WARUM UND WOZU BRAUCHT MAN 50 JAHRE ALTE COMPUTER? Ein Beitrag mit Bildstrecke über das Retro Computing Lab an der Uni Würzburg Torsten Roeder EINLEITUNG Digitalität durchdringt und prägt den Alltag der Gegenwart. Dabei gerät häufig in Vergessenheit, dass die heutige Vorstellung von Digitalität das Er- gebnis eines langwierigen Entwicklungsprozesses ist und mithin eine weit- reichende historische Dimension besitzt. Während der Begriff der Digitali- sierung erst in der jüngeren Zeitgeschichte als politisches Schlagwort dient, ist die zugrunde liegende techno-soziale Transformation bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert im Gange. Spätestens seit den 1970er Jah- ren, mit der Verbreitung von Spielkonsolen, und den 1980er Jahren, mit dem Aufkommen von Heimcomputern, die sich problemlos in die beste- hende Haushaltsinfrastruktur integrieren ließen (z. B. durch die Nutzung von Fernsehern als Bildschirme und Kassettenrekordern zum Laden und Speichern von Programmen), erreichte die Digitalisierung auch breitere Bevölkerungsschichten. Retrocomputing lenkt die Aufmerksamkeit auf ältere Computersys- teme, die durch die Logik der Neuanschaffung und Entsorgung in der Com- puterindustrie längst in den Hintergrund gerückt sind, mittlerweile jedoch auch als Vintage-Artikel gehandelt werden. Unabhängig davon, ob es sich um ein iPhone 14 aus dem Jahr 2023 oder einen Apple II aus dem Jahr 1977 handelt: Computer bleiben Computer und können prinzipiell, im Sinne von Turing und von Neumann, dieselben Aufgaben erfüllen. Sie unterliegen je- doch einer wechselhaften historischen Entwicklung, die nicht allein durch die empirisch beobachtbare Steigerung der Rechenleistung (Mooresches Torsten Roeder Warum und wozu braucht man 50 Jahre alte Computer? 74 Gesetz) nachzuvollziehen ist,1 sondern insbesondere die Vielfalt an Inter- faces sowie zweckorientierten und zielgruppenspezifischen Ausstattungen berücksichtigen muss. Zu den Computern und den oft sehr spezifischen Peripheriegeräten (Bildschirm, Eingabegeräte, Laufwerke, Drucker) gehört außerdem die Software, die auf ihnen ausgeführt wurde, einschließlich der darauf verwendeten Programmiersprachen und -techniken. Diese Per- spektive kann erkennbar machen, dass frühere Konzepte und Visionen von Digitalität grundlegend andere waren als die heutigen. Gleichzeitig ent- standen jedoch kulturelle Marker und habituelle Muster, die teilweise bis in die Gegenwart fortbestehen: Man denke etwa an die Figur Donkey Kong oder an die Row-Column-Syntax in Tabellenkalkulationen, die beide be- reits um 1980 etabliert wurden. Die gegenwärtige digitale Kultur und ihre Praktiken sind daher ohne den Einbezug ihrer früheren Formen und Me- chaniken weder verständlich noch in sich selbst erklärbar. Diese historischen Spielformen der Digitalität aufzudecken und erfahr- bar zu machen sind das Thema des Retro Computing Labs am Zentrum für Philologie und Digitalität (ZPD) der Universität Würzburg.2 Die Auseinan- dersetzung mit alten Computersystemen sowie den dazugehörigen Spie- len und Anwendungen erfolgt dort nicht etwa mittels Emulatoren, sondern primär anhand der originalen Geräte. Ende 2024 sind dort etwa zwanzig Altsysteme (größtenteils Heimcomputer und einige Videospielkonsolen) einsatzbereit. 3 Die Setups der Geräte, einschließlich Röhrenmonitore, Floppy-Laufwerke und Nadeldrucker, bieten jedoch nicht nur einen au- thentischen Zugang zu Hardware und Software. Sie ermöglichen ebenso, die zeittypischen Rahmenbedingungen der Spiele- und Anwendungsent- wicklung nachzuvollziehen, die beispielsweise die multimediale Hinter- 1 Das Mooresche Gesetz meint eine statistische Gesetzmäßigkeit, die besagt, dass sich die Zahl der Transistoren auf Mikrochips regelmäßig verdoppelt (je nach Be- rechnung zwischen ein und zwei Jahren). 2 Vgl. Universität Würzburg: Retro Computing Lab (https://www.uni-wuerz- burg.de/zpd/forschungsstelle-dachs/retro-computing-lab, Stand: 10.03.2025) so- wie Zentrum für Philologie und Digitalität (https://www.uni-wuerzburg.de/zpd, Stand: 10.03.2025). 3 Ein öffentlich einsehbares Inventar wird sukzessive unter der Adresse rtrlb.de ver- öffentlicht (Stand: 10.03.2025). https://www.uni-wuerzburg.de/zpd/forschungsstelle-dachs/retro-computing-lab/ https://www.uni-wuerzburg.de/zpd/forschungsstelle-dachs/retro-computing-lab, https://www.uni-wuerzburg.de/zpd/forschungsstelle-dachs/retro-computing-lab, https://www.uni-wuerzburg.de/zpd/startseite/ https://www.uni-wuerzburg.de/zpd/ Spiel|Formen Heft 4 : Labore ... 75 grundfolie aktueller Retrogames bilden. Darüber hinaus können damit di- gitale Nachlässe, wie unveröffentlichte Spiele und deren Quellcodes er- schlossen werden.4 Für Studierende verschiedener Fachrichtungen, von der Informatik über die Germanistik bis hin zur Museologie, eröffnen sich damit erweiterte Möglichkeiten, sich mit historischen Formen der Digitali- tät und digitalem Kulturerbe auseinanderzusetzen. Der Standort am Zen- trum für Philologie und Digitalität bietet zudem die Einbettung in die Brü- cken(studien)fächer Digital Humanities und Computational Humanities.5 Die Etablierung des Retro Computing Labs ist zudem mit einer Reihe organisatorischer Fragen verbunden. Wem gehören die Geräte, wer ist für deren Instandhaltung zuständig? Wer darf die Geräte nutzen, und müssen dazu besondere Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden? Daran schließen sich mehrere konzeptionelle Fragen an: Die wissenschaftlich motivierte Sammlung dient primär dem Laborzweck und ist somit auf die aktive Nutzung ausgerichtet. Sie kann potenziell jedoch auch für Vorfüh- rungen genutzt werden und so zur Wissenschaftskommunikation beitra- gen; Teile davon könnten darüber hinaus in externe Ausstellungen einge- bunden werden. Zudem stellt sich die Frage: Wie lässt sich eine solche „analoge“ Sammlung digital auf einer Website präsentieren, um überhaupt erst auf sie aufmerksam zu machen? Diese praktischen Fragen lassen sich in Zusammenarbeit mit den ver- schiedenen Akteuren vor Ort klären und erarbeiten. Ein Computerlabor kann in das Gesamtkonzept einer Einrichtung integriert werden, sodass es nicht nur auf die unmittelbare Nutzung in Forschung und Lehre abzielt, sondern beispielsweise auch Teil eines Konzepts zur Außenwirkung einer Institution sein kann. Aus diesem Grund wird angestrebt, sowohl Lehrver- anstaltungen und Forschungsprojekte als auch regelmäßige öffentliche Vorträge, Hackathons und Workshops im Retro Computing Lab anzubie- 4 Vgl. z.B. das Projekt „Games That Weren’t“ (https://www.gamesthatwerent.com, Stand: 10.03.2025), das sich mit unpublizierten Spielen befasst, oder die „NZTronix Collection“, in der Programmcode von Hobbycodern gesammelt und dokumentiert wird (Victoria University of Wellington, https://archives.victoria.ac.nz/reposito- ries/2/resources/358, Stand: 10.03.2025). 5 Kurse im Retro Computing Lab werden aktuell in Wahlpflichtmodulen angeboten. https://www.gamesthatwerent.com/ https://archives.victoria.ac.nz/repositories/2/resources/358 https://archives.victoria.ac.nz/repositories/2/resources/358 Torsten Roeder Warum und wozu braucht man 50 Jahre alte Computer? 76 ten. Eine Online-Präsentation des Labors könnte zudem über eine Daten- schnittstelle mit dem Inventarisierungssystem verknüpft und durch Videos ergänzt werden. Das hängt eng mit der zentralen Frage zusammen: Wie kann man au- thentische Erfahrungen mit der originalen Hardware erzeugen und den notwendigen Kontext vermitteln, um eine Annäherung an historische Digitalitäten zu ermöglichen? Die konkreten Herausforderungen verbild- licht die nachfolgende Fotostrecke, die anhand von sieben Stationen und 25 Abbildungen durch das Retro Computing Lab führt und unterschiedli- che systematische Aspekte illustriert. Die Fotostrecke beginnt an den Bild- schirm(-Oberflächen) und arbeitet sich über Datenträger, Software und Adapter durch bis hin zu den kuratorischen Themen Reparatur, Umbau und Strategieentwicklung. Abschließend wird ein Blick auf die zukünftige Pla- nung geworfen. 1 . BILDSCHIRME Computer benötigen zur Inbetriebnahme passende Bildschirme und ent- sprechende Verkabelungen. Die analogen Ausgangssignale sind jedoch vielfältig, und bis man die Eingabeaufforderung auf dem Empfangsgerät sieht, ist manchmal einige Zeit mit Experimentieren vergangen. Für heu- tige digitale Bildschirme gibt es zudem keine einfachen Adapter, sondern es wird ein Analog-Digital-Wandler mit eigener Stromversorgung benö- tigt, und die Bildqualität ist mäßig im Vergleich zu RGB-Röhrenmonitoren. Auch Emulatoren bilden dies nur selten hinreichend ab. Zudem wurden einige Monitore passend zu den Geräten hergestellt. Spiel|Formen Heft 4 : Labore ... 77 Ein C16 (Commodore, 1984) ist für den Anschluss an einen Röhrenfernseher bestens geeignet. Ein nicht ganz intaktes Kabel führt hier zu einem undeutlichen Bild. Auch Magnetisierung (z.B. durch Smartphones) kann zu schwacher Bildqualität beitragen. Dieser Apple IIe (1983) kommt mit einem klassischen Grünmonitor daher. Das Bild ist auf älteren Kathoden- strahlröhren-Displays manchmal in- stabil und kann aufwändige Reparatu- ren erfordern. Torsten Roeder Warum und wozu braucht man 50 Jahre alte Computer? 78 ⇧ Dieser Farbmonitor von Schneider sorgt nicht nur für die Anzeige, sondern versorgt den CPC 464 auch mit Strom. Das Videosig- nal ist zudem nicht ohne weiteres auf ande- ren Bildschirmen wiedergebbar, so dass zwi- schen den Hardwarekomponenten eine doppelte Abhängigkeit besteht. ⇨ Auch HDMI-Monitore können verwendet werden, jedoch multipliziert sich dadurch die Anzahl der notwenigen Verbindungskabel und das von analog zu digital umgewandelte Bild entspricht nicht mehr einem authenti- schen Setup mit den typischen Charakteris- tika eines CRT-Bildschirms. Spiel|Formen Heft 4 : Labore ... 79 ⇩ Zwei baugleiche Floppy Drives 1541 (Commodore, 1982). Die gelbliche Variante stammt aus dem Nachlass aus einem Raucherhaushalt. Der Funktion hat letzteres anscheinend nicht geschadet – selbst die darin seit einem Jahrzehnt befindliche Diskette war noch lesbar. 2 . DATENTRÄGER Software für ältere Systeme ist fast immer auf externen Datenträgern abgelegt, die wiederum passende Lesegeräte benötigen. Die 3,5''- und 5,25''-Disketten waren weit verbreitet, aber es existierten auch Formate wie die 3''-Diskette, die sich weniger durchsetzen konnten. Und auch auf Audio-Kassetten ließ sich Programmcode abspei- chern. Was aber mag auf den alten Datenträgern enthalten sein, die an das Retro Com- puting Lab gespendet wurden? Sind sie noch lesbar, lassen sich die Daten darauf wie- derherstellen oder sind sie für immer verloren? Torsten Roeder Warum und wozu braucht man 50 Jahre alte Computer? 80 ⇦ Für das Speichern und Laden von Programmen nutzte der KC-85/3 (VEB Mikroelektronik, 1984) einen Kassettenrekorder, auch Datasette genannt. Da Kassetten kein Dateisy- stem besaßen, musste für jedes ge- speicherte Programm der Zähler- stand notiert werden. ⇨ Zu diesem CPC 464 (Amstrad/Schneider, 1984) gehört nicht nur die eingebaute Datasette, sondern auch ein externes Diskettenlaufwerk, welches das schon seinerzeit ungewöhnliche 3''-Format lesen kann. Die beiliegenden Disketten enthalten Daten, die vom ursprünglichen Nutzer erzeugt wurden und erlau- ben Einblicke in die damalige Alltagspraxis mit dem Heimcomputer. ⇨ Eine Schenkung beinhal- tete haufenweise Disketten für den Commodore 64, darunter vor allem raubko- pierte Spiele. Der Bestand gibt Einblicke in die Soft- ware-Piraterie als subkultu- relle Praxis. Nicht alle Pro- gramme lassen sich starten, aber auch die Aufschriften auf den Schutzhüllen geben Aufschluss über den Inhalt. Spiel|Formen Heft 4 : Labore ... 81 3 . SOFTWARE Die im Retro Computing Lab vorhandene Software ist vielfältig. Neben Spielen und Anwendungen, denen der größte Anteil zufällt, könnten hier auch elektronische Magazine im Original gelesen werden. Durch das praktische Ausprobieren erfährt man erst, wie die jeweilige Software mit dem Computersystem zusammenhängt und wie dies – etwa durch proprietäre Zei- chenkodierungen oder spezifische Grafik- modi – sowohl Programme als auch damit erzeugte Daten determiniert. Am nahes- ten erlebt man dies durch Abtippen oder Schreiben eines eigenen Programms. ⇧ Oregon Trail war eine beliebte Compu- terspielserie, die in den 1970er Jahren ihren Ursprung hat. Hier eine emulierte Version auf dem Apple II. Actionsequenzen erfolg- ten nicht über ein Steuergerät, sondern über die möglichst schnelle Eingabe eines Lautwortes. ⇦ Der Plus/4 (Commodore, 1983) wurde mit einem integrierten Tabellenkalkulati- onsprogramm ausgeliefert. Leider handelte es sich um eine unfertige Software, die das Speichern der Daten nicht ermöglichte. Torsten Roeder Warum und wozu braucht man 50 Jahre alte Computer? 82 ⇦ Auf dem Bildschirm läuft die „Digital Talk“, ein multimediales Magazin auf Diskette, das seit über 30 Jahren für den Commodore 64 erscheint. Diskettenmagazine waren eine maßgebliche, multimediale Kommunikati- onsplattform der frühen Heimcompu- terszene. ⇩ Das Abtippen von BASIC-Programmen aus Zeitschriften diente nicht nur der Weitergabe von Programmen, sondern auch dem indirek- ten Erlernen von Programmiersprachen. Da- bei bedurfte es der Kenntnis der spezifischen Tastaturbelegung des Geräts: Viele Hersteller boten individuelle Blockgrafikzeichen an, die man über bestimmte Tastenkombinationen erreichte. Einige, wie der hier gezeigte ZX Spectrum, beinhalteten Shortcuts für den eingebauten BASIC-Dialekt. Spiel|Formen Heft 4 : Labore ... 83 4 . ADAPTER Vintage-Software ist in großen Mengen verfügbar, beispielsweise aus dem Internet Archive, von Vereinswebsites oder über Einzelpersonen. Aber wie bekommt man den Anschluss an die damaligen Dateisysteme hin? Schließlich werden weder Disketten noch dazu passende Laufwerke herge- stellt, die gleichermaßen zu alten und neuen Computern passen würden. Die Fangemeinden haben dazu für ihre Computersysteme Adapter herge- stellt, mit denen der Dateitransfer über SD-Karten oder sogar über das In- ternet funktioniert. Glücklicherweise waren viele Geräte bereits auf Hard- ware-Erweiterungen ausgelegt und dafür – ähnlich wie bei Spielkonsolen – mit Cartridge-Slots oder Expansion Ports ausgerüstet. ⇩ Das ArduiTape wandelt Dateien von der SD-Karte in ein Tonsignal um, das der ZX Spectrum als akustischen Bitstream empfangen kann. Dem Signal lässt sich auch mittels eines Kopfhörers lauschen. Torsten Roeder Warum und wozu braucht man 50 Jahre alte Computer? 84 Das FujiNet-Cartridge beschert dem 800XL (Atari, 1983) unter anderem einen WLAN-Adapter. Dadurch kann beispielsweise Programmcode ausgeführt wer- den, der unter einer URL abgelegt ist. Die Ultimate II+ ist eine Erweiterung für den C64, der das Gerät mit einem SD-Kartenslot und Ethernet-Anschluss versorgt. Eine auf der SD-Karte oder auf einem Netz- laufwerk befindliche Datei kann hier als Disketten- Image gemountet werden. Spiel|Formen Heft 4 : Labore ... 85 5 . INSTANDHALTUNG Manche Computer haben Schäden durch natürliche Korrosion, un- sachgemäße Nutzung, unpassende Lagerung oder unsanften Trans- port erlitten. Um die Geräte instand zu halten, braucht man die pas- sende Ausrüstung und elektrotechnische Erfahrung. Das Internet hilft zwar bei vielen Fragen, aber manchmal muss man ein Gerät auch zu einem Spezialisten in die Werkstatt schicken. Manchmal dienen de- fekte Geräte auch als Ersatzteillager – ein zeitlich begrenzter Prozess, so dass zur Instandhaltung manchmal auch die Beseitigung von werkseitigen Schwächen gehört (z.B. unzureichende Kühlung), um die historischen Geräte möglichst lange betriebsfähig zu halten. ⇧ Beim Netzteil des Apple IIe quittieren nach einigen Jahrzehnten regelmä- ßig die Kondensatoren den Dienst und müssen ausgetauscht werden. (Foto: Thomas Fecker) Torsten Roeder Warum und wozu braucht man 50 Jahre alte Computer? 86 Bei diesem Plus/4 (Commodore, 1984) liegt ein Speicher- schaden vor, so dass das Gerät zwar startet, aber anstelle der üblichen Eingabeaufforderung nur unsinnige Zeichen anzeigt. Der Chip muss ausgetauscht werden. Das Innenleben des defekten Plus/4. Welcher Chip mag wohl der Übeltäter sein? Spiel|Formen Heft 4 : Labore ... 87 6. HACKING Nicht alle Geräte bekommt man heute noch ohne weiteres in ein vollständiges Setup integriert. Beispielsweise kam eine Grundig-Spielkonsole mit einem Bildschirmanschluss daher, die nur in einen ganz bestimmten Grundig-Fernseher passt, welcher aber praktisch nicht mehr zu bekommen ist. Deshalb wurde der originale Stecker vom Gerät abgetrennt und durch einen Scart-Stecker ersetzt. Kuratorisch stellt sich die Frage, was wichtiger ist: Der Erhalt des originalen Objekts oder seine Funktionsfähigkeit? Im Retro Computing Lab steht im Vordergrund, dass Computer nur im operativen Zustand Computer sind – und deshalb auch ›gehackt‹ werden dürfen (Hacking bezieht sich hier im weiten (und histori- schen) Wortsinn auf elektrotechnisches Handwerk). Das gleiche gilt auch für die hier gezeigten prozessorlosen Videospielkonsolen. Der designtechnische Gesamtzusam- menhang wurde hier also für den Erhalt der Operativität aufgegeben. ⇩ Die Spielkonsole »Super Play Computer 4000« (Grundig, 1978) war eine Lizenzversion der Interton VC 4000, die bis 1983 hergestellt wurde. Hier zusammen in einem Paket mit der »Color-Tele-Match-Cassette 2« von (IdealComputer, 1978), bei der das gleiche Problem besteht. Torsten Roeder Warum und wozu braucht man 50 Jahre alte Computer? 88 Um den proprietären Bildschirmstecker auszutauschen, wurden die Signale der einzelnen Kontakte ausgemessen, mit der Dokumentation abgeglichen und anschließend mit einem Scart-Stecker verkabelt. Die Übertragung funktioniert! Nach dem erfolgreichen Test wurden die An- schlüsse verlötet und ummantelt, anschlie- ßend die Konsole wieder zugeschraubt und in Betrieb genommen. Spiel|Formen Heft 4 : Labore ... 89 7 . SAMMLUNGSAUFBAU UND ÖFFENTLICHKEITSARBEIT Neben einem Inventar, das Geräte, deren Zustand und die dazu passende Peripherie erfasst, werden außerdem die individuellen Geschichten der Geräte dokumentiert – so- fern man dazu etwas herausfindet. Die meisten der Geräte sind Dauerleihgaben aus Pri- vatbeständen. Das Retro Computing Lab nutzt sie für Forschung und Lehre. Den Raum dafür stellt das Zentrum für Philologie und Digitalität an der Universität Würzburg zur Ver- fügung. Durch regelmäßige Veranstaltungen wird der Ort auch für Besucher über die Uni- versität hinaus geöffnet. ⇦ Zum Retro Computing Lab ge- hören nicht nur Geräte und Platz zum Aufbauen und Aufbewah- ren, sondern auch eine Bibliothek mit Softwareobjekten und Litera- tur. ⇦ Eine aufmerksame Person spendete diesen Flohmarktfund: Mehrere Software-Magazine mit Diskette für IBM-PC. Torsten Roeder Warum und wozu braucht man 50 Jahre alte Computer? 90 ⇦ Das Retro Computing Lab wurde im Juni 2024 mit dem Event „Hack ’n’ Play“ erstmals für ein breiteres Publikum ge- öffnet. Stefan Höltgen (Bonn) hielt den Eröffnungsvortrag „Space Laser 4000 – Das Spiel(en) mit Vergangenheit und Zukunft“. ⇨ Ein Nachbar fand diesen Schachcomputer in einer Zu- Verschenken-Kiste im Trep- penhaus und spendete ihn dem Retro Computing Lab. (Foto: Stefan Höltgen) Spiel|Formen Heft 4 : Labore ... 91 AUSBLICK Wozu braucht man nun also 50 Jahre alte Computer? Perspektivisch lassen sich mehrere strategische Ziele verfolgen. Als zentrales Anliegen wird die Vermittlung von historischen Digitalitäten angesehen. Dies kann durch praktische Erfahrung im Umgang mit dem Gerät erfolgen, sowohl durch bloße Anschauung, erweitert durch praktische Anwendung und im Spiel, schließlich auch durch Coding und Hacking. Dies ermöglicht ein tieferes Verständnis von technischen Strukturen, auf denen Computer bis heute basieren. Nutzbar ist dies zum einen für kulturelle Studien (game studies, e-literature studies, born digital heritage studies), ebenso erlaubt es IT-nahen Fächern eine praktisch fundierte Selbstreflexion auf früher bewährte Methoden. Zum anderen kann das Retro Computing Lab auch ein Ort sein, an dem Erhaltungs- und Wiederherstellungspraktiken für digitales Kulturerbe entwickelt und erlernt werden. Wie weit diese Aspekte ausgebaut werden, muss zum jetzigen Zeitpunkt offen bleiben. In jedem Fall stellt es sich der Virtualität – einem aktuellen Digitalitätspara- digma – deutlich entgegen, indem es eine historische Digitalität aufzeigt, die primär durch Anfassen und Bespielen erfahren werden will – an 50 Jahre altem Material.