FRANK KESSLER Zur Theorie des Lichtspiels Hugo Münsterbergs Schriften zum Kino Ein deutscher Professor veröffentlicht 1916 ein Buch über das Kino. Wer dächte dabei nicht an Kinoreform, Kritik des »Schundfilmunwesens« und Kla- gen über die Gefährdung der Jugend? Der Fall liegt hier allerdings völlig anders: Denn dieser Professor lehrt nicht in Tübingen, sondern in Harvard. Er heißt Hugo Münsterberg, und das Buch trägt den Titel The Photoplay. A Psychological Study. Durch die historischen Umstände ist diese Untersuchung eines deutschen Autors, der öffentlich die Interessen des Reichs vertrat und deshalb ins gesellschaftliche Abseits geraten war, nach dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg von den Zeitgenossen kaum wahrgenommen worden. Zudem starb Münsterberg noch im Jahr der Veröffentlichung. Erst durch das wachsende akademische Interesse an Filmgeschichte und -theorie wurde der Band 1970 von gleich zwei Verlagen in den USA wieder zugänglich gemacht und als eine der ersten bedeutenden film wissenschaftlichen Untersuchungen rezipiert. Nun liegt die Studie, ergänzt durch weitere Texte Münsterbergs zum Kino, erstmals in einer deutschen Übersetzung vor. Wie Jörg Schweinitz, Herausgeber und Übersetzer des Bandes, in seiner vorzüglichen Einleitung erläutert, hat Münsterberg vor allem im Bereich der angewandten Psychologie gearbeitet. Er beschäftigte sich unter anderem mit Marketingfragen und psychologischen Aspekten des Wirtschaftslebens. So ent- wickelte er zum Beispiel auch Eignungstests: Schon 1912 und völlig unabhän- gig von seiner späteren filmästhetischen Studie verwendete er eine kinemato- graphische Testvorrichtung für Kraftfahrer. Gleichzeitig verstand er sich aber auch als Philosoph. In seiner Philosophie der Werte (1908) betonte er unter anderem die Notwendigkeit und die Möglichkeit, die moderne industrielle Zivilisation entsprechend der vom klassischen Idealismus geprägten »ewigen Werte« zu gestalten. Münsterberg betrachtete das Kino also von einer gänzlich anderen Warte aus als seine Standeskollegen in Deutschland. Weder der kom- merzielle und massenkulturelle Charakter des Films noch die industrielle Pro- duktionsweise waren für ihn Gründe, dem jungen Medium den künstlerischen Wert abzusprechen oder ihm gar ablehnend gegenüberzustehen. Zwar sah Münsterberg durchaus auch »Gefahrenquellen«, die aber von den möglichen positiven Einflüssen des Kinos mehr als aufgewogen werden. Um sich mit seinem Forschungsgegenstand vertraut zu machen, nahm Münsterberg auch Kontakt zur Filmindustrie auf. Dort kam man den Bitten des Harvard-Professors nur allzu gerne nach, da man aus dem wissenschaftli- chen Interesse von solch prominenter Seite auch für die eigene Reputation 207 Nutzen zu ziehen hoffte. Die Vitagraph Company organisierte 1915 eine Füh- rung durch ihre Ateliers und arrangierte einen Phototermin mit ihrem Star Anita Stewart. Die Paramount nahm Münsterberg dann 1916 sogar für eine Filmreihe mit einfachen psychologischen Tests zum Mitmachen im Kino unter Vertrag. Der Wissenschaftler bemühte sich also auch darum, verschiedene Aspekte der Praxis kennenzulernen - gerade die Verbindung von Sachkenntnis und theoretisch fundierter Herangehensweise an den Gegenstand unterschei- det Münsterbergs Arbeiten von den anderen Schriften zum Kino, die in den zehner Jahren erscheinen. In seinem Buch geht Münsterberg vom Phänomen der Filmwahrnehmung aus, das er auf der Grundlage der wahrnehmungspsychologischen Arbeiten von unter anderem Max Wertheimer beschreibt. Er sieht in der Bewegungsil- lusion nicht einfach das Resultat des in diesem Zusammenhang so häufig be- schworenen »Nachbildeffekts«, sondern sie wird ihm zufolge durch einen - allerdings nicht näher bezeichneten - »höheren zentralen Nervenprozeß« er- zeugt, also letztlich aktiv konstruiert. Ähnliches konstatiert er auch für die Tiefenwahrnehmung im eigentlich flächigen Filmbild: Auch hier wird ein ob- jektives Phänomen vom Zuschauer im Wahrnehmungsakt ergänzt. »Tiefe und Bewegung gleichen sich darin, daß sie in der Welt des Films nicht als harte Fakten, sondern als Mischung von Fakt und Symbol zu uns kommen. Sie sind anwesend, und doch sind sie nicht in den Dingen. Wir statten die Eindrücke mit ihnen aus.« Für Münsterberg ergibt sich daraus die Konsequenz, daß der Film keines- falls eine schlichte Wiedergabe der physischen Wirklichkeit ist. Verschiedene filmische Verfahren wie die Großaufnahme oder die Rückblende entsprechen vielmehr Bewußtseinsphänomenen wie der Aufmerksamkeit oder der Erinne- rung. Phantasievorstellungen kann der Film zeigen, Emotionen in Bildern ausdrücken. Die Möglichkeiten der Verknüpfung verschiedener Handlungsli- nien befreien darüber hinaus den Film von den Bedingungen räumlich-zeitli- cher Kontinuität. »Das Lichtspiel erzählt uns die Geschichte vom Menschen, indem es die Formen der Außenwelt, nämlich Raum, Zeit und Kausalität überwindet und das Geschehen den Formen der Innenwelt, nämlich Aufmerk- samkeit, Gedächtnis, Phantasie und Emotion anpaßt.« Aus diesen Überlegun- gen schließt Münsterberg, daß das Kino in jeder Hinsicht von der physischen Wirklichkeit weiter entfernt ist als das Theater und daher völlig anderen ästhe- tischen Gesetzmäßigkeiten zu gehorchen hat. Die Stummheit des Films, die Flächigkeit der Bilder, das Fehlen der natürlichen Farben sieht er darum auch keineswegs als Manko, sondern als wesentliches Merkmal des Lichtspiels als Kunstform. Münsterberg entwirft auf der Grundlage seiner Analyse schließlich eine normative Filmästhetik, die deutlich neokantianische Züge trägt: Die physi- schen Formen der Außenwelt werden überwunden, während die »vollendete Einheit von Handlung und bildhafter Erscheinung eine vollkommene lsolie- 208 rung von der praktischen Welt« bewirkt. Die visuelle Reinheit des Films ist für Münsterberg die entscheidende ästhetische Forderung, wobei aber in jedem Fall die Imitation der Natur vermieden werden muß. So lehnt Münsterberg für das Lichtspiel nicht nur alle naturalistischen Geräuscheffekte ab (allein die Begleitmusik akzeptiert er, sofern sie sich den Bildern unterordnet), sondern auch die Kolorierung (d ie für ihn nur bei dokumentarischen Aufnahmen ihre Berechtigung hat). Münsterberg formuliert somit 1916 bereits eine Reihe von ästhetischen Überzeugungen, die später, wenn auch zum Teil mit anderen Akzenten, von Autoren wie Bela Balazs oder Rudolf Arnheim vertreten wer- den. Seine Untersuchung zum Lichtspiel gehört damit zu den grundlegenden Arbeiten zur Kunsttheorie des stummen Films. Die deutsche Ausgabe enthält neben Münsterbergs Buch auch den 1915 in der Zeitschrift Cosmopolitan veröffentlichten Aufsatz »W arum wir ins Kino gehen«, den man als eine Art Vorstudie betrachten kann, ein Interview für die Paramount Co. von 1916 sowie den 1917 in The Mother's Magazine erschienen Artikel »Gefahren für die Kindheit im Kino«. Ergänzt wird die Sammlung von Münsterbergs Texten durch eine Rezension von Das Lichtspiel aus der Feder des amerikanischen Schriftstellers Vachel Lindsay, Autor von The Art of the Motion Picture (1915), einem anderen frühen filmtheoretischen Werk. Der vorliegende Band bietet dem Leser weit mehr als die erhältlichen amerikanischen Ausgaben. Die Textauswahl erlaubt es, Münsterbergs Lichtspiel-Buch im Zusammenhang seiner anderen Schriften zum Kino zu lesen. Die Übersetzung versucht erfolgreich, den Sprachgebrauch der Zeit zu respektieren, ohne zu »altertümeln«. Sowohl bei den psychologischen wie bei den kinematographischen Fachausdrücken lehnt Jörg Schweinitz sich an die zeitgenössische Terminologie an. In den ausführlichen und sachkundigen Kommentaren des Herausgebers werden die von Münsterberg verwendeten Zitate sowie die erwähnten Filme und Bücher soweit möglich nachgewiesen, historische Sachverhalte erläutert und Personen vorgestellt. Achtzig Jahre nach der amerikanischen Erstveröffentlichung liegen Hugo Münsterbergs Schriften zum Kino jetzt erstmals in einer beispielhaft edierten Ausgabe auf deutsch vor. Anmerkungen 1 Hugo Münsterberg, Das Lichtspiel. Eine rien ein. Vgl. Dudley Andrew, »Cognitivism: psychologische Studie [1916] und andere Schrif- Quests and Questioning«, IRIS, Nr. 9, 1989, S. ten zum Kino, hg. von Jörg Schweinitz, Syne- 2f. ma, Wien 1996. 3 Münsterberg S. 50. 2 Dudley Andrew reiht Münsterberg des- 4 Ebenda, S. 84. wegen sogar in die Ahnenreihe der neueren 5 Vgl. ebenda, S. 89. kognitionspsychologisch fundierten Filmtheo- 209