Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14, Heft 26 (1/2022), https://doi.org/10.14361/zfmw-2022-140106, https://orcid.org/0000- 0001-5005-1410. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. E S R A C A N PA L AT IN DEN ARKADEN DER ÜBERSETZUNG — Gedanken zu Autoethnografie, kultureller Identität   und Authentizität «Bitte mehr davon», sagte mir eine Professorin, nachdem sie das erste Ka- pitel meines Promotionsprojekts gelesen hatte. Wir saßen in ihrem sonnen- durchfluteten, weiträumigen Büro. Sie war nicht meine Betreuerin, doch hatte sie sich freundlicherweise dazu bereit erklärt, das kulturwissenschaftliche und historische Einführungskapitel meiner Dissertation gegenzulesen und im An- schluss mit mir darüber zu diskutieren. Ich freute mich über ihre Reaktion, die sich im Grunde auch mit der meiner Betreuerin deckte. Beide brachten ein positives Gefühl zum Ausdruck, das gekoppelt war mit einem Gefühl der Dankbarkeit, das wiederum verbunden war mit einer entschuldigenden Hal- tung. Mir waren diese Reaktionen bereits aus ähnlichen Kontexten bekannt, in denen ich vor einem mehrheitlich weißen deutschen Publikum mein For- schungsvorhaben vorstellen musste, z. B. in Kolloquien. Auch dort wurden mir meist sehr interessierte Fragen über türkische Literatur oder die Türkei im Allgemeinen gestellt, denen direkt eine Entschuldigung folgte: «Wie ist das in der türkischen Literatur? Ich habe leider davon keine Ahnung. Vielleicht können Sie etwas dazu sagen?» Die Wahrheit ist, dass ich diese Fragen oftmals nicht zufriedenstellend be- antworten kann. Mein Wissen über türkische Literaturgeschichte ist begrenzt, mein Fokus liegt auf zeitgenössischer (deutsch-)türkischer Literatur. Mein For- schungsgegenstand sind Istanbul-Romane aus den frühen Nullerjahren. Mich interessieren die dokumentarischen Techniken und Operationen, derer sich die Autor_innen bedienen, um ein transkulturelles, durch verschiedene Kulturen und Identitäten geprägtes Bild von Istanbul zu zeichnen. Da sich die Fragen und Erwartungen im Verlaufe meines Forschungsvorhabens häuften – einmal wurde mir auch nahegelegt, ich solle in meiner Arbeit die gesamte Geschichte der Minderheitenliteratur der Türkei ‹kurz› vorstellen – und ich befürchtete, nicht genug über die historischen Entwicklungen und Hintergründe zu wis- sen, beschloss ich, ein einführendes historisches und kulturwissenschaftliches Kapitel zu verfassen. Ich schrieb vom wachsenden Nationalismus Ende des SCHWERPUNKT 41 ESRA CANPALAT 19. Jahrhunderts, der Republikgründung 1923 und der damit einhergehenden Türkifizierung, Verfolgung und Unterdrückung nichttürkischer Menschen und Kulturen, den Militärputschen von 1960, 1971 und 1980, der türkisch-islami- schen Synthese, der Hinwendung der Gesellschaft zum Neoliberalismus in den 1980er Jahren. Bereits während ich das Kapitel verfasste, entstand in mir ein gewisses Unbe- hagen. Je mehr ich mich in der Verpflichtung sah, nicht nur meinen Leser_in- nen, d. h. den mehrheitlich weißen deutschen Professor_innen der philologischen Fakultät, an der ich angestellt war, sondern auch mir selbst alle Z usammenhänge zu erklären, desto mehr überkam mich das Gefühl, dass das Kapitel unzu- reichend war. Es wurde länger und länger, ich fügte immer mehr historische Fakten und Analysen hinzu, und dennoch wirkte es unvollständig. Zudem verlor ich beim Schreiben den roten Faden, versuchte mir immer wieder ins Gedächt- nis zu rufen, was überhaupt meine Fragestellung war, und fragte mich, inwiefern dieses Einführungskapitel eigentlich relevant für meine These war. Mit einem unguten Gefühl gab ich das Kapitel ab – und erhielt positive Rückmeldung. Nicht nur das: Es wurde sogar nach mehr ‹davon› verlangt. Zufrieden verließ ich also das Büro der Professorin. Doch kurze Zeit später fragte ich mich, was ich da eigentlich machte. Die Unmöglichkeit der eigenen Position  «Was mache ich eigentlich hier?», fragt sich auch Karosh Taha in ihrem gleich- namigen Text und reflektiert, wie Sanaa, die Protagonistin ihres Debütromans Beschreibung einer Krabbenwanderung, erklärt, dass die Menschen im Irak in den Sommernächten auf den flachen Dächern ihrer Häuser schlafen: Als ich das geschrieben habe, schrieb ich für ein deutsches Publikum, das möglicher- weise (!) nicht weiß, dass Menschen im Irak auf dem Dach schlafen und dies auch architektonisch möglich ist. In dem Moment habe ich verraten, für wen ich schreibe, zu wem ich spreche; nämlich zu einem ausschließlich eurozentrischen Publikum, das sich nicht die Mühe macht, herauszufinden, wie die Architektur in Westasien ist.1 Taha schildert hier vor allem den rassistischen und klassistischen deutschen Literaturbetrieb, der die eurozentristische Perspektive als Norm setzt. Statt die 1  Karosh Taha: Was mache ich eigentlich hier? Eine Recht- eigenen Wissensordnungen zu hinterfragen, stellt dieses Publikum an Men- fertigung, Eintrag im Blog der schen, die eine ethnische Gruppe repräsentieren sollen, den Anspruch, das Kulturpolitischen Gesellschaft e. V. #neueRelevanz. Eine Kulturpolitik von diesen hegemonialen Wissensregimen abweichende und als anders mar- der Transformation, 27.1.2021, kupoge. kierte Wissen vermittelt zu bekommen. Ich finde mich im Hinblick auf mein de/blog/2021/01/27/was-mache-ich- eigentlich-hier-eine-rechtfertigung wissenschaftliches Schreiben in Tahas Selbstbeobachtungen wieder. Die nach (23.8.2021). d ominant weißen, nach sexistischen und rassistischen Ordnungsprinzipien funk- 2  Vgl. Reyhan Şahin aka Dr. Bitch Ray: Die Fuckademia. Der Cis tionierenden akademischen Räume und Institutionen werden von Reyhan Şahin Schwanz aus Elfenbein, in: dies.: aka Dr. Bitch Ray als «Fuckademia» bezeichnet.2 Es gibt nach wie vor wenige Yalla, Feminismus!, Stuttgart 2019, 241 – 289. fundierte qualitative wie quantitative Untersuchungen über den Zugang von 42 ZfM 26, 1/2022 IN DEN ARKADEN DER ÜBERSETZUNG Menschen aus den sogenannten bildungsfernen Schichten, Schwarzen, PoC, LGBTIQ+ und be_hin- derten Menschen zum Wissenschaftsbetrieb bzw. den Ausschluss dieser Menschen aus dem System. Die bisherigen Studien zeigen auf, dass Diversität an Universitäten und Forschungseinrichtungen weiterhin ‹Mangelware› ist, die sogenannte d iversity politics, die angeblich der Internationalisierung der Hochschulen dienen soll, oftmals nicht mehr als performative Lippenbekenntnisse und kosmetische Änderungen der vorherrschenden Strukturen sei- tens der Hochschulleitung umfasst und die meis- ten Professor_innen und Dozierenden in ihrer L ehre koloniale Denkmuster perpetuieren und keine antirassistischen und interkulturellen Fähig- keiten zeigen.3 In der «Fuckademia» werde ich als postmigrantische Frau nicht nur aufgrund meiner Herkunft als anders markiert, diese wird auch stets mit meinem Forschungsthema verquickt. Von mir wird eine authentische kulturelle Identität vorausgesetzt und erwartet, Expertin für jegliche türkeispezifischen Themen zu sein. Gleichzeitig wird von mir die Vermittlung, Übersetzung von und der Anschluss dieses Wissens, dieses ‹Mehr davon›, an europäisch-westliche Diskurse erwartet. Doch diese Authentizität wird wiederum in türkischen oder deutsch-türki- schen Kontexten infragestellt. Erst kürzlich wurde ich zu einem Bewerbungs- gespräch für eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einer Forschungs- einrichtung eingeladen, in der zu Themen wie Migration und transnationale Beziehungen geforscht wird. Während des Gesprächs wurde immer wieder meine Expertise in transkultureller Vermittlung angezweifelt: Nachdem für (deutsch-)türkische Kontexte sehr typische, doch sehr private, übergriffige Fra- 3  Vgl. Şahin: Die F uckademia, 256 – 259; vgl. Aylâ Neusel u. a.: gen nach meiner Familie, unserer Migrationsgeschichte und den Herkunftsor- I nternationale Mobilität und Professur. ten meiner Eltern gestellt wurden – als ich «Schwarzmeerküste» sagte, wur- Karriereverläufe und Karrierebedingungen von Internationalen Professorinnen und de wissend genickt –, wurde mir unterstellt, dass ich kein Bewusstsein für die Professoren an Hochschulen in Berlin türkische und deutsch-türkische Community habe, da ich mich im Hinblick und Hessen, Berlin 2014, 96 – 114; vgl. Sara Ahmed: On Being Included. Racism auf meinen Lebenslauf bisher nur in weißen, deutschen akademischen Räumen and Diversity in Institutional Life, bewegt habe. Was hier entsteht, ist ein double bind und die Unmöglichkeit mei- Durham, London 2012, 54 – 58, 66 und 71 – 72; vgl. Emily Ngubia Kuria: ner eigenen Position: Die eine Seite schätzt meine vermeintliche ‹ethnische eingeschrieben. Zeichen setzen gegen Identität›, bringt diese mit meinem Forschungsthema in Zusammenhang und Rassismus an deutschen Hochschulen, Berlin 2015; vgl. Aretha Schwarzbach- erwartet kulturelle Übersetzungsarbeit von mir, denn schließlich kann ich mich Apithy: Interkulturalität und anti- nur als ‹Türkin› ausschließlich mit Themen der kulturellen Identität befassen rassistische Weis(s)heiten an Berliner Universitäten, in: Maureen und bin automatisch Expertin. Die andere Seite wiederum kreidet mir an, nicht Maisha Eggers u. a. (Hg.): Mythen, a uthentisch, in meinem Fall also nicht türkisch genug zu sein und deswegen Masken und Subjekte. Kritische Weiß- seinsforschung in Deutschland, Münster auch keine Fachkenntnis zu besitzen. 2005, 247 – 261. SCHWERPUNKT 43 ESRA CANPALAT Die Vermittlungsarbeit, die ich mit meinem Einführungskapitel geleistet habe, sowie das Bewerbungsgespräch haben mich zum Nachdenken darüber ge- bracht, was kulturelle Vermittlung tut, für wen sie überhaupt gedacht ist und wie alternative, fluidere und transparentere Wege der kulturellen Übersetzung aussehen könnten, die über reduktive Konzepte von Ost und West, Original und Übersetzung, Treue und Verrat hinausgehen. Mit Bezug auf Rey Chows Über- legungen in Film as Ethnography; or: Translation Between Cultures in the Postcolonial World 4 möchte ich Fragen von kultureller Identität, Originalität und Authentizi- tät nachgehen. Die Autoethnografie entstand im Zuge der postmodernistischen Erkenntnis, dass epistemologische Forschungspraktiken und -methoden nicht universell sind, sondern stets abhängig von der persönlichen Perspektive, dem Vokabular der Forschenden und den von ihnen aufgestellten Paradigmen. Diese auf Selbstreflexion und Kritik an kanonischen Vorstellungen von Forschung zie- lende Praxis wird in verschiedenen Disziplinen angewandt.5 Ich möchte im Fol- genden die in dieser Methodik angewandte kritische Selbstreflexivität erweitern, indem ich sie mit Fragen der Übersetzung zusammendenke. Damit möchte ich auf die Verklammerung von Subjektivierung, der Wahrnehmung von Autor_in- nen und der Wahrnehmung des eigenen Blickens und Angeblickt- / Gelesen- Werdens hinweisen, da diese die Episteme betreffen, in denen meine wissen- schaftliche Arbeit häufig gerahmt und verstanden wird.6 Blicken, Angeblickt-Werden und das Zu-viel-Wissen   des Angeblickt-Werdens 4  Rey Chow: Film as Ethnography; Chow plädiert für eine Neudefinition der Ethnografie. Ihr zufolge sind kulturelle or, Translation Between Cultures Übersetzungen immer verstrickt in koloniale Machtmechanismen: «[W]e cannot in the Postcolonial World, in: dies.: The Rey Chow Reader, hg. v. Paul write / think / talk the non-West in the academy without in some sense anthropol- Bowman, New York, Chichester (UK) ogizing it, and yet anthropology and ethnography, atrophied in their epistemo- 2010, 148 – 170. 5  Vgl. Carolyn Ellis, Tony E. logical foundations, remain ‹very much still a one-way street›».7 Chow bezieht Adams, Arthur P. Bochner: Auto- sich hier auf die frühen Filme des chinesischen Regisseurs Zhang Yimou, die von ethnografie, in: Günter Mey, Katja Mruck (Hg.): Handbuch Qualitative einem westlichen Publikum für ihre Darstellung chinesischer Tradition und Kul- Forschung in der Psychologie, Wies- tur gefeiert werden, während sie von chinesischer bzw. nicht-westlicher Seite als baden 2010, 345 – 357, hier 345. 6  Ich möchte mich an dieser Exotisierung Asiens und als Ausdruck des Fortschreitens eines westlichen Impe- Stelle herzlich bei Julia Bee bedan- rialismus gesehen werden. Sie distanziert sich von diesem defensiven Nativismus ken, die mir durch ihr Peer-Review sehr dabei geholfen hat, meine von nicht-westlicher Seite, da dieser mit seinen ethnozentrischen Ansprüchen Fragestellungen zu präzisieren. auf Übersetzungstreue, die nur ein bestimmtes Original valorisieren, ebenfalls 7  Chow: Film as Ethnography, hier 150. hierarchisierend verfährt und in seinem Versuch, eine traditionelle Ästhetik und 8  Vgl. ebd., 151. ethnische Kultur zu bewahren, eine Komplizität mit jenen von ihm kritisierten 9  Den Begriff der «to-be-looked- at-ness» übernimmt Chow von hegemonialen Machstrukturen aufweist.8 Den Ausweg aus dieser Sackgasse sieht Laura Mulvey. Vgl. Laura Mulvey: Chow in dem Zugeständnis, dass die Ethnografie ihre Ursprünge in einer höchst Visual Pleasure and Narrative Cinema, in: Bill Nichols: Movies and subjektiven Perspektivierung hat. Sie wird auch von jenen praktiziert, die vor- Methods, Berkeley, Los Angeles 1985, mals ethnografiert worden sind. Diese Subjektivität ist, so Chow, stark verbunden 303 – 315. Vgl. auch Chow: Film as Ethnography, 152 f. mit einer «to-be-looked-at-ness».9 Das bedeutet, dass das ‹Angesehen-Werden› 44 ZfM 26, 1/2022 IN DEN ARKADEN DER ÜBERSETZUNG immer auch der Art, wie wir betrachten, inhärent ist. Es ist nicht nur Teil dessen, wie der Westen auf nicht-westliche Kulturen blickt, sondern auch «part of the active manner in which cultures represent – ethnographize – themselves».10 Die Erfahrung des ‹Angesehen-Werdens› hat sich unbewusst in die vormals ethno- grafierten Körper eingeschrieben, setzt ihre unwider rufliche Kontinuität fort und konstituiert, vielmehr als der Akt des Blickens selbst, «the primary event in cross- cultural representation».11 Als Tochter eines Gastarbeiters ist mir die Erfahrung des Angesehen-Wer- dens nicht unbekannt. Ich kenne die Blicke in institutionellen, öffentlichen, aber auch privaten Räumen, die diskriminierende und verletzende Fragen mit sich bringen. Die Kategorien, in die sie mich und meine vermeintliche Her- kunft einordnen, erscheinen zuweilen beliebig: Mal werde ich aufgrund mei- ner dunklen Kopf- und Körperbehaarung als ‹orientalisch› gelesen, mal wird mir aufgrund meiner hohen Wangenknochen und meiner blauen Augen eine osteuropäische Herkunft attestiert. Blicke und Worte sind rassifizierend, stig- matisierend, sie ergreifen Besitz von Körpern von PoC, Schwarzen, rassifi- zierten, migrantisierten, queeren und be_hinderten Menschen und verzerren die Selbstwahrnehmung von Marginalisierten. Ihre Körper werden von einem weißen Blick in Anspruch genommen.12 An dieser Stelle ist es mir aber auch wichtig zu betonen, dass ich als Person mit heller Haut in einem rassistischen System Privilegien besitze, die eine von Colorism betroffene Person nicht be- sitzt, und dass rassistische Denkmuster sich nicht nur in mehrheitlich weißen Räumen, sondern auch in (post-)migrantischen Communities wiederfinden. Ich denke besonders auch an die rassistischen Ressentiments gegenüber Schwar- zen und Menschen mit dunklerer Hautfarbe innerhalb türkischer Communities in Deutschland, die oftmals auch mit Rassismen gegenüber Kurd_innen, Alevit_innen und auch Geflüchteten in Zusammenhang stehen und bei denen es sich letztlich um die Perpetuierung und Kontinuität von Vorstellungen von race und Weißsein handelt, die konstitutiv für die Konzeption einer türkischen Identität sind.13 Auch als weiblich gelesene Cis-Frau kann ich mich in gesell- schaftlichen Räumen freier bewegen, als es eine non-binäre Person oder eine Person, die queere Ästhetiken auslebt, tun kann.14 Das Gefühl des Unbehagens und der Zwiespältigkeit spüre ich insbesondere in Bezug auf mein Forschungsthema. Es ist mir ein Bedürfnis, mich mit tür- kischer Kultur und Fragen der kulturellen Identität auseinanderzusetzen. Mich 10  Chow: Film as Ethnography, faszinieren Phänomene, Ästhetiken und Praktiken, die ich seit meiner Kindheit 153. 11  Ebd. kenne. Gleichzeitig begleitet mich stets das Gefühl einer Scham: Ich schäme 12  Vgl. Hengameh Y aghoobifarah: mich, weil dies genau die Themen und Ästhetiken sind, für die ich mich als He- Blicke, in: Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah (Hg.): ranwachsende geschämt habe und von denen ich mich lange Zeit distanziert Eure Heimat ist unser Albtraum, Berlin habe, weil ich z. B. in der Schule nicht ausgeschlossen werden wollte von einer 2019, 69 – 81, hier 71. 13  Vgl. Murat Ergin: Is the Turk a Dominanzgesellschaft, die mich ohnehin exotisierte und zu einem ethnografi- White Man? Race and Modernity in the schen Studienobjekt machte. Nun mache ich diese vormals schambehafteten Making of Turkish Identity, Leiden, Boston 2017. Themen und Ästhetiken zu meinem Forschungsobjekt, operiere mit demselben 14  Vgl. Yaghoobifarah: Blicke, 69 f. SCHWERPUNKT 45 ESRA CANPALAT westlichen Blick und profitiere in akademischen Räumen gewissermaßen davon. Und ich fürchte mich vor der nativistischen Kritik, die mir einen ver- innerlichten Orientalismus unterstellt und mir vor- wirft, nicht authentisch zu sein. Gleichzeitig weiß ich aber auch, dass dieses ‹Angesehen-Werden› und das Wissen darum stets Teil meines Blickes auf das ist, was ich als meine Herkunft begreife. Ähnlich beschreibt es auch Meltem Ahıska in ihrer Unter- suchung zu Modernität und nationaler Identität in der Türkei. Ahıska spricht im Zusammenhang mit der Konstitution einer türkischen Identität auch von einer «Occidental fantasy»,15 die sie mit psychoanaly- tischen Überlegungen Slavoj Žižeks zur Subjekti- vierung in Verbindung bringt. Okzidentalismus be- greift Ahıska als eine ambige performative Praxis, als ein gleichzeitiges Wissen und Nicht-Wissen einer performten okzidentalen Subjektivierung und damit auch als ein Zu-viel-Wissen. Um eine konsistente Realität aufrechtzuerhalten, in der eine okzidentale Subjektivierung funktioniert, muss aber vorgegeben werden, dieses Zu-viel-Wissen nicht zu wissen.16 Demnach ist der Blick des Westens und das Wissen bzw. Zu-viel-Wissen einer unter den Augen des Westens konzipierten und performten okzidentalen Sub- jektivierung bereits dem eigenen Sehen eingeschrieben: The intertwined histories of the West and the non-West bear on particular cultur- al characteristics; that is to say, what is considered genuinely belonging to Turkish culture was already re-shaped by Western modalities of thinking and acting through Westernisation, before it appeared as an object of analysis in modern theory.17 Der Fokus auf diese Visualität ist es aber, der laut Chow die operationale Prämis- se der klassischen Anthropologie stört. Die Kritik einer «behaupteten Passivität 15  Ahıska, Meltem: Occidentalism in Turkey. Questions of Modernity nicht-westlicher Kulturen im Prozess der globalen Europäisierung»18 bringt sie and National Identity in Turkish Broad- in Zusammenhang mit Überlegungen Gianni Vattimos zur Dekonstruktion einer casting, London, New York 2010, 3. 16  Vgl. ebd., 50 – 52. strikten Unterscheidung zwischen einem ‹Wir› und ‹den Anderen›. Vattimo zu- 17  Ebd., 35. folge hätten jene ‹anderen› Kulturen ihre eigenen Zugänge und Wege der Über- 18  Andrea Riemenschnitter: Fliehende Objekte: Rey Chows setzung in die westliche Welt und Bildung gefunden. Das ‹Andere› ist somit nicht Beiträge zur postkolonialen Theorie, ein idealisiertes Originäres, das wiederentdeckt oder -erweckt werden muss, in: Asiatische Studien / Études Asiatiques, Bd. 70, Nr. 1, 2016, 89 – 118, hier 112. sondern ist bereits gegenwärtig. Diese Ko-Präsenz einer Vielfalt der Kulturen 19  Vgl. Chow: Film as Ethno- ist aber nicht im Sinne einer Harmonie zu verstehen, sondern als ein Weich- graphy, 166. Vgl. auch Gianni Vattimo: Humanwissenschaften und und Anfälligmachen der realen Welt, nicht zuletzt auch durch die massenmedia- Kommunikationsgesellschaft, in: le Vermittlung von Wissensformen.19 Die Behauptung einer passiven Akzeptanz ders.: Die transparente Gesellschaft, Wien 2011, 25 – 44. der westlichen Dominanzkultur seitens nichtwestlicher Kulturen übersehe, so 46 ZfM 26, 1/2022 IN DEN ARKADEN DER ÜBERSETZUNG Andrea Riemenschnitter, «die generelle Schwächung des Realitätsbegriffs, welche zuletzt aus der massen- kulturellen Öffnung so gut wie aller vormals lokal begrenzten exegetischen Räume resultiert».20 Die Übersetzung als Passage Diese fluideren und transparenteren Übergangs- und Kontaktzonen sind für Chow die «Vorausset- zung des kulturellen Überlebens» in einer post- kolonialen, durch Gewalt und Verlust geprägten Welt.21 Wie aber mit dem bisher unter ethnogra- fischen und anthropologischen Disziplinen ange- sammelten kulturellen Wissen umgehen? Wie die Residuen der Vergangenheit in diesen Übergangs- zonen analysieren? Die Lösung sieht Chow in einer Ergänzung der Ethnografie durch eine Theorie der Übersetzung. In Walter Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers 22 findet Chow ein Potenzial, die in Dis- kussionen über kulturelle Übersetzung angebrach- te Binarität von Original und Übersetzung aufzu- brechen. Benjamin zufolge ist es die Aufgabe von Übersetzer_innen, nicht den Informationsgehalt eines Originals zu übermit- teln, sondern die «Art des Meinens».23 Diesen Akt versteht er als «große Sehn- sucht der Sprachergänzung».24 Er verweist auf den materialistischen, aber auch schwer fassbaren Aspekt einer Übersetzung und versteht sie als einen Prozess des Zusammenstellens, der aufzeigt, dass auch das Original zusammengestellt ist. Hier geht es nicht um dekonstruktivistische Überlegungen zur différance der Sprachen, sondern um das, was Benjamin als «Wörtlichkeit» bezeichnet: 25 Was aus einem Original übersetzt werden muss, ist nicht eine wahre Bedeu- tung, sondern vielmehr die Art, wie dieses aus den Grundelementen einer jeden Sprache zusammengesetzt worden ist, nämlich den Wörtern. Diese Konzen- tration auf Wörtlichkeit sei es, die eine «reine Sprache» zutage fördere, die 20  Riemenschnitter: Fliehende in der fremden Sprache verborgen sei und die es «in der eigenen [Sprache] Objekte, 113. 21  Ebd. zu erlösen» gelte.26 Dieses Entbergen der reinen Sprache durch eine in der 22  Walter Benjamin: Die Auf- Übersetzung erfolgende Zulässigkeit macht Chow an der Übersetzungsarbeit gabe des Übersetzers, in: ders.: Ge sammelte Schriften, Bd. IV / 1: Kleine Harry Zohns deutlich: Zohn übersetzt Benjamins ‹Wörtlichkeit› ins Englische Prosa. Baudelaire-Übertragungen, mit literal oder literalness. Auch wenn hierdurch keine exakte Übersetzung des hg. v. Tilmann Rexroth, Frankfurt / M. 1991, 10 – 21. Wortes erfolge – eine wortwörtliche Übersetzung wäre Chow zufolge so e twas 23  Ebd., 14. wie «‹word-by-word-ness›»27 –, ergänze Zohns Übersetzung Benjamins Art 24  Ebd., 18. 25  Ebd., 15. des Meinens, denn im Englischen könne literal nicht nur ‹wortwörtlich› mei- 26  Ebd., 19. nen, sondern auch «a certain lack – in the sense of that which is matter-of-fact, 27  Chow: Film as Ethnography, 157. without imagination, without metaphor, without depth».28 Diese Bedeutung 28  Ebd. SCHWERPUNKT 47 ESRA CANPALAT von literalness im Sinne eines Supplements, das der Übersetzung, jedoch nicht dem Original innewohnt, hebt Chow zufolge genau das hervor, was Benjamin mit Wörtlichkeit meine: «[A] real translation is not only that which translates word by word but also that which translates literally, depthlessly, naively».29 Für Chow ist Wörtlichkeit also das Offensichtliche, das Vordergründige, das, was sich unmittelbar im Signifizieren präsentiert. Durch Zohns Übersetzung, so Chow, werde dem Original etwas hinzugefügt, das hinter ihm lauere. Aufgabe der Übersetzer_innen sei es, dieses Supplement durchscheinen zu lassen, oder wie Benjamin schreibt: Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht, sondern läßt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Medium, nur um so voller aufs Original fallen. Das vermag vor allem Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax und gerade sie erweist das Wort, nicht den Satz als das Urelement des Übersetzers. Denn der Satz ist die Mauer vor der Sprache des Originals, Wörtlichkeit die Arkade.30 Chow begreift Benjamins Übersetzungstheorie als anti-ethnozentrische Be- wegung, weil er die Beziehung zwischen Original und Übersetzung als rezi- prokes Verhältnis versteht, als «Scherben eines Gefäßes», die sich, «um sich zusammenfügen zu lassen, in den kleinsten Einzelheiten einander zu folgen, doch nicht so zu gleichen haben».31 Die Übersetzung müsse «liebend vielmehr und bis ins Einzelne hinein dessen Art des Meinens in der eigenen Sprache sich anbilden, um so beide wie Scherben als Bruchstücke eines Gefäßes, als Bruch- stück einer größeren Sprache erkennbar zu machen».32 In diesem Zusammen- hang spricht Chow auch von einem Affizieren der eigenen Sprache durch eine andere: Für gewöhnlich erfolgten Übersetzungen in dem Wunsch, das Fremde mehr nach dem Eigenen klingen zu lassen, weil davon ausgegangen werde, dass das Native auch das Original sei, «whereas translation is a process in which the ‹native› should let the foreign affect, or infect, itself, and vice versa».33 Kulturel- le Übersetzungsarbeit ist demnach nur dann möglich, wenn wir über reduktive Konzepte von ‹Ost und West› oder ‹Original und Übersetzung› hinausgehen, wenn wir begreifen, dass eine Simultanität von Kulturen herrscht, wenn wir die vollkommene und wechselseitige Kontamination und Affizierung der Welt durch eine Ko-Temporalität und Ko-Präsenz begreifen. Die Reziprozität des Akts der Übersetzung, der die strikte Distinktion von Original und Übertra- gung aufhebt, ist es, die die Wörtlichkeit einer Sprache, ihre Zusammenge- setztheit aus Wörtern, deutlich macht. Die Übersetzung verweist auf diese Wörtlichkeit, wird zu einer Ergänzung, die affizierend und infizierend das Ori- 29  Ebd. ginal übertragbar und zugänglich werden lässt. 30  Benjamin: Die Aufgabe Chows Ausführungen zur kulturellen Übersetzung haben mir geholfen, des Übersetzers, 18. 31  Ebd. mein zu Beginn beschriebenes Unbehagen besser zu verstehen. Meine Angst 32  Ebd. liegt in dem Vorwurf begründet, dass meinen Texten bzw. meinen Überset- 33  Chow: Film as Ethnography, 160. zungen die Tiefe fehlt, dass meine Perspektive eine zu offensichtliche, eine zu 48 ZfM 26, 1/2022 IN DEN ARKADEN DER ÜBERSETZUNG — — Das Ich ist ja auch ein Knotenpunkt von Blick- Wie sehr kann / will man sich also selbst in sei- und sozialen Beziehungen und nicht einfach nem Text preisgeben? So verlange ich ebenfalls eine authentische Person, die lediglich vermit- «mehr davon». Nicht etwa vom wissenschaft- telt wird. Sie ist sozusagen selbst ‹in der Über- lichen Selbstverrat, den ein_e Akademiker_in setzung›. Dies könnte man noch stärker an wie Canpalat empfinden muss, wenn er_sie die Methode der Autoethnografie herantragen der Dominanzgesellschaft gerecht schreibt, und mehr entfalten. sondern mehr von einem selbstbestimmten und JULIA BEE treulosen Schreiben, aber auch mehr von der persönlichen Faszination, die das Herkunfts- land bei so vielen postmigrantischen Subjekten auslöst, sodass immer noch das Risiko auf sich genommen wird, als ethnisch-authentische Forscher_innen tokenisiert zu werden. SEMA ÇAKMAK naive ist. Es ist aber die kulturell hybride Zwischenposition, aus der heraus ich schreibe, die eine ergänzende Perspektive zum Original darstellt und die be- stimmte Themen durchlässig und verständlich macht. Ich kann und möchte aus dieser Position heraus nicht das Original eins zu eins nach der Sprache meiner deutschen oder (deutsch-)türkischen Leser_innenschaft klingen lassen, denn was die eine Seite mit ihrer Bitte nach einem ‹Mehr davon› und die andere Seite mit ihrem Anspruch an Treue verlangt, ist eine Übersetzungsarbeit, die im Benjamin’schen Sinne die Scherben eine nach der anderen zu einem Gefäß zusammensetzen soll, ohne zu begreifen, dass die Zusammensetzung überhaupt erst durch diese Bruchstücke entsteht, d. h., dass Sprache selbst aus einzelnen Wortelementen zusammengesetzt ist. Eine Übersetzung kann demnach keine wahre Bedeutung nachbilden, sondern verweist auf die Zusammengesetztheit des Originals. Diesem Verlangen nach Originalität, die mit mir als Person und mit meiner Identität verquickt wird, kann ich aber nicht gerecht werden, weil diese in einer durchlässigen Welt der wechselseitigen kulturellen Beeinflussung überhaupt nicht existent ist. So konnte ich auch nicht den Ansprüchen des Mitarbeiters der Forschungs- einrichtung, an der ich arbeiten wollte, gerecht werden. Während des Bewer- bungsgesprächs sagte er, es sei ungewöhnlich für eine aus einer migrantischen Familie stammende Person, ein Fach wie Literaturwissenschaft studiert zu haben, da die meisten migrantischen Eltern wollten, dass ihre Kinder etwas ‹Vernünftiges› studieren, um später finanziell besser aufgestellt zu sein. Es spielte keine Rolle, dass meine Familie aus der Türkei nach Deutschland mi- griert war, dass mein Vater Gastarbeiter war und hart gearbeitet hatte, um mir SCHWERPUNKT 49 ESRA CANPALAT und meinen Schwestern überhaupt ein Studium zu ermöglichen: Mein Lebens- lauf passte nicht in das Raster, ich war nach Auffassung des Mitarbeiters keine authentische postmigrantische Person. Meine bisherigen Tätigkeiten wurden belächelt, als nicht aussagekräftig wahrgenommen, weil mir tatsächlich vorge- worfen wurde, dass ich mich bisher nur in Räumen bewegt hätte, die mehrheit- lich weiß und deutsch seien. Dies betonte der Mitarbeiter auch mehrmals wäh- rend des Telefonats, das wir am Tag nach dem Bewerbungsgespräch führten. Er hatte zwar mein Dissertationsprojekt nicht gelesen, aber ich frage mich, ob er mir nach der Lektüre möglicherweise auch vorgeworfen hätte, dass ich für ein mehrheitlich deutsches Publikum schreibe, dem ich einen falschen Einblick in türkische Kultur gebe. Was diese Person aber gelesen hatte, waren meine literarischen und feuilletonistischen Texte, die durch eine schnelle Internetre- cherche zu finden sind. Über meine Rezension in einem Online-Feuilleton zu Can Dündars Lebenslang für die Wahrheit sagte der Mitarbeiter, dass Dündar, der wegen seiner journalistischen Tätigkeiten in Haft musste und auf den vor dem Gerichtsgebäude in Istanbul geschossen wurde, von seinem Dissidenten- dasein in Deutschland profitieren würde. Hier greift im Grunde genommen auch wieder dieselbe verquere Logik einer verräterischen und veruntreuenden Repräsentation türkischer Kultur: Dündars Kritik an der türkischen Politik und seine Darstellung der Türkei macht ihn zu einem vatan haini, einem Vater- landsverräter, und einem Agenten des Westens. Treulos schreiben Chow verdeutlicht die Übertragbarkeit und Durchlässigkeit von kulturellen Übersetzungen mit dem von Benjamin übernommenen Sinnbild der Arkade. Bei all dem Unbehagen, das z. B. das chinesische Publikum beim Schauen der Repräsentationen chinesischer Kultur in den filmischen Übersetzungen Zhang Yimous empfindet, ermöglichen diese Bilder, die eigene Kultur quasi von außen wie einen fremden Körper zu betrachten und zu sehen, «mit welcher kulturel- len Gewalt soziale Ordnung aufrechterhalten wurde» – in Chows Beispiel also die in den Filmen Yimous gezeigten dehumanisierenden Rituale eines feudalen Chinas –, «und auch, wie die Wörtlichkeit populärkultureller Überlieferung die kommerzielle Passage zu etwas anderem schafft, indem sie das Frühere in seiner Primitivität zur Schau stellt».34 Die filmische Übertragung ist es aber auch, die ironischerweise das Original – die Tradition, das Ethnische oder A uthentische –, das als Erbe von kommenden Generationen weitergetragen werden soll, in- fragestellt. Chow betont zudem den massenkulturellen Aspekt der Arkade: Das Licht und die Transparenz, die durch die Übersetzung ermöglicht würden, sei- en auch als eine kommerzielle Passage zu verstehen. Chow verfolgt damit eine 34  Riemenschnitter: Fliehende profanere Lesart von Benjamins (post-)messianischem Ideal einer Übersetzung: Objekte, 113. Die Arkaden seien ausgestellt mit «exhibits of modernity’s ‹primitives›»,35 die 35  Chow: Film as Ethnography, 170. wie Schaufensterpuppen in den Passagenwegen der Kulturen stünden. Dieses 50 ZfM 26, 1/2022 IN DEN ARKADEN DER ÜBERSETZUNG hinter diesen Schaufenstern stehende Frühere, diese «fabulous, brilliant forms of these primitives»36 sind es, durch die wir hindurchblicken müssen. Wir müs- sen «das kulturelle Flickwerk von Passagen» durchschreiten, «deren Ursprün- ge durch die Schaufenster der modernen massenkulturellen Arkaden nicht we- niger sichtbar seien als in den kanonischen Texten kultureller Eliten».37 Was uns in diesen Passagen erwartet, ist nicht die Wahrheit einer westlichen oder einer vormodernen Kultur, sondern «the weakened foundations of Western metaphysics as well as the disintegrated bases of Eastern traditions».38 Wahr- heitsansprüche von Okzident und Orient müssen überwunden, über (post-) kolonialistische Deutungs- und Blickhoheiten muss hinausgesehen werden, um die Einzelteile im kulturellen Flickwerk als solche zu sehen. Was Menschen finden werden, wenn sie mich anblicken, ist kein authenti- sches ethnisches Subjekt. Was sie finden werden, wenn sie meine Texte lesen, ist nicht die Vermittlung eines ‹Mehr davon›, in meinem Fall also der gesam- ten türkischen Literaturgeschichte und ihrer historischen Kontexte. Denn d iese eine originäre kulturelle Identität existiert nicht in einer durchlässig geworde- nen Welt, in einer Welt der Simultanität der Kulturen, genauso wenig wie es die türkische Geschichte, die türkische Identität oder die türkische Literatur gibt. Das verstand ich, als mir meine derzeitige Betreuerin nach der Lektüre des Ein- führungskapitels sagte, dass dieses überhaupt nicht notwendig sei. Ich solle auf historische Zusammenhänge lediglich hinweisen, wenn diese im Rahmen der Analyse meines Gegenstands von Relevanz seien. Ich verstand, dass ich nicht, noch bevor ich überhaupt zu meinem eigentlichen Forschungsgegenstand und meiner These komme, eine Erklärung für eine deutsche Leser_innenschaft ab- liefern muss, die sich bisher wenig mit ihren eigenen blinden Flecken beschäf- tigt hat, genauso wie ich auch nicht einer türkischen Leser_innenschaft beweisen muss, dass ich wirklich alles über die türkische Geschichte, Kultur und Literatur weiß, damit ich die Berechtigung habe, über die von mir präferierten Themen zu forschen. Es ist nicht meine Aufgabe, die Erklärerin zu spielen, «[i]nsbeson- dere wenn es sich um Themen handelt, von denen gängige Mitglieder der white Science-Community keine Ahnung haben», um «der Mehrheitsgesellschaft be- stimmte Themen näherzubringen»39 – einer Gesellschaft, die ganz gleich, was ich tue, sage oder schreibe, mich einordnet, wie es ihr beliebt. Es ist auch nicht meine Aufgabe, mich vor Vertreter_innen einer (deutsch-)türkischen Communi- ty zu rechtfertigen, die mit Aussagen, denen zufolge ich überhaupt nicht türkisch aussehe, mich nicht türkisch verhalte oder nicht türkisch genug bin, problemati- sche und willkürliche Zuordnungen und Kategorien reproduzieren. Das Einzige, was mir das Verfassen des Einführungskapitels und das unan- genehme Bewerbungsgespräch gebracht haben, war die Möglichkeit, im Nach- gang die Prozesse und Dynamiken eines passing-on von kulturellem Wissen wie 36  Ebd. 37  Riemenschnitter: Fliehende einen Fremdkörper von außen zu betrachten. Diese Erlebnisse gaben mir auch Objekte, 113. die Möglichkeit, mich von der Kritik, ich würde mit dieser kulturellen Ver- 38  Chow: Film as Ethnography, 170. mittlungsarbeit einen ethnografischen Blick reproduzieren, zu distanzieren. Sie 39  Şahin: Die Fuckademia, 259. SCHWERPUNKT 51 ESRA CANPALAT halfen mir zu verstehen, dass man als Mensch, der sich in den Kontaktzonen der Kulturen befindet, immer wie in einem Schaufenster steht, das von allen Seiten betrachtet werden kann, und dass die Arbeit, die in diesen Kontaktzonen entsteht, entweder als interessant oder als falsch, als originell oder als kommo- difiziert bewertet werden wird. Ich frage mich, ob es ein Zufall ist, dass ich mich unter anderem für das Werk von Autor_innen wie Orhan Pamuk und Elif Shafak interessiere, denen ähnliche Vorwürfe gemacht werden. So wurde der Literatur- nobelpreisträger Pamuk beschuldigt, ein Orientalist zu sein, weil er in seinen Texten mit den Augen des Westens auf Istanbul blicke und somit die türkische Kultur als minderwertig darstellen würde.40 Shafak hingegen wurde Verrat vor- geworfen, weil sie einige ihrer Romane in englischer Sprache geschrieben habe, um einem westlichen Publikum zu gefallen.41 Beiden Autor_innen wurde zudem angekreidet, sich zu kritisch über die Türkei zu äußern, was nicht zuletzt auch dazu führte, dass sie nach Paragraf 301 des Türkischen Strafgesetzbuchs wegen Beleidigung des Türk_innentums angeklagt wurden.42 Es sind die kulturellen Übersetzungsarbeiten dieser Autor_innen, die einerseits von einer internatio- nalen Leser_innenschaft gefeiert werden, die andererseits oftmals wegen der an- geblichen Reproduktion eines internalisierten Orientalismus kritisiert werden. Auch ihre international renommierten literarischen Werke werden als Artefakte gesehen, die in den massenmedialen und kommerziellen Auslagen stehen, als Blendwerke, die einem ausländischen Publikum einen falschen, oberflächlichen 40  Vgl. Hilmi Yavuz: Oryantalizm Eindruck von türkischer Kultur und Identität vermitteln. Doch ist es, will man ve Aydınlar, in: Hece Dergisi Özel Sayıları: Mondernizmden Postmoder- Chows Überlegungen folgen, diese fehlende Tiefe in der Übersetzung, also das nizme, Bd. 12, Nr. 138 – 140, 2008, die Bedeutung oder Sinnhaftigkeit eines Wortes Ergänzende, was Themen und 641 – 642, hier 641 f. 41  Vgl. Hasnain Kazim: Elif Inhalte überhaupt übertragbar und damit auch zugänglich macht.43 Shafak über die Türkei: «Wir sind Taha wagt in ihrem Essay, den sie mit «Eine Rechtfertigung» untertitelt, ein ein wütendes Volk geworden», in: Spiegel Online, 16.9.2016, spiegel.de/ Gedankenexperiment. Sie schreibt: kultur/gesellschaft/elif-shafak-ueber-die- tuerkei-wir-sind-ein-wuetendes-volk- geworden-a-1112099.html (27.9.2021). Stell dir vor, du schreibst nicht für ein deutsches Publikum, sondern du schreibst. Ralph J. Poole zufolge hat die Wie würdest du schreiben? Stell dir vor, niemand wird deinen Text lesen, stell dir Autorin die linguistische Adaption vor, du bist die einzige Person, die den Text lesen würde, würdest du immer noch ihres Nachnamens ins amerikani- deinen Text dir selbst erklären?44 sierte ‹Shafak› bewusst gewählt, weil ihre Bücher so besser auf dem englischsprachigen Buchmarkt Es ist ein Gedankenexperiment, das in meinem Fall allein schon deswegen nicht verkauft werden könnten. Vgl. Ralph umsetzbar ist, weil meine Dissertation (im besten Fall) gelesen wird, denn sie J. Poole: Bastardized History: Elif Şafak’s Transcultural Poetics, in: muss bewertet werden, und um bewertet werden zu können, müssen meine REAL. Yearbook of Research in English Thesen intersubjektiv schlüssig und verständlich sein. Doch ist diese Vorstellung and American Literature, Bd. 26, 2010, 213 – 230, hier 222. insofern erkenntnisfördernd, weil sie mich von einem Rechtfertigungszwang 42  Erst kürzlich wurde Pamuk befreit. Ich möchte in Zukunft so schreiben, dass ich weder einer weißen deut- erneut wegen der angeblichen Bel eidigung des Staatsgründers schen noch einer (deutsch-)türkischen Leser_innenschaft noch mir selbst Mustafa Kemal in seinem Roman Zusammenhänge erkläre, nur um einer spezifischen Vorstellung einer kulturel- Veba Geceleri angeklagt. 43  Vgl. Chow: Film as Ethnogra- len Identität zu entsprechen, der ich ohnehin nicht gerecht werden kann, weil phy, 168. diese in einer von Widersprüchen und Fluiditäten geprägten Gegenwart schon 44  Taha: Was mache ich eigentlich hier? lange nicht mehr zeitgemäß ist. In den Arkaden der Übersetzung muss einem 52 ZfM 26, 1/2022 IN DEN ARKADEN DER ÜBERSETZUNG vermeintlichen ‹Wir› nicht ein ‹Anderes› erklärt werden, indem es so übersetzt wird, dass es der eigenen Sprache gleicht. In den Arkaden der Übersetzung fin- den wir keine Wahrheit einer westlichen oder nicht-westlichen Kultur, sondern eine reziproke Dynamik der Kulturen, die Möglichkeit einer interlinearen Ver- sion der Anthropologie,45 in der eine ‹Dritte Welt› schon längst nicht mehr das passive Objekt ist und in der sich der Westen auch selbst in den Blicken, Arbei- ten und Medien der vermeintlich ‹Anderen› gespiegelt sieht. In den Arkaden der Übersetzung stehen Kulturen zwar wie in Schaufensterauslagen, aber wir können auch durch das Glas hindurchsehen: Wir können sehen und verstehen, wie eine Sprache, wie eine Kultur zusammengesetzt ist, aus welchen Grundele- menten und Bestandteilen sie besteht, wir können ihre Wörtlichkeit sehen. Und diese Wörtlichkeit, diese Unmittelbarkeit ist es, die eine Durchlässigkeit erzeugt und umso mehr Licht auf einen von uns betrachteten Gegenstand durchlässt, sodass wir ihn deutlicher sehen und verstehen können. Wenn Übersetzung immer als Teil eines hierarchischen, binären Verhältnis- ses von Original und Übertragung verstanden wird, dann ist sie immer Ver- rat, Betrug oder eine schlechte Kopie. Aber vielleicht ist es dieser Verrat, die Treulosigkeit, das Hintergehen von Konzepten einer kulturellen Authentizität, die auch gleichermaßen dafür sorgt, dass diese Themen ins Bewusstsein ge- rückt, wahrgenommen und bekannt gemacht werden. So heißt es auch zuletzt in Chows Text: «A faithlessness that gives the beloved life – is that not … faith- fulness itself?»46 Für Chow ist es das Renommee, welches chinesische Filme bei internationalen Filmfestivals gewinnen, das auch für eine Bekanntheit und da- mit ein Nachleben chinesischer Kulturen sorgt. Diese Erkenntnis sehe ich auch als fruchtbar für meine eigenen Texte an, weil dadurch meine Position und mei- ne Perspektive nicht verunmöglicht wird und meine Texte nicht am Kriterium einer vermeintlichen Authentizität bemessen werden, sondern als ergänzende Perspektive verstanden werden, die nicht nur bestimmte Themen in den Fokus rückt, sondern diese auch in ihre Einzelheiten zerbricht und genauer betrach- tet. Ich möchte meine Texte als Beiträge verstehen, die die überkommene Vor- stellung einer kulturellen Treue oder eines kulturellen Verrats überwinden. Auf Tahas Frage, wie ich schreiben würde, wenn ich die an mich herangetragenen Erwartungen beiseiteschieben würde, antworte ich: Ich würde treulos und da- 45  Vgl. Chow: Film as Ethno- graphy, 170. mit treuevoll schreiben. 46  Ebd. — SCHWERPUNKT 53