OLIVER LEISTERT RELATIONEN DER AUFLÖSUNG SIND RELATIONEN DER KONSTITUIERUNG – ZUR INDIVIDUATION UND ZUM VERHÄLTNIS VON TRANSINDIVIDUELLEM UND INTERINDIVIDUELLEM NACH GILBERT SIMONDON Gilbert Simondon (1924-1989), der bis vor Kurzem überwiegend als Technik- philosoph für sein Buch Du mode d’existence des objets techniques1 bekannt war, entwickelte in seinem erst posthum vollständig publizierten Hauptwerk2 L’individuation à la lumière des notions de forme et d’information eine Philo- sophie der Ontogenese, deren Anspruch kein geringerer ist, als eine grundsätz- liche Erklärung der Entwicklung von Kristallen bis zu sozialen Gefügen von Menschen bereitzustellen, d. h. über alle Domänen hinweg eine Prozessphilo- sophie entwickelt zu haben. Die ungeplante Entstehung von Strukturen betrifft das Leitmotiv des Schaf- fens von Simondon, der in intensiver kritischer Auseinandersetzung mit der Kybernetik seiner Zeit insbesondere an der Offenheit von Prozessen festhielt. Die Auseinandersetzung mit der Kybernetik und im weiteren Sinne alle Über- legungen zur Technik können hier keine Berücksichtigung finden.3 Vielmehr 1 Gilbert Simondon, Die Existenzweise technischer Objekte, Zürich, 2012 [frz. OA 1958]. Es handelt sich um die Komplementärthese seines Doktorats. 2 Der erste Teil von Simondons Hauptwerk erschien zu Lebzeiten unter dem Titel L’individu et sa genèse physico-biologique (Paris, 1964), darin sind physische und biologische Individuati- on besprochen. Posthum erschien 1989 der zweite Teil L’individuation psychique et collective (Paris, 1989), der die psychisch-soziale Individuation zum Thema hat. Unter dem Titel L’individuation à la lumière des notions de forme et d’information erschien 2005 [revidiert 2013] erstmals die gesamte Doktoratsthese inklusive einer Vielzahl bisher unveröffentlicher Begleittexte und Studien, u. a. eine ausführliche historische Studie zum Individuationsbegriff des westlichen Denkens von den Vorsokratikern bis zur Moderne. Die Einleitung des Werkes, sowie einige Einzeltexte aus dem Nachlass, die in L’individuation aufgenommen wurden, sind die bisher einzigen ins Deutsche oder Englische gebrachten Teile. Die Publikation einer englischen Übersetzung des gesamten Buches wird aufgrund von rechtlichen Problemen bis- her aufgeschoben. Alle Zitate aus L’individuation, mit Ausnahme solcher aus der umfangrei- chen Einleitung, sind von mir übersetzt. Im Zuge der Wiederentdeckung Simondons, die in solch unterschiedlichen Disziplinen wie Biologie, Philosophie, Medienwissenschaft oder De- sign zu vermerken ist, publiziert Presses universitaires de France aus dem Nachlass umfang- reiche Bände, in denen insbesondere Vorlesungen und Vorträge enthalten sind. Besonders erwähnenswert sind Gilbert Simondon, Imagination et invention, 2014, Sur la technique (1953-1983), 2014 und Sur la philosophie (1950-1980), 2016. 3 Dieser Text stellt den Anfang einer längerfristigen Auseinandersetzung mit Simondons Werk dar. Antrieb ist die Überzeugung, dass sich insbesondere die Problematik Individuum – Mili- 156 OLIVER LEISTERT wird der Prozess der Individuation genauer angeschaut, denn er umfasst Struk- turentstehung und -verfall gleichermaßen. Mit der Entstehung von Strukturen durch Operationen geht eine Auflösung vergangener Strukturen einher. Dies wird im Falle der psychischen und kollektiven Individuation besonders deut- lich, der ein irreduzibles Spannungsverhältnis zwischen dem Transindividuel- len und der gesellschaftlichen Funktionalität und der darin implizierten sozia- len Rollen von Subjekten eigen ist. Strukturbildung und -auflösung stehen bei Simondon in einem funktionalen und notwendig sich bedingenden Verhältnis. Es kann nichts Neues entstehen, es kann keine Offenheit geben, wenn es keine Veränderung gibt. Und Veränderung kann es nur geben, indem existierende Strukturen ihre Operationalität verlieren. Die ontogenetische Operation nach Simondon Wie entsteht Form und Struktur? Auf der Suche nach Erklärungen für diese fundamentale Frage verwirft Simondon die gängigen kanonischen Erklärun- gen des Abendlandes. In seiner Durchsicht der Begriffe4, die den Prozess der Individuation erklären wollen, stellt er fest, dass dem bereits individuierten Sein stets der Rang des Bedingenden zugesprochen wird. Für Simondon stellt sich damit die gesamte Problematik des abendländischen Denkens, denn zu klären sei, wie es zum individuierten Sein komme. Die beiden kanonischen Antworten hierauf verweisen auf Prinzipien der Individuation: auf den Sub- stantialismus (Atomismus) und den Hylemorphismus. Letzterer ist eine Theo- rie, die Aristoteles entwickelte, und die Individuation auf eine aktive Form, die eine passive Materie prägt, reduziert. Simondon merkt jedoch kritisch an: „Sowohl der atomistische Substantialismus als auch die hylemorphische Dokt- rin vermeiden de facto, die Ontogenese selbst direkt zu beschreiben.“5 Darüber hinaus, und hiermit wird Simondons Arbeit erst in ihrer Originalität erkenn- bar, wird der Prozess der Ontogenese selbst – sei es des Physischen, Lebenden oder des Psychosozialen – im westlichen Denken seit jeher systematisch ver- deckt, indem überhaupt ein Prinzip der Individuation postuliert wird: eu, mit Rückgriff auf Simondons technikphilosophische Schriften, fruchtbar machen lässt für eine operative Medientheorie. Ein interessanter erster Aufschlag hierzu kommt u. a. von Si- mon Mills, Gilbert Simondon: Information, Technology, and Media, London, 2016 sowie ders., „Simondon and Big Data“, in: Platform: Journal of Media and Communication, 6 (2015), S. 59-72. 4 Simondon (2013), L’individuation, S. 357-520. Allerdings ist anzumerken, dass seine Be- schreibung Spinozas und Bergsons eigentümlich abwehrend bleibt. Gerade diese beiden Au- toren sind mit ähnlichen Fragen beschäftigt. Spinoza in seiner Diskussion der Affekte und Bergson durch seinen élan vital. 5 Gilbert Simondon, „Das Individuum und seine Genese. Einleitung“, in: Claudia Blümle/Ar- min Schäfer (Hg.), Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, Zürich, 2007, S. 30. RELATIONEN DER AUFLÖSUNG 157 Es ist ein Postulat der Suche nach dem Individuationsprinzip, daß die Individua- tion überhaupt ein Prinzip hat. [...] Die Suche nach dem Individuationsprinzip gelangt entweder nach der Individuation oder vor der Individuation zum Ab- schluß, je nachdem ob das Modell des Individuums von der Physik (für den sub- stantialistischen Atomismus), der Technologie oder dem Lebenden (für das hylemorphische Schema) genommen ist. Aber es gibt in beiden Fällen einen blinden Fleck, der den Individuationsvorgang verdeckt.6 Simondons „Reform der philosophischen Grundbegriffe“7 besteht in der Folge in der Auseinandersetzung mit diesem blinden Fleck. In seinen Schriften wird er deshalb der Operation den Vorrang gegenüber der Form oder Struktur ge- ben, d. h. der Individuationsvorgang wird als ursprünglich gesetzt. Dies be- deutet jedoch nicht, dass er der Form und Struktur grundsätzlich weniger Be- deutung zuschreibt, denn sie bedingen wiederum den nächsten Schritt der Ontogenese. In der Entfaltung ihrer Entstehungsprozesse selbst treten sie je- doch notwendig zunächst in den Hintergrund, denn „[e]ine Operation ist die Verwandlung einer Struktur in eine andere Struktur“.8 Mit der Wahl, den Vorgang der Individuation ursprünglich zu setzen, dreht sich die Perspektive von der Analyse des individuierten, fertigen Seins auf ein prozessuales Werden. Dieser Perspektivwechsel allein hat schwerwiegende Konsequenzen, denn die Genese wird damit grundsätzlich als ein offener Vor- gang anerkannt, undeterminiert und zur Zukunft hin geöffnet bzw. Zukunft schaffend. Die Umstellung vom vermeintlich immer schon Gegebenen zum dynamischen Entstehen arbeitet mit einer systematischen Integration von Zeit- lichkeit im philosophischen Denken. Diese Einführung von Zeitlichkeit als der Individuation immanentes und produktives Merkmal bedeutet, dass die Indivi- duation aus einer Arbeit an einer eigenen Zeit und nicht in einer universellen, leeren newtonschen Zeit geschieht. „Die Zeit selbst wird in dieser ontogeneti- schen Perspektive als Ausdruck der Dimensionalität des sich individuierenden Seins betrachtet.“9 Individuation ist der Prozess der Vermittlung zwischen Phasen des Seins, die zeitlich und topologisch neu geordnet werden. In und durch diese Neuordnung entstehen neue Strukturen. Simondon führt zwei ontogenetische Invarianten ein, die die Bedingung ei- ner Möglichkeit der Individuation sind: eine vorindividuelle Wirklichkeit, die er das Prä-Individuelle und gelegentlich auch Natur nennt, und ein äußeres oder assoziiertes Milieu, bzw. im Falle der Individuation des Lebendigen und Psycho-Sozialen auch ein inneres Milieu. Mit der Inanspruchnahme der vorin- dividuellen Wirklichkeit als Reservoir von Potenzialen durch die Dyade Indi- viduum – Milieu erhält der genetische Vorgang seine prinzipielle Offenheit, da das Reservoir an vorindividueller Wirklichkeit seine Inanspruchnahme 6 Ebd. 7 Ebd., S. 44. 8 Simondon (2013), L’individuation, S. 531. 9 Simondon (2007), Das Individuum, S. 42. 158 OLIVER LEISTERT durch die Dyade in den meisten Fällen übersteigt. Wird es jedoch ausge- schöpft, kommt die Individuation zum Erliegen. Der Prozess der Individuation ist grundsätzlich als Ausgleich zwischen in- kompatiblen Spannungen vorgestellt. Das System Individuum – Milieu steht selbst in Spannung, es ist mit sich selbst nicht vollends strukturell vereinbar und muss einen Ausgleich finden, der in eine neue Strukturbildung mündet. „[T]he spark of individuation is this event of disparity“10. Disparität zwischen und innerhalb des Seins ist das Kennzeichen und der Auslöser des Werdens. Das Werden ist phasenhaft, „ist Dimension des Seins, Modus der Auflösung einer anfänglichen Unvereinbarkeit, die reich an Potentialen ist.“11 Mit der Individuation treten deshalb stets neue Phasen des Seins auf, die immer auch Phasen im Sein sind, d. h. „daß das Werden eine Dimension des Seins ist, daß es einer Fähigkeit des Seins entspricht, sich in Bezug auf sich selbst zu depha- sieren, sich durch Dephasierung aufzulösen.“12 Der Dephasierung entspricht eine Auflösung von Spannungen im Sein, die zugleich die Überführung der Spannungen in die Bildung von Strukturen ist, bzw. die Auflösung von Struk- turen, die die Spannung nicht mehr ausgleichen können. Spannung wird ope- rativ in Strukturen überführt, die erneut unterschiedlichen und strukturell un- vereinbaren Größenordnungen ausgesetzt ist und nach Stabilität und Gleich- gewicht sucht. Die Vermittlung zwischen Größenordnungen ist der Prozess des Werdens, die Operation zur Schaffung neuer Strukturen, die die Potenziale ausgleicht. Insgesamt sind es der Physik, Chemie und Energie entlehnte Be- griffe, wie Potenzial und Phase, die die Operation der Verwandlung von Struktur in Struktur bezeichnen. Simondons Prinzip der Individuation könnte verkürzt lauten: Erhaltung des Seins durch das Werden. Was ist unter der vorindividuellen Wirklichkeit zu verstehen, die als Reser- voir von Potenzialen, von potenzieller Energie, das gesamte Sein umfasst? Als nicht individuiertes Sein, vor jeder Dephasierung, „über Einheit und Identität hinausgehend“ und „in der Lage [...] sich als Welle oder Teilchen, Materie oder Energie zu manifestieren“13, entzieht sich die vorindividuelle Wirklich- keit einer identitären, statischen, festlegenden Beschreibung und ist aktual stets nur spekulativ beschreibbar, denn erst im Vollzug der Individuation, an der sie Anteil hat, aktualisiert sie ihre Potenziale des Möglichen im metastabi- len System der Individuation von Individuum und Milieu. Oder, wie es Didier Debaise formuliert: „The possible is the preindividual singularities, which can cause an individuation, whilst the actual is the individual produced by the individuation“.14 Dabei geht es fortwährend um Dynamiken und Prozesse zwi- schen Größenordnungen, wie z. B. der Mikroordnungen der Moleküle und der 10 David Scott, Gilbert Simondon’s Psychic and Collective Individuation: A Critical Introduc- tion and Guide, Edinburgh, 2014, S. 41. 11 Simondon (2007), Das Individuum, S. 32. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 33. 14 Didier Debaise, „What is Relational Thinking?, in: Inflexions, 5 (2012), S. 1-11: 5. RELATIONEN DER AUFLÖSUNG 159 Makroordnungen des Kosmos, die Energie und Materie zur Individuation führen: Während sich eine potentielle Energie (Bedingung einer höheren Größenord- nung) aktualisiert, ordnet sich eine Materie (Bedingung einer niedrigeren Grö- ßenordnung) und teilt sich in strukturierte Individuen einer mittleren Größenord- nung, die sich durch einen mittelbaren Erweiterungsprozess entwickeln.15 Metastabilität wird für Simondon zum transgenerischen Schlüsselbegriff der Erklärung von Individuation: The concept of metastability intertwines the theory of information and the phys- ics of phase shifts in matter, which Simondon gives a metaphysical extension by applying it to every field of individuation; metastability thus qualifies the condi- tions of every actualization.16 Metastabil wird ein System genannt, dass nur unter bestimmten, oft strengen Bedingungen Stabilität aufweist, und das nach Über- oder Unterschreiten ei- nes Schwellwerts seiner Bedingungen in eine neue Phase der relativen Stabili- tät eintritt. In der neuen Phase hat es, oft sprunghaft, eine Veränderung durch- laufen und ist notwendig neu strukturiert. Die Vermittlung der Größenord- nungen, die dabei auftritt, den Vorgang selbst, nennt Simondon Transduktion. Dieser Begriff findet auf alle Domänen Anwendung: Unter Transduktion verstehen wir einen physikalischen, biologischen, mentalen, sozialen Vorgang, durch den sich eine Aktivität im Inneren eines Bereichs nach und nach ausbreitet. Diese Ausbreitung beruht auf einer allmählich fortschrei- tenden Strukturierung des betroffenen Bereichs: Jede Region der gebildeten Struktur dient der folgenden Region als Konstitutionsprinzip, so daß sich zu- gleich mit diesem strukturierenden Vorgang eine Modifikation immer weiter ausbreitet.17 Wichtig ist, dass Transduktion gerichtet ist, d. h. der Individuation eine Rich- tung gibt, und zwar in der Doppeldeutigkeit des Französischen ‚sens‘, das ebenso Sinn wie Richtung bedeutet. Gleichzeitig wird hier auch deutlich, dass Simondon nicht nur mit weiten Teilen der kanonischen Ontologie, sondern auch Epistemologie (z. B. in der Tradition Kants) bricht, denn mit dem trans- individuellen Vorgang wird auch die Möglichkeit der Beobachterperspektive problematisch. Logik und Metaphysik, Objekt und Subjekt sind demnach idea- lisierte Extremzustände, die aus der Perspektive der Transduktion nur im Rückblick lesbar sind, immer schon als bereits geschieden erscheinen, und sich als Erklärung a posteriori anbieten. So wird u. a. Kants Trennung von a priori und a posteriori für Simondon zur artifiziellen, weil auf idealisierten 15 Simondon (2007), Das Individuum, S. 34. 16 Anne Sauvagnargues, „Crystals and Membranes: Individuation and Temporality“, in: Arne De Boever/Alex Murray/Jon Roffe/Ashley Woodward (Hg.), Gilbert Simondon: Being and Technology, Edinburgh, 2012, S. 57-70: 58. 17 Simondon (2007), Das Individuum, S. 41 f. 160 OLIVER LEISTERT Extremen basierenden Epistemologie. Im A-praesenti-Modus der Genesen bleiben Subjekt und Objekt gleichermaßen konstitutiv und konstituiert.18 Simondon hat ontogenetische Grundbegriffe entwickelt, für die er über alle Domänen hinweg Gültigkeit beansprucht. Dennoch unterscheidet sich der Pro- zess der Individuation von Domäne zu Domäne wesentlich. Muriel Combes schreibt in ihrem Standardwerk zur Individuation nach Simondon zum Ver- hältnis der Domänen zueinander: „We pass from one domain of being to an- other by the transfer of operations from one structure to another, while adding to each level the specificities that the physical paradigm, because too simple, does not allow us to grasp.“19 Die physische Individuation gilt als einfachster und ursprünglicher Fall der Individuation. Simondon spitzt die Frage einer generellen Theorie der Indivi- duation sogar noch zu, indem er von einer „analogischen Paradigmatik“20 spricht, die der Begriff der Transduktion sowohl in metaphysischer Hinsicht, als auch in logischer Hinsicht leistet, um zu einer das ganze Sein erfassenden Beschreibung zu gelangen. Das Denken selbst ist dann notwendiger Bestand- teil von Individuation. Es gibt kein jenseits dieses Prozesses, dem grundsätz- lich jede, ob mentale oder physische Operation angehört. Die Transduktion ist eine mentale Verfahrensweise und, mehr noch als eine Ver- fahrensweise, ist sie eine Haltung des Geistes, der eine Entdeckung macht. Diese Haltung besteht darin, dem Sein in seiner Genese zu folgen, die Genese des Den- kens nachzuvollziehen, während sich zugleich die Genese des Objekts voll- zieht.21 Die Trennung von Domänen z. B. des Inerten und Lebendigen, ist hier nicht absolut und sie wird nicht substantialistisch vorgestellt. Es gibt eine „transfor- matorische Passage“22 und vielmehr handelt es sich um Bifurkationen der ers- ten ursprünglichen Individuation. Between the physical and the vital, between the plant and the animal, we need look not for substantial differences [...] rather for differences in speed in the pro- cess of their formation. What divides being into domains is ultimately nothing 18 Eine detaillierte Diskussion der Folgen dieser Anstrengung für die Epistemologie findet sich in: Andrea Bardin, Epistemology and Political Philosophy in Gilbert Simondon: Individuation, Technics, Social Systems, Dordrecht, 2015. 19 Muriel Combes, Gilbert Simondon and the Philosophy of the Transindividual, Cambridge, MA, 2013, S. 13 f. 20 Analogie ist für Simondon eine strenge Methode, die sich von der alltagssprachlichen Bedeu- tung unterscheidet. Siehe u. a. den Abschnitt „La méthode analogique“, in: Simondon (2013), L’individuation, S. 103-110. Simondon schlägt insgesamt den Terminus Allagmatik als Name einer generellen Theorie der Operationen vor. Siehe ebd., S. 529-536. 21 Simondon (2007), Das Individuum, S. 42. 22 Erich Hörl, „Technisches Leben. Simondons Denken des Lebendigen und die allgemeine Ökologie“, in: Maria Muhle/Christian Voss (Hg.), Black Box Leben, Berlin, 2017, S. 239- 266: 247. RELATIONEN DER AUFLÖSUNG 161 other than the rhythm of becoming, sometimes speeding through stages, some- times slowing to resume individuation at the very beginning.23 Neben der zunächst kontra-intuitiven radikalen Prozessorientierung, die Com- bes verdeutlicht, tritt auch die Schwierigkeit zutage, die ein Denken in Relatio- nen, das Simondons Werk zugrunde liegt, fordert. Relation ist keine Verknüp- fung oder Beziehung zweier bestehender Terme. Vielmehr generieren Relatio- nen ihre Relata. Relationen haben Seinsrang. „Die Relation entspringt nicht zwischen zwei Zuständen, die bereits Individuen sind; sie ist ein Aspekt der inneren Resonanz eines Individuationssystems; sie nimmt an einem System- zustand teil.“24 Deutlich wird dies an der Dyade Individuum – Milieu, deren Relation das Sein ausdrückt.25 Im Folgenden werden verschiedene Modi der Individuation besprochen, angefangen bei der ursprünglichen, der physischen Individuation. Erste, ursprüngliche Individuation: physisch Im Falle der physischen Individuation, die Simondon am Beispiel des Kristalls ausgiebig diskutiert, bleiben die Elemente überschaubar. Die vorindividuelle Wirklichkeit, eines der vielleicht dunkelsten Konzepte Simondons, reduziert sich hier auf die übersättigte Lösung, die dem Keim der Kristallbildung als Antrieb dient, und der sich stets an seiner Grenze durch Modulation, der Bil- dung einer Relation von Operation und Struktur, individuiert. Es gibt eine Vermittlung zwischen der Lösung und dem Milieu, zwischen zwei Größenord- nungen, bei der die vorindividuelle Wirklichkeit am Milieu teilhat. Das Milieu ist der Teil der vorindividuellen Wirklichkeit, der im Prozess der Individuation in Anspruch genommen wird. Ginge sie darin auf, würde die Individuation enden, da das Reservoir an potenzieller Energie erschöpft wäre. Anders aus- gedrückt: Fallen Milieu und vorindividuelle Wirklichkeit restlos zusammen, ist kein Energiepotenzial mehr vorhanden und der Kristall hat seine letzte Form erreicht. Begriffe wie Form und Materie erscheinen aus der Perspektive der Ontoge- nese nur a posteriori, nur nach der Individuation, sinnvoll: Form und Materie sind a praesenti, im Vollzug, nur virtuell als Möglichkeit vorhanden, und tre- ten im Prozess des Werdens erst in Erscheinung. Vielmehr sind Begriffe wie primäre Information, interne Resonanz, potenzielle Energie und die Vermitt- lung von Größenordnungen geeignet, die operative Eigenart der Individuation zu beschreiben. Dennoch sind Form und Materie gemeinsam, als Operatoren 23 Combes (2013), Gilbert Simondon and the Philosophy of the Transindividual, S. 22 f. 24 Simondon (2007), Das Individuum, S. 36. 25 Das relationale Primat, wie es genannt werden könnte, hat weitreichende Folgen. Siehe auch hierzu Combes (2013), Gilbert Simondon and the Philosophy of the Transindividual sowie Debaise (2012), What Is Relational Thinking? 162 OLIVER LEISTERT der Individuation, als Sitz der Spannung, die die Operation der Individuation notwendig macht, konstitutiv. Im Falle des Kristalls vollzieht sich die Individuation in Sprüngen und end- gültig. Es gibt kein inneres Milieu des Kristalls, denn es gibt keine innere Zeit. „Das physikalische Individuum, das fortwährend exzentrisch, sich selbst ge- genüber fortwährend randständig und an der Grenze seines eigenen Bereichs aktiv ist, hat kein wahres Innen.“26 Die Vergangenheit ist tote Zeit, sie „hat in ihrer Masse keinen Zweck; sie spielt nur eine unterstützende Rolle, sie stellt kein Informationssignal zur Verfügung: Die aufeinanderfolgende Zeit wird nicht verdichtet.“27 Dies hat Folgen für zwei Kernbegriffe der Individuation: Topologie und Chronologie, die bei der Individuation in anderen Domänen in ihrem korrelativen Zusammenwirken kontinuierlich Problematiken schaffen. Diese strikte Korrelation entfällt bei der physischen Individuation: Die Ver- gangenheit hat keinen Bezug zum Wachstum, die Individuation läuft nur auf der Grenze ab. Topologie und Chronologie sind insofern im Prozess gespalten bzw. ihre Rollen sind klar geschieden. Da sich die Grenze in Sprüngen nach außen schiebt, bleibt die Gegenwart der Individuation abgespalten von der Vergangenheit der Individuation. Das bereits individuierte Innere hat keinen funktionalen Bezug zum Außen. Das Innere des Individuums ist insofern vom Vorindividuellen (hier die übersättigte Lösung) getrennt. Nur an seiner Gren- ze, an der sich das physische Individuum weiterentwickelt, bleibt das Vorindi- viduelle Quelle künftiger metastabiler Zustände, an die das physische Indivi- duum aufgrund seiner rein exzentrischen Unabgeschlossenheit Anschluss fin- det. Individuation des Lebenden Anders verhält sich dies in der Domäne des Lebenden, denn hier ist nicht nur die Grenze, sondern auch das Innere prozess-konstituierend.28 Die Topologie des Inneren steht in Bezug zum Äußeren. Als Beispiel nennt Simondon u. a. eine Pflanze, bei der die infra-molekulare Größenordnung der Zellen mit der kosmischen Größenordnung des Sonnenlichts in Verbindung gebracht wird. Die Pflanze „ist ein Knoten zwischen den Elementen, und sie entwickelt sich als innere Resonanz in diesem vorindividuellen System, das aus zwei Schich- ten der Wirklichkeit ohne anfängliche Kommunikation besteht.“29 Das Lebende wird hier zum Schauplatz andauernder Individuation: „Es gibt in ihm eine vollständigere Ordnung innerer Resonanz, die eine dauernde Kommunikation fordert und eine Metastabilität aufrechterhält, die Bedingung 26 Simondon (2007), Das Individuum, S. 35. 27 Simondon (2013), L’individuation, S. 226. 28 Zur Frage des Übergangs und des Problems der Unterscheidung des Physischen vom Leben- den, siehe ebd., S. 313. 29 Simondon (2007), Das Individuum, S. 43. RELATIONEN DER AUFLÖSUNG 163 des Lebens ist.“30 Schauplatz der Individuation ist das Lebende, weil es nicht nur sein Verhältnis zum Milieu durch Anpassung modifiziert, sondern weil es sich selbst modifiziert, es verhält sich zu sich selbst, indem es neue innere Strukturen bildet, die auf Problematiken reagieren. „Die innere Resonanz und die Überführung des Selbstverhältnisses in Information kennzeichnen das System des Lebenden.“31 Das Selbstverhältnis des Lebendigen ist begründet im korrelativen Verhältnis von Topologie und Chronologie. Topologie ist im Unterschied zum euklidischen Raum distanzlos. Information32 stellt die Ver- mittlung zwischen den Größenordnungen dar, die das Selbstverhältnis neu setzt und in der Vermittlung heterogener Ordnungen die fortschreitende Ent- wicklung des Selbstverhältnisses erzwingt. Ohne Vermittlung setzt der Zerfall, die Desindividuation ein. „[A]lle Masse lebendiger Materie, die sich im inne- ren Raum befindet, ist über die Grenze des Lebendigen aktiv in der Außenwelt präsent: Alle Produkte der vergangenen Individuation sind ohne Distanz und Verzögerung präsent.“33 Die aktive Präsenz innerer lebendiger Materie an der Außenwelt ist von er- heblicher Bedeutung, denn aus diesem Grund sind die Schemata von Chrono- logie und Topologie nicht unterscheidbar und bilden gemeinsam „die primäre Dimensionalität des Lebendigen: Jede topologische Charakteristik hat ein chronologisches Korrelativ und andersherum“.34 Dies wird deutlich, wenn das Beispiel der polarisierten Membran herangezogen wird: In ihrem Inneren hat sich die Substanz des Lebendigen der Vergangenheit kondensiert, im äußeren Milieu hingegen kann diese Substanz entstehen, für die Assimilation vorgeschlagen werden, das leben- dige Individuum verletzen [...]: sie ist im Kommen, sie ist zukünftig. Auf der Ebene der polarisierten Membran begegnen sich das vergangene Innen und das zukünftige Außen: diese Begegnung im Vorgang der selektiven Assimilation ist die Gegenwart des Lebendigen.35 Die primäre Dimensionalität des Lebendigen ist a praesenti und damit not- wendig zeitgleich mit sich selbst. Dies ist Bedingung für das Selbstverhältnis des Lebenden und zugleich der Grund, warum von topologischer Zeit gespro- 30 Ebd., S. 35 [Herv. i. O.]. 31 Ebd. 32 Dies kann hier nur randständig Erwähnung finden: Simondon unterscheidet primäre und se- kundäre Information. Letztere kommt dem Informationsbegriff der Kybernetik nahe, wie er z. B. von Norbert Wiener diskutiert wird. Allerdings muss festgestellt werden, dass es nicht den einen Informationsbegriff der Kybernetik gibt. Vgl. hierzu: Jean-Pierre Dupuy, On the Or- igins of Cognitive Science. The Mechanization of Mind, Cambridge, MA, 2009, S. 113-135. Primäre Information, um die es im Kontext hier geht, ist abweichend vielmehr ein qualitativer Informationsbegriff, der, verkürzt gesagt, heterogene Größenordnungen in Resonanz bringt, zwischen ihnen vermittelt, sie in-formiert. Zum Informationsbegriff Simondons siehe Yuk Hui, „Simondon et la question de l’information“, in: Cahiers Simondon, 6, 2015, S. 29-46. 33 Simondon (2013), L’individuation, S. 226 [Herv. i. O.]. 34 Ebd., S. 227. 35 Ebd. 164 OLIVER LEISTERT chen werden kann. Zeit wird durch und mit der topologischen Ordnung zur Dimension des Lebenden. Es gibt Zeit nur im Korrelat zur Topologie. Inneres und äußeres Milieu sind beim Lebenden je nach Dimension multi- pel und bivalent. Denn Inneres und Äußeres werden in komplexen Organis- men zu Schachtelungen verschiedener Größenordnungen, bei denen das innere und das äußere Milieu funktional im Übergang zum anderen ihren Platz wech- seln. „In Bezug auf das Blut, welches die inneren Darmwände durchspült, ist der Verdauungsraum äußerlich; aber das Blut wiederum ist ein äußeres Milieu in Bezug auf innere Sekretdrüsen, die die Produkte ihrer Aktivität in das Blut abgeben.“36 Darum ist von relativem Inneren und relativem Äußeren die Rede: Man kann also sagen, dass die Struktur eines komplexen Organismus nicht nur Integration und Differenzierung ist; sie ist auch diese Errichtung einer transduk- tiven Vermittlung zwischen Innen und Außen, die von dem absoluten Innen bis zu dem absoluten Außen durch verschiedene vermittelnde Ebenen von Innen und relativem Außen reicht.37 Individuationen, Individualisationen: Psyche, Kollektiv Wenn die Individuation des Lebenden durch den Zusammenfall von Topolo- gie und Chronologie zu kennzeichnen ist, stellt sich die Frage, wie es sich in der psychischen und kollektiven Individuation hiermit verhält und wie diese Domänen verbunden sind. Zunächst ist festzustellen, dass es stets reziproke Relationen sind, die nur gemeinsam auftreten können und die ihre Einheit im Transindividuellen ha- ben. Combes erklärt: [T]he transindividual appears not as that which unifies individual and society, but as a relation interior to the individual (defining its psyche) and a relation ex- terior to the individual (defining the collective): the transindividual unity of two relations is thus a relation of relations.38 Zwei Relationen, die gemeinsam die Einheit des Transindividuellen ausma- chen, aber vollkommen Unterschiedliches betreffen, denn das lebendige Sein hat nicht zuerst einen Körper und eine Seele, sondern konstruiert sich diese im Prozess der Individualisation. „Es gibt streng genommen keine psychische Individuation, sondern eine Individualisation des Lebendigen, die Körper und Psyche erst zur Welt bringt.“39 Individualisation ist die fortgesetzte erste Indi- viduierung, in der nach wie vor vitale Probleme gelöst werden müssen, die sich durch die fortwährende vitale Individuation ergeben, nun jedoch im Rah- 36 Ebd., S. 225. 37 Ebd., S. 225. 38 Combes (2013), Gilbert Simondon and the Philosophy of the Transindividual, S. 23. 39 Simondon (2013), L’individuation, S. 261. RELATIONEN DER AUFLÖSUNG 165 men eines bereits individuierten lebendigen Seins, in dem die Domäne des Psychischen funktional erst entstehen konnte. Die Individualisation des Le- benden nennt Simondon folglich „historicitée réelle“40, reelle Geschichtlich- keit. In der Domäne des Psychischen erfolgt die Individualisation durch ein Sein, „das, um seine eigene Problematik zu lösen, genötigt ist, als Element des Problems durch sein Handeln, als Subjekt selbst einzugreifen“.41 Das Subjekt aus der Perspektive der Operation lässt sich insofern wie folgt beschreiben: „It is an asymmetrical relation that constitutes the subject – an asymmetry be- tween a present operation that always escapes itself and an objective structure that always belongs to the past.“42 Die Immanenz des Individuationsprozesses bedingt, dass er aus der Mitte, „au milieu“, wie es im Französischen doppel- deutig heißt, erfolgt. Das Individuum löst aus sich heraus eine Problematik, in die es verstrickt ist, indem es sich und sein Verhältnis zum Milieu neu ordnet. Hierbei steht das psychische Sein als inneres Milieu mit einem äußeren Milieu des Kollektivs in Relation. Diese Relation nennt Simondon das Transindividu- elle. Die Psyche operiert am Schnittpunkt der Relation des Individuums zur Welt und zur Relation des Individuums zu sich selbst. Diese Individuation wird angetrieben durch Affektivität und Emotionalität, die zentrale Register von Intensitäten sind, denen das Individuum ständig ausgesetzt ist durch die Dyade Individuum – Milieu, die das Sein ausmacht. Während im Bereich des Vitalen die Affekte regulierender Art sind, bereiten sie der Psyche Probleme, die das Individuum allein nicht zu lösen imstande ist.43 Die Psyche ist für Si- mondon keine intra-individuelle Angelegenheit, sondern eine durch Perzepti- on und Affektion aufgestellte Problematik. Perzeption fällt bei Simondon ebenfalls in die Mitte, ist eine Relation von Subjekt und Objekt, hat Anteil am Milieu, das selbst Teil des Seins ist, „individuates by establishing a differential bipolar and intensive field.“44 Affektivität hingegen ist gewissermaßen die Kehrseite der Perzeption, also ein noch nicht individuierter Teil innerer Re- gungen, der das Individuum zur Auseinandersetzung mit dem äußeren Milieu bringt. Das Subjekt enthält dieser Auffassung nach stets einen Anteil am Vor- individiuellen, der es zu sich selbst inkompatibel macht. Diese Problematik kann ohne transindividuelle Relation nicht in eine neue Strukturierung mün- den: Das individuelle Sein allein kann, indem es sich selbst infrage stellt, nicht über die Grenzen der Angst hinaus gelangen, eines Vorgangs ohne Handlung, einer fortwährenden Emotion, die die Affektivität nicht aufzulösen vermag, einer Pro- be, durch die das individuierte Sein seine Dimensionen erkundet, ohne sie über- 40 Ebd. 41 Simondon (2007), Das Individuum, S. 37. 42 Xavier Guchet, „Technology, Sociology, Humanism: Simondon and the Problem of the Human Sciences“, in: SubStance 41, 3 (2012), S. 76-92: 84. 43 Simondon (2013), L’individuation, S. 165. 44 Scott (2014), Gilbert Simondon’s Psychic and Collective Individuation, S. 46. 166 OLIVER LEISTERT schreiten zu können. Dem Kollektiv als einer Axiomatik, die die psychische Problematik löst, entspricht der Begriff des Transindividuellen.45 Die Angst, „l’angoisse“ im Original, verhindert die Lösung von Problemen, denn eine psychische Individualisation ohne kollektive Relation ist mit der erfolglosen Verwandlung affektiver Regungen in ausgleichende Spannungen konfrontiert. Die Blockade, die sich im Subjekt durch Angst einstellt, ergibt sich aus seiner eigenen Teilhabe am Vorindividuellen, dessen notwendige Individuierung für ein singuläres Subjekt unmöglich ist. Die Inkompatibilität des Subjekts mit sich selbst drückt sich im Widerspruch aus, dass das konstitu- ierte Individuum sich selbst destituieren muss, damit der vorindividuelle An- teil am Individuum sich individuieren kann, wie es Igor Krtolica ausdrückt: [I]t would be necessary for the individual to disappear in order for it to arrive. It is therefore insufficient to say that anxiety is the problem of the subject, since the contradiction resides in the impossible attempt to make the subject of individua- tion the pre-individual in its individual being.46 Angst wird ein operativer Widerspruch, der darin besteht, dass das Subjekt auf sich allein gestellt „seine Teilung in prä-individuelle Natur und individuiertes Sein spürt“.47 Angst ist insofern Arretierung der Individuation, Stillstand, aber dennoch eine Erfahrung, die das Subjekt an sich selbst machen kann, jedoch nur allein. Interindividiuelles und Transindividuelles Indem Simondon die Erfahrung der Angst als notwendige Folge eines isolier- ten Individuums beschreibt, macht er eindringlich deutlich, dass das unabhän- gige individuelle Subjekt, wie es der bürgerliche Liberalismus und mit ihm weite Teile der von dieser Tradition geprägten Philosophie als Bedingung set- zen, für ihn ein Fehlschluss ist. Das Subjekt kann es nur geben, weil es stets mehr ist als es selbst. Und dieses Mehr muss, um die Individuation zu ermög- lichen, Resonanz im Anderen, im Kollektiv finden. Das Kollektiv ist das Mili- eu, in dem das Subjekt Perzeption und Affektivität mit sich selbst vereinen kann. Das Kollektiv wiederum individuiert sich durch die darin sich individu- ierenden Subjekte. „What communicate are not subjects between themselves, but regimes of individuation that meet.“48 Simondon unterscheidet ferner zwischen interindividuellen Verhältnissen, die formal sind, und am ehesten als gesellschaftlicher, molarer Verkehr be- schrieben werden könnten, und dem Transindividuellen, das eines Ereignisses 45 Simondon (2007), Das Individuum, S. 38 [Herv. i. O.]. 46 Igor Krtolica, „The Question of Anxiety in Gilbert Simondon“, in: Parrhesia, 7 (2009), S. 68- 80: 69. 47 Simondon (2013), L’individuation, S. 252. 48 Debaise (2012), What Is Relational Thinking?, S. 7. RELATIONEN DER AUFLÖSUNG 167 bedarf, um auf der Ebene der psychisch-kollektiven Individuation – auf mole- kularer Ebene, auf der Ebene von Affekten und Perzeption – ontogenetisch wirken zu können. Ereignis meint kein weltgeschichtliches Ereignis. Vielmehr einen affektiven und perzeptiven Konflikt, die einen Ausgleich suchen. Das Transindividuelle erreicht durch ein Ereignis für den Moment die tendenzielle Suspension des Interindividuellen. Das Kollektive individuiert sich dabei. Das Kollektive ist nicht mit Gesellschaft oder anderen funktionalen Verbindungen zu verwechseln, sondern ist das äußere Milieu der internen Resonanz des In- dividuums. Und mehr noch, das Subjekt desindividuiert sich in der Transindi- viduation, wie Combes schreibt: „transindividual disindividuation is the condi- tion for new individuation.“49 Wichtig für die Darstellung hier ist die Reziprozität der psychischen und kollektiven Individuation, denn sie ermöglichen es, eine Kategorie des Transindividuellen zu definieren [...]. Die psychosoziale Welt des Transindividuellen ist weder das bloße Soziale noch das Interindividuelle. Sie setzt einen echten Individuationsvorgang voraus, der von einer vorindividuellen Wirklichkeit ausgeht. Diese hat an den Individuen teil und ist in der Lage, eine neue Problematik zu konstituieren, die ihre eigene Metasta- bilität hat.50 Das Transindividuelle, die innere Resonanz zwischen Menschen jenseits funk- tionaler und sedimentierter Sozialität, wird verstanden als temporäre, flüchtige Relation, die das äußere Milieu (das Kollektiv) und das innere Milieu (das Psychische) zwingt, einen Ausgleich zu schaffen, der beide strukturiert. Damit verbunden ist notwendig eine Infragestellung des Subjekts, besonders von dessen funktionaler Rolle, die zum Problem wird. Das Auftreten des Transin- dividuellen ist keine Wahl, die das Subjekt kontrollieren kann, es ist aber des- sen Bedingung, denn eine zur Welt und anderen Menschen abgeschlossene Psyche ist nicht lebensfähig. Das Transindividuelle und das Interindividuelle sind zwei Weisen, zwei un- terschiedliche Modalitäten der gegenseitigen Bezug- und Einflussnahme, die in Konflikt kommen können: Als formales Verhältnis zwischen Mitgliedern der Gesellschaft regelt das Interindividuelle den gesellschaftlichen Verkehr. Das Subjekt ist während der Ausführung dieser sozialen Rolle jedoch der Ge- fahr ausgesetzt, dass eine transindividuelle Relation affektiv und perzeptiv das oder die Gegenüber mit ihm in eine Modulation, eine Operation der Umstruk- turierung, geraten lässt, die die soziale Rolle desindividuiert oder destituiert. Die Zersetzung der Struktur der Interindividualität kann somit als eigentlicher Keim der Veränderung gesellschaftlicher Verkehrsverhältnisse und Verhält- nisse im Allgemeinen angesehen werden: In der tendenziellen Auflösung der zugewiesenen Rollen ergreift das Transindividuelle mittels Perzeption und 49 Combes (2013), Gilbert Simondon and the Philosophy of the Transindividual, S. 38. 50 Simondon (2007), Das Individuum, S. 36. 168 OLIVER LEISTERT Affektion das Individuum jenseits von Rationalisierung und Intelligibilität.51 Die psychische Individuation kann nicht allein vonstattengehen, wie die Dis- kussion der Angst gezeigt hat. Es muss eine Relation des inneren Milieus mit dem äußeren zustande kommen, um die Spannung in neue Strukturen zu über- führen. Offen ist hierbei, inwiefern, erstens, eine dauerhafte Restrukturierung durch das Transindividuelle passiert, die, zweitens, einen Durchgriff auf die sozialen Rollen und somit auf das interindividuelle Verhältnis hat. Doch genau in diesen Verhältnissen, zwischen Transindividuellem und Interindividuellem, drückt sich meines Erachtens der Grad der Erneuerbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse von unten aus. Es sind die Beziehungsweisen, wie Bini Adamcz- ak sie in ihrer historisch-soziologischen Studie52 rekonstruiert, die den Fort- schritt oder Zerfall gesellschaftlicher Formationen erklären, und zwar auf molarer, d. h. interindividueller, wie auf molekularer, d. h. transindividueller Ebene. Dabei spielt insbesondere das Zusammenwirken oder die Abschottung von molar und molekular eine herausragende Rolle. Simondon, der von einem neuen Humanismus träumte53 und sein Schaffen ganz in dessen Verwirkli- chung stellte, hat insbesondere durch die Ablehnung der Trennung von Psy- chologie und Soziologie, die er als idealisierte Extreme einer Erforschung der in Wahrheit untrennbaren psychosozialen Individuation begriff, bereits Mitte des 20. Jahrhunderts einen herausragenden Beitrag zu dieser Problematik ge- liefert. Literatur Adamczak, Bini, Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende, Berlin, 2017. Bardin, Andrea, Epistemology and Political Philosophy in Gilbert Simondon: Individ- uation, Technics, Social Systems, Dordrecht, 2015. Combes, Muriel, Gilbert Simondon and the Philosophy of the Transindividual, Cam- bridge, MA, 2013. Debaise, Didier, „What Is Relational Thinking?, in: Inflexions, 5 (2012), S. 1-11. 51 Im Anschluss insbesondere an Félix Guattaris Mikropolitiken des Wunsches hat in jüngster Zeit am prominentesten Brian Massumi die Spur der Vermittlung zwischen molekular und molar, transindividuell und interindividuell herausgearbeitet. Einführend hierzu Brian Mas- sumi, The Principle of Unrest. Activist Philosophy in the Expanded Field, London, 2017 sowie ders., Ontopower. Wars, Powers, and the State of Perception, Durham, London, 2015. 52 Bini Adamczak, Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende, Berlin, 2017. 53 Siehe hierzu u. a. Gilbert Simondon, „The Limits of Human Progress: A Critical Study“, in: Cultural Politics: An International Journal 6, 2 (2010), S. 229-236 sowie ders. (2012), Die Existenzweise, darin den zweiten und dritten Teil, und Guchet (2012), Technology, Sociology, Humanism. RELATIONEN DER AUFLÖSUNG 169 Dupuy, Jean-Pierre, On the Origins of Cognitive Science. The Mechanization of Mind, Cambridge, MA, 2009. Guchet, Xaviar, „Technology, Sociology, Humanism: Simondon and the Problem of the Human Sciences“, in: SubStance 41, 3 (2012), S. 76-92. Hörl, Erich, „Technisches Leben. Simondons Denken des Lebendigen und die allge- meine Ökologie“, in: Maria Muhle/Christian Voss (Hg.), Black Box Leben, Berlin, 2017, S. 239-266. Hui, Yuk, „Simondon et la question de l’information“, in: Cahiers Simondon, 6 (2015), S. 29-46. Krtolica, Igor, „The Question of Anxiety in Gilbert Simondon“, in: Parrhesia, 7 (2009), S. 68-80. Massumi, Brian, Ontopower. Wars, Powers, and the State of Perception, Durham, London, 2015. Ders., The Principle of Unrest. Activist Philosophy in the Expanded Field, London, 2017. Mills, Simon, Gilbert Simondon: Information, Technology, and Media, London, 2016. Ders., „Simondon and Big Data“, in: Platform: Journal of Media and Communication, 6 (2015), S. 59-72. Sauvagnargues, Anne, „Crystals and Membranes: Individuation and Temporality“, in: Arne De Boever/Alex Murray/Jon Roffe/Ashley Woodward (Hg.), Gilbert Simon- don: Being and Technology, Edinburgh, 2012, S. 57-70. Scott, David, Gilbert Simondon’s Psychic and Collective Individuation: A Critical Introduction and Guide, Edinburgh, 2014. Simondon, Gilbert, Die Existenzweise technischer Objekte, übers. v. Michael Cuntz, Zürich, 2012 [frz. OA 1958]. 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