbst. Dafür braucht es Medienbildung in der Schule. Schluss Der Versuch einer Unterwanderung der ‘Subjekthypertrophien’ hat ein einfaches Motiv. Die Orientierung am Subjekt verstellt sich die Sicht auf die radikale Abhängigkeit dessen, woran sie sich hält. Sie verkennt, dass dieses Subjekt, welches ihr als fester Grund und als kritischer Zielwert gilt, aller erst bildend hervorgebracht wird. Norbert Ricken formuliert, dass mit der Unterstellung eines selbstbestimmten Subjekts zwar Entfaltung und Entwicklung “wie auch Individualität und Selbstmächtigkeit” in den Blick kommen, “nicht aber Verfall, Abhängigkeit und Sozialität” (Ricken 2006, S. 268). Und dies – so Ricken an anderer Stelle in Bezug auf Emanuel Lévinas – “läuft auf ein ‘ich kann’ hinaus [...]. Diese Philosophie ist eine Philosophie der Macht, [...] eine Philosophie der Ungerechtigkeit. [...] Sie führt zwangsläufig zu einer anderen Macht, zur imperialen Herrschaft, zur Tyrannei” (Lévinas 1987, S. 55ff., zit. n. Ricken 1999, S. 215). Schulische Medienbildung sollte nicht darauf zielen, ein selbstbestimmtes, kreatives Ich-Selbst zu bilden, welches Medien beherrscht und damit umgehen kann. Sie sollte dem Eingeständnis der eigenen Gewordenheit in einer mediatisierten Welt Gehör verschaffen, um die Kultivierung dieser Welt, der Schule und des Selbst zu ermöglichen. Literatur Aufenanger, Stefan (1999): Medienkompetenz oder Medienbildung? Wie die neuen Medien Erziehung und Bildung verändern, Bertelsmann Briefe, Heft 142, S. 21-24. Baacke, Dieter (1996): Medienkompetenz – Begrifflichkeit und sozialer Wandel. In: Rein, Antje von (Hrsg.). Medienkompetenz als Schlüsselbegriff. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 112-124. 90 Stephan Münte-Goussar Barlow, John Perry (1996): Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace, Telepolis, 8. Februar 1996; abgerufen unter: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/1/1028/1.html [Stand vom 2-1- 2016]. Becker, Gary S. (1995): Human Capital. 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Anhand Benjamin Jörissens Blog-Eintrag “Medienbildung in 5 Sätzen“ wird im Text konstruktiv herausgearbeitet, an welchen Punkten Medientheorie insbesondere die Grundannahmen der Me- dienbildungstheorie schärfen kann und inwiefern medientheoretisch informierte Analysen in die- sem Rahmen Perspektiven für die medienpädagogische Praxis liefern können. Die von Benjamin Jörissen und Winfried Marotzki konturierte Medienbildungstheorie weist viele Anschlussmöglichkeiten zu medientheoretischen Ansätzen auf. Wie wir an anderer Stelle exemplarisch vor dem Hintergrund von Hartmut Winklers kumulativer Mediendefinition auf- gezeigt haben, kann Medientheorie dabei helfen, Medienbildung im Hinblick auf den Begriff und die Rolle von Medialität und ihre Bezüge zu Fragen der Subjektivierung, der Produktion von Wissen und der Einordnung in bzw. der Hervorbringung von Machtkonstellationen theore- tisch zu schärfen. (Vgl. Othmer/Weich 2014) Wie verschiedene Rückmeldungen auf den Text gezeigt haben, wird eine derartige medientheoretische ‘Intervention’ von Teilen der Medien- bildungsforschung sehr begrüßt und sogar eingefordert, sie noch deutlich weiter zu treiben.1 Ziel dieses Beitrages ist es dementsprechend, den eingeschlagenen Weg ein Stück weiter zu gehen. Grundlage ist erneut ein medientheoretisch perspektiviertes Close-Reading eines Textes zur Medienbildung – diesmal von Benjamin Jörissen allein und diesmal zudem ein Blog- Beitrag, der das Ziel verfolgt, “in aller Kürze anhand einiger Thesen möglichst allgemeinver- ständlich” die Kernaspekte des Medienbildungs-Konzepts darzulegen. (Jörissen 2013b) Es kann also im Close-Reading nicht um allzu feingliedrige theoretische Details gehen, sondern in erster Linie um die Herausarbeitung und Diskussion von gerade im (komplexitätsreduzierten) Blog-Format besonders sichtbar werdenden Grund- und Vorannahmen. In den folgenden Über- legungen wird der Text in erster Linie genutzt, um eine allgemeinere Erörterung daraus zu erarbeiten, welche Rolle Medientheorie bzw. auch Medienwissenschaft als deren Kerndisziplin 1 Insbesondere Benjamin Jörissen in der gemeinsamen Diskussion des Papers auf der Tagung “Medien, Wissen, Bildung - Medienbildung wozu?” in Innsbruck: http://media.brainity.com/uibk2/mwb2015/wp- content/uploads/2014/08/Othmer-und-Weich.mp3. Der folgende Text reagiert in Teilen auf die dort dis- kutierten Aspekte und Positionen. Um die Verständlichkeit des Textes auch für jene zu gewährleisten, die bei der Diskussion nicht anwesend waren, sind die Argumente selbst nochmals aufgeführt. Eine weitere einschlägige Rückmeldung erreichte uns von Ben Bachmair, der anmerkte, dass der Text noch nicht weit genug gegangen wäre und es noch ausstünde “diese neuen Pfade zu gehen”. 96 Julius Othmer & Andreas Weich im Hinblick auf die im Blog-Beitrag thematisierten Begriffe bzw. Konzepte Medienbildung, Medienkompetenz, e-Learning und (Medien-)Didaktik bzw. “Didaktik der Medienpädagogik” spielen kann, und wie sich die genannten Bereiche aus medienwissenschaftlicher Sicht zuei- nander ins Verhältnis setzen lassen. Medienbildung in 5 Sätzen In seinem Blogbeitrag aus dem Jahr 2013 unternimmt Benjamin Jörissen den Versuch, das Konzept “Medienbildung” aus seiner Sicht in fünf Sätzen (bzw. auch “ein paar Sätzen mehr”) komprimiert darzulegen. (Jörissen 2013b) Der erste Satz lautet: “Medienbildung ist Bildung in einer von Medien durchzogenen – ‘mediatisierten’ – Welt.” Die Annahme einer von Medien durchzogenen Welt scheint zunächst vielen medientheoreti- schen Ansätzen sehr nah. Als Präzisierung lässt sich jedoch am Begriff der Mediatisierung die Frage aufwerfen, wie genau die Verhältnisse von Medien, dem Durchziehen und der Welt zu veranschlagen sind. Wie Jörissen selbst an anderer Stelle schreibt, versteht er Mediatisierung nicht im Sinne Friedrich Krotz, sondern im Sinne Dieter Merschs (Jörissen 2014). Krotz ver- steht unter “Mediatisierten Welten” laut Selbstdarstellung des gleichnamigen DFG- Schwerpunktprogramms “Handlungsfelder und Sozialwelten […], in denen sich die relevanten Formen gesellschaftlicher Praktiken und kultureller Sinngebung untrennbar mit Medien verschränkt haben. Mediatisierte Welten konkretisieren sich in Öffentlichkeit und Politik, aber auch in Alltag, sozialen Beziehungen und Geschlechterverhält- nissen, Erwerbsarbeit und Konsum, gesellschaftlichen Institutionen und Arbeits- organisation. Der Begriff ‘Mediatisierung’ bezeichnet im deutschen, aber auch zunehmend im englischen und skandinavischen Wissenschaftsraum (‘mediatiza- tion’) einen ähnlich übergreifenden Entwicklungsprozess wie Globalisierung o- der Individualisierung, nämlich die zunehmende Prägung von Kultur und Gesell- schaft durch Medienkommunikation.”2 Im Rahmen dieses Mediatisierungsverständnisses wird deutlich, dass ein relativ enger – man könnte gar sagen: verkürzter – Medienbegriff zugrunde gelegt wird. Es scheinen in erster Linie ‘Neue Medien’ gemeint zu sein, die eine als vormals nicht mediatisiert angenommene Welt zunehmend “mediatisieren”. Medientheoretisch gesehen ist eine solche Modellierung proble- 2 http://www.mediatisiertewelten.de/startseite.html; für eine ausführlichere Darstellung dieses Mediatisie- rungsverständnisses siehe Krotz/Hepp (2012). Und noch ein paar Sätze mehr… Anmerkungen zu “Medienbildung in 5 Sätzen” 97 matisch, da die Vorstellung einer “Kultur und Gesellschaft”, die nicht durch “Medienkommu- nikation” geprägt ist, angesichts der meisten medientheoretischen Medienbegriffe nicht haltbar ist. Denn egal ob mit McLuhan, Kittler, Winkler usw. – immer sind Medien entschieden mehr als das, was gerade als ‘Neue Medien’ betitelt wird. Mindestens Sprache, Schrift, Bild, Film, Tonträger usw. weisen aus medientheoretischer Perspektive mediale Eigenschaften auf. Kom- munikation und damit Kultur und Gesellschaft sind folglich ohne Medien nicht zu haben und das, was bei Krotz als Mediatisierung bezeichnet wird, ist aus dieser Perspektive nur eine von vielen historischen Veränderungen im Hinblick auf die Existenz und Nutzung verschiedener Medien in einer immer schon mediatisierten Welt. Dieter Mersch wiederum, den Jörissen als Zeugen aufruft, würde dieser Perspektive vermutlich zustimmen, wenngleich der Mediatisierungsbegriff in dem von Jörissen zitierten Text nicht explizit definiert wird. Mersch bewegt weniger der Versuch einen aktuellen Kulturwandel zu beschreiben, als vielmehr das Vorhaben, eine eigene Medientheorie zu schreiben. Als das Me- diatisierte wird hier der Gegenstand einer medientheoretischen Analyse benannt, welcher sich im Prozess der Mediatisierung jedoch zumindest partiell entzieht. Das Problem jedweden Ver- suchs, Medialität als solche zu beschreiben bzw. zu erkennen, besteht Mersch zufolge darin, “dass wir etwas zu analysieren haben, das sich gleich einem kulturellen Unbewussten in der Analyse beständig verflüchtigt und sich ihr unterschiebt, ohne beobachtbar zu sein, weil die Beobachtung nur vermöge einer Mediatisierung erfolgen kann, die ihr ihre eigenen Effekte und Praktiken, ihre Strukturen und Materialitäten ebenso auf- zwingt wie sie sie verleugnet.” (Mersch 2006, S. 4) Im Anschluss an Mersch beschreibt Jörissen an anderer Stelle die Konstitutivität von Mediali- tät “als a) Voraussetzung für Symbolizität, b) Strukturbedingung konkreter (kulturell- historischer) Artikulationsformen und somit c) als bildungstheoretische Strukturbe- dingung für den Aufbau und die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen.” (Jörissen 2013a, 503f.) An dieser Stelle werden sowohl ein mögliches Zusammenspiel von Medien- und Bildungstheo- rie als auch die gegenseitigen blinden Flecken sichtbar. Während Jörissen Mediatisierung bil- dungstheoretisch als Ansatzpunkt zur Beschreibung anhängiger Bildungsprozesse in den Blick nimmt, versucht Mersch Mediatisierung medientheoretisch daraufhin zu befragen, inwiefern sie einen Ansatzpunkt zur Beschreibung der jeweiligen Medialität bieten kann – oder im Sinne seiner negativen Medientheorie eben auch nicht. Die Frage nach Mediatisierung ist aus dieser Perspektive also ein Berührungspunkt der beiden Disziplinen, welche davon ausgehend in unterschiedlichen Blickrichtungen primär aber nicht ausschließlich auf der einen Seite das Mediale und auf der anderen Seite Bildungsprozesse fokussieren. Wenn Jörissen nun vor diesem Hintergrund von Medienbildung als “Bildung in einer von Me- dien durchzogenen – ‘mediatisierten’ – Welt” schreibt, so ist im Umkehrschluss zu fragen, inwiefern Bildung nicht immer schon Medienbildung sein muss. Wenn dem so ist, ist Medien- bildung weniger als Phänomen, sondern vielmehr als eine theoretisch-analytische Perspektive 98 Julius Othmer & Andreas Weich auf Bildung zu veranschlagen (dann vielleicht präziser: Medienbildungsforschung?), die die darin involvierten Medien in den Vordergrund rückt. Im zweiten Satz schreibt Jörissen: “Medienbildung ist daher nicht nur Bildung über Medien (Medienkompetenz) und nicht nur Bildung mit Medien (e-learning).” (Herv. i. O.) Jörissen bringt hier ein Surplus gegenüber den etablierten Konzepten der Medienkompetenz und dem e-Learning zum Ausdruck, die er damit gleichzeitig als Bestandteile und Abgren- zungsfolie nutzt. Legt man zur Differenzierung der genannten Konzepte die Rolle von Medien darin als Kriterium an, ergeben sich durchaus Spannungen zwischen ihnen. Während Medien im Rahmen des Medienbildungskonzepts in erster Linie als konstitutiv für jedwede Selbst- und Welterfahrung veranschlagt werden, gehen die verschiedenen Medienkompetenzkonzepte grundsätzlich (und systematisch unhintergehbar) von einer Gegenüberstellung des Selbst und der Medien aus, in denen ersteres eine wie auch immer geartete Kompetenz zum Umgang mit letzteren erlangen soll. (Vgl. auch Othmer/Weich 2014) Medienkompetenz ist zudem eine (abstrakte) Zielvorstellung eingeschrieben (“sei kompetent!”), während Medienbildung eher eine Tatsache beschreibt (“Bildung findet durch Medien statt”).3 So könnte dann vor dem Hin- tergrund dessen, was im Rahmen der Medienbildungsforschung analytisch herausgearbeitet wird, eine Zielvorstellung wie “sei kompetent!” formuliert und eine “Bildung über Medien” als Maßnahme zur Erreichung dieses Ziels formuliert werden – aus sich selbst heraus ergibt Medi- enbildung dies jedoch nicht. Medienbildung muss also – abgesehen vielleicht vom Imperativ “verstehe!” – erst “nachträglich” bzw. auf Grundlage der Ergebnisse der theoretisch- analytischen Medienbildungsforschung mit Normativität und Zielsetzungen gefüllt werden.4 Wenn “Bildung mit Medien” von Jörissen durch die Klammer “(e-Learning)” konkretisiert wird, ist davon auszugehen, dass er damit lediglich ein diskursiv sehr präsentes Beispiel unter anderen Denkbaren aufruft, um die Unterscheidung allgemeinverständlich zu halten. Denn höchstwahrscheinlich würde er zustimmen, dass Bildung ohne Medien nicht denkbar ist und auch das Lesen eines handgeschriebenen Textes nicht weniger als “Bildung mit Medien” ver- handelt werden müsste als “e-learning”. Zudem, und vor diesem Hintergrund sei ein kurzer Exkurs erlaubt, ist der Begriff “e-learning” bereits für sich genommen problematisch und wird insbesondere in mediendidaktischen Diskursen kontrovers diskutiert. “Was”, wie Thomas Czerwionka herausarbeitet, 3 Bestimmte Verständnisse des Bildungsbegriffs implizieren bzw. gar explizieren auch einen Imperativ “Sei gebildet!”. Wie Jörissen konstatiert, rücken derartige Bildungsverständnisse Medienbildung dann jedoch in enge Nähe zur Medienkompetenz. Jörissen selbst geht daher in seinem Medienbildungskonzept von Bildung als transformatorischem Prozessgeschehen aus (vgl. dazu auch Jörissen 2011sowie Jörissens dritten Satz zur Medienbildung). 4 Im Anschluss an Jörissen verstehen wir Medienbildung folglich als transformatorisches Prozessgesche- hen und damit explizit weder als Output des Bildungssystems noch als einen Zielzustand individueller Lernprozesse (vgl. Jörissen 2011). Und noch ein paar Sätze mehr… Anmerkungen zu “Medienbildung in 5 Sätzen” 99 “alle Definitionen naturgemäß eint, ist die Absicht, ‘E-Learning’ vom norma- len/herkömmlichen/traditionellen Lehren und Lernen abzugrenzen (schon die Suche nach einem passenden Adjektiv verdeutlicht, wie absurd eine solche Unterscheidung ist). Der Begriff ‘E-Learning’ suggeriert, dass sich Hochschullehre trennscharf unter- teilen lässt in solche mit digitalen Medien und solche, die ohne diese auskommt. Wo aber hört ‘normales’ Lehren und Lernen auf und wo fängt ‘E-Learning’ an? Hier wird etwas unterschieden, das nicht (oder nicht mehr) unterscheidbar ist. Der Begriff zieht eine imaginäre Grenze zwischen zwei Lagern, wo es nur noch eines gibt, und ist damit leider mehr als einfach nur ein sprachliches Ärgernis.” (Czerwionka 2015) Der Begriff ist aus dieser Perspektive zum einen obsolet und zum anderen ein potenzielles Hindernis bei der Integration bestimmter Medientechnologien in Studium und Lehre. Vor die- sem Hintergrund fragt Czerwionka programmatisch: “Wäre dann nicht jetzt ein guter Zeit- punkt, sich von ihm zu verabschieden?” (Ebd.) Darüber hinaus lässt sich aus medientheoretischer Sicht die Frage aufwerfen, inwiefern das “E”, insofern es von der apparativen Technik ausgeht, nicht technikdeterministischen Modellen das Wort redet und damit das Lernen als Praxis unterrepräsentiert. Doch diese Diskussion würde hier zu weit führen. Entscheidend ist jedoch, dass die durch den Begriff nahegelegte Unterscheidung von “Lernen mit elektronischen Medien” und “Lernen mit analogen Medien” zum einen aus den von Czerwionka herausgearbeiteten Gründen problematisch ist und zum anderen Medien auch hier ausschließlich die Rolle eines Werkzeugs zugestanden wird. Der Mehrwert des Medienbildungskonzepts, den Jörissen mit diesem zweiten Satz verdeutli- chen möchte, liegt also aus medientheoretischer Sicht gerade darin, die Konzepte Medienkom- petenz und e-Learning bzw. allgemeiner: Bildung über und mit Medien gerade nicht zu sub- summieren. Wie Jörissen selbst schreibt, “bezieht sich Medienbildung also nicht primär auf Medien als Gegenstand – vielmehr stellt Medialität eine Grundlage jeder Bildung dar”. Auf diese Weise etabliert Medienbildung eine alternative Perspektive zu traditionellen Ansätzen der Bildung über und mit Medien mit anderen Grundannahmen hinsichtlich der Rolle von Medien, die “Bildung durch Medien” in den Fokus rückt und dadurch mit den genannten Ansätzen theoretisch tendenziell inkompatibel wird. Jörissens dritter Satz lautet: “‘Bildung’ meint nicht nur Lernen, auch nicht Ausbildung, pädagogische Vermittlung oder altbürgerliche ‘Gebildetheit’, sondern: Bildung bezeichnet Veränderungen in der Weise, wie Individuen die Welt (und sich selbst) sehen und wahrnehmen – und zwar so, dass sie in einer immer komplexeren Welt mit immer weniger vorhersehbaren Bi- ographien und Karrieren zurechtkommen, Orientierung gewinnen und sich zu dieser Welt kritisch-partizipativ verhalten.” Aus medientheoretischer Sicht ist dem zunächst kaum etwas hinzuzufügen, da zur Rolle von Medien hier keine Aussage getroffen wird. Vielleicht aber liegt genau hier ein weiterer An- 100 Julius Othmer & Andreas Weich satzpunkt einer fruchtbaren Ergänzung: Denn medientheoretisch bzw. medienhistorisch lässt sich die Frage aufwerfen, inwiefern die verschiedenen Bildungskonzepte mit spezifischen medienkulturellen Konstellationen in Zusammenhang gebracht werden können. So lassen sich ggf. Verbindungen zwischen einer bildungsbürgerlichen Buchkultur und der genannten “alt- bürgerlichen Gebildetheit” aufzeigen, insofern das Buch und lexikalisch-kanonisches Wissen mit einem solchen Konzept von Bildung recht gut zusammenzupassen scheinen. Das Ver- ständnis von Bildung, das Jörissen für Medienbildung veranschlagt, kann dagegen mit vernetz- ten computerbasierten Medien in Zusammenhang gebracht werden, denen man eine Steigerung von Komplexität und Kontingenz attestieren kann.5 Eine interdisziplinäre Medienbildungsfor- schung kann vor diesem Hintergrund also auch die medialen Kontexte verschiedener Bil- dungskonzepte in den Blick nehmen und nicht zuletzt reflexiv auch sich selbst dementspre- chend verorten. In diesem Sinne schreibt Jörissen selbst unter der Überschrift “… und noch ein paar Sätze mehr …”, es werde gerade dort “[r]ichtig komplex [...] wo eine gewisse Zweischneidigkeit sowohl medialer Welten als auch von Bildung selbst in den Blick gerät: Medialer Ausdruck und mediale Orientierung, mediales ‘Mitmachen’ ist nicht nur im alten Sinn bildsam, sondern es gehört auch auf mehreren Ebenen ökonomischen Logiken an (Aufmerksamkeitsöko- nomie, öffentliches Identitätsmanagement, Allmende- und Selbstausbeutungsökono- mien, Kommerzialisierung der sozialen Begegnungsorte im Internet) – so wie auch die Forderung nach Bildung und sogar nach Reflexivität nicht nur Freiheiten, sondern auch Unterwerfungseffekte bewirkt (Stichwort ‘Gouvernementalität‘; s. in bildungs- theoretischer Hinsicht Norbert Ricken: Die Ordnung der Bildung).” (Einfügungen i. O.) Genau hier kann eine medientheoretische und medien(kultur)wissenschaftliche Reflexion die bildungswissenschaftliche sinnvoll ergänzen, insofern sie über die Frage nach den Medien auch (Medien-)Bildung selbst als Untersuchungsgegenstand aus einer “externen” Warte in den Blick nehmen kann.6 Zudem können medientheoretische Überlegungen zu Komplexitätssteige- rung und -reduktion sogar bildungstheoretisch fruchtbar sein, wenn Bildung nicht nur – wie in der Bildungstheorie üblich – als Komplexitätssteigerung modelliert wird, sondern auch als Komplexitätsreduktion, insofern sie die Welt über Schemata überhaupt erst zugänglich macht.7 Vor diesem Hintergrund hat Bildung selbst mediale Qualitäten, die es medientheoretisch her- auszuarbeiten gilt. 5 Vgl. hierzu auch die entsprechende Passage in Jörissen & Marotzki (2009, S. 15) und unsere Problema- tisierung an anderer Stelle (Othmer/Weich 2013). 6 Vgl. auch unsere Überlegungen zu tendenziell neoliberalen Implikationen und deren gouvernementalen Effekten innerhalb der strukturalen Medienbildung (Othmer/Weich 2013). 7 Vgl. Jörissens Statement dazu in der oben erwähnten Diskussion in Innsbruck: http://media.brainity.com/ uibk2/mwb2015/wp-content/uploads/2014/08/Othmer-und-Weich.mp3. Und noch ein paar Sätze mehr… Anmerkungen zu “Medienbildung in 5 Sätzen” 101 Jörissens vierter Satz lautet: “Medien bestimmen wesentlich die Strukturen von Weltsichten, sowohl auf kulturel- ler Ebene wie auch auf individueller Ebene: Orale Kulturen, Schrift- und Buchkultu- ren, visuelle Kulturen und digital vernetzte Kulturen bringen jeweils unterschiedliche Möglichkeiten der Artikulation (des Denkens, des Ausdrucks, der Kommunikation, der Wissenschaften, der Künste) hervor.” (Herv. und Einfügungen i. O.) Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Jörissens fünfter Satz lautet: “Medienbildung ist also der Name für dafür [sic!], dass die Welt- und Selbstverhält- nisse von Menschen mit medial geprägten (oder konstituierten) kulturellen Welten entstehen, dass sie sich mit ihnen verändern – und vor allem auch dafür, dass Bil- dungsprozesse Neues hervorbringen können: neue Artikulationsformen, neue kulturel- le/individuelle Sichtweisen und nicht zuletzt neue mediale Strukturen.” Dieser finale Satz ist bemerkenswert, da er Medienbildung explizit als eine Tatsachenbeschrei- bung markiert, die auf den zuvor entfalteten Grundannahmen beruht. Sie ist also eine Art basis- theoretische Perspektive für eine spezifische analytisch-theoretische Arbeit, die ihrerseits als Medienbildungsforschung zu bezeichnen wäre. Diesen fünf Sätzen lässt Jörissen dann die teils schon erwähnten “noch ein paar Sätze mehr” folgen. Wie oben bereits angemerkt, stellt er darin “Medialität [als] eine Grundlage jeder Bil- dung dar” und konstatiert, dass sich gerade diese Grundlage für gewöhnlich unserem Blick “entzieht”: “denn wir sehen ‘die Medien’ nicht: wir sehen nicht ‘das Fernsehen’, hören nicht ‘das Radio’, wir benutzen nicht ‘das Internet’.” Als “Aufgabe der Medienbildung als erzie- hungswissenschaftliches Paradigma” sei es daran anschließend, “sowohl die theoretischen Grundlagen als auch die forschungsmethodischen Grundlagen dafür zu schaffen, die komple- xen Strukturen sichtbar zu machen und ihre Bildungspotenziale aufzuzeigen.” Medialitäten theoretisch zu modellieren und analytisch die medialen Eigenschaften zu bestimmen ist nun genau das, was Medientheorie und darauf aufbauende Analysen zu leisten im Stande sind. Ziel der medientheoretischen Arbeit ist es, Verunsichtbarungen und Selbstverständlichkeiten zu hinterschreiten, Naturalisiertes fremd, und, wie Winkler es formuliert, “Teile dieser Tiefenme- chanismen dem Bewusstsein wieder zugänglich zu machen” (2004, S. 25). Dabei geht es nicht nur um die eher kommunikationswissenschaftlich orientierte und in der medienpädagogischen Praxis spätestens seit der handlungsorientierten Wende verfolgte Sichtbarmachung der Produk- tionsweisen professioneller Medienangebote, sondern um die verborgenen Prozesse der Media- lisierung, der Konstitution von Wissen, die implizierten Subjektpositionen und nahegelegten Subjektivierungsweisen, die medienkulturellen Praktiken und die Machtkonstellationen in die Medien konstitutiv eingebunden sind. Die Entselbstverständlichung, also das Sichtbarmachen der Schemata und verdeckten Prozesse, das Durchbrechen der Automatismen lässt sich dabei 102 Julius Othmer & Andreas Weich zum einen als theoretisch-analytisches (Forschungs-)Ziel innerhalb einer medientheoretisch orientierten Medienbildungsforschung veranschlagen.8 Am Schluss wirft Jörissen die Praxisfrage im Hinblick auf Medienbildung auf, die Frage also, wie “solche Medienbildungskonzepte in die pädagogische/medienpädagogische Praxis ‘umge- setzt’ werden können”. Wie die bei Jörissen und auch hier entfalteten Überlegungen deutlich machen, kann sich eine solche praktische Umsetzung nicht auf klassische Ansätze der Medien- kompetenzvermittlung oder der Mediendidaktik berufen, da sie von anderen Grundannahmen als diese ausgeht. Wie Jörissen fordert, müsste eine “Didaktik der Medienpädagogik [...] aus einer Medienbildungstheorie entwickelt werden” und dementsprechend eigene Strategien für die Praxis entwerfen, die u.a. die von Jörissen aufgeworfenen Fragen betreffen, “was man eigentlich ‘vermittelt’, wenn man ‘Medien’ vermittelt, wie auch die Frage, mit welchen Lern- und Bildungskonzepten man dies macht, und wie diese in die heutige, medialisierte und globa- lisierte Welt (auch kritisch) einzuordnen wären”. Medienbildung wäre dann eine spezifische theoretische Grundlage für analytische Arbeiten und Reflexionen, aus deren Ergebnissen wie- derum pädagogische Ziele abzuleiten sind, die es anschließend in didaktischen Konzepten umzusetzen gilt. Es ginge damit letztendlich um eine “Didaktisierung der Medienbildung” selbst, die dabei immer auch sich selbst als Medienbildung mit reflektiert Medienbildung wäre dann zum einen der Name für einen Tatsache bzw. einen Prozess als Untersuchungsgegenstand und gleichzeitig die Markierung einer theoretisch-analytischen Perspektive, auf deren Grundla- ge spezifisch pädagogisch-didaktische Handlungsweisen möglich werden. Im Anschluss an Stephan Münte-Goussar9 lässt sich argumentieren, dass gerade die theoretische Entselbstver- ständlichung als Modell für die Praxis fungieren kann, in der es dann darum ginge, die Verun- sichtbarung und Naturalisierung gezielt zu hinterschreiten, das reibungslose Funktionieren zu stören, Automatismen zu entautomatisieren und so die Schemata und Prozesse offen zu legen und das, was bisher immer “passte”, “unpassend” erscheinen zu lassen, um es reflektieren zu können und alternative Sichtweisen und Erfahrungen und damit alternative Selbst- und Welt- verhältnisse zu ermöglichen. Im Einklang mit Benjamin Jörissens Verständnis von Medienbildung scheint der gemeinsame Schnittpunkt zwischen Medientheorie und Medienbildung vor diesem Hintergrund weniger das Konzept der Bildung selbst zu sein, sondern das allgemeinere Verhältnis von Subjekt, Kultur 8 Wie Jörissen in der oben erwähnten Diskussion (http://media.brainity.com/uibk2/mwb2015/wp- content/uploads/2014/08/Othmer-und-Weich.mp3) angemerkt hat, sind neben Medientheorie hierfür jedoch weitere Bereiche, wie die soziologische Netzwerkforschung oder Software Studies ebenso relevant und hilfreich bzw. gar notwendig für die Medienbildungsforschung. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass genau diese Ansätze auch innerhalb der Medienwissenschaft rezipiert und verschiedentlich in die eigenen Arbeiten integriert werden, wird nochmals das gemeinsame Anliegen beider Disziplinen. Medi- enbildungsforschung und Medienwissenschaft teilen somit viele produktive “Nachbarn” und können als Disziplinen zweifellos davon profitieren, die Grenzgänge und Adaptionen des jeweils anderen wahrzu- nehmen und davon zu lernen – denn das Anliegen, mediale Konstellationen zu verstehen, eint sie beide. 9 Vgl. dessen Statement in der Diskussion auf der Tagung in Innsbruck: http://media.brainity.com/ uibk2/mwb2015/wp-content/uploads/2014/08/Othmer-und-Weich.mp3. Und noch ein paar Sätze mehr… Anmerkungen zu “Medienbildung in 5 Sätzen” 103 und Medialität.10 Genau diese Trias kann ein möglicher Kern der Zusammenarbeit zwischen Medienwissenschaft und Medienbildungsforschung sein, insofern sie in beiden Disziplinen eine zentrale Rolle einnimmt. Die Rolle von Medientheorie und Medienwissenschaft als Dis- ziplin kann es demnach sein, die theoretischen Ansätze und analytischen Verfahren zum Ver- ständnis der Tatsache/des Phänomens Medienbildung in die Medienbildungsforschung einzu- bringen, damit die Modellierung und Analyse von Medienbildungsprozessen und die Grundla- ge für pädagogisches Handeln zu schärfen. Literatur Czerwionka, Thomas (2015): E- war einmal. online verfügbar unter: http://www.olivertacke.de/2015/03/03/e-war-einmal/ [Stand vom 24-11-2015]. Jörissen, Benjamin & Marotzki, Winfried (2009): Medienbildung – eine Einführung. Theorie – Methoden – Analysen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Jörissen, Benjamin (2011): “Medienbildung” - Begriffsverständnisse und -reichweiten. In: Grell, Petra; Moser, Heinz & Niesyto, Horst (Hrsg.): Medienbildung und Medienkompe- tenz. Beiträge zu Schlüsselbegriffen der Medienpädagogik. München: kopaed, S. 211-235. Jörissen, Benjamin (2013a): Digitale Medialität. 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Zielbilder und normative Begründungen Skizzen zu einem Kultur-Paradigma für Pädagogik in einer Kultur disparater Transformation 107 Skizzen zu einem Kultur-Paradigma für Pädagogik in einer Kultur disparater Transformation Ben Bachmair Zusammenfassung Die aktuellen Prozesse der massenmedialen Transformation hin zu einer ubiquitären und indivi- dualisierten digitalen Mobilität fordern von Pädagogik und Medienpädagogik theoretische und praktische Ansätze, um in diese disparaten Prozesse zu intervenieren. Der Beitrag schlägt dazu ein Paradigma vor, das auf Bildung als Aneignung und Mitwirkung der Menschen in und mit den neuen Repräsentationsformen aufbaut. Mit ihrer Aneignung und Mitwirkung greifen die Men- schen in die Prozesse der ubiquitären und individualisierten digitalen Mobilität ein, vielleicht me- dienkompetent im bekannten Sinne. Der Beitrag stellt jedoch Fragen in eine andere Richtung. Ausgangspunkt dafür sind neue Repräsentationsformen, die in Prozessen der Detraditionalisie- rung und Entgrenzung auftauchen. Dabei entsteht eine provisorische Gemengelage von Repräsen- tationsformen, für die u.a. mobile und nutzergenerierte Kontexte typisch sind. Die Analyse sol- cher Repräsentationsformen, auch eine Analyse als kulturelle Ressourcen, führt zur Diskussion von Subjektivität und den damit verbundenen Aneignungs- und Mitwirkungsformen. Bildung als Entstehungsform von Subjektivität wird dabei zu einer bestimmenden “signifying practice”. 1. Die Fragestellung Im deutschsprachigen Raum gab es mit dem Begriff der Medienbildung den argumentativen Schub, sich von der kritischen Medienkompetenzförderung als Kern der Medienpädagogik zurück zu ziehen und mit Bildung nicht nur ein neues Paradigma für Medienpädagogik zu entwickeln, sondern Medienpädagogik auch als Kern einer Pädagogik zu denken, bei der die Lebensbewältigung in unserer – schlagwortartig gesagt – digitalen, vernetzten Medien-Welt vorrangig ist. Im anglophonen Bereich steht mit Literacy die Text-Tradition mit den Verände- rungen durch Medien und mit deren digitalen Fortentwicklung zur Debatte. Literacy ist sub- stantiell mit dem Citizen verbunden, also mit dem Bürger, der sich seiner sozialen und gesell- schaftlichen Einbettung bewusst wird oder bewusst ist. Ein weiterer paradigmatischer Zugang, und zwar der des deutschen Jugendmedienschutzes, stellt die Kind-Medien-Beziehung in den Vordergrund. Ausgangspunkt ist der Gedanke der Entwicklung der Kinder und die Frage, ob Medien diese Entwicklung beeinträchtigen oder gefährden. Hierbei stand Rousseaus Gärtner- modell der Erziehung Pate, eine Erziehung, die Kinder in einer dominanten Medienwelt den- noch beschützt in ihrer eigenen Entwicklungsdynamik wachsen lässt. Leider hat Medienpäda- gogik dieses Entwicklungsmodell nie ernst genommen. Mit der Unübersichtlichkeit und Gren- zenlosigkeit des Internet scheint sich nun auch für den Jugendmedienschutz das Kompetenz- Paradigma durchzusetzen. Das heißt, Kinder erwerben Medienkompetenz, müssen Medien- kompetenz erwerben und steuern mit dieser, ihrer Medienkompetenz ihre Beziehung zu Medi- 108 Ben Bachmair en. Eltern und Bildungseinrichtungen sind dafür verantwortlich, dass die Kinder, dass jedes Kind medienkompetent wird. Damit sind wir bei einem der zentralen Punkte der augenblicklichen kulturellen Dynamik, bei dem der Individualisierung in einer fragmentierten, entgrenzten Welt. In dieser Logik wird es zur Aufgabe der Pädagogik und der jeweils Verantwortlichen, das Methoden-Repertoire für das medienkompetente Kind bereitzustellen und es an Kinder zu vermitteln. Sollte und muss in dieser Situation Pädagogik und Medienpädagogik diesen Trend der Individualisierung der Risiken der Medienentwicklung nicht hinterfragen? Sollte und muss Pädagogik und Medien- pädagogik nicht Alternativen dazu entwickeln, dass Kindern Medienkompetenz auferlegt wird? In dieser Denklinie geht es auch darum, auf welcher argumentativen Basis, aufgrund welchen wissenschaftlichen Paradigmas Pädagogik und Medienpädagogik auf die aktuelle massenmedi- ale Transformation reagiert, wenn das vertraute Fernsehmodell der Massenkommunikation seine Prägekraft verliert und Mobilität zusammen mit dem Internet dominieren. 2. Argumentativer Ausgangspunkt: Bildung im Prozess der Detraditionalisierung und Entgrenzung Als erstes gilt es, die Prozesse der massenmedialen Transformation zu erläutern. Es geht dabei vor allem darum, zentrale Punkte eines pädagogischen Paradigmas zu skizzieren, mit dem Pädagogik in die Transformationsprozesse intervenieren kann. In einer kritischen Erörterung zur Wissenschaftstheorie der aktuellen Soziologie angesichts von Big Data, der digitalen Da- tenschwemme, stellt Carlos Frade (2013) im Rahmen eines Arbeitspapiers des kulturkritischen britischen Centre for Research on Socio-Cultural Change (CRESC, http://www.cresc.ac.uk) eine breite und kritische Diskussion zum methodologischen Selbstverständnis der Soziologie fest, die es einem nicht leicht macht, einen Überblick über den aktuellen Diskussionsstand zu gewinnen. Deswegen folge ich seiner Entscheidung, einen Text zu schreiben, der vor allem intervenieren will statt zu berichten. Das Feld meiner Intervention ist Pädagogik, deren Spezi- algebiet, die Medienpädagogik, sich der intensiven Diskussion um die – im weitesten Sinne – ‘medialenʼ Veränderungen unserer Kultur stellt. Ein Zweig dieser Diskussion richtet sich auf das Lernpotential der digitalen Interventionen im Rahmen des Internet. Ein anderer Zweig bemüht sich mit der Frage nach Bildung, konkret nach Medienbildung und Medienkompetenz, darum, die eigene Rolle als Disziplin im Bildungsfeld der digitalen Innovationen und die Rolle von Pädagogik im kulturellen Wandel zu verstehen und zu bestimmen.1 1 Überblick über die Diskussion findet sich u.a. bei Marotzki & Meder (2014); Weich & Othmer (2014); Simanowski & Missomelius (2014); Grell et al. (2010); Bachmair (2010); Zeitschrift Medien+Erziehung (Heft 03, 2009 und Heft 6, 2014); Sesink et al. (2007). Skizzen zu einem Kultur-Paradigma für Pädagogik in einer Kultur disparater Transformation 109 2.1 Big Data im Prozess von Mobilität und Individualisierung Um bei der aktuellen Diskussion des britischen Centre for Research on Socio-Cultural Change (CRESC) anzuknüpfen - diese Diskussion bezieht sich auf “the digital world, the world of online, live data generation devices [...] including its self-feeding data processes” (Frade 2013, S. 5). Sie bezieht sich, eingängig formuliert, auf Big Data (Frade 2013, S. 2): “it all comes down to the exponential growth of the automated production, use and analysis of transactional and other digital and online data by private corpora- tions, governments and researchers working for them or, at any rate, working outside academia” (Frade 2013, S. 3). Für die sozialwissenschaftliche Theorie ergibt sich daraus ein grundlegendes Problem, weil, so Frade, sie keinen Einfluss auf dieses Big-Data-System hat. In dieser Argumentationslinie geht es dann um die sozialwissenschaftliche Forschungs- und Interventions-Methodik, also um die wissenschaftliche Eigenständigkeit in Abgrenzung zu Big Data. Was heißt Eigenständigkeit? Bei Big Data steht das Problem der Algorithmierung des Handelns nicht nur im Vordergrund, sondern definiert dessen Kern. Algorithmierung des Handelns geht einher mit dem allgegen- wärtigen Daten-Sammeln und der Daten-Auswertung für Kontrolle, Vorhersage und Steuerung möglichst allen Handelns. Frade (2013, S. 2) macht sich angesichts von Big Data für “Machia- vellian social theory” stark, für eine “more combative social theory”. Dies ist ein bemerkenswerter, weil unerwarteter Vorschlag. Es ist jedoch auch ein Vorschlag, der die Chance von Wissenschaft, sich auf kritische Reflexion und kritische Diskurse zu kon- zentrieren, eher in den Hintergrund schiebt. Mein Vorschlag versucht nicht so weit greifend wie mit Algorithmierung des Handels den pädagogischen, auch den medienpädagogischen Aufgabenkern festzulegen. Es geht mir im ersten Schritt vor allem um einen paradigmatischen Wandel, der sich von Medien als Leitkategorie abwendet und sich auf Kultur ausrichtet. Der Humboldtsche Bildungsgedanke von 1792 (Humboldt 2002) verknüpft Kultur und ihre Pro- dukte, zu denen auch Medien gehören, mit Pädagogik. Bildung ist Aneignung und Mitwirkung bei Kultur. Damit kommt der Gedanke eines Kultur-Paradigmas in die Diskussion, der dem von Frades Machiavellian social theory entspricht. Wenn Bildung als Aneignung und Mitwir- kung substanziell für Kultur ist, dann ist Bildung auch ein Hebel, vermutlich sogar der Hebel, um der aktuellen Definitionsmacht von Informationstechnologie und Ökonomie eine kompen- satorische Kraft entgegenzusetzen. Bildung als Aneignung und Mitwirkung darf man jedoch nicht mit der schlichten Version des geprüften schulischen Wissens und standardisierter Kom- petenzen verknüpfen. Mit einen Kultur-Paradigma kann Medienpädagogik eine gewichtige Funktion für die Aktuali- sierung von Pädagogik übernehmen, weil sie mit dem Thema Medien die mediale und, in den letzten Jahren auch die digitale Technologisierung unserer Kultur kritisch und praktisch beglei- tet. Algorithmierung ist ein Punkt, vielleicht der wesentliche Punkt, den man vermutlich jedoch nur über die Dynamik der Mobilität unserer Gesellschaft und Kultur verstehen kann. Mobilität hat sich mit dem Auto individualisiert und mit dem Alltag prägend verbunden, hat damit Fern- sehen vorbereitet (Bachmair 1986, 1991, 1993) und legt jetzt in der digitalen, ubiquitären Form 110 Ben Bachmair des Smartphones die individualisierte, medienkonvergente Massenkommunikation fest. Indivi- dualisierte, medienkonvergente Massenkommunikation ist eine Linie in der aktuellen kulturel- len Entwicklung, zu der Big Data gehört. In diese kulturhistorische Entwicklung ist eine Logik eingebettet, die Individualisierung verstärkt und zunehmend mehr definiert. In der Entwick- lungslogik der Mobilität entstehen mit der Individualisierung auch Systemstrukturen wie Net- ze. Ausgehend von Straßennetzen und dem Google-System der Wissensgenerierung zusammen mit der Smartphone-Mobilität entwickelt sich ein ubiquitäres, mobiles, individualisiertes Sys- tem, das mit Big Data im Moment seine Herrschaftsstruktur erhält. (In diesen zusammenfas- senden Formeln fehlen Hinweise auf die handelnden Subjekte, die Netze usw. generieren. Ich will es mir hier als Schreiber jedoch nicht einfach machen und mich auf Passivkonstruktionen zurückziehen, bin mir aber nicht sicher, ob es im Moment möglich ist, den Passivmodus zu verlassen.) In dieser kulturellen Entwicklungslogik reicht die pädagogische Ausrichtung auf ein wie auch immer definiertes Lernen und auf den Erwerb von Kompetenzen, auch kritischer Kompeten- zen, keinesfalls aus. Mein Vorschlag: Pädagogik braucht die paradigmatische Ausrichtung auf Kultur, auf eine Kultur der mobilisierten, ubiquitären, systemisch strukturierten und systemisch kontrollierten Individualität. Im Moment steht ubiquitäre Mobilität im sichtbaren Vordergrund. Mit der Ausrichtung auf Bildung in dieser kulturellen Entwicklungslogik tritt die Frage in den praktischen Vordergrund, welche Chancen z.B. die Smartphone-Nutzer mit ihren Aneignungs- formen haben und was Pädagogik dabei für eine Rolle einnehmen soll. 2.2 Bildung und Subjektivität Mit der Idee eines Kultur-Paradigmas für Pädagogik knüpft dieser Beitrag auch an den Cultural Studies an (vgl. Hepp et al. 2009), obwohl, so meine einleitende Vermutung, die vertrauten Cultural Studies selber nicht mehr erklärungsmächtig sind für das, was mit der aktuellen Ent- wicklung von Individualisierung im Kontext der Mobilität einher geht. Ein zweiter Anknüp- fungspunkt ist, wie schon angesprochen, der Gedanke der Bildung, wie er vor mehr als 200 Jahren von Wilhelm von Humboldt formuliert wurde (Humboldt 2002). Bildung war ein kul- tursoziologisch pädagogischer Gedanke, der auf Dauer wenig mit den Lehrplänen der Gymna- sien zu tun hatte. Humboldts Analyse, heute würde man wahrscheinlich von einer kultursozio- logischen Analyse sprechen, konzentrierte sich während der Französischen Revolution und ihren Folgejahren auf eine neue Form von Subjektivität. Diese neue Form von Subjektivität entstand mit der Ablösung des Untertanen des Feudalstaats durch den Bürger, den Citoyen, in einer neuen Staatsform, dessen Aktionszentrum die Bürger, die Citoyens sind. (In diesem Zu- sammenhang steht, wie oben formuliert, letztlich die Ausrichtung von Literacy auf Citzenship.) Wenn man einen gewaltigen Bogen schlagen will, dann geht es um den Bürger, der mit Goe- thes Werther zwei Jahrzehnte zuvor die europäische Jugend in Bann geschlagen hatte, weil der Protagonist Werther sich selbst erlebend und fühlend bewusst wurde. Humboldts Analyse lässt sich folgendermaßen in einem Aneignungsmodell zusammenfassen: Kinder entfalten ihre ‘Kräfteʼ, indem sie sich Kulturressourcen aneignen. Dazu brauchen sie eine Orientierung hin zu einer ‘mannigfaltigen Ganzheitʼ. Sie gestalten mit ihren eigenen Spu- Skizzen zu einem Kultur-Paradigma für Pädagogik in einer Kultur disparater Transformation 111 ren und Kulturressourcen die Welt, was Freiheit und die Realisierung von Vernunft zu Bedin- gungen für Bildung macht (Bachmair 2009, S. 161 ff.). Auf der Basis der Bildungs-Idee gründete dann Humboldt als preußischer Schulminister mit dem Humanistischen Gymnasium und der Universität einen neuen Schultyp, der der neuen politisch staatlichen Ordnung entsprach. Dieser auf klassische Kulturressourcen, die sich die Schüler aneignen, ausgerichtete Schultyp führte den neuen Staat Preußen dann auch in die Industriegesellschaft. Die bildungsorientierte Schule war auch wichtig für eine expansive Wis- senschaft, für eine blühende Ästhetik, trug zu einer effizienten Verwaltung, aber auch zur preußischen Vorbereitung eines Militärsystems mit desaströsen Folgen bei. 2.3 Vom ‘Encoding/Decodingʼ der alltäglichen Massenkommunikation zur ubiquitären Mobilität Für ein Kultur-Paradigma halte ich zudem zwei zentrale Themen der vertrauten Cultural Stu- dies bzw. von Stuart Hall als Denkanlässe für wichtig, die es weiterzudenken und neu zu den- ken gilt. Das ist zum einen das Basisthema zur Medienorganisation und Mediennutzung, das ‘Encoding/Decodingʼ-Modell (Hall 1980), und zum anderen der Transfer vom Begriff des Mediums zum Begriff der Repräsentation (Hall 1997). Für die Medienpädagogik kommt der Agency-Gedanke2 in Verbindung mit Citzenship bei Buckingham als drittes Thema hinzu (z.B. Buckingham 2008; Bachmair & Burn 2009). Für die Cultural Studies in Sinne von Hall war dabei Medienherstellung oder Mediennutzung immer eine “cultural practice”, bei der es um die Produktion von Bedeutung (“signifying prac- tices”) geht. So löste das Paradigma der Cultural Studies das Lasswellsche Transportmodell der Massenkommunikation ab und führt das Modell der “signifying practices” der Medienproduk- tion (Encoding) und der Mediennutzung (Decoding) ein. Dabei ist Mediennutzung eine Form des Lesens, “mode of reading”, bei dem sich Mediennutzer aktiv gegenüber dem vorgegeben Medien-Text positionieren. Diese Logik der “signifying practices” entspricht der Aneignungs- und Entäußerungsdynamik von Bildung im Humboldtschen Sinne (siehe Bachmair 2009, S. 161 ff., S. 227). Mit dieser Positionierung der Mediennutzer zum Medientext konnte sich Me- dienpädagogik in die Tradition der Literacy einordnen und die didaktische Unterstützung von Kindern oder Jugendlichen gegenüber Medientexten entwickeln. Dabei ist es wichtig, die Agency der Kinder und Jugendlichen, also ihre Handlungsoptionen und Handlungskompeten- zen in ihren kulturellen Praktiken zum Kern der didaktischen Unterstützung zu machen. Hier verbindet sich Bildung als Aneignung und Mitwirkung mit dem Gedanken der Agency. In der Literacy-Logik der Massenkommunikation mit dem Leitmedium TV ist es möglich, Internet und Social Media medienpädagogisch mit dem Gedanken der Multiliteracy neu auszutarieren. Aber macht das Sinn, auf Medien-Vielfalt mit Literacy-Vielfalt antworten? Das ist sicher nicht falsch aber auch nicht hinreichend, so meine Vermutung. 2 Hengst (2013, S. 15) übersetzt den Begriff ‘Agencyʼ mit “Akteur-Status [...] von Kindern in der Ge- genwartsgesellschaft.” 112 Ben Bachmair 2.4 Ein vorläufiges Fazit Das Konzept der Multi-Literacy ist wie Frades machtpolitisch ausgerichtetes epistemologi- sches Paradigma eine mögliche theoretische Reaktion auf aktuelle Detraditionalisierungs- und Entgrenzungsphänomene. Mit Multi-Literacy zerfasert der Kompetenz-Begriff, was jedoch der Medienkonvergenz entspricht. Bei Frades “Machiavellian social theory” tritt mit dem Gedan- ken einer “more combative social theory” die Kategorie der Macht als der Kennzeichnung der leitenden Transformations-Dynamik in die sozialwissenschaftlichen Überlegungen. Mein Vor- schlag ist, bei dem Begriff der Macht als Transformations-Dynamik an ubiquitäre Mobilität im Zusammenspiel mit systemisch kontrollierter Individualität zu denken; also eher an Google, Apple und Smartphone als an NSA und Geheimdienst. Wenn man diese Überlegung zu einem Paradigma verdichten will, dann sollte dieses Paradigma auf die fortschreitende Individualisie- rung durch Mobilität in Systemstrukturen reagieren. Dazu gehören die pädagogische Kategorie der Bildung als Aneignung ebenso wie die kulturhistorischen Kategorien der Mobilität und der Individualisierung. Die Aufgabe ist nun, nach den Hebeln zu suchen wie Bildung mit Macht konkurrieren kann. Dazu sollte Pädagogik den bzw. die Citizen als die sich bewusst werdenden und im Gemeinwesen Handelnden im Auge habe. 3. Disparate Transformation: Entgrenzung und stetige Vorläufigkeit als Trend aktueller symbolischen Formen Die sich bewusst werdenden und im Gemeinwesen handelnden Menschen stehen in einer kul- turellen Dynamik, bei der der Gedanke der Aufklärung, sich bewusst zu werden und im Ge- meinwesen zu handeln, doch reichlich altmodisch erscheint. Wie diesen Gedanken neu fassen? Dazu ist der Blick auf unseren aktuellen kulturellen Rahmen hilfreich, auf den Rahmen, der die aktuelle disparate Transformation bedingt und beeinflusst. Hierzu ist Ulrich Becks et al. (1994) Paradigma der “reflexiven Moderne”, also der “Modernisierung der Moderne” (Beck et al. 2003, S. 2) erklärungsmächtig. 3.1 Disparate Transformation Im Kern geht es dabei um die Detraditionalisierung unserer Gesellschaft der Moderne, bei der sich vertraute und stabile Strukturen und Funktionszusammenhänge auflösen oder aufgelöst werden. So muss z.B. das redaktionell verantwortete Fernsehen mit Kanälen auf YouTube konkurrieren. Sind auf YouTube Amateure oder irgendwie geartete Profis massenhaft erfolg- reich? Wird man zum TV-Profi über massenhafte Downloads auf YouTube? Taugt denn der Begriff des Experten oder der Expertin als Profi denn überhaupt noch? Weiterhin erleben wir gewaltige Flüchtlingsströme, die Bevölkerungen und Grenzen erodieren lassen und gleichzeitig zementieren. Banal erscheint dagegen das Handy, das Mobilität in seiner neuen Form allge- genwärtiger Verfügbarkeit ermöglicht oder erzwingt. Ein Strang der aktuellen Entgrenzungs- Skizzen zu einem Kultur-Paradigma für Pädagogik in einer Kultur disparater Transformation 113 dynamik verschmilzt das bislang vertraute Medium Fernsehen mit dem Internet, mit Mobilisie- rung und Individualisierung zu einer ubiquitären symbolischen Form der Repräsentation. Bringt man diese Beispiele der aktuellen gesellschaftlich-kulturellen Transformation auf den Punkt, dann geht es um eine Entgrenzung der Lebensbereiche und um eine Entgrenzung in allen Lebensbereichen. “Standard- und Normalformen” (Beck et al 2004, S. 25) verlieren ihre eindeutige oder anerkannte Verbindlichkeit, indem sich Grenzziehungen auflösen. Es entsteht eine “unstrukturierte Pluralität” (Beck et al. 2004, S. 37), die von den Menschen bzw. den Institutionen einen Fluss von Entscheidungen und ständige Abgrenzungen und Zuordnungen verlangen. Es entstehen dabei auch vorläufige “Hierarchien” eines “geordneten Pluralismus” (Beck et al. 2004, S. 35), um zumindest kurzfristig handlungsfähig zu bleiben oder um es wie- der zu werden. Die Menschen kommen dabei nicht um eine “Verschränkung von Alternativen” (S. 38) umhin; “Grenzauflösung und Synthese” sind miteinander verschränkte Denk- und Handlungsaufgaben. Die Entgrenzung, noch allgemeiner formuliert: Die disparate Transforma- tion wird zur generalisierenden sozialen und kulturellen Struktur; sie wird es vermutlich blei- ben. Wir müssen uns auf “unstrukturierte Pluralität”, auf verschränkte Alternativen und Ent- scheidungshierarchien einstellen. Den Rahmen liefern die von Hall schon für die traditionelle Mediennutzung angesprochenen “signifying practices” als provisorische Kontexte der indivi- dualisierten Herstellung von Bedeutung. Hier wird die Aneignungsdynamik der von Humboldt formulierten Bildung wichtig. Bildung wird zur bestimmenden “signifying practice”. Frades Gedanke der Machiavellian social theory liefert einen interessanten Impuls um die politische Dimension von Bildung als “signifying practice” zu entdecken. 3.2 Die Eindeutigkeit “symbolischer Formen” löst sich auf – ubiquitäre, individualisierte digitale Mobilität entsteht Mit dem von Ernst Cassirer (1990, Original 1944) stammenden Konzept, Kulturen als typische symbolische Formen zu untersuchen, bekommen wir die Chance, den aktuellen Prozess der Detraditionalisierung mit früheren Kulturformen zu vergleichen. Ziel ist es, Bildung als Sig- nifying Practice in unserer aktuellen Kultur zu rahmen. Ernst Cassirers Theorie der Symboli- schen Formen aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts beschäftigt sich mit der historischen Entwicklung von Ausdruck und Gestaltung der Menschen (S. 64), wie sie sich als objektivierte Kultur manifestiert. Dieses Konzept ordnet die symbolischen Formen historisch nach spezifi- schen Phasen der Zivilisationsentwicklung (S. 50 f.): Mythos und Religion, Sprache, Kunst, Geschichte, Wissenschaft. Sicher trifft Cassirers Phasenbildung und seine Vorstellung von einer zivilisatorischen Höherentwicklung nicht den Kern einer Kultur disparater Transformati- on. Cassirer gibt jedoch Anregungen für eine kulturhistorische Einordnung. Sein Ausgangs- punkt ist ein Modell der symbolischen Beziehung der Menschen zu ihrer Umwelt, bei der spe- zifische symbolische Formen entstehen. Was trifft für die aktuelle kulturhistorische Phase zu, was steht im Vordergrund? Hier ein Überblick: 114 Ben Bachmair - Medien wie das redaktionell produzierte Fernsehen sind Varianten von Repräsentationen, so der Vorschlag von Stuart Hall (1997) in Representation. Cultural Representations and Sig- nifying Practices. - Alltagsästhetik (Schulze 1992; Bachmair 2009, S. 29 ff.) liefert einen vorgeordneten Rahmen für die sozialkulturelle Abgrenzung oder Zuordnung der Menschen. Ästhetische Figurationen von Repräsentation3 liefern eine geordnete Pluralität von Handlungsvollzügen, sozialen Gruppen, Medien, Konsumgüter usw. - Traditionelle linearen Mediennutzung ist Teil der individualisierten und vernetzten digitalen Mobilität (Medienkonvergenz). - Die Menschen verlassen das dichotome Aktiv-Passiv-Schema der von Lasswell 1948 be- schriebenen, von Radio und TV dominierten linearen Massenkommunikation. Eine kurze Anmerkung: Was waren das noch für einfache Fragestellungen, als Medienpäda- gogik aus passiven TV-Konsumenten aktive, verantwortliche TV-Nutzer machen sollte und wollte. - Provisionality und Bedeutungskonstitution wird Grundlagen des individuellen Handelns. Der Londoner Sozialsemiotiker Gunther Kress kennzeichnet die disparate Transformation mit dem Begriff der Provisionality, der Vorläufigkeit, die er folgendermaßen erläutert: “Contemporary social conditions in Anglophone and Western European societies are markedly different to those of some four decades ago. Stability – even though that had only ever been relative – has given way to instability; homogeneity has given way to often radical diversity; permanence has given way to provisionality, a condition in which crucial characteristics of the environments of communica- tion may vary from one moment to the next.” (Kress 2010, S. 171) Diese Vorläufigkeit verlangt von den Menschen nicht nur bei medienbezogenen Aktivitäten, sondern fortwährend selber Bedeutung herzustellen, wozu sie Kontexte, das sind provisori- sche Räume, aufgreifen oder entwickeln. 3.3 Der Kontext als provisorischer Raum und als Artefakt Verbindet man argumentativ den Gedanken der signifying practices mit dem Gedanken provi- sorischer Räume, in denen Menschen handeln, dann ist man bei von Nutzern generierten Kon- texten (user generated contexts, siehe Cook 2010). Worum geht es bei Kontexten? In einem ersten Erklärungsschritt sind Kontexte Situationen, die sich vom konkreten Hier-und-Jetzt ablöst haben. In der Didaktik ist uns mittlerweile das 3 Als Denkmöglichkeit der Medienpädagogik wurde weder der Begriff der Repräsentation noch der der Alltagsästhetik als die soziale Ordnung der Repräsentationsvielfalt aufgegriffen. Skizzen zu einem Kultur-Paradigma für Pädagogik in einer Kultur disparater Transformation 115 Konzept der Situation mit Hilfe des Situierten Lernens (Lave & Wenger 1991), ein Denkvor- läufer für Kontexte, bekannt und wird praktiziert. Dabei sind Lernsituationen klar verortet. Lösen sich Lernende jedoch von dieser definierten Verortung, dann entstehen Kontexte. Sie sind provisorische Artefakte, die ich folgendermaßen definiere: A context is a frame under construction for optional combinations of actions, representational resources inclusive media and literacy, virtual and local sites or social sites like socio-cultural milieus. Bei dieser Definition erinnere ich mich an Schulprojekte (Bachmair & Peters 2014; Bachmair 2015), bei denen Schülerinnen und Schüler sich eigene Kontexte erstellten, indem sie z.B. ihre Erfahrungen mit Whatsapp und ihre persönlichen Handys einbrachten oder eines der Klassen- Tablets verwendeten. So nutzten Schülerinnen und Schüler das Smartphone-App Whatsapp für die Organisation ihre Schreib- und Rap-Werkstatt, um sich nach dem Unterricht über ihre Ar- beitsverteilung bei dem Projekt und ihren Zeitplan zu verständigen. Sie schickten sich aber auch aktuelle Fotos zu und verwiesen einander auf Freizeitangebote. Mit Whatsapp verbindet sich flexibel und kommunikativ der jeweilige Schüleralltag mit Schule. Eine definierte Gruppe von Schülerinnen und Schülern schafft sich mit Whatsapp ihren flexiblen Kontext. Ein anderes Beispiel: In einer Förderschule hat der 15-jährige Jermaine Probleme damit, im ständigen Austausch mit den Schülern seiner Tischgruppe zu sein. Es überfordert ihn. Deswe- gen grenzt er sich mit YouTube-Videos von der Gruppe ab und schreibt in seinem YouTube- Kontext - gleichzeitig - konzentriert. In diesem Kontext fasst er auch seine Internet-Recherche zum Unterrichtsthema zusammen. Gelegentlich und selbst gewählt kommuniziert er auch mit seiner Tischgruppe. Auf dem iPad laufen Musikvideos von Youtube, die nichts mit dem The- ma, an dem er arbeitet, zu tun haben. Er klinkt sich nach seinen eigenen Bedürfnissen ein und aus. Der Lehrer interpretiert dies als Jermaines “personal workspace”. Es ist sein individueller Arbeitskontext. Es ist ein Kontext, den Schülerinnen und Schüler seitdem es Radio im Alltags- leben gibt, sich z.B. für ihre Hausaufgaben herstellen. Es ist also nichts Neues, jedoch für eine Kultur disparater Transformation etwas Typisches. Prägend für das Konzept der Kontexte als provisorischer Räume der Bedeutungskonstitution war der Beitrag des Computerwissenschaftlers Paul Dourish (2004), der Kontexte als semioti- sche Beziehung (Dourish 2004, S. 5) mit folgenden Merkmalen einordnet (hier nur mit Stich- worten zusammengefasst): - “relational property that holds between objects or activities”; - “defined dynamically”; - “context is an occasioned property”; - “context arises from the activity”. 116 Ben Bachmair 3.4 Context Awareness Die neue pädagogische Chance besteht nun darin, Schülerinnen und Schüler dabei zu unter- stützen, sich ihres Handelns und Lernens bewusst zu werden (context awareness), wie sie Kon- texte herstellen, wie sie darin und damit agieren (vgl. dazu Bachmair & Pachler 2014b). Eine einfache Unterstützung, wie sich Lehrer, Lehrerinnen und Schüler, Schülerinnen der von ihnen erstellten und genutzten Kontexte auch reflexiv annähern, sind z.B. Foto-Portfolios. In den beiden Beispielen für Kontexte, Whatsapp und YouTube als 'personal workspace', begannen die Lehrer damit, sich bewusst zu machen, was Whatsapp auf den persönlichen Handys der Schülerinnen und Schüler didaktisch bedeutet. Ein anderer Zugang zu Context Awareness: Einige Schüler machten sich Gedanken, ob sie denn Lehrer in ihrem Whatsapp-Chat dabei haben wollen. Die Beobachtungen zu benennen ist eine weiter einfache Form. So findet der Förderschullehrer die Bezeichnung “Jermaine's personal workspace”. 4. Wissen und Subjektivität als Ressource. Auf der Suche nach einer kulturökologischen Praxis für Pädagogik Die aktuelle disparate Transformation unserer Kultur hat eine ausgeprägte Triebkraft, nämlich zunehmend mehr Objekte und Prozesse als nützliche und verwertbare Ressourcen zu definie- ren. Im Vordergrund stehen dabei die ökonomische und die technologische Definition von Ressourcen. Etwas als Ressource zu definieren, z.B. Wissen, erzeugt Eindeutigkeit, was im krassen Gegensatz zu den Kontexten als provisorischen Artefakten steht. Die Definition von Wissen als Ressource, auch als globaler Ressource, zieht selbstverständlich Standardisierung und Kontrolle nach sich. Im Gegensatz zur Standardisierung und Kontrolle stehen die vielfalti- gen und auch disparaten Prozessen der Bedeutungskonstitution in flexiblen und von Nutzern generierten Kontexten. Angesichts der Unübersichtlichkeit dieser Kontexte ist dann die von Apple hergestellte Eindeutigkeit der iPads and iPhones richtiggehend entlastend. Schülerinnen und Schüler erleben das Entlastung versprechende Apple-Design jedoch anders als die Umge- staltung von Schule in ein Assessment-Centre mit globaler Vergleichbarkeit von Wissenser- gebnissen als definierter Ressource. Aber auch ein didaktisches Assessment-Centre produziert Eindeutigkeit. Pädagogik ist im Moment mit der Umgestaltung des Schulwesens unter dem Ressourcen- Aspekt konfrontiert. Pierre Bourdieu machte uns seit den 1970er Jahren mit dem Gedanken und den Phänomenen des kulturellen Kapitals und der damit verbundenen Sozialisationspro- zesse und Habitusformen vertraut. Zu dem, was Bourdieu als kulturelles Kapital beschreibt und was ökonomisch gesehen verwertbare Ressourcen sind, gehört auch die Art und Weise, wie wir als Persönlichkeiten in dieser globalen Welt leben. So gesehen ist auch Subjektivität eine Res- source. Die Intensivierung der Individualisierung trägt dazu bei, dass die Menschen sich selber zur optimierten Ressource umwandeln. Ein wichtiger Mechanismus ist, dass sich Individuali- sierung im Konsum zum egozentrischen Erleben in subjektiven Lebenswelten (Bachmair 2009, S. 237 ff.) wandelt. Egozentrisches Erleben in subjektiven Lebenswelten folgt jedoch nicht Skizzen zu einem Kultur-Paradigma für Pädagogik in einer Kultur disparater Transformation 117 narzistischen Zielen, sondern passt sich in eine neoliberal legitimierte Selbstoptimierung (But- terwegge u.a. 2008) der Menschen ein. Erfolgreiche Menschen gestalten und vermarkten sich als ihre eigene ökonomische Ressource. Diesen Zweck unterstützen ubiquitäre digitale Kleinst- computer, eben Handy oder Tablet: Immer erreichbar, immer mit allen Datenarchiven verbun- den, immer den Organizer zur Hand. Fotos von roboterähnlichen Menschen mit Daten-Brillen und Daten-Handschuhen liefern die Science-Fiction-Bilder zum selbstoptimierten Menschen in egozentrischen Lebenswelten. Zu dieser Selbstoptimierung gehört auch das Selfi-Foto, bei dem die für eine auf Individualisierung ausgerichtet Gesellschaft die flexible, bildhaft reflektierende Selbst-Repräsentation ermöglicht. Natürlich nicht nur mit dem Selfi-Foto, sondern auch mit Whatsapp, Facebook usw. als dem selbstgewählten Kontext der Selbstrepräsentation: Ich zeige mir und anderen, wer ich bin und erfahren gleichzeitig, wer um mich herum agiert. Das Selfi- Foto konstituiert einen Kontext, indem sich jeder als soziale Ressource einbringt. Bei Face- book geschieht das vornehmlich als Alltagsmensch, bei www.linkedin.com zum Beispiel unter dem Gesichtspunkt professioneller Leistung. 4.1 Kulturökologie Versuche, eine Kulturökologie zu skizzieren (Cook, Pachler, Bachmair 2011; Bachmair et al. 2013; Bachmair et al. 2014; Bachmair & Pachler 2014a) reagieren im Bereich der Kulturres- sourcen nicht zuletzt auf ökologisches Denken und Handeln angesichts von Umweltzerstörung, die mit der Ausbeutung von Natur und Energie als billiger Ressourcen einhergehen. Hierzu gibt es erlebbare und diskutierte Erfahrungen wie globale Erwärmung oder die Standarisierung der Ernährung, die bei bestimmten Bevölkerungs- und Altersgruppen ein ökologisches Um- denken gefördert hat. Das hat dann zu einer breiten Palette ökologischer Handlungs- oder Or- ganisationsformen geführt wie z.B. zu Slow Food, der Bio-Abteilung im Supermarkt, zum unauffälligen Urban Gardening, zu politischen Organisationsformen wie Campact und zum politisch ökonomisch technologischen Komplex der Energiewende. Wie kann oder soll Päda- gogik diese Erfahrungen und Formen für eine pädagogische Kulturökologie fruchtbar machen? Eigensinn des Lernens Was ist nun angemessen, wenn man ökologisches Denken und Handeln auf Kultur und hier auf Bildung im weitesten Sinne übertragen will? Hier gilt es als erstes, den Eigensinn von Lernen bewusst zu machen (Bachmair, Pachler & Cook 2014, S. 146f.) und damit aus dem Verfü- gungsdenken von Lernen als ökonomischer Ressource herauszubrechen. Dazu gibt es breite Diskussionen, die im anglophonen Bereich zum Beispiel mit Lev Vygotzkys Entwicklungsge- danken der "Zone of Proximal Development" einen Schlüssel gefunden haben (Vygotzky 1978/1930, S. 84ff.). In dieser Denklinie geht es darum, bei Kindern einzuschätzen, was denn in ihrer aktuellen Entwicklungsphase als Lernoptionen angelegt ist. Schule bietet hierzu ein didaktisches Gerüst an, englisch formuliert: Scaffolding (Wood et al. 1976), das diesen lernen- den Entwicklungsschritt unterstützend begleitet. Weiterhin gibt es aktuell auch eine breite pädagogisch didaktische Diskussion, die Reformpädagogik ebenso einschließt wie Lernerori- entierung. Gunther Kress hat in der Sicht der Sozialsemiotik skizziert, wie sich der Eigensinn des Lernens als Bedeutungskonstitution erschließt (Kress & Bezemer 2015). 118 Ben Bachmair Kontexte und Bedeutungskonstitution Eine weitere Möglichkeit, sich einer Kulturökologie des Lernen anzunähern, geht einher mit der Dynamik der Entgrenzung und Individualisierung, die, wie oben ausgeführt, im medialen Digitalbereich zu nutzergenerierten Kontexten beiträgt. Schon Situiertes Lernen (Lave & Wenger 1991) ist nahe an der Logik nutzergenerierter Kontexte mit den auf Lernen als Bedeu- tungskonstitution angelegten Aneignungsformen. In dieser Logik konzentriert sich ein kultur- ökologisches Denken auf die Grundlage jeden Lernens, nämlich auf Lernen als Bedeutungs- konstitution in vorfindlichen Situationen oder in generierten Kontexten. In der Argumentation von Stuart Hall in den Cultural Studies handelt es sich dabei, wie oben ausgeführt, um “sig- nifying practices”. Bedeutungskonstitution / “signifying practices” sind Aneignungsformen, die immer mit entäußernder Mitwirkung verbunden sind. Aneignung und entäußernde Mitwir- kung sind Basisfunktionen von Bildung. In der Pädagogik taucht ein vergleichbarer Gedanken mit dem situierten Lernen auf (Lave & Wenger 1991), jedoch ohne Kontextbezug. Für Lave und Wenger war Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre noch nicht absehbar, dass in der Verbindung von Internet und indivi- duell verfügbaren mobilen Endgeräten die Generierung von Kontexten zu einer prägenden wie disparaten sozialen Grundform wird. Es war noch nicht abzusehen, dass eine Form der gesell- schaftlichen Arbeit das Generieren von und das Handeln in und mit Kontexten werden wird. Über ein engeres pädagogisches Denken geht in diesem Zusammenhang Jörn Lamla (2010) hinaus und untersucht “digitale Konsumwelten als politische Bildungsräume”. Lamla klinkt sich mit dem Konzept der Bildungsräume in die Denklinie von “Kulturräumen”, “sozialen Welten und Arenen” ein (S. 149) und beschreibt in diesem Zusammenhang das “Internet” als “offenen Prozess sozialer Ordnungs- und Grenzbildung, an dem eine Vielzahl sozialer Welten (und Praktiken) durch Segmentierung, Intersektion und Aushandeln beteiligt ist” (S. 149). Zwar verwendet Lamla seine eigene Terminologie, der Grundgedanke entspricht jedoch der obigen Definition von “context” als provisorischem Artefakt und “frame under construction” für Prozesse der Bedeutungskonstitution und als provisorisches Ergebnis von Bedeutungskon- stitution. Ökologisch bemerkenswert werden die von Lamla empirisch festgestellten Typen von “Online-Praktiken von Verbrauchern” (S. 150). Diese Online-Praktiken sind “signifying prac- tices” und damit auch Formen der Aneignung bzw. entäußernder Mitwirkung. “Online- Praktiken von Verbrauchern” sind auch Teil der “Alltagsökonomie” von Verbrauchern, die “in unterschiedlichen Maße ihre Autonomie gegenüber expansiven Marktentwicklungen im Inter- net” einsetzen. Man muss wohl hinzusetzen: oder dies auch nicht tun. Schule oder anderweitig institutionalisierte Bildung hat hier die Chance, den Schul-Kontext des formalen Lernens mit den verschiedenen Online-Praktiken von Schülerinnen und Schülern als Verbrauchern zu ver- netzen. In anderen Worten, Schüler und Schülerinnen als Verbraucher generieren mit ihren digitalen und sonstigen kommunikativen Ressourcen nutzergenerierte Kontexte und brechen damit die vorgegebene Konsumlogik auf oder auch nicht. Online-Praktiken werden so zu Be- standteilen des Aneignungsprozesses und verlieren damit ihren ausschließlichen Vollzugcha- rakter für Konsumlogik und Marktdominanz. Skizzen zu einem Kultur-Paradigma für Pädagogik in einer Kultur disparater Transformation 119 Soziale Gerechtigkeit Dieses Aufbrechen kann auch die einfache Form des Copy & Paste haben, so meine These. Ja, wirklich, diese schlichteste aller Aneignungsformen, indem Schüler bzw. Schülerinnen nur etwas aus dem Internet kopieren und auf ihr Handy verschieben? Hat Medienpädagogik mit dem aktiven und kritischen Mediennutzern nicht genau das Gegenteil angestrebt? Wenn und weil es bei Copy & Paste um soziale Gerechtigkeit geht, stellt sich in einem kulturökologi- schen Denkrahmen die Frage neu. Gerechtigkeit ist im Bereich des Digitalen nicht nur eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit, sondern auch eine Frage der sozialen Anerkennung von unterschiedlichen Lebensweisen (Sen 2009). Mit Lebensweisen verbundene unterschiedliche Aneignungsformen wie 'verbale, kritische Auseinandersetzung' oder 'kopieren was mich an- spricht' bedürfen der Perspektive sozialer Gerechtigkeit der schulischen Anerkennung, obwohl sie in der Tradition der Schule eher wünschenswert oder eher abzulehnen sind. Hier der Ver- weis auf ein Beispiel nicht aus dem Feld des Konsums, sondern aus einem Schulprojekt zum kreativen Schreiben (Bachmair & Pachler 2014b; Bachmair 2014, S. 279f). In einer Text+Bilder-Werkstatt suchten und entdeckten acht Jungen einer 8. Hauptschulklasse im Internet ständig neue Bilder. Sie speicherten sie nicht, sondern begannen gleich wieder andere Bilder zu suchen. Ihr Aneignungsmuster war das der Erkundung nicht das des Sam- melns. Suchen, Anschauen, schnell und einfach Bewerten und wieder etwas Neues Suchen sind dabei die Handlungsformen. Sie gilt es in einem ersten didaktischen Schritt anzuerkennen. Eine einfache Möglichkeit besteht darin, sich als Lehrer oder Lehrerin interessiert anzuschau- en, was die Schüler auf ihren Bildschirm ‘zaubernʼ. Ein Foto-Portfolio des Lehren oder der Lehrerin passt dazu als Form der Anerkennung. Natürlich ist es Aufgabe der Schule, diese Schüler darin zu unterstützen, ihre Aneignungsmuster auszuweiten, zum einen um die Erkun- dung zu verstetigen, zum anderen damit sie zu einem eigenen schriftlichen Text gelangen. In der Perspektive der Jungen und ihrer Ausrichtung auf schon im Internet vorhandene, also ferti- ge Bilder kommt die multimodale Textform des Fotoplakats als didaktisches Ziel infrage. Die Verstetigung des Copy&Paste ließ sich mit dem Ziel, ein Fotoplakat zu machen, bei den Schü- lern gut in Gang setzten. Mit vorhandenen Fotos eigene Collagen zusammenzustellen blieb für die Jungen noch akzeptabel nahe an ihrem Suchen im Internet als Ausgangsmuster ihrer An- eignung. Die Zielvorstellung, die Fotoplakate auszustellen, also sich selber mit den Collagen zu repräsentieren, traf bei den Jungen auf hohe Akzeptanz. Engagiert produzierten sie multi- modale Texte mit ausgesprochen sensiblen, wenn auch eigenwilligen bis grotesken Bildern aus dem Internet. Diese Text+Bilder-Werkstatt entspricht dem “Deference”-Ansatz zur sozialen Gerechtigkeit, bei dem die Ausdrucksformen der Schülerinnen und Schüler als ihre Kulturressource von der Schule akzeptiert werden. Für Schule kommt als weitere Aufgabe hinzu, diese den Schülern bzw. Schülerinnen verfügbaren Kulturressourcen weiter zu entwickeln. In der internationalen Debatte (Rymes 2011) zeigen sich zwei für die Didaktik relevante Strategien, mit individuali- sierten Ressourcen z.B. aus der Jugendkultur in der Schule umzugehen: deference (Respekt, Ehrerbietung) und denial (Ablehnung, Verweigerung). Der Denial-Ansatz entspricht der kriti- schen Medienkompetenzförderung, bei der Lehrer und Lehrerinnen die Schüler motivieren, 120 Ben Bachmair sich kritisch mit den massenmedialen Angeboten auseinander zu setzen, um zu einem origina- len Ausdruck zu kommen. Der Deference-Ansatz ist demgegenüber didaktisch auf Assimilati- on der jugendlichen Kulturressourcen ausgerichtet. Er führt nicht nur zu einer Anerkennung der jugendkulturellen Ressourcen, sondern auch von nicht-deutschen Familiensprachen oder Traditionen der nicht-deutschen Herkunftskultur, sondern auch zu deren Assimilation in den Unterricht. Zudem öffnet der Deference-Ansatz, mit subjektiven Kulturressourcen in der Schu- le anerkennend umzugehen, den Blick auf informelles Lernen, das z.B. mit sozialen Internet- netzwerken einhergeht. Zudem wird es für Lehrer und Lehrerinnen leichter, Alltagskompeten- zen im Sinne naiver Expertenkompetenzen von Schülern oder Schülerinnen an den Unterricht heranzuführen und zugleich die Unterrichtsziele an die Entwicklungsprozesse der Schüler oder Schülerinnen anzunähern. 5. Zusammenfassende Schlussfolgerung: Die pädagogische Chance, über den Prozess der Aneignung auf den Zivilisationsprozess Einfluss zu nehmen Abschließend will ich mich auf den Gedanken der Aneignung konzentrieren um zu versuchen, die bislang skizzierten Denklinien zusammenzufügen und praktisch als pädagogische Einfluss- nahmen im Zivilisationsprozess erkennbar zu machen. Der Begriff des Zivilisationsprozesses bindet den Versuch eines pädagogischen Paradigmas an Norbert Elias’ Sozialisationskonzept an. Im “Gewebe von Aktionsketten” (Elias 1979, 2. Band, S. 319) entstehen Kulturprodukte, die wiederum angeeignet (Elias 1979, 1. Band, S. 3) im Sozialisationsprozess der Menschen dazu beitragen, typische Formen von Subjektivität, also Formen in dieser Gesellschaft zu sein, auszuprägen und wiederum Aktionsketten in Gang zu setzen. Diese Zusammenfassung ent- spricht dem pädagogischen Gedanken der Bildung wie ihn Wilhelm von Humboldt 1792 in seinen “Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen” ausgebreitet hat (Humboldt 2002, als Modell zusammengefasst Bachmair 2009, S. 227). Dabei scheint mir der Begriff der Aneignung von Kulturprodukten im Vordergrund zu stehen; Aneig- nung deswegen, weil wir moderne und westliche Subjektivität in Aktionsketten denken. Zu diesen Aktionsketten gehört substanziell verbunden die Entäußerung, die Einflussnahme auf den Zivilisationsprozess mit unseren Mitteilungen und Einflussnahmen auf Kulturprodukte. Will man versuchen, diesen Gedanken in die anglophone Diskussion einzubringen, dann lässt sich auf Lev Vygotskys Entwicklungs- und Lernmodell von 1930 verweisen, mit dem Vygo- tsky (1978) die Entwicklung komplexer psychischer Prozesse wie Lernen als Internationalisie- rung und Externalisierung fasst. Lernen als Prozess der Internalisierung besteht aus einer Ab- folge von Transformationen: “(a) An operation that initially represents an external activity is reconstructed and begins to occur internally.[...] Skizzen zu einem Kultur-Paradigma für Pädagogik in einer Kultur disparater Transformation 121 (b) An interpersonal process is transformed into an intrapersonal one.[...] (c) The transformation of an interpersonal process into an intrapersonal one is the result of a long series of developmental events.” (Vygotzky 1978, S. 56f.) Den überindividuellen Zusammenhang kennzeichnet Vygotzky dabei mit Stichworten wie diesen (auch 1978, S. 57): “internalization of cultural forms of behavior”, “internalization of socially rooted and historically developed activities”. In der Humboldtschen oder der Vygotzkyschen Version des Aneignungskonzepts, das immer die Teilnahme in und an der Außenwelt substanziell einschließt, geht es um die, wie es Ernst Cassirer nannte, symbolischen Formen einer Kultur, oder wie es Norbert Elias auf den Punkt bringt, um den Prozess der Zivilisation. Die Menschen als sich Kulturprodukte aneignende Subjekte, als sich dabei entwickelnde Subjekte, als dabei in die Welt eingreifende Subjekte in ihren “Aktionsketten” – halten den Prozess der Zivilisation in Gang. Es ist eine Machtfrage, welche Akteure dabei an Schaltstellen und an Weichen stehen oder verschoben werde. In unse- rer kulturellen Form disparater Transformation steht Entgrenzung und Vorläufigkeit im Vor- dergrund. Dabei läuft alles auf Mobilität in Netzen hinaus. Zudem geht es um die ökonomische Ausbeutung kultureller Ressourcen. Im Prozess der Individualisierung mittels ubiquitärer Mo- bilität entstehen neue und der Pädagogik wenig vertraute Ressourcen wie nutzergenerierte und provisorische Kontexte. Entgrenzung und Individualisierung machen es unumgänglich, Aneig- nungsprozesse aus Routinen - persönlichen und institutionell erzwungenen - herauszunehmen und als Bedeutungskonstitution an die Menschen zu delegieren. An diesem Entwicklungspunkt unserer symbolischen Form disparater Transformation explodieren sozusagen die Handlungs- möglichkeiten der Menschen. Die Chancen, den Eigensinn von Lernen zu entfalten, die Chance auf Teilhabe stehen gut, so meine ich. Pädagogik kann als Impulsgeber und Schutz aktiv wer- den, indem sie den Gedanken der Cultural Studies aufgreift und sich in Signifying Practice sperrig einordnet. Die praktische Frage drängt sich sofort auf: Und was macht Pädagogik und Medienpädagogik im Sinne der Kinder und Jugendlichen, die von der Daueranstrengung der mobilen Bedeu- tungskonstitution überfordert sind? Dramatisch wird eine andere Frage an Pädagogik, wie denn die Bildungsprozesse der Schülerinnen und Schüler zu verorten sind, die aus dem Schul- und Jugendalltag mit Handy und YouTube ausscheren und in den allen pädagogischen Denkvor- stellungen zuwider laufenden Krieg der ISIS ziehen; in einen Krieg, in dem die disparate Transformation unserer Kultur im Zusammenspiel von archaischem Horror mit Smartphone- Selbstrepräsentation und Internet-PR zur Groteske wird. 122 Ben Bachmair Literatur Bachmair, Ben (1986): Auto und Fernsehen - Objekte der Begierde. Kulturhistorische Gedan- ken zur Technologisierung von Mobilität und Kommunikation. Pädagogik heute, Heft 7-8, S. 4-11. Bachmair, Ben (1991): From the Motor Car to the Television. 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Zur Dimension der Kritik als Zielvorstellung von (Medien-)Bildung 127 Zur Dimension der Kritik als Zielvorstellung von (Medien-)Bildung Petra Missomelius Zusammenfassung Der Begriff der Kritik erweist sich schon als Ausdruck für die Zielgröße von Bildung als intrikat. Kritik scheint mit Konnotationen wie Selbstbestimmtheit und Mündigkeit zurzeit ein rein funkti- onalistisches Agens zu sein, ein mehr oder weniger institutionalisierter bildungsbürgerlicher Wert – zudem unter dem Verdacht liberaler Gouvernementalität Vorschub zu leisten. Wesentliche Be- zugsgrößen waren lange Aufklärung, Selbstbestimmtheit, Negation, Widerständigkeit, Dissidenz und Autonomie – heute ihrer Sprengkraft beraubt und Teil von ökonomisch getriebenen Marke- tingkonzepten. Im Bereich der Medienpädagogik, Medienkompetenz und Medienbildung koexis- tieren (auch international) verschiedene Dimensionen und Implikationen von Kritik als erstre- benswertes Bildungsziel. Der Beitrag verfolgt die These, dass Kritik im Zuge aktueller Medien- kulturen eine erneute Transformation erfahren hat. Die Codebasiertheit digitaler Medienkultur spielt dabei eine maßgebliche Rolle, weshalb Datenkritik und cultural hacking als Kritikformen in Erscheinung treten. Pädagogische Zielgröße Kritik Durchgängig in allen Zielbeschreibungen des institutionellen Bildungssystems spielt Kritik eine zentrale Rolle innerhalb eines als offen zu beschreibenden Netzwerks von Bildungszielen. Sie taucht bildungssprachlich überwiegend adjektivisch in Formulierungen von Bildungszielen auf: ‘kritisches Denken’ oder ‘kritisches Bewusstsein’, besonders häufig in Form von ‘kriti- scher Reflexion’. Im englischsprachigen Raum findet dies seine Entsprechung in den Termini ‘critical thinking’ sowie ‘critical reflection’. Eine einschlägige Definition für Kritik sucht man jedoch in pädagogischen Nachschlagewerken vergeblich. Hingegen ist Kritik Teil des Bedeu- tungsfeldes ‘Eigenständigkeit‘,‘Selbstbestimmtheit’,‘Selbstwirksamkeit’,‘Mündigkeit’ und ‘Emanzipation’, politisch konnotiert auch ‘Widerstand’. Im Alltagsverständnis signalisiert “eine kritische Haltung” eine weder willfährige, noch igno- rante Einstellung gegenüber sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Fragen. Der Imperativ ‘Sei kritisch!’ impliziert das Gegenteil bloßer Affirmation und zeichnet die Individu- alität des Menschen durch eine ‘eigene Meinung’ aus. Wie sich bereits andeutet, speist sich Kritik aus einer Differenz (zum Richtigen oder Wahren). Damit impliziert sie einen Diskurs um ‘Wahrheit’. Es wird schnell deutlich, dass es sich um ein grundlegendes philosophisches Problem handelt, das weit über den Bereich der Philosophie hinausgeht. Bei Kant beispielsweise ist Kritik eine Methode zur Infragestellung der Legitima- tion staatlicher und gesellschaftlicher Autoritäten (Kant 1798/2005). Worin bestehen Kriterien 128 Petra Missomelius für Wahrheit; ist diese zeitlos, kann es nur eine oder mehrere Wahrheiten geben? Nach Foucault (1992) ist eher von einer temporär begrenzten, normativen Wahrheit zu sprechen, die als intra-kulturell ausgehandeltes, konsensuales diskursives Wissen und Deutungen zu verste- hen ist. Sie manifestiert sich beispielsweise in Rechtsgrundlagen wie der Verfassung und den Menschenrechten. Vor diesem Hintergrund bedeutet Kritik die Haltung gegenüber diesen je- weiligen gesellschaftlich gültigen Wahrheiten. Um also kritisieren zu können, muss eine Hal- tung gegenüber etwas eingenommen werden. Foucault bezeichnet dies als “Kulturform”, “eine moralische und politische Haltung, eine Denkungsart, welche ich nenne: die Kunst nicht regiert zu werden bzw. die Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden.” (Foucault 1992, S. 12) Sie findet ihren Ausdruck in der Parrhesia. Kritik, die von einem sub- jektiven Standpunkt aus vertreten wird, repräsentiert die Wahrheit der jeweiligen Person, wel- che jedoch keine beliebige Wahrheit ist und selbst wiederum Kritik ausgesetzt ist. Für die Vermittlung von Kritikfähigkeit bedeutet dies, dazu zu ermächtigen eine Haltung zu entwickeln. Die hierzu notwendigen positiven Grundlagen des Zusammenlebens und gesell- schaftlichen Idealvorstellungen werden im Allgemeinen in der formalen Bildung zumeist als unhinterfragte Setzung als Gegeben angenommen. Freilich stellt sich die Frage, ob daher das Kritikverständnis des (staatlichen) Bildungssystems von staatlicher Macht und Interessen trennbar ist. Macht und Wissen, das hat Foucault deutlich dargelegt, sind untrennbar miteinan- der verwoben. Kritik ist dann als Dissens die Verweigerung der Unterordnung in Wissensgefü- ge (vgl. Butler 2011). Das Wiederholen gängiger Muster und etablierter Werte mit pseudokriti- schem Gestus zur vorteilhaften Selbstpositionierung entspricht nicht dem Verständnis einer immer wieder hinterfragenden kritischen Haltung, die durchaus auch die Kritik der Kritik im- pliziert. Diese vermeintliche Kritik verkommt zum Stereotyp und ist opportunistisch sowie selbstgefällig. Der Dissens im Denken wiederum muss institutionell unterstützt bzw. ermög- licht werden. Die Legitimität von Bildungsinstitutionen als Machtgefüge hängt insofern auch davon ab, ob sie in der Lage sind, ihre souveräne Macht auszusetzen, die Bedingungen des Dissens zu regeln, sich selbst kritischer Betrachtung und damit immer wieder der Aushandlung ihrer Rechtmässigkeit zu stellen. Dies bedeutet auch binäre Vereinfachungen, ordnende Krite- rien und Affirmationen einer laufenden Prüfung zu unterziehen, was zugegebenermaßen gerade im Kontext von Bildungsprozessen, welche oftmals vereinfachender Mittel bedürfen und Kon- tingenzoffenheit als Bedrohung erlebt, eine Herausforderung darstellt. Als diffizil erweist sich das Verständnis von Kritik als politischer Widerstand innerhalb repressiver Systeme, solange Bildungsinstitutionen selbst Teil dieses Systems sind. Eine weitere problematische Konfiguration für das Bildungsziel Kritik, wenn man es als Selbstwirksamkeit durch die Realisierung einer symmetrischen Öffentlichkeit begreifen will, stellt laut Roland Reichenbach die Diskrepanz zwischen Bildungsprogrammatik einerseits und Realität des 21. Jahrhunderts andererseits dar. In aller Konsequenz bedeutet dies, dass zwar der Eindruck kritischer Reflexion im pädagogischen Rahmen erzeugt werden mag, diese jedoch in der vernetzten globalisierten Lebenswelt in die Leere läuft und vielmehr das Erleben von Miss- erfolg hervorzubringen tendiert (Reichenbach 2000). Kritik als Zielvorstellung von (Medien-)Bildung 129 Verständnisse von Medienkritik Vom allgemeinen Kritikverständnis ausgehend, soll nun der Fokus auf Medienbildung gelegt werden. Die Medienpädagogik fokussiert dabei eine Bildungspraxis, die sich der medialen Vermitteltheit jeglicher Kultur und Bildungsprozesse bewusst und medienkulturell informiert ist. Im Folgenden werden zunächst unterschiedliche Verknüpfungslinien von Medien, Bildung und Kritik ausgelotet, bevor die Kritikverständnisse, wie sie die Medienpädagogik in verschie- denen Konzepten von Medienkompetenz und Medienbildung entwickelt hat, näher in Augen- schein genommen werden. Journalistische Medienkritik Der im Alltagsgebrauch verbreitete Begriff der Medienkritik bezieht sich auf die Textsorte der Rezension. Bezogen auf einzelne Medienproduktgruppen gibt es entsprechend Buch-, Film-, Spiele- und Musikkritiken. Diese Kritiken legen ästhetische, technische, ökonomische, sozio- logische oder philosophische Maßstäbe an das Medienprodukt. Sie können Orientierung in der Fülle der Angebote bieten, zur Entwicklung von individuellen Qualitäts- und Beurteilungskri- terien sowie zum Wissen über Medien beitragen. War dies lange eine journalistische Tätigkeit, so hat sich auch dieses Genre mit der Verbreitung von user content im Web 2.0 von diesem Berufsstand gelöst. Sowohl kommerziell orientierte, semiprofessionelle als auch privat betrie- bene Angebote sind inmitten von Rezensionsplattformen, Blogs und YouTube-Kanälen aus- zumachen. Die jeweilige Ausdeutung der kritischen Herangehensweise obliegt hierbei den vorliegenden Absichten und Präferenzen und entfernt sich aus den vormals intellektuell (nega- tiv ausgedrückt: bildungsbürgerlichen und hochkulturellen) ästhetisch-kulturellen Rahmen. So kann ein anspruchsvoller Film negativ bewertet werden, da er keine Actionsequenzen zu bieten hat, ebenso wie ein Unterhaltungsroman ob seiner einfachen Sprache gelobt werden kann. Gerade im Kontext von Fanaktivitäten ist zu beobachten, wie im kommunikativen Austausch und in der Verbalisierung der persönlichen Medienrezeption und des individuellen Unterhal- tungserlebens implizites Medienwissen explizit werden kann (Hellekson & Busse 2006). Medienkritik und Media Literacy Im internationalen Diskurs um Medienbildung im Sinne einer kritischen Kompetenz (media literacy, seit einigen Jahren auch digital literacy) wird die Rolle der journalistischen Medien- kritik hoch angesiedelt. Es ist an dieser Stelle kaum möglich, die Vielfalt der Ansätze von media literacy und ihre unterschiedlichen nationalen Ansätze näher zu betrachten. Hierfür sei auf die Texte von Christian Swertz & Clemens Fessler (2010) sowie von Theo Hug (2011) hingewiesen. Dabei werden jedoch auch Medientheoretiker wie McLuhan, Postman und Buckingham als media critics bezeichnet. Wie Alexander Fedorov und Anastasia Levitskaya in ihrer Studie 2015 zeigen, ist dieses Genre sehr gut geeignet, um etwa mediale Semiotizität, Konstruktions- und Funktionsprinzipien durch Medientext-Analysefähigkeit zu vermitteln. Sie heben hervor, dass besonders die massenmediale Verbreitung des Genres eine Breitenwirkung 130 Petra Missomelius erzielen und Medienkompetenz generell erhöhen könne. Die allgemeine Wertschätzung von Medienkritiken für die Vermittlung von media literacy spiegelt sich jedoch nicht in der tatsäch- lichen Unterrichtsverwendung der untersuchten 18 Länder wider (vgl. Fedorov & Levitskaya 2015). Einflußreich ist die angelsächsische, auf John Dewey zurückgehende, Bewegung des critical thinking (CT), welche viele media literacy Konzepte durchzieht. Sie zielt durch die Überprüfung von Annahmen sowohl auf Kompetenzen zur Problemlösung sowie auf die Fä- higkeit zur Argumentationsanalyse. Ein Leitfaden formuliert neun “universelle Normen für kritisches Denken”: Klarheit, Richtigkeit, Exaktheit, Relevanz, Tiefgang, Vernetzung, Logik, Fokussierung und Fairness (Paul & Elder 2003, S. 8), welche anhand von jeweils drei Fragen in Unterrichtsszenarien erörtert werden sollen. Es ist ein Fokus auf die Analyse des Mediums bzw. des Medienproduktes in der internationalen Auseinandersetzung mit Medien und Bildung festzustellen, welche mit den Vorstellungen von Medienerziehung im deutschsprachigen Raum konform geht. Es geht bei der ‘kritischen Reflexion’ der media literacy um Analyse (teilweise explizit zu erwerbender viewing skills) medialer Inszenierungen im Sinne einer evaluativen Fähigkeit. Im besten Falle würde dies in die Befähigung zur Unterscheidung von guten und schlechten, gesellschaftlich erwünschten und schädlichen Entwicklungen der Medien münden. Der in Österreich jährlich verliehene Media Literacy Award wendet für die Auswahl zu prä- mierender Unterrichtskonzepte die Kriterien des CT auf die eingereichten medienpädagogi- schen Beiträge an. Dies wurde aus der Analyse von zehn Jahren Preisvergabe heraus entwickelt und als entscheidender Gelingensfaktor von pädagogischen Medienprojekten ausgemacht (Schipek & Holubek 2012). Douglas Kellner und Jeff Share (2007) haben mit der Schrift “Critical Media Literacy is Not an Option” auf die Notwendigkeit einer Verbindung zwischen critical pedagogy (in der Folge von John Dewey und Paolo Freire) und cultural studies hingewiesen. Ohne diese Verbindung drohe media literacy zu einer weiteren Kompetenz im Bildungskanon zu werden, welche die Repro- duktion sozialer Ungleichheit weiter fortschreibe. Seine Argumentation für die Dringlichkeit des Projektes lautet: “In the 21st century, critical media literacy is an imperative for participatory democracy because new information communication technologies and a mar- ket-based media culture have fragmented, connected, converged, diversified, homogenized, flattened, broadened, and reshaped the world. These changes have been reframing the way people think and restructuring societies at local and global levels.” (Kellner & Share 2007, S. 69) In diesem Konzept, das sich vom einzelnen Medienprodukt löst und stärker auf Kontextualisie- rungen und Lebenspraxis ausgerichtet ist, wird die politische und globale Tragweite von Medi- enbildung besonders hervorgehoben. Medienkritik als eine Dimension von Medienbildung Im deutschsprachigen Raum ist das medienpädagogische Verständnis von Medienkritik durch das Geflecht von Dimensionen bestimmt, welches von Dieter Baacke (1980) als Medienkom- Kritik als Zielvorstellung von (Medien-)Bildung 131 petenz entworfen wurde und seither als Medienbildung fortgeschrieben wird. Baackes Ausfüh- rungen betonen partizipatorische Elemente, während das emanzipatorische Moment bei Baacke nicht sehr konzise dargelegt wird: Medien werden – kompetent genutzt – als Mittel der Eman- zipation begriffen. Die vier Dimensionen, welche das Baacke’sche Medienkompetenzmodell kennzeichnet, beinhalten neben Medienkritik Medienkunde, Mediennutzung sowie Medienge- staltung. Medienkritik ist hierbei analytisch, reflexiv und ethisch orientiert (Baacke 1997). Dabei ist Baackes Position innerhalb der Haltung der Pädagogik Medien gegenüber zu beden- ken. Lange Zeit pflegte diese gegenüber den Massenmedien eine Kontroll-Orientierung, da sie diese als potentielle Gefährdungen wünschenswerter Sozialisations- und Entwicklungsprozesse wahrnahm (vgl. Wagner 1996). Der konservativen Bewahrpädagogik folgte eine ideologiekriti- sche erziehungswissenschaftliche Haltung, welche sich auf die Frankfurter Kritische Theorie berief. Der gesellschaftstheoretische Zugang erwog Medien als Phänomene des Kapitalismus, die zu enthüllen es eines hermeneutisch-kritischen Bewusstseins bedürfe. Damit gelang es, Medienpädagogik von der Werteorientierung zu lösen und stärker auf sozialwissenschaftliche Analyse auszurichten. Dieser zufolge hatte Bildung sich auf Bewusstseinsbildung, Emanzipati- on, Selbstbestimmung und Partizipation auszurichten – Ziele, welche sich in der Baacke’sche Entfaltung der Medienpädagogik wiederfinden. Positive Kritik bzw. Mangel an kulturpessimistischen Klagen im Kontext von Medien steht noch heute in Bildungskontexten oftmals per se unter dem Verdacht der kulturindustriellen Vereinnahmung im langen Schatten der kritischen Theorie. Dies hat zum einen mit der unge- rechtfertigten Verengung des Blicks auf Medientechnologien zu tun. Es ist illegitim, beispiels- weise Fernsehen auf Reality TV-Formate zu verengen und diesen Blickwinkel einem pädago- gischen Urteil gegenüber dem Medium Fernsehen zugrunde zu legen. Dies kann nur in die Empfehlung zur Abstinenz münden. So kann auch die vermeintliche Banalität der reduzierten digitalen Kommunikation via Twitter und anderen Kurznachrichtendiensten nicht als einziges Merkmal aktueller digitaler Medienkultur betrachtet werden, wenngleich eine solche Feststel- lung sicherlich zunächst viel Zustimmung finden mag. Diese pseudokritische, kontext- und geschichtsblinde Haltung geht jedoch nicht nur an der Realität der Mediengesellschaft vorbei, sie verstellt zudem jegliche pädagogische Handlungsmöglichkeiten jenseits des Verbotes. In aller Konsequenz bedeutet dies, dass die reflektierte Auseinandersetzung mit Medien auch eine Kritik der Medienkritik beinhaltet. Sonja Ganguin hat dezidiert die vielfältigen Akzentuierungen von (Medien-)Kritik im medien- pädagogischen Fachdiskurs untersucht. Sie fasst unter Medienkritik “das kritische Wahrneh- men, Decodieren, Analysieren, Reflektieren und Beurteilen von Medien, ihren Inhalten, For- maten, Genres und Entwicklungen” (Ganguin 2006, S. 71). Ihre Analyse medienpädagogischer Medienkritik in den Konzepten von Dieter Baacke, Gerhard Tulodziecki, Stefan Aufenanger und Heinz Moser bringt verschiedene Bedeutungs-Dimensionen hervor: die Auseinanderset- zung mit Medienlogiken, Medienprodukten und individuellen Mediennutzungen sowie neben der Quellenkritik auch die ethische Praxis von Kritik (Ganguin 2004). Grundlegend für die Entwicklung von Medienkritik, so Ganguin, ist der Erwerb von Wahrnehmungs- und Decodie- rungsfähigkeiten. Gemeinsam ist allen Konzepten die Ansiedelung auf der (selbst-)reflexiven 132 Petra Missomelius Ebene. Diese ermöglicht sowohl Distanzierung und persönliche Positionierung als auch die differenzierte Überprüfung von Positionen und Urteilen Medien gegenüber (ebd., S. 4). Gangu- in weist in ihrem Untersuchungsbericht zudem darauf hin, dass es sich bei der Medienkritik um ein Bildungsziel handelt, welches schwierig operationalisierbar und daher auch kaum empi- risch überprüfbar ist. Ihrer Darstellung nach begründet sich die pädagogische Vermittlungsauf- gabe darin, dass der Erwerb von Medienkritik motivationaler und sozialer Aspekte bedürfe (ebd., S. 3). Abb. 1: Dimensionen der Medienkritik in verschiedenen medienpädagogischen Konzepten (Ganguin 2004, S. 2) Medienkulturell orientierte Pädagogik beschäftigt sich mit den Veränderungsprozessen, die mit Medienwechseln einhergehen. Die medienpädagogische Reflexion provoziert dabei wechsel- seitig zum Nachdenken, Neupositionieren und Ausloten von Chancen und Problemen. Damit ist sie Teil einer Bewußtseinsbildung, die zu Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit auf indi- vidueller und auf gesellschaftlicher Ebene führt. Das beinhaltet auch und gerade in einer von technischer Entwicklungsdynamik geprägten Zeit informierte Technikfolgendiskussion und gesellschaftliche Diskurspartizipation in Entscheidungsprozessen, welche technologische Zu- künfte betreffen. Bedeutungsverschiebungen Kritik Abstraktion bildet die Grundlage der aktuellen Medienkultur, welche aufgrund des digitalen Codes zugleich eine autopoietische darstellt. Sie hat (vordergründig) Machtapparate und Insti- Kritik als Zielvorstellung von (Medien-)Bildung 133 tutionen als Gatekeeper abgelöst: Einzelmedienontologien sind angesichts der universellen digitalen Maschine und deren Simulation diverser Medienfunktionen obsolet geworden, Pro- duktion und Distribution sind Mediennutzenden niederschwellig zugänglich. Damit gehen auch Diskursveränderung einher: Daten erweisen sich als widerständig etwa gegenüber bisherigen medienwissenschaftlichen, ethnologischen, sozialwissenschaftlichen und juristischen Zugrif- fen. Weder ein formalistischer noch ein hermeneutischer Zugang vermag der Komplexität kultureller Implikationen des Digitalen nahe zu kommen. Die aus der Philologie hervorgegangene Arbeit am (Medien-)Text und der damit verbundene Erwerb kritischer Analyse- und Nutzungskompetenz ist nicht mehr alleiniges Vorbild für eine Medienkritik in digitalen Medienkulturen. Betrachtet man etwa das fünfstufige Modell der Kompetenzen, wie es Ganguin der Medienkritik zugrunde legt (Ganguin 2006, S. 73) und welches aus den Stufen Wahrnehmungsfähigkeit, Decodierungsfähigkeit, Analysefähigkeit, Reflexionsfähigkeit und Urteilsfähigkeit besteht, so ist zu fragen, wie weit die Kompetenzen zur Wahrnehmung und zur Decodierung des binären Codes im Bereich der Bildung gediehen ist und wie sie vermittelt werden können. Diese bedarf vielmehr eines Verständnisses von Kritik, welches sich an das von Foucault und auf die Antike zurückgehende Konzept der Selbstsorge anlehnt (Wunden 2006) und ausschlaggebend im Prozess der Selbstwerdung ist. Denn digitale Alltagsmedien sind auch Technologien individueller Beherrschung, in welchen Formen der Selbstthematisierungen entwickelt werden. Fraglos sind mediale Selbstthematisie- rungen, seien es beispielsweise Vlogs oder online-Profile, vielfachen Zwängen und Normie- rungen ausgesetzt. Dabei geht es im Unterschied zur Offerierung von Angeboten durch Leh- rende darum, persönliche Entwicklungen und Kompetenzen eigenverantwortlich zu erwerben. Insofern sind digitale Technologien in vielfacher Hinsicht – nicht ausschließlich, aber – auch Technologien des Selbst. Dies ist per se nicht unbedingt gut oder schlecht, sondern kann als Unterwerfungstechnologie wirksam sein oder aber die Entwicklung von Selbstsorge unterstüt- zen. Selbstverständlich geht dies ebenfalls mit einem veränderten pädagogischen Rollenver- ständnis einher, was an anderer Stelle dargelegt worden ist (Missomelius 2015). Darauf auf- bauend sollen zum Abschluß der Ausführungen zwei Ausformungen vorgestellt werden, wel- che Medienkritik in digitalen Medienkulturen exemplifizieren. Datenkritik Datenkritik ist ein noch in Konturierung begriffener Bereich, von der AG Daten und Netze an der Gesellschaft für Medienwissenschaft keck unter Bezugnahme auf Äußerungen der Agentur Bilwet und Frank Hartmann aus den 1990er Jahren in den Diskurs um digitale Medienkultur eingebracht. In seiner Problematisierung des Begriffs Datenkritik – die er etwa an der zwischen Mensch und Technik distribuierten Handlungsmacht festmacht – formuliert Florian Sprenger die Zielorientierung derselben folgendermaßen: “Sie sei, so hört man zwischen den Zeilen, als medienkulturwissenschaftlich infor- mierte Kritik von medialen Datenpraktiken von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der technologischen Lage der Gegenwart. Sie ist notwendig geworden – sie war immer notwendig –, weil Daten nicht nur zur Ware und Information, nicht nur 134 Petra Missomelius zur Währung aufgestiegen sind, sondern die mediale Konfiguration ein Überdenken tradierter Beschreibungssprachen notwendig macht.” (Sprenger 2014, S. 2) Datenkritik (vgl. Gießmann & Burkhardt 2014) umfasst als interdisziplinäres Feld a) den Begriff ‘Daten’ und seine Verwendung b) der epistemologische Status von Daten, dabei spielen Aspekte von Abstraktion, Klas- sifikation, Visualisierung und Eingebundenheit in diskursive Kontexte eine maßgebli- che Rolle (vgl. Gitelman 2013, S. 6-8) c) medien- und wissenschaftskritische Befragung von datenbasierten Erkenntnisprozes- sen d) rechtspolitische Hintergründe der Datennutzung und -analyse e) die Kontextualisierung von Algorithmen f) datenverarbeitende Akteurskollektive g) Datenproduktion Angesichts von Datenansammlungen einer codebasierten Medienkultur zwischen Überwa- chungsdystopien und vermeintlich neuen Erkenntnissen aus Datenanalysen wird ‘data literacy’ als Grundvoraussetzung formuliert. Diese Kompetenz ist gekennzeichnet von achtsamer Medi- ennutzung, Bewusstsein für Fragen des Datenschutzes, des Urheberrechts und des Schutzes von Persönlichkeitsrechten. Der eher akademisch angelegten Diskussion der medienwissenschaftlichen Konzeption von Datenkritik stellt Valentin Dander exemplarisch ein niederschwelliges medienpädagogisches Konzept anhand der Nutzung von Open Government Data unter Zugrundelegung öffentlich zugänglich gemachter Datensets vor (Dander 2014). Es sollte, so Danders Plädoyer, die ‘Ge- machtheit’ und Verarbeitungsschritte von Daten im Mittelpunkt medienpädagogischer Lern- prozesse stehen und nicht auf die Ausgabeform sowie die Inhalte beschränkt bleiben. Dieser Diskurs lässt sich aktuell in den Verständigungen zwischen Medienpädagogik und Informatik, wie sie etwa in der sogenannten Dagstuhl-Erklärung nachzuvollziehen ist, verfolgen (KBoM 2016). Cultural Hacking Es stellt sich die Frage, ob Kritik generell innerhalb der Medienkultur, von innen heraus und nicht aus der Position der Abstinenz oder Ablehnung möglich ist. Im Verständnis der Selbst- sorge ist Kritik als Tugend mit der Infragestellung von Regeln des Gehorsams verbunden, denen sich das Subjekt zu unterwerfen habe. Das ‘Wahr-Sagen’ der Parrhesia kann seinen Ausdruck in der Narretei oder dem Kabarett finden. Diesen Gedanken kann man in Beziehung zur Medienkritik setzen und durch die Infragestellung medialer Logiken im cultural hacking (Düllo & Liebl 2005) fortführen. Wie Roland Reichenbach für Ironie als Bildungsziel der (po- litischen) Bildung plädiert (Reichenbach 2000), so kann dies die Medienpädagogik in Bezug auf cultural hacking und seine medienkulturelle Kritikfunktion. Als Beispiel digitaler Mündig- keit und souveräner Handlungsfähigkeit, kann die Figur des cultural hacker fungieren. Das Hacking in der Mediengesellschaft richtet sich auf Strukturen, Netze, Protokolle und Praktiken, Kritik als Zielvorstellung von (Medien-)Bildung 135 d.h. an Medien als soziotechnische Infrastrukturen, die in weitere gesellschaftlichen Strukturen eingebettet sind und demnach ebenso an deren Möglichkeiten zur latenten Beeinflussung von Diskursen. Beispiele für diese Art des cultural hacking sind etwa Orson Welles Radiohörspiel einer imaginären Invasion durch Marsianer (1938) oder Jan Böhmermanns Check des Varoufakis Mittelfinger-Videos (2015). Zentral hierfür sind das Verstehen von Funktionslogi- ken, kulturellen Skripte und den Umgang mit medienkulturellen Codes. Damit bewegt sich das Hacken der Codes digitaler Medienkulturen als Bildungsziel Kritik am ‘Quellcode der Bil- dung’ (vgl. Missomelius 2015). Dabei geht es keineswegs um illegale Vorgänge und schädigenden Medieneinsatz, sondern um eine Form des Medienaktivismus als ein Beherrschen medialer Codes und Logiken. In den Mainstream-Medien findet dennoch seit einigen Jahren eine massive Diskreditierung von Ha- cking durch negative Konnotationen mit Cracking (dem Rauben und Zerstören von Daten und digitalen Netzen), Gesetzesbruch und der Fixierung auf den destruktiven Umgang mit Daten statt, welche die Geschichte und Hintergründe der Hacking-Bewegungen außer Acht lassen. Derartige Verunglimpfungen des Hacking als gewaltvoll-zerstörerisch geschehen in der Ver- teidigung traditioneller Normen und Machtverhältnisse, nicht selten um Voraussetzungen für fortschreitende Kontrolle zu schaffen und Sicherheitsmaßnahmen zu rechtfertigen. Gegenstra- tegien zur Überwachung und Kontrolle wie counterveillance oder sousveillance würden in dieser Perspektive Ermächtigungsprozesse im Sinne informationeller Selbstbestimmung bedeu- ten. Insofern ist cultural hacking in der digitalen Medienkultur Ausdruck für mediale Bedingungen und ermöglichte Praktiken. Die Kritikform macht sich die Logik der Netzwerkmedien zu Ei- gen, greift Konventionen kommerzieller Medienkulturen auf und stellt diesen eigene Entwürfe gegenüber. Dies geschieht innerhalb der Mediennutzung, nicht aus einer kulturpessimistischen Abwehrhaltung. Es handelt sich um Interventionen zur Schaffung und Wiederaneignung selbstbestimmter Handlungsaktivitäten in eigenen medialen Architekturen. Immer mehr ge- wöhnliche Leute agieren hackend, ohne dies zu ahnen oder explizit zu planen, da sie nicht wahrnehmen, welche soziale, kulturelle, ökonomische und politische Sprengkraft ihr Umgang mit Netzwerkmedien hat. Es jedoch auch zu konstatieren, dass diese Praktiken nach kurzer Zeit vom Mainstream verein- nahmt und damit in ihrer Hackingfunktion ‘stumpf’ werden. Wird die Irritation selbst wieder ökonomisch, kulturell und kommunikativ normativ übernommen und angeeignet, verliert sie sofort ihre Kraft. Kritik als Dissens (vgl. Butler 2011) drückt sich in widerständigen Praktiken aus. Dieser Dissens wiederum muss durch institutionelle Unterstützung ermöglicht werden. Eine Medienbildung, welche um die Vermittlung medienkulturellen Wissens bemüht ist, fo- kussiert sowohl die Grundlagen der Digitalität, mediale Logiken sowie die Ermöglichung in- formationeller Selbstbestimmung und durch das kulturelle Framing das Selbst- und Weltver- hältnis innerhalb von Medienkulturen. 136 Petra Missomelius Literatur Baacke, Dieter (1980): Kommunikation und Kompetenz: Grundlegung einer Didaktik der Kommunikation und ihrer Medien. 3. Auflage. München: Juventa. Baacke, Dieter (1997): Medienpädagogik. Tübingen: Niemeyer Verlag. Butler, Judith (2011): Kritik, Dissens, Disziplinarität. Zürich: Diaphanes. Dander, Valentin (2014): Von der ‘Macht der Daten’ zur ‘Gemachtheit von Daten’. Praktische Datenkritik als Gegenstand der Medienpädagogik. Online verfügbar unter http://www.medialekontrolle.de/wp-content/uploads/2014/09/Dander-Valentin-2014-03- 01.pdf (Version 3.1) [Stand vom 22-04-2016]. 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Medienbildung hat im Kontext einer mediatisierten Gesellschaft den Zweck, die individuelle wie gesellschaftliche Selbstbestimmung zu sichern. 1. Aufwachsen in einer mediatisierten Gesellschaft Mit dem Begriff der Mediatisierung1 werden quantitativ darstellbare Medien-Entwicklungen (u. a. Zunahme der Medienausstattung und der Mediennutzungszeiten) und eine Reihe qualita- tiver Transformationen auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen beschrieben. Im Rah- men der Theorie der Mediatisierung von Krotz (2007, S. 11) wird die Entstehung eines umfas- senden, persistenten und ubiquitären Kommunikationsraums dargestellt. Mit dem Wandel der gesellschaftlich verfügbaren Medienausstattung werden aber auch Trends wie die Ausdifferen- zierung und Vervielfältigung der Medien, die Unmittelbarkeit und Omnipräsenz von Medien, die Konnektivität und Konvergenz oder die Datafizierung herausgestellt. Als mögliche Folgen werden u. a. Beschleunigung, Kontingenzsteigerung, Raumveränderungen, Rollenverschiebun- gen und Entgrenzung von Wirklichkeitsbereichen diskutiert.                                                                                                                           1 Die Mediatisierungsforschung bietet unterschiedliche Ansätze zur Erfassung der Transformationspro- zesse. In der institutionalistischen Tradition werden Medien als Institutionen der Massenkommunikation verstanden und der Wandel der Medien in den Mittelpunkt gestellt. Mediatisierung wird unter dem Ge- sichtspunkt von Institutionenentwicklungen konzipiert und als (weitgehend lineare) Ausbreitung einer Medienlogik in verschiedene weitere Institutionen von Gesellschaft verstanden. Kritisch hierzu Couldry (2008) und Lundby (2009). In diesem Beitrag wird das sozial-konstruktivistische Verständnis (vgl. Krotz 2007, Hepp 2011) geteilt, nach dem Mediatisierung als Wandel kommunikativen Handelns konzipiert wird. Damit wird der Wandel der kommunikativen Strukturen in den zentralen Sozialisationsinstanzen als Bedingung des Aufwachsens unter sozialisationstheoretischen Gesichtspunkten für erziehungswissen- schaftliche Fragestellungen zugänglich. 140 Rudolf Kammerl 2. Medien in formalen und non-formalen Bildungskontexten Welche Bedeutung Mediatisierungsprozesse für Sozialisation, Erziehung und Bildung haben, wird aktuell kontrovers diskutiert. Dass es auch im Bildungssystem Reaktionen bedarf, scheint (mittlerweile) unstrittig. Sowohl die Diskussion um die Inhalte und Zwecke von Medienbil- dung, aber auch die praktische Ausgestaltung von Bildungsangeboten in formalen und non- formalen Kontexten zeugen von einer Zunahme pädagogischer Bemühungen einerseits und einer Vielfalt der jeweils präferierten Zielsetzungen andererseits. Exemplarisch benannt seien die Aktivitäten zur Verstärkung schulischer Medienbildung. Eini- ge deutsche Bundesländer haben Medienpässe eingeführt – teilweise mit verpflichtendem Cha- rakter2. Weiter lässt sich beobachten, dass im Rahmen unterschiedlicher landesweiter IT- Offensiven die Internetverbindung von Schulen verbessert, Interactive Whiteboards ange- schafft und 1:1 Computing gefördert wurden. Ob diese Entwicklungen als “Erfolg medienpä- dagogischer Bemühungen“ (vgl. Schiefner-Rohs 2014, S. 74) interpretiert werden können, kann kontrovers diskutiert werden. An der Frage der IT-Ausstattung beispielsweise lässt sich zeigen, dass es von “politischer und ökonomischer Seite […] starke Bemühungen [gab; rk], die Anzahl an Computern und den Internetzugang in Schulen zu verbessern” (Meister 2013, S. 48). Während sich die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages “Internet und Digitale Gesellschaft” beispielsweise für die Ausstattung aller Schülerinnen und Schüler mit persönli- chen Endgeräten aussprach3, findet sich diese Forderung in dem “Medienpädagogischen Mani- fest” der Initiative “Keine Bildung ohne Medien!” nicht. Unter Berücksichtigung des oben skizzierten gesellschaftlichen Transformationsprozesses lässt sich die Mediatisierung von Schulen als ein Teil der Mediatisierung begreifen, der im Kontext einer pluralisierten und aus- differenzierten Gesellschaft nicht als geplanter (medienpädagogischer) Handlungsentwurf zu betrachten ist. 3. Medienbildung und Bildungstheorie Mit Menze können die Anfänge einer pädagogischen Bildungstheorie auf die Mitte des 18. Jahrhunderts datiert werden. Damals fand eine Übertragung des Bildungsbegriffs4 in die päda- gogische Fachsprache und damit in die Pädagogik der Aufklärung statt, die Bildung aus theo-                                                                                                                           2 Z. B. gibt es in Hamburg 15 verpflichtende Doppelstunden (http://li.hamburg.de/medienpass- verbindlichkeit/), in Thüringen ist ab Klassenstufe 5 der Kurs Medienkunde im Umfang von mindestens zwei Jahreswochenstunden pro Doppelklassenstufe verbindlich. 3 “Der Lösungsvorschlag der Enquete-Kommission ist ein ganz zentraler Punkt: Es sollen nicht mehr die Schulen, sondern die Schüler ausgestattet werden. Jede Schülerin und jeder Schüler soll einen eigenen Laptop oder einen eigenen Tablet-PC bekommen preisgünstig produziert in großen Losen und unterstützt durch staatliche Mittel.” (Enquete-Kommission “Internet und Digitale Gesellschaft” 21.10.2011, S. 2). 4 Seine Anfänge hatte der Bildungsbegriff in der theologischen Bestimmung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Medien-Bildung wozu? 141 logischen, mystischen und mythischen Zusammenhängen löste (vgl. Menze 1970, S. 136). Den Erfolg der aufklärerischen Bildungstheorie erklärt Menze mit der Herausbildung des Bürger- tums als drittem Stand. Seit der Aufklärung sind sowohl der transitive (jemanden nach einem vorab bestimmten Bilde / Bildungskanon bilden, das sog. „Handwerkermodell“), wie auch der reflexive bzw. klassische Bildungsbegriff (sich selber bilden) bekannt. Während ersterer vor allem auf Bildung in formalen Kontexten mit ihren räumlichen und zeitlichen Abgrenzungen zu ihrer Umwelt fokussiert und eine im engeren Sinne schulpädagogische Auffassung des Bildungsbegriffs wiederspiegelt, ist in der zweiten Tradition, die in der aktuellen Bildungstheo- rie dominiert und der hier gefolgt wird, diese Limitierung im Sinne einer kontextübergreifen- den und lebenslangen Weiterentwicklung des reflexiven Verhältnisses zu sich selbst, zum Anderen und der Welt nicht bekannt. In der Bildungsforschung werden heute die verschiede- nen Kontexte und Formen durch die Unterscheidung zwischen formaler Bildung (Kontext: Bildungsinstitutionen mit anerkannten Abschlüssen), non-formaler Bildung (außerschulische Angebote, zum Beispiel von Vereinen) und informeller Bildung (Kontext Familie oder Peer- groups) markiert (BMBF 2008) und in entsprechenden Forschungsfeldern berücksichtigt. Anthropologisch betrachtet ist das Verhältnis zum sozialen Anderen und der Welt stets schon medial vermittelt (Spanhel 2003). In dem Sinne, in dem Mediatisierung als breit angelegter Transformationsprozess zunehmend alle Lebensbereiche durchdringt, sind technische Medien vermehrt Inhalt und Rahmenbedingung von Bildungsprozessen. Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre wurden sowohl der objektorientierte wie auch der subjektorientierte Bildungsbegriff (nicht nur) in der Erziehungswissenschaft sehr kritisch be- trachtet. Mit der kritischen Theorie wurde die Möglichkeit von Bildung unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen grundsätzlich negiert. Stattdessen sollten die Bedingungen, die Bildung verhindern, kritisch reflektiert werden. Dabei wurde aufgrund der Verstrickung der Individuen in gesellschaftliche Zwänge zum einen grundsätzlich die Möglichkeit von Bildung in Frage gestellt, zum anderen wurde die ungleiche Verteilung von gesellschaftlichen Zwängen problematisiert. Die Rede von Bildung wurde als Legitimationsmuster für Klassenunterschiede und als Distinktionsmittel des Bildungsbürgertums in der Klassengesellschaft betrachtet. Auch in der Bildungspolitik wurde der Bezug zum theoretischen Überbau des Begriffs vermieden. So bestimmte der Deutsche Bildungsrat Bildung als wissenschaftsbestimmtes Lernen (Deutscher Bildungsrat 1970). Kritsch-konstruktive Beiträge zur Allgemeinbildung in den 1980ern z. B. von Klafki (1986) trafen bald auf die Einwände der Beiträge zur Postmoderne. In der Gegen- überstellung zur Moderne, die von einem einheitlichen Bildungsverständnis ausging (statt von Bindestrich-Bildungen) und mit Erziehung und organisierten Bildungsangeboten die Entwick- lung des “Subjekts” erreichen wollte, wird in der Postmoderne die Möglichkeit von Ganzheit und Einheit in einer ausdifferenzierten und pluralisierten Gesellschaft in Frage gestellt. Begünstigend für die Verbreitung des Begriffs “Medienbildung” waren unterschiedliche Fakto- ren: Zum einen können gegenwärtig im erziehungswissenschaftlichen Diskurs Bemühungen um Rekonstruktion und Revision des Bildungsbegriffs festgestellt werden. Es werden An- schlüsse an die in der Tradition der Bildungstheorie benannten Fragestellungen gesucht und in der Auseinandersetzung mit neueren Diskussionen (z. B. der Postmoderne) fortgeführt (vgl. Hansmann & Marotzki 1988). Dabei lässt sich für den medienpädagogischen Fachdiskurs 142 Rudolf Kammerl zeigen, dass diese Bemühungen direkt in die Entwicklung einer Theorie der Medienbildung eingegangen sind. Marotzki entwickelte erst seinen Entwurf einer allgemeinen strukturalen Bildungstheorie; darauf aufbauend wurde diese Theorie auf den Bereich der Medienbildung angewandt (vgl. Marotzki 2004, Marotzki & Jörissen 2008). Ähnlich schließt bei Pietraß (2005) Medienbildung an die bildungstheoretisch bestimmte reflexive Mensch-Welt-Relation an. Eine ganz andere “Traditionslinie” weist der Begriff der schulischen Medienbildung auf. Ist von Medienbildung im formalen Bildungskontext die Rede, wird meist dem schulpädagogi- schen Verständnis gefolgt. Bis Ende des letzten Jahrhunderts galten Medien als Bestandteil schulischer Bildung bestenfalls als eine “wichtige Nebensache” (Eschenauer 1989). Wenn überhaupt Medien als Gegenstand des Unterrichts aufgegriffen wurden, dann im Sinne einer “Film- oder Fernseherziehung” oder einer “Pädagogik der Massenmedien” (Hettinger 1999). Computer und Internet wurden lange unabhängig davon als “informationstechnische Grundbil- dung”, später als “informatische Bildung” aufgegriffen. Um diese beiden Handlungsfelder und die Lehrerbildung in diesem Kontext zusammenzuführen, wurde laut Tulodziecki der Begriff der Medienbildung“ eher aus pragmatischen, denn aus bildungstheoretischen Gründen einge- führt” (Tulodziecki 2011, S. 27). Die Diskussion um dessen theoretische Präzisierung hat sich erst in den folgenden Jahren entwickelt, z. B. durch die Arbeiten von Aufenanger (2000), Ma- rotzki (2004) Schorb (2009), Spanhel (2010) und Jörissen (2014). Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sich jenseits der Theoriedebatte in Beiträgen aus Praxis und Bildungspolitik eine Vielfalt alternativer Begriffs- und Zweckbe- stimmungen findet: Medienbildung wird mit Medienkompetenzförderung und Medienerzie- hung gleichgesetzt (medienpädagogische Bemühungen im engeren Sinne). Es finden sich aber unter dem Label “Medienbildung” auch technologie-inspirierte Ansätze zur Nutzung digitaler Medien im Unterricht und präventiv orientierte Angebote (z. B. Prävention von “Internetsucht” oder Cybermobbing, aber auch Aktionswochen zum “Digitalen Fasten”). Im schulpädagogi- schen Diskurs werden Angebote zur schulischen Medienbildung konzipiert als Beitrag zur beruflichen Qualifizierung, zur Studierfähigkeit, zum Verbraucherschutz, zur informatischen Bildung, zur Datenschutzkompetenz, zum Jugendmedienschutz, zur religiösen und ethischen Bildung, zur Civic Education, zur Persönlichkeitsbildung, zur digitalen Souveränität u. a. Da- bei wird aktuell darum gerungen, welche Bildungsinhalte und -gehalte unter dem Label “Medi- enbildung” in das Bildungssystem integriert werden und in welchem Maße. Angesichts der inhaltlichen Breite der Zweckbestimmungen von Bildung scheint es, dass Medienbildung min- destens an die Zweckmäßigkeit eines Schweizer Taschenmessers heranreichen muss. Das Ge- genteil ist der Fall. Wie im Folgenden dargestellt wird, gibt es gute Gründe für die Auffassung, dass es denjenigen, welche die Zweckmäßkeit von Bildung – für Beruf, Jugendmedienschutz usw. – betonen, eher weniger um die Bildung des Menschen geht und zwar umso weniger, je stärker die Zweckmäßigkeit der Medienbildung betont wird. Medien-Bildung wozu? 143 4. Wozu Medienbildung? Bildungstheoretische Bestimmungen Welche Zwecke verfolgt das menschliche Dasein? Anknüpfend an pädagogische Anthropolo- gie ist der Mensch als ein unbestimmtes Wesen zu fassen. Er hat keine Bestimmung. In Anleh- nung an Rousseau und Fichte fasst Benner (2001) in seiner Allgemeinen Pädagogik die Bild- samkeit als anthropologisches Merkmal und als konstitutives Prinzip pädagogischen Denkens und Handelns. Da der Mensch unbestimmt ist, ist er zur Selbstbestimmung – bzw. zur Mitwir- kung an der menschlichen Praxis und an seinem eigenen Bildungsprozess – bestimmt. In die- sem Sinne hat Bildung sich selbst zum Zweck. Aus der Bildsamkeit resultiert die Notwendig- keit einer Entwicklung zur individuellen wie gesellschaftlichen Selbstbestimmung. Nach Ben- ner ist diese Zweckbestimmtheit anthropologisch gegeben (vgl. Abb. 1). Die Prinzipien pädagogischen Denkens und Handelns Konstitutive Prinzipien der Regulative Prinzipien der individuellen Seite gesellschaftlichen Seite A Theorie der Erziehung (2): (3) (2) Aufforderung zur Selb- (3) Überführung gesellschaft- ständigkeit licher Determination in pädagogische Determina- tion B Theorie der Bildung (1): (4) (1) Bildsamkeit als Be- (4) Nichthierarchischer Ord- stimmtsein des Men- nungszusammenhang der schen zur Selbstbestim- menschlichen Gesamtpra- mung xis C Theorie pädagogischer Institutionen und ihre Reform (1)/(2) : (3)/(4) Abb. 1: Prinzipien und handlungstheoretische Fragestellungen der Pädagogik (Benner 2001, S. 128) Auf der gesellschaftlichen Seite ist in der Systematik Benners für die Bestimmung von Bildung ein weiteres Faktum bedeutsam. Er unterteilt die Gesamtheit der für menschliches Handeln grundlegenden Praxisformen in ökonomische, ethische, pädagogische, politische, ästhetische und religiöse Praxis und betrachtet sie als Grundphänomene menschlicher Koexistenz. Als regulative Prinzipien des Zusammenlebens kann keiner dieser Bereiche über den anderen einen Herrschaftsanspruch legitimieren. Es ist von einem nicht-hierarchischen Verhältnis auszuge- hen. Nur wenn die Bereiche gleichermaßen in der Gesellschaft entfaltet sind, ist eine humanitä- re gesellschaftliche Praxis möglich. Deshalb ist es notwendig, die individuelle Selbstbestim- mung auf eine gesellschaftliche zu erweitern. Der Mensch bildet sich – das reflexive Verhältnis zu sich selbst, zum Anderen und der Welt – lebenslang und in formalen, non-formalen und informellen Kontexten. Wenn aus Bildsamkeit die Selbstbestimmung folgt, dann hat Medienbildung allein den Zweck, im Kontext einer me- diatisierten Gesellschaft die individuelle wie gesellschaftliche Selbstbestimmung zu sichern. 144 Rudolf Kammerl Medienbildung drückt sich performativ aus als Mitwirkung an (individueller, gemeinschaftli- cher und gesellschaftlicher) Selbstbestimmung in ihren moralischen, kognitiven, ästhetischen und praktischen Dimensionen unter den Bedingungen einer mediatisierten Gesellschaft, die auf einem reflexiven, zunehmend medial vermittelten Verhältnis zum sozialen Anderen, zur Natur, zu sich selbst beruht. Wird Bildung als von Gesellschaft bestimmt oder als von gesellschaftli- chen Bedingungen losgelöst konzipiert, bleibt sie affirmativ. Nicht-affirmative Bildung passt Heranwachsende weder an die sogenannten Sachgesetzlichkeiten eines Lebens im Zeitalter wissenschaftlich-technischer Zivilisation funktional an, noch verführt sie Heranwachsende zu der irrigen Überzeugung, sie könnten sich von diesen emanzipieren, indem sie diese durch individuelle Lernprozessen durchschauen lernen (vgl. Benner 2001, S. 178f). Medienbildung ist deshalb nicht nur keine Anwenderschulung, sie kann auch nicht zum individuellen Selbst- schutz hinreichend befähigen oder gesellschaftlich begründete Problemlagen durch individuel- le Bildungsprozesse lösen. Nicht-affirmative Bildung hält an der Ausdifferenzierung der Teilbereiche menschlicher Praxis fest, sie distanziert sich aber von der Regionalisierung der Probleme menschlichen Handelns in einzelne Praxisbereiche sowie von der Universalisierung einzelner Praxisbereiche zur obersten Sinnstiftungsinstanz (ibid.). In diesem Sinne ist Medienbildung nicht isoliert zu betrachten. Medien-Bildung ist mit Blick auf die Mediatisierung der verschiedenen Praxisbereiche als querliegende Bildungsaufgabe zu verstehen, ohne die Differenzen der verschiedenen Praxen aus dem Blick zu verlieren. Wird der Zweck von Bildung vom Subjekt aus konzipiert5, legt dies den Schluss nahe, dass eine Kanonisierung von Bildungsgütern, die Entscheidung für ein bestimmtes Menschenbild, die Analyse der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse (zur Ermittlung der gefor- derten Qualifikationen) gleichermaßen untauglich sind, um Bildung zu bestimmen. Deshalb komme ich zur (zugespitzten) These, dass es denjenigen, welche die Zweckmäßig von Bildung – für Beruf, Jugendmedienschutz usw. – postulieren, umso weniger um die Bildung des Men- schen geht, je stärker sie die Zweckmäßigkeit der Medienbildung betonen. In dem Maße, in dem die Zwecke von Medienbildung fremdbestimmt werden oder eine Fremdbestimmung versucht wird, wird die Bildung des Menschen gefährdet.                                                                                                                           5 Selbst wenn man der Position folgt, dass das normativ aufgeladene “Subjekt” in Zeiten von Pluralismus und Postmoderne nicht mehr als Kategorie zur Beschreibung von Bildungsprozessen tauge, wird es schwierig, hieraus weiterführende Schlüsse zur Bestimmung der Zwecke von Medienbildung zu ziehen. Weder scheint geklärt werden zu können, wer das Subjekt der Schlussfolgerung ist und wie die Kriterien ihrer Anerkennung oder Ablehnung bestimmt werden können. Noch scheint die Annahme, dass der Glau- be an die Richtigkeit einer (De-)Konstruktion eine Brücke zwischen Sachaussagen und Soll-Sätzen bilden könne, plausibel. Selbst die meta-normativen “Brückenprinzipien” (Albert 1968) fallen letztlich dem Relativismus und “heillosen Subjektivismus” (Habermas 1985, S. 324) zum Opfer. So bleibt es letztlich nicht überraschend, dass aus der Dekonstruktion der Voraussetzungen pädagogischer Handlungstheorie keineswegs das Ende gesellschaftlichen Engagements folgt. Selbst Foucault engagierte sich politisch für mehr Selbstbestimmung! Medien-Bildung wozu? 145 Mit dieser Anwendung des Begründungsmusters Benners auf die Frage nach den Zwecken von Medienbildung und Medienerziehung soll in diesem Beitrag keineswegs behauptet werden, dass unter den Rahmenbedingungen von Ausdifferenzierung und Pluralisierung der von post- modernen Theoretikern vertretenen These zu widersprechen sei, dass Bildung nicht mehr ein- heitlich zu denken sei. Aber auch die Frage nach der Bestätigung dieser Annahme soll offen- bleiben. Hier geht es lediglich um die Frage, ob die Argumentation Benners in der medienpä- dagogischen Diskussion um die Theoriebildung zur Medienbildung einen Orientierungspunkt liefern könnte, mit dem medienpädagogische Zielbestimmungen von “Fehlformen” abzugren- zen wären. Ob Benners Modell in anderen pädagogischen Handlungsfeldern unter den Bedin- gungen einer pluralisierten Gesellschaft noch anwendbar sein könnte, steht an dieser Stelle nicht zur Diskussion. Weiter soll hier nicht die Behauptung aufgestellt werden, unter den Bedingungen einer plura- listischen Gesellschaft positivistisch konkretisieren zu können, was genau für die einzelnen Individuen in ihren unterschiedlichen Lebenslagen Medienbildung beinhaltet. Der Nutzen des Fokus liegt in der Abgrenzung unangemessener Zweckbestimmungen per Negation. Benner weist darauf hin, dass eine Theorie der Bildung die Aufgaben und Zwecke pädagogischen Handelns nicht hervorbringt, sondern individuell und gesellschaftlich vorgegebene Zweckbe- stimmungen analysiert, ob sie das konstitutive Prinzip der individuellen Bildsamkeit und das regulative Prinzip eines nicht-hierarchischen Verhältnisses der Einzelpraxen ausdifferenzierter Humanität berücksichtigen oder nicht. Entsprechend gilt es, die Gefährdungen der individuel- len und kollektiven Selbstbestimmung zu reflektieren. Analytisch können so (unterschiedlich stark ausgeprägte) Fehlformen pädagogischer Handlungstheorien ausgewiesen werden. Blo- ckaden von Bildungsprozessen sind auch Bestandteil eines Programms der empirischen Bil- dungsforschung (Koller 2012, S. 21). Will man nicht angesichts der zunehmenden Verstri- ckung von Individuen innerhalb der Zwänge einer mediatisierten Gesellschaft resignieren, müssen im Rahmen medienpädagogischen Handelns in Praxis und Forschung die Gefährdun- gen für die Selbstbestimmung und die Möglichkeiten von Subversion, Reaktanz und Medien- verzicht ausgelotet werden. 5. Gefährdungen von Medienbildung und Fehlformen pädagogischer Theoriebildung Anschließend an diese Bestimmungen lassen sich Gefährdungen der Medienbildung auswei- sen. Diese sind zum einen in der Gefährdung der individuellen und gesellschaftlichen Souverä- nität im Mediatisierungsprozess zu sehen, zum anderen aber in der Gefährdung durch Fehlfor- men pädagogischer Handlungstheorien. Gefährdungen der gesellschaftlichen Souveränität werden in den letzten Monaten immer deut- licher durch Berichte über die Abhörprogramme Prism und Tempera, mit denen US- amerikanische bzw. britische Geheimdienste systematisch den digitalen Datenverkehr abschöp- fen. Die Internet- und Kommunikations-Konzerne scheinen dabei nicht nur eine erstaunliche 146 Rudolf Kammerl Kooperationsbereitschaft zu zeigen, sondern sind selbst wesentliche Treiber einer enormen Ansammlung privater Daten und deren Auswertung für ökonomische Zwecke. Auch auf indi- vidueller Ebene werden Gefährdungen der Selbstbestimmung sichtbar, etwa durch die Erwar- tung einer permanenten Erreichbarkeit oder durch den scheinbaren Verlust der Selbstkontrolle bei exzessiver Mediennutzung. Als weitere Gefährdung sind die benannten Versuche zu sehen, unter dem Label “Medienbil- dung” eine Instrumentalisierung von Bildungsangeboten vorzunehmen. Zum einen sind diese aus den hier skizzierten bildungstheoretischen Gesichtspunkten zurückzuweisen. Zum anderen herrscht in der Praxis der “Medienbildung” bezüglich der pädagogischen Reaktionen auf das “Neuland”6 Internet – zumindest in Teilen – “Wild West” (im positiven und negativen Sinne). Die Entwicklung der medienpädagogischen Praxis ist stärker von der Dynamik des digitalen Wandels geprägt als durch eine Entwicklung der theoretischen Disziplin. So ist es zu verste- hen, dass “Medienbildung”, “Medienerziehung”, aber auch “Medienkompetenzförderung” heute nicht mehr trennscharf verwendet werden. Eine Verwässerung der unterschiedlichen Sachverhalte ist aber nicht nur für die Fortschreibung medienpädagogischer Theorie, sondern auch mittelfristig für ihre Praxis problematisch. Aus theoretischer Perspektive wären die in der Praxis formaler und non-formaler Bildung behandelten inhaltlichen Fragestellungen in der Regel an die Erziehungstheorie weiter zu verweisen. Häufig steht “Medienbildung” drauf, wo bestenfalls “Medienerziehung” drin ist! 6. Nicht-affirmative Erziehung als Programm formaler und non-formaler “Medienbildung”? In Abgrenzung zur Bildungstheorie beschreibt Benner die Prinzipien “Aufforderung zur Selbsttätigkeit” und “Überführung gesellschaftlicher Determination in pädagogische Determi- nation” als konstitutiv für die Erziehungstheorie. Sofern die Aufarbeitung von vermeintlichen und tatsächlichen Medieneinflüssen und das Entgegenwirken hierzu in der medienpädagogi- schen Praxis intendiert sind, scheint es, dass die gesellschaftliche Determination in eine päda- gogische überführt werden soll. Eine relative Abkopplung von sozialisatorischen Einflussfak- toren soll erreicht werden. In Rahmen einer nicht-affirmativen Erziehungstheorie (Abgrenzung zur funktionalen Erziehung) ist aber auch ein rein intentionales Erziehungsverständnis abzu- lehnen und als Problemverkürzung bzw. Fehlform pädagogischer Handlungstheorien zurück- zuweisen (Benner 2001, S. 132). Das Generationenverhältnis in der Erziehung darf nicht in einer hierarchischen Asymmetrie (Erziehender auf der einen und zu Erziehende auf der anderen Seite) wurzeln, in der die ältere Generation die künftige Bestimmung der nachwachsenden Generation festlegt. Die Intentiona-                                                                                                                           6 Ein inzwischen geflügeltes Wort, das auf die Aussage von Angela Merkel am 19.06.2013 zurückgeht: “Das Internet ist für uns alle Neuland.” Es wurde und wird als Beleg für die Rückständigkeit der Politik gegenüber der dynamischen Medienentwicklung verwendet. Medien-Bildung wozu? 147 lität pädagogischen Handelns muss in eine intergenerationale Fragedimension überführt wer- den, mit der die heranwachsende Generation aufgefordert wird, selbst zur Bearbeitung der Probleme ihrer Zeit tätig zu werden. Nur so kann die Legitimität pädagogischer Interaktion und pädagogischen Wirkens begründet werden (ebd., S. 147). Die Aufforderung zur Selbsttätigkeit muss gesellschaftlich klar formuliert werden. Hier klaffen aber die Durchdringung aller Lebensbereiche mit digitalen Medien auf der einen Seite und die gesellschaftlich organisierten Angebote zur kreativen und kritischen Bearbeitung der damit einhergehenden Fragen auf der anderen noch weit auseinander. Die durch den Kulturrat erfolg- te Anerkennung von digitalen Spielen als Kulturgut beispielsweise muss von der Aufforderung begleitet werden, sich an der Kultivierung der Computerspielekultur zu beteiligen und hierfür Möglichkeiten zu schaffen. Obwohl aber E-Games heute ohne Zweifel zum festen Bestandteil der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen zählen, ist dies gegenwärtig kaum der Fall. Es gibt keine mit dem Film vergleichbaren Traditionen von Festspielen, Besprechungen und Clubs. Während der Film in Deutschland jährlich mit über 200 Millionen Euro gefördert wird (vgl. Seufert & Gundlach 2012), findet eine nennenswerte Förderung von Computerspielen weder statt, noch wird sie offenbar ernsthaft in Erwägung gezogen (vgl. Kammerl 2014). Die Aktivierung der ästhetisch-kreativen und moralisch-kritischen Fähigkeiten im Rahmen einer nicht-affirmativen medienerzieherischen Praxis kann aber als Voraussetzung für die Möglich- keit von Medienbildung – nicht nur des Einzelnen, sondern der Gesellschaft – angesehen wer- den. Literatur Albert, Hans (1968): Traktat über kritische Vernunft. Tübingen: Mohr Siebeck Aufenanger, Stefan (2000): Medien-Visionen und die Zukunft der Medienpädagogik. medien praktisch, 24 (93), S. 4-8. Benner, Dietrich (2001): Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. 4. Aufl. Wein- heim/München: Juventa. 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Konzeptuelle Überlegungen Theo Hug Zusammenfassung Medialisierte Lebenswelten und physische, geographische, technologische, kulturelle, soziale und kognitive Formen der Mobilität bringen neue Herausforderungen für die Bildung mit sich. Das Spektrum entsprechender Konzeptualisierungen in der Bildungsforschung und -praxis reicht von innovativen Konzepten der Medienbildung und des mobilen Lernens, inklusionspädagogischen und ökonomie- oder technologiegetriebenen Ansätzen über Auffassungen von Bildung als Ha- cking oder Medienaktivismus bis hin zu Bildungskonzepten, die die Tragweite von Prozessen der Digitalisierung und Medialisierung verkennen oder ignorieren. Der Beitrag beginnt mit (1) Über- legungen zu einigen paradoxen Aspekten im Zusammenhang aktueller Bildungsthemen, gefolgt von (2) einer Auseinandersetzung mit ausgewählten Dimensionen von Mobilität und der Frage nach pädagogischen Relevanzformeln. Auf diesem Hintergrund werden aktuelle Trends der Lite- ralisierung problematisiert. Schließlich zielt der Beitrag (3) auf eine kritische Reflexion von Kon- zepten und Praktiken des Medienaktivismus und (handlungsorientierter) Medienpädagogik als un- terschiedlichen Interventionsformen. Im Fazit wird für eine konsequente Berücksichtigung von transversalen und transmedialen Dimensionen, vielfältigen Aspekten der Mobilität in einer nach- gesellschaftlichen Ära sowie für die Kontextgebundenheit aller Wissensformen plädiert.1 1. Einführung Dass mediale Dynamiken im Zusammenhang alltagsweltlicher Lebensvollzüge, kultureller Praktiken, institutioneller Entwicklungen und Prozessen der Arbeit, Kommunikation, Wirt- schaft und Politik zunehmend Bedeutung erlangt haben, wird inzwischen weithin anerkannt. Analoges gilt für die mannigfaltigen Prozesse der Sozialisation, Erziehung und Bildung. Ent- sprechend wurden auch in der Bildungsforschung und -praxis in den letzten Jahren neue The- menfelder erschlossen und Aspekte der Mobilität sowie Dynamiken der Digitalisierung, Medi- alisierung, Mediatisierung und Globalisierung mitberücksichtigt. Einerseits ist dabei ein breites Spektrum von Thematisierungen auszumachen, das von Strategien des E-Learning und der E- Inklusion über Diskurse zu Medienkompetenz, Medienbildung, mobilem Lernen und neuen Lernkulturen bis hin zu korrespondierenden Handlungsorientierungen und unterschiedlichen 1 Eine englischsprachige Fassung des Beitrags ist 2015 unter dem Titel “Mobility and Media Education in a Digital Age: Conceptual Considerations and Perspectives between Media Activism and Adjustment by means of Learning Technologies” erschienen in: Bachmair, Ben & Scott, Howard (Eds.): Digital Mobility – Media education quo vadis? Special Issue of the Journal - Media Education: Studi, Ricerche, Buone Pratiche. Vol. 6, n. 2, pp. 224-247. Übersetzung: Mag. Susanne Toelken-Mettauer. 152 Theo Hug Medienpraktiken reicht. Andererseits besteht, abgesehen von weit verbreiteten Relevanzbe- kundungen in Bezug auf “Medien” in verschiedensten Diskurszusammenhängen, keine Einig- keit über die Bedeutung, Reichweite und Brauchbarkeit zentraler Begrifflichkeiten.2 So wird allgemein eingeräumt, dass Medien für Prozesse des Heranwachsens und die Entwick- lung von Identitäten, Werten und Alltagsästhetiken sowie von Selbst- und Weltbezügen rele- vant sind. Ebenso steht die Bedeutung von Medien im Zusammenhang kultureller Mobilität (vgl. Caron & Caronia 2007), der Schaffung von Wirklichkeiten und der Gestaltung von Kom- munikationsprozessen außer Frage. Bemerkenswert ist dabei, dass den Medien besonders dann konstruktive Eigenschaften zugestanden werden, wenn ihre faktischen oder vermuteten Ein- flüsse und Auswirkungen als destruktiv gelten. Insgesamt bestehen sehr divergente Auffassun- gen im Hinblick darauf, wie die Bedeutsamkeiten konzeptualisiert und bewertet werden sollen, wie spezifische Gesichtspunkte definiert und entsprechende Dynamiken beschrieben werden können, welche Begriffe von Medium und Medien überhaupt relevant sind, welche situations- bezogenen und gesellschaftlichen Beschreibungen angemessen sind und welche Ziele und Zwecke von Bildung (wenn überhaupt) bevorzugt werden sollten und warum und in welchen Hinsichten. Die Auffassungen unterscheiden sich erheblich, insbesondere hinsichtlich ihrer expliziten oder impliziten Vorstellungen von Bildsamkeit, Konstruktivität, Kontextualität, Mobilität und Medialität. In dieser Situation von teils kompatiblen oder komplementären und teils inkommensurablen Auffassungen von Medienpädagogik und (Medien-)Bildung sowie von ihren zentralen Frage- stellungen entstehen neue Herausforderungen und auch widersprüchliche Tendenzen. Kultür- lich spielen Ambivalenzen und Paradoxien in der Geschichte der Bildung seit den Anfängen ihrer Theoretisierung eine wichtige Rolle (vgl. Vogel 1925; Winkel 1986; Hug 2011). Polaritä- ten und Widersprüchlichkeiten zwischen Freiheit bzw. Entwicklungsspielräumen auf der einen und Einschränkungen und Zwängen auf der anderen Seite wurden mit Blick auf pädagogische Handlungsformen in vielfältiger Art und Weise diskutiert – man denke nur an Platons Erzie- hungsstaat, an Kants These von der Erziehungsbedürftigkeit des Menschen und entsprechenden Erfordernissen der Disziplin, Unterweisung und moralischen Schulung, oder an neuere Ausei- nandersetzungen mit dem Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdbestimmung anhand von Bildungs- und Kompetenzbegriffen (vgl. Lederer 2014). Zu den aktuellen widersprüchlichen oder paradoxen Aspekten zählen unter anderem: • EntscheidungsträgerInnen in der Bildungspolitik und in Bildungseinrichtungen beteuern zwar die Relevanz von Medienkompetenz und Medienbildung, Ressourcen werden aber hauptsächlich für technologische Entwicklungen oder für Öffentlichkeitsarbeit und 2 Darüber hinaus fällt auf, dass Medien selbst in jüngster Zeit auch in differenzierten Untersuchungen zum Schlüsselbegriff ‘Bildung’ nicht einmal erwähnt werden (vgl. Stojanov 2014) oder allenfalls im Zu- sammenhang von Didaktiken der Erleichterung (vgl. Lederer 2014, S. 705) und der “Bewusstseinsbewirt- schaftung” durch Massenmedien sowie in Erinnerung der Kritik der “Kulturindustrie” vorkommen (ebd., S. 713). Mobilität und Medienbildung im digitalen Zeitalter 153 Imagepflege bereit gestellt und nur marginal zur Förderung der theoretischen und anwendungsorientierten medienpädagogischen Forschung. • Verschiedenste Medien-Hypes und Technologieversprechungen werden verbreitet, wäh- rend im Kontrast dazu differenzierte wissenschaftliche Analysen, umsichtige Betrach- tungen und wohlüberlegte pädagogische Anwendungen eher spärlich kommuniziert wer- den. • In akademischen Handlungsfeldern werden gerne Wahrheitsansprüche erhoben und hehre wissenschaftliche Motive in den Vordergrund gestellt, während zugleich marketingstra- tegische und darstellungspolitische Überlegungen sowie Bereitschaften zur Unterwerfung unter Medienlogiken der Unterhaltungsindustrie faktisch handlungsrelevant sind. • Informationskompetenz wird mitunter beworben, ohne dabei über Fragen der Personali- sierung und Tendenzen zur gesteigerten Selbstähnlichkeit von Suchergebnissen nachzu- denken, wenn die Suchmaschine einer der weltgrößten Technologiefirmen verwendet wird oder Bibliotheksdienste auf Technologien basieren, die ursprünglich zur Förderung von Konsumkulturen und Wirtschaftswachstum hergestellt wurden. • EU-weite Initiativen wie der Bologna-Prozess, die unter anderem auf die Förderung der Mobilität von Studierenden abzielen, stehen im Kontrast zu Tendenzen der curricularen Verschulung und der gesteigerten Verwaltungsbürokratie. • Allgemeine Behauptungen oder Forderungen in medienpädagogischen sowie lern- und bildungstechnologischen Diskurszusammenhängen gründen bei näherer Betrachtung oft auf pars pro toto-Argumenten, wobei Limitationen und alternative Positionen ignoriert werden und auf eine Klärung der Relation eigener Sichtweisen zu denen anderer Denkkollektive, Mediengemeinschaften und Wissenschaftskulturen verzichtet wird. • Kontinuierlich steigende Zahlen von InternetnutzerInnen in den meisten Teilen der Welt,3 neue Formen der Mobilität, Medienkonvergenz und transversalen Mediendynamik kon- trastieren mit einer Bildungspolitik, die weiterhin auf herkömmliche Unterrichtsfächer und Wissensarchitekturen aus einer typographischen Zeit ausgerichtet ist und die Trag- weite laufender Veränderungsprozesse in medialisierten Lebenswelten, neuer Lebensstile in digitalen Kontexten und Formen von offline-online-Beziehungen sowie von Verflech- tungen globaler Öffentlichkeitssphären in ihrer Relevanz für Lern- und Bildungsprozesse völlig verkennt. • Internettrends weisen mobile Applikationen als dominante Form des digitalen Medien- konsums aus (vgl. u.a. comScore 2014) und neue Formen mobiler Kommunikation ent- stehen, während im Mainstream des Bildungswesens digitale Mobilität weiterhin als “Ausnahme” behandelt und die Nutzung mobiler Internetgeräte in Bildungseinrichtungen vielerorts verboten wird. Die Liste könnte leicht fortgesetzt werden. Solche und ähnliche widersprüchliche oder parado- xe Aspekte befördern die Suche nach pädagogischen Antworten und viablen Didaktiken und 3 Vgl. Internet Live Stats, abrufbar unter: http://www.internetlivestats.com/internet-users/ [Stand vom 30- 04-2016]. 154 Theo Hug Bildungskonzepten in den Medienkulturen. So wurden im Zusammenhang der jüngsten Ent- wicklungen digitaler Mobilität zahlreiche Zugänge und Lösungsansätze entworfen und erprobt. Das Spektrum umfasst Konzepte des mobilen Lernens, Mikrolernens und des Augmented Learning (vgl. Karacapilidis 2009), der Medienkompetenz, der “digitalen Literalität” (Digital Literacy) und vieler anderer Arten der “Literalität” sowie eine Vielzahl von Ansätzen von MOOCs, BYOD und Learning Analytics etc. Allerdings scheinen angesichts bildungstheoreti- scher Fragen nach Selbstbestimmung und Persönlichkeitsentwicklungen jenseits von Kompe- tenzentwicklung, Qualifikation oder Wissensreproduktion etliche dieser Ansätze und Zugänge eher Teil des Problems denn Teil der Lösung zu sein. Auf diesem Hintergrund zielt der vorliegende Beitrag auf ein Angebot begrifflich-konzep- tueller Klärungen zwischen der Skylla medienphobischer Traditionen und der Charybdis me- dieneuphorischer Bestrebungen der technologischen Lösung pädagogischer, sozialer, kommu- nikativer, kultureller oder wirtschaftlicher Probleme. 2. Digitale Mobilität und die Frage nach pädagogischen Relevanzformeln Aspekte der Mobilität sind in der Geschichte der Pädagogik weitgehend vernachlässigt geblie- ben.4 Erst im Laufe der letzten zehn bis fünfzehn Jahre spielten mit der Ausbreitung und Ubiquität von mobilen digitalen Technologien auch Schlüsselbegriffe wie mobile Kommunika- tion, mobiles Lernen (m-Learning) und Mikrolernen in pädagogisch-praktischen und erzie- hungswissenschaftlichen Diskursen eine Rolle. Vor allem Konzepte und Anwendungen des mobilen Lernens waren häufig auf technologische Aspekte fokussiert. Von Mobilität zu spre- chen bedeutete und bedeutet oft immer noch die Ausrichtung auf miniaturisierte, stromnetzun- abhängige Multimediageräte, zumeist Tablets oder Smartphones, neuerdings auch Datenbrillen und Smartwatches. Dabei wird mobiles Lernen gerne als Teilbereich von e-Learning aufgefasst und als Lernen unter Verwendung oder mit Unterstützung von mobilen Computergeräten defi- niert (vgl. Pinkwart et al. 2003). Dagegen betonen Pachler et al. (2010), dass es beim mobilen Lernen nicht primär um Technologie oder die Übermittlung von Inhalten über mobile Geräte geht, “but, instead, about the processes of coming to know and being able to operate successfully in, and across, new and ever changing contexts and learning spaces. 4 Die historische Bedeutung geographischer und kultureller Mobilität für die Entstehung moderner Bil- dungsverständnisse wurde sowohl in der bildungstheoretischen Diskussion als auch in den Diskursen über mobiles Lernen vernachlässigt. Das betrifft insbesondere auch die Verwendung von Berufsbeamten im Zusammenhang der Gestaltung internationaler Beziehungen und die Entstehung von Diplomatenakade- mien im 18. Jahrhundert. Bislang wurden lediglich einige Aspekte dieser Desiderate aufgegriffen (vgl. Azurmendi 2003; Mattig 2012). Mobilität und Medienbildung im digitalen Zeitalter 155 And, it is about understanding and knowing how to utilise our everyday life- worlds as learning spaces.” (Pachler et al. 2010, S. 6) Während marktnahe Stimmen (vgl. Bitkom-Arbeitskreis 2014) oft in technologieorientierten Zugängen verfangen bleiben,5 wird in wissenschaftlichen Diskursen versucht, solche blinden Flecken zu überwinden. Das trifft auch auf historische Aspekte zu. Obwohl Crompton (2013) sich nur mit der neueren Geschichte nach der Jahrtausendwende beschäftigt, räumt sie ein, dass die historischen und kulturellen Wurzeln von mobilem Lernen zurückverfolgt werden könnten “through history far beyond the invention of Gutenberg’s printing press and the influence of the Industrial Revolution” (Crompton 2013, S. 3). Ihre Definition von m-Learning als “learning across multiple contexts, through social and content interactions, using personal electronic devices” (ebd., S. 4) bietet vielfältige Möglichkeiten für die Analyse und Gestaltung von mobi- lem Lernen. Nichtsdestotrotz möchte ich diese Definition leicht modifizieren: Mobiles Lernen ist Lernen in mannigfaltigen, miteinander verschränkten Kontexten durch soziale und inhalts- bezogene Interaktionen unter Verwendung von mobilen Geräten und Behelfen. Diese Definition kann zumindest als eine vorläufige Definition auch für Langzeitanalysen quer durch verschiedene Kulturen dienen und ein breites Spektrum von Phänomenen abdecken, von prähistorischen und antiken Traditionen hin zu neueren Entwicklungen und der Zukunft von m-Learning und Bildung. Es sind nicht nur oder unbedingt elektronische Geräte, die hier rele- vant sind. In punkto Mobilität und transportable Behelfe können im Zusammenhang mit Ler- nen und Bildung sehr unterschiedliche Kombinationen und Modalitäten eine Rolle spielen, darunter die folgenden: • Handeln6 mit Zählmarken aus Ton (sog. tokens) für Verwaltungszwecke in der Frühge- schichte, • soziales und religiöses Lernen im Umgang mit den Paulusbriefen, • Fernunterricht mittels portabler Lernmaterialien, • das Stehlen oder Ausborgen von (Leih-)Ausstellungen oder die Zirkulation von Artefakten mittels Wanderausstellungen oder Roadshows, 5 Vgl. zum Beispiel auch gesammelte Stellungnahmen in “Mobile Education – Lessons from 35 Educati- on Experts on Improving Learning with Mobile Technology”, abrufbar unter: http://de.slideshare.net/ DavidRogelberg/mobile-education-27782655 [Stand 15-04-2016]. 6 Der Terminus ‘Handeln’ drückt hier allenfalls die beiden Bedeutungen ‘Geschäfte treiben mit’ und ‘handeln’ im Sinne eines absichtsvollen Tuns aus, nicht aber das ganze Spektrum der Anspielungen, die mit dem englischen Ausdrucks ‘dealing with’ verknüpft werden können (vgl. spending time together, bothering, acting, working on, distributing, trading, doing business). MacGinnis et al. (2014) betonen, dass diese tokens in der Neuassyrischen Reichsverwaltung auch nach der Entwicklung der Keilschrift bedeutsam waren. Außerdem waren sie auch für Bildungsprozesse relevant, weil sie die Partizipation in administrativen Prozessen von Menschen ohne formale Bildung ermöglichten. Sie schreiben dazu: “The tokens thus constituted a system for the keeping of tallies and dynamic totals over extended periods of time providing, at the same time, a wider base for simple literacy which allowed those without formal education to participate in the administrative process” (MacGinnis et al. 2014, S. 303). 156 Theo Hug • Lernen bei Ausflügen und Exkursionen, • die Interaktion und Kommunikation mittels Ethno-Portalen, • die Verwendung von Audiogeräten oder Smartphones in modernen Museen und Science Centers, • das Lernen über formelle und informelle Kontexte hinweg mithilfe von Mobilgeräten, • Augmente Learning, mobil-digitale Kompetenzentwicklung, Verkörperungsprozesse bei der Verwendung von Datenbrillen usw. Diese Auflistung relevanter Beispiele und Aspekte von den Schnittstellen zwischen Mobilität, Bildung und Lernen verdeutlicht, dass hinter diesem komplexen Thema eine lange und kaum überschaubare Geschichte steht. Meines Wissens gibt es bis heute keine systematische Unter- suchung dieser Phänomenbereiche, weder in m-Learning-Diskursen noch in der Bildungstheo- rie oder in der Theorie mobiler Kommunikation. Eine solche Analyse ist zugegebenermaßen schwierig zu bewerkstelligen, besonders wenn wir bedenken, dass der Begriff ‘Bildung’ sich in analytischen und normativen Hinsichten auf eine große Bandbreite an Phänomenen beziehen kann, wie etwa: die Vorbereitung auf das Leben, das Lernen des Lernens, die Transformation von Selbst- und Weltbezügen, die Kapazitätsentwicklung, Selbstverwirklichung, persönliche Reifung, Qualifikation, den Wissenserwerb, die Schullaufbahn und den Lernerfolg, die Ausbil- dung sowie die Vermittlung von Fertigkeiten, Werten oder Gewohnheiten durch Unterricht. Als ein “essentially contested concept” (Gallie 1956) können Bildungsprozesse insbesondere auf Mündigkeit, Verantwortung, Autonomie, Selbstbestimmung, vernünftiges und besonnenes Handeln, Selbstreflexivität, Selbstverwirklichung, Selbsttransformation und Kompetenzent- wicklung abzielen. Pars pro toto-Argumentationen im Dienste von partikulären Interessen sind dabei weit häufiger anzutreffen als kontext-sensitive Argumentationen unter Berücksichtigung der Pluralität von Auffassungen. Diese beispielhaften Hinweise zeigen, dass Mobilität für Bildung und Lernen in vielerlei Hin- sicht relevant sein kann. Im weiteren Sinne steht Mobilität für Bewegungspotenziale, Bewe- gungen und Bewegungsfähigkeit oder für Positionsveränderungen in physischen, geographi- schen, technologischen, kulturellen, sozialen, kognitiven oder virtuellen Räumen, einschließ- lich Formen der Bewegung von Menschen innerhalb oder zwischen sozialen Schichten und Milieus, vorübergehende oder permanente Migration, Kulturen in Bewegung und Medienprak- tiken in Veränderung, bewegliche technische Geräte und Technologien oder die flexible Ver- wendung kognitiver Strukturen in komplexen Situationen oder unter heterogenen Lebensbe- dingungen. Alle diese Aspekte beziehen sich auf besondere Merkmale in historischen Medien- konstellationen. Im Hinblick auf digitale Medienkonstellationen, transversale Mediensysteme und den Digital Turn (Kossek & Peschl 2012) sind Merkmale der digitalen Mobilität eng ver- bunden mit Dynamiken der Medienkonvergenz, mit der Skalierbarkeit und großangelegten Verbreitung von Inhalten, mit der Pfadabhängigkeit in der Medienwirtschaft und mit Share Economies, mit neuen Formen der Konnektivität, Multimodalität und soziotechnischen Integra- tion, und nicht zuletzt mit der Arbeit von Algorithmen (vgl. Seaver 2014). Eine hilfreiche Möglichkeit des Umgangs mit der komplexen Lage ist in diesem Zusammen- hang die Konzentration auf Leitmetaphern und Relevanzformeln für Bildung in Vergangenheit Mobilität und Medienbildung im digitalen Zeitalter 157 und Gegenwart. Einen entsprechenden geschichtlichen Überblick für den deutschsprachigen Bereich hat Veith (2003, S. 183-201) verfasst. Darin zeigt er, wie gesellschaftliche Funktionen und Bedingungen der Reproduktion mit wesentlichen Interessen handelnder Individuen oder Gruppen und mit pädagogischen Praktiken korrespondieren. Für ihn sind begriffliche Verände- rungen, terminologische Vorlieben, die Akzentuierung bestimmter Themen sowie Bedeutungs- verschiebungen nicht nur eine Frage der logischen Verdeutlichung, sondern auch eine der Art und Weise, wie Konzepte in einem bestimmten historischen Kontext verwendet werden. “Solche historischen Kontextbindungen lassen sich für alle erziehungs- und bil- dungstheoretischen Leitkonzepte und Zielformeln, von den frühneuzeitlichen humanistischen Sprachbildungsidealen der ‘Eloquenz’ über die konfessionellen ‘Disziplinierungsforderungen’ und die staatswirtschaftlich begründeten ‘Ge- schicklichkeitskonzepte’ bis hin zur ‘Charakterstärke der Sittlichkeit’ im restau- rierten Ständestaat des 19. Jahrhunderts oder zu den variantenreichen Ideen der individuellen ‘Persönlichkeitsentwicklung’ im 20. Jahrhundert nachweisen. Dies gilt auch für das Konzept der ‘Kompetenzentwicklung’, das sich – selbst dort, wo es nur auf berufliche Tätigkeiten zugeschnitten wird – bruchlos in die Tradi- tion des modernen Bildungsdenkens einreiht, weil es auf aktuelle gesellschaftli- che Reproduktionsfragen Bezug nimmt und diese durch die Implementierung von lernkulturellen Arrangements und die Mobilisierung der entsprechenden Hu- manressourcen zu lösen versucht.” (Veith 2003, S. 184) Der Überblick hat zwar seine Schwächen7; trotzdem ist er hilfreich, weil er bei der Beantwor- tung von Fragen nach Wozu und Quo vadis durch ein Bewusstsein für unde venis helfen kann, die Geschichtsvergessenheit und entsprechende blinde Flecken in der Medienpädagogik zu überwinden.8 Veiths (2003) Ausführungen und seine Kommentare zu den Überlegungen von Jäger & Tenorth (1987) zum Wandel des Denkens über Formen der Erziehung und Bildung regen in doppelter Weise zu weiteren Ausdifferenzierungen an: Einerseits im Hinblick auf Fragen nach der “Entwicklung des Erziehungsdenkens von der aufklärenden Reflexion der philosophierenden Gebildeten zur spezialisierten Lehre der beamteten Pädagogen” (Jäger & Tenorth 1987, S. 72) und der Wiederkehr bekannter Muster zur “Sicherung und Stabilisierung eines bürokratisch-obrigkeitlichen Verwaltungsstaates” (ebd., S. 72) und neuen Lagen prekär beschäftigter, unterbezahlter PädagogInnen, und andererseits im Hinblick auf Fragen nach der Relevanz medialer Formen in transversalen Mediensystemen (vgl. Leschke 2010). 7 Zum Beispiel fehlen Hinweise auf Reproduktionsprobleme und Pädagogisierungsformeln in unter- schiedlichen Ländern und Regionen sowie vergleichende Analysen. Außerdem werden Interdependenzen und Interferenzen unterschiedlicher Relevanzformeln in nationalen, internationalen, transnationalen und globalen Kontexten nicht berücksichtigt. 8 Vgl. zum Beispiel Beiträge zu einer kürzlich abgehaltenen Konferenz der Sektion Medienpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft über “Spannungsfelder und blinde Flecken. Medien- pädagogik zwischen Emanzipationsanspruch und Diskursvermeidung” (Aachen, 19.-20.03.2015), https://blog.rwth-aachen.de/fruehjahrstagung-der-sektion-medienpaedagogik/. 158 Theo Hug Heute stehen wir einer großen Zahl von Zeitdiagnosen und gesellschaftstheoretischen Selbst- beschreibungen gegenüber, die oft mit Schlüsselbegriffen wie Wissensgesellschaft, reflexive Modernität, Netzwerkgesellschaft oder Medienkulturgesellschaft gekennzeichnet werden. Jede von ihnen betont andere Kernprobleme und Aspekte von Reproduktionskrisen, und jede legt anders akzentuierte Leitmetaphern und Pädagogisierungsformeln nahe. Außerdem gibt es auch Ansätze, die über traditionelle soziologische Perspektiven hinausdenken und Probleme einer “nach-gesellschaftlichen Ära” diskutieren. Urry beispielsweise präsentiert in seinem Buch Sociology beyond Societies (2000) ein “manifesto for a sociology that examines the diverse mobilities of peoples, ob- jects, images, information and wastes; and of the complex interdependencies be- tween, and social consequences of, these diverse mobilities.” (Urry 2000, S. 1) In ähnlicher Weise hinterfragt Faßler (2009) das traditionelle soziologische Denken über Mög- lichkeiten der Vererbung und Reproduktion von Gesellschaften. In seinem Buch Nach der Gesellschaft (2009) stellt er die Hypothese auf, dass die rationale Vorhersehbarkeit von sozia- len und wirtschaftlichen Prozessen sich immer öfter als Phantasma herausstellt und dass kom- plexe wirtschaftliche, künstlerische, kollaborative und projektbezogene informationelle Reali- täten zunehmend bedeutsamer werden, besonders weil ihre Innovationskapazitäten und selek- tiven Vernetzungsformen jenseits von gesellschaftlichen Legitimationsbasen funktionieren. Welche Möglichkeiten für Pädagogisierungsformeln haben wir angesichts einer “world in flux” (Bachmair & Pachler 2014)? Zumindest im englischsprachigen Bereich wird der Begriff Literacy zurzeit weithin bevorzugt. Auch Bachmair & Pachler (2014) haben als Ziel eine “edu- cationally motivated practice of literacy as critique, creativity, participation, self-control of media consumption, and so on” (ebd., S. 1). Dabei unterstreichen sie, dass die Allgegenwart von mobilen Geräten und die “ongoing transformation of the fields of ‘media,’ ‘public,’ ‘citizen,’ and ‘educa- tion’ requires a rethinking of these definitional elements and their interrelation- ship, especially as a result of the emergence of the Internet and its social media.” (Bachmair & Pachler 2014, S. 1) In Anbetracht unterschiedlicher Literalitäten und einer breiteren Auffassung von “multi- modaler Literalität” sowie der Tatsache, dass der “process of delimitation through mobile, individualized, convergent mass communication blurs any distinct relationship between com- petencies and types of modality” (ebd., S. 6), kommen sie zum vorläufigen Schluss, “that the concept of literacy retains a certain degree of legitimacy because it is widely used and linked to a wide range of pedagogical practices” (ebd., S. 6). Aus einem weniger theoretisch ausgearbeiteten Blickwinkel vertritt Parry (2013) eine Auffas- sung von Mobile literacy als Verstehen von Informationszugang, Hyperkonnektivität und der neuen Bedeutung von Raum. Obwohl auch er einige begriffliche Zweifel hat, betont er, dass “the ability to use social media, and particularly social media as amplified through the power of the mobile web, has become a key literacy” (ebd., S. 14). Mobilität und Medienbildung im digitalen Zeitalter 159 Die Liste von Literalitäten könnte leicht fortgesetzt werden,9 und zusätzlich zu “multimodaler Literalität” und “mobiler Literalität” gibt es weitere Alternativen, die als gegenwärtige Pädago- gisierungsformeln vorgebracht werden könnten, so zum Beispiel “new literacies” (vgl. Jenkins et al. 2006; Street & Lefstein 2007, S. 45-47), “transliteracy” (Thomas et al. 2007), “metalite- racy” (Mackey & Jacobson 2011) oder “post-literacy” (Tucker 2012). Obwohl viele AutorIn- nen, die sich um Verbesserungen bei der Konzeptualisierung von Literalität(en) bemühen, wichtige Ideen und Anknüpfungspunkte für partielle Klärungen bieten, haben die metaphori- schen Erweiterungen insgesamt eher einen verschleiernden als erläuternden Charakter. Die laufenden Prozesse der “Literalisierung von allem” (literacification of everything) erweisen sich bei näherer Betrachtung als reflexionswürdig. Es stellt sich auch hier die Frage, inwieweit die Vielzahl der Literalitäten Teil des Problems ist und inwieweit Teil der angestrebten Lö- sung. Meines Erachtens müssen wir Konzeptualisierungen auch jenseits von Literalitäten in Erwägung ziehen (Hug 2012a) und beachten, dass Gesten, Buchstaben, Wörter, Abbildungen, Bilder, Icons, Geräusche, Zahlen, Formeln, etc. mit unterschiedlichen Formen der Artikulation, Sinnbildung, Bedeutungszuschreibung, Schemabildung, Wissensmanagement und Wissenser- zeugung verknüpft sind. Wir sollten deshalb die Charakteristika von Literalität, Numeralität, Piktorialität und Oralität sowie ihre Beziehungen zu Kognition, Kultur, Formen des Wissens und Modalitäten des Verstehens, der Verständigung und der Orientierung in medialisierten Le- benswelten klären. 3. Medienpädagogik – Überlegungen zu einem Rahmenkonzept für Pädagogisierungsformeln zwischen Kontinuität und Erneuerung Die Relevanz von unterschiedlichen Formen der Mobilität in einer “nach-gesellschaftlichen Ära” wird in den etablierten medienpädagogischen Diskursen bislang noch kaum beachtet. Das gilt auch für deren Zusammenhänge untereinander und teilweise auch im Hinblick auf spezielle Formen von Mobilität wie zum Beispiel freiwillige oder erzwungene Migration, Mobilisierung von Individuen und Gruppen, ungleiche Verteilung von Mobilitätspotentialen, “immobile Mo- bilität” im Sinne kognitiver und sozialer Mobilität ohne viel Reiseaktivität, und unsere Freuden und Sorgen mit Living inside mobile social information (Katz 2014). Auf der einen Seite spie- len Rufe nach kritischem Denken eine wichtige Rolle, wenn das Quo vadis sowohl in der wis- senschaftlichen Literatur als auch im Kontext von Initiativen und Statements beantwortet 9 Besonders im Englischen ist die Liste der einschlägigen zusammengesetzten Begriffe lang: art literacy, computer literacy, consumer literacy, cultural literacy, cyber-literacy, digital literacy, diversity literacy, ecological literacy, emotional literacy, environmental literacy, fashion literacy, film literacy, financial literacy, food literacy, geographical literacy, hacking literacy, health literacy, information literacy, inter- cultural literacy, internet literacy, library literacy, management literacy, mobile literacy, multicultural literacy, multi-literacy, multimodal literacy, numerical literacy, political literacy, sexual literacy, situated literacy, television literacy, visual literacy, zoological literacy, etc. 160 Theo Hug wird.10 Auf der anderen Seite ist, zumindest im Kontext institutionalisierter Bildung, die Be- wahrung vor angenommenen oder tatsächlichen negativen Medieneinflüssen ebenso wie die Anregung zur Verwendung digitaler Lernobjekte, Lernplattformen und Bildungs-Apps eher auf bildungspolitische Maßnahmen ausgerichtet, im Normalfall, ohne besondere Berücksichtigung von Dynamiken transversaler Mediensysteme, der Medienkonvergenz, medialisierter Lebens- welten, globaler Medienökologien oder mobiler Kommunikation. Paradoxerweise haben weite Teile des Diskurses über Innovation in der Bildung und entspre- chende Richtlinien und Medienpraktiken tendenziell strukturkonservative Auswirkungen. An- dererseits gibt es auch progressive, zukunftsorientierte Stimmen. Meyer (2015) zum Beispiel verwendet Baeckers Studien zur nächsten Gesellschaft (2007) als zentralen Ausgangspunkt und argumentiert mit Blick auf die Next Art Education (2015): “The hero of the Next Society – it’s neither the intellectual of the Enlightenment who appeals to public reason nor is it the critic as the sole judge over real and ideal –, it’s the hacker” (Meyer 2015). In ähnlicher Weise fragt Missomelius nach “forms and practices of subversive knowledge” (Missomelius 2015), die mobilisiert werden können. Und Giroux, um ein drittes Beispiel zu nennen, verwendet Border crossings (2005) als Metapher im Sinne einer Pädagogisierungsfor- mel mit dem Ziel, alternative öffentliche Bereiche zu schaffen, die relevant sind für die “forma- tion and enactment of social identities” und die Bedingungen, “in which social equality and cultural diversity coexist with participatory democracy” (Giroux 2005, S. 14). Entsprechend erörtert Wimmer (2009) die Positionen von Giroux im Kontext von Medienaktivismus. Aus systematischer Perspektive können Fragen nach dem Wozu und dem Quo vadis unter Be- zugnahme auf Polaritäten wie Kontinuität und Erneuerung, Anpassung und Innovation, Reform und Revolution sowie holistische und partikularistische Sichtweisen beantwortet werden. Was Konzepte und Praktiken von Medienaktivismus und handlungsorientierter Medienpädagogik betrifft, so lassen sich diese als unterschiedliche gesellschaftliche Interventionsformen verste- hen. Je nach konkreter Auffassung handelt es sich um mehr oder weniger kontrastierende, (teilweise) identische oder miteinander (un-)verträgliche Bereiche, in denen medienpädagogi- sche Bestrebungen verortet werden können. Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten (vgl. Hug 2012b): (1) Es handelt sich dann um weitgehend disjunkte Bereiche, wenn institutionalisierte Formen von (handlungsorientierter) Medienpädagogik nur am Rande oder gar nichts damit zu tun ha- 10 Vgl. “Manifesto for Media Education” in Großbritannien (http://www.manifestoformediaedu cation.co.uk/), “Keine Bildung ohne Medien! Medienpädagogisches Manifest” in Deutschland (http://www.keine-bildung-ohne-medien.de/Manifesto-on-Media-Education.pdf), “Medienbildung JETZT!” in Österreich (http://www.medienbildungjetzt.at/), “Déclaration de Bruxelles pour l'éducation aux Médias tout au long de la vie” in Belgien (http://csem.cediti.be/sites/default/files/files/declaration% 20de%20bruxelles%20-%20fr.pdf) oder Aussagen im Rahmen der Vorbereitung der internationalen Konferenz “Media – Knowledge – Education: Why Media Education?” an der Universität Innsbruck, 27.- 28. Februar 2015 (http://media.brainity.com/uibk2/mwb2015/?page_id=32) usw. Mobilität und Medienbildung im digitalen Zeitalter 161 ben, Schwachstellen der Demokratie aufzuzeigen, zivilen Ungehorsam zu proben und Zivilcou- rage und Widerstand gegenüber problematischen Mainstream-Entwicklungen zu fördern. (2) Umgekehrt können die beiden Sphären auch als weitgehend ident beschrieben werden, wenn wir Medienpädagogik als Vorbild für die Schaffung von gegenöffentlichen, sozialkriti- schen pädagogischen Interventionen und Initiativen und die Beförderung von Eigensinn, Selbstbestimmung, Selbstermächtigung und emanzipatorischer Transformation verstehen. (3) Nicht zuletzt lassen sich partielle Überschneidungen der Bereiche insofern argumentieren, als medienkritische Motive, die Erweiterung von Handlungsspielräumen und die teilweise Überwindung von hegemonialen Tendenzen und Machtinteressen in beiden Bereichen eine Rolle spielen. Als prototypisches Beispiel sei hier auf Hackerspaces und entsprechende infor- melle Lern- und Bildungskontexte verwiesen. Obwohl Medien auch als Widerstandsmedien aufgefasst worden sind (Sützl 2011) und Medi- enkritik in schulischen Bildungskontexten zumindest dem Anspruch nach eine gewisse Rolle spielt, sind gegenseitiger Austausch und Begegnungen zwischen den beiden Bereichen selten. Andererseits zeigen die drei Optionen, dass konzeptuelle Gegenüberstellungen im Sinne von affirmativer Medienpädagogik und Lerntechnologie vs. kritischer Medienaktivismus oder emanzipatorischer Maker Space und konformistische Kritik vs. hemdsärmelige, aber effektive Intervention zu kurz greifen. Auf den ersten Blick mag es möglich erscheinen, die Indikatoren in der Tabelle 1 eindeutig den Bereichen Medienaktivismus oder Medienpädagogik zuzuord- nen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber schnell, dass eine solche strikte Trennung nur dann zutrifft, wenn von besonders gegensätzlichen Auffassungen der beiden Bereiche die Rede ist. Ansprüche der Kritik und Demokratisierung sind in beiden Bereichen bedeutsam, und handlungsorientierte Medienpädagogik beschäftigt sich nicht nur mit differenzierter Wahr- nehmung, Interpretation, Analyse und Reflexion, sondern auch mit der Gestaltung von Medien und veränderungsorientierten Interventionsformen. Andererseits lassen sich auch Unterschiede hervorheben, so zum Beispiel im Hinblick auf Aspekte der Temporalität wie kurz-, mittel- oder langfristig sowie flüchtig und nachhaltig, der Reichweite von Handlungen, der individuellen und institutionellen Verantwortung, des gesetzlichen Auftrags, der Bedeutung kultureller Res- sourcen und Autonomieansprüchen und der Reichweite von Forderungen nach Bildung für alle, viele oder einige. Destabilisierung – Stabilisierung Diskontinuität – Kontinuität kurzfristige Intervention – langfristige Intervention flüchtige Effekte – nachhaltige Entwicklung Revolution – Evolution (Reform) Subversion – Transparenz 162 Theo Hug Ungehorsam – Gehorsam Eigensinn – Solidarität Widerstand (Widerständigkeit) – Anpassung Verweigerung – Partizipation Tabelle 1: Medienaktivismus und Medienpädagogik – tendenzielle Indikatoren Das Spektrum von Formen des Medienaktivismus ist breit und umfasst u.a. Graffiti, Radio- aktivismus, Community Medien, Internet-Aktivismus (Meikle 2002), visuellen Aktivismus, taktische Medien (Garcia & Lovink 1997), alternative Medien (Lievrouw 2011) und in jüngster Zeit auch Medieninterventionen, die die Funktionsweisen von Biomacht hinterfragen (Da Cos- ta & Philip 2008; Sützl & Hug 2012). Was mobilen Aktivismus betrifft, gibt es eher verstreute Initiativen und hauptsächlich politisch motivierte kollektive Aktionen (Rheingold 2008; Ekine 2010; Liu 2013) als systematische Anwendungsszenarien oder Angebote für pädagogische Zwecke. Untersuchungen der sozialisierenden Dimensionen von Widerstand im Kontext von Mediennutzung (vgl. Bell 2011) sind selten. Selbst wenn wir disruptive Innovation als eine wichtigen Trend im mobilen Aktivismus (vgl. Kreuz 2008) und auch im Bildungswesen insge- samt betrachten, sollten wir zumindest dann stabile und instabile, konservative und fortschritt- liche Mediendynamiken sowie besondere Auswirkungen wie zum Beispiel Erschütterungen, Spaltungen, Umbrüche usw. berücksichtigen (vgl. Rusch 2007), wenn unser Ziel in der Förde- rung von nachhaltigen Formen von Medienpädagogik besteht. Angesichts aktueller medienkultureller Dynamiken, Fragen der informationellen Selbstbestim- mung und Kommerzialisierung von Informationsprozessen, vernetzter Kapitalformen und Tauschökonomien sowie Grammatiken des Teilens, institutionalisierter Trancephänomene im Gefolge von Ideologien und Machtstrategien, der Abschaffung der Netzneutralität und Ten- denzen der Überwachung und Kontrolle ergibt es nicht viel Sinn, Medienpädagogik auf Pro- gramme für technologiegestütztes Lernen (TEL), Leitlinien der Digital Literacy oder auf Stra- tegien des politisch motivierten Aktivismus oder einer neurowissenschaftlich “begründeten” Bewahrpädagogik zu beschränken. Jeder Versuch der Reduktion von (Medien-)Bildung auf einen primären oder alleinigen Zweck erweist sich früher oder später als problematisch. Ande- rerseits können wir nicht alle wünschenswerten und wohlbegründeten Bildungszwecke11 zu- gleich verfolgen. Wir müssen auswählen, und wir tun meines Erachtens gut daran, die begrün- deten Ziele und Zwecke immer auch in einer kreativen Spannung zu zweckfrei gedachten Bil- dungsprozessen zu konzipieren und letztere auch als Momente der Lebenskunst aufzufassen. 11 Vgl. zum Beispiel die Forderungen und Stellungnahmen, abrufbar unter http://purposed.org.uk/, http://educationforthecrisis.wikispaces.com/, http://www.ted.com/conversations/20241/what_is_the_pur pose_of_educati.html oder http://media.brainity.com/uibk2/mwb2015/?page_id=32 [Stand vom 08-05- 2016]. Mobilität und Medienbildung im digitalen Zeitalter 163 Viable Strategien für eine gelingende Medienbildung und Medienerziehung können am ehesten dann geschaffen werden, wenn wir aufhören den stets neuen Technologieversprechungen und pädagogischen Hypes atemlos hinterher zu laufen und wenn wir von obsoleten Vorstellungen eines strikten Gegensatzes zwischen technophoben Geisteswissenschaften und technologie- euphorischen Ingenieurs- und Naturwissenschaften ablassen. Analoges gilt für einseitige Per- spektiven auf die Reproduktion von Instantwissen als Musterbeispiel für (schulische) Bildung oder für allzu hehre Bildungsideale einer wohlgeformten Persönlichkeit, die Transformationen von Selbst-, Sozial- und Weltbezügen in mustergültiger Weise bewältigt. Die Kluft zwischen den Herausforderungen im Umgang mit den eigenen heterogenen Lebensbedingungen und besonders heroischen Bildungskonzepten kann leicht zur Überforderung werden. Wir sollten nicht außer Acht lassen, dass mit den Bildungsprozessen ambivalente und dialekti- sche Dynamiken verknüpft sind. Einerseits gibt es keine Bildung ohne Mobilität und Bindung. Auf der anderen Seite sind die Chancen, Bildung zu verhindern, hoch, wenn wir das Augen- merk nur auf eine strikt effizienzorientierte Förderung von Kapitalsorten und Mobilitäten aller Art oder auf allzu starke Beziehungen und Bindungen legen. Anders gesagt: gelingende Bil- dung hängt notwendigerweise mit dem Ausbalancieren von ambivalenten Dynamiken zusam- men. Das betrifft zum Beispiel Momente der Mobilität und des Innehaltens, der Stimulation und der Stabilisierung, der Verbindung und der Abkopplung, des Festhaltens und des Loslas- sens, der Nähe und der Distanz, der Identität und der Differenz, der Erfüllung und der Versa- gung. Was die vielfältigen Herausforderungen durch das Ausbalancieren in Bildungskontexten be- trifft, scheint Bricolage ein hilfreiches Konzept zu sein. Ursprünglich wurde es von Lévi- Strauss (1968) in der Anthropologie und Wissenstheorie eingeführt. Es charakterisiert eine handlungsorientierte Wissensform, die zwischen regelgeleiteter Planung und kreativer Sponta- neität angesiedelt ist und örtlich vorhandene Ressourcen verwendet (vgl. Perger 2003). Jahr- zehnte später verwendeten Turkle & Papert (1992) den Begriff, als sie zwei unterschiedliche Problemlösungsstile in einem Programmierkurs evaluierten. Als Gegensatz zum analytischen Problemlösen beschrieben sie einen eher spielerischen Stil, bei dem Studierende Dinge auspro- bieren und behelfsmäßig testen und sondieren konnten –, unter Verweis auf die bricoleurs von Lévi-Strauss, die “construct theories by arranging and rearranging, by negotiating and renego- tiating with a set of well-known materials” (Turkle & Papert 1992, S. 7). Kincheloe & Berry (2004) verwendeten den Begriff ‘Bricolage’ in der Bildungsforschung für die Bezeichnung multiperspektivischer Forschungsmethoden, um einen transformativen Modus multimethodo- logischer Untersuchung zu ermöglichen. Ich verstehe unter Bildung als Bricolage ein Konzept von Allgemeinbildung, in dem drei Di- mensionen eine zentrale Rolle spielen: (1) transversale Kompetenzen im Umgang mit hetero- genen Bedingungen, verschiedenen Codes, Formaten und medialen Formen, (2) multiperspek- tivische (Selbst-)Reflexion von Lernprozessen und (3) viable Umgangsformen mit diskursiven Einschränkungen und Zwängen sowie mit verschiedenen Referenzmodalitäten in medialisier- ten Lebenswelten (vgl. Hug 2010). Der Begriff ‘Bricolage’ verweist dabei auf einen antifun- damentalistischen Zugang (vgl. Heyting 2001), der vorwiegend auf mittelfristige Perspektiven 164 Theo Hug und – soweit möglich – umsichtige, selbstreflexive, kontextspezifische, selbstbestimmte und befriedigende Modalitäten der Erwägung und Entscheidung von Alternativen zielt. Dabei spielt Handlungswissen für den improvisierenden Umgang mit begrenzten Ressourcen und räumlich- zeitlichen Beschränkungen eine wichtige Rolle. In Bezug auf professionelle Arbeit auf dem Gebiet der (Medien-)Pädagogik möchte ich einige Anknüpfungspunkte für weitere Überlegungen hervorheben: • Wenn heutzutage Bildungsfragen ohne Berücksichtigung von Dynamiken der Medialisie- rung, Mediatisierung, Medienkonvergenz und (digitalen) Mobilität diskutiert werden, ermöglicht das selbst in den edelsten und kultiviertesten Spielarten bestenfalls Halbbil- dung, schlimmstenfalls Einladungen zum Segeln mit Navigationsinstrumenten von ge- stern durch die unerforschten Gewässer von morgen. • Die Frage nach der Qualität von massenhaften Medien(bildungs)angeboten angesichts kostengünstiger Möglichkeiten der großangelegten Verbreitung von Inhalten hat zwei- fellos ihre Berechtigung. Trotzdem sollten wir die Bildungspotenziale in diversen me- dien- und populärkulturellen Kontexten nicht übersehen. Letztere weisen mitunter Bil- dungswerte auf, die für Individuen oder Gruppen wichtig sein können, selbst wenn sie strengen lehr- oder schulmeisterlichen Beurteilungskriterien nicht genügen mögen. • Mobilität ist kein Wert an sich – weder in physischer, geographischer, technologischer, kultureller, sozialer oder kognitiver Hinsicht. Mobilitäten erhalten ihre Bedeutung in spezifischen Kontexten und in Abhängigkeit von den Kriterien der handelnden Akteure. Dabei ist keine allgemeine Entwicklungslogik in eine bestimmte Richtung auszumachen. Entsprechend können Mobilitäten im Sinne vernetzter Entwicklungen (vgl. Lüpke & Voß 2000) und mit Blick auf das Verhältnis zwischen Mobilitätspotenzialen und tatsächlichen Leistungen (vgl. Kaufmann 2002) konzeptualisiert werden. • Was die pädagogischen Lernkontexte betrifft, so sollten wir Unterschiede zwischen selbstgesteuertem und selbstbestimmtem Lernen beachten. Selbstgesteuertes Lernen bezeichnet Lernprozesse, in denen Lernende möglichst autonom Handlungen planen, steuern, regulieren, überwachen und evaluieren mit dem Ziel, Information, Wissen oder Fähigkeiten zu erwerben, die Expertise zu erweitern oder ihre Leistungen zu verbessern. Dabei können Ziele, Handlungsspielräume und Arten der Zusammenarbeit von den Ler- nenden selbst oder von anderen definiert werden. Im Gegensatz dazu verweist selbst- bestimmtes Lernen auf Lernprozesse, in denen Lernen von den Lernenden selbst initiiert, geplant, organisiert und evaluiert wird, indem sie von ihren eigenen Erfahrungen aus- gehen und für sich selbst entscheiden, was, wieso, wie, wann, wo und mit wem zusam- men gelernt wird. Dabei verfolgen die Lernenden selbstgesetzte Ziele, allem voran die Verbesserung der Handlungsfähigkeit.12 12 Allgemein gesagt kann Lernen unter anderem konzeptualisiert werden (1) als Prozess des Aufbaus und der Organisation von Wissen, (2) als Transformationsprozess auf der Grundlage der Herstellung von Mobilität und Medienbildung im digitalen Zeitalter 165 • Unter den bildungsrelevanten Mobilitäten spielt die Migration von medialen Formen eine zentrale Rolle für das Verständnis zeitgenössischer Arten der Wissenserzeugung, -ver- mittlung und -dynamik. Es ist problematisch geworden, Wissenssysteme mit spezifischen Medien und ihren Dispositiven zu verknüpfen (vgl. Leschke 2010, S. 303). Deshalb sind transversale und transmediale Dimensionen in medientheoretisch informierten Wissens- Debatten mittlerweile bedeutsam geworden. Nach Leschke (2008) eignen sich mediale Formen perfekt als Klassifizierungsmittel in transversal verknüpften Mediensystemen (2010, S. 305). Er veranschaulicht das mithilfe des Beispiels von Angeboten der mas- senmedialen Unterhaltung wie folgt: “Basierte der Komplex von Interpretationswissen, Identitätskonstruktion und Selbstkonzept der Geisteswissenschaften noch weitgehend auf der medienhistori- schen Konstellation des Buchdrucks, die die allgemeine Lektürefähigkeit und Sinnsetzungskompetenz nach sich zog, so erfordern und generieren die gegen- wärtigen medialen Konstellationen mit Augmented Reality, intermedialer Form- migration und den unmerklichen Übergängen zwischen Unterhaltungs- und Ge- brauchsmedien vor allem Formwissen.” (Leschke 2008, S. 49) In diesem Sinne können mediale Formen13 als Ordnungsinstrumente in transversal ver- knüpften Mediensystemen verstanden werden. Als Beispiele seien an dieser Stelle die strukturellen Elemente von Comics oder Spielen in Filmen oder die Verwendung von Icons in verschiedenen Medienkonstellationen erwähnt. Die medialen Formen können auf der Ebene von Theorien mittlerer Reichweite beschrieben und analysiert werden. Sie fi- gurieren in vielen Hinsichten als Mittler in transversalen Mediensystemen. • Wie Bachmair & Pachler (2014) hervorheben, ist Kontextbewusstsein – “becoming aware of the frames under my construction, constructed under the conditions of ubiquitous mobility at the interface of formal and informal contexts” (ebd., S. 23-24) – ein Kern- thema in der Pädagogik im allgemeinen und besonders im Zusammenhang nutzergene- rierter Kontexte. Letzteres meint “processes by which users of mobile digital devices are afforded the synergies of knowledge distributed across people, communities, location, time and life-course, social contexts, sites of practice, networks and systems, and so on” (ebd., S. 21). Aus metatheoretischer Perspektive ist es wichtig, dieses Kontextbewusstsein Bedeutung und Prozessen der Sinngebung in spezifischen Kontexten, oder (3) als Prozess, der relativ dauerhafte Veränderungen von Fähigkeiten, Vermögen und Verhaltensweisen jenseits “rein” biologischer Reifung oder Alterung ermöglicht oder mit sich bringt. Unabhängig davon, ob wir die Veränderungspro- zesse in Bezug auf Bezug auf Verhaltensweisen, Einstellungen, Werte, Mobilitäten, geistige Fähigkeiten, die Bewältigung von Aufgaben, Wahrnehmungsstrukturen, emotionale Reaktionen, Handlungsmuster oder soziale Dynamiken konzeptualisieren: In allen Fällen ist es möglich, Lernprozesse auf Mikro-, Me- so- oder Makroebenen zu beschreiben und zu relationieren. 13 Im Gegensatz dazu bezeichnet der Begriff ‘mediale Form’ normalerweise einen Teilbereich der Medi- en, zum Beispiel Wikis oder Podcasts als Formen von sozialen Medien. 166 Theo Hug im Hinblick auf forscherInnengenerierte sowie epistemologische und methodologische Forschungskontexte zu erweitern, wenn wir die Fallstricke willkürlicher Setzungen und des epistemologischen Fundamentalismus14 vermeiden möchten. Ein nicht-fundamentali- stischer oder antifundamentalistischer Zugang, wie ihn Heyting (2001) und Goor et al. (2004) beschreiben, scheint hier nützlich zu sein. Dieser undogmatische Ansatz berück- sichtigt den unentscheidbaren Charakter vieler Fragen und hilft dabei, voreiligen, sim- plifizierenden “Lösungen” oder Strategien der Beliebigkeit entgegenzutreten, indem spe- zifische Probleme und Themen dreifach kontextualisiert werden: durch Reflexion über den Bedeutungs-, Persönlichkeits- und Diskurskontext (vgl. Goor et al. 2004, S. 176). • Bisher weisen medienpädagogische Diskurse überwiegend Charakteristika von Monolo- gen auf, manchmal von Dialogen, die partielle wechselseitige Einflussnahmen zulassen. Aber ähnlich wie “nach den Bedingungen der Möglichkeit systematischer Philosophie unter der Voraussetzung differenter kultureller Prägungen zu fragen ist, welche auf jeder Ebene der Reflexion und Argumentation wirksam werden können” (Wimmer 2001, S. 382), sollten auch die Wirkungen von impliziten Annahmen und kulturspezifischen Denk- weisen in Bildungsdiskursen analysiert und reflektiert werden. Außerdem legt Forschung in einer “world in flux” (Bachmair & Pachler 2014) per se polylogische Orientierungen nahe, die umfangreiche gegenseitige Einflussnahmen auf verschiedene Positionen er- lauben und Situationen fördern, in denen alle grundlegenden Konzepte, Voraussetzungen, Ausgangspunkte und Methoden diskutierbar sind. Polylog bedeutet also, dass für jede Tradition “jede andere ‘exotisch’ [ist] in dem Sinn, dass jede für jede andere fremd ist und keine von ihnen außer Frage steht” (Wimmer 2001, S. 392). 4. Fazit Die Bewältigung der vielfältigen pädagogischen Herausforderungen angesichts komplexer Mediendynamiken und Konstellationen von “mediated mobilites” (Keightley & Reading 2014) mag im Lichte idealistisch überhöhter Konzepte von (Medien-)Bildung als Transformation von Selbst- und Weltbezügen problematisch erscheinen. Es bestehen aber durchaus aussichtsreiche Perspektiven für Konzepte der Medienpädagogik und Medienbildung im Spannungsfeld von medienaktivistisch motivierten Ansätzen und der affirmativen Nutzung von Lerntechnologien. Im Hinblick auf zukunftsorientierte Leitmetaphern und Pädagogisierungsformeln können sich Konzepte der Kontextsensitivität und der Bildung als Bricolage als besonders fruchtbringend erweisen. Sie eröffnen jedenfalls flexible Möglichkeiten für kritische Bildung an den Nahtstel- len von individuellem und kulturellem Gedächtnis (vgl. Schäfer 2009) sowie von menschlicher Handlungsfähigkeit und der Arbeit von Algorithmen (vgl. Seaver 2014). Auch wenn es Anzei- 14 Vor fast 40 Jahren wies Rorty (1979) in Philosophy and the Mirror of Nature auf die Probleme des klassischen empirischen Fundamentalismus in Bezug auf Empirismus, Rationalismus und Transzendenta- lismus hin. Mobilität und Medienbildung im digitalen Zeitalter 167 chen dafür gibt, dass Konzepte des Seamless Learning (Wong et al. 2015), die auf die Über- brückung formeller und informeller Lernkontexte oder eine stärkere Verbindung von Konsum- kulturen der Studierenden und ihrem universitären Leben abheben, zumindest teilweise ihr Ziel verfehlen (vgl. Caronia 2009, S. 30), ist die Berücksichtigung von transversalen und transme- dialen Dimensionen in der Medienpädagogik wesentlich geworden. Dasselbe gilt für Dynami- ken der Medienkonvergenz und der Medialisierung von Wissen. Im Übrigen mag die ernsthafte Berücksichtigung der Auffassung, dass alles Wissen kontextgebunden ist, dazu beitragen, dass in Zukunft einige Mythen über die Distribution von Bildung und den Transfer von Wissen überwunden werden können. Literatur Azurmendi, Joxe (2003): Ein Denkmal der Achtung und Liebe. Humboldt über die baskische Landschaft. 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Von der Vorführung zur Aufführung 173 Von der Vorführung zur Aufführung. Bildungstheoreti- sche Implikationen der Interaktivität mit digitalen Bildern Manuela Pietraß Zusammenfassung Möchte man die Frage nach einem “Wozu?” der Medienbildung beantworten, so sind die Beson- derheiten einer Bildung durch Medien zu ermitteln. Die digitalen Medien besitzen einen Unter- schied zu allen vorangehenden: Sie sind interaktiv. Sie ermöglichen es nicht nur, etwas aufzu- nehmen, sondern auch etwas zu tun. Hier setzt der vorliegende Beitrag an. Worin unterscheidet sich das Zuschauen von Bildern vom Handeln mit Bildern? Auch beim Zuschauen finden Interak- tionen statt. Wäre Interaktivität ein Alleinstellungsmerkmal der digitalen Medien, wäre also ein kategorialer Unterschied zur Interaktion mit Filmbildern zu ermitteln. Wie im Beitrag gezeigt wird, ist der bildtheoretische Ansatz zur Erklärung dieses Unterschiedes nicht ausreichend. Denn bei der bildlich visualisierten digitalen Interaktion wird das, was interaktiv ausgetauscht wird, nicht direkt, sondern über die Bilder vollzogen. Damit erhält digitale Interaktivität einen “Auffüh- rungscharakter” und einen Status der Unverbindlichkeit, woraus bildungstheoretische Implikatio- nen abgeleitet werden können. 1. Einleitung Interaktivität als neue Eigenschaft der digitalen Medien wird, wie Lev Manovich (2001, S. 55) kritisiert, “mystifiziert”. Interaktivität ist nach seiner Ansicht nichts Neues. Er führt Beispiele aus der Kunst an, die ebenfalls die Interaktion des Betrachters involvieren. Damit legt Mano- vich einen Anschlusspunkt an die Rezeptionsästhetik, die sich mit der Interaktion mit solchen Medien befasst, die man heute als rezeptiv bezeichnen würde. Die Rezeptionsästhetik be- schreibt die Art und Weise, wie die Betrachter von Kunstwerken, oder auch Leser und Zu- schauer, in einen Wahrnehmungsprozess eintreten, bei dem die formale Art und Weise des Aufbaus des jeweils rezipierten Gegenstandes den Rezipienten in dessen Wahrnehmung hin- einverwickelt, was man als Interaktion mit dem rezipierten Gegenstand verstehen kann. Dies- bezüglich bekannte Konzepte sind in der Literaturwissenschaft die Leerstellen in Texten (Iser 1979); aus der kunstwissenschaftlichen Rezeptionsästhetik ist bekannt, dass das Kunstwerk offen ist und den Betrachter einlädt, eigene Interpretationen einzubringen; aus der kognitiven - Psychologie kennen wir das Elaborieren von Schemata (Früh 1983). Ein sozialtheoretischer Ansatz, der vorliegend angewendet werden soll, ist der, den Rezeptionsprozess als soziale Interaktion zu verstehen (Pietraß 2003). Möglich ist dies unter Anwendung der Rahmentheorie Erving Goffmans (1993). Der Vorteil dieses Vorgehens ist der, dass es auf alle Medien an- wendbar ist, wobei aber deren spezifische, sich aus ihrer besonderen Medialität ergebenden, Unterschiede berücksichtigt werden können. Damit können die jeweiligen Besonderheiten dieser Interaktionen deutlich gemacht werden. 174 Manuela Pietraß Der rahmenanalytische Ansatz Goffmans wird gut zugänglich, wenn man sich vergegenwär- tigt, dass für die Vielfalt menschlicher Kommunikationssituationen nur begrenzte Ausdrucks- mittel zur Verfügung stehen, so dass diese prinzipiell mehrdeutig sind (Soeffner 1986). Diese prinzipielle Mehrdeutigkeit wird durch den Kontext, in dem Kommunikation stattfindet, wie- der eingeschränkt. Kommunikationskontexte sind in der Diktion von Goffman (1993) Rahmen. Seine Rahmen-Analyse befasst sich mit den sinngebenden Kontexten, in denen Interaktionen stehen und die zugleich durch Interaktion hervorgebracht und aufrechterhalten werden. Goff- man versteht Rahmen als “Definitionen einer Situation”, welche wir “nach gewissen Organisa- tionsprinzipien für Ereignisse – zumindest für soziale – und für unsere Anteilnahme an ihnen” aufstellen (Goffman 1993, S. 19), was er auch als “Organisationsformen der Erfahrung” (ebd.) bezeichnet. Auch die Interaktion mit Medien ist durch Rahmen organisiert. Doch erfolgt die Interaktion nicht direkt, sondern getragen durch das Medium, genauer dadurch, dass Interakti- on durch ein Kommunikat, das durch das jeweilige Medium hervorgebracht wird, vollzogen wird, also z.B. durch Bilder. An dieser Besonderheit der medienvermittelten Interaktivität soll folgend angesetzt werden. Der Argumentationsaufbau ist dabei wie folgt gestaltet: In der Einleitung wurde gezeigt, dass Interaktivität nicht ein Kennzeichen allein der digitalen Medien ist, sondern alle Medien Träger sozialer Interaktionen sind. Allerdings unterscheiden sich die möglichen Interaktionen durch die jeweilige technisch bedingte Medialität. Um dies zu verdeutlichen, wird eine Analyse der Interaktionen mit Film vorgenommen (Punkt 2): Sie sind, im Unterschied zu direkten Interak- tionen, zeitversetzt und nicht direkt-wechselseitig. Die Interaktivität mit digitalen Bildern zeichnet sich hingegen nicht durch Zuschauen, sondern durch das Handeln mit den Bildern aus: Mit dieser Besonderheit befasst sich die Bildtheorie, die Präsentativität und Probehandeln als besonderen Status der Interaktivität mit digitalen Bildern beschreibt. Doch gerät die Bild- theorie in eine argumentative Sackgasse (Punkt 4), welche man mit Goffman auflösen kann: Bilder, die beim Handeln mit Bildern entstehen, sind Aufführungen. Nun können (Punkt 5) die bildungstheoretischen Implikationen als eine prinzipielle Unverbindichkeit, die aus dem Auf- führungscharakter der bei digitalen Interaktionen generierten Bildern entsteht, freigelegt wer- den: Der Akteur interagiert aus einer, sozusagen doppelt gebrochenen, exzentrischen Positiona- lität heraus. 2. Die Interaktivität beim Betrachten von Filmbildern durch deren Vorführung Rahmen entstehen und bestehen nur in Interaktion. Insofern sind sie nichts Statisches, das einer Situation übergestülpt wird, sondern sie werden während der Interaktion immer wieder neu gesichert und müssen dazu von allen Interaktionspartnern geteilt und aufrechterhalten werden. Rahmen enthalten Metahinweise, wie Interaktionen zu verstehen sind. Bei medienvermittelten Interaktionen werden ebenfalls Metahinweise gegeben. Weil, anders als in direkter Interaktion, kein unmittelbarer Situationsbezug zwischen den Interaktanten besteht, müssen die Verste- Von der Vorführung zur Aufführung 175 henshinweise im medienvermittelten Kommunikat den fehlenden, sinngebenden Kontext erset- zen. So finden sich bei einem filmischen Kommunikat Rahmenhinweise am Beginn und Ende desselben (Vorspann oder Anmoderation), und sie werden durch die Gestaltungsmittel gege- ben. Beispielsweise deuten eine künstlich wirkende Farbgebung, Musikuntermalung und das Auftreten fantastischer Figuren auf einen fiktionalen Rahmen hin. Da Filme fertige Kommunikate sind, und ihre Bedeutung nicht ad hoc ausgehandelt werden kann, muss der Produzent darauf vertrauen, dass der Rezipient die Rahmenhinweise in der intendierten Weise nachvollzieht. Damit ein gemeinsamer Interaktionsrahmen zustande kommt, müssen die durch den Produzenten vermittelten Rahmenhinweise vom Rezipienten in der gemeinten Weise aufgenommen werden. Anders als bei der direkten Interaktion, die Goff- man beschrieb, findet die Herstellung des gemeinsamen Bezugsrahmens bei der Filmrezeption zeitversetzt und indirekt statt. Dabei werden im Film gesetzte Rahmen, z.B. “Historiendrama” oder “fiktionaler Unterhaltungsfilm”, erst dann realisiert, wenn der Rezipient seinerseits den gesetzten Rahmen versteht und akzeptiert. Ist das nicht der Fall, könnte es z.B. zu einer Ver- wechslung von Realität und Fiktion kommen (Abbildung 1). Abbildung 1: Die Interaktion zwischen Regisseur und Zuschauer (eigene Darstellung) Rahmenhinweise werden meist geltenden Gestaltungskonventionen (Formate und Genres) gemäß gesetzt. Brüche mit solchen Konventionen können heftige Widerstände bei den Rezipi- enten hervorrufen, den neu gestalteten Interaktionsrahmen zu akzeptieren. Ein Beispiel dafür ist der Film Irreversibel von Gaspar Noé (2002). Er soll auf seiner Premiere in Cannes die Zuschauer zu Hunderten aus dem Kino getrieben haben. Der Film enthält äußerst gewalttätige Szenen, wobei eine Vergewaltigungsszene für den Ruf des Filmes, Gewalt extrem realistisch darzustellen, maßgeblich steht. Die Darstellungsformen verwickeln den Zuschauer auf eine Weise in das Geschehen, als würde er dem Gewaltakt unmittelbar beiwohnen: Die Kamera folgt der Hauptdarstellerin Monica Bellucci, wie sie nachts allein in eine Fußgän- gerunterführung hinuntergeht, und lässt sie die nächsten zehn Minuten nicht mehr aus den 176 Manuela Pietraß Augen. Der Zuschauer begegnet, der Schauspielerin folgend, jenem Mann, der zum Täter wer- den wird, der sie bedroht, schließlich überwältigt und misshandelt. Die ganze Zeit ist der Zu- schauer so nah, dass man ihn sehen würde, wäre er wirklich zugegen: Dann könnte er eingrei- fen und den Gewaltakt unterbinden. Doch als Zuschauer wird er gezwungen, der Gewalt zuzu- sehen, ohne eingreifen zu können. Dadurch wird er in eine ambivalente Situation gebracht. Er ließ sich auf das Zuschauen eines fiktionalen Geschehens ein. Die ihm aufgenötigte Rolle eines Voyeurs bringt den Zuschauer dabei aufgrund der extremen Realitätsnähe des Filmes in eine schwierige Situation. Wenn er sich am Geschehen beteiligt, indem er zuschaut, stimmt er damit stillschweigend dem fiktionalen, aber wie real wirkenden Gewaltakt zu. Der Zuschauer hat nun zwei Möglichkeiten: Er nimmt den Film als Fiktion auf und bleibt in der Zuschauerrolle oder er verweigert sich dieser. Wie die empirische Analyse von Beiträgen in Chatforen zeigt, ist eine Möglichkeit, in der Zuschauerrolle zu verbleiben, die Identifikation mit dem Opfer. Wie einer der Zuschauer schreibt, spüre er die Misshandlungen am “eigenen Leib”: “Und wenn der Vergewaltiger am Ende auf Alex einschlägt und tritt, dann meint man, jeden dieser Schläge, Tritte am eigenen Leib zu spüren.” (Willmann 2002) Die Fiktionalität der Gewalt, die durch die Realitätsnähe aufgehoben wird, wird nun auch vom Zuschauer, obwohl fiktional, real gespürt. Eine solche Identifikation mit dem Opfer beruht auf Empathiefähigkeit. Doch auch wenn keine Empathie empfunden würde, ist die Identifikation mit dem Opfer eine Möglichkeit, der moralisch verwerflichen Interaktionssituation, die der Regisseur dem Publi- kum aufzwingt, zu entgehen. Denn die Zuschauer, die die Schläge selbst spüren, sind auch Opfer der Gewalt. So gelingt es, sich der aufgezwungenen Zustimmung zur Gewalt zu entzie- hen – man ist nicht einer, der dem Gewaltakt insgeheim zustimmt, sondern genötigt, ihn zu erleiden. Die zweite Möglichkeit mit der ihnen aufgenötigen Voyeursrolle umzughen, nämlich sie zu verweigern, wählten jene Premierengäste, die den Kinosaal verließen. Sie waren nicht gewillt, den fiktonalen Rahmen aufrechtzuerhalten. Weil die Interaktion mit dem Regisseur zeitversetzt und nicht direkt ist, konnten sie Noé nicht bei dessen Arbeit dazu auffordern, den Film “rahmengerecht” zu inszenieren. Insofern ist der Kommunikationsabbruch eine Möglich- keit, der aufgezwungenen Teilhabe an der Gewalt durch Zuschauen zu entgehen. Beide Formen mit den auferlegten Rollenerwartungen umzugehen, ergeben sich aus den, dem Zuschauen spezifischen, Interaktionsmöglichkeiten. Ihre Besonderheit besteht in einer Art eingefrorener Wechselseitigkeit. Denn der Film bezieht den Zuschauer als eine anonyme Grö- ße ein, er muss die Verstehensprozesse und Reaktionsformen des Zuschauers antizipieren, ohne auf diese sicher zählen zu können. Die Wechselseitigkeit ist also von Seiten des Produ- zenten als eine ideelle konzipiert. Dennoch handelt es sich um eine wechselseitige Beziehung zwischen Produzent und Rezipient. Nur erfolt bei ihr die Interaktion zeitversetzt und anonym. Möglich ist die zeit- und raumversetzte Wechselseitigkeit dadurch, dass sie über ein Kommu- nikat vollzogen wird. Das Kommunikat, auf das sich beide beziehen, ist das “Bildervlies” (Pra- se 1997). Es wird als Kommunikationsangebot vom Produzenten hergestellt und vorgeführt. Indem der Zuschauer es betrachtet, kommt eine Interaktion mit dem Produzenten zustande. Sie wird über die vorgeführten Filmbilder vollzogen, hinter denen ein Sinn vermutet wird, den die Produzenten (Regisseur, evtl. Drehbuchautor, Schauspieler selbst) den Bildern gaben. Von der Vorführung zur Aufführung 177 3. Die Besonderheit digitaler Interaktivität aus bildtheoretischer Perspektive Im Unterschied zum Film handelt es sich bei den digitalen interaktiven Bildern nicht um ein textförmig abgeschlossenes Kommunikat. Sondern die Bilder entstehen im handelnden Voll- zug und sind nur vorhanden, solange der Nutzer mit der graphischen Oberfläche interagiert. Insofern ist es sinnvoll, statt von einem Bildervlies – ein Vlies ist ein begrenztes Stück Gewebe – von einem Bilderfluss zu sprechen. Der Fluss wird aufrechterhalten durch die Interaktanten, die telepräsent sein müssen, damit der Fluss dauernd gespeist wird – was den Sogcharakter von bestimmten interaktiven digitalen Medien, wie kollaborativen Online-Computerspielen, erklärt. Das Medium, in dem die digitale Wirklichkeit generiert wird, ist mithin ein, für die Wahrneh- mung generierter, Bilderfluss. Er ist nicht sichtbar im Sinne einer Betrachtbarkeit für sich selbst, wie ein Film, sondern die Bilder entstehen im Moment des Handelns und sind nur in Zusammenhang mit dem Handeln zu verstehen. Denn die Wirkungen der Interaktionen bedin- gen den Fortgang der Bilder. Insofern sind sie wirklichkeitsgenerierend oder performativ, d.h. sie erzeugen Wirklichkeit durch sich selbst und schaffen eine eigene Faktizität im Vollzug der Interaktion. Der Status der Performativität rückt den Aspekt der Wahrnehmung des Bildes in den Vorder- grund – in Abgrenzung zur Interpretation, wie bei repräsentativen Bildern. Performative Bilder haben eine ästhetische Qualität, sie sind keine Zeichen: “Eine Handlung oder ein Ereignis besitzt Performanz, wenn ihr Vollzug oder das Geschehen für die Wahrnehmung besteht.” (Wiesing 2004, S. 126) Insofern steht bei der Performativität nicht die Re-präsentation im Vor- dergrund, die außerhalb des Bildes gegebene Wirklichkeit, wie z.B. bei den Bildern einer Re- portage oder eines Nachrichtenfilms, sondern die Präsentation, der performative Wirklichkeits- vollzug des Bildes als Visualisierung interaktiv geschaffener Ereignisse. Unter dem Konzept der Performativität werden Wahrnehmungsprozesse nicht in einem ästheti- schen Sinn aufgefasst (vgl. Fischer-Lichte 2004), als Verhältnis zwischen der wahrnehmungs- erzeugenden und der wahrnehmenden Seite (Krämer 2004). Sondern Aìsthesis sieht Krämer (ebd., S. 14f) als die, nicht ausschließlich medial bestimmten, Wahrnehmungsprozesse der Rezipienten, “und zwar soweit dieses Verhältnis so beschrieben werden kann, dass das, was ein Akteur hervorbringt, von Betrachtern auf eine Weise rezipiert wird, welche die Symbolizität und Ausdruckseigenschaften dieses Vollzugs gerade überschreitet” (ebd., S. 21; Hervorhebung durch Krämer). Dabei sind digitale Bilder nicht solche, die man betrachtet, sondern die man erzeugt durch Interaktion. Die Funktion der Repräsentation ist hingegen die, Kommunikation und Interaktion vom direk- ten, materialen Raum-Zeit-Bezug zu lösen – dies war die große Leistung der Massenmedien. Sie ließen die Welt zum global village werden. Doch sind die Bilder der Massenmedien mit Repräsentativität nicht immer vollständig zu erklären. Denn auch sie können wirklichkeitser- zeugend, also performativ sein. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn Realität für die Kamera in- szeniert wird, oder wenn, wie im obigen Beispiel, Fiktion so real dargestellt wird, dass sie in ihrem Repräsentanten aufzugehen scheint. Dann sehen uns, wie es Jean Baudrillard (1978) 178 Manuela Pietraß bereits früh beschrieb, die Bilder an. Ihre Funktion ist es nicht mehr, auf etwas zu verweisen, also zu repräsentieren, sondern etwas zu zeigen. Umgekehrt sind auch Bilder, die bei der digi- talen Interaktivität entstehen, nicht allein mit Performativität zu erklären. Denn wenn man digitale Bilder mit realen Sachverhalten verbindet, z.B. wenn das Anklicken des Feldes “Bestä- tigen” tatsächlich eine Veränderung auf dem Bankkonto auslöst, visualisiert das Bild den Akt des Einzahlens des Geldes am Kassenschalter der Bank, es ist repräsentativ. Insofern ist die Performativität der bei digitaler Interaktivität hervorgebrachten Bilder nicht hinreichend zur Erklärung der Besonderheit digitaler Interaktivität. Doch auch der zweite, von Wiesing ins Feld geführte, Punkt erklärt digitale Interaktivität nicht vollständig. Das in den performativen Bildern digitaler Interaktivität Sichtbare wird nach Wie- sing zu einem virtuellen physischen Objekt, das widerständig ist wie das materielle Objekt, weil es ebenfalls Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist. Denn es nimmt die physikalischen Eigen- schaften eines materiellen Objektes an, ohne jedoch diese zu sein (vgl. Wiesing 2004). Aus diesem Grund habe Handeln mit ihnen auch keine Folgen, weshalb Wiesing für das Handeln mit ihnen den Begriff “Probehandeln” verwendet (ebd., S. 125). Dabei lässt er jedoch außer Acht, dass nicht die Materialität allein entscheidend ist für den Probestatus. Silvia Seja, die sich mit dem Thema ebenfalls befasst, kommt aus dem gleichen Grund auch nicht ganz an den entscheidenden Punkt. Sie definiert Probehandlungen mit interaktiven Bildern als Handlungen, “die in der aktuellen Wirklichkeit folgenlos sind” (2009, S. 157). Zur Erklärung des Begriffs Probehandeln befasst sie sich mit Ansätzen, die das Probehandeln auf die Imagination bezie- hen, z.B. Arnold Gehlen, der im imaginativen Vorentwerfen von Bewegungsabläufen einen Grund für die anthropologische Sonderstellung des Menschen sieht. Solche imaginativen Pro- behandlungen sind für Seja “Gedankenexperimente”. Damit sie den gleichen Status wie das naturwissenschaftliche Experiment erhalten, wäre es notwendig “die ansonsten privat verblei- benden Fantasien und Gedanken […] in eine Art öffentliche Probehandlung oder objektives Gedankenexperiment zu transformieren” (ebd., S. 176). Dies sieht Seja mit der Interaktivität gewährleistet, weil dann die verwendeten Gegenstände nicht mehr nur vorgestellt, sondern “handhabbar” würden (ebd.). Mit der Sichtbarmachung von Probehandlungen durch die visuel- le Interaktivität digitaler Bilder weist Seja auf einen wichtigen Punkt hin, nämlich die Visuali- sierung der gedanklichen Vorhaben im Bilderfluss. Doch hinsichtlich des Wirklichkeitsstatus der Handlungen mit Bildern führen diese Überlegungen nicht weiter. Außerbildliche Folgen sind beim Handeln mit Bildern dann möglich, wenn eine direkte Referenz des Bildes mit der Realität besteht. So hat die Überweisung von Geld oder der Aufenthalt des eigenen Avatars in einem virtuellen Lern- oder Konferenzraum mit einem Probestatus des Handelns nichts zu tun. Sejas Ansatz ist ebensowenig wie jener von Wiesing mit der reinen Sichtbarkeit von Bildern geeignet, die Medialität digitaler Interaktivität zu erfassen, weil beide den Aspekt des Wirk- lichkeitsbezuges der digitalen Bilder nicht beachten. Wiesing entgeht diesem argumentativen Dilemma, indem er am Ende seines Beitrages die Bilder von Computerspielen als ideale Realisierung von Performativität und Probehandeln zugleich sieht, und andere Bilder nicht berücksichtigt. Doch besitzt das Probehandeln bei Computerspielen vor allem deswegen Probecharakter, weil alles Spiel Probecharakter besitzt. Insofern ist der Probecharakter kein Status des Bildes, sondern des Wirklichkeitsbezuges, für Von der Vorführung zur Aufführung 179 den dieses verwendet wird. Letzerer ergibt sich aus dem Interaktionsrahmen, der den Status alles dessen, was innerhalb des Interaktionsrahmens stattfindet, festlegt. Also nicht, weil es Bilder sind, hat das Handeln keine Folgen, sondern weil es gemäß der Interaktionsvereinba- rung keine Folgen haben soll. Den Status des Probehandelns im Unterschied zwischen Reprä- sentation und Performativität zu begründen, macht damit keinen Sinn. Es ist der Verwen- dungszweck eines Bildes, welches seinen Probecharakter zulässt. Der Verwendungszweck wird durch den Interaktionsrahmen bestimmt, ist dieser Spiel, so sind auch die Bilder dem Spiel zuzurechnen, dienen die Bilder dem Austausch über bestimmte Themen, wie auf einer Netzwerkplattform, so ist der Interaktionsrahmen der Austausch unter “Freunden”. Versteht man diese Freunde auch in der Realität als solche, ist es ein anderer Rahmen, als der anonyme Austausch mit jenen „Freunden“, die lediglich Gleichgesinnte sind. Insofern gilt für die Interaktion mit Film- wie mit Computerbildern, dass der Interaktionsrah- men bestimmt, welchen Wirklichkeitsstatus die Bilder besitzen. Er ist ihnen nicht inhärent. Dennoch weist Wiesing allen Bildern, die bei der digitalen Interaktivität entstehen, einen Pro- becharakter zu. Zu lösen ist das Problem, wenn man nochmals den Rahmenansatz Goffmans betrachtet. Rahmen basieren auf “Modulationen”, was die Transformationsweise bezeichnet, die einem Rahmen zugrunde liegt. Modulationen sind “ein System von Konventionen, das eine primär sinnvolle Tätigkeit in etwas transformiert, was dieser Tätigkeit nachgebildet ist, von den Beteiligten aber als etwas ganz anderes gesehen wird” (Hettlage 1991, S. 138). Goffman nennt insgesamt fünf Modulationen, darunter das “So-Tun-als-ob”, das etwas in sein Abbild verwandelt, und die “Sonderausführungen”, wie Proben, Vorführungen, bei denen eine Aktion für ihre Durchführung im Ernst aufgeführt wird. Solche Transformationsweisen können in unterschiedlichen sozialen Situationen ihre Anwendung finden und damit einen typischen Charakter entwickeln, der zeigt, wie mit einer bestimmten Modulation in einer bestimmten sozialen Situation umgegangen wird. Danach wäre beim Computerspiel zwischen dem, was ein solches Computerspiel typischerweise auszeichnet, und dem Als-ob-Charakter des Spiels als die ihm zugrundeliegende Modulation zu unterscheiden. Wenn Wiesing nun dem Computer- spiel einen Probestatus zuordnet, dann würde damit sein Als-ob-Charakter aufgeweicht. Probe- handlungen sind nach Goffman etwas, das für den Ernstfall ausgeführt wird. Insofern rückt Probehandeln das Spiel in die Nähe der Realität, denn das Spiel kann zwar für Realität einü- ben, aber es stellt keine detailgenaue Probe für dieselbe dar. Jedoch lässt das Probehandeln auch alle anderen digitalen Interaktionen in diesem Licht des übenden Vorausgreifens erschei- nen, d.h. es gibt ihnen einen gewissen Unverbindlichkeitsstatus. Dies ist bildungstheoretisch gesehen relevant, denn damit sind in Bezug auf bestimmte Sachverhalte Weltverhältnisse im- pliziert, die mehr oder weniger angemessen sein können, beispielhaft genannt seien Gewalt- handlungen im Spiel bis hin zur Folter. Hier lässt die Annäherung des Spiels an die Realität bzw. der Realität ans Spiel, die durch das Probehandeln entsteht, die Frage nach dem “Wozu” der Medienbildung, virulent werden. 180 Manuela Pietraß 4. Die Materialisierung der digitalen Interaktivität im Bild als “Aufführung” Alle Modulationen, die für ein Publikum erzeugt werden, besitzen einen Aufführungscharakter, und damit auch all jene Rahmen, denen Modulationen zugrunde liegen. Insofern ist auch das Probehandeln eine Aufführung, und es sollen dementsprechend im Folgenden digitale Interak- tionen unter Perspektive des “Aufführungsrahmens” (Goffman 1993) betrachtet werden. Bei einer Aufführung wird “etwas” zur Aufführung gebracht. Dies kann ein Drama sein, ein Ritual oder eine institutionalisierte, soziale Interaktion wie eine Vermählung. Digitale, interaktive Bilder haben insofern einen aufführenden Charakter, als sie hervorgebracht werden von den Handelnden und von allen an der Handlung Beteiligten im Bilderfluss betrachtet werden kön- nen. Die situativen Aspekte einer “Aufführung” verweisen auf den jeweiligen typischen Kon- text, in dem die Bedeutung einer Interaktion hervorgebracht wird. Das wesentliche Kriterium für einen “Aufführungsrahmen” ist das Vorhandensein eines Publikums und einer aufführen- den Person. Bei diesem Rahmen handelt es sich um “eine Veranstaltung, die einen Menschen in einen Schauspieler verwandelt, und der wiederum ist jemand, den Menschen in der ‘Publikumsʼ-Rolle des langen und breiten ohne Anstoß betrachten und von dem sie einnehmendes Verhalten erwarten können.” (Goffman 1993, S. 143) Die beteiligten Interaktanten sind also die Aufführenden und deren Publikum. Aufführungen verlangen nicht notwendig die Kopräsenz aller Interaktionspartner, auch Film und Fernsehen sind Aufführungen. Letztere unterscheiden sich von den direkten Aufführungen, wie Vorträge, Sportwettkämpfe oder das Theater, dadurch, dass die Rollenerwartungen, die an die Interakti- onspartner gestellt werden, nicht direkt einforderbar sind, weil kein zeitlich-räumlich gemein- samer, situativer Rahmen besteht, sie sind Vorführungen. Dass dies zu Problemen bei der Ak- zeptanz der Zuschauerrolle führen kann, wurde vorangehend am Beispiel des Films Irreversi- bel erläutert. Aufführungen besitzen eine Art Skript, nach dem sie stattfinden. Die “Inszenierung”, welche die Vorbereitung betrifft, kann von der “Aufführung”, welche das Ereignis des Vortrages be- schreibt, differenziert werden – eine, aus der Theaterwissenschaft stammende, Unterscheidung (Fischer-Lichte 2004, S. 328ff.). Insofern haben Aufführungen etwas von einer Inszenierung an sich, ohne aber dass dieser Inszenierung jenseits des institutionalisierten Rahmens ein festes Etwas zugrunde liegen muss, wie z. B. ein Theaterstück. Sondern das zur Aufführung Gebrach- te ist momentan, es folgt einem Drehbuch, aber entsteht erst in ihm, während das Drehbuch oder auch ein Vorlesungsskript unabhängig von ihrer Aufführung noch immer vorhanden sind. Dementsprechend sind Computerspiele durch ihre, in narrativen Strängen eingebetteten, Hand- lungsoptionen als eine Art Drama vorhanden (Inszenierung), und sie werden im Handeln als singuläres Ereignis realisiert (Aufführung). Hier wird nun erkennbar, worin die Besonderheit einer Performativität von Filmbildern liegt. Der Film ist im Unterschied zum Computerspiel nicht eine Aufführung, bei der die Interaktanten eingreifen können als Folge des performativen Charakters einer Aufführung. Sondern wenn Filmvorführungen performativ sind, sind sie es Von der Vorführung zur Aufführung 181 nicht in Bezug darauf, dass sie durch sich selbst hervorgebracht werden, wie bei der digitalen Interaktivität, sondern in Bezug darauf, dass sie jenseits ihrer Repräsentativität Wirklichkeit erzeugen. So ist die Übernahme der Voyeursrolle beim Film Irreversibel performativ in Bezug auf die beim Zuschauer stattfindenden Deutungsprozesse, nicht aber in Bezug auf den Gewalt- akt, dieser bleibt repräsentativ. Der Aufführungscharakter der Bilder beim digitalen Handeln veranlasst Florian Rötzer dazu, einen prinzipiell “ludischen” (Rötzer 1995) Charakter unserer Gesellschaft zu vermuten. Dieser Gedanke soll hier näher betrachtet werden, weil Rötzer die Ludizität aus dem, vorliegend so bezeichneten, Bilderfluss ableitet. Sein Ausgangspunkt ist die Zuschauerperspektive, die man auf ein Spiel einnehmen könne, wodurch das Spielen und die Spieler unter dem Charakter von Schauspiel betrachtet werden könnten. Andere Spieler würden dabei zu “Spielzeugen”, womit verknüpft sei, dass normative Grenzen bestehen, wie weit man als Spieler im Spiel gehen kann. Die Distanz zu einem Geschehen ergibt sich aus der Annäherung an die Grenzen zur Realität, z.B. wenn man mit einer durch das Internet betreibbaren Schießanlage echte Tiere in der freien Wildbahn zur Strecke bringt oder wenn das Spiel Paintball, bei dem man Menschen mit Farbe beschießt, lediglich digital ausgeführt wird. Distanz entsteht in beiden Fällen durch die Media- lität. Wo durch Medien eine Distanz zu realen Ereignissen hergestellt wird, insbesondere durch das Fotografieren und Filmen mit Kamera und Mobiltelefon, sieht Rötzer den Schritt zu einer generell ludisch eingestellten Gesellschaft vollzogen. Deswegen wird auch vor Gewalt nicht Halt gemacht, vom Happyslapping bis zu gefährlichen Gewaltverbrechen werden Ereignisse gefilmt und ins Internet gestellt. Der filmende Mittäter wird zu einer Art Regisseur, der schon bei der Tat daran denkt, wie diese im Bild für die anderen aussehen könnte. Wichtig ist vorliegend ein Aspekt, auf den Rötzer eher beiläufig aufmerksam macht: Durch die Herstellung des Bilderflusses wird das Erlebnis kommunizierbar auch mit jenen, die daran nicht unmittelbar beteiligt sind. Dabei wird eine, aus der, durch das Bild grundsätzlich beste- henden, ästhetischen Distanz heraus, neue Perspektive auf das Ereignis ermöglicht: Diese Per- spektive verunwirklicht das Geschehen, indem sie den Abstraktionsgrad der Beteiligung an ihm erhöht. Denn man kann sich “zu” dem Ereignis stellen, so dass aus einer unmittelbaren eine mittelbare Beteiligung wird. Rötzer begründet dies mit Helmuth Plessners exzentrischer Positionalität des Menschen. Einzuwenden ist jedoch, dass sich der Mensch nicht nur zu sei- nem Körper und dessen Eingebundensein in die Welt stellt, wie dies Plessner beschreibt, son- dern im Bild wird die exzentrische Positionalität selbst realisiert, weil letztere Voraussetzung dafür ist, Welt im Bild betrachten zu können. Insofern sollte man Rötzers Vorschlag spezifizie- ren: Es ist der in digitaler Interaktion hervorgebrachte Bilderfluss, welcher das prinzipiell Lu- dische realisiert. Denn er vermittelt die digitale Interaktion im Bild, so dass diese einen Auf- führungscharakter erhält, und dabei die im Handeln Zuschauenden in Distanz zum Geschehen setzt. Dies soll folgend hinsichtlich der Bedeutung für die Frage nach den damit gegebenen Implikatidnen für Medienbildung näher ausgeführt werden. 182 Manuela Pietraß 5. Bildungstheoretische Implikationen von digitaler Interaktivität Rötzer kommt mit dem Ludischen auf einen wichtigen Aspekt, doch gelingt es mit den von ihm gewählten Konzepten nicht zu begründen, worin die Problematik der mit dem Ludischen gewonnenen Distanz besteht. Er setzt Unvermitteltheit mit Realität und mediengetragene Dis- tanz mit Spiel gleich, was man insofern akzeptieren kann, als Medien grundsätzlich eine ästhe- tische Distanz konstituieren. Dass dies aber nicht hinreichend erklärt, worin das Neue mit Hilfe digitaler Interaktivität konstituierter Kommunikate besteht, wird daran erkennbar, dass Rötzer schließlich in der Machtausübung die Antwort auf die von ihm gestellte Frage nach einer gene- rellen Ludizität unserer Gesellschaft sieht. Macht aber ist weder ein Wesensmerkmal noch ein Konstituens von Spiel, wie Rötzer selbst am Anfang seines Beitrages vermerkt, was seine Fra- ge nach dem Ludischen als Wesensmerkmal letztlich verneinen würde. Rötzers Beitrag ist vorliegend dennoch aufschlussreich, weil er, aus bildtheoretischer Perspek- tive, ebenfalls zeigt, dass durch den bei digitalen Interaktionen entstehenden Bilderfluss eine veränderte Haltung zur Wirklichkeit gewonnen wird, die im Zuschauen der Interaktionen be- steht. Dabei erweist sich das Konzept des Spiels jedoch als unzureichender Zugang, auch des- wegen, weil das Spiel selbst Träger in digitaler Interaktion hergestellter Kommunikate ist. Folglich mündet diese Argumentation darein, dass das Ludische Wesensmerkmal des Ludi- schen oder sie lässt die Frage zu stellen, warum ein und dieselbe Medialität, nämlich jene digi- taler Interaktivität, auch dann ludisch ist, wenn nicht gespielt wird. Lösbar ist dieses argumen- tative Dilemma dann, wenn man die Distanz technischer Medialität aufgrund dessen, dass Medien Wahrnehmung zum Gegenstand machen, als eine ästhetische versteht, die als solche eine Nähe zum Ludischen besitzt. Dann aber ist nicht die Gesellschaft ludisch, sondern das Ludische Bestandteil jeder Medialität, und die Frage, ob deswegen die Gesellschaft ludisch sei, noch offen. Die vorgestellten Ansätze für die hier gestellte Frage nach der Medialität digitaler Interaktvität erweisen sich damit als zu unspezifisch, um die besondere Medialität digitaler Interaktivität zu erfassen. Wie vorangehend herausgearbeitet, wird durch die digitale Interaktion ein Bilderfluss geschaffen, der Handelnde kann diesen betrachten und sieht sein eigenes Handeln darin visua- lisiert. Ein technisch weit ausgereiftes Beispiel für den Bilderfluss ist das Computerspiel mit seiner Sonderform des Lernspiels; aber auch Simulationen für den Ernstfall oder virtuelle Lern- und Konferenzräume, die man mit eigenen Avataren bevölkert, sind Formen des Han- delns mit digitalen Bildern. Ein weiteres Beispiel, bei dem zwar nicht animierte Bilder im Bilderfluss entstehen, aber eine mit Bildern visualisierte Kommunikation stattfindet, ist die Darstellung der eigenen Person auf einer Netzwerkplattform (vgl. Autenrieth 2014). Alle diese Formen ermöglichen das Zuschauen des eigenen Handelns und der direkten Reaktion anderer auf dasselbe. Da der Film genau dies nicht ermöglicht, weil er nur eine eingefrorene Interakti- vität erlaubt, führt der Vergleich zwischen vorgeführten und aufgeführten Bildern, also Film und interaktiven, digitalen Bildern nicht weiter. Sondern es ist zu betrachten, worin der Unter- schied zwischen dem Zuschauen des eigenen Handelns und jenem Handeln liegt, das ohne Medien stattfindet. Bei letzterem arbeitet sich der Handelnde in direkter Wechselseitigkeit an Von der Vorführung zur Aufführung 183 Menschen und Dingen ab, nicht an kommunizierten Menschen und Dingen. Insofern besteht der Unterschied zwischen den direkt ausgeführten Interaktionen und dem Zuschauen von Inter- aktionen sowie dem Zuschauen beim eigenen Ausführen von Interaktionen, was folgend näher ausgeführt werden soll. Bei der digitalen Interaktion, also dem Zuschauen beim eigenen Ausführen von Interaktionen, beziehen sich alle Teilnehmer auf den Bilderfluss. Sie beziehen sich nicht direkt-wechselseitig aufeinander, wie bei der nicht-medial basierten Interaktion, sondern vermittelt im Bilderfluss. Dadurch wird eine gegenüber der direkten Interaktion distanzierte Perspektive geschaffen. Denn die Interaktionspartner tauschen sich vermittelt über das Medium aus, das im Unter- schied zum direkten, sprachlichen Austausch nicht in unmittelbarer raum-zeitlicher Verbin- dung mit den Interaktionspartnern steht. Dadurch wird eine Distanz geschaffen, die es den Partnern ermöglicht, zu beobachten, wie andere auf die eigenen Handlungen und Äußerungen reagieren, ohne selbst unmittelbar involviert zu sein. So besteht die Möglichkeit, das Handeln von der eigenen Person abzulösen, weil es dieser nur bedingt zugeschrieben werden kann. Bei der direkten Interaktion mit Menschen werden gegenseitige Erwartungen, die die Interakti- onspartner aneinander stellen, direkt ausgehandelt. Alle Zuschreibungen an den Interaktions- partner können in einen unmittelbar an diesen gestellten Anspruch münden, weil die Interakti- onspartner als ganze Person involviert sind. Da bei der direkten Interaktion jeder direkt eingrei- fen kann, können Macht, Position, der äußere Eindruck, das Bestehen der Dinge beschädigt werden. Die Trennung zwischen dem, was man nach außen zeigt, und dem, was man verbirgt, ist folglich dauernd bedroht. Deswegen bestehen Formen der Kontrolle von Informationen über die eigene Person. Durch sie wird das, was offen gezeigt wird und ergründbar ist, Gepflogen- heiten, Ritualen, Normen unterworfen. Krankheit, Geburt, Tod, das Zeigen tiefer Gefühle, besitzen eigene Interaktionsrituale und -räume, die es den Betroffenen ermöglichen, ohne Be- schädigung ihrer Identität nach außen zu agieren, auch wenn die eigene Kontrolle verlorengeht. Dies zu entdecken und zu beschreiben war eine herausragende Leistung von Goffman (z.B. 1994; 2003). Anders als die in einer unmittelbaren Situation Handelnden können die mit ande- ren digital Interagierenden zu ihren Stellvertretern im Bilderfluss in Distanz treten. Damit wächst die Möglichkeit der Kontrolle über das, was man zeigt und verbirgt. Selbst wenn ein digitaler Stellvertreter das Alter Ego der realen Person wäre, es stünde in einer weit größeren inneren Entfernung zur realen Person, als jene Person, die man in der direkten Interaktion zeigt, weil der digitale Stellvertreter mehr Möglichkeiten besitzt, sich zu verstecken. Denn das visuelle Alter Ego steht lediglich in einer zu einer Person herzustellenden Beziehung, während jede Seite, die man in der direkten Interaktion von sich selbst offenbart, leiblich gebunden und damit unverhandelbar ist in ihrer direkten Beziehung zu einer anderen Person. Weil also der Netzwerkakteur nicht in derselben Verbindlichkeit wie jener der unmittelbaren Realität steht und sich damit der Zuschreibung durch andere leichter entziehen kann, wird im digitalen Raum eine distanzierte Präsenz ermöglicht. Die exzentrische Positionalität, welche Rötzer als Basis für das Verständnis der ludischen Ein- stellung heranzieht, entsteht damit durch einen zweifachen Bruch. Der erste Bruch liegt in der Uneinholbarkeit der eigenen, leibgebundenen Positionalität. Sie wird im digitalen Raum ein 184 Manuela Pietraß zweites Mal gebrochen durch die Distanz zwischen dem visuellen Körper im Netz und der eigenen leiblichen Gebundenheit im Hier und Jetzt. Beide sind miteinander verbunden durch ihre Erfahrung in einem Leib. In der virtuellen Realität findet die leibliche Erfahrung nicht direkt sinnlich, sondern “gnostisch” (Waldenfels 2002) statt durch die Bedeutung, die den immateriellen Dingen und Ereignissen zugeschrieben wird. Denn indem sich Interaktion als Kommunikation mit digitalen Zeichen vollzieht, ist die Sinnlichkeit von Medienerfahrung in Bezug auf die den Wahrnehmungsreizen zugewiesene Bedeutung zu sehen. Nicht die sinnliche Empfindung in Bezug auf die wahrgenommenen Objektqualitäten spielt hierbei eine Rolle, sondern die diesen Qualitäten zugeschriebene Bedeutung für die Durchführung einer Interakti- on in der virtuellen Realität. Diese kann im Sinne eines gnostischen Tastens erfahren werden, indem sie in leiblichen Empfindungen beim Schreck, bei der Freude, bei Scham spürbar wird. Letzteres bedingt jedoch, dass der virtuellen Realität jener Eindruck direkter Verbindlichkeit und Realitätssicherung fehlt, der über die leibliche Kommunikation hergestellt wird, denn hier stattfindende Interaktionen müssen in die Verbindlichkeit des in direkter Interaktion stehenden Egos übersetzt werden (vgl. Pietraß 2010). Diese Übersetzung findet in unterschiedlichen Gra- den statt, je nachdem wie wirklich eine virtuelle Interaktion ist. Die unterschiedlichen Grade bestehen in ihrer Distanz zum Nutzer, begründet in den Möglichkeiten, die anderen Interakti- onspartnern zur Verfügung stehen, digitale Interaktionen einem bestimmten Nutzer zuzu- schreiben. Insofern gilt auch hier weiterhin, dass virtuelle Wirklichkeiten fiktional oder real sein können, aber dieser Unterschied verliert seine Klarheit angesichts dessen, dass virtuelle Wirklichkeiten performativ sind. Es sind also “vertrackte” Wirklichkeitsverhältnisse, die im virtuellen Interaktionsraum entste- hen und die bildungstheoretischen Implikationen der Medialität digitaler Interaktivität begrün- den. Ein geeigneter medienpädagogischer Begriff, um das Wozu von Medienbildung zu erfas- sen, ist das “Medialitätsbewusstsein”. Er lässt sich damit anschaulich begründen, dass die vir- tuelle Wirklichkeit ein von der direkten Interaktion unterschiedener Erfahrungsraum ist. Dieser ist mit Foucault (1992) ein “heterotoper Raum”, was bedeutet, dass er nicht durch feste Gege- benheiten, sondern durch Relationen zu beschreiben ist, die sich aus der “Lagerung” von Ob- jekten in Bezug zueinander ergeben. Foucault erklärt diese Besonderheit am Beispiel des Spie- gels, der einen zusätzlichen Raum erzeugt zu dem, in dem man sich befindet. Seine Objekte sind gelagert in einer zweiten Wirklichkeit, die die gespiegelte Wirklichkeit als solche sichtbar macht. Erst also, indem er etwas Unwirkliches schafft, lässt der Spiegel Wirklichkeit sichtbar werden. Ein solcher heterotoper Raum ist nur in Relation zu anderen Räumen erfahrbar. An- dernfalls existierte kein anderer Raum, sondern nur der Raum hier. Das Bewusstsein für die damit bestehenden Grenzen und Übergänge zwischen digitaler und direkter Interaktion ist bildungstheoretisch bedeutsam. Ich will dies an zwei Beispielen verdeutlichen, der ästhetischen Moral, wie sie in Computerspielen praktiziert wird, und der verbalen Gewalt auf Netzwerk- plattformen. (1) Wie ist eine im Online-Spiel über die Spielerfigur ausgeführte Gewalthandlung pädago- gisch zu bewerten? Die ästhetische Moral wird im Freiraum der Folgenlosigkeit des Handelns praktiziert, bezieht aber zugleich ihre Maßstäbe aus der Welt der Folgenhaftigkeit des Han- delns. Denn eine andere Moral gibt es nicht, als eine, die sich an den Handlungsfolgen orien- Von der Vorführung zur Aufführung 185 tiert. Im Bereich des Ästhetischen verlangt dies die Bewertung der Handlungsfolgen im Modus des So-Tuns-als-ob. In einer von der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien in Auftrag gegebenen Studie (Pietraß 2014) konnte dementsprechend gezeigt werden, dass sich die spiel- immanent begründeten Urteile zu Entscheidungsoptionen in Spielen von jenen, die sich an der Wirklichkeit außerhalb des Spiels orientieren, in der Stufe der moralischen Urteilsfähigkeit unterscheiden. Medialitätsbewusstsein zeigt sich hier in der Art und Weise, wie Spielwirklich- keit und Realität ins Verhältnis gesetzt werden. (2) Als eine neue Form politischen Handelns wird die Beteiligung in Netzwerken gesehen, bei der vor allem Gruppen- und Meinungszugehörigkeiten und -ablehnungen hergestellt werden. Eine Problematik ist dabei das Abdriften in verbale Gewalt hin zu diffamierenden Angriffen (Kersting 2014). Dabei kann die eigene Abweichung von anderen, als akzeptiert bekannten, Positionen in einen unbestimmten Raum hinein tentativ formuliert werden. Durch Zustimmung bzw. Nichtbeachtung wird die Akzeptanz dieser Position erprobbar. Möglich ist dies, weil die Interaktion auf sozialen Netzwerken anonym praktiziert werden kann. Damit fehlt die Verbind- lichkeit direkter Interaktion. Dies erklärt, warum politische Kommunikation leicht in Diffamie- rungen umschlägt, denn der Akteur kann gefahrloser als in direkter Interaktion negative Kon- trolle riskieren. Medialitätsbewusstsein würde sich dort zeigen, wo den Akteuren verbaler Gewalt bewusst wird, welche Folgen die Rückbindung ihrer Positionen in den politischen Dis- kurs und in das politische Handeln der Realität besäße. An seiner moralischen Durchsetzbar- keit muss sich das messen lassen, was der Netzwerkakteur ausdrückt. Dazu genügt es eben nicht, dass man weiß, dass man sich in einem virtuellen Raum bewegt, sondern dass er eine Interaktionsfreiheit lässt, die in der Realität nicht praktizierbar wäre. Medienpädagogik steht angesichts der Bestimmung bildungstheoretischer Implikationen von digitaler Interaktivität vor der Aufgabe, das kategorial Neue digitaler Interaktivität, nämlich, dass Handeln über eine visualisierte Oberfläche vollzogen wird, in ihr Denken aufzunehmen. Wie gezeigt werden konnte, lässt sich erst so bestimmen, worin die Bedingung der Möglichkeit von Bildung durch digitale Interaktivität besteht: Sie liegt in der Erzeugung einer anderen Form von Interaktionen, deren Freiheits- und Verbindlichkeitsgrade sich von jenen direkter Interaktion unterscheiden. Digitale Interaktivität besitzt einen prinzipiellen Charakter der Un- verbindlichkeit, der die Notwendigkeit von Medienbildung in Form eines Medialitätsbewusst- seins begründet. 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Medienbildung als prozessanalytische Perspektive 189 Medienbildung als prozessanalytische Perspektive auf Transformationen in sozio-medialen Kollektiven Patrick Bettinger Zusammenfassung Der Beitrag entwirft, basierend auf einer praxeologisch fundierten Bildungstheorie, einen Ansatz von Medienbildung, der Bildungsprozesse als Transformation in sozio-medialen Kollektiven auf- fasst. Damit soll dem Anspruch begegnet werden, dass Bildung in Zeiten fortschreitender Media- tisierung der Lebenswelt hinsichtlich ihrer Medialitätslagerung zu begreifen ist. Hierzu werden Diskussionsstränge aus der Bildungstheorie, der Praxistheorie sowie der Akteur-Netzwerk- Theorie zusammengeführt. Zentral ist dabei die Annahme, Medienbildung als Prozessgeschehen zu betrachten, innerhalb dessen sich nicht nur aufseiten menschlicher Akteure Veränderungen der Lebensorientierung vollziehen, sondern sich diese erst durch den konsequenten Einbezug der sich ebenfalls verändernden medialen Artefakte adäquat erfassen und beschreiben lassen. Auf dieser Grundlage wird ein spezifischer Ansatz von Medienbildung umrissen, der den Blick auf das Wechselverhältnis von Menschen und Medien richtet. 1. Einleitung Menschen bauen im Zusammenspiel mit Medien Orientierung auf; sie sind sowohl passiv als auch aktiv im medialen Geflecht beteiligt. Sie eigenen sich Medien an, bewegen sich mehr oder weniger selbstverständlich in mediatisierten Welten und entwickeln spezifische medien- bezogene Praktiken. Dabei geht auch von Medien an sich ein gewisser Aufforderungscharakter aus, der bspw. von Mediatisierungstheoretikern als mediale Prägkräfte beschrieben wird (vgl. Hepp 2013, S. 49ff.). Folgt man neueren sozialwissenschaftlichen Ansätzen, wird die Bezie- hung von Menschen und Medien als reziprokes Konstrukt verstanden, das von einseitigen Determinismen Abstand nimmt (vgl. Rammert & Schulz-Schaeffer 2002). Medien als elemen- taren Teil unserer Kultur zu begreifen wirft auch erziehungs- und bildungswissenschaftliche Fragen auf. Das Zusammenspiel von Menschen, Medien und Gesellschaft wird im pädagogi- schen Kontext unter anderem in Diskursen über Medienbildung verhandelt. Hierbei zeigt sich eine stark unterschiedliche Begriffsverwendung von Medienbildung (vgl. Jörissen 2011), die eine – nicht immer unproblematische – Vielfalt von Verständnissen offenbart. Das Komposi- tum Medienbildung wird im hier skizzierten Zugang nicht, wie oftmals der Fall, als rein prag- matisch orientierter Oberbegriff verwendet (vgl. Tulodziecki 2011, S. 27), sondern bezüglich seiner beiden Bestandteile Medien und Bildung differenziert betrachtet und als prozesshaftes Phänomen verstanden, das einer bildungs- und medientheoretischen Fundierung bedarf. Inso- fern versteht sich der Beitrag als medienbildungstheoretischer Versuch im Sinne einer Perspek- tive, die „,Bildung’ als transformatorisches Prozessgeschehen“ (Jörissen 2011, S. 220) begreift und dabei besonders den Aspekt der Medialität berücksichtigt. Als zentrale bildungstheoreti- 190 Patrick Bettinger sche Ein- und Abgrenzung werden Bildungsprozesse hier – in einer ersten allgemeinen Annä- herung – als Transformationen von Lebensorientierungen verstanden und insofern als eine Form der Veränderung, bei der neue Figuren von Selbst- und Weltverhältnissen entstehen (vgl. Koller 2012, S. 101). Diese Verhältnisse stellen in Form eines Zusammenwirkens der Subjek- tivitäts- und Objektivitätsdimension den Kern bildungstheoretischer Auseinandersetzung dar (vgl. Marotzki 2007, S. 176). Bildungsprozesse müssen demnach unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen sozialen und historischen Rahmung erschlossen werden und können nicht allein auf die Subjektebene reduziert werden. Die gegenwärtigige gesellschaftliche Entwicklung legt nahe, Bildung verstärkt im Hinblick auf die sich im Zuge der Verbreitung digitaler Medien verändernden sozio-kulturellen Wirklichkeitskonstruktionen (vgl. Hepp 2013) zu untersuchen. Als “Digitale Subjekte” (Carstensen et al. 2014) agieren Menschen im Zusammenspiel mit medientechnischen Artefakten, die sich mit ungeahnter Geschwindigkeit weiterentwickeln. Es entstehen im Zuge dieser Entwicklung neue Herausforderungen und Problemlagen sowie neue Möglichkeiten, solche zu bewältigen. So bilden sich differenzierte sozio-technische Praktiken heraus, die auf diese veränderte Anforderungslage reagieren, wie bspw. im Bereich der Er- werbsarbeit (vgl. Carstensen, Ballenthien, Winker 2014), aber auch im informellen Zusam- menhang ersichtlich wird (vgl. Schachtner & Duller 2014). Bezieht man hier eine Bildungsper- spektive im oben beschriebenen Sinne ein, stellt sich die Frage nach Zusammenhängen solcher sozio-technischen Praktiken und der Transformation von Selbst- und Welthaltungen. Der Bei- trag widmet sich diesem Gegenstandsbereich und entwirft ein spezifisches Verständnis von Medienbildung, das dem komplexen Wechselverhältnis von Menschen, Medien und Gesell- schaft gerecht werden möchte. Zunächst werden hierzu mit der Praxistheorie und der Akteur- Netzwerk-Theorie (kurz: ANT) zwei aktuelle bildungstheoretische Rezeptionslinien aufgegrif- fen und zueinander in Beziehung gesetzt. Hiervon ausgehend wird im Beitrag dargelegt, inwie- fern sich zwischen diesen beiden Rezeptionslinien Konvergenzen zeigen und welche medien- theoretischen Bezugspunkte die ANT aufweist, wodurch ein Zugang zur Medialität von Bil- dungsprozessen entworfen werden kann. 2. Praxeologie und Akteur-Netzwerk-Theorie als bildungstheoreti- sche Referenzpunkte und Fundament einer Medienbildungstheorie Das Fundament des im Folgenden darzustellenden Theorieentwurfs einer praxeologischen Medienbildungstheorie gründet auf der bildungstheoretischen Rezeption von zwei Theorie- strängen, die aktuell Einzug in den Fachdiskurs gefunden haben. Der unter 2.1 dargestellte, praxeologische bildungstheoretische Entwurf, wurde erst in den letzten Jahren als eigenständi- ge Linie der Bildungstheorie systematisch ausgearbeitet. Bildungstheorie und Praxistheorie zusammen zu denken schien – bis auf wenige Ausnahmen – längere Zeit keine vielverspre- chende Option zu sein, was wohl im wesentlichen auf die Rezeption der Praxistheorie zurück- zuführen ist, welche in der Vergangenheit in der Erziehungswissenschaft überwiegend hin- sichtlich ihrer Erklärungsleistung für gesellschaftliche Stabilität und die Reproduktion von Ungleichheit herangezogen wurde. Dies betrifft insbesondere das Werk von Pierre Bourdieu, Medienbildung als prozessanalytische Perspektive 191 welches mit dem Habituskonzept das wohl umfassendste Repertoire für erziehungswissen- schaftliche Ungleichheitsforschung liefert. Erst mit den Arbeiten von Wigger (2007; 2009) und insbesondere dem Entwurf einer praxeologischen Bildungstheorie Rosenbergs (2011) wurde umfassend gezeigt, wie auch Praxis- und Bildungstheorie in ein fruchtbares Verhältnis gesetzt werden können, indem der Habitusansatz nicht mehr länger nur als statische Kategorie verhan- delt wird, sondern als dynamisches Konzept. Der Beitrag knüpft an diese Linie der praxeologi- schen Konzeption von Bildung an, bezieht sich aber auch – über Bourdieu hinaus gehend – auf neuere Arbeiten, die in konsolidierender Absicht Praxistheorien als eigenständiges For- schungsprogramm verstehen und die Gemeinsamkeiten verschiedener praxeologischer Ansätze konturieren (vgl. Reckwitz 2003; Schäfer 2013; Schmidt 2012; Hillebrandt 2014). Neben die- sem Bezugspunkt wird unter 2.2 die Rezeption der ANT unter bildungstheoretischen Gesichts- punkten aufgegriffen. Hier konnte vor allem Nohl (2011) überzeugend darlegen, dass die Be- rücksichtigung der materiellen Dimension bei der Untersuchung von Lern- und Bildungspro- zessen auf Basis der ANT vielversprechende Möglichkeiten eröffnet. Hinweise auf die An- schlussfähigkeit der ANT für medienbildungstheoretische Ansätze finden sich zudem bei Schäffer (2007), der praxeologische Anknüpfungspunkte betont. Diese beiden Linien werden nachfolgend dargestellt um anschließend Bezüge herzustellen, welche die Grundlage des hier vertretenen Verständnisses von Medienbildung ergeben. 2.1 Erste bildungstheoretische Rezeptionslinie: Praxistheorie Mit ihren Überlegungen zur Verbindung von Bildungstheorie mit dem Habitusansatz Bourdi- eus haben in jüngerer Vergangenheit besonders Wigger (2007; 2009), Rosenberg (2011) und mit Blick auf Möglichkeiten der empirischen Rekonstruktion auch Geimer & Rosenberg (2013) gezeigt, dass der Anspruch qualitativer Bildungsforschung, Transformationen von Selbst- und Weltverhältnissen auch in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit zu erfassen, mit Bourdieus Theorie der Praxis eine vielversprechende Perspektive eröffnet. Genau wie der Bil- dungsbegriff setzt auch Bourdieus Habitusbegriff an der Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft an und geht von einem reziproken Verhältnis beider Ebenen aus (vgl. Wigger 2007, S. 172). Eine zentrale Prämisse der praxeolgischen Bildungstheorie ist die Annahme, dass Bildungsprozesse als Transformationen des Selbst- und Weltverhältnisses im Sinne von Habitustransformationen verstanden werden können (vgl. Rosenberg 2011, S. 73ff.). Eine solche Lesart des Habitusansatzes, welche statt der Persistenz und der Statik der inkorporierten Dispositionen die Möglichkeiten des Stabilitätsverlustes in den Blick nimmt, findet vermehrt Einzug in die praxistheoretische Diskussion (vgl. Ebrecht 2004; Schäfer 2013). Auch wenn die Betonung des Habitusansatzes in den meisten Arbeiten Bourdieus auf der Erklärung von Stabi- lität und Reproduktion des Sozialen liegt, lässt sich eine andere Lesart des Ansatzes, welche habituelle Veränderungen im Sinne von Wandlungspozessen und Umbrüchen der Lebensorien- tierung in den Blick nimmt, begründen. Besonders Schäfer (2013, S. 38ff.) macht deutlich, dass Instabilität der Praxis eine – nicht nur bei Bourdieu – bislang stark vernachlässigte pra- xeologische Kategorie darstellt, obwohl sich in den verschiedensten Praxistheorien hierfür durchaus Ansatzpunkte finden lassen. Bourdieu selbst weist auf die Möglichkeit hin, dass spannungsreiche Konstellationen von Habitus und sozialem Feld denkbar sind, die ‘habituelle 192 Patrick Bettinger Irritationen’ nach sich ziehen können (Bourdieu & Wacquant 2006, S. 164). Zwar bilden Habi- tus und soziales Feld im Normalfall eine harmonische Beziehung, die von Bourdieu (2001, S. 146) als „Koinzidenzverhältnis“ bezeichnet wird, jedoch können Situationen auftreten, in de- nen bspw. durch veränderte Feldstrukturen die habituellen Denk-, Wahrnehmungs- und Hand- lungsschemata nicht mehr kongruent zu den Feldstrukturen sind. Hierdurch kann die relative Stabilität des Habitus brüchig werden und damit ehemals funktionale Praktiken scheitern (ebd., S. 204ff.). Dieses Szenario stellt eine grundlegende Figur der praxeologischen Bildungstheorie dar. Das Fundament dieses Aufsatzes kann somit als dynamisches Verständnis des Habitusan- satzes bezeichnet werden. Wie aktuell bspw. Rosenberg (2011) und auch Maschke (2013) in ihren Untersuchungen zeigen, sind solche habituellen Umbrüche auch empirisch rekonstruier- bar. Als potenzielle Ausgangspunkte für Habitustransformationen identifiziert Rosenberg (2011, S. 76ff.) drei zentrale Aspekte: (1) die Mehrdimensionalität bzw. die potenziell daraus resultie- rende mögliche Heterogenität des Habitus, (2) die Iterabilität der Praxis sowie (3) die schon von Bourdieu erwähnte Inkongruenz von Habitus und Feld. (1) Bildungspotenzial aus der Mehrdimensionalität des Habitus ergibt sich für Rosenberg insofern, dass durch Überlagerung unterschiedlicher Logiken der Praxis, die an unterschiedliche Erfahrungsräume gekoppelt sind und so unterschiedliche Habitusdimensionen hervorbringen, Spannungspotenziale entstehen, die schließlich eine Habitustransformation bewirken können. Eine ähnliches Argument führt Schäfer (2013, S. 118f.) an, wenn er gerade durch die fortschreitende Differenzierung moder- ner Gesellschaften die Herausbildung konfligierender habitueller Schemata konstatiert, die Instabilität des Habitus zur Folge haben können. (2) Die Iterabilität der Praxis, also deren per- formative Wiederholung und die damit verbundenen Möglichkeit des Andersseins, stellt eine weitere Möglichkeit für eine Habitustransformation dar. So betont Rosenberg (2011, S. 80), mit Verweis auf Butler und Derrida, dass „bei jeder Reproduktion des Habitus […] demnach ein Moment der Unruhe konstitutiv [ist]“. Der performative Charakter des Habitus bedingt demnach einen Aspekt der Kontingenz, welcher bislang aber in der Rezeption des Ansatzes weitgehend unterbelichtet geblieben ist. Auch diese Begründungsfigur findet eine Entspre- chung bei Schäfer (2013, S. 243), der wie Rosenberg betont, dass mit jeder Wiederholung einer Praxis auch deren Verschiebung möglich wird. (3) Die dritte Möglichkeit einer Habitustrans- formation besteht nach Rosenberg (2011, S. 80ff.) in einer Störung der Relation von Habitus und Feld. Neue und unbekannte Feldlogiken können bei solchen Konstellationen habituelle Dispositionen dysfunktional werden lassen, wodurch Habitustransformationen angestoßen werden können. Nimmt man die Vorstellung zum Ausgangspunkt, dass sich im Zuge gesell- schaftlicher Modernisierung Feldstrukturen mit zunehmender Geschwindigkeit ausdifferenzie- ren und wandeln, so kann von einer Zunahme von solchen Passungsschwierigkeiten zwischen Feld und Habitus ausgegangen werden. Nicht zuletzt zeichnet sich in Form gesellschaftlicher Mediatisierung (Krotz 2007) ein Wandel sozialer Felder ab, der mit hoher Geschwindigkeit zur Entgrenzung tradierter Strukturen beiträgt und durch einen Wandel der medienkommunikati- ven Bedingungen neue Feldlogiken hervorbringt (vgl. Hepp 2013, S. 63ff.). Zudem knüpfen die hier entfalteten Überlegungen daran an, dass auch Artefakte die Praxis irritieren (vgl. Schäfer 2013, S. 357) und somit habituelle Instabilität bewirken können. Bil- Medienbildung als prozessanalytische Perspektive 193 dungstheoretisch gewendet ließe sich bei solchen Konstellationen von einer Auseinanderset- zung mit Problemlagen sprechen, bei welchen die bisherigen Selbst- und Weltverhältnisse keine ausreichende Orientierung mehr bieten, wodurch deren grundlegende Transformation – also Bildung – erforderlich wird (vgl. Koller 2012, S. 15ff.). Ähnlich wie die veränderten Feld- strukturen, die ehemalige habituelle Passungsverhältnisse aufheben, sind auch durch neuartige oder veränderte Artefakte bzw. Artefakt-Relationierungen Passungsschwierigkeiten denkbar. Besonders digitale Medien, die sich nicht nur in sehr kurzen Abständen verändern, durch ihr Strukturmerkmal der Offenheit Gestaltungsspielräume ermöglichen, aber auch verschiedene subversive Praktiken zulassen und zudem in immer mehr Lebensbereichen relevant werden, können – so die hier verfolgte These – solche Diskrepanzen hervorrufen. Eine bildungstheore- tische Analogie der hier angesprochenen Ausgangssituation von Bildung findet sich in der prominenten Figur der Fremdheitserfahrung (vgl. Koller, Marotzki & Sanders 2007). Auch Dinge können, wie Nohl (2011, S. 187ff.) betont, Fremdheitserfahrung auslösen und somit die Lebensorientierung verändern. Irritation, die im Sinne von Fremdheitserfahrungen durch Arte- fakte transformatorisches Potenzial entfalten und damit Bildungsprozesse auslösen, sind im Zusammenhang mit digitalen Medien in vielerlei Form vorstellbar. So kann angenommen werden, dass bspw. nicht nur über das Social Web Konfrontationen mit dem Fremden möglich sind, sondern auch die physisch-materielle Seite digitaler Medien, in Form der Auseinanderset- zung mit neuen Geräteklassen, zu Fremdheitserfahrungen führen und damit Veränderung von Praxen anstoßen kann. Für eine Medienbildungstheorie erscheint ein praxeologisches Fundament aus mehreren Grün- den geeignet. Die der Praxeologie inhärente Performativitätsperspektive erweist sich als pas- sender Anknüpfungspunkt für die Betrachtung des für die Bildungstheorie wesentlichen Auf- baus von Orientierungswissen. Marotzki (2007) zeigt am Beispiel der Verschränkung von virtuellen und physisch-materiellen Welten, dass Performativität von Bildungsprozessen vor dem Hintergrund der zunehmenden Medienvermitteltheit von Welt ein grundlegender Modus der Subjektkonstitution darstellt. Mit Blick auf die gegenwärtige Medienentwicklung – die sich z.B. in Form der Etablierung des Social Web im sozialen Alltag konkretisiert – so lässt sich weiter feststellen, ist eine praxeologische Sicht hilfreich, da sie dem Umstand gerecht wird, dass diese medialen Formate im westenlichen inhaltsleere Strukturgefüge darstellen, die erst durch spezifische mediale Artikulationspraxen ihre Konstitutionskraft entfalten (vgl. Jörissen 2011, S. 226). Der Forderung, die Prozesshaftigkeit von Bildung in den Blick zu nehmen, kann ebenfalls durch eine praxistheoretisch orientierte Bildungstheorie entsprochen werden. Soziale Praktiken sind stets als temporales Geschen aufzufassen, das sich erst in seiner prozesshaften Vollzugswirklichkeit als sinnhaftes Geschehen entfaltet (vgl. Schmidt 2012, S. 51ff.). Ein weiterer Grund, der für die praxeologische Grundlegung einer Medienbildungstheorie spricht, ergibt sich durch den Anspruch der Praxistheorien, die Subjekt-Objekt Dichotomie zu umge- hen und gerade das Wechselspiel der Vermittlung von Strukturen und deren Hervorbringung durch Praktiken in den Vordergrund zu rücken. Diesen Anspruch teilt die Bildungstheorie, wenn sie Bildung als Veränderungsprozess auffasst, der sowohl Selbst- als auch Weltverhält- nisse betrifft und nach der Vermitteltheit dieser Ebenen fragt. Darüber hinaus kann argumen- tiert werden, dass die Praxistheorien durch den Einbezug von Materialität als grundlegende 194 Patrick Bettinger Dimension der sozialen Welt einen wichtigen Aspekt aufgreifen (vgl. Hillebrandt 2014, S. 31ff.), der bildungstheoretisch oft vernachlässigt wird (vgl. Meyer-Drawe 1999). Die Rolle der dinglichen Umwelt sowie der Körper stellen nicht nur ausbaufähige bildungstheoretische Ka- tegorien dar, sondern erweisen sich auch für die Medienbildungstheorie als hoch interessant. So kann ein praxeologischer Zugang zu Medienbildung über die Materialitätsdimension die Rolle medialer Artefakte auch in physischer Hinsicht berücksichtigen bzw. auch gegenwärti- gen Entwicklungen gerecht werden, die als eine zunehmende Verschmelzung von medialen Artefakten mit menschlichen Körpern in Erscheinung treten, wie bspw. in Form von verschie- denen Smart-Devices oder Wearable-Technologien. Hierbei gilt es, der spezifischen Qualität der Materialität von Medien Rechnung zu tragen und nicht in Reduktionismen zu verfallen, die lediglich die physisch-materielle Ebene medialer Artefakte oder deren semiotische Dimension in den Blick nehmen. Um besonders die zuletzt genannten Anknüpfungspunkte näher zu beleuchten und darzustellen, welche Implikationen sich hieraus für eine Medienbildungstheorie ergeben, wird im Anschluss an aktuelle Überlegungen zur Verbindung von ANT und Bildungstheorie erörtert, wie auch gerade die praxeologische Bildungstheorie von der ANT profitieren kann, um der Anforderung gerecht zu werden, auch die Medialität von Bildungsprozessen erfassen zu können. Gerade durch die Zusammenführung beider Ansätze können die beschriebenen Anforderungen an eine Medienbildungstheorie eingelöst werden, wie nachfolgend gezeigt wird. 2.2. Zweite bildungstheoretische Rezeptionslinie: Akteur-Netzwerk-Theorie Der zweite Bezugspunkt für den hier dargelegten Ansatz besteht in der bildungstheoretischen Rezeption der ANT. Da es sich bei der ANT um ein sehr umfangreiches Unterfangen handelt, dessen komplette Darstellung zur Verfügung stehenden Rahmen sprengen würde, sollen im Folgenden lediglich wenige grundsätzliche Punkte angesprochen und einige Aspekte herausge- griffen werden, die für den hier intendierten Zusammenhang wichtig erscheinen (vgl. für einen Überblick über die ANT z.B. Belliger & Krieger 2006). Aus den Science and Technologie Studies kommend erfährt die ANT seit einigen Jahren zu- nehmende Aufmerksamkeit in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Maßgeblich wurde die ANT von Bruno Latour und Michel Callon in den 1980er Jahren entwickelt. Der kontrovers diskutierte Ansatz stellt einen in vielerlei Hinsicht alternativen Zugang zu lebensweltlichen Phänomenen dar, wobei das prägnanteste Merkmal sicherlich die konsequente Berücksichti- gung nicht-menschlicher Akteure (sogenannter Aktanten) als eigenständige Handlungsträger ist (vgl. Latour 2000, S. 219). Folgt man der ANT, tragen nicht-menschliche Akteure gleich- ermaßen zur Stabilisierung des Sozialen bei wie menschliche Akteure (Ruffing 2009, S. 29f.). Dieser Grundsatz wird von der ANT als verallgemeinertes Symmetrieprinzip bezeichnet (vgl. Callon 2006). Ähnlich wie die Praxistheorien stellt die ANT den Subjekt-Objekt-Dualismus der Sozialwissenschaft in Frage (vgl. Reckwitz 2003, S. 298). Während die Praxeologie hier von der Inkorporierung und durch Praxis erneuten Hervorbringung gesellschaftlicher Struktu- Medienbildung als prozessanalytische Perspektive 195 ren ausgeht und den Habitus als generatives Prinzip betrachtet, der als Bindeglied zwischen Feld und Dispoitionen der Akteure fungiert, fokussiert die ANT mit ihrem Symmetrieprinzip dagegen das Verhältnis zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, welches sie als gleich gewichtet auffasst und damit die Trennung von materieller und sozialer Welt negiert. Die ANT positioniert sich mit ihrer Rehabilitation des Materiellen jenseits eines Sozial- oder Technikdeterminismus (Belliger & Krieger, 2006, S. 22). Ihre Grundannahmen spiegeln sich prägnant in der Auffassung wider, dass „Zeichen, Menschen, Institutionen, Normen, Theorien, Dinge und Artefakte Mischwesen [bilden], techno-soziale-semiotische Hybride, die sich in dauernd verändernden Netzwerken selbst organisieren” (ebd., S. 23). Die Hybridakteure bilden dynamische Netzwerke, deren Aufrechterhaltung ständige Anstrengung erfordert. Dieses per- formative Zusammenspiel der Elemente wird durch sogenannte Mittler und Zwischenglieder bestimmt, welchen die Produktion von Sozialität obliegt (vgl. Latour 2007, S. 69). Zwischen- glieder transportieren „Bedeutung oder Kraft ohne Transformation“ (ebd., S. 70), Input und Output sind bei ihnen fest definiert. Sie funktionieren daher im Sinne von „Black Boxes“, und tragen zur Stabilisierung und Kompexitätsreduktion eines Netzwerks bei (vgl. Belliger & Krie- ger 2006, S. 43). Bei Mittlern ist dagegen nie klar, welcher Output aus dem Input folgt, da sie spezifische Funktionsweisen haben. „Mittler übersetzen, entstellen, modifizieren, und trans- formieren die Bedeutung oder die Elemente, die sie übermitteln sollen“ (vgl. Latour 2007, S. 70). Mittler stehen in der ANT somit für den Aspekt der Unvorhersagbarkeit bei der Entste- hung von Netzwerken und bilden den wesentlichen Bezugspunkt für Analysen von Akteur- Netzwerken. Deutlich wird die oftmals unterstellte Nähe der ANT zu den Praxistheorien (vgl. z.B. Schäfer 2013, S. 251ff.; Hillebrandt 2014, S. 76ff.) unter anderem an Latours Handlungsbegriff. Seine Auffassung, dass Handeln „nicht unter der vollen Kontrolle des Bewusstseins“ (Latour 2007, S. 77) steht, weist eine gewisse Nähe zum Konzept des impliziten Wissens auf, das als Grund- lage habitualisierten Handelns in den Praxistheorien gelten kann. Handeln ist aus Sicht der ANT als Prozess zu begreifen, bei dem heterogene Kräfte zwischen Menschen und Dingen zusammenwirken. Es kann an nicht-menschliche Akteure delegiert werden und wird so raum- zeitlich konserviert. Entgegen der oftmals in praxeologischen Ansätzen vorzufindenden Fokus- sierung auf Stabilität des Sozialen und dessen Reproduktion betont Latour deutlich den Kon- tingenzaspekt und weist auf die Unvorhersagbarkeit hin, die für ihn besonders daher rührt, dass er Handeln stets als kollektiven Akt begreift, der sich durch das Zusammenspiel von verschie- denen menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten ergibt (vgl. ebd.). Dementsprechend findet Handeln für Latour als verteilter Prozess statt, der stets neu zu bestimmen ist und zu- nächst keinen eindeutigen Ausgangspunkt haben muss. Folgt man der Perspektive der ANT wäre es zu einfach davon auszugehen, dass der Ursprung des Handlens Akteure sind, vielmehr ist Handeln für ihn „nicht lokalisierbar, sondern stets verlagert, verschoben, dislokal“ (ebd., S. 82) und dementsprechend nur als kollektiver Netzwerkprozess zu begreifen. In Abgrenzung zur traditionellen Soziologie spricht Latour daher von Kollektiven statt von Gesellschaft und be- tont damit seine Auffassung verteilter Handlung. Kollektive können als heterogene Bezie- hungsnetze verstanden werden, in denen menschliche und nicht-menschliche Elemente sich stets in dynamischen Relationen bewegen und temporär Stabilität erzeugen. 196 Patrick Bettinger Besonders ausführlich widmet sich Nohl (2011) in seiner Pädagogik der Dinge dem Potenzial der ANT für lern- und bildungstheoretische Zusammenhänge. Er zeichnet nach, wie die Bedeu- tung der dinglichen Umwelt für pädagogische Phänomene über eine Verbindung der ANT mit den pragmatistischen Positionen von Peirce und Dewey sowie der praxeologischen Wissensso- ziologie Mannheims erfasst werden kann. Ein zentraler Ansatzpunkt Nohls stellt der unscharfe Handlungsbegriff der ANT dar, der sich weder einem Intentionalismus noch einer Strukturbe- dingtheit oder einem Automatismus zuordnen lässt (ebd., S. 40). Anhand der Rekonstruktion eines Bildungsprozesses, der als Austauschprozess einer Person mit einem digitalen Artefakt exemplarisch betrachtet wird, zeigt Nohl, wie Bildung mit der ANT als Entstehung neuer Hyb- ridakteure verstanden werden kann (ebd., S. 110ff.). In der Wechselwirkung zwischen mensch- lichem Akteur und dinglichem Aktant entstehen “neue Dingfunktionen” (ebd., S. 96), die der Entstehung neuer menschlicher Orientierungen entsprechen und damit als Bildungsprozesse bezeichnet werden können. Veränderungen im Zuge von Bildungsprozessen sind, folgt man Nohl, nicht nur auf personaler sondern auch auf dinglicher Seite zu beobachten. Demenstpre- chend geht Nohl bei seiner Analyse vor. Er zeigt, wie sich in Folge des Aufeinandertreffens einer Person mit einem digitalen Artefakt, hier in Form eines Computers und dem Internet, über verschiedene Phasen hinweg sowohl die Lebensorientierung der Person, wie auch die Dingfunktion wandelt. Der neu entstandene Hybridakteur – ein Mensch mit eigener, sich im Laufe des Bildungsprozesses verändernder Homepage – weist im Unterschied zu vorherigen Akteurs-Konstellationen eine neue und eigene Qualität im Sinne spezifisch veränderter Prakti- ken auf, die nur durch das Zusammenspiel von Akteuren und Aktanten in der vorliegenden Prägung entstehen konnten (ebd., S. 115). Die am unscharfen Handlungsbegriff der ANT orientierte Kritik Nohls wird auch von Schäffer (2007) geteilt, der – anders als Nohl – eine praxeologische Variante der ANT skizziert, sich dabei aber ebenfalls an Karl Mannheim orientiert. Als Folgerung sieht Schäffer eine Notwen- digkeit, “denjenigen technischen Dingen eine potenziell eigenständige Dimension zuzugeste- hen, die wichtig sind für die Konstitution eines konjunktiven Erfahrungsraumes” (ebd., S. 62). Die in diesen Erfahrungsräumen entstehenden, existenziellen Passungsverhältnisse sind laut Schäffer nicht nur zwischen Menschen denkbar, sondern auf das Verhältnis von Mensch und Technik auszuweiten. Schäffer hebt hervor, dass die Anerkennung eines “Quasi-Habitus” me- dientechnischer Dinge eine wichtige Dimension für den Nachvollzug der Verflechtungen zwi- schen Menschen und Technik darstellt. Er zeigt an empirischen Beispielen, wie sich unter- schiedlichen Zugehörigkeiten zu Kollektiven aus Hybridakteuren durch verschiedene Konstel- lationen von Quasi-Habitus der Technik und menschlichem Habitus dokumentieren. Die von Schäffer beschriebene Möglichkeit habitueller Spannungsverhältnisse zwischen Mensch und Technik stellen demnach einen möglichen Ausgangspunkt für eine Habitustransformation dar, wie sie die praxeologische Bildungstheorie konzipiert. Die “Formen der habituellen Nichtüber- einstimmung” (ebd., S. 65) können ein Scheitern sowie eine Neuausrichtung des Habitus zur Folge haben und demnach als Ausgangspunkt für Bildungsprozesse fungieren. Medienbildung als prozessanalytische Perspektive 197 3. Die ANT als Zugang zur Medialität von Bildungsprozessen Wie können nun die beiden Stränge der praxeologischen Bildungstheorie und der ANT zu- sammengeführt werden? Inwiefern haben diese Ansätze das Potenzial, Grundlage einer Medi- enbildungstheorie zu sein? Um diese Fragen zu beantworten, wird zunächst auf die medienthe- oretischen Implikationen der ANT näher eingegangen und daran anschließend dargelegt, wie eine praxeologisch orientierte Bildungstheorie durch Anschlüsse an die ANT die Medialität von Bildungsprozessen erfassen kann. Nach Schüttpelz (2013, S. 18) kann die ANT zu einem gewissen Teil immer schon als Medien- theorie verstanden werden, da deren Vertreter sich nicht nur von Anfang an für medientechni- sche Zusammenhänge interessierten, sondern sich insbesondere in zahlreichen Arbeiten damit auseinandersetzten, wie Geflechte von ‚Mittlern’ Akteur-Netzwerke aufrecht erhalten. Die in der ANT dargestellten Abläufe sind im weitesten Sinne an Medien gebunden, wobei nicht von vornherein festgelegt wird, an welcher Stelle Medien in Handlungsketten in Aktion treten (ebd., S. 15). Wie Thielmann (2013, S. 377) betont, liegt die Leistung der ANT darin, „eine Darstellungsweise zu ermöglichen, die ‚das Soziale’ und ‚das Technische’ jeweils ineinander einbettet“ und dabei das Dazwischenliegende – also das Mediale – hervorhebt. Technik ist für Latour (2006, S. 395) letztlich nichts anderes als ein “Augenblick […], in dem soziale Konstel- lationen durch die Gruppierung von Akteuren und Beobachtern Stabilität erhalten”. Häufig nimmt Technik die Form von Black Boxes ein und wirkt dementsprechend im Hintergrund als stabilisierender Faktor in Akteur-Netzwerken, den wir erst dann bemerken, wenn er nicht wie gewünscht funktioniert. Zwischenglieder werden in diesem Fall zu Mittlern, die Stabilität des Netzwerks wird aufgehoben und es können neue Verknüpfungen entstehen. Die ANT weist eine Nähe zu den medientheoretischen Positionen von Kittler und McLuhan auf, da diese Positionen die Auffassung teilen, dass die Botschaft nicht vom Medium zu tren- nen ist und dass Mensch und Technik in einem wechselseitigen Verhältnis stehen (vgl. Wieser 2012, S. 107; Ruffing 2009, S. 10). Das Medialitätsverständnis der ANT zeichnet sich in erster Linie durch ihren Symmetrieanspruch aus, der Akteure und (mediale) Aktanten gleichermaßen den Status fundamentaler Kräfte sozialer Stabilisierung zugesteht: „Die ANT betrachtet Medien nicht länger als Objekte, sondern als Versammlung unterschiedlichster Elemente, als bloß temporär stabilisierte sozio-technische Ar- rangements, die jeweils dazu gebracht werden, etwas zu tun. Die ANT versteht Medientechniken […] als Mediatoren, die verändern, transformieren, verschie- ben, modifizieren, wovon man denkt, dass sie es transportieren, übermitteln und weitergeben.“ (Wieser 2012, S. 110) Medien sind demnach im Wesentlichen durch das definiert, was sie in Kollektiven tun, d.h. welche Veränderungen sie bewirken und welchen Unterschied sie machen. Sie sind, wie Schüttpelz (2013, S. 56) es ausdrückt „irreduzibel“, d.h. sie können nicht allein auf soziale, semiotische oder technisch-materielle Größen beschränkt werden. Die drei Größen stehen stets in einer ko-produktiven Beziehung zueinander und müssen in ihrer ganzen Heterogenität be- 198 Patrick Bettinger trachtet werden. Die ANT legt damit ein sehr breites Medienverständnis zugrunde, das in ge- wisser Weise empirizistisch vorgeht, indem sie zunächst sehr kleinschrittig danach fragt, wie etwas von wem auf welche Weise als Element in Akteur-Netzwerken in Erscheinung tritt und einen Unterschied ausmacht. Von dieser Betrachtung ausgehend kann schließlich entschieden werden, ob es sich um Mittler oder Zwischenglieder handelt, ob und wie Handlung delegiert wurde, ob Handlungsprogramme in Black Boxes übertragen wurden usw.. Die ANT begreift Artefakte als temporal durch spezifische Praktiken und ihre Materialität stabilisiert, wodurch sie vorübergehend zum Mittel werden, danach aber wieder Medium sein können (Wieser 2012, S. 120). Medien – so könnte man folgern – konstituieren sich als solche im wesentlichen durch ihre Rolle, die sie im Zusammenspiel mit Praktiken einnehmen und als eigenmächtige Hand- lungsträger (De-)Stabilisierung in Kollektiven bedingt. Medialität kann daher im Sinne der ANT als etwas verstanden werden, das erst im Zuge ihrer performativen Vollzugswirklichkeit durch Akteure und Aktanten hergestellt wird und sich nicht bereits im Vorfeld bestimmen lässt. Das, was man übergreifend als digitale Medien bezeichnen könnte, stellt somit aus Sicht der ANT zunächt einmal Elemente von hybriden Kollektiven bzw. Teile von Akteur- Netzwerken dar. Erst durch die Betrachtung der spezifischen Verknüpfung von Praktiken und medialen Artefakten zeigt sich, wie Relationen erzeugt, Handlung verschoben und delegiert und somit die Elemente zueinander in Beziehungen gesetzt werden, die sich als stabil oder instabil erweisen. Wie Hepp (2013, S. 52f.) in Bezug auf Latour anmerkt entspricht diese Vor- stellung von medialer agency der Idee medialer Prägkräfte des Mediatisierungsansatzes. Auch hier geht es darum, die Spezifik der medialen Vermittlung in sozialen Zusammenhängen in den Blick zu nehmen. Es lässt sich resümieren, dass die impliziten Medialitätsvorstellungen der ANT nahe legen, die Wechselwirkungen, die sich in Kollektiven zwischen Menschen und Medien entfalten, immer für den bestimmten Fall analysiert werden müssen. Dabei sind die in mediale Artefakte eingeschriebenen Handlungsprogramme – aus praxeologischer Sicht wäre hier mit Schäffer (2007) vom Quasi-Habitus zu sprechen – als eigenständige Größe zu betrach- ten und hinsichtlich ihrer Rolle bei den hier fokussierten habituellen Umbrüchen zu untersu- chen. Ein weiteres Charakteristikum der ANT, das medientheoretisch relevant erscheint, geht von ihrer erkenntnistheoretischen Grundlage aus. Die ANT verbindet Materialität mit einem semio- tischen Modell und entwirft somit einen Zugang, der zugleich zwei Seiten von Medialität in den Blick nimmt. Aus Sicht der ANT lässt sich kein klarer Bruch zwischen Dingen und Zei- chen feststellen, sondern beides steht in kontinuierlicher Beziehung zueinander in Form von „ineinander geschachtelten Elementen, deren jedes die Rolle eines Zeichens für das vorange- hende und die eines Dings für das nachfolgende Element spielt“ (Latour 2000, S. 70). Damit positioniert sich die ANT in der Nähe von Sassures erkenntnistheoretischer Position, der das Zeichen als „unterennbare Einheit von Signifikat und und Signifikant“ (Belliger & Krieger 2006, S. 26.) begreift. Insofern besteht für die ANT weder eine unbezeichnete Wirklichkeit noch zeichenlose Gedanken. Technische Artefakte können in Akteur-Netzwerken sowohl als physisch vorhandene Dinge sowie als Zeichenträger Wirkung entfalten, beide Ebenen werden von der ANT gleichermaßen in den Blick genommen. Die von der ANT postulierte Hybridität von Kollektiven impliziert damit eine Beziehung zwischen der materiellen und semiotischen Medienbildung als prozessanalytische Perspektive 199 Ebene im Sinne eines Differnzgeflechts, die sich entlang von reversiblen Assoziationssketten durch Artikulationsprozesse erweitert. Somit entsteht in der heutigen Welt ein immer größer werdendens Netz auf unterschiedlichen Hybridakteuren in Form real gewordener semiotischer Netzwerke (vgl. Belliger & Krieger 2006, S. 28ff.). Die in der hier eingenommenen Perspektive verwendete Attribution der Kollektive als sozio- medial hebt somit den spezifischen Analysefokus hervor, der auf der Entstehung von Hybrid- konstellationen liegt, deren Medialität sich als spezifische Formen temporärer Stabilisierung von Verbindungen zwischen den Elementen eines Akteur-Netzwerks zeigt. Dabei muss, wie erwähnt, stets neu bestimmt werden, inwiefern etwas in einem Kollektiv als Medium fungiert, also den (Transformations-)Prozessen in Kollektiven auf bestimmte Art und Weise eine neue Qualität verleiht. Die Medialität digitaler Medien, die aus Sicht der ANT sowohl in Bezug auf deren physisch-materieller Daseinsform sowie deren Zeichenhaftigkeit zu fassen ist, wäre demnach stets für den konkreten Fall zu bestimmen und zu hinterfragen 4. Medienbildungsprozesse als Transformationen in sozio-medialen Kollektiven Über eine Verbindung der praxeologischen Bildungstheorie mit einer medientheoretisch ge- prägten Lesart der ANT wurde oben gezeigt, wie Medienbildung als prozessanalytische Per- spektive einen differenzierten Blick auf das komplexe Wechselverhältnis von Menschen und Medien ermöglicht. Die praxeologische Konzeption von Bildung als Habitustransformation – so der Grundgedanke – kann durch die ANT als praxeologische Analysekategorie befruchtet werden, um Wechselwirkungen von (medialen) Artefakten und Praxen beschreibbar zu machen (Schäfer 2013, S. 354ff.). Aus Sicht der ANT reduzieren Artefakte Komplexität „indem sie Interaktionen rahmen, sie zusammenhalten und auf Dauer stellen, das heißt, sie lokalisieren Interaktion. Doch zugleich globalisieren sie indem sie immer schon auf andere Orte und Zeiten verweisen, auf das, ‚was in ihnen steckt’, was an sie delegiert wurde“ (Wieser 2008, S. 424). Sie sind als eigenständige Aktanten an Praktiken beteiligt und müssen somit auch bezüglich ihrer Bedeutung für deren Veränderung betrachtet werden. Die praxeologisch relevanten Fra- gen, wie Veränderungen materieller Artefakte mit einem Wandel der Praxis einhergehen kön- nen und „inwiefern Irritationen habitualisierter Praktiken gerade von der genuinen Qualität der Artefakte selbst ausgehen können“ (Schäfer 2013, S. 357), wären demnach zentral für eine Medienbildungstheorie im hier dargestellten Verständnis. Die ANT teilt mit der praxeologischen Bildungstheorie die Annahme, dass soziale Gefüge als dynamisch zu begreifen sind und Brüche aufweisen können. Die dauerhafte Stabilität sozialer Entitäten wird von der ANT als Ausnahme betrachtet und ein performatives Konstitutionsprin- zip als Ausgangspunkt genommen (Latour 2007, S.62f.). Die durch „Interaktionen, Transaktio- nen, Aushandlungen und Vermittlungen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akt- euren” (Belliger & Krieger 2006, S. 38) entstehenden Netzwerke sind flüchtige Gebilde, die immer wieder aufs Neue hergestellt werden müssen. Erst die (von Latour mit “Übersetzung” 200 Patrick Bettinger bezeichnete) Zuschreibung von Rollen und Funktionen durch kommunikative Handlungen bringen Beständigkeit der Netzwerke hervor. Dieser Prozess darf aus Sicht der ANT aber nicht als intentional missverstanden werden, sondern entspricht vielmehr einer verteilten “Netz- werkdynamik”, wobei Akteure als Konstrukte aus verschiedenen Elementen zu verstehen sind (ebd., S. 39). Im Zusammenspiel von Akteuren und Aktanten entstehen im Zuges des Abglei- chen der Handlungsprogramme, die bspw. auch technischen Artefakten innewohnen, Hyb- ridakteure und schließlich Kollektive, die als fraktale Gebilde weder einen Anfangs- noch einen Endpunkt aufweisen (ebd., S. 43). Diese Konstrukte werden nun zum Ausgangspunkt der hier szizzierten praxeologischen Medienbildungstheorie, die folglich ihren Blick auf Bruchstel- len sozio-medialer Kollektive richtet. Fragen einer solchen Bildungstheorie wären demnach, wie im verteilten Zusammenspiel von Menschen und Artefakten wechselseitige Stabilisie- rungsversuche unternommen werden, diese gegebenenfalls scheitern oder auch gelingen, wie neue sozio-mediale Hybridakteure entstehen und wie sich in diesem Vorgang Medialität als Prozesseigenschaft durch die beteiligten Größen konstituiert. Der von Nohl (2011, S. 170) eingenommene Blick auf sozio-dingliche Kollektive als Bezugs- punkt von Bildungsprozessen wird in diesem Theorieentwurf in einem abgewandelten Ver- ständnis als Fokus auf sozio-mediale Kollektive ausgelegt. Die Verbindungen in sozio- medialen Kollektiven sind als habitualisierte Praktiken stabilisiert, können aber durchaus irri- tiert werden und somit umschlagen. Solche Prozesse können bspw. durch die „Fremdheit der Dinge“ (ebd., S. 181), also durch Artefakte, die sozio-mediale Kollektive zumindest temporär destabilisieren, ausgelöst werden. Das grundsätzliche Postulat der Fragiliät von Kollektiven kommt damit der Perspektive einer praxeologischen Bildungstheorie entgegen, die sich für Momente der Destabilisierung und des Umbruchs als Einfallstore für Habitustransformationen interessiert. Indem die ANT „[…] die Assoziationen und Relationen [verfolgt], durch welche Dinge und Praktiken miteinander verbunden werden“ (Wieser 2012, S. 109), kann sie als Ana- lysekategorie einer praxeologisch fundierten Bildungstheorie Prozesse der Habitustransforma- tion über rein subjektive Perspektiven hinaus sichtbar machen. Die Akteure und Aktanten in sozio-medialen Kollektiven treffen nicht voraussetzungslos aufeinander, sondern sind – folgt man Schäffer (2007) – mit einem Habitus bzw. Quasi-Habitus ausgestattet. Die von Schäffer (ebd., S. 63ff.) mit Verweis auf Mannheim als Kontagion bezeichneten, existenziellen Pas- sungsverhältnisse bestimmter Habitus/Quasihabitus-Konstellationen würden im Falle trans- formatorischer Bildungsprozesse irritiert. Über die Rekonstruktion des Quasihabitus und mo- dus operandi medientechnischer Dinge (ebd., S. 65), wird Medienbildung so als Rekonstellati- on habitueller Passungsverhältnisse sozio-medialer Kollektive ersichtlich. Hierbei, so die An- nahme im Anschluss an die praxeologische Bildungstheorie, können Irritationen der habituel- len Passungsverhältnisse transformatorisches Potenzial entfalten und so neue Hybridakteure hervorbringen, die einen veränderten Habitus aufweisen. Wesentlich ist hierbei, dass Habitus- transformationen sowohl auf Seiten der Akteure wie auch der Aktanten vonstatten gehen, dass als auch die medialen Artefakte sich verändern. Insofern nimmt der vorliegende Ansatz eine gemäßigte Lesart der ANT zur Grundlage, da den Akteuren und Aktanten zumindest ein Teil Stabilität in Form inkorporierter habitueller Dispositionen zugestanden wird, die nicht in jeder Situation von Grund auf neu hergestellt werden müssen. Medienbildung als prozessanalytische Perspektive 201 Während Rosenberg (2011) den Schwerpunkt der praxeologischen Bildungsforschung auf den Einbezug von eigenständigen Feldrekonstruktionen legt, die in Relation zu sich verändernden Habitus gesetzt werden, wird im vorliegenden Theorieentwurf der Fokus auf die Bedeutung von sozialen und medialen Verflechtungen für Bildungsprozesse gerichtet. Dementsprechend wurde mit der ANT der Blick auf sozio-mediale Kollektive gerichtet, in denen sich Menschen und mediale Artefakte in einem dynamischen Austauschverhältnis befinden. Diese Prozesse sind von Unbestimmtheiten geprägt, wie mit Verweis auf die Kontingenzperspektive der ANT gezeigt wurde. Somit stellt auch die Iterabilität der Praxis als Einfallstor für Bildungsprozesse in sozio-medialen Kollektiven einen wichtigen Bezugspunkt dar. Die Möglichkeit der Abwei- chung im performativen Praxisvollzug erscheint durch die Widerständigkeit, Wandelbarkeit und Offenheit medialer Artefakte nicht nur als seltene Ausnahme. Die Heterogenität der Kol- lektive birgt die Möglichkeit der Verschiebung und Irritation von Praxis, indem die zusam- menwirkenden Elemente durch ihren ‘Eigensinn’ Abweichungen und Irritationen von Praxis- vollzügen bedingen können. Die spezifische Qualität (medialer) Aktanten in diesen Prozessen kann über die ANT als Analysekategorie erschlossen werden, indem die Rolle der Medien nie von vornherein festgelegt, sondern jeweils neu bestimmt wird. Dabei gilt es genau zu prüfen, ob Artefakte als Zwischenglieder oder Mittler auftreten und hierbei Veränderungen der Relati- onierungen in Kollektiven (mit) bewirken. Ein solches Medienbildungsverständnis, welches auf das theoretische Repertoire der ANT zurückgreift, findet sich in Ansätzen in der neueren medienpädagogischen Diskussion wieder. Entsprechende Anknüpfungspunkte an diese Diskussion werden hier kurz skizziert. Medien- bildung kann von dem hier eingenommenen Standpunkt aus mit Jörissen (2015) als verteilter Prozess aufgefasst werden, bei dem die Möglichkeitsräume für menschliche Akteure von hete- rogenen Ensembles aus hybriden Formationen, Menschen und Dingen abhängen. Bildungspro- zesse sind demnach auf einer “Ebene der Transformation subjektivierender Relationierungen” (ebd., S. 228) angesiedelt und können nicht mehr länger als primär an (menschliche) Subjekti- vitäten geknüpft verstanden werden. Der Gedanke, Bildung nicht nur als eine an Menschen geknüpften Prozess zu denken, findet sich auch bei Meyer (2014). Meyer bezieht sich auf das Potenzial der ANT zur Erklärung der Veränderung von Welt in Bildungsprozessen (ebd., S. 165f.). Überlegungen zu einer Form der verteilten Bildung stellt Koenig (2013) an, der das sich in Bildungsprozessen verändernde Subjekt nicht als personale Einheit auffasst, sondern dessen Eigenschaften auf die Community überträgt. Auch Koenigs Arbeit erscheint an die hier skiz- zierte Perspektive anschlussfähig, da er ebenfalls Praktiken als Kristallisationspunkte von Bil- dung fokussiert und – letztlich zwar ohne dezidierten Bezug zu Latour – Bildung ebenfalls als nicht ausschließlich an Menschen gebundenen Vorgang auffasst, sondern offene Online- Communities als Entitäten betrachtet, in denen Bildung verwirklicht wird (vgl. ebd., S. 293ff.). Trotz der gezeigten Verbindungslinien zur medienpädagogischen Rezeption der ANT steht eine umfassende Ausarbeitung eines solchen Theorieentwurfs noch aus. 202 Patrick Bettinger 5. Ausblick: Praxeologische Medienbildung als theoretisches und empirisches Projekt Die von Rosenberg in Hinblick auf die Stärke der praxeologischen Bildungstheorie hervorge- hobene Möglichkeit zur Begegnung des bildungstheoretischen Defizits der „Weltvergessen- heit“ (Rosenberg 2010) wird im hier vorgestellten Ansatz modifiziert zu einer Berücksichti- gung der Medienvergessenheit der Bildungsheorie. Über eine Verbindung von Bildungs-, Pra- xis- und Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), können Bildungsprozesse als Transformationen des Habitus im Hinblick auf ihre sozio-mediale Spezifik erschlossen werden. Die Kontingenzper- spektive der ANT wie auch ihre Anerkennung von Diskontinuität und Veränderlichkeit der Kollektive erscheint, wie gezeigt wurde, bildungstheoretisch interessant und anschlussfähig. Auch wenn im vorliegenden Beitrag der Schwerpunkt auf die Darstellung von Konvergenzen der dargelegten Ansätze gelegt wurde, ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich aus den hier skizzierten Eckpfeilern einer praxeologischen Medienbildungstheorie auch offene und klä- rungsbedürftige Punkte ergeben. So sind praxeologische Bildungstheorie und ANT nicht ein- fach ineinander überführbar. Abschließend werden zumindest zwei klärungsbedürftiger Aspek- te angesprochen, welche sich aus der dargelegten Zusammenführung ergeben. Es scheint diskussionswürdig, wie sich eine Medienbildungstheorie, die an die ANT anknüpft und sozio-mediale Kollektive in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung rückt, bezüglich ihres Sub- jektverständnisses positioniert. Ein sich über reflexive Verhältnisse emanzipierendes Subjekt, wie es in der Bildungstheorie häufig vorzufinden ist, findet sich weder in der Praxeologie noch bei der ANT. Hier stellt sich die Frage, ob und in welcher Form bildungstheoretisch bedeutsa- me Eigenschaften wie Widerständigkeit, Emanzipation und reflexive Distanznahme den in der hier dargelegten Konzeption von Medienbildung vorhandenen Elementen zugerechnet werden können. Während die Praxistheorie von einer vollkommenen Determinierung unseres Handelns absieht und Menschen zumindest gewisse Spielräume und Freiheiten des Entscheidens ein- räumt und somit auch bildungstheoretisch anschlussfähig erscheint, nimmt die ANT eine radi- kalere Ablehnung von Subjektivität und innerer Entscheidungsfreiheit vor, indem sie stattdes- sen die dem Software-Bereich entlehnte Metapher einer „Versammlung von Plug-ins“ (Latour 2007, S. 359) annimmt, die als Zusammenspiel von Äußerlichkeiten verschiedenster Art grundlegend für unser Inneres sind. So liegen für Latour (ebd., S. 365) „kognitive Fähigkeiten […] nicht ‚in mir’, sondern sind in der gesamten formatierten Umgebung verteilt“. Latour will die Versammlung von Plug-Ins allerdings nicht als Zwang verstanden wissen, sondern spricht von einem „Angebot zur Subjektivierung” (ebd., S. 367), das von Aktanten ausgeht. Die ANT vertritt damit konsequent den Standpunkt, dass das Selbst nur im Zusammenspiel mit dem anderen, bspw. in Form von Artefakten, existieren kann und umgekehrt (vgl. Wieser 2008, S. 425). Der bildungstheroetische Dualismus von Selbst- und Weltverhältnissen wird von der ANT damit zumindest in Frage gestellt. Die Position der ANT scheint somit hinsichtlich ihres Subjektverständnisses zunächst schwer mit ‚klassischen’ bildungetheoretischen Ansätzen ver- einbar, zumindest wenn man von einem Subjekt ausgeht, das über ein Mindestmaß an Inner- lichkeit verfügt. Das von der ANT angestrebte Unterlaufen der Unterscheidung zwischen Sub- jekt und Objekt und die damit einher gehende Auflösung der Unterscheidung von Selbst- und Medienbildung als prozessanalytische Perspektive 203 Weltverhältnisse scheint eine Neufassung des Bildungsbegriffs nahe zu legen, wie sie bspw. von Koenig (2013), Meyer (2014) oder Jörissen (2015) umrissen wird. Bildung erscheint hier nicht mehr nur an einzelne Menschen gebunden, sondern wird als kollektiver Prozess verstan- den, der nur begriffen werden kann, wenn die daran beteiligten menschlichen und nicht menschlichen Größen berücksichtigt werden. Welche normativen Schwierigkeiten sich hieraus ergeben, stellt ebenfalls ein noch offenes Problem dar. Die vorgeschlagene detaillierte prozess- analytische Perspektive auf Medienbildung bietet aber zumindest eine fundierte Grundlage, die als Ausgangspunkt weiterer erziehungswissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit normati- ven Fragen zum Verhältnis von Menschen und Medien fungieren kann. Ein weiterer kritischer Punkt stellt die methodische und methodologische Herangehensweise an Medienbildungsprozessen im oben erörterten Verständnis dar. Bildungstheorie und qualita- tive Bildungsforschung stehen seit jeher in einem streitbaren Verhältnis zueinander (vgl. Miethe & Müller 2012), dies kann entsprechend für Medienbidlungstheorie und -forschung angenommen werden. Insbesondere die Retrospektive als unumgängliche Hürde bei der Re- konstruktion von transformatorischen Bildungsprozessen stellt für die der Praxeologie sowie der ANT zugrunde liegende Verbundenheit mit ethnographischen Zugängen eine Schwierigkeit dar. Die Angewiesenheit der Forschenden auf Daten, die eine Prozessrekonstruktion möglich machen, welche sowohl menschliche Akteure sowie nicht-menschliche Aktanten berücksich- tigt, legt Erhebungsverfahren nahe, die verschiedene Methoden kombinieren. Untersuchungen, die entsprechend der hier eingeschlagenen Richtung auch auf mediale Artefakte abzielen, kön- nen von deren Eigenschaft der prinzipiellen Speicherbarkeit profitieren. So können bspw. In- ternetarchive potenzielle Instrumente im Forschungsprozess werden, um Veränderungen von medialen Artefakten über einen bestimmten Zeitraum hinweg nachvollziehbar zu machen. Rekonstruktionslogische Methoden, die sich bei dieser hier eingenommenen Perspektive auf Medienbildung anbieten, müssten hinsichtlich ihrer Eignung hinterfragt werden, diese Artefak- te zu analysieren. Ein Ausgangspunkt kann hier die dokumentarische Methode sein, die, wie Nohl (2011) gezeigt hat, zur Rekonstruktion einer sich im Bildungsprozess verändernden Homepage eingesetzt wird. Allerdings scheint es fragwürdig, ob dieser Zugang genügt, um komplexe digitale Artefakte hinreichend analysieren und Austauschprozesse zwischen Men- schen und Artefakten erfassen zu können sowie diese sozio-historisch zu Kontextualisieren. Die Weiter- und Neuentwicklung von Methoden bzw. Methodologien der Sozialforschung stellt somit ein weiteres Desiderat eines praxeologischen Zugangs zu Medienbildung dar. Literatur Belliger, Andréa & Krieger, David J. (2006): Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. In: Belliger, Andréa & Krieger, David J. (Hrsg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript, S. 13-50. Bourdieu, Pierre (2001): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. 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Die damit verbunde- nen gesellschaftlichen Fragestellungen scheinen zu schwierig und zu abstrakt, als dass sie im Un- terricht aufgenommen werden. Dennoch sind es diese Fragen, welche die Kinder und Jugendli- chen auf ihre künftige Rolle als “Digital Citizens” vorbereiten. Dass dies nicht weniger anschau- lich und interessant geschehen kann, wie wenn über Profileinstellungen in Facebook oder den Schutz vor Cybermobbing diskutiert wird, zeigt dieser Beitrag. Medienkompetenzförderung im Hinblick auf Gefahren und Risiken des Netzes “Medienkompetenz” und “Medienbildung” sind die wesentlichen beiden Stichworte, wenn es um pädagogische Aktivitäten im Bereich der Medien geht. Dabei bezeichnen Medienkompe- tenzen eher konkrete Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit Medien. Was gehört also dazu, damit ich und meine Klassenkamerad/innen in der Schule kompetent mit Medien umge- hen können? Wie setze ich Medien ein, um ein Referat oder einen Vortrag mit einer Präsentati- onssoftware zu gestalten. Mit Medienkompetenz bezeichnet man das “Können“, mit Medien umzugehen – was oft im Rahmen des von PISA favorisierten Kompetenzbegriffs als “messbare Qualifikation” verstanden wird (Fromme et al. 2014, S. 64f.). Dabei hat es die Medienpädago- gik allerdings vermieden, den Begriff der Medienkompetenz allzu eng zu führen. Tulodziecki (2011) verweist auf das seit Baacke (1996) dominierende “handlungstheoretisch-pädagogische Medienkompetenzverständnis”, das Kenntnisse, Fähigkeiten und Bereitschaften bzw. Wissen, Können und Einstellungen − einschließlich von Wertorientierungen – umfasse, also die Dispo- sitionen für selbständiges Urteilen und Handeln in Medienzusammenhängen (Tulodziecki 2011, S. 22f.). Dabei ist in diesem Kompetenzbegriff schon seit Baacke eine medienkritische Dimension integriert. Analytisch, reflexiv und ethisch sollen problematische gesellschaftliche Prozesse erfasst und auf die eigene Situation angewandt werden (Baacke 1996). Wenn es nun allerdings um die praktische Vermittlung von medienkritischen Kompetenzen im Rahmen einer internetorientierten Medienkompetenzförderung geht, dann ist häufig eine eigen- tümliche Engführung zu beobachten: Im Wesentlichen geht es um Kompetenzen im Umgang mit den Gefahren und Nachteilen des Internets, die hier angesprochen werden. So werden in der schweizerischen Broschüre “Internet: Kinder und Jugendliche unterstützen. Tipps und 212 Heinz Moser Anregungen für Eltern von 11- bis 16-Jährigen” folgende Hinweise für Eltern gegeben (Die Stellen für Suchtprävention im Kanton Zürich, 2011): Gefahren/Nachteile des Internets • Es gibt problematische Inhalte wie Gewaltdarstellungen oder Pornographie, die Kinder und Jugendliche überfordern und ängstigen können. • Die Leistung in der Schule kann bei allzu intensiver Nutzung abnehmen. • Was einmal im Internet veröffentlicht wurde, kann kaum mehr gelöscht werden, so etwa private Bilder, Adressen oder Telefonnummern. • Es besteht die Gefahr, dass Viren heruntergeladen werden, die den Computer schädigen. • Im Internet vergeht die Zeit schnell und man kann sich darin verlieren. Bei intensiver Nut- zung kommen soziale Kontakte in der realen Welt zu kurz. Vor allem Spielen und Chatten können abhängig machen. • Soziale Netzwerke im Internet können benutzt werden, um Kinder zu belästigen und bloßzu- stellen (Cybermobbing). • Unbekannte können die Neugier von Kindern und Jugendlichen und die Anonymität im In- ternet ausnutzen, um ihnen persönliche Informationen zu entlocken oder sie zu belästigen. Gefährlich kann es werden, wenn Unbekannte ein Treffen in der realen Welt mit Ihrem Kind vereinbaren. Positiv dagegen werden in dieser Broschüre folgende Aspekte des Internets angesprochen: Chancen/Vorteile des Internets • Das Internet vermittelt Wissen und bereitet auf das Berufsleben vor. • Es schafft neue Formen der Kommunikation und des Austausches mit anderen Menschen. • Es bietet spannende Geschichten und Einblicke in andere Welten. • Es vertreibt Langeweile und entspannt. Die Auflistung zeigt an, dass gegenüber einer Vielzahl von Gefahren des Internets nur wenige Chancen aufgezählt werden. Wissensvermittlung und neue Formen der Kommunikation wer- den genannt – wobei aber gerade den durch das Internet möglichen Kommunikationsformen insgesamt eine starke Skepsis entgegentritt, welche zum Beispiel mit Cybermobbing oder den fehlenden sozialen Kontakten in der realen Welt beschrieben werden. Deutlich wird in diesem Zusammenhang die Abspaltung der realen Welt von einer virtuellen Sphäre, die den realen Alltag bedroht. Diese “Außenwelt” scheint zu einem erheblichen Teil unerwünscht (abnehmende Schulleistung, was einmal − offensichtlich Negatives ̶ im Internet veröffentlich wurde, bleibt dort für immer bestehen etc.). Die Position der Nutzer/innen, die von außen kommen, wird auch dort deutlich, wo sie “Einblicke in andere Welten” erhalten. Und noch der letzte “positive” Punkt, wonach das Internet Langeweile vertreibt und entspannt, erscheint zwiespältig, da er pädagogisch auch negativ konnotiert werden kann. Die medienskeptische Haltung dieses Textes wird dadurch noch unterstrichen, dass er von den Stellen für Suchtprävention des schweizerischen Kantons Zürich herausgegeben wird. Sowohl Digital Citizenship als Leitlinie der Medienbildung 213 solche Stellen wie Präventionsabteilungen der Polizei sind heute oft erste Anlaufstellen von Eltern und Lehrpersonen, wenn es um medienpädagogische Fragen des Internetkonsums von Kindern und Jugendlichen geht. Schon dies macht deutlich, unter welchen Intentionen eine Medienpädagogik steht, die unter solchen Vorzeichen “Aufklärung” betreiben will. Ähnliche Konzepte der Medienkritik durchziehen aber auch die Konzepte der Medienkompe- tenzförderung in den Schulen. Lauber & Würfel (2015, S.42) orten hier ebenfalls die Domi- nanz dichotomer Wortpaare wie “Chancen und Risiken”, “Möglichkeiten und Fallstricke”, “smart oder süchtig” – wobei auch hier der zweite Begriff im Fokus der medienpädagogischen Aktivitäten steht. Dagegen stehe die Positivseite der Onlinekommunikation mit so sperrigen Begriffen wie Partizipation und kollaboratives Lernen eher im Abseits – gerade dort, wo es um den Transfer der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Medienpädagogik in die Praxis der Me- dienkompetenzförderung gehe: “Während wissenschaftliche Arbeiten noch ein differenziertes Bild vom Umgang Heranwachsender mit Onlinemedien zeichnen, gehen die positiven Aspekte auf dem Weg in die Praxis offenbar häufig verloren. In Fortbildungsveranstaltungen, Broschüren, Flyern und besonders in Social Spots, die einschlägige Medienkom- petenzkampagnen für Fernsehen und Internet produzieren, überwiegen die Ge- fahren, denen Heranwachsende im Internet begegnen können.” (Lauber & Wür- fel 2015, S. 42) Die Kompetenz, souverän und selbstbestimmt mit Medien umzugehen, wird in solchen Kon- zepten stark von einem psychologisierenden Jugendmedienschutz dominiert. Dieser wird durch die Vermittlung von Fertigkeiten orchestriert, die auf technische Anweisungen zum Schutz vor den unerwünschten Auswirkungen der Netzkommunikation hin bezogen sind – etwa wie man die Profileinstellungen in Social Media Programmen einstellt, wie man sich gegen Computer- viren schützt, welche Information man über sich ins Netz stellen darf etc.. Dabei sind die Handlungsempfehlungen der Expert/innen klar vorgegeben. Sie müssen von den Kindern und Jugendlichen nur aufgegriffen und “richtig” umgesetzt werden. Medienbildung und die Gestaltung digitaler Räume In Abgrenzung von einer technischen Sicht, welche primär die individuellen Kompetenzen im Umgang mit Medien fördern will, sind in den letzten Jahren Sichtweisen entstanden, welche den Aspekt der Bildung im Rahmen einer Mediengesellschaft in den Mittelpunkt stellen. All- tägliche Lebensräume sind heute immer stärker auch zu Medienräumen geworden, in welche Kinder und Jugendliche im Rahmen des Sozialisationsprozesses hineinwachsen. Das bedeutet nicht zuletzt, dass World Wide Web und Internet längst in die alltäglichen Lebenswelten inte- griert sind, so dass die Trennung in virtuelle Welten und realen Alltag nur mehr wenig Sinn macht. 214 Heinz Moser In dieser Perspektive einer umfassenderen Medienbildung geht es nicht mehr darum, Kinder von den Gefahren der Medien, die von außen kommen, zu bewahren. Vielmehr ist davon aus- zugehen, dass Bildungs- und Subjektivierungsprozesse grundsätzlich in medial geprägten kul- turellen Lebenswelten und in medialen Interaktionszusammenhängen stattfinden (vgl. Marotzki & Jörissen 2008, S.100). Im Rahmen von Bildungsprozessen spielt damit die Auseinanderset- zung mit “digitalen Lebensstilen” einer Medienkultur eine wichtige Rolle, in denen alltägliche Routinen und Handlungsaufgaben immer häufiger mit Hilfe von digitalen Medien vollzogen werden. Diese Hybridisierung von lebensweltlichen Räumen lässt sich im generationenspezifi- schen Verlauf auch empirisch nachzeichnen (Moser & Scheuble 2014, S. 80). In der von uns ausgewerteten Stapferhaus-Studie im Rahmen einer Ausstellung zum “digitalen Leben”, die 2011 im Stapferhaus Lenzburg stattgefunden hatte, äusserten sich Befragte aus allen Alters- gruppen zum Beispiel zu folgenden Fragen: - Reicht es aus mit einer SMS zu antworten, wenn ein guter Freund zum Geburts- tag gratuliert? Hier gehen die Meinungen stark auseinander: Während 47,7% der Meinung sind, es reiche nicht aus, stimmen 52,3% zu. - Auf die Frage, ob eine SMS ausreiche, um eine Beziehung zu beenden, wenn man nach ein paar Monaten merke, dass die Beziehung keine Zukunft habe, antworteten 88,2% mit “Nein” und nur 11,8% mit “Ja”. - Und wie ist es, wenn die Mutter einer entfernten Bekannten gestorben ist? Darf man dann sein Beileid per SMS bekunden? 86,9% der Befragten meinen “Nein” und nur 13,1% “Ja”. Einerseits wird hier deutlich, wie unsicher die Meinungen in einer sich entwickelnden “digita- len Lebenswelt” noch sind. Deutlich tritt zum Ausdruck, dass die früheren Regeln des “realen Lebens” bei der virtuellen Beziehungspflege nicht einfach ausgeschaltet sind. Vertrauen ist eine Ressource, die auch im “virtuellen Leben“ nicht ungestraft verletzt wird. Sogar wenn es um die Mutter einer entfernten Bekannten geht, erscheint es nicht angebracht, allein mit einer elektronischen Nachricht zu reagieren. Allerdings zeigt eine Auswertung entlang der Alterslinien, dass sich Veränderungen abzeich- nen: So ist bei der älteren Generation der Über-21-Jährigen die traditionelle Lösung bei den Geburtstagswünschen (p= .003), bei der Beendigung einer Beziehung (p= .000). und bei den Kondolenzbezeugungen (p= .001) dominanter. Dieser Generationenunterschied ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Erfahrungen zu interpretieren: Wer wie die Jünge- ren digitale Medien häufiger und intensiver nutzt, wird ihren Gebrauch eher ausweiten – auch auf Situationen, die früher nicht mit “flüchtiger” Medienkommunikation bewältigt worden wären. Im Anschluss zu dieser Studie ist zudem zu vermuten, dass sich dieser Wandel in den letzten Jahren eher noch beschleunigt. Seit fast alle Jugendlichen über einen Facebook-Account verfü- gen, ist es ganz selbstverständlich geworden, dass man sich zum Geburtstag über die sozialen Medien gratuliert. Wie weit Ähnliches auch für die beiden weiteren Fragen zutrifft, ist in die- sem Rahmen schwer zu beurteilen. Digital Citizenship als Leitlinie der Medienbildung 215 Insgesamt kann jedoch aus der Stapferhaus-Studie geschlossen werden, dass die Integration der digitalen Medien in das Verhaltensrepertoire der Menschen nicht ohne Brüche erfolgt. Dies führt oft zu Widersprüchlichkeiten, aber auch zu Hilflosigkeit und Unsicherheit über die gel- tenden Regeln und Routinen. Schwierig ist die Bewältigung dieser neuen Anforderungen eines digitalen Lebensstils, weil die traditionellen Routinen dazu keine Anleitung mehr geben, und weil die Mediensphäre als eine fremde Macht erscheint, die das Leben von außen beeinflusst. Medienbildung bedeutet in dieser Konstellation denn auch nicht primär, individuelle Kompe- tenzen zu erwerben, welche einen besseren Umgang mit den Medien versprechen; vielmehr geht es um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dieser neuen medial geprägten digitalen Kultur. In diesem Zusammenhang wird meines Erachtens der Begriff der Entfremdung rele- vant. Es muss wieder stärker ins Bewusstsein gerückt werden, dass die Sphäre der Medien uns nicht einfach als äußere Welt entgegentritt. Vielmehr ist die Medienwelt selbst Produkt der Menschen, die von ihnen geschaffen wurde. Medienbildung bedeutet denn auch in dieser Sicht, dass wir uns bewusst sind, dass Menschen am Ursprung der gesellschaftlichen Mediatisierung stehen, und dass es notwendig und möglich ist, sich diese Mediensphäre kulturell wieder anzu- eignen (Moser 2011, S. 52ff.). Medienbildung gewinnt damit eine über die Medienpädagogik weit hinausgehende Relevanz. Denn Bildung ist generell in der Mediengesellschaft nur mehr möglich, wenn sich die Heran- wachsenden mit der medial verfassten Lebenswelt auseinandersetzen. Ob es also z.B. aus- reicht, Beziehungen über elektronische Nachrichten abzubrechen oder Geburtstagswünsche über Facebook zu mitzuteilen, ist keine von außen gesetzte Norm. Sondern wir sind selbst daran beteiligt, hier Regeln zu finden und zu praktizieren, die uns für das Leben in digitalen Lebenswelten angemessen erscheinen. Das Web 2.0 hat in den letzten Jahren deutlich gemacht: Der User ist nicht nur Konsument sondern auch Produzent von Informationen. Der gesellschaftliche Wandel und die “Sharing Economy” Auf diesem Hintergrund ist es zudem zu einfach, den gesellschaftlichen Wandel einer digitalen Gesellschaft allein damit zu begründen, dass sich das individuelle Verhalten bzw. dabei ge- zeigte Verhaltensroutinen durch die digitale Kommunikation verändern. Der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin (2014) geht hier weiter, wenn er die Treibkräfte dieses Wandels unter dem Stichwort einer “Sharing Economy” analysiert. Die sich heute andeutende gesellschaftli- che Form einer Sharing Economy beruht nach ihm nicht mehr auf “Besitzen”, sondern auf “Teilen” (des eigenen PKWs, der eigenen Wohnung etc.). Dies wird nicht zuletzt deshalb mög- lich, weil alle dazu nötigen Daten und Personen über Internet und Handy kostengünstig ver- knüpft werden können bzw. dies bereits sind. Denn Daten sind eine Ware, die kaum etwas kosten, wenn sie einmal generiert sind. Rifkin fasst das unter dem Begriff der “Null-Grenzkosten” zusammen. “Grenzkosten” sind dabei jene Kosten, die bei der Herstellung einer zusätzlichen Ware oder Dienstleistung anfallen. Diese 216 Heinz Moser aber tendieren nach “Null” – etwa im Bereich der Musik, wo Schallplatte und CD heute durch Datenformate wie mp3 ersetzt sind, die sich weitgehend kostenlos vervielfältigen lassen. Tauschbörsen und Streaming-Portale wälzen die traditionelle Musikwirtschaft um: Angehende Popstars stellen immer häufiger ihre Musik kostenlos ins Netz und verdienen ihr Geld über die Live-Auftritte, welche dank ihrer Fans und der Präsentation ihrer Musik im Internet zum Er- folg werden. Diese “dritte industrielle Revolution” wird von einem entstehenden “Internet der Dinge” ange- trieben, das teilweise schon Wirklichkeit geworden ist. Deutlich wird dies zum Beispiel am Car-Sharing. Anstatt selber ein Auto zu kaufen, teilen sich immer mehr Autofahrer/innen einen Wagen – vermittelt über Apps, welche die Vermietung der Wagen über das Handy organisie- ren. Rifkin prophezeit, dass jedes Geschäft, jedes Zuhause, alle Fahrzeuge und Maschinen zukünftig über ein intelligentes Datennetzwerk aus Kommunikations-, Energie- und Lo- gistikinternet verbunden sein werden. Weitere Beispiele können leicht gefunden werden: Bü- cher werden immer häufiger zu Null-Grenzkosten über das Internet verteilt. Wer selbst einen Roman schreibt, publiziert diesen nicht bei einem Verlag, sondern vertreibt ihn direkt über Amazon. Im wissenschaftlichen Bereich werden Texte immer häufiger kostenlos öffentlich gemacht (“Open Access”), was den wissenschaftlichen Verlagen das Wasser abgräbt. In der Diskussion um erneuerbare Energien betont Rifkin, dass Sonnenenergie kostenlos sei. In Zukunft würden Hunderte von Millionen Menschen zu Hause, in Büros und Fabriken ihre eigene erneuerbare Energie produzieren. Und mit den 3-D-Druckern soll jede/r physische Din- ge selbst herstellen können. Ihn beflügeln die Berichte, wonach die Firma WinSun Decoration Design Engineering in China letztes Jahr zehn Häuser an einem Tag gedruckt habe (vgl. zum Beispiel: http://inhabitat.com/chinese-company-assembles-ten-3d-printed-concrete-houses-in- one-day-for-less-than-5000-each/winsun-3d-printed-houses-7). In einem Interview mit der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT betont Rifkin, dass sich der heutige Marktkapitalismus bis um das Jahr 2050 herum gänzlich verwandelt haben werde: “Erfolgreich werden dann Unternehmen sein, die kollaboratives Gemeingut auf- bauen und managen – wie Facebook, Google oder Twitter. Und: Der Kapitalis- mus wird das Wirtschaftsleben nicht mehr allein dominieren. Vielmehr wird er ein mächtiger Partner des kollaborativen Gemeinguts sein, sodass wir eine große Menge unserer Produkte und Dienstleistungen nahezu kostenlos produzieren und teilen können. Das wird so manch anderer Industrie ihren Raum nehmen. All das ist wirklich paradox: Die unsichtbare Hand des Marktes erreicht ihren größten Triumph, sie schafft nämlich die effizientesten Märkte überhaupt, mit Grenzkos- ten nahe null, bloß erzielt man an diesem Punkt mit dem Verkauf keine Gewinne mehr. Also schafft die unsichtbare Hand etwas Neues, die Wirtschaft des Tei- lens.” (Rifkin 2014) Doch die Thesen einer neuen Form digitalen Wirtschaftens, in deren Rahmen Güter infolge Null-Grenzkosten kostenlos geworden sind, ist nicht unumstritten. Es scheint hier nochmals die Utopie einer Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassenge- Digital Citizenship als Leitlinie der Medienbildung 217 gensätzen geträumt zu werden, wie sie schon im Kommunistischen Manifest von Marx und Engels zum Ausdruck kam. So hieß es dort: “Von dem Augenblick an, wo die Arbeit nicht mehr in Kapital, Geld, Grundren- te, kurz, in eine monopolisierbare gesellschaftliche Macht verwandelt werden kann, d.h. von dem Augenblick, wo das persönliche Eigentum nicht mehr in bür- gerliches umschlagen kann, von dem Augenblick an erklärt ihr, die Person sei aufgehoben.” (Marx/Engels 1972, S. 477) Ähnliches passiert auch in der Sharing Economy, da Güter, die zu Null-Grenzkosten produziert werden nicht mehr in bürgerliches Eigentum verwandelt werden können. Diese Idee eines “digitalen Schlaraffenlandes” wird indessen auch harsch kritisiert. So betonen Rolf & Sagawe (2015, S. 201), dass Rifkins Vorstellungen auf eine hybride digitale Plattform mit teils kapitalistischem Markt und teils kollaborativem Gemeinschaftsraum hinausliefen. Trotz aller Sympathie für eine solche basisdemokratische Variante der digitalen Transformati- on der Gesellschaft, sei die Umsetzung einer solchen Vision fraglich. Rifkin unterschätze die heute schon bestehende Macht der Internetkonzerne mit ihren global gesponnenen Spinnennet- zen. Denn insgesamt hat die Entwicklung der letzten Jahre gezeigt, dass riesige Internetkonzer- ne entstanden sind, welche wie Google, Amazon, Facebook, Apple oder Microsoft die Netze dominieren. Wenn erfolgreiche StartUps entstehen, werden sie gleich von den großen Monopo- listen aufgekauft, sobald sich ein erster Durchbruch zeigt: So steckt in Facebook heute auch Instagram oder WhatsApp drin. Mit dem Internet der Dinge und dem zunehmenden Einbau der digitalen Geräte in Alltagsgegenstände – vom selbstfahrenden Auto bis zur digitalen Haustech- nologie – wird diese Tendenz noch zunehmen. Gegenüber basisdemokratischen Überlegungen zur Gestaltung des digitalen Zusammenlebens ist zudem festzuhalten, dass die großen Internetkonzerne vor allem von der breiten Sammlung von Daten ihrer Nutzer und Nutzerinnen leben. Daraus ist eine Strategie entstanden, die als “Big Data” bezeichnet wird: “Mit mathematisch-statistischen Verfahren werden aus Milliarden Informationssplittern Muster identifiziert, die dem Nutzer, um seine Vorlieben verdichtet, über das Smartphone zurückgespielt werden” (Rolf & Sagawe 2015, S. 112). Die kommerzielle Nutzung für individuell zugeschnittene Werbung und das konkrete Wissen über die Konsu- mentenbedürfnisse haben so zum Beispiel aus dem ursprünglichen Angebot einer vereinfach- ten Suchmaschine wie Google ein hochprofitables Unternehmen gemacht. Dass individuelle Daten aber nicht nur von privaten Firmen, sondern auch von Staaten ganz unverblümt genutzt werden, hat der NSA-Skandal gezeigt: Dieser wurde 2013 öffentlich, als Zeitungen wie der Guardian oder die Washington Post begannen, die geheimen Dokumente zu veröffentlichen, welche ihnen Edward Snowden als früherer Geheimdienstmitarbeiter der USA zugänglich gemacht hatte. Symbolisch stand für das weltweite Abhören von Daten das Handy der deutschen Bundeskanzlerin Merkel, vor dessen Überwachung der amerikanische Geheim- dienst nicht zurückschreckte. Insgesamt ist davon auszugehen, dass Daten heute global über- wacht und auf Vorrat gespeichert werden. Glenn Greenwald, der den NSA-Skandal als Journa- list ans Licht brachte, unterstreicht dies: 218 Heinz Moser “Aus dem Netz ein System zur Massenüberwachung zu machen, hat Folgen, die bislang mit den Überwachungsprogrammen keines Landes vergleichbar sind. Al- le vorherigen Ausspähsysteme waren zwangsläufig begrenzt, und man konnte sich ihnen entziehen. Wenn wir zulassen, dass die Überwachung fest im Internet verankert wird, werden mehr oder weniger alle Formen des menschlichen Aus- tauschs, Planens und sogar Denkens einer umfassenden staatlichen Kontrolle un- terworfen.” (Greenwald 2014, S. 10) Die Zielperspektive von “Digital Citizenship” Auf dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Situationsbeschreibung scheint mir medienpä- dagogisch gegenüber dem Ziel einer Warnung vor den digitalen Gefahren ein breiterer Ansatz- punkt notwendig, wie er unter dem Stichwort einer Vorbereitung auf die Rolle eines “Digital Citizen” beschrieben werden kann (vgl. Moser 2014). Dieser Begriff ist in den USA geprägt worden, wo er einen verantwortungsvollen Umgang mit den digitalen Medien einfordert. Wie Mike Ribble (2011) betont, hat die digitale Welt auch einen großen Einfluss darauf, wie sich die Menschen als Bürgerinnen und Bürger der realen Welt verhalten. Medienuser leben, kom- munizieren und arbeiten nicht allein in der physischen Welt, sondern ebenso in der digitalen und virtuellen Welt. Auf seiner Website definiert Ribble “Digital Citizenship” als “[…] ein Konzept, welches Lehrern, Führungspersonen im Technologiebereich und Eltern hilft, zu verstehen, was Schüler, Kinder, Technologie-Nutzer wissen sollten, um die Technologie auf richtige Weise zu nutzen. Digital Citizenship ist mehr als ein Tool für Lehrkräfte; es ist der Weg, um Schüler bzw. Technologie- nutzer auf eine Gesellschaft vorzubereiten, die von Technologien geprägt ist.” (Ribble 2015) Allerdings hat dieses Konzept von “Digital Citizenship” eine zwiespältige Färbung – etwa wenn betont wird, dass damit zu den Normen einer angemessenen und verantwortungsvollen Technologienutzung hingeführt werden soll. Es scheint bei vielen Autoren, welche diesem Konzept verpflichtet sind, dass sie den “richtigen” Verhaltensweisen und Normen bereits ken- nen und wie O‘ Brien (2010) den jugendlichen Usern im Gegensatz dazu nicht zutrauen, Tech- nologien von sich aus verantwortungsbewusst zu nutzen: Sowohl Jugendliche wie Erwachsene missbrauchten diese Technologie bzw. nutzten sie falsch. Deshalb fordert er: “Digital Citi- zenship ist ein Weg, um Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, was es bedeutet, ein guter digitaler Bürger zu sein, und was man tun muss, um einer zu werden.” Damit aber droht das Konzept des selbstverantwortlichen digitalen Bürgers seinerseits eine bewahrpädagogische Note zu erhalten – denn auch hier wird viel zu häufig vor Gefahren gewarnt, anstatt dazu zu motivieren, einen kritischen Diskurs über die entstehende digitale Gesellschaft aufzunehmen. In Wirklichkeit existiert zu vielen gesellschaftlichen Fragen noch keine klar definierte Kultur der heutigen digitalen Lebenswelten und ihrer Normen, die einfach autoritativ vermittelt wer- Digital Citizenship als Leitlinie der Medienbildung 219 den könnte. Auch viele Erwachsene sind, wie die oben erwähnte Umfrage zu digitalen Lebens- stilen (vgl. Moser & Scheuble 2014) gezeigt hat, noch stark verunsichert – und oft ist noch gar nicht abzuschätzen, welche Normen und Regeln sich durchsetzen. Partizipation an der digitalen Gesellschaft muss deshalb die digitalen Bürger an der Gestaltung dieser entstehenden Kultur beteiligen und sie in die damit verbundenen Diskurse einbinden. Erst wenn dieser Moment der Mitbeteiligung gewährleistet ist, enthält der Begriff der Digital Citizenship auch jene politische Bedeutung im Rahmen der Auseinandersetzung mit einer digitalen Gesellschaft, die in diesem Begriff angelegt ist. Dabei sind die Menschen nicht als passiv Lernende sondern als aktive User beteiligt. Positiv ist am bestehenden Konzept der “Digital Citizenship” zu sehen, dass neun breite Kern- bereiche beschrieben werden, welche für die Medienbildung in der digitalen Gesellschaft zent- ral sind (vgl. dazu Ripple 2011, S. 26ff.; Ribble,Bailey & Ross 2004): 1. Zugang: Es soll für alle Mitglieder der digitalen Gesellschaft der volle Zugang einer elektro- nischen Partizipation am Netz gewährleistet sein: Obwohl die Technologien den Menschen einen breiten Zugang zum Internet und zu der digitalen Kommunikation eröffnen, ist der Zu- gang nicht überall gleich verteilt. Studien belegen immer wieder, dass zum Beispiel der Zu- gang in Schulen und Unterricht immer noch beschränkt ist. 2. Digitaler Handel: Zunehmend werden Waren auf elektronischem Weg gekauft, verkauft und geteilt. Gerade in den jungen Generationen wird es immer mehr üblich, Waren über das Inter- net zu teilen, zu kaufen und zu verkaufen. Die BITKOM-Studie 2014 belegt, dass bereits 42 Prozent der 16-18 Jährigen mindestens ab und zu das Online-Shopping nutzen. Sich mit dem digitalen Handel auseinanderzusetzen, gehört zu den Kompetenzen eines “Digital Citizen“. Ribble (2011, S. 20) spricht in diesem Zusammenhang von einem “intelligenten Konsumen- ten“. 3. Digitale Kommunikation: Informationen werden heute immer häufiger auf elektronischem Weg ausgetauscht. Social Software wie Facebook oder WhatsApp und Email haben neue so- ziale Strukturen geschaffen, wer, wie und wann miteinander kommuniziert. Always-On ist in der digitalen Gesellschaft zum Schlagwort für die immerwährende Erreichbarkeit geworden, die selbst als gesellschaftliche Norm zu hinterfragen ist. 4. Digital Literacy: Mit digitalen Mitteln zu lernen wird sowohl für Schule wie für den Alltag generell immer wichtiger. Solche Kompetenzen können nur dann gefördert werden, wenn Ju- gendliche und Kinder lernen, Wissen und Fähigkeiten über die Anwendung von digitalen Mit- teln zu erwerben. Es geht also nicht allein um Handlungskompetenzen, sondern auch um das Wissen über die Funktionsweise von Technologien. 5. Digitale Etikette: Verhaltensstandards und alltägliche Routineabläufe werden in der digitalen Gesellschaft brüchig. Man schaut sich diese von anderen ab, übernimmt oder verweigert sie oft, ohne sich weiter zu fragen, ob das gerechtfertigt ist. Regeln der digitalen Etikette – etwa wie man verfährt, wenn WhatsApp Nachrichten das Erledigen der Hausaufgaben auf dem Handy stören – sollten diskutiert und festgelegt werden. Generell geht es also um die Frage, wie sich unser Verhalten in der digitalen Gesellschaft verändert. 220 Heinz Moser 6. Digitales Recht: Auf der einen Seite gelten grundlegende Rechte wie das Recht auf Privat- heit, freie Meinungsäußerung etc. für alle Digital Citizens. Auf der anderen Seite sind auch die geltenden Rechte wie Urheber- und Persönlichkeitsrechte, die im Internet leicht zu verletzen sind, zu beachten. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wieweit Gesetze, die aus dem “analo- gen” Zeitalter stammen, einer digitalen Gesellschaft noch angemessen sind. Und es ist zu fra- gen, wie jene, welche diese Rechte garantieren, selbst mit “Big Data” und dem Datenschutz umgehen. 7. Digitale Verantwortlichkeiten: Gefordert ist ein ethisch verantwortlicher Umgang mit den digitalen Technologien: Die Anforderungen und Freiheiten im Umgang mit dem Netz sind zum Beispiel zu respektieren, wenn Communities funktionieren sollen. Ethische und unethische Verhaltensweisen in der digitalen Gesellschaft gehören hier zu den Themen, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Dies gilt sowohl auf der individuellen Ebene wir für die Wirt- schaft und die staatlichen Institutionen. 8. Digitale Gesundheit und Wellness: Physisches und psychologisches Wohlergehen sind wich- tige Aspekte im Umgang mit digitalen Medien. Der Stress von “Always on” gehört hier ebenso dazu wie das lange Sitzen vor dem Computer, physische Leiden wie Sehnenscheideentzündun- gen oder die Tendenz, sich nicht von den digitalen Medien losreißen zu können. 9. Digitale Sicherheit: Hier steht der Schutz vor den inhärenten Gefahren der Technologie- nutzung im Zentrum. So geht es etwas darum, wie elektronische Daten geschützt werden kön- nen (vom Virenschutz und Phishing auf Websites bzw. in Emails bis zur regelmäßigen Erstel- lung von Backups von den eigenen Daten). Aber auch generell gibt es Fragen der Sicherheit, die sich zum Beispiel auf das Internet der Dinge beziehen: Wie sicher sind die in der Entwick- lung begriffenen selbstfahrenden Autos vor Hackern, wie angreifbar sind digitale Gesellschaf- ten etc.? Zusammenfassend sind alle neun Kernbereich von Digital Citizenship medienpädagogisch unter folgenden fünf Perspektiven zu verstehen: - Kinder und Jugendliche müssen lernen, das Netz für ihren Alltag und ihre Bedürfnisse wirksam zu nutzen. - Sie müssen lernen, im Internet verantwortungsvoll zu handeln - Sie sollen die entstehenden Regeln und Normen kritisch begleiten und nicht einfach blind übernehmen. - Sie brauchen ein Grundwissen zu den digitalen Technologien, das erst eine differen- zierte Auseinandersetzung mit den dahinterstehenden Konzepten ermöglicht. - Politik, Ökonomie und Ethik gehören dabei als Dimensionen der Auseinandersetzung dazu. Digital Citizenship als Leitlinie der Medienbildung 221 Neue Fragestellungen für die Medienbildung Angesichts der Zielperspektive von Digital Citizenship scheint mir die Ausrichtung einer indi- viduellen Medienkompetenzförderung, wie sie am Anfang dieses Beitrags skizziert wurde, zu eng gedacht. Zwar gehören Fragen des Schutzes vor individuellen Gefahren der digitalen Me- dien dazu; doch meines Erachtens müsste sich die Medienbildung viel stärker auf die dahinter- liegenden aktuellen gesellschaftlichen Problematiken beziehen. Überlegungen zur Entwicklung einer “Sharing-Ökonomie” dürften für die Zukunft wichtiger sein wie der kompetente Umgang mit Facebook oder YouTube – Applikationen die so rasch wieder verschwinden, wie sie auf- gekommen sind. Auch weitergehende Probleme eines “digitalen Lebensstils” (Moser & Scheu- ble 2014) können durchaus anschaulich vermittelt werden – etwa an Beispielen wie dem Ta- xisdienst Uber oder dem Mieten von Ferienwohnungen über Airbnb. Dazu sollen zum Schluss einige Beispiele skizziert werden: Das PRISM Rollenspiel zum Datenschutz (Bereich 6: Digitales Recht) Eines der wenigen im Netz dokumentierten Unterrichtsbeispiele, das solche gesellschaftlichen Fragestellungen aufnimmt, ist das Rollenspiel zu PRISM, dem vom US-Geheimdienst NSA eingesetzten Programm zur Überwachung elektronischer Daten. Hier wird die Auseinanderset- zung mit der Überwachung unsere privaten (Kommunikations-)Daten auf spielerische Weise erfahrbar gemacht. Die Unterrichtseinheit wird wie folgt eingeleitet: “Im Spiel geht es um drei Personen: Herr Bunselsmith, seine Freundin Steffi und seinen Kumpel Hansjürg Pap. Sie stehen in ständigem Kurznachrichten-Kontakt via WhatsApp (es könnten auch SMS o.ä. sein). Alle sind harmlose, normale Durchschnittsbürger, ihre WhatsApp-Kommunikation ist unspektakulär bis langweilig. Nun sind Teile ihrer WhatsApp-Kommunikation ins Internet ge- langt - ein Dokument mit knapp 10 Gesprächsfetzen.” Die konkrete Anleitung zur Unterrichtseinheit findet sich auf der Website “Lehrerfreunde.de” (http://www.lehrerfreund.de/schule/1s/datenschutz-prism-spiel/4407#kommentare). Überwachungsdrohnen und Kameras in Toiletten (Bereich 6: Digitales Recht/Bereich 9: Digitale Sicherheit) Aber auch aufgrund von aktuellen Zeitungsnachrichten ist es möglich, Themen wie die allge- genwärtige Überwachung im Unterricht zu behandeln: 222 Heinz Moser Abbildung 1: 20 Minuten vom 1. Juli 2013 (http://www.20min.ch/schweiz/news/story/28976623; abgeru- fen am 15.12.2015) Abbildung 2: Berliner Zeitung vom 7.8.2015 (http://bit.ly/1gPD2IV; abgerufen am 15.12.2015) Digital Citizenship als Leitlinie der Medienbildung 223 Schritte zur Bearbeitung der Problematik könnten sein: - Weitergehende Abklärung der im folgenden Zeitungsbeitrag dargestellten Informationen. So wird z.B. der Internetpranger einer schweizerischen Gemeinde erwähnt, ohne dass der Fall genau dargestellt ist. Oder es wäre im Netz zu recherchieren, ob es zum Thema derÜberwachung durch Drohnen weitere Zeitungsartikel oder Blogbeiträge gibt. Ebenfalls könnte man untersuchen, wie U-Bahnstationen, Straßen und öffentliche Plätze mittels Video überwacht werden. Überraschend kann es für Schüler/innen auch sein, wenn sie auf ihrem Handy oder dem Desktop PC ihre Timeline von Google abfragen. - Dazu kommen Fragen nach öffentlicher Sicherheit und Privatheit. Dazu kann man nicht allein schriftliches Material zusammentragen. Es wäre auch möglich, mit dem Handy Leu- te auf der Straße oder lokale Politiker/innen zu befragen. - Neben der Klärung von Fakten geht es um die Meinungsbildung, möglichst anhand kon- kreter Fragestellung. So könnte man zum Beispiel im Unterricht mit den Schüler/innen ein Meinungsbild zu folgenden beiden – im obenstehenden Zeitungsartikel genannten – Frage- stellungen erarbeiten: Dürfen Badeanstalten ihre Umkleideräume mit Videoüberwachung gegen Diebstahl schützen? Ist es gerechtfertigt, wenn Restaurants damit den Drogenkon- sum in den Griff bekommen wollen? WebQuests als Methode zur medienbildnerischen Projektarbeit Eine gute Möglichkeit, um Fragen der Digital Citizenship im Unterricht aufzunehmen, sind WebQuests – jene Unterrichtsmethode, die von Bernie Dodge entwickelt und definiert wurde: “Ein WebQuest ist eine entdeckungsorientierte Aktivität, bei welcher die meisten oder alle Informationen, die von den Lernenden benützt werden, aus dem Web stammen” (Dodge 1995, S. 12; vgl. auch Moser 2008, 2015). WebQuests sollen die Schüler/innen beim eigenständigen Recherchieren und beim Arbeiten an den damit gegebenen Aufgaben durch ein unterstützendes Lerngerüst (“scaffold”) unterstützen. Vorselektierte Datenquellen, die von den Lehrkräften im Netz vorrecherchiert wurden, sind Orientierungspunkte für die Schüler/innen– so dass sie durch die Informationsfülle des Netzes nicht überfordert werden. Wesentlich ist bei WebQuests die Projektorientierung. Sie wollen die Schüler/innen nicht be- lehren, sondern zu eigenen Lernaktivitäten herausfordern – und mit der Präsentationsphase zielen sie auf das Teilen (“Sharing”) des erarbeiteten Wissens ab. Methodisch sind WebQuests in fünf Schritte aufgebaut: - Das Thema und sein Hintergrund sind auf anschauliche Weise einzuführen. Dies kann auch eine kleine Geschichte sein (Nachdem euer großer Bruder ausgezogen ist, …). - Es ist eine mach- und lösbare Aufgabenstellung zu formulieren, wobei die Schü- ler/innen in diesem Schritt möglichst einzubeziehen sind. - Es sind Quellen anzugeben, welche helfen, die Aufgabe zu lösen. Dabei handelt es sich um Web-Seiten und weitere Datenquellen, die benutzt werden können. 224 Heinz Moser - Die Lehrperson berät bei der Arbeit die Schüler/innen und gibt Hinweise, wenn diese nicht mehr weiter kommen. - Die Resultate der Arbeit werden von den Schüler/innen in der eigenen Klasse oder im Internet publiziert. Das folgende Beispiel zeigt, wie ein WebQuest zur Förderung von Digital Citizenship gestaltet werden kann. Zimmer vermieten über Airbnb (Bereich 2: Digitaler Handel) So könnte das WebQuest thematisch eingeleitet werden: “Nachdem euer großer Bruder ausge- zogen ist, hat deine Familie entschieden, das Zimmer über Airbnb zu vermieten. Dadurch wird auch dein Taschengeld im Monat erhöht. Doch ein Freund hat dir einen Artikel aus der Berli- ner Zeitung gezeigt. Dabei hat er schadenfroh gelacht “Mit deiner Taschengelderhöhung wird es wohl nichts.” Die Aufgabenstellung könnte im Folgenden als Rollenspiel mit unterschiedlichen Positionen zu Airbnb aufgebaute werden. Die Klasse wird dazu in fünf Arbeitsgruppen von ca. 4 Schü- ler/innen aufgeteilt: - Tourist/innen, die eine Airbnb Wohnung bzw. ein Zimmer in der Stadt suchen und begründen, warum sie dies gegenüber einem Hotelzimmer bevorzugen. - Die Vertreter/innen der Hotels, welche gegenüber der Konkurrenz von Airbnb sehr kritisch eingestellt sind. - Die Vertreter/innen der Stadt, welche geordnete Verhältnisse im Bereich der Vermie- tung von Zimmern wollen. - Anbieter/innen von Airbnb Zimmern, die nicht verstehen, warum sie eingeschränkt werden sollen (“Ist doch meine Wohnung …”). - Die Mieter/innen in einem größeren Wohnblock, die es kritisch sehen, dass drei Woh- nungen bei Airbnb untervermietet sind. Zu allen diesen Gruppen erhalten die Schüler/innen Links zur Bearbeitung, die auf Online- Texte zur zu erarbeitenden Problematik hinweisen. Dazu wird die Position der Rollenträger schriftlich skizziert, die von den Schüler/innen zu beachten ist. Aufgrund der Bearbeitung ihrer Position stellt jede Gruppe ein Plakat her, auf welchem ihre Stellungnahme kurz zusammengefasst wird. Zudem stellt sie eine/n Vertreter/in für ein Podi- umsgespräch mit dem Stadtpräsidenten oder der Stadtpräsidentin (repräsentiert durch die Lehr- person), der/die versucht, in diesem Konflikt zu vermitteln. Im Folgenden werden einige weitere Themen kurz angesprochen, welche sich auf die Kernbe- reiche der Digital Citizenship beziehen, hier aber nicht bis ins Detail ausgearbeitet werden Digital Citizenship als Leitlinie der Medienbildung 225 können. Es sollen eine Reihe von Ideen skizziert werden, mit denen WebQuests zur Problema- tik des Alltags in der digitalen Gesellschaft realisiert werden können. Uber oder Taxi? (Bereich 2: Digitaler Handel/Bereich 6: Digitales Recht) Der Streit zwischen dem neuen Dienstleister Uber und dem traditionellen Taxigewerbe ist in den letzten Monaten eskaliert. Damit stellt sich die Frage, inwieweit die traditionellen Vor- schriften zum Taxigewerbe den Fortschritt für neue Lösungen verhindern, oder ob die Auflö- sung bestehender Vorschriften für die Personenbeförderung Tür und Tor für neue Billiglohn- jobs öffnet. Auch hier könnten die verschiedenen Positionen über ein Rollenspiel akzentuiert werden. Abbildung 3: Die Zeit vom 2.9.2014 (http://www.zeit.de/mobilitaet/2014-09/uber-verbot; abgerufen am 15.12.2015) 226 Heinz Moser Selbstfahrende Autos (Bereich 7: Digitale Verantwortlichkeiten) Abbildung 4: Mokant vom 16. Juni 2015 (http://mokant.at/1506-self-driving-car-google-selbst-fahrende- autos-ai-1; abgerufen am 15.12.2015) Das selbstfahrende Auto, das in den nächsten 20 Jahren wahrscheinlich immer realer wird, legt die Verantwortlichkeiten im Autoverkehr völlig neu fest: Wer ist schuld, wenn es zu Unfällen kommt? Kann man die Elektronik dieser Autos auch hacken? Soll man sich total in die Hände der Technologie geben und auf das eigene Steuern seines Fahrzeugs verzichten? Wie funktio- niert diese Technik überhaupt? Solche Fragen können in Gruppen arbeitsteilig aufgearbeitet werden. Am Ende der Gruppen- phase steht eine Konferenz zum Thema, in welcher die Gruppen ihre Arbeit präsentieren und diskutieren, wie wünschbar diese Technologie ist, und ob es auch Grenzen für selbstfahrende Autos geben wird. Schluss machen im Netz? (Bereich 3: Digitale Kommunikation/Bereich 7: Digitale Verantwortlichkeiten) Abbildung 5: Online-Trennungsagentur (http://machschluss.at/index.php; abgerufen am 15.12.2015) Digital Citizenship als Leitlinie der Medienbildung 227 Hier stellt sich die erste kostenlose Trennungsagentur der Welt im Netz vor. Bei der Bearbei- tung dieses WebQuests können auch mobile Lernphasen einbezogen werden – indem zum Beispiel Passanten und Passantinnen auf der Straße befragt werden, was sie von einer solchen Agentur halten, bzw. ob sie auf elektronischem Weg (über SMS, WhatsApp etc.) Schluss ma- chen würden. Gleichzeitig können auch Diskussionen, die zu diesem Thema im Netz geführt werden, einbezogen werden. Waren bei Amazon beziehen: bequem und günstig (Bereich 2: Digitaler Handel) Abbildung 6: Frankfurter Rundschau, 26. November 2013 (http://bit.ly/1c0b3vi;abgerufen 15.12.2015) Die Schüler/innen tauschen sich erst darüber aus, wie häufig die Angebote von Amazon in ihren Familien genutzt werden, und sie vergleichen die Angebote von Amazon mit anderen Anbieter/innen. In einem zweiten Schritt erhalten sie Internet-Links zu kritischen Beiträgen über Amazon, die im Plenum vorgestellt werden. Diese betreffen nicht allein die oben genann- ten Arbeitsbedingungen, sondern auch Informationen zur Verdrängung lokaler Buchhandlun- gen oder zur Entwicklung von Amazon zum Großversender für Konsumartikel. Zum Schluss wird kontrovers diskutiert, was die neu gefundenen Informationen für das eigene Kaufverhal- ten bedeuten. Die eben dargestellten Beispiele sollen zeigen, in welcher Richtung medienpädagogische Fra- gestellungen im Unterricht weiterzuentwickeln sind, wenn sie Kinder und Jugendliche in die Probleme der entstehenden digitalen Gesellschaft heranführen soll. Diese und ähnliche Themen sind für einen Unterricht leicht zugänglich, der das Internet als Materialquelle aufnimmt. Digi- 228 Heinz Moser tal Citizenship bleibt dann nicht bei der Vermittlung von Ratschlägen zu einem “verantwor- tungsvollen” Umgang mit den eigenen Daten hängen, sondern bettet solche Fragen in den breiteren Rahmen einer digitalen Gesellschaft ein. 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Medienbildung bildet nicht nur mittels Medientechnologien und -inhalten, sondern vermittelt auch ein tiefgreifendes Verständnis im Hinblick auf Medien insgesamt, ihre Funktionsweisen, Möglichkeiten aber auch Gefahren. “Die ersten Menschen waren nicht die letzten Affen.” (Erich Kästner) 1 Einleitung Medienbildung ermöglicht es uns, junge Generationen in einer Zeit des schnellen technologi- schen Wandels, der unsere Mediengesellschaft prägt, zu begleiten. Sie bietet die Chance Medi- enkompetenzen in einer gelebten Medienkultur zu vermitteln. Überlegen wir uns, auf was wir mit Bildung abzielen, kommen wir nach der Schulbildung in die Ausbildung hin zum Arbeits- markt. Hier sind Medienkompetenzen nicht mehr wegzudenken und gerade deswegen gehören diese entwickelt und gefördert. Wie aber können wir diese Kompetenzen vermitteln und den Erwerb dieser begleiten ohne dass wir versuchen in alten Strukturen zu denken und zu handeln? Der Prozess dahin kann vielfältig sein und ist zugleich holprig, denn Medienbildung in der Schule wird – wenn überhaupt – überwiegend von Lehrenden angeboten, die nicht in digitalen Medienkonstellationen aufge- wachsen sind. Die sogenannten digital natives – oder wie auch immer man sie nennen mag – haben durchaus andere Herangehensweisen und Umgangsformen mit Medien. Denn sie sind in eine medial geprägte und medial vermittelte Kultur geboren, in der Medien alle Lebensberei- che beeinflussen. In diesem Artikel greife ich aktuelle Initiativen auf, um neue Chancen und Herausforderungen der Medienbildung aufzuzeigen. 232 Tanja Kohn 2 Do It Yourself Bewegung – Initiativen rund um Technologie Die Zahl der technologiebezogenen Initiativen und Projekte außerhalb der Schule steigt jähr- lich an und wird an die Öffentlichkeit getragen – sogar in der Öffentlichkeit gelebt. Denn seit einigen Jahren werden unterschiedlichste Preise und Auszeichnungen für innovative Projekte ausgeschrieben und teilweise durch Publikumsbeteiligung bestimmt. Durch sogenannte Vo- ting-Verfahren wird zu einem gewissen Prozentsatz die Community eingebunden, das Sieger- projekt mitzubestimmen. Beispiele für Ausschreibungen sind der Social Impact Award1, die Google Impact Challenge2 oder die Netidee3. Hier gewinnen IdeenfinderInnen und hier werden innovative Bildungsprojekte ausgezeichnet und (finanziell) gefördert. Innovation beinhaltet in diesen Initiativen meist learning by doing Ansätze. Learning by doing – Lernen durch Handeln – ist ein Lernmodell, das uns durch Anwendung des Gelernten Erfahrungen sammeln und im gegebenen Fall das Umgesetzte reflektieren lässt. Es wird also dazu ermutigt, den Lernprozess selber zu erfahren, teilweise sogar selbst zu steuern und befähigt dadurch zum lebenslangen Lernen. Dieses Modell gilt auch als Gegenmodell zum Auswendiglernen. Es geht also auch um das Selbermachen. Do It Yourself, kurz DIY, ist ein aktueller aber auch wiederkehrender Trend – basierend auf einer Bewegung, die unter anderem Kreativität fördert. Mach es selber! Wir haben zwar schon immer gebastelt, aber der Drang die Dinge selber zu machen, weg vom Kapitalismus gesteuerten Konsum, ist größer denn je.4 Die DIY-Bewegung entstand teilweise schon in den 50er Jahren und fußt in dem Glauben an sich selber sowie dem Streben nach Veränderungen. DIY ist mehr als Basteln, Selbermachen oder Heimwerken, es ist eine Bewegung, die zum einen auf persönlicher und zum anderen auf kollektiver Einstellung ruht. Autodidaktisch Fähigkeiten erwerben wurde früher durch selbstgedruckte kleine Heft- chen, sogenannte Zines, unterstützt, heute durch diverse Zeitschriften, Fernsehsendungn und YouTube Videos. Die Bewegung hat unterschiedliche Beweggründe, beispielsweise Spaß, Kreativität oder wirtschaftliche Gründe. Heute tendiert sie zur Kreativökonomie, die mit Zwang zur Kreativität und Kreativität als Ressource die frühere Abgrenzung zur Kommerziali- sierung verschwimmen läßt. (Vgl. Gauntlett 2011, Gold 2011) In vielen Städten werden soge- nannte Repair Cafés veranstaltet, wo sich Menschen treffen und defekte Dinge reparieren. In Hackerspaces werden offene Räume angeboten, die als Werkstätte und als Treffpunk zum voneinander Lernen, sich Austauschen und Basteln mit Technologie fungieren. Infolgedessen wurden weltweit Fabrication Laboratories, kurz Fab Labs, gegründet wie beispielsweise 1 Social Impact Award: http://socialimpactaward.net/, abgerufen am 24.04.2016. 2 Google Impact Challenge: www.google.org/local-giving/impact-challenge/, abgerufen am 24.04.2016. 3 Netidee: www.netidee.at, abgerufen am 24.04.2016. 4 Von der Auseinandersetzung mit dem Warum? wird in diesen Artikel abgesehen, da es den Rahmen sprengen würde. Do It Yourself Trends für Medienbildung nutzen 233 Happylab5 in Österreich und Otelo6 mittlerweile weltweit. Bezeichnungen wie Maker Space, Maker Faire und Maker Days werden in der Maker Movement Szene häufig verwendet. Die Grundidee ist bei allen gleich: Orte bzw. Räume schaffen, in denen sich Menschen mit gleichen Anliegen treffen und sich gegenseitig kreativ helfen können sowie Idee finden und diese versuchen umzusetzen. Diese Herangehensweisen könnten auch mithilfe der Medienbildung Einzug in das Schulwesen nehmen. Durch das Selbermachen, also eine Art des learning by doing, erwirbt man sozusagen spielerisch, im Prozess, fundierte Kenntnisse der Funktionsweise beispielsweise von Techno- logien – je nach dem was man macht. So wird einem vermittelt oder man vermittelt sich selber Anwendungswissen durch gezieltes oder ungezieltes Experimentieren. Nach dieser kurzen Einführung stelle ich im Folgenden einige Beispiele bezüglich Bildungs- projekte und Bildungsinitiativen vor. Als erstes beschreibe ich ein Projekt, das flexible Lehr- und Lerninhalte rund um Technologien im Bildungssektor für (angehende) LehrerInnen zur Verfügung stellt. Dieses ermöglicht PädagogInnen den Einstieg und die Vertiefung für die angewandte Lehrpraxis mit Technologien. Anschließend zeige ich die Initiative TechnikBas- teln® auf, die Workshops zum Verständnis im Umgang mit Technologien für Kinder spiele- risch vermittelt, anbietet. Auch auf der Ebene der Umsetzung setzt das Projekt Maker Days for Kids an: Making mit Kindern in einer Werkstatt. Und abschließend gehe ich auf einen Online- Kurs zu Making ein. 2.1 L3T – Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien Open Educational Resources, kurz OER, bestehen aus digitalen Lehr- und Lerninhalten, die offen lizenziert wurden, d.h. unter Einhaltung einiger weniger Regeln frei verfüg- und nutzbar sind. Ein Praxisbeispiel für ein Bildungsprojekt in diesem Zusammenhang ist das deutschspra- chige innovative E-Book L3T – Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien, herausge- geben von Martin Ebner und Sandra Schön (2011; 2013). Es handelt sich um eine Sammlung von Lehrtexten für Studierende und Lehrende zum Einstieg in die Thematik E-Learning. In der ersten Ausgabe haben 116 AutorInnen und über 80 GutachterInnen daran mitgearbeitet das Themenfeld umfassend darzulegen. Das Buch ist unter der Creative Commons Namensnen- nung - Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Unported Lizenz die erste 5 Die Happylabs “ermöglichen als Österreichs erstes ‘Fab Labʼ den niederschwelligen Zugang zu digita- len Produktionsmaschinen. Mit Laser Cutter, 3D-Drucker, Schneidplotter und CNC-Fräse können eigene Ideen verwirklicht und Projekte sofort umgesetzt werden.” (www.happylab.at/happylab/ueber-uns/, abge- rufen am 24.04.2016). Derzeit gibt es zwei Standorte in Österreich, Wien und Salzburg. 6 Otelo – offenes Technologielabor Gründer Martin Hollinetz wurde unter anderem als Ashoka Fellow ausgezeichnet. 234 Tanja Kohn online Ausgabe des Lehrbuchprojektes. Die Kapitel der Ausgabe von 2011 wurden bis heute bereits mehr als 369.000-mal heruntergeladen (Stand 24.04.2016).7 Das Buch wurde 2011 mit drei Preisen ausgezeichnet: (1) dem SUMA Award 20118, (2) dem DNBP 2011 der Kategorie Wissenschaft9 und (3) dem 1. Preis des eAward Steiermark 201110. Es gilt als Zukunftsvision und Vorbild für kollaborativ gestaltete und frei verfügbare Bücher. Durch den Erfolg der ersten Ausgabe wurde das E-Book als L3T 2.0 (Ebner & Schön 2013) im Rahmen eines weiteren innovativen Projektes L3T 2.0 … in sieben Tagen! vom 20. bis 28. August 2013 vollständig überarbeitet und ergänzt. Mehr als 250 Mitwirkende haben dieses Mal in einer neuen Form der Kollaboration 59 Kapitel als freie Bildungsressource erstellt, aber auch bestehende Texte modifiziert, damit das Buch noch flexibler in der Lehre eingesetzt wer- den kann. Die zweite online Ausgabe des Lehrbuchprojektes läuft unter der Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz. Das Buch wurde bereits knappe 158.000-mal heruntergeladen (Stand 24.04.2016).11 Beide Bücher stehen auch als Printversion kostenpflichtig zur Verfügung. 2.2 TechnikBasteln® Workshops Parallel zu L3T haben Christoph Derndorfer und die Autorin, beide tätig im Verein OLPC (Austria) – Gesellschaft für Forschung und Entwicklung, 2011 die Idee für ein Projekt auf Schulebene entwickelt. Es sollte um einen niederschwelligen Zugang zu Wissen über Funkti- onsweise und Aufbau von unterschiedlichen Technologien für Kinder gehen. Die Idee fand Zuspruch und wurde im Zuge des 6. NetIdee Calls12 durch die Internet Privatstiftung Austri- a (IPA)13 finanziell gefördert. So wurde TechnikBasteln® – Informations- und Kommunikati- onstechnologien (IKT) zum Anfassen und BeGreifen14 ins Leben gerufen. TechnikBasteln® ist ein innovatives und interdisziplinäres Projekt, in dem seine TeilnehmerIn- nen die Hauptakteure sind. Sie werden in Workshops darin begleitet, IKT auf spielerische Weise zu verstehen, in vielfältiger Weise zu erfahren und auch zu hinterfragen. Thematisch werden hierbei beispielsweise die Funktionsweise von Computern und Mobiltelefonen, der 7 Analytics: http://l3t.eu/homepage/das-buch/analytics, abgerufen am 24.04.2016 (362.725-mal herunter- geladen, abgerufen am 15.3.2016). 8 SUMA-EV – Verein für freien Wisssenszugang: http://suma-awards.de/preistraeger.html, abgerufen am 24.04.2016. 9 DNBP– der neue Buchpreis: derneuebuchpreis.de. 10 eAward: http://www.report.at/telekom/politik/item/36767-sieger-in-der-steiermark-gek%C3%BCrt, abgerufen am 24.04.2016. 11 Analytics: http://l3t.eu/homepage/das-buch/analytics, abgerufen am 24.04.2016 (155.302-mal herunter- geladen, abgerufen am 15.03.2016). 12 6. NetIdee Call: https://www.netidee.at/die-netidee-2011/, abgerufen am 24.04.2016. 13 IPA: https://www.nic.at/, abgerufen am 24.04.2016. 14 TechnikBasteln®: http://www.technikbasteln.net/, abgerufen am 24.04.2016. Do It Yourself Trends für Medienbildung nutzen 235 Aufbau des Internets und Vorsichtsmaßnahmen bei der Verwendung dieser Werkzeuge behan- delt. Die Motivation hinter dem Projekt ist in erster Linie das Begeistern und Faszinieren für IKT, aber auch tiefgehende Wissensvermittlung. Der Beitrag zur Medienbildung ist bei diesem Pro- jekt teils Hardware-basiert und teils detaillierte Aufklärung. Zugrunde liegt die Überzeugung, dass es notwendig ist, alle, und vor allem sehr junge Men- schen, mit IKT vertraut zu machen um einen breiten gesellschaftlichen Nutzen von IKT zu ermöglichen. Nur wer die Grundlagen von IKT und ihrer Verwendungen versteht, wird diese selbstständig, sicher und effektiv einsetzen können. Zugleich werden neben der rein techni- schen Bildung –hin zu den Berufsbildern von Ingenieuren und Informatikern – die kulturellen, gesellschaftlichen, selbstreflexiven und kritischen Dimensionen der Entwicklung der Kinder bereichert. Ein Vorteil der primären Zielgruppe – Kinder in Grundschule – ist, dass in der Grundschule alle Kinder, egal welchen sozio-ökonomischen Lebenshintergrund sie haben, angesprochen werden können. Während einiger Testworkshops stellte sich heraus, dass Kinder in der 3. und 4. Schulstufe (8-10 Jahre) für die von uns konzipierten Workshops sehr gut geeignet sind. Angebotene Workshops15, die Kinder spielerisch an Themen rund um IKT heranführen, sind: − Technische Grundlagen des Internets − Aufbau und Funktionsweise eines Computers − Funktionsweise von Mobiltelefonen und GPS − Sicherer Umgang mit dem Internet − Tipps und Tricks für den bedachten Umgang mit IKT In einer späteren Projektphase wurde ein weiterer Fokus auf junge Frauen gelegt. Das Berufs- informationszentrum (BIZ) des österreichischen Arbeitsmarktservices (AMS) bot am Girl’s Day 2013 unterschiedliche Veranstaltungen an, wo mit einer sogenannten girl’s only Gruppe, einen Workshop16 mit jungen Frauen durchgeführt wurde. Hierbei hatten die Teilnehmerinnen unter anderem die Möglichkeit Computer von innen kennenzulernen, sich über technische Berufe zu informieren und sich kritisch mit IKT auseinanderzusetzen. TechnikBasteln® hat als Projekt angefangen und ist im Laufe der Zeit zur Initiative geworden. Nach Ende der einjährigen Förderung im Jahr 2012 und dem Scheitern auf andere Zuschüsse und Förderungen konnten nur noch vereinzelt Workshops in Kooperation mit Firmen und der oberösterreichischen KinderUni angeboten werden. Um einen Multiplikatoreneffekt zu erzie- len, wurde versucht Workshops für LehrerInnen anzubieten. Die ausgeschriebene LehrerInnen- 15 Workshopkonzepte und -materialien: http://www.technikbasteln.net/workshops/, abgerufen am 24.04.2016. 16 Workshop: Frauen in technischen Berufen, http://www.technikbasteln.net/workshops/frauen-in- technischen-berufen/, abgerufen am 24.04.2016. 236 Tanja Kohn Fortbildung der PH Dornbirn am 6.03.2013 und am 24.04.2013 musste leider aufgrund zu weniger Anmeldungen abgesagt werden. Dennoch können alle für die Workshops entwickelten Materialien genutzt werden. Sie stehen unter einer Creative Commons Namensnennung - Wei- tergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 (CC-BY-SA) Österreich Lizenz. 2.3 Maker Days for Kids Werkstatt Im Jahr 2014 hat Sandra Schön17 in Kollaboration mit weiteren ExpertInnen das Modell Maker Days for Kids18 entwickelt. Basierend auf ihren Ideen ist eine 4-tägige Aktionswoche mit dem Namen Maker Days for Kids entstanden, eine kreative offene (digitale) Werkstatt für 10- bis 14-jährige. Diese Werkstatt stand den Kindern in den Osterferien vom 7. bis 10. April 2015 von 10:30 Uhr bis 16:00 Uhr kostenlos und ohne vorheriger Anmeldung in Bad Reichenhall, Deutschland zur Verfügung (vgl. König 2015; Wunderlich 2015; Schön, Ebner & Reip 2016).19 Abb.1: Maker Werkstatt (CC BY Sandra Schön, 2015) 17 Sandra Schön arbeitet unter anderem bei Salzburg Research und bei dem gemeinnützigen Verein BIMS e.V. (Bildung Innovation Migration Soziale Exzellenz). Bei den Maker Days for Kids ist sie die Projekt- leiterin. 18 Maker Days for Kids Webblog: https://makerdays.wordpress.com/, abgerufen am 24.04.2016. 19 Eine komplette Projektbeschreibung wurde bei Medienimpulse veröffentlicht (Schön, Ebner & Reip 2016). Do It Yourself Trends für Medienbildung nutzen 237 Die Abbildung 1 zeigt die Skizze der Maker Werkstatt der oben beschriebenen Veranstaltung. Bei der “Orga” neben dem Eingang haben die Kinder sich beim Eintritt registriert. Am 1. Tag haben 28 Kinder und 6 Peer-TutorInnen ihrer Kreativität freien Lauf gelassen. Die Peer- TutorInnen waren zwischen 9 und 14 Jahre alt, jeden Tag Vorort und haben die teilnehmenden Kinder bei Bedarf unterstützt. Sie haben auch schon in der Vorbereitungsphase aktiv die Maker Days mit Ideen mitgestaltet. Kinder konnten kommen und gehen, wann sie wollten, da die Teilnahme unverbindlich war. Oftmals standen sie jedoch schon um 10:00 Uhr vor der Tür und mussten warten bis geöffnet wurde. Täglich sind neue Kinder dazugekommen. Am 2. und 3. Tag waren je 39 Kinder aktiv und am letzten Tag 28. Insgesamt kamen 24 Kinder am 2. Tag wieder, 14 waren jeden Tag dabei (vgl. Schön, Ebner & Reip 2016, S. 10). Making fasziniert durch den Blick hinter die Kulissen. In einer Maker Werkstatt können Kinder sehen, erfahren und experimentieren, wie Dinge funktionieren oder nicht funktionieren, wie Dinge aussehen bzw. aussehen können. Das heißt Technik wird als gestaltbar und nicht als vorgegeben und unveränderbar wahrgenommen. Einige Erfahrungen und Meinungen der Umsetzungsphase: An den ersten Tagen haben die Kinder oftmals gefragt, ob sie Dieses oder Jenes benutzen dür- fen und erst später haben sie sich getraut einfach alles zu benutzen. Diese Beobachtung war interessant, denn es spiegelte sich auch in der Kreativität der Kinder wider: über die Tage hin- weg wurde weniger von anderen kopiert und mehr kreiert. Es wird erkennbar, dass es dringend notwendig ist, solche Freiräume zu schaffen, um Möglichkeiten zur Emanzipation aus vorge- gebenen Techniknutzungen zu bieten. Eine Station bei den Maker Days war der 3D-Drucker des Salzburger Happylabs. Die größten Herausforderungen steckten hier in der Technik. Für die Station wurden Computer mit der entsprechenden Software sowie 3D-Drucker benötigt. In der Vorbereitungsphase schlugen die ersten Drucke fehl, waren teilweise inkorrekt und wurden abgebrochen. In der Umsetzungs- phase funktionierte der Drucker dann. Die Kinder waren sehr engagiert und haben Modelle mit dem Programm SketchUp20 entworfen. Anschließend wurden die Modelle mit dem Drucker gedruckt. Hierbei konnten die Kinder erst sehen, ob die entworfenen Modelle fehlerhaft waren oder nicht. Es ist wichtig dabei zu wissen, dass der Druck sehr viel Zeit in Anspruch nimmt und es daher eher nur für kleine Gruppen geeignet ist. Zum Beispiel könnten mehrere Objekte in den gleichen Druckauftrag gestellt und über Nacht gedruckt werden, damit niemand lange warten muss. Wichtig ist, dass die Technik vor dem Einsatz ausprobiert wird. Eine andere Station war Technik Werken mit Löten und LED-Verwendung. Mit Löten können viele Projekte, zum Beispiel Wackeltierchen21, umgesetzt werden. Die größte Herausforderung war das fehlende Vorwissen der Kinder. Es wurden deswegen die Grundlagen von einfachen 20 SketchUp ist ein Programm zur Erstellung von 3D-Zeichnungen: https://www.sketchup.com/de, abge- rufen am 23.04.2016. 21 Beispielvideo für Wackeltierchen: https://youtu.be/QJXrxMYnNMc, abgerufen am 24.04.2016. 238 Tanja Kohn Schaltkreisen und geschlossenen Stromkreisen erläutert. Auch musste das eine oder andere Kind erst erfahren, was es bedeutet mit Hitze umzugehen. Die Link- und Materialiensammlung stehen unter den Bedingungen der CC-BY-Lizenz zur Verfügung (Reip, Schön & Heinemann 2015). 2.4 Making mit Kindern Online-Kurs Aus den Maker Days for Kids wurde ein kostenloser Online-Kurs zum Thema Making – krea- tives Gestalten und Experimentieren mit Kindern22 mit Start im Oktober 2015 konzipiert, er- stellt und angeboten (imoox 2015). iMoox ist eine Plattform mit Online-Kurs-Angeboten der Universität Graz und der TU Graz. Der Massive Open Online Course, kurz MOOC, richtet sich an PädagogInnen sowie Kinder- und JugendarbeiterInnen ohne Vorkenntnisse, die motiviert sind digitale Werkzeuge im Unterricht einzusetzen um kreativ digital zu gestalten. Der Kurs ist auf 7 Wochen ausgelegt und beinhaltet Kurzvideos, Materialien und Erfahrungen der Mitwir- kenden der Maker Days for Kids und ist noch bis ca. Sommer 2016 erreichbar. Er ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz. Bis zum 12.12.2015 haben laut Infographik23 560 Interessierte an dem Kurs teilgenommen und es wurdn mehr als 400 Diskussionsbeiträge geschrieben, 46 Scratch-Projekte programmiert, 34 Linsen-Sets für Virtual Reality Brillen angefordert und 550 Badges vergeben. Seit März 2016 ist das Handbuch Making-Aktivitäten mit Kindern und Jugendlichen – Handbuch zum kreativen digitalen Gestalten (Schön, Ebner & Narr 2016) online und kostenpflichtig im Print verfügbar. 3 Resümee und Ausblick Neben den aufgezeigten Initiativen und Projekten gibt es natürlich eine Vielzahl an anderen Initiativen und Projekten im Bereich Medienbildung und Medienkompetenzen.24 Die hier ge- nannten Praxisbeispiele finden auf zwei Ebenen statt: 1. auf Ebene der Aus- und Fortbildung von Lehrpersonal und zukünftigen PädagogInnen (z.B. L3T und iMooX Online-Kurs) 2. auf Ebene der Kinder mittels direkter Anwendung im Klassenzimmer (z.B. Technik- Basteln®) und spezieller Aktionstage oder -wochen (z.B. Maker Days for Kids) 22 Video: https://youtu.be/DljC8FPpE1s, abgerufen am 24.04.2016. 23 Infographik: https://sansch.wordpress.com/2015/12/15/das-war-der-online-kurs-making-mit-kindern- herzlichen-dank-imoox-hit-makids15/, abgerufen am 24.04.2016. 24 Linkliste der TechnikBasteln® Initiative: http://www.technikbasteln.net/links/, Übersicht über Material- ien für Makerwerkstätte: https://makerdays.wordpress.com/materialien/, abgerufen am 24.04.2016. Do It Yourself Trends für Medienbildung nutzen 239 Es geht um die (Aus-)Bildung zum einen der PädagogInnen und zum anderen der Kinder. Im Vordergrund steht auf beiden Ebenen das learning by doing mittels DIY-Aktivitäten begleitet durch Personen und Materialien. Besonders interessant und wichtig sind die didaktischen Prinzipien der Maker Days. Diese umfassen ein möglichst offenes und niederschwelliges Angebot, Mitgestaltung und Partizipati- on, Entwicklung von Ideen und deren Austausch, Erweiterung von Medienkompetenz und IT- Kompetenz, Gendersensibilität (auch Mädchen sollen sich angesprochen fühlen) sowie im Alltag zugängliche Materialien wie Open Source oder Abfälle (Schön, Ebner & Reip 2016, S. 2-3). So können die unterschiedlichen Ansätze der Medienbildung miteinander vereint werden. Zum einen die mediengestützte Bildung, die Wissen unter Einbezug von Medien vermittelt. Dabei geht es um den Einsatz von Medien im Unterricht und zum Lernen allgemein sowie den Ein- satz unterschiedlicher Medieninhalte als Impulsgeber für Bildungsthemen. Zum anderen die Medienbildung, die Bildung über Medien vermittelt. Dabei geht es darum, Medien über die Funktionsweise von Medien auf Hard- und Softwereebenen hinaus in ihrer gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Funktion zu verstehen. Literatur Ebner, Martin & Schön, Sandra (Hrsg.) (2011): L3T – Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien. 1. Auflage, E-Book, Link: http://l3t.eu/homepage/das-buch/ebook, abgerufen am 15.03.2016. Ebner, Martin & Schön, Sandra (Hrsg.) (2013): L3T 2.0 – Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien. 2. Auflage, E-Book, Link: http://l3t.eu/homepage/das-buch/ebook-2013, ab- gerufen am 15.03.2016. Gauntlett, David (2011): Making is Connecting. The social meaning of creativity, from DIY and knitting to You Tube and Web 2.0. Cambridge, Malden, MA: Polity. Gold, Helmut (2011): Do it yourself. In: Gold, Helmut (Hrsg.): DIY. Die Mitmach-Revolution. Mainz a Rhein: Museum für Kommunikation, Kataloge der Museumsstiftung Post und Te- lekommunikation, 29, 1. Auflage, Frankfurt am Main, Ventil Verlag, S. 6-9. König, Peter (2015): Fünf Tage offene Werkstatt für Kids in Bad Reichenhall. Make Magazin 26.3.2015. 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Erlebensorientierte Film-Bildung als Beispiel cinephiler Filmvermittlung 241 Erlebensorientierte Film-Bildung als Beispiel cinephiler Filmvermittlung Lisa Haußmann Zusammenfassung Ausgehend von der späten Einbeziehung filmtheoretischer Erkenntnisse in die Film- und Medien- pädagogik sowie der Frage nach deren Gründen greift der Beitrag auf eine der ersten deutschspra- chigen Filmtheorien zurück und fragt nach deren Mehrwert für die gegenwärtige Film- und Medi- en-Bildung: Indem Bezug zu Béla Balázs Begriff des Erlebens genommen wird und seine film- theoretischen Überlegungen in den cinephilen Diskurs eingeordnet werden, soll das Filmerleben hinsichtlich der für die Film- und Medien-Bildung relevanten bildungstheoretischen Diskussion betrachtet werden. Die Beleuchtung des auf den Merkmalen der cinephilen Filmpädagogik fußen- den Erlebens nach Balázs stellt dabei eine Verbindung zwischen der filmtheoretischen und der bildungstheoretischen Diskussion her und betont die Bedeutung des Films als Medium für den und des Filmerlebens als einen transformatorischen Bildungsprozess. “Denn  es  ist  ein  Gesetz  der  Kulturgeschichte,   dass  Kunst  und  Bildung  in  dialektischer  Wechselwirkung  stehen.”   (Béla  Balázs  1972,  S.  10) Béla Balázs und das Filmerleben Der dialektischen Wechselwirkung zwischen Kunst und Bildung, die Béla Balázs in seinem dritten Kinobuch als Gesetz der Kulturgeschichte beschreibt, ist in der Film- und Medienpäda- gogik lange Zeit wenig Beachtung geschenkt worden. Filmpädagogische Ansätze sind oftmals ohne wechselseitigen Bezug zu Film- und Bildungstheorien entstanden und zentrale Elemente wie „Film“ und „Bildung“ sind nicht gemeinsam gedacht worden. Erst mit der Etablierung des Begriffs „Medienbildung“ nach der Jahrtausendwende und den damit verbundenen konzep- tuellen Forderungen, erst durch die verstärkt ästhetische und cinephile Auseinandersetzung mit Film-Bildung gewannen film- und bildungstheoretische Reflexionen an nennenswerter Bedeutung. „Film“ und „Bildung“ werden hier stärker auf ihre Korrelation hin betrachtet, der Blick wird auf eine interaktive, intersubjektive Begegnung zwischen Film und Betrachter gelenkt (Henzler 2013) und das Medium Film auf sein Wesen als Bildungsmoment hin stärker beleuchtet (z.B. Jörissen & Marotzki 2009, Zahn 2012, Walberg 2011). Trotz dieser Entwick- lungen ist in der Film- und Medienpädagogik die Verbindung der filmtheoretischen und bild- ungstheoretischen Diskussion nach wie vor nur eingeschränkt verbreitet, ebenso wie das 242 Lisa Haußmann grundsätzliche Ineinandergreifen des Wissenschafts- und des Praxisfelds nach wie vor nicht gegeben ist. An diese Gegebenheiten anknüpfend möchte der Tagungsbeitrag aus filmwissenschaftlicher Perspektive zwei Aspekte an den Ausgang der Betrachtungen stellen, um der Frage nach dem „Wozu“ der Film- und Medienbildung nachzugehen: Erstens die Perspektive auf die Mehrwerte, die mit stärker film- und bildungstheoretischen Verknüpfungen gewonnen werden können. Und zweitens die Frage nach den Gründen, aus welchen in der Film- und Medienpäd- agogik erst seit dem 21. Jahrhundert filmtheoretische und bildungstheoretische Erkenntnisse konkret aufeinander bezogen werden. Haben sich die frühen filmtheoretischen Schriften für die filmpädagogische Arbeit vielleicht gar nicht geeignet? Oder waren sich die ersten Filmtheo- retiker/innen der Bedeutung von Film- und später Medienpädagogik nicht bewusst? Und vor allem: Kann ein Blick aus heutiger Sicht in die ersten filmtheoretischen Schriften einen Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion um Film- und Medien-Bildung leisten und uns konkrete Anhalt- spunkte für Ziel, Zweck und Bedarf von Medienbildung liefern? Mit der Betrachtung der rezeptionstheoretischen und -ästhetischen Schriften des europäischen Filmtheoretikers und frühen Medienpädagogen Béla Balázs (1884-1949) soll gezeigt werden, dass eine der ersten deutschsprachigen Filmtheorien bereits grundlegende Elemente einer auf den Menschen als Ganzes und den Film als Kunst ausgerichteten Medienbildung formuliert hat, deren Bedeutung für die Voraussetzung eines individuellen Zugangs zum Eigenen und zur Welt erkannt hat und damit noch heute – oder gerade heute – wesentliche Erkenntnisse für die gegenwärtige Diskussion um Film- und Medien-Bildung liefern kann. Indem Bezug zu seinem Begriff des Erlebens genommen wird, seine Überlegungen in den cinephilen Diskurs eingeordnet und hinsichtlich der für die Film- und Medien-Bildung relevanten bildungstheo- retischen Diskussion betrachtet werden, soll die Funktion des Filmerlebens als transformato- rischer Bildungsprozess herausgestellt und damit das „Wozu“ der Film-Bildung im Erlangen von neuen Ausdrucksmöglichkeiten und im prozesshaften Erfassen und Gestalten des eigenen In-der-Welt-Seins durch die intersubjektive Interaktion zwischen Menschen und Medien veror- tet werden. Die filmtheoretischen Schriften Béla Balázs Die filmtheoretischen Schriften Béla Balázs wurden in der Filmpädagogik bislang nur marginal betrachtet. Zwar stößt man in deutschsprachigen filmerzieherischen Beiträgen aus der DDR (Bisky & Wiedemann 1985, S. 81; Bodag 1987, S. 44) auf seinen Namen. Sein Werk scheint hier aber mehr zur Kenntnis genommen, als in angemessener Weise untersucht und wertge- schätzt worden zu sein. Auch in den Schriften von Martin und Margarete Keilhacker (Keil- hacker & Keilhacker 1953, Keilhacker 1957), die sich in den 1950er Jahren aus ausdruckspsy- chologischer Perspektive mit dem Filmerleben auseinandergesetzt haben, findet Béla Balázs keine Erwähnung. Eine breitere Betrachtung seiner Schriften wäre jedoch bereits zu früheren Zeitpunkten, das heißt, auch im Kontext einer noch nicht film- und bildungstheoretisch gepräg- ten Auseinandersetzung mit Filmpädagogik, durchaus nicht abwegig gewesen. Mit dem sehr Erlebensorientierte Film-Bildung als Beispiel cinephiler Filmvermittlung 243 persönlichen, in seiner fachsprachlichen Ausprägung nicht besonders ausgeprägten Stil (Die- derichs & Gersch 1982, S. 13) seiner Ausführungen und deren inhaltlicher Form, mit der sich Balázs nicht nur an Filmphilosophen und -theoretiker, sondern auch explizit an Filmschaffende und andere “Freunde vom Fach” (Balázs 2001a, S. 12) richtete, schuf er zumindest die Voraus- setzung für eine breite Rezeption. Dass eine Bezugnahme auf seine Schriften, allen voran auf seine filmpädagogischen und rezeptionstheoretischen Überlegungen, heute in dieser Form möglich ist, ist ihrem zeitlosen Charakter (vgl. Diederichs 2001, S. 144) sowie der zentralen Rolle, die Balázs dem Menschen zuordnet, zu verdanken. Dem wiederholt formulierten Vor- wurf, seine Theorie sei widersprüchlich und sein Stil zu persönlich, kann das besondere Inei- nandergreifen von Theorie und Praxis, von dem die Persönlichkeit und das Werk des Autors geprägt ist, entgegengehalten werden. Selbst als Theoretiker und Praktiker tätig, wendet sich Balázs an die Filmschaffenden, sich theoretisch mit dem Film auseinanderzusetzen und fordert “den Einlaß [des Films] in die heiligen Hallen der Theorie”, die der Filmkunst “erst die Würde verleiht” (Balázs, 2001a, S. 9f.). Filmtheorie und Filmpraxis reichen sich in der Person und im Denken Balázs die Hand: Theorie ist für ihn keine festgelegte, feste Struktur, sondern ein Er- kenntnisprozess, der durch das Erleben hervorgebracht wird und somit als Suche verstanden werden muss (vgl. Loewy 2003, S. 11; Hein 2011, S. 8, 24, 31). So wie Balázs in seiner Theo- riebildung selbst vom Erleben zum Erkennen geht, denkt er auch die Filmerfahrung, in der die Betrachter vom Erleben zum Erkennen gelangen. Das Ineinandergreifen von Theorie und Pra- xis ist für ihn somit erstens unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung einer Kunst, zweitens Merkmal seiner Theoriebildung selbst und drittens Kern der Filmrezeption. In diesem Sinne lösen sich auch die ihm vorgeworfenen Widersprüchlichkeiten seiner Theorie auf. Denn die Theorie des Erlebens seiner Kinobücher kann selbst als Produkt eines Erlebens und einer daraus entsprungenen theoretischen Reflexion bezeichnet werden. In einem lebendigen Prozess entstanden, ist sie selbst Ausdruck von Lebendigkeit und damit auch von Unbeständigkeit. Die drei Hauptschriften Balázs sind über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren erschie- nen und beziehen sich sowohl auf den Stumm- als auch auf den Ton- und Farbfilm. Der sicht- bare Mensch, sein erstes filmtheoretisches Buch ist 1924 in Berlin erschienen und gilt laut Helmut H. Diederichs als “Kunsttheorie mit erklärten medienpädagogischen Absichten” (Die- derichs 2001, S. 116). Balázs zweites Kinobuch, Der Geist des Films, ist 1930 erschienen und versammelt unter anderem Aspekte wie die produktive Funktion der Kamera oder Balázs The- se der Identifikation des Zuschauers mit der Kamera und den Personen des Films. Der Film. Werden und Wesen einer Kunst, 1945 in Moskau unter dem Titel Iskustwo Kino erschienen und 1949 in Deutschland veröffentlicht, stellt eine Zusammenfassung und Erweiterung seiner bis- herigen Schriften dar, in der Balázs expliziter als zuvor Bezug zum Kino als Bildungserschei- nung nimmt und sich für die Etablierung der Filmwissenschaften an Universitäten und für die Einführung eines Pflichtfachs „Film“ an der Mittelschule ausspricht (vgl. Balázs 1972, S. 8f.). Bereits 1924 hatte sich Balázs für die Einrichtung eines Lehrstuhls für Filmdramaturgie einge- setzt und ein Jahr später hatte er auf der sechsten deutschen Bildwoche in Wien die herausra- gende Bedeutung der filmästhetischen Bildung betont (vgl. Diederichs 2001, S. 116). Diese filmpädagogischen Bemühungen mündeten letztlich in seine Lehrtätigkeit in Moskau und die Gründung eines Filminstituts in Budapest (vgl. ebd., S. 117). Auch seine Vorschläge, Filmar- 244 Lisa Haußmann chive einzurichten und der 1926 in Russland erschienenen Artikel Of Film Education, in dem die Bedeutung der allgemeinen Film-Bildung hervorgehoben wurde (vgl. Zsuffa 1987, S. XIII, S. 139), zählen zu den Beispielen für seine filmpädagogische Aktivität. Auch im Folgenden wird die filmpädagogische Perspektive auf seine Überlegungen in den Mittelpunkt gerückt und dahingehend betrachtet, welche Chancen und Möglichkeiten eine erlebensorientierte, auf den Menschen als Menschen und den Film als Film ausgerichtete Film- und Medien-Bildung bieten kann, welchen Nutzen sie hat und warum es ihrer bedarf. Balázs Werk wird hier also nicht in Bezug auf seine herausragende Bedeutung für die Entwicklung der filmästhetischen Theorie betrachtet und soll diesbezüglich auch nicht einer allgemeinen Kritik unterzogen werden. Hierzu müsste eine viel breitere Perspektive eingenommen werden, die sich unter anderem auch stärker mit biographischen Aspekten auseinandersetzt. Gleichermaßen wird auch seine immer wieder kritisch hinterfragte politische Haltung nicht Teil der Überle- gungen sein können, da dies eine ausführlichere Betrachtung des gesellschaftspolitischen Kon- textes verlangen würde. Damit soll nicht bestritten werden, dass seine Schriften nicht ganz frei von einer gewissen ideologischen Note sind. Wenn Balázs politische Haltung jedoch überhaupt in Verbindung mit den hier angestellten Überlegungen tritt, dann lediglich dadurch, dass ihr die Auffassung des Menschen in seiner Ganzheit entspringt. Der cinephile Charakter der Schriften von Béla Balázs Das cinephile Gedankengut Béla Balázs bildet die Grundlage für das im Anschluss betrachtete Moment des Erlebens und eine darauf ausgerichtete erlebensorientierte Film-Bildung. Es lässt sich bei Weitem nicht auf Balázs Einsatz für die Anerkennung des Films als Kunst reduzieren, sondern drückt sich auch durch seine große Liebe zum Film aus, die seine filmästhetischen Überlegungen durchzieht. Nicht nur die Lebendigkeit seiner Theorie, die Eindrücklichkeit seiner Erkenntnisse, die direkt am Material ansetzen und das Erlebnis am spezifisch Filmischen festmachen, auch die sehr subjektive Perspektive auf die Filmkunst und die Bedeutung, die Balázs dieser beimisst, sind Ausdruck seiner Liebe zum Kino. In den folgenden Abschnitten wird der cinephile Charakter seines Denkens und Schreibens in Bezug auf die von Bettina Henzler (2013) beschriebenen Merkmale der Cinephilie sowie auf die von ihr angeführten zentralen Thesen der cinephilen Filmpädagogik herausgearbeitet. Verknüpfungen zu Cinephi- len wie Alain Bergala, Serge Daney, Jean-Louis Schefer oder Jean Douchet bilden dabei die Basis. Neben Roland Barthes Beschreibung des Rezeptionsprozesses als intersubjektive Begegnung führt Bettina Henzler verschiedene der Cinephilie zugrundeliegende Dimensionen an, die die Filmrezeption als ästhetische Erfahrung charakterisieren. Mit der “filmspezifischen Dimension” nach Jean-Louis Schefer umschreibt sie zunächst die für die Cinephilie charakteristische Vor- stellung vom Entstehen der Filmbilder im Inneren des Betrachters (Henzler 2013, S. 137). Bei Balázs ist diese filmspezifische Dimension mit dem optischen Erlebnis und der produktiven Funktion der Kamera bereits angedacht worden. Wir “bekommen […] Dinge zu sehen”, erklärt er zunächst, “die nicht zu denken und mit Begriffen nicht zu fassen sind. Und wir bekommen Erlebensorientierte Film-Bildung als Beispiel cinephiler Filmvermittlung 245 sie zu sehen, was ein ganz eigenes Erlebnis ist” (Balázs 2001a, S. 27). Zu sehen sind die Dinge auch, weil wir durch die Montage, die “dem Bild seine ganze Bedeutung” gibt, “etwas erfah- ren, was in den Bildern selbst gar nicht gezeigt wird” (Balázs 2001b, S. 42, 44). Balázs setzt hier also die produktive Funktion der Montage mit dem Entstehen der Bildabfolge im Bewusst- sein des Zuschauers in Verbindung. Die Montage kann “die Bildreihe darstellen, die in uns aufsteigt, die Kette der Vorstellungen, die uns von einem Gedanken auf den anderen kommen läßt. Die innere Montage des Be- wußtseins und Unterbewußtseins erscheint auf der Leinwand.” (ebd., S. 45) Das heißt, durch die der Filmkunst zugrundeliegenden Montage “sehen wir auf der Leinwand einen im Bewusstsein abrollenden 'inneren' Film.” (Balázs 1972, S. 109). Und dieser lässt “Gefühle, Bedeutungen, Gedanken […] [entstehen], die uns anschaulich werden, ohne selbst sichtbar zu sein” (Balázs 2001b, S. 46). Mit dieser Auffassung verbunden ist einerseits die Vorstellung von einer lebendigen Begegnung mit dem Film, wie sie u.a. auch von Cinephilen wie Jean Douchet beschrieben wurde (vgl. Douchet 1987, S. 17-21) und andererseits die daran anschließende Vorstellung von einer intersubjektiven Beziehung zwischen Film und Betrachter (vgl. Henzler 2013, S. 122f.). Auch Balázs spricht von einem “lebendige[n] Atem des Films” (Balázs 2001a, S. 84) und charakterisiert den Film als Sinnesorgan des Menschen zum Erleben der Welt (vgl. Balázs 2001b, S. 9). Auch die “Dimension des Autors” nach Jean Douchet von der Henzler spricht (Henzler 2013, S. 137, Douchet 1987, S. 17ff.) war bei Balázs bereits vertreten. In seinen Abschnitten Unent- rinnbare Subjektivität und Die Bildart (vgl. Balázs 2001b, S. 30ff.) weist er neben der in der Bildbetrachtung entstehenden individuellen Beziehung des Zuschauers zum abgebildeten Ge- genstand auch auf die in der Bildeinstellung liegende Einstellung des/r Regisseurs/in zum Ge- genstand hin: “Wir sehen im Bilde zugleich unsere Stellung, d.h. unsere Beziehung zum Gegen- stand. [...] Jedes Bild meint eine Einstellung, jede Einstellung meint Beziehung, und nicht nur eine räumliche. Jede Anschauung der Welt enthält eine Weltan- schauung. Darum bedeutet jede Einstellung der Kamera eine innere Einstellung des Menschen. Denn es gibt nichts Subjektiveres als das Objektiv. Jeder Eindruck, im Bilde festgehalten, wird zu einem Ausdruck, ob das beabsichtigt war oder nicht.” (ebd., S. 30) Das, was der Betrachter sieht, ist also grundsätzlich durch die je subjektiven Verhältnisse des Autors und des Zuschauers selbst zum Filmbild geprägt. Damit enthält diese Auffassung Balázs auch direkte Bezüge zu dem “Prinzip der Subjektivität”, das Henzler als zentralen As- pekt in Bergalas Kino als Kunst betrachtet und von Bergala selbst sowohl im Hinblick auf den Schaffens- als auch auf den Vermittlungsprozess formuliert wird (vgl. Henzler 2013, S. 54). Im Zusammenhang mit letzterem thematisiert Bergala die Bedeutung und Rolle des/r Pädago- gen/in, der/die seinen persönlichen Geschmack in die Filmvermittlung einbringen und als pas- seur fungieren solle (vgl. Bergala 2006, S. 52f.). Bei Balázs ist dieses von Henzler als “Dimen- 246 Lisa Haußmann sion des passeur” (Henzler 2013, S. 137) bezeichnete Merkmal der Cinephilie an seinem sub- jektiv ausgerichteten Stil und den persönlichen Beispielen zu sehen. Ein weiteres sich in den cinephilen Diskurs einordnendes Element seines Denkens ist die Be- deutung der Kindheit, die Henzler in Bezug auf Daney (1992) und Bergala (2006, S. 49-67, vgl. Aumont et. al. 2008) “(auto-)biografische Dimension” nennt (Henzler 2013, S. 137). Auch Balázs stellt eine Beziehung her zwischen dem Filmerleben und der Kindheit, bzw. biografi- schen Entwicklungsphasen. Er vergleicht mehrfach das Zuschauen im Kino mit dem Blick eines Kindes und beschreibt bereits in der Vorrede seines ersten Kinobuchs das Kino als das “glückliche Paradies der Naivität”, in dem sich der Zuschauer “in nackter, urnatürlicher Kind- heit” dem Film hingebe (vgl. Balázs 2001a, S. 13f.). Für ihn gleicht die Welt des Films der Welt eines Kindes. Wie der Zuschauer im Film, sehe das Kind in Großaufnahmen (vgl. ebd., S. 78). Und wie der Zuschauer im Film die Gesichter der Dinge zu sehen bekomme, sehe das Kind “in jedem Ding ein autonomes Lebewesen, das eine eigene Seele und ein eigenes Gesicht hat” (ebd., S. 59). Balázs geht hiermit also nicht nur auf die Bedeutung der Filmerfahrung in der Kindheit ein, sondern auch auf die Erfahrung, die der erwachsene Zuschauer macht, wenn er im Film einen kindlichen Blick annimmt und den Dingen in ihrer Unmittelbarkeit und damit anders begegnen kann. Der Film ermöglicht jedoch nicht nur einen anderen Blick auf Dinge, er ermöglicht auch die Begegnung mit dem Anderen. Mit dieser Auffassung ist bei Balázs auch die im cinephilen Diskurs wesentliche Bedeutung der durch den Film ermöglichten Alteritätserfahrung (vgl. Henzler 2013, S. 57ff.) verankert. Für den frühen Filmtheoretiker kann der Film den Blick auf das Andere lenken, es sichtbar und wahrnehmbar machen und damit einem immer gleichen Blick auf die Welt und das Selbst entgegenwirken. Man tue gut daran, sagt er, “die Dinge einmal von der 'anderen Seite' anzuse- hen, um sie überhaupt zu bemerken. Die Gewohnheit des Alltagsanblicks hat unsere Umge- bung unsichtbar gemacht” (Balázs 2001b, S. 37). Die Quelle der Alteritätserfahrung liegt damit auch bei Balázs im spezifisch Filmischen: “In der reinen Visualität des Films kann aber jenes 'Unbestimmte' erscheinen, das auch bei den besten Romandichtern nur zwischen den Zeilen zu lesen ist. Der Re- gisseur wird mit einer 'dünnflüssigen' Bilderführung vieler Nebenszenen arbeiten, die uns immer überraschend und neu sein werden […].” (Balázs 2001a, S. 85) Der Film zeige also “nicht allein anderes, sondern [er zeigt] es auch anders” (Balázs 1972, S. 38) und damit ermöglicht er eine Begegnung mit dem Fremden als Fremden, das bei Balázs dabei gar nicht fern sein muss. Der Zuschauer soll dem Anderen und Unbekannten aus seiner unmittelbaren Nähe begegnen, sagt er, “Szenen unseres Alltags [...] belauschen mit der Kame- ra, mit dem Kinoauge” (Balázs 2001b, S. 77). Indem die Kamera nämlich heranrücke an die Dinge, auch an das Fremde, lehre sie uns, “die visuelle Partitur des vielstimmigen Lebens” zu lesen (Balázs 1972, S. 48), das heißt, Bekanntes und Fremdes aufeinander zu beziehen, Frem- des als Fremdes in die Vielstimmigkeit einzureihen. Der in der cinephilen Filmvermittlung als weitere zentrale These benannten “Geschmacksbil- dung” (Henzler 2013, S. 55) widmet sich Balázs in seinem Kapitel “Ideologische Bemerkun- Erlebensorientierte Film-Bildung als Beispiel cinephiler Filmvermittlung 247 gen”: In einem ersten Schritt erklärt er dort zunächst, dass Geschmack Ideologie sei (vgl. Balázs 2001b, S. 145) und fordert im Anschluss, das Filmerleben in das Zentrum der Rezeption zu stellen, um der Ideologie entgegenzuwirken: “Gewiß ist die Erkenntnis der Wirklichkeit eine Bedingung der Befreiung von je- der falschen Ideologie. Das Bedürfnis nach Tatsachenkenntnis ist der Wunsch des freien politischen Bewußtseins: sich selber zu orientieren. Aber dieselbe Sachlich- keit wird zu einer reaktionären Ideologie, wenn sie den Menschen mit seinem inne- ren Erleben ausschaltet.” (ebd, S. 159) Weil der Film einen Zugang zur Wirklichkeit verschafft und über das Filmerleben Erkenntnis- prozesse einleitet, kann der Zuschauer sich selbst und seinen Geschmack, sein ethisches und moralisches Bewusstsein formen und sich folglich einer falschen Ideologie entgegensetzen. Wenn der Zuschauer als Mensch in seiner Ganzheit aber nicht am Rezeptions- und Erkenntnis- prozess teilnehmen kann und “dem Menschen [...] sein eigenes Leben als etwas von ihm Un- abhängiges, Menschenfremdes, Eigengesetzliches gegenübergestellt wird” (ebd., S. 158), dann ist er der Ideologie ausgesetzt, dann regiert eine “Ohnmacht, die über das bloße Anschauen nicht hinwegkommen kann” (ebd., S. 159). Wie bei Bergala wird also der Geschmack mit dem Persönlichen und Individuellen zusammengebracht und die Geschmacksbildung als Form der politischen Bildung begriffen, die sich einer politischen oder kulturellen Vereinnahmung ent- gegensetzt (vgl. Henzler 2013, S. 81-103). Die Einordnung des cinephilen Charakters der Balázschen Schriften begrenzt sich jedoch kei- neswegs auf die klassische französische Cinephilie. Auch die postmoderne Cinephilie, die die Erfahrung des Zuschauers in den Mittelpunkt rückt und die wechselseitige Beziehung zwischen Film- und Selbstkultur betont (vgl. Jullier & Leveratto 2010, S. 182), bietet verschiedene An- knüpfungspunkte. Béla Balázs filmtheoretischer und filmpädagogischer Ansatz, der sich damit an die zentralen Thesen der cinephilen Filmpädagogik anknüpfen lässt, kann in mehrfacher Hinsicht als cinephiler Ansatz bezeichnet werden. Dieser bildet die Grundlage für eine auf das Erleben ausgerichtete Film-Bildung. Das Moment des Erlebens bei Béla Balázs Die Dimension des Erlebens bzw. die Wahrnehmung als sinnliche Erfahrung ist in verschiede- nen film- und medienpädagogischen Konzepten und Ansätzen verankert. Sie wird in vielen Fällen jedoch nicht ausreichend in ihrer Eigenheit näher betrachtet, sondern verkürzt, wie bei- spielsweise bei Walberg, als Fremderfahrung, die “bildungstheoretisch paradigmatische Situa- tion” ist (Walberg 2011, S. 177). Mit den hier angestellten Überlegungen soll nun das Erleben als Erleben betrachtet und der Prozess des Erlebens in einem weiteren Schritt als Bildungspro- zess beschrieben werden. Das Filmerleben als zentrales Moment der Wahrnehmung und damit der Wirklichkeitserfas- sung drückt eine individuelle Haltung des Subjekts zu sich und seinem Leben aus. Im Filmerleben erfahre der Mensch seinen Leib als seinen eigenen und nicht als etwas Fremdes, 248 Lisa Haußmann weil er “eine visuelle Korrespondenz der unmittelbar verkörperten Seele” erlerne (Balázs 2001a, S. 17). Das heißt, im Erleben vereinen sich Körper und Geist, im Erleben kann der Mensch ganz Mensch sein und sich zu seinem Leben verhalten. Nachdem der Buchdruck nämlich, wie Balázs schreibt, eine rein begriffliche Kultur hervorgebracht hatte, in der das Wort zur Brücke zwischen den Menschen geworden sei und dem Leib die Seele genommen habe (ebd., S. 17), sieht Balázs im Kinematographen das Potential für die Befreiung des Menschen aus diesem Zustand. Die Schriftkultur habe den Menschen auf das Sachliche reduz- iert und ihn an einer Verdinglichung leiden lassen. Damit habe sich das menschliche “Bewußtsein vom unmittelbaren Sein der Dinge” entfremdet und sei auf der Suche nach der konkrete Verbindung zur Wirklichkeit und zu sich selbst (vgl. ebd., S. 104): “Es ist die schmerzliche Sehnsucht des Menschen einer verintellektualisierten und abstrakt gewordenen Kultur nach dem Erleben konkreter, unmittelbarer Wirklich- keit, die nicht erst durch das Sieb der Begriffe und Worte filtriert wird.” (ebd., S. 104) Der Film hingegen schaffe eine neue visuelle Kultur, die die Sehnsucht nach Konkretem stillen und dem Menschen das Körperliche zurück geben könne, weil dem Menschen mit dem Erleben andere Ausdrucksmöglichkeiten gegeben seien, die ein unmittelbares Sein des Menschen hervorbringen würden (vgl. ebd., S. 20f). Dieses optische, geistige und akustische Filmerleben, das dem Geist einen Körper verleiht und den Menschen sichtbar werden lässt, bezieht sich bei Balázs auf dreierlei: das Erleben der Physiognomie der Dinge sowie – damit verbunden – das Raumerleben und das Zeiterleben. Die Basis dieses Erlebens stellt die Identifizierung des Zuschauers mit dem Schauspieler und der Kamera dar, das heißt die “Gleichsetzung der Kameralinse mit dem Auge des Handlungsträ- gers sowie des Zuschauers”, die durch die “Technik der Einstellung ermöglicht” wird (Balázs 1972, S. 78). Voraussetzung für die Identifikation und Sichtbarwerdung ist die Distanzaufhe- bung, die der Film im Gegensatz zu anderen Künsten mit sich bringt, weil der Zuschauer “nicht mehr außerhalb einer in sich geschlossenen Welt der Kunst, die im Bild oder auf der Bühne umrahmt ist” stehe (Balázs 2001b, S. 15). Diese Aufhebung der inneren Distanz des Zuschau- ers ermöglicht die Identifikation desselben mit der Kamera und damit auch mit den Schauspie- lern. “Es ist, als sähen wir alles von innen heraus, als wären wir umgeben von den Ge- stalten des Films. […] Durch deinen Blick identifiziert sich dein Bewußtsein mit den Gestalten des Films. Du betrachtest alles unter ihrem Blickwinkel […]. Du gehst mit in der Masse, du reitest mit dem Helden, du fliegst, stürzt, und wenn auf der Leinwand einer in die Augen des anderen blickt, dann blickt er von der Lein- wand in deine Augen. Denn deine Augen sind die Kamera, sie identifizieren sich mit den Augen der handelnden Personen. Diese Personen sehen mit deinen Augen. Diesen psychologischen Akt nennen wir Identifizierung.” (Balázs 1972, S. 38) Die erste Distanzveränderung ist die Großaufnahme. Sie rücke den Betrachter näher an das Leben heran, erweitere und vertiefe es, indem sie Neues oder Unbekanntes und bereits Bekann- Erlebensorientierte Film-Bildung als Beispiel cinephiler Filmvermittlung 249 tes in neuen Zusammenhängen zeige (vgl. Balázs 2001a, S. 49f.). Aber die Großaufnahme, erklärt Balázs, rücke den Betrachter in einem Raum nicht bloß näher an etwas heran, sie hebe den Menschen auch aus einem Raum heraus (vgl. Balázs 2001b, S. 16). Denn zu aus unmittel- barer Nähe Aufgenommenem kann der Betrachter keine gewohnt räumliche Beziehung herstel- len. “Wir sehen also mit unseren Augen etwas, was nicht im Raum vorhanden ist. Ge- fühle, Stimmungen, Absichten, Gedanken sind keine räumlichen Dinge, mögen sie auch hundertmal durch räumliche Zeichen angedeutet werden.” (Balázs 1972, S. 53) Das Bild und das Erleben sind folglich nicht mehr “raumgebunden” und damit auch nicht mehr “zeitgebunden” (Balázs 2001b, S. 16). Das bedeutet aber nicht, dass das Bild und das Erleben damit in einer Raum- und Zeitlosigkeit liegen würden. Sie liegen vielmehr in einem anderen Raum und einer anderen Zeit. Denn im Gegensatz zur Zeitlosigkeit des Wortes, hat das Bild eine Gegenwart, hat es “nur Gegenwart” (Balázs 2001a, S. 62). Ebenso betont Balázs, dass die Dinge im Bild selbst keine Zeit ausdrücken würden. Der Zuschauer könne lediglich gedanklich Zeit in die Bilder legen, wirklich sehen könne er nur das Momentane (ebd., S. 92). Diese ande- re Dimension, dieses besondere Raum- und Zeitempfinden, in die die Großaufnahme den Zu- schauer erhebt, ist die Physiognomie: das Gesicht der Dinge, die sich nicht nur auf menschliche Physiognomien bezieht, sondern auch auf Dinge und Gefühle. So gibt es bei Balázs beispiels- weise eine Physiognomie einer Landschaft oder das Gesicht der Gefahr (vgl. Balázs 2001a, S.76, 82). Aber es gebe, präzisiert er, keine “'Physiognomien an sich'”, da gleichzeitig immer auch unsere Beziehung zu diesen abgebildet werden (Balázs 2001b, S. 30). Das durch die Identifizierung ausgelöste Erleben, so Balázs, wirke sowohl raum- als auch ge- fühlsbezogen (vgl. Balázs 2001b, S. 32). Das heißt, durch die Identifizierung werden der Raum und die Zeit zum Erlebnis. Durch sie “erleben wir die Richtungen und das Raumerlebnis ande- rer Menschen, die uns sonst keine Kunst mitteilen kann” (ebd., S. 31). Durch sie bewegt sich der Zuschauer mit der Kamera im Raum und damit auch in der Zeit. Die Großaufnahme, wie auch der Schwenk oder das Panorama, bringt nur ein je spezifisches Raum- und Zeiterlebnis hervor (vgl. ebd., S. 59f.). Noch genauer kann zu Balázs Begriff des Erlebens vorgedrungen werden, wenn die Begriffe Stimmung, Geheimnis und Stil betrachtet werden. Bei Balázs ist der Gedanke des Geheimnisses eng mit der Physiognomie der Dinge verbunden. In der Großaufnahme, sagt er, offenbare uns das Leben seine intimsten Geheimnisse (vgl. Balázs 1972, S. 20). Indem die Filmkunst nämlich die Physiognomien der Dinge zeige, drücke sie auch das “geheimnisvoll-geheime [ ] Mienen- spiel” der Dinge aus (Balázs 2001a, S. 59). In der Filmbetrachtung erlebt der Zuschauer folg- lich das aus den Dingen heraustretende Geheimnisvolle. Hein beschäftigt sich in seiner Arbeit etwas ausführlicher mit dem Begriff des Geheimnisses bei Balázs und erklärt, dass das Ge- heimnis somit sowohl “Grenze des Verstehens” sei als auch “Impetus einer gesteigerten Wahr- nehmungsleistung, die sich vermittels Verfremdung vollzieht” (Hein 2011, S. 31). Das Ge- heimnis bei Balázs weist also Ähnlichkeiten zum Begehren und Scheitern bei Bergala auf. Zunächst einmal gehöre das im Bild liegende Geheime, so Hein, nicht zur Alltagswelt des 250 Lisa Haußmann Zuschauers, verleihe dieser einen “kindlichen Zauber” und könne nicht gefasst oder geortet werden, das heißt nicht in Bezug zum bisherigen Erfahrungshorizont gesetzt werden (ebd., S. 31f.). Es ruft somit Verwirrung hervor (vgl. ebd.) und als Ungewohntes und Unbekanntes wirft es Fragen auf, überrascht es und verunsichert es den Zuschauer. Dies wecke aber gleichzeitig auch das Verlangen, nach einer Antwort, bzw. einer Antwortsuche (vgl. ebd., S. 32). In diesem Sinne fungiert das Geheimnis wie die “produktive Kraft des Scheiterns” (Henzler 2013, S. 154), von der Bergala spricht. Die Stimmung ist bei Balázs, wie Hein weiter erklärt, “Indiz der Atmosphäre” (Hein 2011, S. 34). Die Atmosphäre wiederum wird von Balázs als “Seele jeder Kunst”, als “gemeinsame Substanz der verschiedenen Gebilde” (Balázs 2001a, S. 30) beschrieben. Sie ist somit nicht fassbar, aber allgegenwärtig. Und sie dominiere auch gegenüber Unzulänglichem, das heißt, dass auch die etwaige Unzulänglichkeit verschiedener Dinge die Atmosphäre des Bildes nicht stören könne (vgl. ebd.). Wie Balázs erklärt, entstehe diese besondere Filmatmosphäre dadurch, dass die sichtbaren Dinge im Film ebenso lebendig sein würden wie die Menschen und somit im Bild den gleichen Status hätten wie sie (vgl. ebd., S. 31). Das wiederum ermög- licht die Entstehung des “Eindruck[s] eines Verwobenseins” (Hein 2011, S. 35), von dem Hein im Zusammenhang mit dem Stimmungsbegriff spricht. Die Stimmung beziehe die abgebildeten Dinge und Menschen aufeinander, lasse ein Geflecht entstehen, das “durch Lichteinwirkung, Farbenspiel, Kontraste oder Formähnlichkeiten bestimmt” sei (ebd.). Stimmungen können im Film also in sehr eindrücklicher Weise entstehen und begünstigen die Einstellung, oder wie Hein sagt, die “Einstimmung” (ebd., S. 33) auf das Unbekannte. Stimmung bedeute also auch – so wurde es am Beispiel des Geheimnisses deutlich – “Ansporn, Antrieb, ein Versuch des Ausbruchs aus dem Vagen und Unüberführbaren” (ebd., S. 35). Des Weiteren beschäftigt sich Balázs unter verschiedenen Gesichtspunkten mit dem Stil. Am eindringlichsten und ausführlichsten geht er auf die Bewusstwerdung des Stils im Film ein, das heißt auf die Sichtbarmachung des Stils der Zeit, also die Offenbarung gegenwär- tiger Denk-, Handlungs- und Lebensweisen. “Nicht der Stilfilm also, sondern der Filmstil” (Balázs 1982, S. 343) ist ihm wichtig. In Der Geist des Films stellt er zunächst fest: “Der Stil des Bildes entscheidet, nicht der Stil des Motivs” (Balázs 2001b, S. 40). Wenn also der Stil durch die Kamera, durch die Einstellung gegeben wird, bedeutet das für Balázs, dass das Bild auch den Geist und den Stil der Zeit zeigt: “Wenn der Geist der Zeit sich in den Formen unseres Lebens und unserer Künste spiegelt, so spiegelt sich in der Kamera diese Spiegelung und wird so bewußt. Die Kamera schafft ja keine ursprünglichen Formen, sondern entdeckt und erlebt und deutet die vorhandenen.” (ebd., S. 41) Balázs sieht im Kino das Potential, nicht nur den Stil bereits vergangener Epochen, sondern auch den in der Wirklichkeit allgegenwärtigen, aber für die Menschen im Hier und Jetzt un- sichtbaren und undefinierten Stil der Zeit sichtbar werden zu lassen. (vgl. Balázs 1972, S. 102). Dies gelingt, weil Balázs den Stilbegriff in unmittelbarer Verbindung zum Erleben denkt. Der Stil ist bei Balázs aber “keine freischwebende Entität, die sich im Kunstwerk kristallisiert, sondern Ausdruck eines bestimmten Verhältnisses des Betrachters zu jenem”, erklärt Hein Erlebensorientierte Film-Bildung als Beispiel cinephiler Filmvermittlung 251 (Hein 2011, S. 143). Der Stil kann also nicht allein dadurch bewusst werden, dass die Kamera in ihren Einstellungen den Stil der Zeit einheitlich einzufangen und somit zu betonen vermag. Erst durch die individuelle ästhetische Wahrnehmung wird der Stil zugänglich. Indem der Film also den Betrachter die Wirklichkeit unmittelbar erleben lässt, ihn in “ein selbstreflexives Ver- hältnis zu seiner Umwelt” setzt und die Wahrnehmung umstrukturiert (ebd., S. 143), versetzt er sie in eine konkretere Aufmerksamkeitshaltung (vgl. ebd., S. 33) und lässt den sonst schwer fassbaren Zeitgeist, das sonst Unsichtbare oder Unbekannte, erleben und erkennen. Hein präzi- siert die Funktion des Stils weiter und weist darauf hin, dass dieser bei Balázs auch “entschei- dendes Übergangsmoment von der alltäglichen Wirklichkeit zu einer künstlerischen Realität” ist (ebd., S. 147). Wirklichkeit und künstlerische Realität werden durch den Stil somit wie über ein zweidimensionales Austauschfeld verbunden. In die eine Richtung mache der Film die Wirklichkeit ästhetisch erlebbar, er trage “zu einer Ästhetisierung der Wirklichkeit” bei (ebd.). Gleichzeitig schärft er damit in die andere Richtung das ästhetische Erleben auch in der Wirk- lichkeit. Wenn dem Betrachter also das ästhetische Erleben der Wirklichkeit im Film ermög- licht wird, wird ihm auch ein ästhetisches Erleben in der Wirklichkeit ermöglicht. Der Stil, in seiner Funktion als Übergang, bietet dem Subjekt also einen konkreten Zugang zu Formen der Welt und des Selbst und lässt es auch außerhalb des Films in einen solchen Zugang treten. Diesen Überlegungen folgend, bietet uns Film- und Medien-Bildung die Chance und Möglich- keit, eine visuelle Kultur zu pflegen, die dem Menschen neue Möglichkeiten der Erkenntnis, des Ausdrucks und des Seins schenkt. Eine auf das ästhetische Erleben der Wirklichkeit ausge- richtete Film- und Medien-Bildung ermöglicht das Erleben und Erkennen von Zusammenhän- gen und Dingen, die dem Menschen ohne diese lebendige Auseinandersetzung versperrt oder weniger zugänglich bleiben würden; sie ermöglicht das Gestalten von Formen der Welt und des Selbst, die dem Menschen durch das Medium Film unmittelbar bewusst werden. Denn das Filmerleben als zentrales Moment der Wirklichkeitserfassung schenkt dem Menschen neue Möglichkeiten, sich zum Dargestellten verhalten zu können und bietet damit auch andere For- men, seinen individuellen Bezug zu diesem auszudrücken; Formen, die einen unmittelbar kör- perlichen Bezug zum Dargestellten und Erlebten ermöglichen und damit den Menschen im Wahrnehmungsprozess als Mensch sichtbar werden lassen. Wenn wir Balázs Überlegungen zum Filmerleben als ein Hinterfragen, ein Scheitern, ein Aufbrechen und Neu-Justieren von Welt- und Selbstbezügen begreifen, dient ästhetische Film- und Medien-Bildung nicht der Akkumulation von neuem Wissen, nicht dem Aneignen von Fach- und Kontextwissen, sondern ermöglicht sie einen kontinuierlichen Prozess der Bezugnahme des Subjekts auf sich selbst und die Welt. In dieser Form entspricht das Filmerleben nicht nur den Grundsätzen der cinephilen Filmpädagogik. Es kann auch selbst als transformatorischer Bildungsprozess beschrieben wer- den, der im bildungstheoretischen Diskurs als “Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstbezugs” (Koller et.al 2007, S. 7) definiert wird. 252 Lisa Haußmann Filmerleben als transformatorischer Bildungsprozess Hinsichtlich der für die Film- und Medien-Bildung relevanten bildungstheoretischen Diskussi- on und in Bezug zur Bildungsprozesstheorie, die an den Bildungsbegriff der formalen Bil- dungstheorie anknüpft, soll nun das Filmerleben als transformatorischer Bildungsprozess skiz- ziert werden. Das Erleben, das Balázs als “das ureigenste Thema der Kunst” (Balázs 1972, S. 89f.) bezeich- net, steht im Zentrum seiner rezeptionstheoretischen und -ästhetischen Überlegungen. Für ihn muss Kunst erlebt werden, um Kunst zu sein. Und wenn Kunst erlebt wird, in ihrer Produktion und Rezeption, wenn es zu einer physisch-sinnlichen Begegnung mit dem Film kommt, dann werden der Mensch und die Welt, Bekanntes und Unbekanntes sichtbar und erlebbar, dann begegnet der Mensch der Wirklichkeit und sich selbst neu, dann kann der Mensch sein In-der- Welt-Sein erleben und erkennen. Dann – um mit Koller, Marotzki, Kokemohr und anderen (Koller et. al 2007) zu sprechen – findet eine Transformation bestehender Muster von Selbst- und Weltbezügen statt. Die Prozesshaftigkeit von Bildung, die in der bildungstheoretischen Diskussion fortwährend in den Vordergrund gestellt wird, ist auch für das Filmerleben nach Balázs charakteristisch. Selbst Prozess und mit einem Prozess verbunden (Darstellungsprozess der Wirklichkeit), fungiert das Erleben als Triebkraft für Prozesse (Erkenntnis- und Bildungsprozesse). Das bedeutet, dass zunächst die Filmkunst selbst einen Prozess darstellt. “Denn die filmische Darstellung der Wirklichkeit”, erklärt Balázs, “unterscheidet sich wesentlich von allen anderen Darstellungsar- ten dadurch, dass die dargestellte Wirklichkeit noch nicht vollendet ist, sondern sich – während ihrer Darstellung – selbst noch im Werden befindet” (Balázs 1972, S. 157). Durch dieses “im- Werden” wird das ästhetische Erleben der Wirklichkeit ermöglicht. In Form eines Prozesses bietet es, im Gegensatz zum Begrifflichen, einen konkreten und unmittelbaren Zugang zur Welt und zum Selbst, der mit einer “gesteigerten Aufmerksamkeitshaltung” (Hein 2011, S. 33), besser einer erhöhten Geistesgegenwart des Subjekts verbunden ist. Denn darin kommt einer- seits die Einheit zwischen Geist und Körper zum Ausdruck, die durch das Filmerleben hervor- gebracht wird. Der menschliche Geist ist in seiner unmittelbaren Gegenwärtigkeit am Erleben beteiligt. Auf den Film bezogen spielt der Begriff andererseits auf die Gegenwart der Bilder an, besser auf deren “Nur-Gegenwart” (vgl. Balázs 2001a, S. 29, 62), die das andere Raum- und Zeitempfinden hervorruft und eine filmspezifische Sphäre des Erlebens schafft. Wie Kokemohr definiert, werden Bildungsprozesse grundsätzlich “durch einen fremden An- spruch herausgefordert” und “von widerständigen Erfahrungen angetrieben” (Kokemohr 2007, S. 14f.). Das heißt, Bildungsprozesse sind Veränderungen von Welt- und Selbstbezügen, die durch den Kontakt mit dem Anderen ausgelöst werden und bisherige Muster in Frage stel- len. Auch Balázs betrachtet das Filmerleben, wie oben mit dem Moment des Scheiterns und der Alteritätserfahrung angesprochen, als ein durch den Kontakt mit dem Anderen ausgelösten “Prozess des Fraglichwerdens” (ebd., S. 14), der von Widerständen angetrieben wird: “Was nicht mehr umzudeuten ist, vergeht. Nur die Möglichkeit immer neuen Mißverstehens verbürgt immer neues Verständnis” (Balázs 2001b, S. 141). Erlebensorientierte Film-Bildung als Beispiel cinephiler Filmvermittlung 253 Dem Bildungsbegriff des bildungstheoretischen Diskurses folgend, kann das Bildungssubjekt, als heteronomes Subjekt beschrieben werden (vgl. Walberg 2011, S. 112). Bei Balázs ist die Heteronomie des Subjekts mit dem Gedanken verbunden, dass das, was aus dem Erleben her- vorgeht, das heißt die Art des Bildungsprozesses oder die Form der Erkenntnis, nicht vorherge- sehen werden kann: “Das Bild soll nur ein Gefühl wecken. Der Gedanke soll dann ohne unmittelbare Einwirkung des Bildes, automatisch aus der Empfindung entstehen. Man wird sich dabei abenteuerlicher Überraschungen gewärtigen müssen. Denn das vom Bild erweckte Gefühl wird sich mit den im Zuschauer bereits vorhandenen Zufallsstimmungen vereinen. Das Assoziationsergebnis ist nicht abzusehen.” (Balázs 2001b, S. 75) Balázs betont hier die Unvorhersehbarkeit des Erlebens. Erstens betritt das Subjekt im Erleben nämlich einen Raum, der nicht durch Begrifflichkeiten gefasst werden kann. Das Erleben und damit auch seine Umschreibung oder Vorhersagbarkeit entzieht sich dem Begrifflichen. Zwei- tens begegnet das Subjekt im Erleben den bereits in ihm vorhandenen “Zufallsstimmungen”. Damit verbunden ist also der Gedanke, dass das Subjekt im Erleben keine Kontrolle über die Prozesse hat, das heißt, dass sich das Erleben und die Erkenntnisprozesse dem Handlungsspiel- raum des Subjekts zu Teilen entziehen. Die eingeschränkte Autonomie des Subjekts schließt aber nicht aus, dass der Mensch als aktiver Zuschauer am Erleben teilnimmt. Im Gegenteil: Bei Balázs nimmt das Subjekt eine zentrale Rolle ein, die in die Bedeutungsgenerierung der Mon- tage eingreift: “Diese allmächtige, dichtende Schere, die den Filmen so endgültig Form und Sinn gibt, ist aber nicht in der Hand des Autors und bleibt auch oft nicht in der Hand des Re- gisseurs” (Balázs 1984, S. 223). An den hier in Bezug auf die bildungstheoretische Diskussion skizzierten Überlegungen wurde deutlich, dass das Filmerleben – als Kernstück der Begegnung mit dem Filmischen, das in der unmittelbaren Begegnung mit dem Film seinen Anstoß findet und sich davon ausgehend räum- lich und zeitlich individuell entfaltet – als transformatorischer Bildungsprozess betrachtet wer- den kann. Diese Auffassung weitet den Blick auf die bildungstheoretischen Beiträge zur Film- pädagogik, indem sie nicht nur die Fremderfahrung als “Brücke” zwischen Film und Bildung betrachtet (Walberg 2011), sondern das auf einer cinephilen Filmpädagogik fußende Filmerle- ben, das sinnlich-physische Erleben, in dem der Mensch seine Selbst- und Weltbezüge neu ordnen kann, als Bildungsprozess versteht und damit als neues Verbindungselement zwischen der filmtheoretischen und der bildungstheoretischen Diskussion. Angestoßen also durch den Kontakt mit dem Film als dem Anderen und geprägt durch die Prozesshaftigkeit des vom Me- dium Film ausgehenden ästhetischen Erlebens der Wirklichkeit, das auf einer lebendigen, in- tersubjektiven Interaktion zwischen Menschen und Medien basiert, bietet eine erlebensorien- tierte Film-Bildung Raum für den Menschen als Menschen und den Film als Film. Es bedarf ihrer, weil sie als die potentiell andere Bildung (vgl. Bergala 2006, S. 29) Raum für dynami- sche Bildungsprozesse anstatt für rein zielgebundene Lernprozesse schafft und damit jedem Einzelnen die Möglichkeit gibt, sein In-der-Welt-Sein zu erfassen und zu gestalten. 254 Lisa Haußmann Fazit und Ausblick Nun mag angemerkt werden, dass die hier angewandte Lesart zum Zeitpunkt der Veröffentli- chung von Balázs Büchern nicht auf diese Weise hätte produziert werden können. Weder der angestellte cinephile Bezug noch die Verknüpfungen mit der aktuellen bildungstheoretischen Diskussion hätten gedacht werden können. Aber die zentrale Rolle des Subjekts, die Bedeutung des Erlebens, das Potential des Films als Erkenntnismedium und Bildungsmoment prägen Balázs filmtheoretische Schriften und hätten auch losgelöst von den hier angestellten Bezügen zu früheren Zeitpunkten nachhaltige Inspirationsquelle sein können. Aus heutiger Perspektive haben die Einordnung der Schriften Balázs in den cinephilen Diskurs und die Verknüpfung zur bildungstheoretischen Diskussion gezeigt, welche Mehrwerte durch die Verknüpfung von Filmtheorie und Bildungstheorie gewonnen werden können und dass eine cinephile, auf das Filmerleben ausgerichtete Film-Bildung als Grundgerüst dienen kann, auf dem weitere praxeologische Gedankengänge angestellt werden können und Methoden entwi- ckelt werden müssen. Dass seit der Veröffentlichung von Balázs Kinobüchern einige weitere Kapitel in der Geschichte des Bewegtbildes geschrieben wurden, sich Rezeptions- und Auffüh- rungsdispositive weiter entwickelt haben und es womöglich neue Voraussetzungen und Rah- menbedingungen für das Filmerleben zu beachten gibt, muss selbstverständlich Teil dieser nächsten Überlegungen sein. Ganz im Sinne und Stil Béla Balázs sind die hier zusammengetragenen Überlegungen jedoch zunächst als Aufruf zu verstehen, eine cinephile Film- und Medien-Bildung zu stärken, die das Erleben als Ausgangspunkt begreift und transformatorische Bildungsprozesse anstoßen möch- te. Denn mit dem Erleben findet Kunst statt. Und wenn Kunst stattfindet, dann findet Bildung statt. Dann findet Film-Bildung statt. Literatur Aumont, Jacques; Bergala, Alain; Marie, Michel & Vernet, Marc (2008): Esthétique du film. 3. Auflage, Paris: Armand Collin. (Orig. 1983). Balázs, Béla (2001a): Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt am Main: Suhrkamp. (Orig. 1924). Balázs, Béla (2001b): Der Geist des Films. Frankfurt am Main: Suhrkamp. (Orig. 1930). Balázs, Béla (1972): Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst. 4. Auflage, Wien: Glo- bus Verlag. (Orig. 1949). Balázs, Béla (1982): Der sichtbare Mensch: Kritiken und Aufsätze: 1922-1926. 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In spite of the high costs and prestige of those types of education, there seem to exist little formally described knowledge about what is considered a good education, effective training methods, norms and rules of teaching, supervision and assessment. Informal knowledge is most often situated and carried with the instructors and supervisors as embodied knowledge that unfolds in situations and contexts. The success or failure of the training is measured by the number of students who make their careers in the entertainment industry after graduation. There seems to be a considerable lack of descriptions and analysis of what it takes to develop the talent of students, and the “hows” and “whys” of alternative methods, strategies and processes. The research literature on the subject is moderate and rarely put forward as prescriptive or suggestive for improvements. The main focus of this article is to identify the trends that influence the construction of film schools and their curricula and to elicit explicit reflections and discussions concerning the inten- tions and basic values underpinning film schools. Based on historical perspectives we have found it interesting to differentiate between educational institutions and relate them to three separate po- sitions or approaches in a curriculum triangle: the arts, the profession and the academy as nodes. Media education at tertiary level – what is the purpose? Having a long experience in the field of media education as a general area of study, we, the authors, felt that it was about time to focus on how media education looks like in tertiary edu- cation. Working at Lillehammer University College with two distinct schools: one for televi- sion and one for film, we also felt obliged to gather more knowledge about the area to under- stand the development of our own institution. The project was framed as a pilot-study, and we received support from the “Norwegian Council for applied media studies”. Media studies have three shapes and forms at our institution: In 1986 a two year study on TV-production started up. In 1993 an academic Film- and TV-science study was established. Third, the Norwegian Film School was established in 1998. Today, these are organised as separate entities: Depart- ment of TV-studies, The Norwegian Film School and Film and TV-science as subject under the Department of Social Science. They offer BA-programmes in their respective areas, as well as Master studies. In 2014 the Film- and TV-science section had a PhD-programme accredited (in collaboration with Norwegian University of Science and Technology). 258 Yvonne Fritze, Geir Haugsbakk & Yngve Nordkvelle Interestingly, the Film school at our own institution rejected our request to include them in our study. This gave us a suspicion that the field might be controversial and turbulent. We by- passed the problem by including interviews with retired personnel from the Film school, and studying reports and websites presenting the school. In contrast the TV-school welcomed our curiosity, and embraced our efforts with great interest. In addition, we included a brief study of the Danish Film School in Copenhagen. Most of the literature we have studied for this project has a character of being biographical, or broad overviews of trends and histories of national and international perspectives on film and tv-education (Hjort 2013a, b; Petrie & Stoneman 2014; Bro 2010; Skretting 2014). The more focused and empirical studies are few and rare to find. The nature of our project also limited our research to doing interviews and studying documents. Historical perspectives on the field Efland stated in his book about the social history of art, that: “as long as the arts have existed, artists, performers, and audience members have been educated for their roles” (1990, p. 1). The tradition of training was established in the informal setting of the elder advising the younger in how to exercise certain skills. The oldest institution for training artist, has been found in China, dated to 1104 (Stankiewitch 2007, p. 10), and in Europe, the art academy of Medici was estab- lished in 1488. “Accademia del Disigno” established in 1563 in Florence, was both an art edu- cation institution as well as a guild, but with an emphasis on theoretical perspectives, while most guilds gave precedence to practice (Stankiewitch 2007, p. 12). The guilds became formal settings for training where the young artisans studied under the master, undergoing tests to, gradually, demonstrate that a mastery was well deserved. The master-novice relation is still considered a vital impulse for training in vocational as well as artistic training (Eikseth 2011). In the discourse about film education, the tradition of learning the trade in practice is still high- ly regarded (Hjort 2013a). Many countries in Europe established national art academies throughout the 18th century, first and foremost to establish a national tradition, and to counter the strong Italian influence. Ac- cording to Stankiewitch, the government interest in controlling the style and purpose of the arts, was a strong argument for the State to finance and supervise training of artist (2007, p. 13). In Germany, even local Governments established art academies, also to stimulate the de- sign and production of new industrially produced artifacts, like in Breslau (Barnstone 2008). The division between “high and low” culture, and the rivalry between conservative and radical ideologies of art is a perennial topic. The famous art school in Berlin, the Bauhaus, established in 1920, was an example of an art education, which merged the conflicting ideas about theory versus practice into a consistent workshop-method (Christie 2012). While the visual arts education has a long history, the issue of film education is a child of the 20th century. The concern for how audiences, particularly children, responded to moving im- Why a formal training for TV and Filmmaking? 259 ages, gave way to a strong public debate already before World War 1 (Diesen 1995). The first government to acknowledge the possibility of using the art of filmmaking as a tool for the State, was the Soviet government. They established the world’s first film school in Moscow in 1919, the VGIK (Vserossiyskiy Gosoudarstvenni Institut Kinematographii), tightly connected to the state and the Communist party. They pronounced a clear political analysis and argument for bringing filmmaking to the forefront of the cultural policy. Lenin had seen the power of moving images and how this new medium could play an important part in developing the new Russian citizens and building the Communist state. The Russian film school turned out to be highly influential in the development of film schools in other parts of the world. To some ex- tent because they demonstrated the propagandistic potential of films, but also because of the experimental artistic forms and new teaching methods. The film schools that emerged in Europe followed the same kind of model, first the “Centro Sperimentale di Cinematografia” established in Rome in1935 by the fascist government. The national socialists/fascists in both Italy and Germany saw the movie as a propaganda instru- ment of enormous power. Just after the Second World War, Eastern European countries (Hun- gary, Czechoslovakia, Poland) quite soon established their National film schools. Spain in 1947, the Netherlands in 1958, Sweden 1964, Denmark 1966, West Germany in the mid 1960s, UK 1971, while the private institution London Film School dates back to 1956. Although the values underpinning the establishment of film schools initially was politically motivated, it was always connected to a set of aesthetical arguments expressed as a policy for art and cultural institutions. The nature of these arguments oscillates between paternalist and “high culture” aims of educating the masses to pragmatic views of art and culture being a shared and common value (Snævarr 2008). A national film policy in Norway was first established in the early 1950-ies, built on the accept of film being an important artistic expression, which was significant for the building of a na- tional cultural identity. The desire to cultivate and imbue the public with the values and infor- mation of the enlightened and educated elite was taken care of by an institute providing films for educational institutions (Statens Filmsentral). Films were seen as a cultural good, that should reach all parts of the public in order to raise their level of education. The film policies developed by the Norwegian authorities took a great responsibility for supporting the Norwe- gian film production, both feature films, short films and documentaries. The film historian Gunnar Iversen regards the production of film in Norway, from 1950 and onwards as an im- portant governmental project of cultural politics, that reaches a preliminary peak by the estab- lishment of a national film school in 1997. In the first 20 years the film policy was first and foremost a project that emphasized the production of quality films for the masses, and for chil- dren in particular, with the greatest concern for the constant nurturing of a national cultural identity, and, needless to say, as a counterforce to the strong commercial influence from the USA (Iversen 2013). The establishment of the Norwegian Film School was clearly a project undertaken to support a national film industry, which supposedly was cultivating a national film culture. When the Ministry chose the University College of Lillehammer as location, two arguments were important: The TV-school was already well established, recruited well and had reached a position as an important provider of personnel to the industry. The government spent 260 Yvonne Fritze, Geir Haugsbakk & Yngve Nordkvelle a shameless amount of money on organizing the 1994 Winter Olympics, and filling the Media Center with more media studies seemed to be economically rational. In spite of the entire in- dustry tried to convince the Ministry it should be set up in Oslo, the capital, it ended in Lillehammer with the first students admitted in 1998. The making of film schools in history: industry, the conservatoire and the academy This confluence of political and cultural forces was important for the development of national film policies, in smaller as well as larger countries (Hjort & Petrie 2007). Since 1950, hardly any film has been produced in Norway without financial support from the State. The same goes for a number of other countries, such as Germany (Byg & Torner 2013). The national film policies are generally seen as quite formative for the profile of film schools. Byg & Torner (2013) describe the relationship as “a deep structural logic” between the national cinema and its film education. They call the connection “dirigisme” following the close companionship between State regulation and use of incentives on a broad basis to assure that business follows public interests (2013, p. 105). The dirigisme does not end at the front door of film education. German film education, both public and private institutions receive substantial funding from the State. There are, however, several other forces that contribute to the direction of how film education is designed and organised. The Scottish film historian Duncan Petrie points at, primarily how the tradition of art education in Europe, as well as film schools developed as an academic area, predominantly in the US, influenced the film education in the UK (2010a). For the case of Germany, Byg & Torner points at the influence German educational traditions put their mark on how things are run in film schools. Last there is a huge influence from the practical hands- on training that has taken place in the industry since the handcraft of film-making started (Hjort 2013b). A number of autobiographies of famous filmmakers describe how “learning the trade” took a long time. Alfred Hitchcock was one of many who made his way from modest positions in drawing and production design to make his own career as successful filmmaker (Taylor 1978). Learning the trade by working with experienced filmmakers is the closest we can get to the informal learning that historically took place in the guilds. The London Film School, first es- tablished in 1956, named itself a “technical school” for the first years. For many years, the school had an image of being producing candidates that would quickly find a proper job in the industry. The “conservatoire” was a metaphor used to describe the tradition of film schools that lended some vital traits from the established art schools, as described above, but adjusted to the specif- ic field of film making. Apart from serving more or less specific political aims, as in the Soviet union, and Italy, the tradition in Europe which developed in the 1950-ies and 1960-ies, devel- Why a formal training for TV and Filmmaking? 261 oped approaches which included topics like the history of art, aesthetics, philosophy, film cri- tique and political and psychological topics. In the US, film schools were established within universities, first at the University of California, Los Angeles, in 1932. “The academy” is a contrast to the conservatoire in the sense that the training took place with stronger influences from intellectual fields and subjects that flourished in the aftermath of the new social criticism in the US (Petrie & Stoneman 2014). To stay with the British example, when the British government established an independent Film school in 1970, they sought inspiration rather in the conservatoire model, than in the in- dustrial model. When they recruited the Scottish born, and academically trained Colin Young from a leading position at UCLA to become the leader of the National Film School, this school developed quite differently than the London school. The London Film School was built on a very structured programme, where courses followed a strict succession and progression set by the teachers, who were most worried about following the technical requirements of the indus- try. In the National Film School, little formal teaching took place, seminars were organized when needed, students were active producing film in various genres and in system that was difficult to identify, even for those well versed in the industry (Robertson 1975). In 1985, Young described the difference between the industrial model and alternative he was in charge of in the following manner: “There is a difference in attitude and technique between a person who has quali- fied through industry and one who has gone through school. The person who has learned in the industrial environment entirely, will have his or her time directed by others in a workplace which is keyed to a production of artefacts of somebody else's requirements. The other type will have their time directed by themselves in a school environment which is keyed to their development and will leave within them a spirit of an inner-directed development as opposed to the industry's outer- directed one.” (Toyeux, p. 26, quoted from Petrie 2004, p. 84) Similar ideas were important also to the German film schools. Byg & Torner (2013) points at the importance the German academic tradition has played, both in former East-German and West-German film schools. Most notable, they point at the ideas of how filmmaking should be construed as a part of a process of “Bildung”. In West-Germany, The University of Television and Film Munich was established in 1966, directed by professor Dr. Otto Roegle, whose edu- cational philosophy epitomises the German idea of Bildung: “to give young free-thinking and artistic German filmmakers freedom to experiment before pushing them into the media indus- try” (Byg & Torner 2013, p. 113). Similar to Young, Roegle was a well established academic of both medicine and media studies, with the firm belief of the ideas of European higher educa- tion, stemming from Humboldt. According to Basil Bernstein (1975), the visibility of structures and frames for teaching and learning in the industrial model, such as the London model of the mid-70-ies, would fit into what he would name a “visible pedagogy”. Subjects were clearly described, criteria and de- mands were clearly defined, teaching was frontal and predictive, and the evaluation of student performance was clearly stated. Similar, the National Film School would fit a description of an 262 Yvonne Fritze, Geir Haugsbakk & Yngve Nordkvelle “invisible pedagogy”: implicit control exercised by the teachers, limited focus on learning specific skills, strong beliefs in the ability of the student to organize his/her own learning pro- cess, and a wide and imprecise set of criteria for evaluation and assessment of learning out- comes in terms of process and product. As we see, there are significant influences from the three sources: the interests of the profes- sional community, the interests of the arts and of the intellectual field. Secondly, the interaction between government policies has important consequences for how curricula of the film schools are designed. Duncan Petrie presents the distinction between practice on one hand and theory on the other as the main topic of curriculum design: “the relationship between the provision of hands-on technical training and a wider intellectual and cultural education that remains one of the most interesting and pressing issues” (Petrie 2010a, p. 40). He points out that the conserva- toire and the university department, have both been trying to handle the challenge in different ways, but they have sought a combination “that embraces the theory, criticism, and history of cinema, providing students with a context for locating and understanding their own creative practice” (p. 35). In the next section we will try and look closer to types of influences that are important for the film schools we have investigated. Film schools in the age of globalisation The curricular model emanating from, among others, Petrie’s work, suggests that the taught curriculum at any film school will position itself somewhere in between the three corners of a triangle, representing art, academy and the profession. While the political background of the early film schools, (as well as policies guiding both arts, academia and the professions) was closely tied to the interests of the state as a nation builder, the changes of the latter two decades (at least) have come about as the result of the globalisation of the economy. After the fall of the iron curtain, in particular, a totally new global economic agenda has been set up, in former Soviet states, as well as in European countries. Neo-liberalism has changed the political contexts of film making, and the economic goals of the national film industries have been expanded not only to serve a national culture, but to reach out to a bigger market. In 2007, a government white paper in Norway stated that the imminent goal of Norwegian film industry had changed from serving the Norwegian public primarily, to become the economical- ly and artistically most successful in the Nordic countries. The conventional argument about preserving and supporting a national culture was now sharing attention with a substantial em- phasis on economic concerns. Reaching out to an international audience, capturing a larger segment of the national market, competing with the international production groups, primarily in the US and the UK, became important part of the goals for the national film production (Iversen & Solum 2010; Iversen 2013). Duncan Petrie shows how similar tendencies have influenced British film policies and film education. The “Creative industries”, which is the new term after New Labour’s influential political leadership in the previous decade, has gained a strong influence on what types of skills are needed in the profession, and how entrepreneurial Why a formal training for TV and Filmmaking? 263 training and developing new business areas are new curricular areas. The discourse is now more or less seated in the needs and demands of the industry, leaving cultural critic to the eso- teric premises of academic journals and colleges (Petrie 2010a, 2012). The British/American professor of cultural studies, Toby Miller (2013), offers a structuralist/ marxist critique of the same tendency. Studies of creativity, and the efforts to uncover the dy- namics of creative arts as pivotal in the artistic and economic success of making film and simi- lar cultural artifacts, comes from liberalist economics of the 1960-ies, which most noticeably, governor Ronald Reagan promoted. He sees the emergence of film education as an unholy merger of technology and humanism/liberal arts, because movie making recruits from both areas. As an overall, but preliminary analysis, we see that the aim and purpose of national film schools is strongly entangled with government policies regarding film and television. In coun- tries like Germany, Norway and UK, the film schools have a strong government support and are regulated by both higher education policies, as well as cultural politics. Another dimension of globalization is the international coordination of educational policies (Haugsbakk 2012). In all these countries there has grown up a large number of private institu- tions, which are regulated by national policies for accreditation. For Norwegian film and TV- education this implies that the studies are inspected and accredited by the Norwegian Council for accreditation, meaning that the Bologna policies, as well as the subsequent regulations imposed by the EU has been followed by the book. In Denmark, the Film School is funded by the Ministry of Culture.The Danish Film School has been left untouched by the policies aiming at harmonising with the Bologna agreement, which means their course description follows a quite different rhetoric (Hjort 2013a). We see that policies regarding art and culture, the film professionals as well as higher education have high stake interests in shaping the curriculum of film education. Policies for the arts and culture, and film more specific, change as well as does higher education policies and even more influential might be the role of the professional com- munity of filmmakers. The curriculum triangle in Norwegian and Danish Film training Petrie’s model is two-dimensional in the sense that the design is torn between the theoretical or practical interests. Based on our empirical research and analysis of the curricula of the Norwe- gian and the Danish institutions, we will suggest that there is a gulf between “the academic” and “the arts” of what Petrie initially describes as “intellectual”. In his most recent work (with Stoneman 2014) he describes that the conservatoire model by and large is under pressure in many countries, and that academic subjects is losing terrain to the interests of the industry. They describe this as a trend towards “anti-intellectualism”. The anti-intellectualism can take many shapes and forms. In Philipsen’s account of teaching and learning in the Danish Filmschool, published as her PhD-thesis (Philipsen 2005), we find 264 Yvonne Fritze, Geir Haugsbakk & Yngve Nordkvelle one example. Philipsen described the formal teaching of the subjects Petrie outlines above as restricted to one day per week, and performed by invited guest speakers from the university. Students generally loathe this teaching, and Philipsen assumes very little is learnt from it. At the Norwegian TV-school teachers do their outmost to invite speakers who are conceived of as highly relevant, have a high standing in the practical field and are able to speak to students where they have their focus in their process of learning film-making. The institutions we inves- tigated were clearly most focused on the teaching and learning of the practical craft of making film. The possible guest lecturers from the academic branch of Film- and TV-studies are rarely consulted or invited to give lectures. A blog maintained by the director of curriculum of the Norwegian Film School, F. Graver states that “[...] the kind of fine arts training offered by the Norwegian Film School does not have a relationship to knowledge in the academic sense” (Graver 2012). Along with the Danish Film School, their curricular texts contain a huge number of references to their efforts to main- tain a very professional approach to training as well as developing the artistic expressions of the media. The conception of the filmmaker as an artist is strongly supported throughout their curricular texts. In the rejection of our attempt to include the present Filmschool in our re- search, the argument was made that academics, like ourselves, would be incapable of under- standing the teaching of arts, and therefore would have little to gain from doing research. The Danish Filmschool has a line of study for TV integrated. The curriculum text for the study of making TV is equally immersed in references to artistic development, and a range of TV- genres are mentioned as areas where artistic development can take place. The Norwegian con- text is different. In spite of years of efforts to merge the TV and Filmschool which are two different departments at the Lillehammer University College, the latter has resisted such a process. Because the Filmschool since its inception has been classified as an art institution, it receives almost four times the money per student as the TV-school. Subsequently, the Film- school would, probably, be severely punished if they stepped out of the “arts” discourse, and has, obviously, a strong interest in keeping the TV-department outside their own realms. How- ever, the Filmschool has lately taken up interest in doing TV-drama, as well as developed a parallel study to the TV-school’s study of documentary, but naming it “Creative documentary”. The TV-school was developed primarily as training for producing critical documentary for television, in 1986 (Pryser 2001). Critical theory, project method, groupwork and problem- based learning was the hallmark of its pedagogy, and closely linked to the academic Film- and TV-study that was established since 1992. The academic connection was therefore much stronger for the TV-school. The curriculum texts of the TV-school hardly have any references to “arts”, but do refer to notions such as “creative” or “innovative”. These types of expressions support our interpretation that the two-dimensional model between theory and practice needs to be expanded to three dimensions. Where Petrie found a peaceful and happy coexistence of arts theory, film theory, criticism etc., the Nordic film education present us with a much clearer distinction between the arts and what we might call humanities and social sciences on the other. Why a formal training for TV and Filmmaking? 265 Dirigisme and the purpose taken for granted in Norwegian/Danish Film Schools Reading the curricular texts and interpreting the interviews, we see that there are some pre- sumptions that do not come to the fore. The aim and purpose of training to become producers of TV and Film is very little described, let alone discussed in curricular texts. In interviews, many ideas and viewpoints about the purpose are espoused. The most common idea, is similar to the quote of professor Roegle above, to create a cradle for development of individual ideas, creativity and expression. Another strongly shared idea is what we might call “the death of the auteur”. The social character of making TV- and Film is strongly underlined, and therefore the interdependence between the various actors: sound, photo, production design, director, produc- er etc. in the act of producing a piece of audiovisual expression is strongly emphasised. The collaborative nature of modern filmmaking is a common denominator of the ideas and beliefs of the institutions investigated. These two phenomena are quintessential as expressions of what “Bildung” in this education contain. However, when it comes to societal or ethical issues, the curricula say little about such matters. There are hardly any references to the meaning and functions of media in society in the texts. In the interviews, however, the desire to educate students who want to offer critical reflections to the public, come to the fore. The former dean of the Norwegian Film School, Malte Wadman, expresses that the hardest thing of film educa- tion is to motivate students to make films of significance to society. The question of “how” in training filmmakers is relatively easy compared to questions of “why” and “what”, according to him. A documentary teacher expressed a worry about two of his former students playing essential roles in the production of documentaries running up to the coming election for the parliament. They were both employed in the national broadcasting company (NRK- the state funded broadcaster), and his concern was that they, who have received a rather scarce training and acquisition of knowledge about politics and economy, could take on themselves such am- bitious tasks. It is a question well worth asking if film education and the film profession are both so entan- geled in each other, and so structurally connected to film- and TV-policies of the government, that the “actual” purpose of the training is rather expressed in those discourses, and are taken for granted in the texts we have discussed. If so, this might support a thesis of a “dirigisme” being strongly present in these institutions, notwithstanding being regulated by a ministry of Culture, as in Denmark, or Education, as in Norway. The idea of higher education is, neverthe- less, relatively independent and responsible to induce students to other and more critical idea about State, government and profession. The espoused curriculum All the more interesting is it to note that the strongest expressed aim in the curricular texts is the desire to teach students “to tell stories”. The art of storytelling is considered the heart of the matter in filmmaking, and the professional value is given to how this is performed, via the variety of genres. For the case of the Danish Film School, Philipsen describe this fixation of 266 Yvonne Fritze, Geir Haugsbakk & Yngve Nordkvelle “the story” as stemming from Danish avantgarde-academics and artists in the late -60-ies, most notably Mogens Rukov, who brought ideas from linguistics and the presumption of the “natu- ral story” into the theorizing about film-making (2005). Offerings from theory of literature about narration, storytelling, about dramaturgy and the strive for developing original approach- es to storytelling gave way to the new “Danish wave” of filmmaking. The presumption that human beings conceive of the world in narratives, and that the ambition of filmmaking should be to identify and reveal the stories that exist, lead to a minimalist approach: to seek the stories through simple technologies, and through fixed rules about how to document the stories in sound and vision. Producing short stories, with strong ramifications, under constraints of time, equipment and collaborators, with shifting relations to the other roles in filmmaking is consid- ered a hallmark of the Danish Film School. These principles are also strongly supported by the present regime of the Norwegian Film School. Although students are recruited to specialized studies of screen writing, sound, editing, production design, producing etc. the idea is that all persons involved contribute to the production of the artistic material. In the Norwegian TV-school we found that the set-up in the weekly plans are very detailed and prescribed. On the face of it, teaching seems to be planned well, and with long periods of inde- pendent work for students. Also here is the group as a collaborative entity in focus, and every sequence of making productions is followed up with supervision and guidance. Although not expressed in the same ideological manner, sequences, pace and rhythm of work, the going back and forth between planning and outlining ideas to pre-production, filming, editing, screening, feedback from fellow students as well as tutors, revision and then completing a production, seem to be quite similar to those of the respective film-schools. One distinct difference is that the TV-school has a very close cooperation with production companies. While the Film- schools to a large extent keep their students in-door over the three (HiL) or four (DFS) years and only send selected productions to internal competitions on student festivals etc., the TV- school involves their student in actual productions from early on. The teachers express a huge belief on letting students try their ideas out, not only in a secluded practice, but in high stakes contexts. In recent years, streaming video via the Internet provides an arena for publicising that is both public and can be watched by many, and is much used. But they also produce in coop- eration with national broadcasters, such as NRK and TV2, and individual production compa- nies. This orientation towards the “real world” corresponds well with their ideas of creating innovative and robust students for the profession. The dean of the TV-School claims that their school is the best in the country in this respect, and that the relation to the profession is quite seamless. Learning by doing? In our reading about film education, there are very few references to educational theory, or if they occur, they do so in a rather erratic or naïve form. The ideas we identify in the written and orally presented descriptions of how teaching goes on – as well as those we observed, quite resembles what Young has called “the project method” (Petrie 2010b, p. 312), which most educators adhere to the American pragmatists and educators Kilpatrick and Dewey of the first Why a formal training for TV and Filmmaking? 267 half of the 20th century (Knoll 1997). The slogan “learning by doing” is often used to describe the method of defining a problem, finding information, planning an action, performing relevant acts, collecting information about the process and then reflecting on the outcomes. The method is generally described in many ways and with certain specificity, relevant to the educational setting. In law education, in the US predominantly, it has been coined as the “case method” (Shulman 2007), or in medical education as “problem based learning” (nursing, MD, radiology and many more). It is generally associated with politically radical methods of teaching and learning in higher education, which came to prominence during the student revolt (1960-70 in northern Europe). John Dewey and the project method was one of many inspirations, along with reform pedagogy from European educators like Pestalozzi and Rousseau, from Soviet influences (like Anton Semjonowitsch Makarenko), as well as adult education (Malcolm Knowles, David Kolb) and critical theorists and practitioners like Paolo Freire, Oscar Negt and Alexander Kluge. While all studies seem to be well founded in the realm of practice, the importance Dewey gave to not only “doing” but also “reflecting” is well worth using in this context. The balance be- tween providing a technically proficient background in order to produce significant artistic or academic material is therefore a topic much debated in the institutions. Generally, they agree that technical proficiency without clue of the purpose is useless, and much emphasis is given to assist students to reflect on their product and process. The aim is to invoke ideas about how the material could have been presented differently. Teachers often talk about how “the good teach- er” solve this task, and how crucial this part of teaching is to raise the quality of students’ work. Students also distinguish teachers who make them reflect without “loosing face” or feel- ing inferior to “the master”. Having observed one colleague who proved to be brilliant in this respect, former dean Malte Wadman got the idea to provide the teachers with a textbook on how to teach, a task assigned to professor Dick Ross. The work, called “training the trainers” is a collection of ideas, descriptions, cases and examples of how to provide good teaching in film schools. Conclusion Art for art’s sake Money for God’s sake (10cc) The three institutions we have had a closer look at, educate students for making films and mov- ing images for TV, cinema, Internet and - in the future - also games. We see they work under three different contexts, because in Denmark producing TV is considered, along with produc- ing short and feature movies, a task best undertaken under the Royal Ministry of Culture. The school is a definite art school, and the studies are equally well funded. In Norway, TV-studies is considered a subject belonging til professional studies, and is organised under the Ministry 268 Yvonne Fritze, Geir Haugsbakk & Yngve Nordkvelle of Education. Film-education is also a study administered by the Ministry of Education, but is classified as an art school, with a much better funding. The relationship between the practical and theoretical is troubled. There is, to our judgement, an inherent anti-intellectualism in film schools, which stems from both the financing system, as well as a conception of theory as pointless and irrelevant. Both students and teachers in the field have strong visual or auditive interests, and probably less talent for reading. The principal of the Danish Film School uttered that there is probably a number of people in the industry who have problems reading at all, and suggested that their lack of interest in scholarly work coincides with an audiovisually inclined style of learning. A number of students admitted to film schools also have a theoretical background from previous academic training: media stud- ies, language, economics or other types of higher education. All the persons we interviewed supported the idea that learning the professional handcraft of filmmaking is essential, and they would feel embarrassed if they sent poorly trained students to the market. The basic qualifications need to be in place. They continually discuss how to train the students to combine practical and social skills in a way that they seem competent and use- ful for the industry. This requires a flexible attitude towards persons and settings, experience of work from a variety of settings, mastery of genres, willingness to experiment etc. They all seem to be confident that although most students reach this level of competence, there is a higher level of creativity, which only few students will reach into. The lack of explicit texts about the purpose of the film school is an interesting finding. One might interpret this as an expression of how the aims are taken for granted. The curricular texts also give few hints as to which intellectual traits and qualifications are needed to give students a context for locating and understanding their own creative practice. The Norwegian TV- school has a background of educating critical documentarists and is persistent in upholding this tradition. The Norwegian Film School and the Danish Film School are positioned in an art discourse, in which producing “art” represent the highest peak of their performance, with little or no references to what art means or represents in society. Instead of teaching in the formal sense, e.g. lecturing, teaching is performed by producing films from the very first days on. The three institutions we have looked into, have devised methods for giving students the mastery of filmmaking in quite similar ways. There is a strong emphasis on “storytelling”, and they are anxious to prepare students to work in shifting con- texts, with appreciation of all the roles of filmmaking. One might interpret this as an expression of a socialist/social democratic ethos, of the equality of everyone who takes part, and where the creative or artistic product is a result of collaborative efforts, rather than something developing from one person, the auteur, alone. One cannot fail to see how this reflects professional rather than artistic ideas (Mortveit 2010). Why a formal training for TV and Filmmaking? 269 References Barnstone, Deborah Ascher (2008): Not the Bauhaus. The Breslau Academy of Art and Ap- plied Arts. Journal of Architectural Education, 62 (1), pp. 46-55. Bernstein, Basil (1975): Class and Pedagogies: Visible and Invisible. Organisation for Eco- nomic Cooperation and Development, Paris (France). Centre for Educational Research, and Innovation. 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We concentrate on two groups of children aged 7-9 in two different learning settings, a school workshop and an after school activity. Children worked on a selection of digital games. Data collected include ob- servations, interviews and drawings of children’s gameplay in order to reflect their experience and pinpoint important parameters of gaming activity and game design. Analysis is based on chil- dren’s oral and visual narratives and explores how children’s use of multiple narratives enters into a dialogue with the researchers. We argue that children develop a preference to specific character- istics of games like game content elements or gameplay elements, referring to emergence and progression game structures and reflecting to their narrative production. Introduction Digital gameplay has started as one-person activity. Specifically, the ‘ping-pong’ digital game was amongst the first attempts to create a game experience between the player and a technolog- ical device. This was followed by others, leading to the production of a variety of creative games and today there is a plethora of technically innovative platforms and a variety of digital game genres. However, new digital media go even further, by making possible the rendering of multiple associations between the player and his environment, the creation and sharing of vir- tual spaces being one of them (Salen 2008; Ryan 2012). This is the case of Massively Multi- player Online Games and sandbox games. A major topic of interest related to digital games has to do with how children players experience gameplay. In order to explore this, Ryan (2003) and Steinkuehler (2004) concentrate on children’s own narratives and pose questions such as: How do children narrate their experiences? How do we interpret their narratives and how such interpretations feedback our design efforts? Focusing on children’s narratives of their gameplay experiences, three core questions are ex- plored in this study: 1) How do children talk about their experiences in gameplay? 2) What are the important issues that they focus on? 3) How do they express them in both verbal and visual modes? The context of the present research study provides specific examples taken from our research with two groups of children aged 7-9 in two different learning settings; a school-based workshop on digital games and an after-school family-based activity. Both groups worked on a number of digital game genres, including puzzle and adventure games. Data in this research phase include children’s story-telling, as well as, their off-hand drawings of their own game- play produced during the workshops. Such data reflect children’s ways of participating in the 274 Monica Gavrielidou & Anna Chronaki gameplay activity, of representing critical points of such activity as they tried to overcome any presented difficulties and of interacting with peers and game interface. A first analysis of the collected data discusses how narrative expression is related to children preferences, which, in their turn opt for either of the two prominent game structures: emer- gence and progression. The paper consists of three sections. In the first section we attempt to trace narrative and interactivity in digital games and develop our reasoning on their use among children. Their social character is mentioned and narrative potential of games is brought for- ward. Game narrative is also viewed in relation to game design. The second section focuses on exploring collected children’s narratives, leading to a double categorization of findings. The third section draws our conclusions and sets some open questions related to our subject. Tracing narrative and interactivity in digital games Following the “narrative turn”, narrative has been seen as a “tool of mind” assisting people to construct their reality (Bruner 1990). Being a considerable part in children’s lives, it appears that digital games constitute an area rich in narrative activity. But how do we define narrative in digital games? Is it the “story” of the game, or is it the player’s trajectory in the game space? Effectively, in digital games, the meanings of narrative can be twofold: It can be related to the story of the game, or it can be the narrative account of the gameplay process, focusing on play- ers’ experiences (Manovich 2001). Digital gameplay is assisted by a series of technological tools and solutions that make it highly interactive. Aarseth (2012) claims that player’s influence over the gamestory alludes to game interactivity in the sense of forming and responding to changing conditions. In this context Ryan (2001) distinguishes four strategic forms of interactivity that characterize different genres and narrative possibilities on the basis of internal – external and exploratory – ontological interactivity. Indeed, interactivity in games results in a high degree of flexibility for the player. Gameplay becomes personalized while the player adjusts the game settings to his preferences and even gets the chance to become a co-creator of the game (Jenkins 2006). However, apart from being an important element embedded within digital games, interactivity is also traced in players’ online and offline social interactions, extending their gameplay further. In digital games the narrative and the interactive element usually coexist (Juul 2002). Specifi- cally, the identification of the narrative element in digital games is related to the central ques- tion of the ludology versus narratology debate on whether games should be studied in relation to narrative. Focusing on the significance of plot in digital games, ludologists’ argument delt with the idea that “a plot makes a story and rules make a game and they shall not meet” (Si- mons 2007) confronting a narratological analysis of games. The ludology versus narratology debate over, it was agreed that narrative is not the “raison d’etre” of games, but forms a stimu- lant for players’ imagination (Ryan 2001). Regarding it rather as a matter of coexistence, it was accepted that basic concepts of ludology could be used along with narratology (Frasca 2003). Children’s Narratives of their Digital Gameplay Experience 275 In Mind in Society Vygotsky (1978) considered playing a game like entering an imaginary world where a child has to cope with his immediate impulses and follow certain rules. Accord- ing to Vygotsky by acting in the game imaginary situations the child learns to control his be- havior by finding a balance between immediate perception of objects and the meaning of the play situation. Vygotsky saw a cognitive developmental role in play, related not only to chil- dren’s behavior during play, but also with language which, being a communication and cultural tool assists the child in understanding the external world. Narrative is connected to preschool children’s play and can be traced in their “inner speech”, while they are talking out loud to themselves (Wertsch 1991; Bakhtin 1984). Consequently, one could argue that apart from integrating the player in an imaginary world, narrative in play appears either as oral “inner speech” conversations, or the recounting of player’s actions while following the game rules (Goffman 1959; Huizinga 1980). The existence of rules is considered to be an equally important criterion in defining digital games (Salen & Zimmerman 2003; Juul 2003). What Vygotsky mentioned previously on play applies equally in digital games. According to Salen & Zimmerman (2003) in digital games players’ subordination to rules and exercising their self-control assist them in constructing their play strategies. Moreover, by entering the game path, players assume new roles and relate their desires to a fictitious “I” reminding Vygotsky’s idea (1978). This time, the new “I” can be a vivid digital character ready to create new narrative paths and meet “the others” existing in his physical or virtual environment. As a result, digital gameworlds can lead to the production and sharing of a plethora of narratives, based on players’ game experiences (Ito 2009; Steinkuehler 2004; Poels et al. 2012). Focusing on game design, Juul (2002) considered games and the experience of gameplay as a mixture of rules and fiction. For Juul fiction encapsulates the narrative world of the game, in the form of graphics, texts and other expressive ressources. Juul admits that these two basic game constituents rarely match completely (2002). To this effect, games are regulated by emergence and progression structures that relate either to the interactive or the narrative as- pects of the game (Salen & Zimmerman 2003; Juul 2002; Dormans 2011). Emergence is de- fined as “the primordial game structure where a game is specified as a small number of rules that combine and yield large numbers of game variations for which the player must design strategies to handle” (Juul 2002, p. 5). Consequently, emergence behavior is related to dynamic play and favors the players’ interaction during gameplay (Salen & Zimmerman 2003; Dormans 2011). Progression is closely related to game content prepared in advance. “In progression game the player has to perform a predefined set of actions in order to complete the game” (Juul 2002, p. 5). According to progression structures player experience is dominated by the game space where narrative is significant. In this context the game designer has increasing control over the game content. 276 Monica Gavrielidou & Anna Chronaki Exploring children’s narratives The project described in this article aims to gain insight in children’s gameplay experiences through narrative expression. In particular, the ongoing research project with 22 children is implemented in two different learning settings: a school workshop and an after school activity. During the first phase of the project the two groups of children aged 6-9 worked on an initial list of fifteen puzzle and adventure games prepared by the researcher and extended gradually according to the children’s suggestions. The first session involved a semi-structured interview with each child, exploring introductory topics on child’s experiences on digital games, laying emphasis on “how” the child narrates his or her experiences. The child was asked to describe a digital game he preferred. Then, the child was asked to pinpoint any difficulties he had encountered while playing digital games. Report- ing to his previous experience with games, the child was asked to highlight game features he found appealing. Finally, the child was asked to mention any digital games he didn’t like. The second session included a task allocated to each child, asking him to make a drawing in order to show how the game is played. The session also included observation and interview with the creator of the drawing, allowing him to describe or comment on his drawing. The third session focused on game challenges children were asked to recognize and suggest ways of coping with them during gameplay. The session included task allocation, observations and interviews with the children. The fourth session focused on interactivity issues during gameplay, comprising task allocation and children observation. The methods used for data collection utilized series of interviewing, where children’s play with specific digital games (as stimulated recall) and their drawings concerning their gameplay provided ways for accessing children’s experiences. A case study that used ethnographic meth- ods for collecting data is undertaken, focusing on children’s oral and visual narratives of their experiences with digital games, involving the collection and analysis of different types of nar- rative data like children’s own expressions and recounts as well as drawings of the gameplay. During the project we observed vivid narrative activity, resulting in diversity of discourses (monologic, dialogic, oral and written), having multiple interpretations. The context of the present study involves working with two groups of children in two different learning settings. The first research group was formed by 11 primary school pupils aged 8 and 9. The four weekly sessions of the project were implemented in a middle class private primary school during school hours as an independent activity. The above sessions took place in the school computer lab. According to the school rules, children were not allowed to bring their own game devices at school. The second group was equally formed by 11 children aged 7-9. The four sessions took the form of an after-school family-based activity. In each after-school session a number of two to five children participated. Each child attended four sessions in a time span of four weeks. In the family-based sessions children worked on their own game devices and other devices provided by the researchers. Children’s Narratives of their Digital Gameplay Experience 277 The data collected in the first phase of our research are integrated in two main categories (fig- ure 1) claiming that children put their efforts into depicting the game either on the basis of the game narrative, or on the basis of the game interactivity. Interpreting a game on the basis of the narrative boosts the game plot development as well as game content. The game interactivity focuses on specific elements of a game loosely connected to the storyline. Based on the inter- active potential of the game the player lays emphasis on “how” the game is played. Overall, children immersed in the narrative part of the games produced oral and visual narratives largely based on pre-prepared game content. On the contrary, children immersed in the interactive part of the games showed their preference towards the dynamic play features. Children’s two sided preferences match progression and emergence structures that can be found in digital games. According to Juul (2002) in many digital games progression and emergence features coexist. It remains an open question to what extent children experience and narrate their gameplay ac- cording to their own preferences, progression-narrative based or emergence-interactive orient- ed. Immersed in game narrative Immersed in game interactivity Emphasis on game story Emphasis on interaction Plot: the what Action: the how Game content elements Game play elements Progression: pre-prepared content Emergence: dynamic play Fig. 1: Children’s narratives on their gameplay experiences Focusing on children’s drawings, creating digitally or by hand marks the choice of a different medium of expression that effectively shapes the message transmitted (McLuhan 1964). In most cases the choice of the medium for creating visual narratives was made according to chil- dren’s own aptitudes: “I’m not good at drawing, so I’ll use “paint” (Aris working with paint on Subway surfers. Transcription of family-based group, session 2. Aris was asked to make a drawing on a game he preferred) In general, drawings on paper focused on details and had better artistic results. On the contrary, drawings on “paint” had their limitations but also pro- vided special tools to use as symbols. Working on “paint” sometimes posed difficulties for children to handle, related to the development of their digital skills. This led to frequent chang- es in emotions, from frustration to enthusiasm: “I want to make a round circle and copy it…I don’t remember how to copy. Where is “copy”? I can’t find it… Here it is! But I have to do it. Mrs V (the informatics teacher at school) showed us how to do it but… (he looks frustrated)” (Transcription of family-based group, session 2, while Alex was working with paint on Pandalife sketches). While drawing, kids expressed their understanding of the game concepts and how they identi- fied with the game narrative. In some cases, their interpretations matched the intentions of the game designers. In many drawings there was a reliable depiction of critical game situations and 278 Monica Gavrielidou & Anna Chronaki game elements. Even though most drawings were created with the child having no access to the digital game, they formed accurate representations of gameplay scenes. At a first glance, children’s narratives provided information on the games’ main characters. Depending on the game themes, the characters could be people, animals or fantastic creatures. In the drawings game characters used certain objects like weapons, tools or accessories which were consistent with the gameplay. The game setting was present in many drawings. Immersed in the game narrative Immersed in the game narrative the player focuses on the game plot, on basic game elements and, eventually, on game content that is prepared in advance by the game designers (Juul 2002). The drawings and oral narrative expressions that fall into this category provide realistic representations of the fictional universe of the game, giving details on the main characters, the objects and the game setting. In the Minecraft drawing (Image 1) there is a combat scene with the player holding a sword and the presence of Minecraft mobs. It depicts with accuracy the player and his weapons, the king dragon, the spider and the creeper. Respectively, in his oral narrative of the game, Tony, a Minecraft lover aged 9, maintains the realistic view on game description elements: “This is a monster with no hands and four feet, coming close to you and exploding. Behind me there is a spider and above me there is the “king”, the most powerful monster. It is a “dragon”. And this is the king of… “Ender Dragon”, all”. (Transcription of after-school group, session 2. Tony described his drawing). According to Juul (2002) in most digital games emergence and progression features coexist, providing a mixture of narrative and interactive elements. Even though Minecraft is placed in the above game category (Belanger 2013), both narratives created by Tony focus on game description elements, lean towards the progression feature. According to Tony’s descriptions, he seems to view Minecraft immersed in the narrative part of the game. This is probably due to the way he is experiencing the game and his choices during gameplay. Image 1: Minecraft Children’s Narratives of their Digital Gameplay Experience 279 Another example of realistic representation of the gameworld is the Papa Louie 2 drawing (Image 2), in which Nick, who loves drawing, aged 8, produced a detailed work on a current game snapshot. The oral narrative of the game remains equally realistic and lays emphasis on the game story: “Papa Louie 2 is a game where you start with a player, you collect coins and try to beat vari- ous living food that is walking onions, burger” (Transcription of after-school group, session 2. Nick commented on his drawing). Image 2: Papa Louie 2 In their gameplay drawings, children have to meet the challenge of catching games given ac- tions and situations. In many drawings fighting is a major issue to be presented, and motion consists a challenge to put in an image. An Ice Age Village drawing (image 3) clearly repre- sents a fight scene, figuring Scrat and his fish enemies. The drawing depicts successfully a favorite part of the game to young players, focusing on the multiple fish and Scrat “kung fu” fighting moves. Put in words, this challenge is somehow difficult to meet: - It is a game where you have to kill these fish (shows the fish on the drawing), and if you kill these you lose lives. - If you don’t kill them you still lose lives? - Yes. Ah! No…If you kill these (shows the blue fish) and if you leave these (shows the pink fish) to drop into the water you lose lives. - So, there are good and bad fish… - No, these are bad too. But if you cut them, you’ll end up full of thorns… (Transcription of after-school group, session 2. Manos, a vivid young boy aged 8 commented on his drawing). 280 Monica Gavrielidou & Anna Chronaki In the above dialogue the child and the researcher are facing a conflicting situation related to the explanation of game rules and the player’s drawing on the game screenshot. The “what” of the game seems to dominate, indicating the player’s immersion in the game narrative. Image 3: Ice Age village Immersed in the interactive Immersed in the interactive the player focuses on the “how” of the game and designs strategies to handle game situations (Juul 2002). In many drawings children focus on separate parts of the gameworld, leaving out many narrative elements trying to capture the game complex system (Juul 2002). This is the case of Alex, a tinkering lover aged 7 who focused on critical parts of the gameworld. This had been a notable characteristic in both his drawings on Pandalife gameworld, depicting two different games in this Greek online role playing game for children (images 4a, 4b). In his drawings Alex successfully met the challenge of giving the gist of the gameplay, providing clues on how the game is played. The following dialogue was taking place while Alex produces his drawings, facilitating him to express his thinking. The child was having some difficulties with his task and got encouragement by the other speaker: - I’m doing the machine that pours honey - It looks good - Now, I’m going to draw a drop. Not this line, I need the other one. The curved one. oh, Gosh! It looks terrible… - You’re doing fine - Basically, no, not. I won’t put anything. Ah! I think I know what to put! Opa! Eh…how am I supposed to do it…Ah! Yes! (puts a yellow arrow looking down). Children’s Narratives of their Digital Gameplay Experience 281 And next, in the blank space (of the screen) I’m going to draw the other game…What’s the name? - Froutomazemata (in English: Collecting fruits) - But how am I supposed to draw grapes and the other fruits? - What are you planning to draw? - Dropping fruits. (Transcription of family-based group, session 2. Alex was speaking while working on “Paint” software.) In the above example Alex oral narrative production involves his attempts to express how he is related to the game complex “reality”. Although they narrate through oral and visual modes, not all children have similar capacities in oral and visual ways of narrating. Images 4a, 4b: Pandalife Another challenge for children’s interactive oriented thinking and narrating was to explain how the game is played, by clarifying player’s possible moves and actions. In her effort to explain how she plays Subway Surfers, Vicky, a sports enthusiast aged 9, drew more than one charac- ters and added arrows showing how the character moves in the gameworld (image 5). Her oral monological narrative during her drawing supported in an effective way her visual narrative: “… It’s this man and with some…boots, special boots, you can jump on trains, and when there is a space, something like this, you jump on it, get on the next train and move on. You can turn one side or the other, or you can go like this (shows on the drawing), and when there is a big banner with an arrow looking down, you have to go down in order to pass from beneath. And if you like, you turn the other direction and there is another kind of banner, sometimes it 282 Monica Gavrielidou & Anna Chronaki says…shows you an arrow going upwards. And you have to jump upwards. That’s all.” (Tran- scription of family-based group, session 2. Vicky commented on her drawing). Image 5: Subway surfers In her description Vicky provides a simple and clear explanation of the game rules. Narrative is used to describe player’s possible moves. Conclusions – Open questions The present small scale study helps us look into how children narrate their digital gameplay experiences. The findings of our study support us to discuss how children narrate their prefer- ences for either the narrative or the interactive part of games, referring to either emergence or progression game structures. These preferences work like a prism for children through which they “express” their gameplay experience. The data collected touch briefly key concepts related to Media Education, particularly to the ways children make sense of new media like digital games (Buckingham, 2007). The main issue concerns the ways children interpret digital games, orienting towards a narrative or an interactive direction. Other issues discussed are connected to the meanings children make on the basis of their experience on digital games. A first analysis of the narratives collected sug- gests that children create meanings according to their narrative or interactive perception of the Children’s Narratives of their Digital Gameplay Experience 283 game. In some cases the meanings created were affected by the digital media children used during the making of their own narratives on the games they had played. However, a discussion on children’s narrative or interactive identification with the narrative or interactive during gameplay should consider the above not only as distinct features, but also as features that, sometimes, might coexist in children’s minds as they also coexist in the designing of digital games (Juul 2002). To this direction, we should search further how these features blur and intermingle and to what extent children experiences and narratives of their gameplay activity fit around the progression-narrative or emergence-interactive structuring in order to formulate conclusions on whether these two categories are generic of children’s experiences or/and narratives of their experiences. The short duration of the present pilot project and the limited scope of interviewing and obser- ving children’s digital gameplay form limitations of the above study and address issues regar- ding the potential of generalizing based on these very findings. To this scope, enhancing rese- arch findings with more quantitative data could bring more light into a potential question con- cerning how a broader sample could fit with the above mentioned categories of ‘narrative’ and ‘interactive’. However, the present qualitative study provides access to important aspects of children’s experiences with digital gameplay and supports our understandings of how their narratives concerning those features deploy into certain categories and subcategories for further research analysis and interpretation. References Aarseth, Espen (2012): A narrative Theory of Games. In: Proceedings of the International Conference on the Foundations of Digital Games. Raleigh, NY, ACM New York, May 29- June 01, 2012, pp. 129-133. Bakhtin, Mikhail (1984): Problems of Dostoevsky’s Poetics. Minneapolis, MN: University of Minnesota Press. Belanger, Veronique (2013): Emergence and Minecraft. Presentation obtained on 2015-12-15 on the Internet at: https://prezi.com/uzeojup05bwg/emergence-and-minecraft/. Bruner, Jerome (1990): Acts of Meaning. Cambridge, MA: Harvard University Press. 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Patrick Bettinger, studierte Erziehungswissenschaft an der Universität Mainz und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Zentrum für Universitäres Lehren und Lernen (HUL). Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der (Medien-) Bil- dungstheorie, medienbezogenen Lehr- und Lernforschung, kultur- und sozialwissenschaftli- chen Medienforschung sowie Methoden und Methodologien der qualitativen Sozialforschung. Anna Chronaki, Professor in Learming Technologies and Mathematics Education, University of Thessaly, Department of Early Childhood Education. Anna is currently leading the LTME lab (http://ltme.ece.uth.gr) and her research interests include issues related to the social and cultural underpinnings of technology use for learning and pedagogy. Manfred Faßler, o. Univ.Prof. Dr. habil. Manfred Faßler, Soziologe / Anthropologe, Institut für Kulturanthropologie (GD) der Goethe-Universität Frankfurt, Leiter des internationalen „Forschungsnetzwerkes Anthropologie des Medialen“ FAMe / Frankfurt-Wien-Sao Paolo- Kyoto > www.fame-frankfurt.de <, Leiter des internationalen Forschungsforums „Koevoluti- on“, Koordinator des Doktoranden-Qualifikationsnetzwerkes „Coded Cultures“. Forschungs- und Lehrschwerpunkte sind Medienevolution, Anthropologie des Medialen, medienintegrierte Wissenskulturen; informationelle Globalisierung. In jüngster Zeit: Bio-kulturelle Koevolution; künstlerische und wissenschaftliche Visualisierungsprogramme; nachgesellschaftliche Global- strukturen, Kreativitätsforschung. Zahlreiche Bücher und Artikel: ausführliche Bio/Bib: www.uni-frankfurt.de/fb/fb09/kulturanthro/staff/fassler_home.html. Yvonne Fritze, born 1962, is associate professor of education at Lillehammer University Col- lege since 2003, and is presently vice-rector for research. She holds a Ph.D. in distance educa- tion, and has published on issues like distance education, use of visual materials in teaching, on-line dating as well as e-publishing. She is co-editor on Seminar.net (http://seminar.net), an international e-journal about Media, technology and lifelong learning. Monica Gavrielidou, MA in Education, PHD Candidate, University of Thessaly, Department of Early Childhood Education. Her current areas of work include games and digital narratives with emphasis on the contribution of digital games in the learning process. 288 Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren Geir Haugsbakk, born 1956, is an associate professor of education at Lillehammer University College. His interests center on language, media, technology and education. He is currently working on a research project focusing ‘Digital Bildung’. He is co-editor of seminar.net. Lisa Haußmann, M.A., hat Film-, Medien, Kultur- und Kommunikationswissenschaft an den Universitäten in Weimar, Lyon, Utrecht, Saarbrücken und Metz studiert. Schwerpunkt ihrer Arbeit sind ästhetische und cinephile Filmvermittlungsansätze, sowie der Transfer zwischen Theorie und Praxis der Film-Bildung. Aktuell lebt sie in Berlin und ist u.a. als Projektleiterin der SchulKinoWochen Berlin sowie für das Netzwerk VISION KINO und verschiedene Filmfestivals tätig. Theo Hug, Dr. phil., Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Medienpädagogik und Kommunikationskultur an der Universität Innsbruck und Sprecher des interfakultären Forums Innsbruck Media Studies. Aktuelle Arbeitsgebiete: Medienpädagogik und Medienbil- dung, mobiles Lernen und Mikrolernen, Medialisierung der Kommunikation und des Wissens, Methodologie und Wissenschaftstheorie. http://hug-web.at. Rudolf Kammerl, Prof. Dr. ist seit 2008 an der Universität Hamburg als Professor für Erzie- hungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Medienpädagogik tätig. Aktuelle Schwerpunkte sind Sozialisation und Medienerziehung Adoleszenter. Tanja Kohn, Dr., hat Betriebswirtschaftslehre studiert und im Fach Wirtschaftsinformatik an der Universität Innsbruck promoviert. Schwerpunkt ihrer Arbeit liegen in den Bereichen Tech- nologieeinsatz bei (internationalen) eLearning Projekten und Wissenstransfer bei Bildungsini- tiativen. Sie hat 2011 die Initiative TechnikBasteln® in Kooperation mit dem Verein olpc Aus- tria begründet, bei der es um das Anfassen und BeGreifen von Informationstechnologien geht. Aktuell lebt sie in Bayern und ist an der Internationlen Hochschule Bad Honnef Bonn Fernstu- dium tätig. Rainer Leschke, Prof. Dr., Medienwissenschaftler an der Philosophischen Fakultät der Uni- versität Siegen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen insbesondere im Bereich der Medientheorie und der Medienphilosophie. Petra Missomelius, Dr. phil., Medienwissenschaftlerin an der Universität Innsbruck, Arbeits- bereich Medienbildung und Kommunikationskultur an der Fakultät für Bildungswissenschaf- ten. Aktuelles Habilitationsprojekt “Bildung im Kontext transformativer Medienkulturen”. Heinz Moser, Prof. Dr., ist Honorarprofessor für Medienpädagogik an der Universität Kassel und Professor an der PH Zürich (seit 2013 pensioniert). Interessen- und Arbeitsschwerpunkte: Visuelle Medien (Leitung des Schweizer Nationalfonds-Projektes „VIBES - Visuelle Berufs- wünsche“), Netzdidaktik, Medienbildung, Praxisforschung als Forschungskonzept. Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren 289 Stephan Münte-Goussar, Europa-Universität Flensburg, Seminar für Medienbildung; Ar- beitsschwerpunkte: Medien & Bildung, Medienbildung & Schulentwicklung, Bildung & Öko- nomie, eLearning, (e)Portfolio. Weitere Informationen unter: http://medienbildung-unifl.de/ personen/stephan-muente-goussar. Yngve Nordkvelle, born 1955, is a professor of education at Lillehammer University College since 1999, and has published on issues like global and international education, distance educa- tion, on-line dating as well as e-publishing. He is the chief editor of Seminar.net, an interna- tional e-journal about Media, technology and lifelong learning (http://seminar.net). Julius Othmer, TU Braunschweig; Referent des Präsidiums für Medien in Lehre und Studium; aktuelle Arbeitsschwerpunkte sind Medientheorie und Medienbildungstheorie, computerbasier- te Medien, Game Studies, Game-based Learning und mobiles Lernen. Manuela Pietraß, Univ.-Professorin Dr. phil. habil. Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Medienbildung, Universität der Bundeswehr München. Forschungsschwerpunk- te: Theorie und Empirie der Medienbildung, mediale Hybridformate und Medienwirklichkei- ten, Grundlagen und Konzeptionen der Medienpädagogik. Hans-Martin Schönherr-Mann, Prof. Dr.; Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissen- schaft der Ludwig-Maximilians-Universität München; aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Politi- sche Philosophie, Philosophie der Bildung, Technikphilosophie. Andreas Weich, TU Braunschweig (Projektgruppe Lehre und Medienbildung / Projekt teach4TU); aktuelle Arbeitsschwerpunkte sind Medientheorie und Medienbildungstheorie, Dis- kurs- und Dispositivtheorie, computerbasierte Medien. Es ist weithin Minimalkonsens, dass Medienkompetenzvermittlung und darüber hinausgehende Medienbildung der mündigen und kritischen Nutzung medialer Angebote dient. Bei näherer Betrachtung sind allerdings sehr unterschiedliche regionale, nationale und transnationale Situationseinschätzungen, Aufgabenberei- che und Zuständigkeiten sowie Kritikverständnisse und Ideen zur Transformation von Lernkulturen anzutreffen. Der interdisziplinär ausgerichtete Band befasst sich mit aktuellen und zukunftsweisenden Zielvorstellungen von Medienbildung und gibt Antworten auf die Frage Medienbildung wozu?