72 MEDIENwissenschaft 1/2010 Computers, der wissensgeschichtlichen Betrachtung von Experimentalsystemen, als auch dem Schnittbereich von Musik- und Medientheorie neue Zugänge und Fragen eröffnet. Im dritten Thementeil des Bandes, „Zeitkritische Medienkul- tur zwischen Kunst und Wissenschaft“, verunschärft sich jedoch trotz durchaus gelungener Einzelbeiträge der methodische und inhaltliche Zugang. Anstatt hier das avisierte Forschungsfeld möglichst weit aufzublasen, wäre eine Engführung etwa nur auditiver Medien mit ästhetischen und epistemologischen Fragestellungen wie in den Beiträgen von Jens Gerrit Papenburg und Shintaro Myazaki signifi- kanter gewesen. Wenn laut Wolfgang Ernst „unsere Ohren das beste Wissen“ vom Zeitkritischen, also den „Interferenzen zwischen Schwingungen, Sprüngen und Frequenzen“ liefern (S.27), wirkt die Versammlung nicht ganz neuer Überlegungen zur Erkenntnisfunktion des Futur II (Ana Ofak) und einer „Mediengeschichte der Bilder“ (Götz Großklaus), sowie filmanalytischer Beiträge (Alexander Firyn) mit der scheinbar unabdingbaren Reminiszenz an Jacques Lacan (Anette Bitsch) in diesem Teil nicht unbedingt stringent. Es steht zu erwarten, dass bald neue Untersuchungen im Bereich medienwis- senschaftlich orientierter Sound Studies den Stellenwert von auditivem Wissen weiterdiskutieren. (Vgl. die Tagung „Klangmaschinen zwischen Experiment und Medientechnik“ von Daniel Gethmann, Hainburg 2009) Und mit dem Anfang 2010 erscheinenden Kulturtechniken der Synchronisation (München, hg. von Thomas Macho und Christian Kassung) fügen auch die Berliner Kulturwissenschaften dem Forschungsfeld neue ‚kritische‘ Zeitaspekte hinzu. The times, they are a-changin’ – ablaufen werden sie nicht. Sebastian Vehlken (Wien) Wolfgang Ullrich: Raffinierte Kunst. Übung vor Reproduktionen Berlin: Klaus Wagenbach 2009, 157 S., ISBN 978-3-8031-5178 0, € 22,90 Die industrielle Reproduktion der Bilder war unbestritten Ursprungsort der Medientheorie, und es ist kein Zufall, dass Walter Benjamin den Verlust einer Aura, was denn auch immer dieser merkwürdig unbestimmte romantische Topos meint, im Sinne des Bedeutungsverlustes des Originals als konstitutiv für das ‚Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit’ hielt. Diese Annahme bleibt bis heute fast unhinterfragter Grundkonsens der Medientheorie aller Couleur, ist jedoch so komplett falsch. „Die dadurch bedingte Monotonie der Auseinandersetzung dürfte ohne Vergleich sein“ (S.16) wie die brillianten Übungen vor Reproduktionen von Wolfgang Ullrich nachweisen. Der Karlsruher Kunsthistoriker kehrt die übliche Hierarchie zwischen Original und Reproduktion um, indem er an der Geschichte der neuzeitlichen Reproduktionsgrafik nicht nur zeigt, wie diese das Bildgedächtnis und die Bilderzirkulation einer Zeit konstitu- ierten, in der ein großer Teil der Originale so unzugänglich war, wie das Reisen Medien / Kultur 73 beschwerlich. Überraschender ist vielmehr der Gedanke, welche Bedeutung den Stechern als ‚Übersetzer’ und ‚Interpreten’ zugebilligt wurde: ohne Marcantonio Raimondi kein Raffael und ohne Jan Witdoeck kein Peter Paul Rubens. Die Ste- cher „hielten sich dazu in der Werkstatt des Künstlers auf, wo sie sich mit den Gemälden vertraut machten – und wo zudem über die angemessene Umsetzung eines Vorbildes diskutiert werden konnte. Dadurch wurden auch umgekehrt die Künstler von den Reproduktionsweisen beeinflusst. Sie erkannten nicht nur nach und nach, was gut reproduzierbar war, sondern erhielten mit jedem Kupferstich und jeder Radierung auch einen Kommentar zu ihren Werken.“ (S.30) Ullrichs Analysen zeigen nicht nur die Virtuosität und Subtilität solcher ‚Interpretations- kunst’ durch die Reproduktion, sondern er referiert den unbedingten Stellenwert in den ästhetischen Diskursen namentlich des 18. Jahrhunderts, in der die Repro- duktion nicht nur die Konzentration auf inventio und disegno unterstützte, sondern auch besonders geeignet erschien, den Raum der Einbildungskraft als ästhetische Qualität im Kant’schen Sinne zu erweitern. (Vgl. S.40) Diderot wird den Kupfer- stecher ‚Apostel und Missionar’ nennen. (Vgl. S.20) Dies änderte sich erst mit dem annährend vollständigen Reproduktionsverfah- ren der Fotografie. Mit ihr schwand „das Gefühl, daß [sic] eine Reproduktion etwas anderes als das Vorbild sei; vielmehr wird sie seither als dessen flachere Version wahrgenommen. Damit hat sich aber auch der Raum für Spekulation und Reflexion verengt: Da der Betrachter nicht länger mit einer Differenz zwischen Reproduktion und Ausgangswerk rechnet, hat er keinen Anlaß [sic], durch eigene Überlegungen vom einen auf das andere zu schließen. Vielmehr akzeptiert er das fotografisch Reproduzierte als Tatsache.“ (S.42f.) Weshalb dann also noch ein Original? Genau hier zeigt sich die Pointe dieses Bandes für die methodische Selbstreflexion der Medienwissenschaften, denn gerade hier entwickelt sich überhaupt erst der Kult, die Auratisierung des Originals, und zwar als Frage des Kunstwerts; „erst jetzt geriet das Konzept des Originals auch in das Zentrum des Kunstverständnisses. An die Stelle der Imagination [aufgrund der Potentialität und des Deutungsraums der manuellen Reproduktion] trat der Anspruch, das Werk ‚an sich’ zu erfahren: Wenn eine Reproduktion um so mehr damit konfrontiert, je schärfer und genauer sie abbildet – je mehr Authentizität sie suggeriert –, dann muß [sic] das Original […] erst recht über Wirkungskraft verfügen. […] Im Zuge fotografischer Repro- duktionen wandelten sich also die Leitgrößen für Kunst: nach dem Kult der Ein- bildungskraft wurde die direkte Erfahrung zelebriert, die Meditation schließlich von Faszination abgelöst.“ (S.43) Die Konsequenzen waren vielfältig; im Bereich der bildenden Künste sticht vor allem die Betonung der Materialität hervor (vgl. S.55), denn diese setzt paradoxer Weise die vermeintlich glatte und nivellierende fotografische Reproduktion voraus, während die klassischen Stichverfahren trotz aller Nuanciertheit hier unzulänglich sind, wie Ullrich an der einfachen Frage, wie denn verschiedene der berühmten schwarzen Quadrate als Stich je spezifisch wiederzugeben seien, verdeutlicht. „Arbeiten von Kasimir Malevitsch, Damien 74 MEDIENwissenschaft 1/2010 Hirst oder Gregor Schneider sind dann kaum zu identifizieren, und wären sie nicht bereits im Bildgedächtnis verankert, ließen sich ihre Eigenheiten nicht erschließen. Was heute als Kunst gilt, wäre zu anderen Zeiten nicht als solche reproduzierbar gewesen.“ (S.56) Ullrich zeigt nun auf, wie über verschiedene Stränge fotogra- fische Reproduktionsverfahren, zum Beispiel über die Inszenierung des eigenen Werkes, das moderne Kunstsystem ohne seine fotografische Präsentation kaum mehr vorstellbar ist, wenn nicht eigentlich sogar gänzlich von dieser ersetzt wird. Das gilt bei Rodin, der Selbstreflexivität der fotografischen Präsentationstechniken bei Hockney oder ganz allgemein für die Dominanz des Abbildungskataloges als Malrauxsches ‚musée imaginaire’. Es sind vor allem zwei Linien: das Verhältnis von Reproduktionstechnik und Kunstdiskurs und die Formierung der Produktion in den traditionellen Medien nach Maßgabe ihres Reproduktionspotenzials. Das Kunstbuch ist zuletzt die Voraussetzung des White Cube, der die reduzierten Bedingungen der fotografischen Reproduktion in die Realität zurückübersetzt. (Vgl. S.59) Das Original ist, so sehr es von den Modernisten geradezu kultisch angebetet wird, letztlich nicht mehr jenseits seiner medialen Vermittlung existent, und Ullrich lobt insbesondere jene Künstler, die diesen Prozess mit ihren foto- grafischen Reflexionen explizieren wie Thomas Demand und Katharina Fritsch. (Vgl. S.89ff.) Doch ist hier nicht der Ort, den vielfältigen Verästelungen dieser ‚raffinierten Kunst’, die Ullrich verfolgt, weiter nachzugehen. Für die Medienwissenschaften ist vielmehr der Umstand von Interesse, dass hier eben einige ihrer grundle- genden Theoreme als Konstruktionen des modernen Kunstsystems erscheinen, das heißt, das hypostasierte Original ist also selbst Produkt der Moderne und nicht deren Opfer. Hier zeigen sich auch die Grenzen eines rein binnenkunstwis- senschaftlichen Diskurses, denn Ullrich argumentiert zum Beispiel hinsichtlich der Vervielfältigung bzw. medialen Zurichtung und Stanzung der Bilder immer kunstimmanent, das heißt hinsichtlich einzelner Künstler von Walter de Maria bis zu Andy Warhol. Mindestens so wichtig wäre allerdings die Einbindung dieser Phänomene in die allgemeine Intensivierung der Bildzirkulation und -produktion in der industriellen Kultur. Erst hieraus könnte wieder auf die eigentliche Funktion der veränderten Diskurs- und Rezeptionsformen geschlossen werden, die Ullrich in seinem Band so elegant wie oft überraschend darstellt. Norbert M. Schmitz (Kiel/Wuppertal)