KINtO Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films 9 Lokale Kinogeschichten »Eich sein och droff« Lokalaufnahmen in Trier Gefragte Filmerklärer Kinematographen in Utrecht National-Cinema Leuzinger · Wanderkino in der Schweiz Sicherheitsrisiko Filmvorführer in New York Hasselblads Fotografiska Sensation versus Qualität Motion Study / Moving Pictures Film und Taylorismus Stroemfeld!Roter Stern KINtop 9 KINtop Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films herausgegeben von Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger KINtop 9 Lokale Kinogeschichten Stroemfeld/Roter Stern KINtop 9 Jahrbuch zur Erforschung des friihen Films Herausgeber und Redaktion: Frank Kessler (Utrecht), Sabine Lenk (Düsseldorf) Martin Loiperdinger (Trier) Redaktionsbeirat: Paolo Cherchi Usai (Rochester) Thomas Elsaesser (Amsterdam) Andre Gaudreault (Montreal) Heide Schlüpmann (Frankfurt am Main) Redaktionsadresse: c/o Martin Loiperdinger Universität Trier, Medienwissenschaft D-54286 Trier e-mail: kintop@uni-trier.de http://www.uni-trier.de/-kintop KINtop is abstracted and/or indexed in: Film Literature Index; International Index to Film Periodicals (FIAF). Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deuschen Bibliothek erhältlich KINtop 9 Lokale Kinogeschichten ISBN 3-87877-789-2 Copyright © 2000 Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main· Basel All Rights Reserved. Alle Rechte vorbehalten. Die Vervielfältigungsrechte der einzelnen Beiträge liegen bei den Autoren, alle Rechte an dieser Ausgabe beim Verlag. Satz: bLoch Verlag, Frankfurt am Main Druck: Nexus Druck, Frankfurt am Main KINtop 10 erscheint im Sommer 2001 mit dem Themen-Schwerpunkt »Europa/USA«. Fotos und Illustrationen: Firmenarchiv Leuzinger, Nederlands Filmmuseum, Stadtarchiv Trier, Marian Stefanowski, Archiv KINtop bzw. die Autoren Bitte fordern Sie unser kostenloses Gesamtverzeichnis an: D-60322 Frankfurt am Main· Holzhausenstr. 4 · e-mail: info@stroemfeld Inhalt Editorial 7 In einem »trierischen« Kinematographen (1909) 11 Karsten Hoppe, Martin Loiperdinger,Jörg Wollseheid Trierer Lokalaufnahmen der Filmpioniere Marzen 1 5 Michaela Herzig, Martin Loiperdinger »Vom Guten das Beste« - Kinematographenkonkurrenz in Trier 39 Amelie Duckwitz, Martin Loiperdinger, Susanne Theisen »Kampf dem Schundfilm!« - Kinereform und Jugendschutz in Trier 53 Mariann Lewinsky Schweizer National Cinema Leuzinger, Rapperswil (SG): Aktualitätenfilmproduktion und regionale Kinogeschichte der Zentral- und Ostschweiz, 1896-1945 65 Anne Paech Zirkuskinematographen Marginalien zu einer Sonderform des ambulanten Kinos 83 Roberta E. Pearson, William Uricchio Filmvorführer in New York 1906-1913 91 J eanpaul Goergen »Sensationellste Schaunummer der Gegenwart!« Zeitungsinserate des Berliner Filmpioniers H. 0. Foersterling von 1896 109 Bert Hogenkamp The Impact of Audiovisual Media in the Town of Utrecht A Research Project at the University of Utrecht 117 Lars Novak Motion Study/Moving Pictures Die Anfänge des tayloristischen Arbeitsstudienfilms bei Frank B. und Lillian M. Gilbreth 131 Astrid Söderbergh Widding Hasselblads Fotografiska AB as Film Producer 1915-1917 Sensationalism or Quest for Quality? 1 5 1 Buchbesprechungen 167 Die Redaktion hat erhalten 177 Die Autorinnen und Autoren 181 Editorial Die lokale und regionale Geschichtsschreibung des Kinos hat in Deutschland in den vergangenen zwanzig Jahren zahlreiche Arbeiten unterschiedlichster Art hervorgebracht: von Dissertationen und Magister- oder Diplomarbeiten über Ausstellungskataloge von Museen und Archiven bis zu Fachartikeln in den Organen von Geschichtsvereinen und journalistischen Beiträgen in örtli- chen Kulturmagazinen oder Filmzeitschriften. Viele dieser Arbeiten konzen- trieren sich auf die faktographische Darstellung der Kinos im engeren Sinn: Die Gebäude, die örtlichen Betreiber der Kinos, bekannte Beispiele dort ge- zeigter Spielfilme und besondere Vorkommnisse wie zum Beispiel Tournee- besuche von Filmstars stehen im Mittelpunkt. Das frühe Kino zeigt sich solchen Forschungsinteressen wenig zugänglich. Das Geschehen auf dem Film- und Kinomarkt vor dem Ersten Weltkrieg ist recht unübersichtlich. Dominiert von internationalen Anbietern, unterliegt er gleichwohl noch keinen etablierten Reglements. Zunächst werden Filme von Wanderkinematographen-Unternehmen sowie als Programmnummer in Va- riete-Theatern gezeigt. Ortsfeste Kinematographentheater eröffnen erst in den Jahren r 906/0 7 und unterliegen in dieser Gründerzeit hoher Fluktuation. Pro- grammgestaltung und Aufführungspraktiken sind noch keineswegs stan- dardisiert. Längere Spielfilme drängen erst im Zuge der allmählichen Etablie- rung des Starsystems ab 1911/r2 die bis dahin üblichen anonymen Kurzfilmprogramme zurück. Viele Lokalstudien behandeln die ersten beiden Jahrzehnte von Film und Kino nur kursorisch. Die wenigen monographischen Arbeiten zur Frühzeit der Kinematographie neigen zur chronologischen Darstellung von Fakten und Begebenheiten. Sie ordnen Quellen unterschiedlicher Provenienz in eine linea- re Entwicklung des Mediums am Ort ein, die sich weitgehend an der nationa- len Film- und Kinogeschichtsschreibung orientiert. Ein von Martin Loiperdinger geleitetes Projektseminar an der Universität Trier schlägt den umgekehrten Weg ein und nimmt jeweils einen besonderen Materialkorpus zum Ausgangspunkt, um daran einzelne Facetten der frühen Lokalgeschichte des Kinos in Trier herauszuarbeiten, die erst einmal für sich stehen und nicht in einen übergeordneten Zusammenhang integriert werden. Wir beginnen mit einer Trouvaille aus der Lokalpresse: Der Artikel » In einem. >trierischen< Kinematographen« aus dem Jahr 1909 macht darauf aufmerksam, daß die Präsentation des Lokalen - Erläuterungen des Filmerklärers im heimi- schen Dialekt sowie am Ort gedrehte Filme - beim Publikum hohe Attraktivi- tät genießt. Trierer Lokalaufnahmen der Filmpioniere Marzen, welche Prozes- 7 sionen und Umzüge dokumentieren, geben den Mitwirkenden Gelegenheit, lebende Porträts von sich selbst und ihren Freunden und Bekannten anzu- schauen. Marzens auffällige Selbstinszenierung in den Lokalaufnahmen ver- weist auf eine enge Verbundenheit mit dem Publikum. Die Untersuchung Trierer Kinematographeninserate der Jahre 1909/ro zeigt erhebliche Unter- schiede in der Programmgestaltung konkurrierender Unternehmen. Entschei- dende Wettbewerbsvorteile scheint dabei die Originalität der auditiven live- Begleitung zu bringen, weniger die Auswahl der Filme selbst. Schließlich gibt eine Schulakte aus dem Trierer Stadtarchiv Einblick in die Auseinandersetzun- gen der Schulbehörden mit den lokalen Kinematographenbetreibern um die praktische Durchsetzung des Jugendschutzes. Mariann Lewinsky zeigt auf der Grundlage eines einzigartigen Filmbe- standes aus dem Familienarchiv eines regionalen Schweizer Wanderkinos, daß sich Vorführpraktiken des frühen Kinos in abgelegenen Gebieten noch bis in die 193oer Jahre halten können. Aus Konstanzer Perspektive steuert Anne Paech Marginalien zur Geschichte der für kurze Zeit erfolgreichen Zirkuski- nematographen bei, die in der Stadt am Bodensee gern Station machten, weil dort ein Hersteller ihrer prachtvollen Zelte zuhause war. Für die Quelleninterpretation von disparatem und marginalem Material, wie es gerade die lokale Forschung zuhauf zutagefördert, stellen Roberta E. Pearson und William Uricchio in ihrem Beitrag eine zentrale Frage: Wie ist es dem Historiker möglich, das hier sich äußernde Partikulare zu seinem Recht kommen zu lassen, statt es umstandslos in größeren Zusammenhängen aufge- hen zu lassen? Jeanpaul Goergen präsentiert drei aufschlußreiche Annoncen des Berliner Kinematographenanbieters Foersterling aus dem Jahr 1896. Bert Hogenkamp, der das Forschungsprojekt zur Mediengeschichte der Stadt Utrecht leitet, re- sümiert für K!Ntop-Leser den Kenntnisstand der lokalen Kinogeschichte vor dem Ersten Weltkrieg. Parallelen zu den Untersuchungen in Trier betreffen vor allem die Rolle der Filmerklärer, die den Geschäftsgang der Kinematogra- phentheater in Utrecht maßgeblich beeinflussen, sowie das generelle Kinder- und Jugendverbot, von dem nur Schülervorstellungen ausgenommen sind, deren Programme von einem Kornmittee vorab geprüft werden. Außerhalb des Schwerpunkts widmet sich Lars Novak im arg vernachläs- sigten Bereich des frühen wissenschaftlichen Films der Tätigkeit des Ehepaars Frank und Lillian Gilbreth, das mit der Filmkamera Arbeitsvorgänge auf- zeichnet, um daraus Vorschläge zur Rationalisierung zu gewinnen. Astrid Söderbergh Widding porträtiert die Spielfilme der wenig bekannten schwedi- schen Firma Hasselblad, die geeignet sind, die herkömmliche Filmhistoriogra- phie zugleich zu bestätigen und in Frage zu stellen. Die nächste Ausgabe von K!Ntop, die im Sommer 2001 erscheint, ist dem Themen-Schwerpunkt »Europa/USA« gewidmet. Weitere Hinweise dazu, Aktuelles zum frühen Kino aus der Forschung und den Archiven sowie Infor- 8 mationen über alle bisher erschienenenK/Ntop-Publikationen finden sich auf unserer Website unter http://www.uni-trier.de/-kintop. Den Autorinnen und Autoren danken wir dafür, daß sie ihre Beiträge für K/Ntop unentgeltlich geschrieben haben. Für ihre Hilfe beim Zustandekom- men dieser Ausgabe danken wir außerdem Maria Luise Sachs und Gabi Ste- phan, Brigitte Braun, Jeanpaul Goergen, Uli Jung, Agnes Schindler, Jörg Schweinitz, Eberhard Simon, William Uricchio und Herman de Wit. Dem Stadtarchiv Trier, dem Bundesarchiv-Filmarchiv und dem Nederlands Film- museum danken wir für das hilfsbereite Entgegenkommen, dem Bistumsar- chiv Trier für die Genehmigung zum Abdruck von Photos aus Filmkopien. Der besondere Dank von Redaktion und Verlag gilt der Nikolaus Koch-Stif- tung, Trier, und der Friedrich Wilhelm Murnau-Stiftung, Wiesbaden, für ihre Unterstützung. Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger 9 Wendel Marzen und August Marzen vor dem »trierischen« Kinematographen, Marzen's Central-Theater; Peter Marzen ist nur in der Vignette auf dem Firmenschird präsent; aufgenommen an einem katholischen Festtag, wahrscheinlich 1909. 10 In einem »trierischen« Kinematographen Plauderei von K. Sch. Trierische Zeitung, 1 p. Jahrgang, Nr. 32 6 (Abend-Ausgabe), 14. Juli 1909 Edison hat sich mit seiner großartigen Freilichtaufnahmeerfindung im Fluge die ganze Welt erobert. In allen Städten, in allen Erdteilen schossen die kine- matographischen Theater wie Pilze aus dem Boden. In den kleinsten Dörfern auf dem flachen Lande, in den höchsten Gebirgen und an den Gestaden der See, auf den Jahrmärkten und Kirmessen herrscht er und erobert im Sturm die Herzen der Jugend, des »Mittelalters« und des »Altertums«. Fast unter jedem Weihnachtsbaume ist »Edison« zu finden, und die »armen« besorgten Eltern wissen wenigstens wieder einmal, was sie ihren verwöhnten Kleinen und Grö- ßeren schenken können. Unternehmungstüchtige Geschäftsleute warfen sich mit Energie auf den neuen Erwerbszweig und an allen Ecken der Straßen in den Großstädten lock- ten alsbald die verheißungsvollsten Plakate. Die Menschen in den Großstädten sind im Genusse sehr oft übersättigt. Schöne Landschaftsbilder, ergreifende Familienszenen wurden dem Publikum bald zu dumm und fade. Das junge Ladendämchen und ihr grünes Verhältnis (jetzt oft ihr späteres Verhängnis), die »höhere« Tochter und der frühreife Großstadtbengel wünschten sich recht bald »pikantere« Sächelchen und dem stillgehegten Wunsche kamen die Unternehmer gerne nach. Kinematographen sind schöne, gute und billige Bildungs- und Erholungs- stätten, solange sie in geschmackvoller Weise das Publikum mit den Schönhei- ten fremder Erdteile bekannt machen oder durch ergreifende Familienszenen das Gemüt des Zuschauers bewegen. »Pikante« Sachen dagegen oder jene ver- rückten nervenaufregenden Mordgeschichten sind ein Verderb für unreife Menschen, deren leicht reizbare, empfängliche Phantasie zu gemeinen, un- fruchtbaren Gedanken aufgewühlt wird, und stiften daher nur Unheil. Die Besucher eines kinematographischen Theaters ergötzen sich mit größ- tem Vergnügen an den Lichtbildern, sind aber selten über die Entstehung der- selben genauer unterrichtet. Die wenigsten Menschen ahnen, welchen großen Gefahren sich die von der kinematographischen Gesellschaft für die Aufnah- men engagierten Personen beim Stellen all der lustigen und tragischen Bilder aussetzen. Die Hauptdarsteller sind gewandte Schauspieler und meist von der Gesellschaft auf längere Zeit verpflichtet. Ein gewaltiger Unterschied besteht jedenfalls zwischen der »Arbeit« einer II Heroine des wirklichen Theaters und der, die zwar nie in eigener Person vor dem Publikum zu erscheinen hat, dafür aber in Lebensgröße an vielen Orten die Menge ergötzt und die Kinder in helle Begeisterung oder tiefes Mitleid versetzt. Wir wissen recht gut, daß auf den die Welt bedeutenden Brettern fast alles, oder sagen wir es nur ruhig, alles Illusion ist. Es ist uns bekannt, mit welchen Mitteln das stürmende Meer »stürmisch« gemacht wird, und wenn wir die Schiffbrüchigen verzweifelt mit den Wogen kämpfen sehen, dann brauchen wir die Armen nicht wegen der Berührung mit dem nassen Element zu bemit- leiden. Wenn irgendein Don Juan irgendein Liebeslied mit einer illusorischen Laute der Herzallerliebsten singt, die sich huldvollst von hohem »Balkone« herabneigt, so müssen wir an mancher kleinen »Schmiere« froh sein, wenn der Balkon nicht plötzlich »wankelmütig« wird und sich nicht ebenfalls huldvoll vor dem schmachtenden Jüngling mit verneigt. Der kinematographische Apparat will jedoch nichts von derartigen Illusio- nen wissen. Er fordert Leben, Tatsachen. Die handelnden Personen springen in das nasse Element, aus dem brennenden Hause auf das aufgespannte Tuch, sie laufen, klettern und wirken in jeder Beziehung durchaus real. Die Hand- lungen spielen sich nicht vor überschmierten Leinwandfetzen ab, sondern inmitten blühender Fluren, zwischen den Bäumen prächtiger Wälder und in den brausenden Wogen der hochgehenden See. Der kinematographische Apparat läßt sich nichts vortäuschen. Natürlich werden die nötigen Vorsichts- maßregeln bei den Aufnahmen getroffen. Das »brennende« Haus brennt ungefährlich, das auf einem Balken in der wogenden See kämpfende Weib ist durch ein Tau mit dem Lande verbunden. Aber immerhin sind die darstellen- den Künstler bei schwierigen Aufnahmen der Lebensgefahr ausgesetzt. In- teressant ist es auch, zu wissen, wie es möglich ist, z.B. den »lebendig gewor- denen Käse« aufzunehmen. Der große Käse läuft und springt über alle Schwierigkeiten mit größter Eleganz hinweg, hinter ihm her Herren, Damen, Kutscher, Marktweiber, Polizisten u.a. mehr. Es ist eine der immer wieder so gerne gesehenen »wildenJagden«. Der lachende Zuschauer sieht wohl die lau- fenden, stürzenden und sich gegenseitig verhauenden Verfolger, sieht aber nicht, daß jemand an einem langen Seile den betreffenden, fortlaufenden Ge- genstand in Bewegung setzt. Auch wir Trierer lieben den »Kintop« (Berliner Ausdruck für Kinemato- graphen) über alles. Wir zeigen aber ein selten großes Interesse an all den gro- ßen, kleinen und kleinsten Ereignissen, die sich in unserem Städtle zugetragen haben und die uns durch das elektrische Theater wieder vorgeführt werden. »Echt trierisch« aber wird der Kino erst durch den die Bilder erklärenden Be- sitzer. Die Stimme schluchzt, weint, heult, jammert, lacht, flucht, flüstert, pol- tert oft innerhalb fünf Minuten je nach Bedarf. Reinstes Hochdeutsch wech- selt mit schönstem trierischen »Platt«. Dazwischen donnern die Kanonen:, zucken die Blitze, schreien die Dampfpfeifen, knattert eine Gewehrsalve. 12 Wir haben schon an allen möglichen Plätzen Kintops der verschiedensten Art besucht, aber noch niemals eines mit solchen »sprechenden« Vorführun- gen. So sehr wir uns freuten, am hiesigen Platze unser »Platt« auf solche Weise verwendet zu sehen, so mußten wir uns manches Mal recht wundern, wenn an den blauen Gestaden des Mittelländischen Meeres im lachenden Nizza, in der Arena des stolzen Spaniens oder auf den Boulevards von Paris sich der eine oder andere Darsteller uns in unverfälschter Trierer Mundart vorstellte. Eben- so haben wir uns sehr »entrüstet«, als bei einer Verbrecherbande der» Verbre- cherlehrling«, durch den steten Mißerfolg mürbe gemacht, plötzlich heulend auf trierisch rief: Eich spillen net mieh met, eich giehn widder bei mei Meister - oder wenn plötzlich in einem eleganten Pariser Boudoir der betrogene Ehe- gatte in einem Wutausbruche donnert: 0, waort ihr Biwacken, eich well euch schon's helfen-. Am interessantesten ist es aber im Kintop, wenn trierische Aufnahmen dem jubelnden Publikum gezeigt werden. Wir sehen dann bei dem Domaus- gang, bei der Feuerwehrübung, bei dem Einzug der Sänger, auf dem Vieh- markte allbekannte Trierer Gesichter. Die Kinder jubeln laut: elao dän es dän Häns, et Kätt-, die »Größeren« nennen leiser die Namen ihrer Bekannten. Ein jeder freut sich, irgendein bekanntes Gesicht auf der Leinwand zu erblicken und freut sich besonders, wenn sein eigenes Konterfei ihm entgegenlacht, wie er sich wiederum ärgert, wenn sein eigenes Gesicht ihm mürrisch, unfreund- lich, unvorteilhaft entgegenschaut. Der Kino verliert alsdann den Charakter eines eigentlichen Theaters. Die Zuschauer fühlen sich mehr wie zu Hause und können ungeniert ihre Kritik an Bekannten, Freunden und Feinden abgeben. Der Kino ist der Spiegel von Trier geworden, nicht nur der »Allgemeine An- zeiger« für behördlichetrierische Ereignisse, sondern viel mehr noch das billi- ge, offene Modeblatt für unsere Damenwelt. Der kinematographische Apparat lügt nicht. Er zeigt alle und alles, wie es ist, zu sein scheint und sein müßte. Er sagt uns, wer des Sonntags im Dom gewesen ist, wer während der Promenadenkonzerte gebummelt und »k ontrol- liert« endlich auch, wer an den Prozessionen teilgenommen hat. Über den Ereignissen Triers »schwebt« der kinematographische Apparat, gleichsam wie eine Meisterhand, unsichtbar meistens den »Leidtragenden«, zur größten Freude jedoch der Schar Trierer Biwacken, die als Stammgäste den jedesmaligen Abschluß eines Bildes bilden. »Mamm, geff mer zwei Groschen, eich sein och droff.« 13 14 KARSTEN HOPPE, MARTIN LOIPERDINGER, JÖRG WOLLSCHEID Trierer Lokalaufnahmen der Filmpioniere Marzen Bei Filmaufnahmen, die in einer Stadt außerhalb von Studios on location ge- dreht werden, kann es sich um Außenaufnahmen zu Spielfilmen handeln, um Aktualitäten oder Wochenschaubeiträge, um Städtebilder, um Industrie- und Werbefilme etc. Diese Aufnahmen werden für den allgemeinen Vertrieb im Inland und oft auch im Ausland hergestellt. Um Lokalaufnahmen im engeren Sinn handelt es sich dann, wenn die aufgenommenen Sujets und Ereignisse vornehmlich für das Publikum vor Ort von Interesse sind und die Auswer- tung deshalb lokal oder regional begrenzt ist. Frühe Lokalaufnahmen fallen leicht durch die Siebe der filmgeschicht- lichen Forschung: Sie erscheinen nicht in den Filminseraten, welche inter- national tätige Produktionsfirmen in der Branchenpresse schalten, weil sie in der Regel nicht für die Auswertung durch Dritte hergestellt worden sind. Be- treiber von Wanderkinematographen oder Besitzer ortsfester Kinematogra- phentheater drehen sie für den Eigenbedarf. Sie erhöhen die Attraktivität ihrer Programme, die sie auf den allgemein zugänglichen Filmmärkten kau- fen oder mieten können, exklusiv durch selbstgedrehte Filmnummern, die niemand sonst am Ort zu bieten hat. Anlässe und Sujets für solche Aufnah- men bieten häufig lokale Umzüge und Feste sowie hoher Besuch von außer- halb. Die Chance, daß eine frühe Lokalaufnahme bis heute überdauert hat, ist vergleichsweise gering: Meist reicht es aus, vom Kameranegativ ein einziges Positiv zu ziehen, denn eine Lokalaufnahme ist an einem oder einigen weni- gen Orten jeweils kaum länger als eine Woche im Progamm. Danach ist sie für kommerzielle Zwecke weitgehend wertlos. Sie wird also von ihrem Hersteller nach der Auswertung vernichtet oder aber aus Stolz eine Weile als Erinne- rungsstück aufgehoben. Später gehen auch diese Lokalaufnahmen in den mei- sten Fällen verloren, so daß allenfalls noch eine Anzeige in der lokalen Presse eine Spur des seinerzeit gedrehten und gezeigten Films hinterläßt. Zufällig haben sich im Trierer Bistumsarchiv Kopien einiger Lokalaufnahmen erhal- ten, die von den Filmpionieren Marzen vor dem Ersten Weltkrieg in Trier ge- dreht worden sind. Die feuergefährlichen Nitratkopien wurden bereits 1973 an das Bundesarchiv-Filmarchiv abgegeben. Zufällig sind auf anderen Wegen einige weitere Trierer Lokalaufnahmen Marzens dorthin gelangt. Wohl aus keiner anderen deutschen Stadt, die seinerzeit um die 50.000 Einwohner zählt, sind in den einschlägigen Filmarchiven so viele Lokalaufnahmen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erhalten wie aus Trier. Wenn von Marzen die Rede ist, so ist damit ein Familienunternehmen ge- meint, das unter dem Firmennamen »Marzen's Edison Elektrisches Theater« ab 1898 im weiteren Gebiet der heutigen Saar-Lor-Lux-Region und im Rhein- land, nach Angaben von Peter Marzen bereits 1897 in Trier kinematographi- sche Vorstellungen gibt.' Vorgeführt wird »im Dreifaltigkeits betrieb - der Va- ter Direktor, ein Sohn Operateur und ein Sohn Impresario, die Mutter an der Kasse«, schreibt die Luxemburger Zeitung im Juli 1906.2 Direktor des Wan- derkinematographen ist Wendelin (Wendel) Marzen, seine Frau Pauline (Apo- lonia), geb. Chevalier, besorgt die Kasse, zwei Söhne führen die Vorstellungen durch. Wahrscheinlich arbeitet Hubert Marzen als Filmvorführer, während Peter Marzen (23.8.1882-17.6.1936) die Filme als Rezitator erklärt und kom- mentiert.J Im November 1907 meldet das Branchenblatt Der Kinematograph in der Rubrik »Neueintragungen von Firmen«: Trier. In das Handelsregister A wurde unter No. 91 2 die offene Handelsgesellschaft in Firma Edisons Elektrisches Theater, Gebrüder Marzen, Trier, eingetragen. Ge- sellschafter sind: Peter Marzen, Impresario, und August Marzen, Modelleur, beide in Trier. Die Gesellschaft hat am 23. Oktober 1907 begonnen. Zur Vertretung der- selben ist nur der Gesellschafter Peter Marzen ermächtigt. Dem Direktor Wendel Marzen in Trier ist Prokura erteilt.• Im März 1909 wird von dem Photographen Anton Burbach der Kinemato- graph im Trierer Central-Theater, Brodstr. 36 übernommen. »Marzen's belieb- ter Salon-Kinematograf Edisons elektrisches Theater im Central-Saal an der Brodstrasse« nimmt dort am 24. März 1909 den Programmbetrieb auf.5 Schon bald zeigen sich Konflikte zwischen Vater Wendel Marzen und Sohn Peter: Ab 19. Juni sind die Inserate nicht mehr persönlich mit »Direktion Wendel Mar- zen«, sondern neutral mit »Direktion Marzen« gezeichnet. Ab 19. Februar 1910 findet sich der Vermerk »Direktion Peter Marzen«. Mit Einführung ei- nes festen Firmenlogos für die Inserate des Central-Theaters steht am 14. Juni 191 o im Anzeigenkopf: »H andelsgerichtlich eingetragene Firma. Inhaber und Besitzer: Peter Marzen«.6 Im November 19u erfolgt die Umbenennung des Central-Theaters in Trierisches Lichtspielhaus, als dessen Inhaber Peter Mar- zen firmiert. Am 12. November 1911 eröffnet »Marzen's Edison Elektr. Thea- ter« in der Nachbarstadt Luxemburg das Kinematogaphentheater Cinema Parisiana. Wendel Marzen ist Direktor, Sohn Hubert fungiert als technischer Leiter und als Rezitator. Zwistigkeiten zwischen Peter Marzen in Trier und seinem Bruder Hubert sowie den Eltern in Luxemburg kulminieren Ende März 1912 in einer öffentlich ausgetragenen Familienfehde.7 Peter Marzen vermag sich in Trier gut zu etablieren: Am 28. November 1913 eröffnet er die Germania-Lichtspiele - mit rund 500 Sitzplätzen seinerzeit das mit Abstand größte Kino in der Moselstadt. 16 Die Anfertigung von Lokalaufnahmen scheint eine Spezialität der Marzens zu sein. Nicht nur in Trier, sondern auch in den anderen Orten, die vom Wan- derkinematographen der Familie bereist werden, drehen sie lokale Ansichten und Ereignisse - so in Luxemburg und Echternach, in Koblenz, Metz etc.8 Über die Produktion dieser Aufnahmen ist nur bekannt, was den erhaltenen Filmen selbst zu entnehmen ist: Peter Marzen ist auffallend oft im Bild zu se- hen, wie er als Aufnahmeleiter während des Drehens sowohl den Menschen vor der Kamera als auch dem Mann hinter der Kamera Anweisungen erteilt. Es liegt nahe, daß Hubert Marzen den Aufnahmeapparat bedient: Wie bereits erwähnt, wird er 1906 als »Operateur« des Familienunternehmens genannt.9 Diese Bezeichnung schließt neben der Projektion von Filmen für ein Publi- kum auch das Aufnehmen von Filmen ein. Ob er allerdings in Trier auch nach 1909 noch an der Kamera steht, ist angesichts der Zwistigkeiten mit Peter Marzen sehr fraglich. Nicht bekannt ist auch, wer die belichteten Negative entwickelt und die Positivkopien für die Vorführungen zieht. Die in der Kompilation BILDER AUS TRIER überlieferten Lokalaufnahmen der Marzens zeigen einschlägige Motive wie den Hauptmarkt, die Front des bischöflichen Palais mit der wiederaufgebauten Konstantin-Basilika, die Kai- serthermen, die Kreuzigungsgruppe im Friedhof Pallien, die Barockkirche St. Paulin sowie verschiedene Moselansichten und Aufnahmen der Stadt von den umliegenden Anhöhen aus. Fast alle Aufnahmen lassen den Versuch erkennen, durch Bewegung im Bild und durch Kamerabewegung die Grenzen der herkömmlichen Photographie zu überschreiten: Ein Stein, in die Mosel ge- worfen, zieht auf dem ruhigen Wasser Kreise. Vor den Statuen der Kreuzi- gungsgruppe gehen Statisten auf die Kamera zu - was auch Gelegenheit zur Selbstdarstellung gibt, wenn der Impresario Peter Marzen selbst als Statist fungiert (Abb. 1). Einern über die Römerbrücke fahrenden Trambahnwagen folgt die Kamera mit einem Schwenk. Die neuartige Fähigkeit der Kamera, die Bewegung ihres Blicks zu dokumentieren, demonstrieren eindrucksvoll die langen Panoramaschwenks über die Stadt Trier, bei denen sich die Kamera um bis zu 180° erstaunlich ruhig und gleichmäßig um die eigene Achse dreht. Ein Panoramaschwenk endet überraschend mit einem Gruppenporträt: Peter Mar- zen wirft prüfend einen Blick auf seine Taschenuhr. Die Kamerabewegung unterstreicht die enge Verbundenheit des Familienunternehmens Marzen mit dem Standort Trier. Die zweite Art der Kamerabewegung ist die Kamerafahrt, d. h. die Orts- veränderung des Aufnahmeapparats selbst, der zu diesem Zweck auf ein Ge- fährt postiert wird. Aus Lokomotiven und Straßenbahnen gedrehte Filme faszinieren durch den Effekt der subjektiven Kamera, der die Bewegung des Aufnahmeapparats auf den Zuschauerblick überträgt. Als phantom rides kennt sie das Publikum bereits vor der Jahrhundertwende. Eine solche Gei- sterfahrt bietet die AUTOFAHRT DURCH TRIER, die mit einem bekannten Post- kartenmotiv beginnt: Die Straßenbahnschienen auf der Simeonstraße zeichnen Kinematographische Aufnahmen aus Trier Abb. I BILDER AUS TRIER: Peter Marzen vor der Kreuzigungsgruppe im Friedhof Pallien. Abb. 2 BILDER AUS TRIER: Fahrgäste der Moselfähre. Abb. 3 AUTOFAHRT DURCH TRIER [1903]: durch die Simeonstraße auf die Porta Nigra zu. Abb.4 AUTOFAHRT DURCH TRIER [1903]: Ecke Saarstraße/Neustraße. Abb. 5 AUTOFAHRT DURCH TRIER [1903]: vor der »Steipe« am Hauptmarkt. Abb.6 DoMAUSGANG IN TRIER (1904): Gottesdienstbesucher. Abb.7 KIRCHGÄNGER IN TRIER AN EINEM FESTTAG (1909): rechts Peter Mar- zen mit kleinem Mädchen, links daneben Wendel Marzen. Abb. 8 KIRCHGÄNGER IN TRIER AN EINEM FESTTAG (1909): Peter Marzen grüßt zur Kamera, links Wendel Marzen mit kleinem Mädchen. Abb.9 LEBEN UND TREIBEN AUF DEM VIEHMARKT AM 5. MAI ( 1909 ): Blicke in die Kamera. Abb. 10 LEBEN UND TREIBEN AUF DEM VIEHMARKT AM 5. MAI ( I 909 ): Jo kus für die Kamera. Abb. II INTERNATIONALER MARIANISCHER KONGRESS zu TRIER (1912): Peter Marzen. Abb. 12 INTERNATIONALER MARIANISCHER KONGRESS zu TRIER (1912): Am Trierer Hauptmarkt - Wallfahrt zum Apostelgrab in St. Matthias. Abb. 13 BLUMENKORSO 1914: Peter Marzen neben dem Herold an der Spitze des Festzugs. Abb. 14 BLUMENKORSO 1914: Peter Marzen dirigiert den Kameramann. Abb. 15 MANÖVER DES 44ER FELDARTILLERIE-REGIMENTS [1906]: Peter Mar- zen. Abb. 16 MANÖVER DES 44ER FELDARTILLERIE-REGIMENTS [1906]: Transport von Geschützlafetten. Abb. 17 Pathe freres, Wochenschau-Sujet (1913): Wilhelm II. an der Kaiser- Wilhelm-Brücke. Abb. 18 Pathe freres, Wochenschau-Sujet (1913): Wilhelm II. mit Bischof Korum vor der Liebfrauenkirche. Fotos aus Marian Stefanowski (Abb. 1-16), Filmkopien: Nederlands Filmmuseum (Abb. 17 und 18). 18 Abb. I Abb.2 19 Abb. 3 Abb.4 20 Abb. 5 Abb.6 2I Abb. 7 Abb. 8 22 Abb.9 Abb. 10 23 Abb. II Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 16 die Fluchtlinie zur Porta Nigra im Hintergrund (Abb. 3). Von Anfang an braust die Kamera, die gleichsam selbst am Steuer Platz genommen hat, in voller Fahrt über das holprige Kopfsteinpflaster vom Hauptmarkt auf die Por- ta zu, durch das römische Stadttor hindurch und weiter Richtung Bahnhof. Passanten eilen flugs zur Seite, um sich in Sicherheit zu bringen. Eine Gruppe von fünf Männern bleibt dagegen stehen, während die Kamera frontal auf sie zufährt. Sie haben den Aufnahmeapparat vor einem Geschäft an der Neustra- ße, unweit der damaligen Wohnung der Marzens erwartet und lüften grüßend die Hüte (Abb. 4), bevor das Auto abdreht und mit laufender Kamera weiter- braust. Die ganze Fahrt über wird die subjektive Kameraperspektive gewahrt. Erst die Schlußeinstellung enthüllt das rasante Fortbewegungsmittel der Ka- mera: Sie zeigt das für die Kamerafahrt benutzte Automobil samt Besatzung vor der »Steipe«, einem bekannten Restaurant am Hauptmarkt, dem Aus- gangspunkt des phantom ride (Abb. 5). Diese überraschende Auflösung ver- leiht dem Kinematographen höchste Modernität. Er bedient sich nämlich eines ganz neuen Verkehrsmittels, das in Trier noch eine Rarität darstellt: Auf der ganzen Fahrt durch die Innenstadt ist kein anderes Automobil zu erblicken. Die konsequent aus der Perspektive des Fahrzeugs gedrehte und durch Unebenheiten des Straßenbelags verwackelte AUTOFAHRT DURCH TRIER mag heutige Betrachter wie ein avantgardistischer Experimentalfilm des direct ci- nema anmuten. Unter den erhaltenen Trierer Lokalaufnahmen der Marzens bleibt diese Kamerafahrt die Ausnahme. Alle anderen Filme sind mit fest- stehender Kamera gedreht. Außer bei den oben erwähnten Panoramen wird diese kaum geschwenkt. Im Bild ist Bewegung ohnehin reichlich vorhanden, denn bevorzugtes Sujet der Lokalaufnahmen sind viele Menschen. Die BILDER AUS TRIER enthalten zwar nur eine solche Aufnahme, nämlich die Landung der vollbesetzten Moselfähre und das Aussteigen der Fahrgäste (Abb. 2). Das Gros der übrigen Lokalaufnahmen jedoch zeigt zahlreiche Menschen bei Pro- zessionen, Umzügen und anderen Gelegenheiten. »Hunderte von Menschen in natürlicher Größe und Bewegung« war hereits im Jahr 1896 ein zentraler Werbeslogan für die Vorführungen des Cinematographe Lumiere durch Stoll- wercks Deutsche Automaten-Gesellschaft. 10 Über ein Jahrzehnt später wirbt Marzens Central-Theater im Sommer 1909 für die Lokalaufnahme von Fest- lichkeiten des Männergesangsvereins »Eintracht« mit dem Hinweis: »Tausen- de Trierer in lebender Bewegung!«" Die ungebrochene Attraktivität des Su- jets liegt wohl daran, daß eine große Zahl von Trierern auf der Leinwand zu sehen ist - und zwar in Trier selbst. Mit anderen Worten: Das Trierer Publi- kum kann sich bei Marzen »in natürlicher Größe und Bewegung« selbst be- trachten. Daß die Zuschauer deshalb an Lokalaufnahmen besonders interes- siert sind, zeigt ein Bericht über die Vorführungen der ersten nachweisbaren Trierer Lokalaufnahme, der PFINGSTPROZESSION IN TRIER aus dem Jahr 1902: Herr Wendel Marzen errang gestern im Cafe Germania mit seinem Edison elektri- schen Theater einen großen Erfolg. Die Vorstellung am Nachmittag war sehr gut besucht, am Abend mußten viele mit einem Stehplätzchen fürlieb nehmen. Viele fanden auch einen Stehplatz nicht mehr. Die Darbietungen entsprachen den Erwar- tungen nicht nur, sie übertrafen dieselben um ein Bedeutendes. Dies beweist der große Beifall nach den einzelnen Nummern des schier unerschöpflichen Pro- gramms. Daß für das Trierische Publikum die Pfingstprozession in Trier und die Springprozession in Echternach von besonderem Interesse sind, bedarf kaum einer Erwähnung. An Deutlichkeit lassen die Bilder nichts zu wünschen übrig, sie liefern durch die vielfach bekannten Personen den Beweis, daß dem Beschauer kein Phan- tasiegebilde, sondern das Bild der Wirklichkeit geboten wird. 12 Demnach verbürgt das Wiedererkennen bekannter Gesichter auf der Lein- wand, daß der neuartige Apparat tatsächlich die Wirklichkeit wiedergibt. Die Lokalaufnahme beglaubigt die Leistung des Kinematographen, indem die Zu- schauer die » lebenden Photographien« auf Marzens Leinwand mit einer selbst gemachten sinnlichen Erfahrung vergleichen können. Außer bei Prozessionen, Festen und Umzügen sind viele Menschen in Trier regelmäßig nach dem sonntäglichen Hauptgottesdienst vor dem Dom anzutreffen. Besonders vertraut scheinen die Trierer mit dem Kinematograph auch im Jahr 1904 noch nicht zu sein: Beim DoMAUSGANG IN TRIER (1904) drängen die Kirchenbesucher mit verhaltener Neugier an der Kamera vorbei. Nur vereinzelt wird ein Hut gelüftet oder lachend in die Kamera gewinkt (Abb. 6). Einige Knaben bleiben stehen und beobachten staunend den kur- belnden Operateur. In dem 1909 gezeigten Remake KIRCHGÄNGER IN TRIER AN EINEM FESTTAG geben sich die Gottesdienstbesucher sehr viel ungezwungener. Es herrscht ein dichtes Gedränge. Viele lachen und winken. Einige laufen um die Menschen- traube vor der Kamera herum und stellen sich hinten an, um ein zweites Mal an der Kamera vorbeidefilieren zu können. Ein korpulenter älterer Herr holt seine Gattin heran, setzt seinen Zylinder auf und posiert Arm in Arm mit ihr vor der laufenden Kamera. Nicht nur diese beiden erwecken den Eindruck, daß sie sich auf der Leinwand von Marzens Central-Theater gerne selber se- hen wollen. Das Bedürfnis, bei der kinematographischen Projektion ein lebendes Por- trät von sich selbst zu erblicken, spielt wohl auch eine tragende Rolle bei der Aktualitäten-Aufnahme INTERNATIONALER MARIANISCHER KONGRESS zu TRIER VOM 3.-6. AUGUST 1912: Eigentliches Ereignis und Anlaß der Aufnahme ist ein feierlicher Zug von Ministranten, Bischöfen, Äbten und Prälaten. Im An- schluß an die geordneten Reihen der kirchlichen Würdenträger, die der Kame- ra kaum Beachtung schenken, füllen die zuvor im Spalier stehenden Schaulu- stigen die Straße. Sie drängen sich ausgelassen um die erhöht stehende Kamera. Die lachende und winkende Menge scheint für diese Aufnahme mindestens von gleichem Interesse zu sein wie die in prachtvolle Gewänder gehüllte, wür- 29 devolle Geistlichkeit. Als zweiten Teil der Aktualität kündigt ein Zwischenti- tel an: »4. August: Männerwallfahrt zu dem Apostelgrabe in St. Matthias bei Trier. (Beteiligung ca. I 5-20.000 Männer.)« Es folgt der nicht endenwol- lende Zug diverser Abordnungen der Wallfahrer aus der Umgebung Triers (Abb. 12), von einer einzigen Kameraposition aus gedreht. Der Aufnahmeap- parat steht auf dem Trierer Hauptmarkt. Verlauf und Ziel der Wallfahrt wer- den nicht gezeigt. Warum läßt Peter Marzen so viele Meter teuren Rohfilms belichten? Die Aufnahme wirkt langweilig und ermüdend - als sollten möglichst viele der im Zwischentitel angekündigten »I 5-20.000 Männer« auf Marzens Leinwand in Erscheinung treten. Vermutlich ist das auch die Absicht: Möglichst viele der Wallfahrer sollen aus den umliegenden Orten in Marzens Trierisches Licht- spielhaus kommen, um dort ein lebendes Porträt von sich selbst zu sehen. Eine ähnliche Verwertungsstrategie ist auch dem Inhalt der verschollenen Aktualität BISCHOFS-JUBILÄUM IN TRIER aus dem Jahr 1906 zu entnehmen: Nicht nur die kirchlichen Feierlichkeiten zum 25jährigen Jubiläum des Bi- schofs Dr. Michael Felix Korum werden gedreht, sondern auch der Festzug, den 6.000 Mitglieder der katholischen Arbeitervereine der Diözese zu Ehren des Bischofs veranstalten. Diese Arbeiter wissen, daß sie kinematographisch aufgenommen wurden, und sind wohl auch deshalb daran interessiert, das BI- SCHOFS-JUBILÄUM IN TRIER zu sehen, wenn Marzens Wanderkinematograph mit dieser Aktualität »die größeren Orte der Diözese« besucht.11 Nur wenige Wochen nach der Übernahme des Central-Theaters werden zwei Lokalaufnahmen gedreht, die nicht darauf abheben, daß die Zuschauer sich selber sehen können. In einer Stadt wie Trier mit 50.000 Einwohnern gibt es wohl kaum jemanden, der nicht wenigstens ein Mitglied der freiwilligen Feuerwehr persönlich kennt. Der Reiz der FRÜHJAHRSSPRITZENPROBE UNSERER FREIWILLIGEN FEUERWEHR AM 3. MAI AM STADTTHEATER besteht für den Groß- teil der Trierer Zuschauer darin, andere, die ihnen gut bekannt sind, bei der Ausführung einer Übung beobachten zu können: Die hiesige Feuerwehr hielt gestern Nachmittag auf dem Viehmarkte ihre große Friihjahrsspritzenprobe ab, bei der das gesamte Löschmaterial vorgeführt wurde. Nachdem die einzelnen Geräte besichtigt und ihre Brauchbarkeit gepriift war, be- gann die eigentliche Übung. Das Theater war brennend gedacht und um den ziem- lich ausgedehnten Brand wirksam bekämpfen zu können, mußte die gesamte Wehr in Tätigkeit treten. Es befanden sich auch Mannschaften in Gefahr, die unter Benut- zung von Rettungsschlauch und Sprungtuch aus der bedrohten Lage befreit wer- den konnten. Die interessante Übung schloß mit einem schneidig ausgeführten Pa- rademarsch. Herr Marzen, Inhaber des Central-Theaters, hat die Übung - Auf- marsch der Wehr, die Spritzenprobe, den Angriff auf das brennende Theater und den Parademarsch - für den Kinematographen aufgenommen. Bei der Spritzenpro- be zeigte sich ein wundervoller Regenbogen, der auch vom Kinematographen fest- gehalten wurde.'~ 30 Der Ablauf des Geschehens ist hier vorgezeichnet durch das Ritual von Auf- marsch und Parademarsch sowie die fingierten Lösch- und Rettungsarbeiten. Bei dem zwei Tage später gedrehten LEBEN UND TREIBEN AUF DEM VIEHMARKT AM 5. MAI ist der Kamera nichts vorgegeben. »Bekannte Trierer Handels- Typen im Wirken«, welche Marzens Zeitungsinserat ankündigt, werden mit kleinen Spielhandlungen für die Kamera inszeniert. Da steht ein alter, knorri- ger Mann, lüftet den Hut von seinem kahlen Schädel und kratzt sich pfiffig hinter dem Ohr (Abb. 9). Sein Nebenmann klopft ihm aufmunternd auf die Schulter, so fest, daß der Alte fast seinen Hut fallen läßt. Als nächstes zerrt er ein widerspenstiges Kalb auf seinen Wagen. Dabei ist ihm ein junger Bursche behilflich. Anschließend führt dieser vor, wie ein Kaufvertrag besiegelt wird: Der Handschlag zwischen Käufer und Verkäufer über dem Rücken des Rin- des, das den Besitzer wechselt, wird spaßeshalber mehrfach wiederholt - zur Heiterkeit der Umstehenden, die amüsiert an dieser Inszenierung teilnehmen (Abb. 10). Sehen und Gesehenwerden - das macht fürs Trierer Publikum offenbar die Attraktion von Marzens Lokalaufnahmen aus. Sie gehören deshalb für die Besucher des Central-Theaters zu den Höhepunkten des Programms: Am interessantesten ist es aber im Kintop, wenn trierische Aufnahmen dem jubeln- den Publikum gezeigt werden. Wir seheQ dann bei dem Domausgang, bei der Feuerwehrübung, bei dem Einzug der Sänger, auf dem Viehmarkte allbekannte Trierer Gesichter. Die Kinder jubeln laut: elao dän es dän Häns, et Kätt -, die »Grö- ßeren« nennen leiser die Namen ihrer Bekannten. Ein jeder freut sich, irgendein bekanntes Gesicht auf der Leinwand zu erblicken und freut sich besonders, wenn sein eigenes Konterfei ihm entgegenlacht, wie er sich wiederum ärgert, wenn sein eigenes Gesicht ihm mürrisch, unfreundlich, unvorteilhaft entgegenschaut.' 1 Einen ganz anderen Charakter haben die BILDER VOM KAISERTAG, die Aktuali- tät vom Besuch Wilhelm II. am 14. Oktober 1913 in Trier. Bei dieser Lokalauf- nahme geht es ausnahmsweise nicht um das Wiedererkennen oder das Beob- achten von Trierern, die den Zuschauern persönlich bekannt sind. Mitten in Trier ist der preußische Kaiser aus der fernen Reichshauptstadt Berlin zu se- hen - bei mehreren Gelegenheiten an verschiedenen Orten der Stadt und von privilegierten Standpunkten aus: Bilder vom Kaisertag zeigt das trierische Lichtspielhaus (Inhaber P. Marzen). Die Bilder sind zum größten Teil ganz vorzüglich geraten. Mit der Ankunft am Bahn- hof beginnt die Serie. Es folgt die Begrüßung an der Kaiser Wilhelm-Brücke, die vorzüglich gelungen ist, die einzelnen Personen sind deutlich zu erkennen. Die Durchfahrt durch die Porta Nigra gibt einen schönen Gesamteindruck der festlich geschmückten Stadt und der jubelnden Menge, wie man ihn unmittelbarer in einem Blick nicht zusammenfassen konnte. Sehr gute Bilder des Kaisers zeigen die Auf- nahmen von der Ankunft und dem Verlassen der Basilika und des Museums. Mit das schönste Bild bietet aber der Gang zum Dom. Das ist der Kaiser, ungezwungen 31 und freundlich, gehoben durch das Bewußtsein der Liebe und Treue seiner ihn umgebenden Landeskinder. Der Besuch im Amphitheater, die einzig existierende kinematographische Aufnahme, zeigt verschiedene Aufnahmen. Wir sehen auch die Freiübungen der Jugendlichen, die den Kaiser so hoch erfreuten. Einen solchen Ge- samteindruck konnte natürlich am Kaisertage der einzelne nicht haben, an soviel hervorragenden Punkten konnte keiner sein. Deshalb ist der Andrang nach dem »Kaisertag im Bilde« bei Marzen auch so groß. Mit dem Film steigt die Erinnerung noch einmal mächtig in uns auf an den großen und unvergeßlichen 14. Oktober 1913. - Gestern besuchte der Herr Regierungspräsident mit Frau Gemahlin das Marzensche Kino und sprach sich sehr anerkennend über die Aufnahmen des Kai- serbesuches aus.' 6 Den Kaiser an diesem Tag derart auf seinen diversen Stationen zu begleiten, ist den meisten Trierern nicht vergönnt, wohl aber dem kinematographischen Aufnahmeapparat, der im Auftrag von Peter Marzen unterwegs ist. Die Film- kamera ist ein allgegenwärtiges Auge, das stellvertretend für die interessierte Trierer Bevölkerung die Geschehnisse des »K aisertags« sieht und aufzeichnet, um sie eine Woche später vor den Augen von Peter Marzens Publikum wieder auf die Leinwand zu werfen. Die Bemerkung, daß Marzen vom Besuch im Amphitheater »die einzig existierende kinematographische Aufnahme« zeigt, verweist darauf, daß der Trierer Filmpionier den Kaiser in seiner Heimatstadt nicht exklusiv dreht. Tatsächlich sind Wochenschau-Sujets der Firma Pathe freres vom Besuch Wilhelm II. in der Moselstadt erhalten (Abb. 17 und 18).1 7 Bei einigen Trierer Lokalaufnahmen fällt auf, daß Peter Marzen im Bild prä- sent ist. Im DoMAUSGANG von 1904, wo er kurz unter den Gottesdienstbesu- chern zu sehen ist, gibt er sich zurückhaltend: Er betrachtet die Menschen- menge, lüftet grüßend den Hut, wie das vereinzelt auch andere tun, und geht an der Kamera vorbei aus dem Bild. In dem 1909 gezeigten Remake KIRCH- GÄNGER IN TRIER AN EINEM FESTIAG fällt ein großer junger Mann mit einem prächtigen schwarzen Schnurrbart und Zylinder auf, der die Menge zum Wei- tergehen auffordert. Er verläßt für einen Moment das Bild und kehrt mit ei- nem kleinen Mädchen im weißen Sonntagskleid auf dem Arm zurück. Er hebt das Kind kurz hoch, das dabei in die Kamera winkt (Abb. 7). In der nächsten Einstellung bespricht er sich mit einem älteren korpulenten Herrn. Dieser hat nun das kleine Mädchen auf dem Arm. Diese beiden Herren sind Wendel Mar- zen und Peter Marzen. Während sie nach links aus dem Bild gehen, lüftet Pe- ter Marzen den Hut und grüßt in die Kamera (Abb. 8). Die Lokalaufnahme der Kirchgänger wird für kommerzielle Vorführungen im Trierer Central-Theater gedreht. Dennoch adressieren Wendel und Peter Marzen ihr zahlendes Publikum wie Amateurfilmer, die in einer Aufnahme fürs Heimkino auftreten. Ihr familiärer Gestus deutet auf ein recht vertrautes Verhältnis zu den Besuchern ihrer Filmvorführungen hin. »Die Zuschauer fühlen sich >mehr wie zu Hause«< und nicht so sehr in einem Theater, notiert J2 die Trierische Zeitung über die Atmosphäre im Vorführsaal, wenn Lokalauf- nahmen gezeigt werden.18 Besonders auffällig tritt Peter Marzen zu Beginn mehrerer Lokalaufnah- men auf: In BILDER AUS TRIER steht er deutlich sichtbar an der Anlegestelle der Moselfähre und erwartet die Fahrgäste. Beim MANÖVER DES 44ER FELDARTIL- LERIE-REGIMENTS, das in Mertesdorf bei Trier stationiert ist, können die Zu- schauer Pferdegespanne beobachten, die schwere Geschützlafetten einen stei- len Abhang hinunterziehen (Abb. 16). Die Soldaten sind von der Kamera so weit entfernt, daß sie vom Publikum nicht zu identifizieren sind. Eine Person jedoch ist ganz klar erkennbar: In der ersten Einstellung tritt Peter Marzen kurz ins Bild und blickt in Richtung Kamera (Abb. 15). Auch zu Beginn der mit 15 Minuten vergleichsweise langen Aktualität INTERNATIONALER MARIA- NISCHER KONGRESS zu TRIER hat Peter Marzen seinen Auftritt: Er steht vor dem Zuschauerspalier, das den Zug der kirchlichen Würdenträger erwartet, und gibt dem Kameramann ein Handzeichen. Dieser stoppt sofort die Auf- nahme. Anschließend geht Marzen mit einem Polizisten nach vorn in Rich- tung Kamera (Abb. 11 ), postiert sich kurz vor dem Zuschauerspalier und geht dann an der Kamera vorbei aus dem Bild. Diese Filmanfänge sind bei der Montage keineswegs als unbrauchbares Ausschußmaterial eingestuft und weggeschnitten worden. Für den vorgesehe- nen Ablauf der Dreharbeiten sind diese Auftritte Peter Marzens wohl entbehr- lich. Sie erwecken den Eindruck, daß sich Peter Marzen ganz bewußt als Ur- heber der jeweils folgenden Lokalaufnahmen präsentieren möchte. Indem er zu Beginn im Bild erscheint, tragen diese Trier-Filme seine Signatur. Er ist es, dem das Publikum diese Lokalaufnahmen zu verdanken hat. Deshalb hat Peter Marzen offenbar auch keine Scheu, seine Tätigkeit als Aufnahmeleiter vor der Kamera zu dokumentieren. In der Aktualität Bw- MENKORSO 1914 ist er von Anfang bis Ende zu beobachten, wie er immer wie- der umtriebig in das Geschehen eingreift. Zu Beginn erblickt das Publikum Peter Marzen an der Spitze des Festzugs: Er begleitet einen berittenen Herold (Abb. 13), stellt sich kurz vor das Zuschauerspalier, wedelt nervös mit seinem Strohhut und geht in den Bildhintergrund zurück. Im Verlauf pendelt er mehr- fach vor und zurück, wechselt auch die Straßenseite, bleibt jedoch stets im Bildausschnitt des Aufnahmeapparats. Er weist Knaben in das Spalier ein, da- mit sie der Kamera nicht die Sicht verdecken, und bemüht sich vor allem um die einzeln herankommenden Radfahrer, die mit dem überbordenden Blumen- schmuck ihrer Fahrräder recht unsicher wirken. Marzen bedeutet ihnen, die Straßenseite zu wechseln. Er möchte erreichen, daß sie ihren Abstand zur Kamera verringern. Bei diesem Manöver müssen sie darauf achten, daß die Reifen nicht in die Straßenbahnschienen geraten. Indem er seinen Strohhut schwenkt, bedeutet Marzen dem Kameramann mehrfach, die Aufnahme zu stoppen (Abb. 14). Dieser Anweisung wird jeweils sogleich entsprochen. Vor allem im BLUMENKORSO 1914 wirkt Peter Marzen hektisch und nervös 33 und auch unfreiwillig komisch. Zum besseren Verständnis seiner Selbstinsze- nierung sei daran erinnert, daß er im Central-Theater auch als Filmrezitator tätig ist. Er ist also bei der Projektion von Lokalaufnahmen auf zweifache Weise im Vorführsaal präsent: Als leibhaftiger Filmerklärer kann er sein Schat- tenbild auf der Leinwand live kommentieren sowie auf Bemerkungen und Zwischenrufe aus dem Publikum reagieren. Auf diese Weise vermag Peter Marzen mit den Zuschauern lebhafte Aufführungsereignisse zu produzieren, die sich der stummen Filmüberlieferung der Trierer Lokalaufnahmen nicht entnehmen lassen. Anhang Trierer Aufnahmen der Filmpioniere Marzen Die Angaben dieser Filmographie beruhen auf verschiedenen Quellen: auf den Filmkopien, soweit sie erhalten und zugänglich sind, auf zeitgenössischen In- seraten und Artikeln in der Lokalpresse sowie auf ungesicherten Hinweisen in zwei Druckwerken: [Peter Marzen], Aus dem Leben eines rheinischen Film- pioniers. Eine Erinnerungsgabe zum fünfzigsten Geburtstag. Peter Marzen, als Broschüre gedruckt [ 1933]; Emil Zenz, Geschichte der Stadt Trier in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts, Bd. 1: 1900-1914, Trier 1967. Keiner der aufgeführten Filmtitel findet sich bei Herbert Birett, Das Film- angebot in Deutschland 1895-19n, München 1991: Das bedeutet, daß diese Trierer Lokalaufnahmen in der nationalen Schausteller- und Filmbranchen- presse nicht zum Kauf inseriert wurden. Wendel bzw. Peter Marzen haben sie für den Eigenbedarf hergestellt und exklusiv selbst vorgeführt. Es handelt sich um Lokalaufnahmen und nicht um Städtebilder oder Aktualitäten für die Auswertung durch Dritte. Die erhaltenen Filme liegen, soweit nicht anders vermerkt, als 3 5m m-Ko- pien auf schwarz-weißem Safety-Filmmaterial vor. Hinweise auf die Überlie- ferungsgeschichte sowie auf Kopiervorgänge bei der Sicherung des Ausgangs- materials in den Filmarchiven werden nicht gegeben. Für wertvolle Hinweise danken wir Brigitte Braun und Uli Jung. I. PFINGSTPROZESSION IN TRIER, aufgenom- chiv; Quelle für die Datierung: Zenz 1967, men am 18.5,1902, Länge und Verbleib un- s. 353. bekannt; Quelle: Inserat, Trierischer Volks- freund, 11.6.1902. (3. RosENMONTAGSZUG IN TRIER (1904), Länge und Verbleib unbekannt; Quelle: 2. [AUTOFAHRT DURCH TRIER] (Übernahme- Zenz 1967,S. 353) titel), (1903), 29 m, Bundesarchiv-Filmar- 34 4· [DOMAUSGANG IN TRIER (1904)] (Über- Trierischer Volksfreund, 15. und 21.5-1909; nahmetitel), [1904], 29 m, Bundesarchiv- Artikel: Trierischer Volksfreund, 4.5-1909. Filmarchiv; Quelle für die Datierung: Zenz 1967, s. 3 53 · 10. LEBEN UND TREIBEN AUF DEM VIEH- MARKT AM 5. MAI. BEKANNTE TRIERER HAN- [5. Fronleichnamsprozession in Trier DELS-TYPEN IM WIRKEN, aufgenommen am [1904], Länge und Verbleib unbekannt; 5.5.1909, ca. 45 m, Bundesarchiv-Film- Quelle: Marzen 1933, S. 45] archiv (enthalten in der Kompilation BIL- DER AUS TRIER); Quellen: Inserate, Trieri- 6 BISCHOFS-JUBILÄUM IN TRIER, aufge- scher Volksfreund, 15. und 21.5.1909. nommen am 16. und 25.9.1906, Länge und Verbleib unbekannt; Inhalt: »I. Huldi- l I. FESTLICHKEITEN AUS ANLASS DES 35JÄH- gungsfeier des Diözesan-Verbandes der RIGEN STIFTUNGSFESTES DES MÄNNERGE- kath[olischen] Arbeitervereine vor dem bi- SANGVEREINS »EINTRACHT« AM PFINGST- schöfl[ichen] Palais, am Sonntag, 16. Sept. SONNTAG 1909, aufgenommen am 6.6.1909, 1906. II. Jubiläumsfeier des hochwürdig- Länge und Verbleib unbekannt; Quellen: sten Herrn Bischofs Dr. Michael Felix Ko- Inserat, Trierischer Volksfreund, 16.6.1909; rum. Prozession der hochwürdigsten Her- Artikel »In einem >trierischen, Kinemato- ren Bischöfe zum Pontifikal-Amt im hohen graphen« (Trierische Zeitung, 14.7.1909) er- Dom. Rückkehr der Geistlichkeit nach wähnt »Einzug der Sänger«. dem Bischöflichen Palais. Gratulations- Cour des Stadtverordneten-Kollegiums.« 12. HISTORISCHER FESTZUG AM KORNBLU- Quelle: Inserat, Trierischer Volksfreund, MENTAG IN TRIER 8. OKTOBER 1911, Länge 29.9.1906; Hinweise in Artikeln: Trieri- unbekannt, Bundesarchiv-Filmarchiv (Ni- scher Volksfreund, 22., 26. und 29.9.1906, tratpositiv), unter dem Übernahmetitel 2., 4. und 9.10.1906; Trierische Landeszei- KAISERIN AUGUSTA-100-JAHRFEIER VERBUN- tung, 26.9.1906. DEN MIT KORNBLUMENTAG IN TRIER AM SONNTAG, DEN 8. OKTOBER 1911; Quellen: 7. [MANÖVER DES 44ER FELDARTILLERIE- Inserate, Trierischer Volksfreund, 11., 16. REGIMENTS, MERTESDORF BEI TRIER] (Über- und 17.10.1911; Artikel: Trierischer Volks- nahmetitel), [1906], 52 m, Bundesarchiv- freund, 7.10.1911: »Der historische Festzug Filmarchiv; Quelle für den Hersteller: wird auch von dem Inhaber des Central- Filmkopie - Peter Marzen in der ersten Theaters, Herrn Peter Marzen, an zwei ver- Einstellung kurz im Bild; Quelle für Da- schiedenen Stellen aufgenommen und tierung: Artikel, Trierischer Volksfreund, nachher im Bilde vorgeführt werden.« Nr. 287, 2.10.1906, erwähnt Filmaufnahme vom »Exerzieren unserer Artillerie auf dem 13. INTERNATIONALER MARIANISCHER KON- Grüneberg«. GRESS zu TRIER VOM 3.-6. AUGUST 1912, auf- genommen am 3. und 4.8.1912, 266 m, Bun- 8. [KIRCHGÄNGER IN TRIER AN EINEM FEST- desarchiv-Filmarchiv; Quelle für den Titel: TAG] (Übernahmetitel), [1909], 55 m, Bun- Filmkopie; abweichender Titel: SECHSTER desarchiv-Filmarchiv; Quelle für die Da- INTERNATION[ALER] MARIANISCHER KON- tierung: Artikel »In einem >trierischen< GRESS zu TRIER (Inserat, Trierische Landes- Kinematographen« (Trierische Zeitung, zeitung, 9.8.1912); Quelle für den Herstel- 14.7.1909) erwähnt »Domausgang«. ler: Filmkopie - Peter Marzen zu Beginn im Bild. 9. FRüHJAHRSSPRITZENPROBE UNSERER FREI- Zwischentitel: 1. »Samstag, den 3. August: WILLIGEN FEUERWEHR AM 3. MAI AM STADT- Eröffnungsfeier des Kongresses im hohen THEATER, aufgenommen am 3.5.1909, Länge Dome, Feierlicher Einzug der hochwürdig- und Verbleib unbekannt; Quellen: Inserate, sten Herren Bischöfe, Aebte und Prälaten 35 in die Domkirche.« 2. »Sonntag, den 4. Au- besichtigt die römischen Ausgrabungen so- gust: Männerwallfahrt zu dem Apostelgra- wie die neue Kaiser-Wilhelm-Brücke unter be in St. Matthias bei Trier. (Beteiligung ca. grossem Jubel der Bevölkerung«, in der 15-20.000 Männer.)« Kompilation KEIZER WILHELM II. NEEMT Hinweis: »Den 6. Marianischen Kongreß PARADE AF, Nederlands Filmmuseum. zu Trier kinematographisch aufgenommen hat auch der Besitzer der Reichshallenlicht- l 5. BLUMENKORSO 1914, VERANSTALTET VOM bühne, Waldenburger.« (Trierische Landes- RADFAHRERVEREIN TRIER, GEGR. l 88 5, »Ori- zeitung, 8.8.1912) ginal-Aufnahme der Germania Lichtspiele, Inh. Peter Marzen«, aufgenommen am 14. BILDER VOM KAISERTAG, auch DER BE- 21.6.1914, So m, Bundesarchiv-Filmarchiv; SUCH UNSERES KAISERS IN TRIER AM 14. OK- Quelle für Titel und Hersteller: Filmkopie. TOBER 1913, aufgenommen am 14.10.1913, Länge und Verbleib unbekannt. 16. BILDER AUS TRIER, 178 m, Bundesar- Quellen: Inserat, Trierischer Volksfreund, chiv-Filmarchiv, Kompilation verschiede- 21.10.1913; Artikel, Trierischer Volks- ner Trierer Aufnahmen, aufgenommen ca. freund, 21.10.1913; Artikel über Eröffnung 1902-1909, enthält auch LEBEN UND TREI- der Germania-Lichtspiele, Trierische Lan- BEN AUF DEM VIEHMARKT AM 5. MAI; Quelle deszeitung, 29.11.1913. für den Hersteller: Filmkopie - Wendel Hinweis: Wochenschau-Sujet von Pathe und Peter Marzen mehrfach im Bild. freres, Titel: »T rier. S. M. Kaiser Wilhelm II. Anmerkungen 1 Vgl. [Peter Marzen], Aus dem Leben die Todesanzeige in der Saarbrücker Zei- eines rheinischen Filmpioniers. Eine Erin- tung vom 19.6.1936 jedoch das Jahr 1882. nerungsgabe zum fünfzigsten Geburtstag. Für diesen Hinweis danken wir Uli Jung. Peter Marzen, als Broschüre gedruckt In seiner Biographie figuriert Peter Marzen [1933]: undatierte Pressestimmen aus dem ab 1897/98 als alleiniger »Gehilfe« seines Jahr 1898, S. p, sowie S. 6 zur angeblich Vaters (S. 5), eine Beteiligung seines Bru- ersten Trierer Filmvorführung 1897. Der ders Hubert an den Vorführungen wird Verfasser gibt sich im Vorwort nicht zu er- nicht erwähnt. Der dritte Sohn August kennen. Peter Marzen selbst ist in jedem Marzen ist Modelleur und im Wanderkine- Fall an dieser in der Ich-Form gehaltenen matographenunternehmen der Familie of- Biographie maßgeblich beteiligt, die offen- fenbar nicht aktiv tätig. kundig Werbeabsichten für seine Person 4 Der Kinematograph, Nr. 46, 13.11. verfolgt. Die Schreibweise des Unterneh- 1907. mens in den Inseraten ist nicht einheitlich: 5 Eröffnungsanzeige, Trierischer Volks- Marzen kann auch entfallen, Edison im freund, 24.3.1909. deutschen oder sächsischen Genitiv stehen 6 Für diese Hinweise danken wir An- etc. drea Haller und Michaela Herzig. 2 Luxemburger Zeitung, Juli 1906, zit. 7 Vgl. Etringer (Anm. 2), S. 3 5-37. nach Norbert Etringer, Lebende Bilder. 8 Ebenda, S. u8. Aus Luxemburgs guter alter Kinozeit, Im- 9 Vgl. ebenda, S. 35-37. primerie St-Paul, Luxembourg 1983, S. 33. 10 Vgl. Martin Loiperdinger, Film & 3 Als Geburtsjahr Peter Marzens gibt Schokolade. Stollwercks Geschäfte mit le- die Biographie (Anm. 1) das Jahr 1883 an, benden Bildern (K!Ntop Schriften 4), Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main, Ba- 15 »In einem >trierischen< Kinematogra- sel 1999, S. 241ff. phen«, Trierische Zeitung, 14.7.1909; wie- 11 Ina:r, Trierischer Volksfreund, der abgedruckt in diesem Band. 16.6.1909. 16 Trierischer Volksfreund, 21.10.1913. 12 Trierischer Volksfreund, 10.6.1902. 17 Vgl. im Anhang: 14. BILDER VOM KAI- 13 Trierischer Volksfreund, Nr. 294, SERTAG. 9.10.1906. 18 Wie Anm. 15. 14 Trierischer Volksfreund, 4.5.1909. 37 arade-*~ • * Theater ..- J(ur J{eustrasse 3. .,. n hr Jroa- unO fahrstrassr. Blm1-~lel~III t 1t ~~- !IUR!lmli• Dunmlil. 21. D~L ?llu~ llOdj 12l ~RßC! Immer II dir Splt1111l '.",~' ,..,.i.~. Jlctnc 1Dlck>nlolun61nl Aa Umlug a. Relchhal· 9lu,91ucl,Um l. 9lanQ•I. 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"'!~============================.~ ~2, DasvunaerbmXaldOoskop.~ III 'll•44'1t lolorlCl'tot Hau!cro, thnoonblu•ß" unb lCrloftllb. •i==========================' ,. manö1.mbllbtr aus Sd}rotben • • . Otll!ina~llufno6m1n! 7}kfrC sm, 1rl91 111 anf~,1~Hcfln IDcl[e b41 .2dtn uO S:ulhn bcr (4mIJc anb ,n110d,nbt ilu!na\m1n aul bcm ;!;om~ U.nJ,~,n t,rr Xhrr. - ~ 16 l!,po,01< moun In 2:Allfthlr, ,nn blcfcl ,,a~r, 51,nn,n ~ ...il bcc III •II oul1un,j111m, unb l{l bol" 06crloupl aldjl mit „ "II Urinen mplil4•• 'jlinbumn,n 1• omo:djJdn, H 1)ort, ,. · ~ · Mo,. .1 114 t1,· nr<cn eporipl4•• ••~•'· • ••••••••••v•••••••• e. te~männ als ntngkämpf er. 'i"i:.•:::o hll<&r,a /;,umori(l<11 l!clmonu, R<•i• f)clrerlcU ·,mscnb. Jol(clnbt f)anb(••Q 1 3•111,ffanto ~in1c!11Uml ·1. · D11r lll11ln• 5tie111lput11er, -.lcio\nt1 illlUb141lelci1 ,Incl .R•u•n. 2:>ec !)unb 1ft 2r~tnlrtaler firl dncm ~tan'N, . a. 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Diese ergeben aber bei der damals üblichen Vorführgeschwindigkeit von 16 Bildern pro Sekunde eine reine Projektions- dauer - ohne Pausen - von 126 Minuten, also immerhin gut zwei Stunden.24 Im August und September 1910 schaltet Marzen Anzeigen, in denen er ei- nen einzigen Film, manchmal auch drei, selten vier Filme bewirbt, um dann am folgenden Tag die vollständige Titelliste seines Nummernprogramms ab- zudrucken. Zuvor druckt er ein vollständiges Programm nur in einer einzigen Annonce ab: am 14. März 1910, direkt nach Gitsels' Umstellung auf zweima- ligen Programmwechsel. Aus dieser und den späteren Anzeigen geht hervor, daß das Central-Theater in der Regel nur acht, zuweilen auch neun Filme zeigt. Marzen versteht es also, sein zweimal wechselndes Nummernprogramm bei gleichen Eintrittspreisen deutlich unter dem Umfang von Gitsels' Ange- bot zu halten! Daß Marzen in seinen Annoncen nicht mit der Zahl seiner Filmnummern wirbt, sondern einzelne Filme seiner Programme hervorhebt, ist verständlich. Er bietet seinen Kunden erheblich weniger Filme als die Konkurrenz. Warum aber gehen die Kunden weiterhin ins Central-Theater und zahlen einen Preis, für den ihnen das Parade-Theater nicht nur mehr, sondern in der Spitze sogar doppelt so viele Filme bietet? Was ist das Besondere an Marzens kinematogra- phischen Vorführungen? Was ist das exklusive Element, das Gitsels der Kund- schaft nicht offerieren kann? Tatsächlich bietet Marzen dem Trierer Publikum von Zeit zu Zeit etwas ganz Besonderes: Lokalaufnahmen aus Trier und seiner Umgebung. Die Zu- schauer kennen solche Marzen-Filme bereits aus der Wanderkinematogra- phenzeit des Unternehmens. Marzen knüpft daran an und bringt schon weni- ge Wochen nach der Übernahme des Central-Theaters mehrere aktuelle Lokalaufnahmen: Mitte Mai 19 09 FRüHJAHRSSPRITZENPROBE UNSERER FREIWIL- LIGEN FEUERWEHR AM 3· MAI AM STADTIHEATER sowie LEBEN UND TREIBEN AUF DEM VIEHMARKT AM 5. MAI und einen Monat später FESTLICHKEITEN AUS AN- LASS DES 35JÄHRIGEN STIFTUNGSFESTES DES MÄNNERGESANGVEREINS »EIN- TRACHT« AM PFINGSTSONNTAG 1909. Auch die Aufnahme KIRCHGÄNGER IN TRIER AN EINEM FESTIAG ist wohl in diesem Zusammenhang zu sehen.2' Auf diese Filme bezieht sich ein ausführlicher Artikel über das Central- Theater in der Trierischen Zeitung, der in einer Schilderung des Publikums bei der Vorführung von Marzens Lokalaufnahmen kulminiert. »A llbekannte Trie- rer Gesichter« auf der Leinwand werden vom Saal aus munter kommentiert. Die rege Beteiligung der Zuschauer macht die kommerzielle Vorführung zum Heimkino: »Der Kino verliert alsdann den Charakter eines eigentlichen Thea- ters. Die Zuschauer fühlen sich >mehr wie zu Hause< und können ungeniert ihre Kritik an den Bekannten, Freunden und Feinden abgeben.« Beim sponta- nen Klatsch und Gescherze, zu dem die Lokalaufnahmen den Anlaß bieten, sind Marzens Zuschauer ganz bei sich. Sein Trierer Publikum ist, wie die Über- schrift des Artikels sagt: »In einem >trierischen< Kinematographen«.26 Auch in den späteren Jahren sind aktuelle Lokalaufnahmen ab und an noch in Marzens Filmangebot vertreten. Als Marzen am 1 5. Mai 1909 zum ersten Mal seine Lokalaufnahmen im Central-Theater ankündigt, annonciert Gitsels »Bilder, die einen Anschaf- fungswert von 800 bis 1000 Mk. und mehr repräsentieren« im Parade-Theater, »so daß selbst den verwöhntesten Ansprüchen des Publikums in vollem Maße Rechnung getragen werden kann.«27 Offenbar weiß Gitsels selbst, daß er Mar- zen mit der bloßen Beteuerung hoher Investitionen nicht die Stirn bieten kann. Er versucht zu kontern, indem er einen aufwendigen Film herstellen läßt, der die Standorte seiner beiden Parade-Theater in idealer Weise miteinander ver- bindet: EINE MoSELTOUR VON TRIER BIS KOBLENZ, »Spezial-Aufnahme [der] Paradetheater Trier-Koblenz«, bewirbt Gitsels als »die beste, größte und man- nigfaltigste Lokalaufnahme, die bisher hier gezeigt worden ist«. Der Film umfaßt 30 Motive, vom Trierer Marktplatz über diverse Moselorte bis zum einschlägigen vaterländischen Zielpunkt der Reise - dem Standbild von Kaiser Wilhelm 1. am Deutschen Eck.28 Zu einem Gütesiegel des Parade-Theaters werden Lokalaufnahmen durch diese Großaktion jedoch nicht. Gitsels' kine- matographische Moselfahrt bleibt ein einmaliges Ereignis und wie alle ande- ren Filme nicht länger als eine Woche im Programm. Gitsels etabliert jedoch eine dauerhafte Besonderheit seines Programms, indem er ab 10. September 1910 das PATHEJOURNAL abonniert. Die deutsche Ausgabe dieser weltweit bedeutendsten Wochenschau annonciert Gitsels zu- nächst als »Optische Berichterstattung des Parade-Theaters«. Diese Bezeich- nung knüpft an die gleichnamige kinematographische Aktualitäten-Nummer der gehobenen Variete-Theater an. Gitsels versucht auf diese Weise einmal mehr, das Parade-Theater gegenüber Marzens Programm zu nobilitieren. Er reserviert im September und Oktober vier lange zweispaltige Annoncen für ausführliche Inhaltsangaben der gezeigten Ausgaben des PATHE JOURNAL, die zwischen 7 und 17 »Bilder« umfassen.29 Zwei Monate nach ihrer Einführung ist die Neuerung nur noch als eine der vielen Nummern ins Programm einge- reiht: Jetzt erst offenbart Gitsels den Lesern des Trierischen Volksfreunds im Kleingedruckten, daß es sich um die »neueste kinematographisch illustrierte Zeitung der Weltfirma Pathe freres« handelt.J0 Was die gezeigten Filme betrifft, so kann Peter Gitsels insgesamt vom Pro- gramm seines Parade-Theaters zurecht behaupten: »An Umfang und Reich- haltigkeit unübertroffen!«J 1 Auch wenn Marzens Lokalaufnahmen, wie der Artikel in der Trierischen Zeitung anschaulich schildert, beim Publikum leb- hafte Reaktionen auslösen: Die exklusive Leistung, »allbekannte Trierer Ge- sichter« auf der Leinwand vorzuführen, ist im Programm des Central-Thea- 47 ters nur eine Ausnahmeerscheinung. In größeren Zeitabständen vorgeführte Lokalaufnahmen können nicht erklären, wie Marzen für seine acht bis neun Filmnummern beständig den gleichen Eintrittspreis verlangen kann, der im Parade-Theater für ein weit umfangreicheres Programm bezahlt wird.Um den vergleichsweise hohen Eintrittspreis zu rechtfertigen, müssen Marzens Pro- gramme kontinuierlich ein exklusives Element enthalten, das im Parade-Thea- ter nicht geboten wird. Um die Filme selbst kann es sich dabei nicht handeln. Folglich muß Marzen eine besondere Art und Weise ihrer Präsentation beherr- schen. Das exklusive Element seiner Nummernprogramme ist in einer beson- deren auditiven Begleitung seiner Filmprojektionen zu vermuten. Die Nummernprogramme des frühen Kinos sind audio-visuelle Auffüh- rungsereignisse: Die Projektion stummer Filme wird mit auditiven live-Dar- bietungen kombiniert. Die einzelnen Filme, aus denen sich ein Nummernpro- gramm zusammensetzt, sind industriell vorgefertigte Bildkonserven. Sie werden in Form vorführbereiter Rollen gekauft oder gemietet. Für ihre Kom- position zu einem abwechslungsreichen Programm, vor allem aber für die ge- eignete auditive Begleitung müssen die Kinematographenbetreiber selbst Sor- ge tragen. Auf diesem Feld können sich konkurrierende Programmanbieter sehr viel wirkungsvoller gegeneinander profilieren als bei der Auswahl der Filmnummern, deren verschiedene Genres die Filmindustrie bereits standar- disiert hat. Von der technischen Ausstattung her scheint im auditiven Bereich das Pa- rade-Theater klar im Vorteil zu sein. Gitsels stellt von Anfang an klar: »T on- bildeinrichtung hat in Trier nur das Parade-Theater.«32 Damit beansprucht Gitsels für sein Etablissement den ersten Rang am Platze. Tonbilder sind drei bis vier Minuten lange Filmaufnahmen von Opern- und Operettenstars oder bekannten Humoristen, die mit einer mitgelieferten Shellackplatte zum Ein- satz gelangen. Die Vorführung von Tonbildern mit Hilfe einer Synchron- kopplung zwischen Filmprojektor und Grammophon gilt als Qualitätsmerk- mal, mit dem sich Tonbild-Theater von einfachen Ladenkinos abgrenzen, die nicht in der Lage sind, in eine solche Apparatur zu investieren.J3 Entscheidend ist hier jedoch ein anderer Punkt, der für das Trierer Publi- kum offenbar so selbstverständlich ist, daß Marzen selbst nur in einer einzigen Annonce explizit darauf hinweist. In seinem Programm für die zweite Juliwo- che 1909 wird der Film NAPOLEON I. - unter persönlichem Einsatz von Mar- zen selbst-als Zugnummer angekündigt: »Die ganze Handlung, die 33 Minu- ten dauert, wird in bestbekannter Weise durch den Impresario Peter Marzen erklärt werden.«H Peter Marzen fungiert also als Filmrezitator bzw. Filmerklärer des Central- Theaters, indem er die dort gezeigten Filmnummern während der Projektion für das Publikum live erläutert und kommentiert. Ausführliche Schilderun- gen oder Aufzeichnungen seiner Filmerklärungen sind nicht bekannt. Doch erscheint Mitte Juli 1909 in der Trierischen Zeitung der bereits erwähnte Arti- kel über das Central-Theater. Hier erfahren wir die Spezialität des aus Trier gebürtigen Filmrezitators. Peter Marzen erklärt und kommentiert die Filme vorzugsweise in Trierer Dialekt: »Echt trierisch« aber wird der Kino erst durch den die Bilder erklärenden Besitzer. Die Stimme schluchzt, weint, heult, jammert, lacht, flucht, flüstert, poltert oft in- nerhalb fünf Minuten je nach Bedarf. Reinstes Hochdeutsch wechselt mit schön- stem trierischen »Platt«. Dazwischen donnern die Kanonen, zucken die Blitze, schreien die Dampfpfeifen, knattert eine Gewehrsalve.Ji Peter Gitsels versucht nicht, auf diesem Feld Paroli zu bieten. Defensiv macht er »darauf aufmerksam, daß nur solche Bilderserien von erstklassigen Firmen vorgeführt werden, welche ohne jede störende Erklärung leicht verständlich sind.«i6 Dabei wäre so manches Mal eine Erklärung vonnöten: So behilft sich Gitsels zum Beispiel zur Identifikation von Personen in einem Aktualitäten- Film mit Hinweisen, die er in seiner Programmanzeige abdruckt.37 Offenbar wird im Parade-Theater auf Filmerklärungen weitgehend verzichtet. Stattdes- sen setzt Gitsels auf geschmackvolle musikalische Filmbegleitung: »Trotz der enormen Unkosten werden die Vorführungen von jetzt ab von einem bekannt erstklassigen Pianisten begleitet.«J8 Eine Alternative zum Filmerklärer kann die Klavierbegleitung im Jahr 1909 jedoch noch nicht bieten. Die Vorstellungen des frühen Kinos sind Aufführungsereignisse, bei denen der Rezitator oder Filmerklärer die entscheidende Rolle für die Vermittlung zwischen stummer Filmprojektion und Publikum spielt. Er sagt als Conferen- cier das Programm an, überbrückt die durch den Wechsel der Filmrollen ent- stehenden Pausen, erläutert das Geschehen auf der Leinwand und gibt seine Kommentare dazu ab. »Die Leistungen des Rezitators können entscheidend dazu beitragen, ob ein Kino mit seinem Programm beim Publikum Anklang findet oder nicht.«J9 Peter Marzen scheint ein versierter Filmerklärer zu sein. Seine langjährigen Erfahrungen aus der Wanderkinematographenzeit kommen ihm dabei zugute. Durch die Verwendung der trierischen Mundart weiß er sich auf das lokale Publikum gut einzustellen. Marzen selbst behauptet später, daß es ihm mit seinen Filmerklärungen gelang, Kundschaft von Gitsels' Parade-Theater zu sich herüberzuziehen: Es war, bei Gott, keine leichte Aufgabe für mich, täglich von 3 bis ro.30 am Abend den Erklärer der gezeigten Filme zu machen, aber schließlich tat ich es gern, konnte ich doch die Feststellung machen, daß das Geschäft meines Konkurrenten immer mehr zurückging.4° Ein weiteres Konkurrenzunternehmen, die Reichshallen-Lichtspiele, die am 1. Oktober 1910 als drittes Kinematographentheater eröffnen, bieten ein »ei- 49 genes Theater-Orchester« unter Leitung eines Kapellmeisters.4' Später stellt der Besitzer Otto Waldenburger aus Hagen zwei Filmerklärer ein: einen für Hochdeutsch und einen für »Comödie und Humor im Trierer Dialekt«Y Angeblich kann aber auch dieses Duo gegen die Filmerklärungen von Peter Marzen nichts ausrichten: Herr Waldenburger setzte seinen besten Geschäftsführer nach Trier in das Reichs- hallentheater, aber es wollte nicht gehen; er brachte einen erstklassigen(!) Bilder- klärer aus Hagen nach Trier, aber es ging doch nicht! Ohne Überheblichkeit kann ich sagen: er war mir nicht gewachsen. Herr Waldenburger versuchte es auch noch mit einem Trierer als Bilderklärer, aber auch dieser fiel glatt durch - er konnte halt gegen meine langjährigen Erfahrungen nicht aufkommen.trierischen< Kinematogra- den Anzeigen von Marzen und Gitsels ist phen«, Trierische Zeitung, 14.7.1909; wie- keine Reaktion auf den neuen Konkurren- der vollständig abgedruckt in diesem Band. ten erkennbar. 27 Trierischer Volksfreund, 15.5,1909. 42 Stadtarchiv Trier, Tb 19h34, Schund- 28 Trierischer Volksfreund, 15,10.1909. literatur und Kinematographentheater: 29 Vgl. Trierischer Volksfreund, 10.9., Handzettel Reichshallen-Lichtspiele, nicht 24.9., 1.10. und 22.10.1910. pagm1ert, Grosse Schüler-Vorstellung, 30 Trierischer Volksfreund, 7.11.1910. Montag den 23. bis incl. Samstag den 28. 31 Trierischer Volksfreund, 15,11.1909. September [1912]. 32 Trierischer Volksfreund, 24.p909. 4 3 Aus dem Leben eines rheinischen Film- 33 Vgl. zu Tonbildern: Müller (Anm. 20), pioniers (Anm. 40 ), S. 11. S. 78-84; Martin Koerber, »Oskar Messter 'liel/Jc/Je5 ur/J/Jpitl/Juus Jnhaberu.13es. Peter! 1arzen ittwoch, den 27. März 1912, nachmittags 2-5 Uhr , mit besonderer Genehmigung der löbl. Schulbehörde in Trier Zweite gl'osse l!i~I~ ·~ ~r~t~llti~ für alle Schüler und Schülerinnen Triers. Spielplan: 1. Jn den Eisgebieten der D1t1ee. Z. Belgische l(avallerie. 3. J(inema in 1&frika. 4. lingemachte JrBchte. 1. Eemke als J(lavierstimmer. ijumoristiscb. 1. Jabrikation kBnstlicher Blumen. 7. Wie ein Brief von den grossen Seen Zen• fralafrlkas an UnS gelangt, Far,t::':~~~;it\;::::"i• 1. tunlsiand tunesien. 1. Die Gladiolen. 1atur. 11. fuern. 11. '"' den··W assern. 1L 2m Jan. Jaturauflahme. fllll ller Plltze flr Scllller: I. und II. Platz 30 Pfg., III. Plati 20 Ptg. Ir Erw111ll1111;: I. und II. Platz '° Pfg., III. Platz 30 Pfg. Anfang • Ub.,. bis a Uhr. .., urt; ... ,,..,... ...... Bel ... ,.,. ........ ., ....... n.11r..-. Handzettel, Stadtarchiv Trier, Tb 19h34 (gebundene Akte) AMELIE DUCKWITZ, MARTIN LOIPERDINGER, SUSANNE THEISEN » Kampf dem Schundfilm !« - Kinoreform und Jugendschutz in Trier Um das Jahr 1907 eröffnen in den größeren Städten des Kaiserreichs die ersten ortsfesten Kinematographentheater. Es sind vor allem Pädagogen, die dem neuen Medium in Deutschland den Kampf ansagen. Ihre Sorge gilt den Kin- dern und Jugendlichen, die mit zu den eifrigsten Besuchern der Kinematogra- phentheater gehören. Um sie vor seelischem Schaden zu bewahren, sollen sie die für Sitte und Moral bedenklich erscheinenden Filme gar nicht erst zu se- hen bekommen. Die Forderungen reichen von einem völligen Verbot des Kinematographenbesuchs für Kinder und Jugendliche bis zu einer grundle- genden Reform in der Ausrichtung der Filmprogramme. Diese zielt vor allem darauf ab, die unterhaltsamen »Schundfilms«, insbesondere Liebesdramen und Verbrechergeschichten, von den Lei.nwänden zu verbannen und durch lehrreiche »Naturbilder« zu ersetzen. Forschungsarbeiten zu den deutschen Kinoreformern vor dem Ersten Weltkrieg stützen sich in der Regel auf ihre leicht zugänglichen Schriften und analysieren sie unter kulturgeschichtlichen und medienpolitischen Gesichts- punkten, ohne jedoch anhand lokaler Quellen praktische Ansätze vor Ort zu untersuchen. Eine Splitterüberlieferung in der Akte »Schundliteratur und Kinematographentheater« des Stadtarchivs Trier' gewährt Einblicke in die Konflikte, die sich in Fragen des Jugendschutzes zwischen der kommunalen Schulbehörde und den Geschäftsinteressen der ortsansässigen Kinematogra- phenunternehmer entwickeln. Am 8. März 1912 gibt der preußische Kultusminister einen Erlaß zur Schulordnung heraus, der den Kinematographenbesuch von Schülerinnen und Schülern denselben Beschränkungen unterwirft, die auch für Theater, Konzer- te, Vorträge und Schaustellungen gelten. In der Begründung wird explizit dar- auf hingewiesen, daß Kinematographentheater inzwischen auch in Kleinstäd- ten eine Gefährdung für Jugendliche darstellten: Die Kinematographentheater haben neuerdings nicht nur in den Großstädten, son- dern auch in kleineren Orten eine solche Verbreitung gefunden, dass schon in dem hierdurch veranlassten übermäßigen Besuche solcher Veranstaltungen, durch den die Jugend vielfach zu leichtfertigen Ausgaben und zu längerem Verweilen in gesundheitlich unzureichenden Räumen verleitet wird, eine schwere Gefahr für Körper & Geist der Kinder zu befürchten ist. Vor allem wirken viele dieser Licht- bildbühnen auf das sittliche Empfinden dadurch schädigend ein, dass sie unpassen- 53 de und grauenvolle Szenen vorführen, die die Sinne erregen, die Phantasie ungün- stig beeinflussen und deren Anblick daher auf das empfängliche Gemüt der Jugend ebenso vergiftend einwirkt, wie die Schmutz- und Schundliteratur.' Der Trierer Kreis- und Stadtschulinspektor Christoph Musmacher ist gehal- ten, »das Erforderliche zu veranlassen«.J Die Bistums- und Garnisonsstadt Trier hat 1912 rund 50.000 Einwohner. Drei Kinematographentheater mit zu- sammen rund 600 Sitzplätzen sind in Betrieb: das Trierische Lichtspielhaus von Peter Marzen, das Parade-Theater von Peter Gitsels und die von Otto Waldenburger aus Hagen von der Zürcher Elektrische Lichtbühne AG über- nommenen Reichshallen-Lichtspiele. Um etwaigen Gefahren für junge Seelen zu begegnen, scheint in Trier ein amtlicher Erlaß nicht vonnöten. Die am 1. Februar 1911 für den Regierungsbezirk Trier erlassene Polizeiverordnung zur Durchführung der Filmzensur regelt aber den Zugang von Kindern und Ju- gendlichen zu kinematographischen Vorführungen nicht.4 Die Städtische Schuldeputation, ein Gremium aus Vertretern von Stadt, Kirchen und Schu- len, hatte beim Regierungspräsidenten vergeblich auf ein» Verbot des Besuchs von Kinematographen-Theatern durch Kinder« gedrungen.5 Sie hat deshalb schon am 9. Februar 1911 unter dem Betreff »Bekämpfung der Schundlitera- tur« folgenden Beschluß gefaßt: In die Schulordnung ist aufzunehmen: Schulkindern ist der Besuch der Kine- matographentheater ohne Begleitung der Eltern verboten. Im Falle, dass Schulkin- der, deren Eltern von der Stadt unterstützt werden, dort getroffen werden, ist den Schülern die Unterstützung durch Lehrmittel und dergleichen zu entziehen.6 Finanzielle Sanktionen werden den ärmeren Familien angedroht, die städti- sche Zuwendungen für den Schulbesuch der Kinder erhalten. Ob der Kinema- tographenbesuch von Kindern, der ohnehin schwer zu kontrollieren ist, mit dem Instrument der Schulordnung nennenswert eingeschränkt werden kann, ist zweifelhaft. Wie aus einer Trierer Quelle hervorgeht, üben die Schulbehör- den ein Jahr später gehörigen Druck auf die Kinematographenbetreiber aus, um den Filmkonsum von Kindern unter Kontrolle zu bekommen. Am 14. Februar 1912 entspricht Peter Marzen den Wünschen der Behörden, indem er dem Trierer Oberbürgermeister Albert von Bruchhausen ein Angebot unter- breitet: Ew. Hochwohlgeboren gestatte ich mir unter höfl[icher] Bezugnahme auf die mir auf dortigem Amte gemachten Eröffnungen, betreffend die Einführung von soge- nannten Kinder-Vorstellungen, ganz ergebenst Nachfolgendes zu unterbreiten: Ich bin gerne und sofort bereit, am Mittwoch und an Samstag-Nachmittagen von 2 bis 5 Uhr Spezial-Kindervorstellungen zu geben und infolgedessen zu anderen Vor- stellungen überhaupt keine Kinder mehr zuzulassen.7 54 Weiter bittet Marzen, in den Schulen Reklamezettel für diese Veranstaltungen verteilen zu dürfen. Außerdem schlägt er einen regelmäßigen Termin für Probevorstellungen vor, an dem das Kinderprogramm von Behördenvertre- tern vorab gesichtet werden könne. Er schließt sein Schreiben mit dem Hin- weis, daß er bisher stets um sechs Uhr abends ein Lichtbild hat erscheinen las- sen: »Kinder haben das Theater nunmehr zu verlassen.«8 Marzens Bereitschaft, Kindern überhaupt nicht mehr Einlaß zu gewähren, damit ihn die Schulen bei regelmäßigen Sondervorstellungen unterstützen, ist bemerkenswert: Neben Frauen sowie Jugendlieben beiderlei Geschlechts bil- den Kinder die dritte Hauptgruppe des Publikums, von dem die Einnahmen der K,inematographenunternehmer abhängen. Offenbar reagiert Otto Wal- denburger von den Reichshallen-Lichtspielen mit einem ähnlichen Angebot, denn der Oberbürgermeister antwortet unverzüglich an beide Unternehmen: Ich bin damit einverstanden, daß besondere Kindervorstellungen eingeführt wer- den, mache jedoch zur Bedingung, daß in diesen Vorstellungen nur bildende Dar- stellungen, wie Naturaufnahmen, historische oder gewerbliche Vorgänge vorge- führt werden. Auch bin ich dafür, wenn am Schlusse jeder Vorstellung der Humor mit einigen Nummern zu seinem Rechte kommt.9 Die Reichshallen-Lichtspiele terminieren die »Erste Große Jugend-Vorstel- lung für alle Schüler und Schülerinnen Triers« auf Mittwochnachmittag, den 28. Februar 1912.10 Die ausgewählten Filmtitel werden in ein vorgedrucktes Formular »Film-Kontrolle« der Elektrischen Lichtbühne AG eingetragen, das dem Schulinspektor am. 22. Februar mit einem Begleitbrief zugeschickt wird. Das Programm führt zwölf Nummern zu ganz verschiedenen Themen auf, darunter Kaiser Wilhelm II., Sport, Marineausbildung, Reise- und Tieraufnah- men, Herstellung von Marionettenfiguren, Aufklärung über die Pest und zum Schluß LUSTIGE FLUGVERSUCHE (siehe unten). Genau drei Wochen später, am 20. März, zeigt Marzen seine » 1. große Schüler-Vorstellung im Sinne der löbl[ichen] Schulbehörden«." Zwar durfte an jeder Schule ein Programm der Vorstellung ausgehängt werden, die Vertei- lung an die Schulkinder hatte jedoch zu unterbleiben. 12 Marzen spart sich Ex- traausgaben für eigene Zeitungsinserate dieses Programms und verläßt sich auf die eingeschränkte Werbung an den Schulen: »Das Programm wird in den Schulen bekannt gegeben, sowie. durch extra Zettel, welche an der Kasse zu haben sind.«'J Offenbar läßt aber der Zuspruch des Publikums an jenem Mitt- wochnachmittag zu wünschen übrig, denn am 24. März beschwert sich Mar- zen bei Schulinspektor Musmacher über eine Diskriminierung seines Unter- nehmens: Mit Gegenwärtigem gestatte ich mir, Ihnen die ergebene Mitteilung zu machen, daß ich mit der am vergangenen Mittwoch nachmittag stattgehabten Jugend-Vorstel- lung sehr schlecht abgeschnitten habe. Wie ich nun nach eingeholten Erkundigun- 55 gen vernommen habe, kam dies daher, daß eine ganze Anzahl von Lehrern, auch Rektoren, den Besuch meines Etablissements nicht empfohlen haben, vermutlich weil dieselben angenommen haben, es sei ihnen nicht gestattet, für den Besuch mei- nes Institutes zu interessieren, [sie seien] vielmehr nur berechtigt, den Besuch der Reichshalle empfehlen zu dürfen. Ich hatte infolgedessen ein Defizit zu verzeich- nen, indem ich nicht auf meine Kosten kam. Um die Vorstellungen weiterhin möglich zu machen, bitte ich Sie ganz ergebenst, den Herrn Rektoren und Lehrern Anweisung zu geben, doch auch für den Besuch meines Unternehmens in den Schulen empfehlend hinzuweisen.' 4 Marzen fügt seinem Schreiben einen Handzettel bei für die »Zweite grosse Jugend-Vorstellung« am 27. März. Ebenso wie die erste Schülervorstellung der Konkurrenz besteht das Programm fast ausschließlich aus dokumentarischen Aufnahmen. Über Erfolg oder Mißerfolg dieser zweiten Schülervorstellung in Marzens Trierischem Lichtspielhaus ist nichts bekannt. Allerdings beschwert sich Marzen am 25. April erneut, diesmal direkt beim Trierer Oberbürgermei- ster von Bruchhausen. Er wendet sich dagegen, daß am Nachmittag im Stadt- theater eine Kinematographen-Vorstellung für die Schulen der Stadt Trier stattfand und die Schüler diesen Vorführungen geschlossen zugeführt wurden: So möchte ich [ ...] den Antrag ergebenst stellen, doch veranlassen zu wollen, dass Schülervorstellungen mit Einführung in corpore unterbleiben. Nachdem ich mich nämlich mit der hochlöblichen Behörde erst kürzlich in Verbindung gesetzt hatte, Schülervorstellungen zu ermöglichen, wobei es im Belieben frei gestellt bleiben soll, den Besuch meines Etablissements zu ermöglichen, habe ich mich bemüht, alle nur denkbaren Wünsche zu erfüllen und bin nun, nach Aufwendung hoher Kosten, in der Lage, allen Anforderungen zu entsprechen.' 5 Marzens Vorstöße bei der Stadt bleiben folgenlos. Seine Programminserate im Trierischen Volksfreund geben keinen Hinweis auf eine weitere Schülervor- stellung. Er stellt diese Programmsparte wieder ein, nachdem die Reichshal- len-Lichtspiele in seinen Augen bevorzugt behandelt wurden und die Stadt selbst eigene Schülervorstellungen veranstaltet. Es ist nicht bekannt, wer die Schülervorstellung am 25. April 1912 im Trierer Stadttheater durchführt. 16 Warum gehen die Schulbehörden auf die Angebote der privaten Kinema- tographenbetreiber nicht ein, die Schulinspektor Musmacher zunächst doch begrüßt hat? Genügt die Filmauswahl nicht den strengen Maßstäben, die von den Pädagogen an Schülervorstellungen angelegt werden? Die Reichshallen-Lichtspiele geben auf ihrem Formular »Film-Kontrolle« für die Schülervorstellung am 28. Februar 1912 folgende Filmtitel an:' 7 MOMENTAUFNAHMEN SR. MAJ. KAISER WILHELMS II., wahrscheinlich eine Zusammenstellung verschiedener Aufnahmen zum 50. Geburtstag (Deutsche Bioscop, 1909, 90 m); EINE REISE DURCH RussLAND (Films und Kinematogra- phen Lux, Paris, 1910, 103 m) mit Ansichten von Odessa und Charkov; AL- LERLEI SPORT; DER KÖNIGLICHE PARK ZU CASERTA, ITALIEN, MIT SEINEN HERRLI- CHEN SPRINGBRUNNEN; DRILLEN DER JUNGEN FÜR DIE BRITISCHE MARINE (Bar- ker, London, 1911, 137 m); DER TRAUM DES SPIELWARENHÄNDLERS, wohl THE ToYMAKER's DREAM (Arthur Melbourne-Cooper, 1910, 118 m), ein englischer Trickfilm, in dem Spielflugzeuge verunglücken; EIN AUSFLUG NACH BRITISCH CoLUMBIEN; BABYS AUS DEM TIERREICHE (Kineto Film, London, 19u, 150 m) mit Fuchs, Fischotter und Frettchen; BUNTE BILDER AUS JAPAN; EINE STUNDE BEI DEN MARIONETTEN (Deutsche Mutoskop und Biograph, 19u, 130 m) mit Herstellung der Puppen und gespielten Szenen; DIE PEST. IHRE URSACHEN, ENTSTEHUNG UND BEKÄMPFUNG (Gaumont, 1911, 200 m) sowie LUSTIGE FLUG- VERSUCHE als Abschluß. Der Handzettel für Marzens »Zweite grosse Jugend-Vorstellung« führt folgenden Spielplan auf: IN DEN ErsGEBIETEN DER ÜSTSEE (Pathe freres, l 9 l l, 90 m) macht ein Eis- brecher den Weg für ein Walfängerboot frei. Das Militärbild BELGISCHE KA- VALLERIE (Gaumont 1911, 73 m) führt Hindernislauf, Dressur und eine Kaval- lerieattacke vor. In dem kolorierten Naturbild K1NEMA IN AFRIKA (Pathe freres 191 1, 1 2 5 m) zeigt der belgische Regisseur Alfred Machin afrikanische Step- pentiere.18 EINGEMACHTE FRÜCHTE ist möglicherweise ein Industriefilm über die Herstellung von Obstkonserven. Der Slapstick LEMKE ALS KLAVIERSTIMMER (Films und Kinematographen Lux, Paris ·1911, ca. 130 m) ist die »humoristi- sche« Einlage des Programms. FABRIKATION KÜNSTLICHER BLUMEN (Pathe freres 1911, 130 m) zeigt das Zuschneiden, Pressen und Zusammensetzen von Kunstblumen. In dem kolorierten travelogue WIE EIN BRIEF VON DEN GROSSEN SEEN ZENTRALAFRIKAS AN UNS GELANGT (Pathe freres I 9 l l, l 80 m) führt Regis- seur Alfred Machin das Publikum quer durch den Sudan und Ägypten.19 Im direkten An_schluß daran zeigt TUNIS UND TUNESIEN (Pathe freres 1911, 100 m) Araber- und Judenviertel sowie eine historische Spielszene der römischen Er- oberung. Darauf folgen DIE GLADIOLEN (Gaumont 1911, 67 m), ein Städtebild LUZERN (Pathe freres 1911, 90 m) mit dem Vierwaldstätter See. Anschließend zeigt AUF DEN WASSERN (Gaumont 1911, 66 m) die Marne bei Paris. Den Ab- schluß bildet IM HARZ, eine »Naturaufnahme« aus deutschen Landen. Die Nummernfolgen dieser beiden Schülervorstellungen addieren sich auf eine Gesamtlänge von 1100 bis 1200 Metern, was bei einer Vorführgeschwin- digkeit von 16 B/s einer guten Stunde Laufzeit entspricht - Pausen für den Wechsel der Filmrollen und Erläuterungen eines Rezitators nicht miteinge- rechnet. Wie bei den Nummernprogrammen kommerzieller Kinematogra- phentheater üblich, gehorcht die zeitliche Abfolge der Filme dem Prinzip der Abwechslung - im Rahmen des Bildungsauftrags, für den fast ausschließlich dokumentarische Filme vorgesehen sind. Es ist schwer vorstellbar, daß die Auswahl dieser Filme bei den Behörden auf Bedenken stößt. Beanstandungen der Filme für diese Schülervorstellungen sind nicht do- kumentiert - wohl aber unterschiedliche Ansichten über die Notwendigkeit 57 ihrer behördlichen Vorprüfung. Diese ist nach Marzens Auffassung nur bei »dramatischen Darstellungen« nötig - er nennt als Beispiel DIE IRRFAHRTEN DES ÜDYSSEUS (Milano Film 1911, 1100 m)-, während »Naturaufnahmen« und »geschichtliche Vorgänge« als »bildende Darstellungen« in seinen Augen für Kinder fraglos geeignet sind und deshalb keiner Vorprüfung bedürfen.'0 Der Schulinspektor macht jedoch einen prinzipiellen Vorbehalt gegen die kommer- ziellen Kinematographenbetreiber geltend. Von Anfang an reicht Musmacher die bloße Nennung der Filmtitel nicht aus. Er besteht darauf, daß »ohne vorausgegangene Probevorführungen die Vorstellung nicht als Kinderauf- führung bezeichnet werden darf.«" Sein Schreiben trägt das Datum des 28. Februar, an dem die Reichshallen-Lichtspiele ihre erste Schülervorstellung ge- ben. Diese findet offenbar ohne behördliche Vorprüfung statt. Das Unterneh- men kommt Musmachers Auflage auch in einem weiteren Fall nicht nach: Mitte März erhält Musmacher eine schriftliche Beschwerde. Der Verfasser be- klagt sich, daß er eine halbe Stunde vergebens vor dem Kinematographenthea- ter der Elektrischen Lichtbühne gewartet habe, ohne daß jemand erschienen sei, um das Programm vorzuführen. Musmacher versieht diese Zeilen mit der Notiz, daß er dem Betreiber mitgeteilt habe, im Wiederholungsfall jede Bezie- hung abzubrechen." Mit der Schulordnung kann der Schulinspektor zur Kontrolle des Kinder- besuchs nur in seinem eigenen Zuständigkeitsbereich operieren. Gegen die Kinematographentheater selbst hat er keine rechtliche Handhabe, wenn die Ortspolizei, die für die Filmprüfung zuständig ist, die vorgeführten Filme nicht beanstandet hat.'J In diesem Rahmen haben die Unternehmer die Frei- heit, auch Kindervorstellungen anzubieten. So veranstalten Marzens bereits in ihrer Wanderkinematographenzeit Kinder- und Schülervorstellungen, und Peter Gitsels zeigt solche Sonderprogramme in seinem Parade-Theater schon 1908 regelmäßig mittwochs und samstags. Eine Genehmigung der Schulbe- hörde ist dafür nicht nötig-wohl aber für die Verbreitung von Werbung zum Besuch solcher Programme in den Schulen selbst. Das kommt inzwischen für Schulinspektor Musmacher überhaupt nicht mehr in Frage. Am 25. Juni 1912 verschickt er ein Rundschreiben an »die Herren Rektoren und Schulleiter Triers«. Er verhängt im Rahmen der Schulordnung ein Werbeverbot und ge- steht mit seinem Appell an die Lehrer zugleich ein, daß die bisher ergriffenen Maßnahmen nicht den gewünschten Erfolg gebracht haben: Den Besitzern von Kinematographen wird hiermit verboten, in den Schulhäusern der Volksschulen Plakate über Vorstellungen für Kinder anzubringen. Auch ersu- che ich, die Kinder ernstlich darauf hinzuweisen, daß der Besuch der Kinematogra- phen strengstens verboten ist und daß Zuwiderhandlungen auf dem Wege der Schulzucht bestraft werden.'4 Daß dem Kinematographenbesuch von Schulkindern mit der Schulordnung nicht beizukommen ist, zeigt sich an einem neuerlichen Streitfall im Herbst des Jahres: Am 23. September 1912 tagt die Schuldeputation zum Thema »Kinematographische Vorstellungen für Schulkinder«. Anlaß ist die Ankün- digung der Reichshallen-Lichtspiele, vom 23. bis 28. September eine »Große Schüler-Vorstellung« zu geben. Auf dem Programm stehen die Kurzfilme KLAPPERSCHLANGEN, DER WERDEGANG EINES DAIMLERMOTORS, ein für Kinder freigegebenes koloriertes Drama CHOPIN, eine Wochenschau, vier humoristi- sche Filme sowie einer der beiden Hauptfilme des Abendprogramms: THEO- DOR KöRNER, ein »historisches Lebensbild in drei Akten von der Wiege bis zu seinem Heldentode«. 21 Auch Marzens Trierisches Lichtspielhaus hat in dieser Woche die Biographie des patriotischen Dichters im Programm und veranstal- tet damit am Mittwochnachmittag »grosse Schülervorstellungen«.26 Die Lichtbild-Bühne ist voll des Lobes über diesen von Franz Porten und Gerhard Dammann für die Deutsche Mutoskop und Biograph gedrehten Film und meint: »V or der Macht seiner Stimme müssen die Feinde der Kinematographie verstummen.«'7 Die Trierer Schuldeputation jedoch »kann den Besuch nach Einsicht des betreffenden Programms nicht empfehlen.«28 Gründe für diese Entscheidung werden nicht angegeben. Möglicherweise stören die vier humoristischen Ein- lagen: MoRITZ UND SEIN BILD, WILLY SORGT FÜR SEINEN VATER, LEHMANN UND SEINE SCHWIEGERMUTTER sowie das Tonbild DER INFANTERIST, DER KAVALLERIST. Möglicherweise stört grundsätzlich, daß d1e Kinematographentheater mit ei- nem Hauptfilm ihres Abendprogramms am Nachmittag verbilligte »Schüler- Vorstellungen« veranstalten. Am 12. Oktober 1912 erscheint in der Trierischen Landeszeitung eine An- zeige der Reichshallen-Lichtspiele, die »Große Schüler-Vorstellungen« zum reduzierten Eintrittspreis von 10 Pfg. mit dem Hinweis angekündigt: »Das Programm wurde erst der Polizei und höheren Schulbehörde zur Ge- nehmigung vorgelegt.«'9 Eine Genehmigung der Schulbehörde erhielten die Reichshallen-Lichtspiele jedoch nicht. Noch am gleichen Tag richtet Musma- cher an die Schulrektoren der Stadt die Aufforderung: Die Schüler sind darauf aufmerksam zu machen, daß die vom Reichshallen-Kine- matographentheater angekündigten großen Schülerveranstaltungen, die vom 1 5. bis 18. ds. Mts. stattfinden sollen, nicht von der Schuldeputation genehmigt sind. Den Schuldienern ist aufgegeben, das Verbreiten der Programme zu verhindern.30 Die »Großen Schüler-Vorstellungen« gewähren nachmittags Preisnachlaß für ein Programm mit elf Kurzfilmen sowie dem einstündigen Film CHRISTOPH CoLUMBUS,3' der auch im Abendprogramm der Reichshallen-Lichtspiele ge- zeigt wird und zur gleichen Zeit auch noch in Marzens Trierischem Lichtspiel- haus läuft.32 Die Zeitungsinserate der Reichshallen-Lichtspiele werben damit, daß die Herstellung durch die amerikanische Produktionsfirma Selig drei Jahre in An- 59 spruch nahm und 120.000 Mark kostete. Wohl in Hinblick auf die Schülervor- stellungen heben sie außerdem die Vermittlung von Geschichtskenntnissen hervor:» Bei der Ausarbeitung der Handlung wurde die historische Forschung weitgehendst berücksichtigt, so daß in diesem Film ein guter, geschichtlicher Anschauungsunterricht erteilt wird.« Schließlich wird auch noch der Segen des Kirchenvaters herbeizitiert: In einer Privataudienz habe der Papst nach einer Vorführung von CHRISTOPH COLUMBUS dem Direktor Selig eine Medaille überreicht.H Trotz dieser Empfehlungen mißbilligt Schulinspektor Musmacher die Vor- führung von COLUMBUS vor Schulkindern. Als Beispiel nennt er ihn noch Wochen später in einem Brief an die Bezirksregierung, in dem er eingesteht, daß die Hebel der Schulordnung versagt haben, und die Ergreifung polizeili- cher Maßnahmen anregt: Den Volksschülern ist der Besuch des Kinos ohne Begleitung der Eltern verboten worden, jedoch hat das wenig genutzt, denn in allen Vorstellungen findet man im- mer wieder viele Kinder, da unvernünftige Eltern, die den bösen Einfluss nicht glau- ben wollen, den Kindern Geld zum Besuche der Theater geben. Besonderer Unfug wird mit den Ermäßigungskarten getrieben, die in allen möglichen Geschäften er- standen werden und gegen Zahlung von 0,10 M. freien Eintritt gewähren. In einer Vorstellung, die von dem Theater als »von der höheren Schulbehörde ge- nehmigt« angezeigt war, obwohl der Behörde hiervon nichts bekannt war, und die ich deshalb selbst besuchte, wimmelte es von Kindern; zur Hauptsache wurde der Film KOLUMBUS vorgeführt, aber in den Zwischenpausen erschienen verschiedene kleine Sachen, die für Schulkinder wenig geeignet waren, so z.B. eine Entführungs- geschichte, eine Schleiertänzerin und dergleichen mehr.J• Ob die kinematographischen Vorführungen, die für Volksschulen und Jugendverei- ne mit eigenem Apparat geplant sind, die Jugend aus den Theatern fernhalten, glau- be ich persönlich kaum. Ich halte es eher einzig richtig, daß hier in Trier - ebenso wie in Saarbrücken und Berlin- der Besuch der Kinos allen Kindern unter 14 Jah- ren, auch in Begleitung der Eltern, polizeilich verboten wird. Im Interesse der schulentlassenen Jugend jedoch dürfte das Verbot auf alle Jugendlichen bis 16 Jah- ren - wie in Saarbrücken - ausgedehnt werden.35 Schulinspektor Musmacher erhält die gewünschte Unterstützung für seinen Vorschlag.16 Die entsprechende Polizeiverordnung wird am 30. Oktober 1913 erlassen und tritt am 1.Januar 1914 in Kraft. Sie lautet wie folgt:i7 Polizeiverordnung, betreffend den Besuch der Kinematographentheater durch ju- gendliche Personen. §1: Personen unter 16 Jahren dürfen während der öffentlichen Vorführungen in Kinematographentheatern nach 8 Uhr abends auch in Begleitung Erwachsener nicht geduldet werden. §2: Auch zu früherer Stunde dürfen Personen unter 16 Jahren zu öffentlichen Vor- führungen in Kinematographentheatern nur dann zugelassen werden, wenn 60 Bilder, deren Vorführung vor solchen jugendlichen Personen von der Orts- polizeibehörde untersagt ist, nicht gezeigt werden, und wenn demgemäß die Vorstellung an dem der Straße zunächst gelegenen Eingange zu den Vorfüh- rungsräumen sowie an der Theaterkasse durch Anschlag an allgemein sichtba- rer Stelle ausdriicklich mit Zustimmung der Ortspolizeibehörde als »Famili- envorstellung« bezeichnet ist. §3: Die Zustimmung der Polizeibehörde zur Bezeichnung einer Vorstellung als »Familienvorstellung« ist mindestens fünf Tage vor der geplanten Aufführung bei der Ortspolizeibehörde zu beantragen. Dem Antrage ist der Spielplan sowie eine genaue Beschreibung der vorzuführenden Bilder, je in doppelter Ausfüh- rung beizufügen. §4: Zuwiderhandlungen gegen diese Polizeiverordnung werden mit Geldstrafe bis zu 60 M. bestraft, an deren Stelle im Unvermögensfalle entsprechende Haft tritt. Die Stadt Trier holt damit nach, was in der Reichshauptstadt schon seit einem Jahr festgeschrieben ist. Dort wurde am 5. Dezember 1912 im Einvernehmen mit der städtischen Schulbehörde und dem Berliner Lehrerverein eine neue Kinderschutzverordnung erlassen, derzufolge Kinder unter sechs Jahren die Kinematographentheater überhaupt nicht und Kinder vom sechsten bis zum 16. Lebensjahr nur noch besondere Jugendvorstellungen besuchen dürfen.J8 Diese Programme sind in Trier als Familienvorstellung auszuweisen. Sie wer- den von einer Kinoreformkommission geprüft, die sich auf Anregung der Düsseldorfer KinoreformkommissionJ9 bereits Ende Juli 1913 als Unterkom- mission des Ortsausschusses für Jugendpflege gebildet hatte, um kine- matographische Vorstellungen für Jugendliebe zu organisieren und zu über- wachen.40 Nach Verlauf von zwei Jahren steht den Trierer Kinoreformern um Schul- inspektor Musmacher und die Städtische Schuldeputation jetzt das gewünsch- te Instrumentarium zur Kontrolle des Filmkonsums der Kinder und Jugend- lieben zur Verfügung. Um diesen überhaupt noch Zutritt gewähren zu können, müssen die Kinematographenbetreiber die vor 20 Uhr gezeigten Pro- gramme als Familienvorstellungen beantragen. Bei den Entscheidungen über diese Anträge wirken die Jugendpfleger der Kinoreformkommission mit. Den Unternehmen, die zuvor über die Vorschriften der Schulordnung nicht be- langt werden konnten, droht nun bei Zuwiderhandlung eine empfindliche Geldstrafe. In die Bestimmungen einer Polizeiverordnung gefaßt, ist der Ju- gendschutz in Trier mit Sanktionsgewalt gegen die Kinematographenbetrei- ber ausgestattet. Ob damit einschneidende Veränderungen bewirkt werden, ließe sich möglicherweise durch eine lokale Programm- und Aufführungsge- schichte der Trierer Kinematographentheater beantworten. 61 Anmerkungen Für zahlreiche wertvolle Hinweise sind wir Brigitte Braun zu Dank verbunden. 1 Stadtarchiv Trier, Tb 19h34: Schund- 13 Vorankündigung im Inserat des Trieri- literatur und Kinematographentheater. schen Lichtspielhauses, Spielplan vom 19. 2 Ebenda, S. 83-84: Der Minister der bis 22. März 1912, Trierischer Volksfreund, geistlichen und Unterrichts-Angelegenhei- 19.3.1912. Unterlagen über die Zusammen- ten an die König!. Provinzialschulkollegien setzung dieses Programms sind im Stadtar- und die König!. Regierungen, hier an den chiv Trier nicht erhalten. Kreisschulinspektor in Trier, betr. Be- 14 Stadtarchiv Trier (Anm. 1), S. 78: Peter schränkung des Besuchs von Jugendlichen Marzen an Kreis-Schulinspektor Musma- in den Kinematographentheatern, Berlin, cher, 24.3.1912, handschriftlicher Brief. 8.3.1912, Abschrift. 1 5 Ebenda, S. So: Peter Marzen an Ober- 3 Ebenda. bürgermeister von Bruchhausen, 25-4-1912, 4 Vgl. Stadtarchiv Trier (Anm. 1): 1. Be- handschriftlicher Brief. richt der Städtischen Schuldeputation an 16 Die Stadt ist für eigene Filmvorfüh- die Königliche Regierung, Abteilung für rungen auf spezialisierte auswärtige Anbie- Kirchen und Schulwesen in Trier, hand- ter angewiesen. Im Stadtarchiv Trier (Anm. schriftlicher Entwurf, 6.4.1911. Die ent- 1) finden sich einige Offerten und Empfeh- sprechende Polizeiverordnung zur Film- lungen, aber keine Unterlagen über durch- kontrolle in Trier trat am 1.3.1911 in Kraft geführte Vorstellungen. Das Angebot einer (veröffentlicht im Amtsblatt der Königlich Kölner Kinematographen- und Filmcen- Preußischen Regierung zu Trier, 3.2.1912). trale, Inhaber Jean von der Stein, vom 5 Das geht aus handschriftlichen Noti- 24-4-1912 wird z.B. nicht verfolgt, weil die zen auf dem Brief Musmachers an die Kölner Behörden mangels eigener Erfah- Bezirksregierung vom 28.2.1913 hervor rungen keine Empfehlung aussprechen (Anm. 3 5) . Sie sind mit einem Kürzel ge- können (ebenda, S. 81-83). zeichnet, vermutlich vom Lederfabrikan- 17 Angaben zu den Filmtiteln nach Her- ten Thomas Varain, der Stadtverordneter bert Birett, Das Filmangebot in Deutsch- und Mitglied der Schuldeputation ist. land 1895-1911, Filmbuchverlag Winter- 6 Stadtarchiv Trier (Anm. 1), S. 1: Sit- berg, München 1991. zungsprotokoll der Städtischen Schuldepu- 18 Vgl. die Filmographie Machins von Sa- tation, 9.11.1911. bine Lenk in: Eric de Kuyper, Alfred Ma- 7 Ebenda, S. 71: Peter Marzen an Ober- chin. Cineaste!Film-maker, Cinematheque bürgermeister von Bruchhausen, 14.2.1912, Royale de Belgique, Brüssel 1995, S. 199. handschriftlicher Brief. 19 Vgl. ebenda, S. 200. 8 Ebenda. 20 Stadtarchiv Trier (Anm. 1 ), S. 73: Peter 9 Ebenda, S. 69: Der Oberbürgermeister Marzen an Kreis- und Stadtschulinspektor an Peter Marzen, Trierisches Lichtspiel- Musmacher, Trier, 21.2.1912, handschriftli- haus, und an Elektrische Lichtbühne AG, cher Brief. Trier, 16.2.1912, handschriftlicher Entwurf 21 Ebenda, S. 75: Musmacher an Elektri- (diktiert vermutlich von Musmacher). sche Lichtbühne AG, Trier, 28.2.1912, 10 Trierischer Volksfreund, 24.2.1912. handschriftlicher Entwurf. 11 Vorankündigung im Inserat des Trieri- 22 Ebenda, S. 76: handschriftliche Mittei- schen Lichtspielhauses, Spielplan vom 16. lung an die Kreisschulinspektion Trier, bis 18. März 1912, Trierischer Volksfreund, 14.3.1912, gezeichnet Haller. Es handelt 15.3.1912. sich vermutlich um den Schulrektor Niko- 12 Wie Anm. 9. laus Haller. 23 Vgl. Anm. 4. 34 Der Handzettel (Anm. 3 r) führt ein 24 Stadtarchiv Trier (Anm. r ), S. 8 5: Mus- »Tonbild!« ohne Titel auf. Im Spielplan des macher an die Herren Rektoren und Schul- Reichshallen-Theaters für r2.-r4.ro.r9r2 leiter, Trier, 25.6.r9r2, handschriftlicher ist als Tonbild ein SCHLEIERTANZ aufge- Entwurf. führt. 2 5 Ebenda, ohne Seitenangabe (nach S. 35 Stadtarchiv Trier (Anm. r), S. 94-95: 93): Handzettel der Reichshallen-Licht- Königliche Kreisschulinspektion Trier an spiele für »Grosse Schüler-Vorstellung« die Königliche Regierung, Abteilung für vom 23. bis 28.9.r9r2. Der zweite Dreiak- Kirchen- und Schulwesen, Trier, 28.r2. ter im Abendprogramm heißt LEBENDE r9r2, korrigiert 28.2.r9r3, handschriftlich, GRUFT. gezeichnet Musmacher. 26 lrm.l; Trierischer Volksfreund, 36 Ebenda: Auf der linken Seite des Bo- 24.9.r9r2. gens ausführliche handschriftliche Notiz, 27 Lichtbild-Bühne, zitiert nach Ilona die Unterstützung zusagt, mit Kürzel ge- Brennicke, Joe Hembus, Klassiker des zeichnet, vermutlich vom Trierer Lederfa- deutschen Stummfilms 1910-1930, Gold- brikanten Thomas Varain, Stadtverordne- mann Verlag, München r983, S. 224. ter und Mitglied der Schuldeputation. 28 Stadtarchiv Trier (Anm. r), S. 93: Sit- 37 Ebenda, ohne Paginierung: Polizeiver- zung der Schuldeputation vom 23.9.r9r2, ordnung betreffend den Besuch der Kine- Veranstaltung von kinematographischen matographentheater durch jugendliche Vorstellungen für Schulkinder, handschrift- Personen, 30.ro.r9r3; auch veröffentlicht liche Notiz, gezeichnet Thölkes. im Amtsblatt der Königlich Preußischen 29 Trierische Landeszeitung, r2.ro.r9r2. Regierung zu Trier. 30 Stadtarchiv Trier (Anm. r ), S. 92: Mus- 38 Vgl. Gabriele Kilchenstein, Frühe macher an Schulleiter, Trier, r6.ro.r9r2, Filmzensur in Deutschland. Eine verglei- handschriftlicher Entwurf. chende Studie zur Prüfungspraxis in Berlin 3 r Stadtarchiv Trier (Anm. r ), Handzettel und München (1906-1914), diskurs film Reichshallen-Lichtspiele, nicht paginiert. Verlag, München 1997, S. 159. Spielplan der großen Schüler-Vorstellung, 39 Stadtarchiv Trier Tb 19h33, Lichtbil- Dienstag den r 5. Okt. bis incl. Freitag den der, ohne Paginierung: Kinoreformkom- r 8. Okt. [r9r2]. mission Düsseldorf an Oberbürgermeister 32 Vgl. Inserat Trierisches Lichtspielhaus, in Trier, 20.5.19r3. Spielplan vom r5. bis rS. Oktober r9r2, 40 Ebenda, ohne Paginierung: Sitzung des Trierischer Volksfreund, r 5. ro.r9r2. Ortsausschusses für Jugendpflege, 33 Inserat Reichshallen-Lichtspiele, Trie- 29.7.1913. rischer Volksfreund, 15.ro.19r2. [KINDERFASTNACHT, WETZIKON], Produktion Cinema Willy Leuzin- ger, um 1925 MARIANN LEWINSKY Schweizer N ational-Cinema Leuzinger, Rapperswil (SG): Aktualitätenfilmproduktion und regionale Kino- geschichte der Zentral- und Ostschweiz, 1896-1945 Unter diesem Titel habe ich im September 1999 ein Projekt beim Schweizeri- schen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung einge- reicht. Bei Anträgen muss gleich - gleich im Titel - klar gemacht werden, wor- um es geht, und wiederum am Schluss in maximal acht Schlagworten: »Schweiz/ Zwischenkriegszeit/ lokale Mediengeschichte/ Wanderkino/ Genretheorie / Nonfiction/ Filmrestaurierung/ Filmhistoriographie«. Bei den Gesuchen um Restaurierungsbeiträge - über dreissig seit Sommer 1998 - stand unter der komprimiert-informativen Briefüberschrift (»Erhal- tung eines historischen Filmdokuments über Langenthal 1925«) in den vier ersten Linien, worum und um welche Summe es geht, und wer in welcher Ei- genschaft sie beantragt. Dann folgten in einem Satz die Geschichte, im zwei- ten das Problem und im dritten die Projektziele: »D er Rapperswiler Kinounternehmer Willy Leuzinger ( 1878-19 3 5) produ- zierte um 1920-1930 in der Zentral- und Ostschweiz rund hundert Kurzfilme von öffentlichen Ereignissen und zeigte sie als Beiprogramme in seinen festen Sälen und seinen zwei ambulanten Zeltkinos. Etwa siebzig sind erhalten ge- blieben, jedoch akut von chemischer Zersetzung bedroht und nicht mehr vor- führbar. Das Projekt hat zum Ziel, diesen in jeder Hinsicht bedeutenden Be- stand zu erhalten, durch Restaurierung wieder aufführbar und in einem öffentlichen Archiv zugänglich zu machen sowie ihn wissenschaftlich zu be- arbeiten«. Nach zwei Jahren Antragstellerei sind nun das Forschungs- und auch das Restaurierungsprojekt finanziell gesichert, und es geht los. Die Anlaufphase hat mir als unverhoffte Nebenwirkung grösste Bewunderung für die subtil- vernünftigen Strukturen der Schweiz auf den drei Ebenen von Gemeinde, Kanton und Bund beigebracht; das geschah durch das Studium von alten Ak- ten - Protokollen von Ratssessionen und Stellungnahmen von Beamten vor allem zu Bewilligungs- und Zensurfragen -und durch den Kontakt mit heuti- gen Ortsbehörden, mit Landesarchivarinnen, Kulturbeauftragten, Feuerwehr- hauptleuten und Gemeindepräsidentinnen, welche ihre Arbeit gut und sach- dienlich machen und auch noch liebenswürdige Briefe formulieren; so steht in einer Beitragszusage, es sei »nicht zu verschweigen, dass sich die Stadt Lan- genthal aufrichtig freut, Teil eines dermassen grossen und wichtigen Film- projektes zu sein«. Begeisternd zweitens die Schweizer Zeitungsdichte und -qualität der Vorkriegszeit, und nebenbei liest man beim Durchblättern dau- ernd unerhörte Sachen: »Thurbental und Umgebung hatte in der Nacht von Sonntag auf Montag starken Reif. Wasserreiche Pflanzen wie Bego- nien und Gurken sehen aus wie gesotten.« (Schweizerisches Volksblatt vom Bachtel, 17.9.1908) Faselschweine, halb geschobene Mennrinder und prima gerätzter Most werden angeboten, und im Winter geben die Turnvereine »tur- nerisch-, gesanglich- u. theatr. Vorstellungen«: musikalisch begleitete Hantel- übungen! acht Mann an den Stabwinden, bengalisch beleuchtet!' Die negativen Nebenwirkungen bestehen im Gefühl der Unvereinbarkeit von Erfahrung und Erzählung (oder Sache und Sprache) und dem Verdacht, mein Geschäft bestehe letztlich im Schreiben von Zusammenfassungen, kür- zeren für Anträge und Artikel, längeren für die Wissenschaft. Das mag eine vorübergehende Ermüdungsallergie sein, welche sich eben jetzt in einem total unzielstrebigen Text Genugtuung verschafft, oder halt der alte Lebensextre- mismus meiner Generation. Der Aufsatz gibt Ausblick auf die filmhistorischen Aspekte des Projekts. Kommentare und gute Ratschläge sind sehr willkommen. Anfang in der Gegenwart Die Kleinstadt Rapperswil liegt im westlichsten Zipfel des Kantons St. Gallen, am Zürichsee. Es gibt da zwei Ortskinos, das Cinema Leuzinger und das Schlosskino. Sie gehören der Familie Leuzinger, einem der ältesten unter den heute bestehenden Kinounternehmen der Schweiz, und werden seit 1980 von Marianne Hegi-Strickler (*1945) geführt, der Enkelin des Firmengründers Willy Leuzinger. Frau Hegi betreibt einen dritten Saal in Altdorf (Kanton Uri) und programmiert einen weiteren in Arth am See (Kanton Schwyz). Dazu lei- stet sie intensive Kulturarbeit in Rapperswil, unter anderem mit Schwulen- filmtagen, Open Airs, Kino für Kinder, Literaturtagen und Studiofilmzyklen. Das Forschungsprojekt verdankt sich der Kontinuität, der Bewusstheit und den Veröffentlichungen der Kinofamilie. 1996 erschien in einer Zeitschrif- ten-Sondernummer über Kinoarchitektur ein kurzer Artikel über das Unter- nehmen, der folgendermassen schliesst: Die Familie Leuzinger in Rapperswil verwahrt in ihrem Familienarchiv äusserst interessante Dokumente( ...) , Fotografien der Familie und ihrer Kinoeinrichtun- gen, Lochkarten für Kinoorgeln und -pianos, Inserate, Veranstaltungstexte, rund 66 zwanzig Filme aus den 192oer Jahren und Vorführungsapparate seit den Grün- dungsjahren( ...) und wäre bereit, ihre Kenntnisse und den einzigartigen Archivbe- stand für eine wissenschaftliche Arbeit (Medienwissenschaft, Volkskunde) zugäng- lich zu machen. Kontaktadresse: Marianne Hegi-Strickler Cinema Leuzinger Obere Bahnhofstrasse 46 8640 Rapperswil1 Im gleichen Jahr strahlte das Tessiner Fernsehen eine Sendung mit dem Titel ARRIVA IL LEUZINGER' über das Wanderkino Leuzinger aus; es gab darin unter anderem Ausschnitte aus Aktualitätenfilmen von Willy Leuzinger zu sehen sowie Interviews mit der jüngsten Tochter Marta Strickler-Leuzinger ('~1908) und mit Ernst Fritz, von 1927 bis 1979 im Betrieb als Kinovorführer tätig. Zu dieser Fensehdokumentation war der Regisseur Biber Happe von Leuzingers Enkel angeregt worden, von Rene Strickler, einem renommierten Raubtier- dompteur und also Wanderschausteller. (Einschub: Was von der ersten und zweiten Generation vor dem Krieg in einem betrieben wurde, festes und fah- rendes Gewerbe, hat sich in der Enkelgeneration entmischt. Jedoch bewahrt das Gesetz die Erinnerung an einen früheren Zustand: Für Kino verlangt der Kanton St. Gallen nach wie vor das Fahrenden-Patent. Konservativ auch die Sprache, so ist bei der Familie Leuzinger auch in der Nachkriegsgeneration Kino maskulin geblieben, stets der Kino.) · Die Hinweise führten Ende 1997 zu einem ersten Brief nach Rapperswil, und seither haben die Nachkommen von Willy Leuzinger meine Vorhaben mit grösstem Entgegenkommen aktiv unterstützt. Frau Strickler und Herr Fritz sind unterdessen verstorben. Die wissen- schaftliche Forschung beginnt im Moment, da die Erinnerung der direkt Be- teiligten endet. Sie hat nicht zuletzt zur Aufgabe, das bisher privat Erinnerte und Überlieferte ins öffentliche Gedächtnis der Geschichtsschreibung zu überführen, eine von vielen Transformationen - manche gewollt, manche un- vermeidlich -, die mit dem Projekt einhergehen. Schon die ersten Arbeits- gänge veränderten den bisherigen status quo drastisch. Ein grosser Abstell- raum neben der Vorführkabine des Cinema Leuzinger, Geschäftsarchiv cum Familienestrich mit losen Materialhaufen und zehn Schränken unbekannten Inhalts, ist nun durchgeräumt und die Dokumente und Objekte in einer Da- tenbank mit gut 1200 Datensätzen (darunter sehr umfangreiche Konvolute) grob inventarisiert; zahlreiche bisher unbekannte Filmtitel der Produktion Leuzinger wurden lokalisiert und der ganze Bestand identifiziert und nume- riert und in ein Restaurierungslabor transportiert. Die Transformation der Fil- me durch Restaurierung ermisst sich an der Distanz zwischen Ausgangsmate- rial und neuen Kopien. Fotos, darunter private Familienalben, sind auf CD-Rom digital erfasst. Zu den materiellen kommen die diskursiven Veränderungen, wenn Frau Stricklers film vom bappe und Frau Hegis film vom grossbappi in meinen Anträgen und Projektskizzen als »Nonfiction«, »filmhistorische Dokumen- te« oder »audiovisuelles Kulturgut der Schweiz« deklariert werden. Ich halte es für wesentlich, diese Vorgänge nicht auszublenden. In ihrer Überlieferungsgeschichte haben die Erinnerungen, Objekte und Dokumente einen mehrfachen Sinn angenommen, und wie in einem Kaleidoskop erschei- nen sie bald so, bald so, die Filme zum Beispiel als Kinoattraktionen, als unak- tuell gewordene Aktualitäten, als Familieninemorabilia, als wissenschaftliche Objekte und als neue Attraktionen für das Publikum von heute.4 Den Schluss des geplanten Buches könnte ein Essay über die Vergangenheit in den Diskur- sen der Gegenwart machen. Vorgesehen sind Hauptteile zur Unternehmensgeschichte Leuzinger, zu einer Typologie lokaler Kinogeschichten in der Deutschschweiz, zur Integra- tion von Kino in die bestehende Unterhaltungskultur Qahrmärkte, Feste, Ver- eine), zur Programm-, Abspiel- und Rezeptionsgeschichte in der Nordost- schweiz und zur Produktion von Leuzinger sowie ein ausführlicher Katalog der Filme. Geschichte und Struktur des Unternehmens Leuzinger Manche Befunde, die die Materie verspricht, haben sich bereits in Bildern kon- figuriert. Eines erklärt, weshalb Leuzinger in ein Jahrbuch zur Erforschung des frühen Kinos passt: Er reist in den zwanziger Jahren in Dörfer und Klein- städte, er macht dort Filmaufnahmen von lokalen Ereignissen und ihrem Pu- blikum und zeigt sie im Zeltkino am Ort vor eben dem Publikum zusammen mit mitgebrachten Filmen, genau wie die Lumiere-Operateure vor 1900; so bringt er in Wald am Kirchweihsonntag (24. August 1924) gemachte AUFNAH- MEN DES KILBI-LEBENS IN WALD5 am übernächsten Tag, und im folgenden Jahr solche vom FASTNACHTUMZUG WALD (2.3.1925) und vom SCHULTURNEXAMEN SÄMTLICHER SCHULEN VON w ALD - diese beiden im Beiprogramm zum SIEG- FRIED, dem ersten Teil der NIBELUNGEN.6 Schweizerische (und gelegentlich regionale oder lokale) Aktualitäten führ- ten bis 1910 die meisten Kinoschausteller im Programm, so in Wald, um am selben Ort zu bleiben, Hipleh-Walt 1903 und 1904, Wallenda 1907 und Lei- lieh 1910.7 Doch bei Leuzinger handelt es sich nicht um den letzten Mohika- ner, ein in der rückständigen Provinz überdauerndes Vorkriegsmodell, son- dern um dessen erfolgreiche Fortsetzung und Fortentwicklung im anderen Kontext der zwanziger Jahre. Entsprechend unterscheidet sich die Struktur des Unternehmens markant von jener der reinen Schausteller der ersten Phase. Diese haben nach 1900 von Menagerie (Clara Wallenda und zehn Riesen-Step- pen-Wölfe an der Kilbi Wald 1905) oder Illusions-Theater (Leilich an der Kil- bi Wald 1902) zum Kinematographen gewechselt und wechseln um 1920 wie- der zurück- Wallenda zu einem anatomischen Museum nur für Herren.8 Und 68 Schweizer National-Cinema Leuzinger um 1921 zu eben diesem Zeitpunkt übernimmt Leuzinger den fahrenden Kinomarkt als ökonomisch entscheidende Expansion, nachdem er sich seit über zehn Jahren mit festen Sälen etabliert hat und mit Verleihern, Behörden und der Presse beste Beziehungen unterhält. Dank seiner gefestigten Position und Seniorität in den Strukturen des festen Markts und dank des Gewohnheitsrechts bei Platzbewilligungen sowie der von den Behörden geschützten Gewerbefreiheit kann sich das Unternehmen den abspielstarken fahrenden Markt gegen den beständigen Druck der Ortskinos bis in die Kriegsjahre erhalten. - Nach 194 5 zeigt sich bei Leuzinger übrigens ein Bild, das als dritte Phase von Wander- kino interpretiert werden kann: Ausser in Rapperswil betreibt die Familie mehrere Säle im einstigen Tourneegebiet, so in Buchs, Altdorf, Erstfeld, Arth und Einsiedeln, ländlichen Kleinstädten, wo nur am Wochenende gespielt wird. Was nach wie vor reist und durch die fest-sporadischen Spielstellen zir- kuliert, sind die Programme, die Filmkopien. - Soweit ein Überblick und er- ste Schlüsse. Der derzeitige Kenntnisstand erlaubt es, die Unternehmensgeschichte zu um- reissen, wobei viele Einzelheiten noch nicht überprüft sind. Willy Leuzinger, 1878 in Rapperswil geborener Glarner und gelernter Me- chaniker, wechselte um 1 900 ins Gastgewerbe und pachtete das Wirtshaus Krone. Anfang 1905 erwarb er in Rapperswil Liegenschaft und Restaurant Zum Hecht und friihestens 1906 (so die Familienüberlieferung, mit Betriebs- jubiläen seit 1946, und Manz [1968:39]) oder spätestens im Februar 1909 (so die ersten Zeitungsinserate in den Rapperswiler Nachrichten) begann er mit kinematographischen Vorstellungen im Hecht am Wochenende, bis 1910 mit Restauration und ohne Eintritt. Bis dahin hatten die Rapperswiler seit 1903 sporadisch in Wanderkinozelten oder in den Sälen der Krone Kempraten und dem Hotel Schwanen Filme gesehen., 191 3 pachtete Leuzinger den Schwanen, richtete in der Kegelbahn einen »Familien-Kinematograph, 300 Plätze, Konzertstuhlung« ein-Eröffnung am 6. November 1913 mit Quo VADIS (Enrico Guazzoni, Cines, Italien 1913)10 - und betrieb ihn bis zum Wechsel in das neue Schloss-Cinema am 2. Dezember 1926, einem eleganten grossen Kinosaal im Erdgeschoss des Hauses Zum Hecht." Ein Wirt wird Kinobetreiber, das feste Ortskino löst die Schausteller ab und wechselt von der Vorstellung in bestehenden Räumlichkeiten in den eige- nen Zweckbau: genau nach Schema aus dem Filmgeschichtsbuch. Die Kinohi- storiographie beschreibt die Abfolge als einen evolutionären Entwicklungs- schub, durch den das >moderne< feste Kino die als >primitiv< konnotierten friihen Darbietungsformen - reisende Zeltkinos und Vorstellungen in Varietes oder Gasthäusern - ausschaltete. Für Rapperswil und für viele Ortschaften der Welt und der Schweiz stimmt das historiographische Normalmodell, aber lange nicht für alle. Gebietsweise, und das zeigt eben Leuzinger, existierten die verschiedenen Darbietungswei- sen während Jahrzehnten nebeneinander, alle erfolgreich. Es gilt einen exem- plarischen Fall zu beschreiben, der es erlaubt, die Kinohistoriographie um adäquate Modelle für die bisher nicht erfassten kleinstädtischen und ländli- chen Regionen zu erweitern. Hier waren die sogenannt ,friihen< Formen öko- nomisch überlegen und deshalb von langer Dauer. Leuzinger praktizierte in einem grossen Einzugsgebiet, dem nordöstlichen Viertel der Schweiz zwischen Gotthard und Bodensee (Kantone St. Gallen, Zürich, Thurgau, beide Appenzell, Glarus, Schwyz, Uri und Teile von Zug sowie vereinzelt Bernbiet und Graubünden) bis 194 3 folgende Abspielformen: a) regelmässige Vorstellungen in bestehenden Theatersälen, meist in Gasthäu- sern b) regelmässige Vorstellungen in festen Ortskinos c) sporadische Vorstellungen in bestehenden Sälen (»Saalreisen«) d) Wanderkino mit zeitweise zwei grossen Zelten. Aus den Zeitungsinseraten geht hervor, dass in Rapperswil nur an Wochenen- den Kinovorstellungen stattfanden, eine zu schmale Geschäftsbasis. Leuzin- ger wurde vom Wirt, welcher in seinem Restaurant unter anderen Lustbarkei- ten auch Filme bot, zum hauptberuflichen Kinounternehmer, indem er 'Limtensteia wo11~a1~~n~1atI Lidltensteia' Grosses Gastspiel l"ebe1 die Tage den 8 ., 9., 10. November und folgende Tage gastiort auf dem Wo!fhaldanp!at t der bekann le Sdtweizer Hational-Cinema "W. Leuzinge:r. Aocb diMe.•mal. haba ich mir oacb Lichtenateig einige erstlc.l:i'illil':O, henorragend,, }c'ilm~ ,;,.·e::l:e gea1ohort. die rn1r erlauben, meine r werten Kundschaft oioe Fülle de r ex11oisitrsten Genüsse a~! dem Gebiete de,r Llchtspielt11:iat zu Terscbaffen und erölfne ich Sametag den 8 , No• vember, abonda punkt 8 Uhr und Sonntag den 9, November, von nachm„ 1 Uhr an bi• abend• 11 Uhr ununterbt"oohen mein dleemaligee Gaal• spiel mtt einem,.- Eröffnung••Programm -'91Q von Weltr\af . ..... Norma Talmagde ... Amerikas aoböoste Cbard:terdaratellerio in: ,Jer~lommene muten" o~~, ,,me mutMmleit" Es ist ein ganz be.Bonderor Genass, der bier oo,erecn tit. Pobükum bevorsteht. Dn Werk, das eigentlich für die l.ommende Hochsaison 1924/20 bestimmt w1.r, wird aU.ctPmtin als den ,::welt- besten Film des Jabres tariert. Es ist das unbestrittene Moiaterweri, dor kostbarate und regie- tecb.nisch Tollendetate Film der bercihmt6c. arr:oriianischen FilmgeaoU!Klbaft „ First-Nat ional'\ der \Vir so viele tuaergerudicbo Bilder verdaokon. Daiu ein ben·orngende, Beiprogramm als J. ktca!itäton -Einlagl': Das Kinderfest In Llchtenstei91924 Eil)cb aiti.ell'. (Beetgeluogene eigene A.ofnahme) Hoch aktuell'. Montag ( Maf'kttao) von naoh01• 1 Uhr an bia abend• tl Uhr un• unterbrochen Vorstellungen, abend• punlllt 8 Uhr letzte Abend•Vorat. Montag ein volfatändig neuea Praohta•Programm. Ea ist uns gehiogeo, schon jet:t für Lichtoruneig den grosseo itationischeo Mooomer. raUihn MESSALINA zu sichern. Die il:slieniscbe Filmindustrie, einst die führende der Welt, iar Zeit ala aie "Qao \"'a.dis" schuf, bat sich oeoerdiogs iu einem .,c!fort supr9mo·• ao!geraftt, um ihren Platz an der Soono wieder zurüokzoerob1arc , lüt der Untentüt:uog von Swt und Fioa1:1t bat Enrioo Go.au ooi, 0 ~ ~h~~1:ii: i~~:is;~tta!~~0~:~:~. s~~c~r";0;e;QY~rf ~t:~· ;:~o!~~i/~! a:;~~1: berautzubringco. uc.d auctl wir ach.ätzen uns glück.lich1 es sohoo heute unserer ul Kundaobdt :~~~tcti:a~:d1~~ 0~~:11n;icfii~ ~r:e! ~\e"~:e~a:za:oi~odRa~~:oR~b, b~~ ~:~t ~i~~:~~ ste!luog dea Fi lms die gewaltige Swnme von zirka 2 'Millionen Dollar veraohh:u1gen. Dazu ein nur erstkla.aaigea Beiprogramm als iltaaliUUen-Eiolage: Das Trachtenfest In A11penzell 00 20. J:~~924 Hoch akto.ell '. (Eigene Ao.!nahme) Hoch attnell ~ Dlen:},~uu::: 0.~:;-; Extra-Kindervorstellnnc init ei nem speiiellen einwandfreien Programm z.u dem kleioen Eiotritt.apreise ,on on r bO Rp. Elt"tn und En.ieher, lasat enere Kinder ao dieser Vorstello.og tmloebmen, deno was sitt hier \eheu, ist unbedingt oiowandfrei und belehrend, ~.~~~.-Pt:.~, tüi.'r, ~1;,~ :~: Spezial· u. Exklusiv -Vorstellung 3lJererRten Ra.nges, mit einem Programm voo Weltrul, von dem alle Wolt spricht: Dec gross? M'lt '~t anJni y Udn rmW fn f1 r·1Bba • WOD~~/il:ru~·~~:''ii~t:~f:i ö:.'tir'.t Secs::mooafüm wi:ngstone al! versohoUen galt uod Sta.nley mit einer Uoinen Scba.r unerschrockener Männer ao.s:;og, UDJ ihn auh:ufinden. Was diesor kühne Mann für ~benteuer uod aufregende Erleboiaae mit k.riegerisohen schwarz.eo. Vö .kero o. wilden Tieren tu bestehen und für ungeheure Hindernisse in überwinden hatte, zeigt du Bild in san- sationeUen Uebenaacbongen und atemloser Spanouni;:. Ein gewaltige! Drama von atwerordeot- licber SpanDQ.nR, ~erfilmt uotar bleboUDg lll die kult11Tgoschichdicben Ereigni.uo dot D1Jrcb• forscbung des danklt1n Erdtei)s. Unerhörte Seoaation_on .. Eine Spannaog obnogleicbe.n durcb%ieht 'l"OU Anfang biti zum Endo dtoaes p&ckonde nod ere1gn1Bvolle F'Umwerk, das als etnea , der be- deutend,ten Bildor bezeicbnut worden maas. Prachtvolle afrikanische Tier- aod Natu.rbilder. Dazu ein nur eratklaaelge• Beiprogramm, als Aktualität.eo-Ein.lagen: Der Wl'ßteftbufer 1I =estumzug anlässlich der Ausstellung 1924. IIocb attuell ! Wond&rbare oigono Aofo&hmo. , 3 2700 D9' Beeiw,r; W, Leuslnge":,/ 71 expandierte. Erstens nahm er voriibergehend oder dauerhaft weitere Wochen- endspielstellen in Betrieb - in Gasthaussälen (Alter Engel, Wädenswil ZH, 1912; Ziegelhof, Rüti ZH, 1918; Hotel Rätia, Buchs SG, ab 1921) und im Tell- spielhaus Altdorf UR (ab 1925)12 - und mindestens ein weiteres Stadtkino (Pax, Frauenfeld TG, ab 1929), und zweitens trat er spätestens 1917 in den fah- renden Markt ein und baute ihn schnell aus. Im Herbst 1917 signiert er mit einem]. Weber1J Inserate des Kinematograph Helvetia für zwei Kirchweihen im Glarner Rheintal; gleichzeitig sind in der Region auch noch die Kinoschau- steller Weidauer-Wallenda aus Bern und P. Leilich aus Zürich präsent. - 1918, im letzten Kriegsjahr und dem Jahr der grossen Grippeepidemie, wurden die Jahrmärkte und Kilbenen weitherum abgesagt, statt Zeltkinoprogrammen bringen die Zeitungen Versammlungsverbote und Todesanzeigen. Ab 1919 reist Leuzinger allein, unter dem Namen Schweizer National-Cinema (ab 1925 Cinema W. Leuzinger), und bald schon mit zwei Zelten und ziemlich konkur- renzlos.'4 Das »Reisegeschäft«, wie das Wanderkino bei der Familie hiess, gastierte bis zum Verkauf 1943 (»Zu verkaufen: Kompl. Wander-Kino Leu- zinger, Theater 29x11 m, 1 Kabinenwagen, 2 Packwagen, 1 Kassa-Küchenwa- gen«IS) von April bis Anfang Dezember in Dörfern und Städten, meist vom Kirchweihsamstag bis zum folgenden Mittwoch, mit täglich wechselnden, sehr attraktiven Programmen. 1919 macht Leuzinger auch eine erste sogenannte »Saalreise«, eine Tour- nee mit dem in diesen Jahren populären CHRISTUS (Giulio Antamoro, Ignazio Lupi und Enrico Guazzoni, Italien, Cines, 1916); im Firmenarchiv findet sich ein Umschlag mit Schreiben von Geistlichen und Lehrern, aus denen hervor- geht, dass Leuzinger damit auch Schulvor- stellungen gab, die auf sehr positives Echo stiessen. Die Zeugnisse wird Leuzinger als Leumundsausweise für Erstbewilligungen an neuen Plätzen benutzt haben, wie auch das erhaltene Buch voll Empfehlungsschrei- ben von Lehrern, Polizeivorstehern und Marktkommissionen aus den Jahren 1920 bis 1925: gezielte Öffentlichkeitsarbeit zum Aufbau eines geschäftsdienlich guten Images. Tatsächlich hielt Leuzinger in der Programmation das Versprechen seines Werbespruchs »Das Beste vom Guten«; dank seiner Gastspiele lief die ganze inter- nationale Spitzenproduktion nicht nur in den urbanen Zentren, sondern eben auch in Bütschwil, Niederurnen und Ennenda. Marta Leuzinger, Photo im er- Eine zweite, beeindruckende »Saalreise« sten Fahrausweis, 1930 ist durch Verleihverträge, Geschäftskorre- spondenz und Abrechnungsbücher genau dokumentiert: 422 Vorstellungen von BEN HuR (Fred Niblo, USA 1926) an 110 Plätzen von März 1929 bis Mai 1931. Marta, die jüngste Tochter, machte die verantwortliche Organisatorin und die musikalische Begleitung (mit Schallplatten und Geräuscheffekten) und Ernst Fritz den Operateur, beide wenig älter als zwanzig. Leuzinger zahl- te übrigens der MGM Genf im ersten Jahr 3 5 .ooo, im zweiten 10.000 Franken für Kopie und Rechte. Leuzinger, das sind Willy ( 1878-193 5) , der umgängliche, unternehmungslusti- ge Vater, und Mathilde (1899-1980), die äusserst tüchtige älteste Tochter, die früh grosse Teile des Unternehmens und nach Willys Tod die Gesamtleitung übernimmt. Mutter Mathilde Leuzinger-Hofer (1875-1954) ist für Kasse und Buchhaltung zuständig, die beiden jüngeren Töchter Anni und Marta arbeiten voll im Reisegeschäft. Marta macht 1930 die Fahrprüfung und wird zur unent- behrlichen Chauffeuse; sie leitet die Ben-Hur-Tournee 1929-1931 und später mit ihrem Mann Eugen Strickler das Cinema Leuzinger in Buchs. Bis wenige Tage vor ihrem Tod im April 2000 führt sie die Bücher und bedient das Ge- schäftstelefon des Cinema Leuzinger in Rapperswil. f'hoto. A. Steinap, Thalwil Mathilde an der Kasse des Zeltkinos, Anni und Willy zwischen Zelt und Ei- Thawil um 1920 senbahnwagen, Lichtensteig um 1924 73 Ausdehnung und Grenzen des Unternehmens sind wohl direkt von den verfügbaren Arbeitskräften der Familie abhängig. Im August 1943 verkauft Mathilde das Reisegeschäft, nicht weil es unrentabel geworden wäre, sondern (vermute ich) weil ihre beiden Schwestern im Vorjahr geheiratet haben und nicht mehr so mobil sind. Käufer ist ein Konsortium von Landkinobesitzern, darunter Jenny-Fehr (Glarus), Geisser (Wädenswil) und Knecht (Horgen), welche nun endlich die verhasste fahrende Konkurrenz liquidieren können. Das Eisenbahnnetz ist die Grundlage des Reisegeschäftes, auf den Linien der Eisenbahn sitzen die Plätze der Wanderkinorouten. Die Variete-Arena Ludwig Knie lässt sich in Rapperswil nieder und nennt sich ab 1919 »Schweizer National-Circus der Gehr. Knie«. Haben Friedrich, Rudolf der Seiltänzer, Eugen und Charles mit ihrem Kumpanen Willy im Schwanen gesessen und gegessen und fachend miteinander die Namen ihrer Schweizer National-Zelte ausgedacht? Die Familien waren eng befreundet, und auf dem Friedhof Rapperswil liegt das Leuzinger-Grab mit Willy, Anni und beiden Mathilden zwischen zwei Knie-Grabstätten. Die Knies sind etwas Besonderes in Rapperswil und der Schweiz, unsere einzige Erbdynastie mit drei Generationen mädchenbeschwärmter Prinzen: Eugen, Fredy sen. und Fredy jun. Dagegen hielten laut Marta Strickler Leuzingers soziale Distanz zu den Jahrmarkt-Schaustellern. Typologie lokaler Kinogeschichten Ein Bericht zum Lichtensteiger Pfingstmarkt (27.-30.5 .1923) kommt zum Fa- zit, »ein Kinobesuch so alle Jahre ein- bis zweimal« könne »bei ausgewähltem Programm ohne Zweifel viel an Unterhaltung und Belehrung bieten« (Fir- menarchiv Leuzinger 132.11) - der Verfasser hatte bei Leuzinger ein Pro- gramm mit der Eigenaufnahme vom RAPPERSWILER ZUCHTSTIERMARKT und dazu als Hauptfilm 0RPHANS OF THE STORM (D.W.Griffith, USA 1922) gese- hen. In vielen Ortschaften des Tourneegebiets, wo es nie ein festes Kino gab, besteht die lokale Kinogeschichte im wesentlichen aus den Gastspielen Leu- zingers, der jährlich ein- oder zweimal (in Lichtensteig zum Frühjahrsmarkt und zum Landschiessen im Herbst) kommt; und sie bricht ab mit dem Ende des Reisegeschäfts. An vielen Spielplätzen wie Glarus, Wald oder Horgen eröffnen um 1920 Ortskinos, aber Leuzinger kommt weiterhin, was gelegentlich zu schrillen Anzeigeschlachten in den Zeitungen führt. Manche Plätze wie Wald und Lich- tenstein werden 1929 zum letzten Mal besucht, vielleicht waren sie zu wenig rentabel, vielleicht wurde hier die Spielerlaubnis durch das Ortskino mit Er- folg hintertrieben, vielleicht konzentrierte sich die Arbeitskapazität in diesem Jahr auf Unternehmungen wie die BEN HuR-Saalreise und die Kinoeröffnung in Frauenfeld oder das Reisegeschäft musste 1930 wegen Willy Leuzingers 74 schlechtem Gesundheitszustand reduziert werden. Erstaunlicher als das Fort- bestehen des Wanderkinos neben den neueröffneten Ortskinos zum Teil bis 194 3 ist jedoch, dass Leuzinger die grosse Kantonshauptstadt St. Gallen, in der es seit langem feste Säle gibt, 1923 zu bespielen beginnt (LA 132.7-9); die ein- zige von ihm nicht besuchte Kantonshauptstadt im Einzugsgebiet bleibt schliesslich Zürich. Systematisch zusammengestellt finden sich also in der Nordostschweiz zwischen 1900 und 1943 die folgenden lokalen Situationen: Typ I: Sporadisches oder jahreszyklisches Schaustellerkino wird definitiv von festen Sälen abgelöst (Beispiele u.a. Zürich, Rapperswil) Typ II: Langjährige Koexistenz von Ortskino und regelmässig gastierendem Schaustellerkino (Beispiele u.a. Glarus, Horgen, Wallenstadt), nach 1943 nur noch feste Säle. Typ III: Ausschliesslich regelmässig gastierendes Schaustellerkino, nach 1943 keine lokalen Vorstellungen mehr (Beispiele u.a. Bülach, Adliswil). Typ IV: Seltene (BEN HUR) bis keine lokalen Vorstellungen. Leuzingers Filme Erhalten sind etwa 16.500 Meter im Kinoformat 35mm in originalen Nitrat- positiven diverser Fabrikate (Pathe, Agfa, Ferrania, Gevaerts), etwa ein Drit- tel davon viragiert, meist auf vorgefärbtem Pathe-Material. Alles Material stammt aus dem Zeitraum 1920 bis 1929. Entwickelt und kopiert wurde im Haus Leuzinger, wie sich Marta Strickl.er gut erinnert. 16 Im Filmbestand lassen sich nach Art und Auswertung vier Gruppen unter- scheiden. Erstens fand sich etwas Material, das nicht von Leuzinger stammt; es handelt sich um - mehrheitlich auf 1923 datierbare - Überbleibsel aus dem Kinobetrieb, nämlich zwei kurze N eujahrsgratulationsfilme in Animation so- wie Fragmente aus Spielfilmen (darunter zwei Western, ein Griffith und ein Stroheim) und aus einem ethnographischen Film. Die Bildinhalte lassen ver- muten, dass es sich zum Teil um Zensurschnitte des Kinobetreibers handelt. Eine zweite kleine Gruppe bilden die privaten Aufnahmen Leuzingers: Fa- milienmitglieder, die Baustelle des neuen Kinos (1926), eine Bootsfahrt, eine Tennispartie, Ansichten von Rapperswil. Dieses Material - darunter einige Negative - blieb ungetitelt und unmontiert und wurde nie öffentlich gezeigt, inedits eben. Drittens drehte der engagierte Turner Leuzinger drei abendfüllende Filme der Eidgenössischen Turnfeste St. Gallen 1922, Genf 1925 (nicht erhalten) und Luzern 1928; davon existierten vermutlich jeweils mehrere Kopien, welche landesweit an die Turnvereinsektionen für die Unterhaltungsabende in der Wintersaison verliehen wurden: Zum Festfilm Luzern 1928 fand sich im Fir- menarchiv ein Verleihbuch für sieben Kopien. 75 AUFMARSCH DER 72 MANN DES TURNVEREINS RAPPERSWIL ZU DEN PY- RAMIDEN (1927) Den weitaus grössten Teil des Bestandes mit 66 erhaltenen und 20 verlo- renen Titeln bilden die ein bis zwei Rollen kurzen Aktualitätenfilme von öf- fentlichen Ereignissen wie Fastnacht, Landsgemeinden, Feuerwehrübungen, Festumzügen, Sportanlässen, Beerdigungen und Jahrmärkten, welche der Ki- nounternehmer als Beiprogramme für seine Vorstellungen produzierte und benutzte. Entstanden in einem engen Zeitraum von zehn Jahren (1920 bis 1929), regional begrenzt auf das Reisegebiet des Unternehmens, formal nicht raffiniert und nicht dilettantisch, sondern schlicht und manchmal einnehmend stimmungsvoll, erfassen sie das Panorama des öffentlichen Lebens und seine Formen kollektiver Unterhaltung und verwandeln sie in Medienereignisse. Der Aktualitätenfilm funktioniert als eine Art öffentlicher Familienfilm, in- dem oft das Publikum einer Veranstaltung als ebenso filmens- und sehenswert erscheint wie jene und solche Aufnahmen möglichst schnell am selben Ort vorgeführt wurden. Dem Drehen an Jahrmärkten gingen jeweils Vorankündi- gungen in der Zeitung voraus (»Gelegenheit, sich selbst sehen zu können«[ ...] »Passt Alle auf, sonst kennt man euch nicht«);17 schwenkt die Kamera über die gereihten Buden und nimmt abwechselnd Stände - darunter auch das Kino- zelt und anwesende Leuzingers - und das zahlreiche Publikum auf, wird sie selber eine in der Reihe der Attraktionen, und die Schaulustigen stellen sich frontal vor ihr auf oder wenden sich hin und gucken. Wie viele frühe nonfic- tion-Filme basieren die Leuzingerfilme auf dem Dreieck von profilmischem Schauereignis, dessen Publikum und der Kamera; sie partizipieren an den Schauanlässen, und durch seine direkte Kommunikation mit der Kamera par- tizipiert das Publikum am Film. Diese unverstellten Beziehungen reproduzie- ren sich, beschränkt, auch in der Aufführung vor heutigem Publikum. Als » hochaktuelle Einlagen« wurden die Filme innert höchstens einem Jahr meist nur am Ort der Aufnahme oder in der engeren Region gezeigt, kombi- niert mit Spitzenwerken der internationalen Produktion, das KANTONALE TURNFEST 0ERLIKON'8 mit NANOOK OF THE NoRTH, die LANDSGEMEINDE GLA- RUS'9 mit THE SHEIK, die NÄFELSER SCHLACHTFEIER20 mit ZuM PARADIES DER DAMEN, das TRACHTENFEST APPENZELL21 mit MESSALINA. Die Vorstellungen in den Zelten des Schweizer National-Cinema W. Leuzinger realisierten so die grundlegenden gegensätzlichen Funktionen von Film, das Eigene und das Fer- ne zu zeigen, und liessen im Kino im selben Programm die Wiedergabe umlie- gender Wirklichkeit und den inszenierten Wirklichkeitsschein von Fiktion erleben. Durchlässigkeit, Zirkulation Film- und Kinogeschichtsschreibung lässt tendenziell ihren Gegenstand 1895 vom Himmel fallen und danach isoliert wie auf Schienen durch einen leeren Raum fahren. Bei den ersten Zeitungsrecherchen zu Leuzinger erstand sofort das Bild einer überreichen lokalen Vergnügungs- und Darbietungskultur, in die Kino und Film integriert sind. Neben Film sind Lichtbilder (viel Reisen und ferne Länder, aber auch narrativ-fiktionale Programme) bis in die dreissi- ger Jahre eine stark präsente Projektionskunst; Filme und Lichtbilder werden in Kirchen oder Wirtschaften gezeigt, in letzteren neben Theater- und Operet- tenvorstellungen, Konzerten, Ausstellungen tätowierter Frauen oder exoti- scher Goldfische und vielen Vereinsanlässen. Wahrscheinlich hat Leuzinger zu filmen begonnen, nicht nur weil er ein Kinomann, sondern vor allem weil er Mitglied des Turnvereins war, einst er- folgreicher Kranzturner, dann engagierter Oberturner der Sektion Rap- perswil. Die Aufnahmen vom Turnfest Rüti vom Juli 1920 (nicht erhalten) sind seine ersten bisher nachgewiesenen, seine ehrgeizigsten Produktionen mit der grössten Zirkulation - die Leuzinger selber am meisten und uns heute am wenigsten interessieren - die drei langen Filme der eidgenössischen Turnfeste, aus denen er auch noch fünf ETV-REVUEN zusammenstellte. Um Leuzinger erscheint der Turnverein weniger als paramilitärische Organisation und mehr als Veranstalter von Bunten Abenden mit Kino, Gesang, Theater und Tanz und als Filmproduzent. Im AUFMARSCH DER 72 MANN DES TURNVEREINS RAP- PERSWIL zu DEN PYRAMIDEN marschieren 72 junge Rapperswiler im Takt und in 77 Orgeln und Dekorationen gehören zu den flüchtigsten Elementen der Schausteilerei und sind kaum erforscht. Viele Maler kamen aus dem Glarnerland, auch in diesem Fall: » Der Schweizer N a t i o n a I C i n e m a unseres Landsmannes W. Leuzinger hat sich für die diesjährigen Glarner Kilbenen ganz besonders festlich ausgeschmückt. Beide Fassaden sind mit prächtigen Bildern aus der Schweizergeschichte sehr sinnreich deko- riert, eine sehr schöne Arbeit aus dem Atelier H. Eberhard, Weesen.« (Glarner Nach- richten, I. September 1923) Wer kann die antiken Szenen der Seitenpaneele identifizie- ren? Wenn sie ebenfalls Schweizer Geschichte illustrieren, beruhen sie vielleicht auf dramatisch ausgebauten Nebensätzen aus dem Bellum gallicum? Divico und die Schlacht bei Bibracte oder Orgetorix, Helvetierhäuptling und Held einer Ballade (von einem A. Hartmann) im Schweizer Lesebuch für die Fünfte Klasse? Zweierreihe zwar recht soldatisch auf, bauen dann aber mit purer Zirkusarti- stik und sichtlichem Spass an der eigenen Geschicklichkeit auf einer Wiese voll Mostbirnenbäumen zweckfrei komplizierte Menschenkonfigurationen auf. Alle Vereine spielen Theater und veranstalten Feste und Festumzüge, die Städte zusätzlich Festspiele, alles begleitet von Musik und alles blumenbe- kränzt. In den Leuzingerfilmen sieht man diesen Umzügen an, dass es ums Kostümieren ging, um Fiktionalisierung und Historisierung. Römer im Um- zug der RAPPERSWILER FASTNACHT (14. Februar 1926) und eine radfahrende Römergruppe im Umzug am WÄDENSWILER RADSPORTIAG (15. August 1926)) das künftige Publikum von BEN HuR, welches bei Leuzinger schon je zwei Verfilmungen von Quo VADIS und von DIE LETZfEN TAGE VON PoMPEIJ und MESSALINA gesehen hat. Eduard Stückelberg: Der letzte Hohen-Rhätier (1883), Postkarte um 1920 aus dem Besitz von W. Leuzinger Ein Umzug, ein langer Streifen wie ein Filmband, ist aus verschiedenen Gruppen - verschiedenen Einstellungen - gebildet, die von Schrifttafeln als Zwischentitel getrennt sind. Am 19. April 1926 filmte Leuzinger den Umzug zum ZüRCHER SECHSELÄUTEN (ein Frühjahrsfest); in jenem Jahr repräsentier- ten die Gruppen - voraus die Tafel mit dem jeweiligen Titel - die Novellen von Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer, den beiden grossen Zür- cher Autoren des 19.Jahrhunderts. Leuzinger reiste nicht nur mit Filmen von Umzügen von Büchern, sondern auch mit Malerei und Musik.22 Bis zur Neugestaltung um 1930 zeigten die Zeltkinofronten und die Jahrmarktsorgeln Kopien nach Bildern von Arnold Böcklin und Eduard Stückelberg, den prominentesten Schweizer Malern des späten 19. Jahrhunderts. Auf einem undatierten Foto sieht man in den zwei grossen Bildfeldern der dreifigurigen Gavioli-Jahrmarktsorgel Böcklins Ne- reiden und Tritone, und in den Jahrmarktsfilmen von 1924 und den auf Juni 1924 datierten Fotos aus Bütschwil ist im mittleren Frontpaneel der Wander- kinofassade in voller düsterer Pracht Eduard Stückelbergs Tod des letzten Hohen-Rhätiers zu erkennen, populärstes Gemälde der Kunstausstellung im Schweizerischen Landesmuseum 188 3 mit intensiver Postkartenverbreitung, und links davon einApfelschuss und rechts davon ein Tellsprung nach Stückel- bergs bekannten Fresken von 1880-1881 in der Tellskapelle. In Leuzingers Region ist »mit dem Wort Kilbi seit Jahren nebst vielen an- deren Attraktionen auch der Kino engverschlungen«, wie in der Voranzeige 79 zu den Kirchweihmärkten Ennenda und Niederurnen von 1924 steht.2i Beredt preist der Kinounternehmer Mal um Mal Grossstadtprogramme und weltbe- rühmte Filmwerke an und schreibt an einer Stelle dazu im Werberausch, »der bestbekannte Kino Leuzinger« geniesse »bereits einen Weltruf«.24 Das Surre- ale an der Behauptung deckt auf, dass Randgebiete das Zentrum kennen und Zugang zu dessen Kulturproduktion haben, aber nicht umgekehrt, und so ge- sehen haben die von Wetzikon oder Oberwinterthur eine weitere Welt als die von Paris oder New York. Lokale und regionale Filmgeschichte verbinden sich in der Kinoprogram- mation und der Publikumsrezeption mit der grossen internationalen Filmge- schichte. Die weitreichendsten Verbindungen schaffen jedoch die Bilder und Stoffe bei ihrem Reisen durch die Zeiten, Anlässe, Medien und Darbietungs- formen. Anmerkungen Siglen: LA Firmenarchiv Leuzinger, Rapperswil; VB Schweizerisches Volksblatt vom Bach- tel; RN Rapperswiler Nachrichten. Alle Photos aus dem Firmenarchiv Leuzinger. 1 Anzeigen des Turnvereins Hinwil: VB, KINO-NEUBAU 1926) keine konkreten Spu- 13.r.1912 und des Athleten-Klubs Wald, ren fassbar geworden, auch ist sein Vorna- VB, 10.2.1912. me nicht bekannt und der Familienname 2 Peter Röllin, »Leuzinger Rapperswil- wurde möglicherweise anders geschrieben. Kino seit 90 Jahren«, Kunst + Architektur Frau Strickler erinnerte sich, dass er aus in der Schweiz, 3 /r996, S. 33 r. München kam und bei ihnen einige Zeit 3 Ausstrahlung: Televisione Svizzera (um 1924-1926) als Kameramann und Ope- ltaliana 15 + 1996, Regie: Sandro Bertossa rateur arbeitete. Wenn in den Jahrmarkts- und Biber Happe, Koproduktion: WDR, filmen von 1924 Willy Leuzinger im Bild Dauer: 44 Minuten. erscheint, stand Winner wohl hinter der 4 Erste neue Vorführkopien wurden in Kamera, auch stammen die professionell Programmen stummer Kurzfilme mit Mu- langen und ruhigen Schwenks in etlichen sikbegleitung (»Das Neueste aus der Ver- Filmen eher von ihm als von Leuzinger. gangenheit«, »Archivbeat«) und in Projekt- 6 VB, 31.8.1925, und Voranzeige 28.8. präsentationen seit November 1999 in 1925. Zürich, Winterthur, Basel, Lausanne und 7 Anzeigen im VB, 28.8.1903, 27.8.1904, Rapperswil gezeigt. 24.8.1907 und 27.7.1910. 5 VB, 22.8.1924 und 25.8.1924. Kilbi 8 Inserate im VB, 26.8.1905 (Wallenda), oder Chilbi ist schweizerdeutsch für Kirch- 23.8.1902 (Leilich), Allgemeiner Anzeiger weih. Den Kilbifilm für die Kilbi filmten vom Zürichsee, 19.8.192 r (Wallendas ana- Leuzinger und sein Kameramann Winner tomisches Museum). im Jahr 1924 mindestens achtmal. Erhalten Die Stichproben-Zeitungsrecherche für die sind die Aufnahmen von Horgen, Herisau, Kilbi der Gemeinde Wald im oberen Töss- Meilen, Richterswil, Frauenfeld und St. tal zeigt einmal mehr, wie der Jahrmarkt: Gallen, verschollen jene von Wald und Ad- Kinematograph als eine unter vielen ande- liswil. Von Winner sind bisher ausser einer ren Darbietungsmaschinen oder -buden Fotografie und einer Filmaufnahme (in: auftaucht: »Mechanische Original-Kunst- 80 uhren-Ausstellung« mit mechanisch-be- ein Kino eröffnet (Abbildung bei Manz, S. weglichen Landschaften, Kriegsbildern, 34 und Angaben bei Dumont, S. 22). Das Festspielen und einer humoristischen Höl- lässt die Arbeitshypothese zu, dass Leuzin- le (VB, 26.8.1899), »Welt-Panoptikum«, in ger den Wanderkino samt Namen von We- dem, dargestellt mit lebensgrossen, mecha- ber-Clement gekauft hat (Hanspeter Manz, nisch beweglichen Pracht-Wachs-Grup- »Zur Frühgeschichte des Kinogewerbes in pen, die Ermordung des Königs von Italien der Schweiz«, in: Film und Filmwirtschaft in Monza und die Weltausstellung Paris in der Schweiz. fünfzig Jahre allgemeine 1900 samt Schweizerdorf zu sehen waren Kinematographen Aktiengesellschaft, Zü- (VB, 25.8.1900), »Rauschers Panorama« rich. Zürich 1968, S.34. Herve Dumont, mit Aktualitäten und Reisebildern und Geschichte des Schweizer Films, Lausanne »Kristallpalast« (»Der Königsmord in 1987, s. 22). Serbien«, »mechanisch bewegliche Wachs- 14 Die spätesten Nachweise für andere figuren«, »vor demselben Etablissement Kinoschausteller neben Leuzinger sind bis- befinden sich die automatischen Kinemato- her J. Nocks Grand Cinema Palace (an der graphen«), beide in VB, 29.8.1903. Kirchweih Erlenbach, Zürichsee-Zeitung, 9 Nachgewiesen durch Anzeigen in den 1.9.1923) und Dahlmann-Fassold (»Thal- Rapperswiler Nachrichten (RN) sind die mann-Fassold« in Teufen 1925, LA 134.27). Wanderkinos Hofmann und Fromm (»Le- 15 Inserat in den Schausteller-Nachrich- bende Photographien zum ersten Mal in ten vom August 1943, LA 97. Als Verkäu- Rapperswil«, RN 15.8.1903), L. Praiss Ge- fer trat der Schausteller M. Marcelli auf. neve (RN 22.8.1903), Gehr. Sperl Genf (RN 16 In einem Brief des Basler Kopierwerks 29.6.1904), » Kinematographische Wieder- Eos von 1937 (LA 768) wird ein günstiger gabe der schönsten Szenen aus dem Pas- Selbstkostenpreis allerdings damit begrün- sionsspiel nebst Projektionsbildern von det, dass »wir schon seit Jahren mit Ihnen Oberammergau und Umgebung« im Hotel arbeiten«, was auf auswärtige Verarbeitung Schwanen (RN 25.3.1905), The Royal - vielleicht der langen Turnfestfilme in Randvoll (RN 28.3.1906); Cinematograph mehreren Kopien - schliessen lässt. Wallenda (RN 15.9.1906), The Imperial Vio 17 Anzeiger des Bezirkes Horgen, [Weidauer] (RN 20.7.1907), Salon-Cinema- 1.8.1924. tograph Wallenda (RN 25.7.1908), Sperl 18 6.- 8.Juli 1923. Genf (RN 10.4.1909). 19 6. Mai 1923. 10 RN, 5.11.1913. 20 5. April 1923. 11 Leuzingers private Filmaufnahmen 21 20. Juli 1924. von der Baustelle sind erhalten; eine genaue 22 »[U]m drei begann bei Leuzingers auf Beschreibung des neuen Saals mit Malerei- dem Budenplatz die buntbemalte Orgel die en in Blau und Orange und orangen Be- Ouvertüre zu ,Dichter und Bauer< zu dröh- leuchtungskörpern gibt der Zeitungsartikel nen.« Willy Fries, Bilder im Sturm. Amris- in den RN, 3.12.1926. wiler Bücherei, Amriswil 1986, S. 12, eine 12 Buchs und Altdorf blieben von da an wunderbare Jugenderinnerung an Besuche wichtige Spielorte mit Kinoneubauten Ci- im Wanderkino Leuzinger. Die etwa dreis- nema Leuzinger in Buchs 1947 und Cinema sig erhaltenen Rollen des pneumatischen Leuzinger in Altdorf 1963. Klaviers für den Rapperswiler Saal gehören 13 Es könnte sich um Jean Weber-Cle- vorwiegend ins Repertoire Oper und Klas- ment (1858-1928) handeln, der seit 1903 sik. von Yverdon aus einen grossen Wanderki- 23 LA 134.27. no namens Cine-National-Suisse in der 24 Ankündigung Lachen SZ 1926, LA Welschschweiz betrieb und 1910 in Vevey 131.1. --,1 Americon. Circvs-Kinemotogroph · Ww. Corl Heitmonn · Herford i. Westf. · 1907 Circus Xmematograph . ]J,s. • c;. J(ipl,h-Wa/t. ,, .le .ß1ographe Sutsse." }'rop.: ßi,l-}Jienn,. 82 ANNEPAECH Zirkuskinematographen Marginalien zu einer Sonderform des ambulanten Kinos Der erste Kinobesuch, an den sich der Schriftsteller und Journalist Joseph Roth erinnert, hat etwa 1905 vermutlich in seiner Heimatstadt Brody in Gali- zien stattgefunden. Das war, als ich noch ein Knabe war und als zum erstenmal das Wunder der lebendigen Schatten zu mir kam. Damals kam ein großer Wagen daher, von unsichtbaren Kräf- ten gezogen, blieb auf einem freien Platz vor der Stadt stehn und schickte zuerst eine große Maschine vor, von einem kleinen Zelt aus Leinwand bedeckt, und hier- auf ward ein großes Zelt, ebenfalls aus Leinwand, ausgebreitet und gewölbt, und trat man hinein, so war das Innere der Wölbung ein blauer Himmel, gestirnt mit vielen goldenen und silbernen Sternen.' Joseph Roth hatte seine erste Begegnung mit dem Film in einem der frühen mobilen Kinopaläste, den sogenannten Zirkuskinematographen, die für kurze Zeit zwischen 1905 und 1910 Aufsehen erregten und als glanzvoller Höhe- punkt der Zeit des ambulanten Kinos zugleich ihr Ende bedeuten. Die Kooperation von Kinematograph und Zirkus ist allerdings schon älte- ren Datums. Seit der Jahrhundertwende war der Kinematograph gelegentlich auch im Zirkus eine Programm-Nummer unter anderen. Für das Jahr 1900 hatte zum Beispiel der Circus Corty-Althoff in Osnabrück neben Pferdedres- sur und Equilibristik in seinem »großen Novitäten-Abend« die »Lebenden Photographien, dargestellt mit dem Original-Kinematograph, Modell 1900« bereits als Zugnummer angekündigt.' Die Programmstruktur des Zirkus, ver- gleichbar mit der Nummernfolge der Variete-Theater, die den Kinematogra- phen schon seit 1896 in ihren Programmen zur Schau gestellt hatten, ermög- lichte es, daß auch Zirkusunternehmen den technischen Neuheitswert der Filmprojektion ausnutzen und Filme problemlos in ihre Vorführungen inte- grieren konnten. Ferdinand Althoff jr.J erwähnt schon für das Jahr 1901, daß sein Vater, einst Zirkusdirektor und Mitglied der weitverzweigten Zirkusdy- nastie, in Potsdam einen Gewerbeschein erhalten hat, der ihn »zur Veranstal- tung von Kunstreitervorführungen, zu kinematographischen Vorstellungen und zum Betriebe eines Bärentheaters« befugte.4 Auf dem Jahrmarkt hatten viele Schausteller innerhalb kurzer Zeit ihre Variete-Theater vollständig in Kinematographen-Theater' umgewandelt; Ferdinand Althoff sen. war wohl der einzige Zirkusdirektor, der die Präsentation der gezähmten Natur aus dem 19. Jahrhundert mit der naturgetreuen technischen Wiedergabe der Realität des 20. Jahrhunderts vertauscht und sein Zirkusunternehmen ganz aufgegeben hat. Die Begriindung für diesen >Medienwechsel< ist interessant: In seiner »Ge- schichte einer alten Zirkusfamilie« (1936) erzählt Ferdinand Althoff jr., daß der Vater nach Tierquälereien und ständigen handgreiflichen Auseinanderset- zungen mit Mitarbeitern und Artisten die ,leibhaftige< Präsenz der Zirkuswelt leid geworden war. Er schildert, daß Vater Althoff schon 1897 bei einem Gast- spiel auf einem holländischen Kirmesplatz imJahrmarktkinematographen sei- nes >Nachbarn< van der Doorn neidvoll festgestellt hatte, »wie angenehm und reibungslos das Arbeiten mit dem Filmprogramm gewesen war.«6 Er träumte fortan von einem Geschäft, »in dem wir alle unsere Künstler, die Artisten, das Personal, ja, sogar die Tiere, in kleinen [Film-] Kartons verpackt, mit uns her- umführen!«7 Schon bald (1901) hat sich Althoff mit einer selbstgebauten ,Ki- nobude< »Elektro-Biograph« vom Zirkus verabschiedet; 1905 ist er mit seinem Kino ins Zelt zuriickgekehrt, mit dem er unter dem Namen »First European Tent« durch Europa gezogen ist. Es handelte sich um ein schwarzes Zirkuszelt, innen mit Sternen bemalt, vorn ein sogenanntes Schweizer Kassenhaus. Das Rummelmäßige, wie bei der Bude, fiel nun gänzlich fort. Schüt- zen- und Volksfeste wurden nicht mehr besucht, sondern nur noch Privatplätze. Je nach der Größe des Ortes stand der Kinematographenzirkus 10 bis 14 Tage an ei- nem Platze. Es gab wochentags eine und sonntags zwei Vorstellungen von einer Spieldauer von 2 1h Stunden. Das Zelt faßte 2000 Sitzplätze. Aus einem eigenen Vorführungswagen wurde durch die Mastbäume projiziert. Alles war elegant, in den Hauptgängen lagen schwere rote Cocosmatten, in der Mitte, rechts und links vom Gang, waren die Logen. Die besseren Plätze hatten einen Plüschbezug, die Platzanweiser waren in Livree.8 Diese Beschreibung stimmt weitgehend mit Informationen über den »A meri- can. Circus-Kinematograph Ww. Carl Heitmann« aus Herford überein, die die Verfasserin 1983 von dem hochbetagten Schausteller Theo Heitmann in ei- nem Interview erhalten hat, der in seiner Kindheit mit seiner Mutter Lilly Heitmann und sechs Geschwistern mit einem solchen Unternehmen unter- wegs gewesen ist.9 In der Branchenzeitschrift Der Komet, dem »Organ des gesamten Schau- steller-, Kinematographen~, Händler- und Meßreisenden-Standes« und der wohl verläßlichsten Quelle für die Periode der Jahrmarktkinematographie, annoncierte erstmals am 22. September 1906 eine Zeltfabrik die Neuheit »Zir- kus-Kinematographen-Zelte, rund und oval, komplett aufstellbar, mit Innen- einrichtung, Klappstühlen und Plüschbezügen«, die bei der Leipziger Firma Tränkner & Würker Nachf. AG zu beziehen waren. Und im redaktionellen Teil derselben Ausgabe wurden die Vorzüge dieses neuartigen Kino-Reise- Unternehmens folgendermaßen beschrieben: Neues auf dem Gebiete der Kinematographen! Die bei uns in allen Kreisen gut bekannte, altrenommierte Zeltefabrik Tränkner & Würker N achf., AG Leipzig-Lindenau, hat vor kurzer Zeit unter der Firma Zirkus- Kinematograph H.J. Fey ein vollständig neues Unternehmen auf die Reise gebracht. Während bisher die Kinematographenbesitzer zur Ausübung ihres Geschäfts Bu- den mit festem Gestell geführt haben, so hat die Firma Tränkner & Würker Nachf. einen zirkusähnlichen Chapiteau-Bau konstruiert, welcher sich speziell für kinema- tographische Vorführungen eignet. Das Zelt besitzt eine eigens hierzu erfundene Bauart und eignet sich ganz vorzüglich für den gedachten Zweck. Man kann mit diesem Unternehmen sehr schnell reisen, indem nicht ein einziger Tag verloren wird, ohne Vorstellungen zu geben. Es ist leicht, den ganzen Zirkus-Kinemato- graph nach der abgehaltenen Abendvorstellung nach einem anderen Platz zu trans- portienfn und in demselben am anderen Tag sein Geschäft auszuüben. Das Zelt ist aus schwarzem Segeltuch gefertigt, sodaß der Innenraum vollständig dunkel ist und innen ist das Zelt himmelartig mit Sternen bemalt, wodurch der Innenraum bei Be- leuchtung großartig wirkt. Am Eingang zeigt das Unternehmen ein schön ausge- führtes Kassa-Zelt.' 0 Die Bemerkung, daß sich »ein völlig neues Unternehmen« auf die Reise ge- macht habe, entfachte im Anzeigenteil des Komet einen heftigen Streit um die >Urheberrechte< am Zirkuskinematographen. Die Firma Trärtkner & Würker betonte am 3. November 1906 in einer ganzseitigen Anzeige, daß sie den er- sten Zirkuskinematographen gefertigt habe; die Firma F. Behrens und A. Küh- ne in Oscherslebe/Sachsen teilte in einer ebenso großen Anzeige in derselben Ausgabe mit, daß der von ihr konstruierte Kinematographen-Zirkus, der seit Wochen zur Besichtigung aufgebaut war, nun verkauft worden sei. Im redak- tionellen Teil des Komet folgte unter dem Titel »Neukonstruktionen für Schaugeschäfte« am 24. November 1906 ein detaillierter Bericht über dieses Unternehmen, das ebenfalls die Erfindung des Zirkuskinematographen für sich beanspruchte. Das in der Konstruktion eines Doppel-Chapiteaux von der Firma F. Behrens und A. Kühne in Oschersleben aufgestellte Zelt bedeckt einen Flächenraum von 2 5 zu 18 Meter, die bei der Parade sowie bei der Leinwand für den Spiegel auf zirka fünf Meter erhöht ist, was durch Quadrepols in sinnreicher Weise erreicht wird und bis zum Dach eine Höhe von acht Metern erreicht. Das Ganze wird durch zwei schlan- ke Hauptmaste und vier kleinere, die frei auf der Erde stehen, gestützt, ohne daß die Aussicht in irgend welcher Weise gehindert wird, so daß der Raum, der 1500 Sitz- plätze bietet, auf das imposanteste wirkt. Das aus schwarzbraunem extra starkem Segeltuch hergestellte Zelt-Theater ist selbst bei hellstem Sonnenschein, dem Zweck entsprechend, rabenfinster und erhält andererseits durch vier eigenartig konstruierte Dachfenster eine ausreichende Ven- tilation, ohne daß Sturm oder Regen einzudringen vermögen. Eine 1 5 Meter lange Parade, auf der eine mit 40 Pferdekräften arbeitende Dampfmaschine, sowie eine Orgel und Kasse Aufstellung gefunden, vervollständigt das Ganze, das mit einer verschwenderischen Lichtfülle übergossen scheint.'' Schließlich annoncierte am 17. November 1906 auch die Zeltfabrik Ludwig Stromeyer aus Konstanz »Chapiteaux für Zirkuskinematographen«. Gleich- zeitig meldete sich der Schausteller Georg N arten per Anzeige aus Budapest zu Wort und machte bekannt: Freiwillig und ohne Aufforderung erkläre ich, daß die Zeltfabrik L. Stromeyer & Co. in Konstanz mir vor mehr als Jahresfrist einen Zirkuskinematographen, den ich seit dieser Zeit benütze und als ERSTER damit reise, geliefert hat. Der Kinemato- graph-Zirkus hat sich vorzüglich bewährt, beim Publikum vielen Beifall gefunden und wird dessen zweckentsprechende gute Konstruktion von allen Fachkreisen anerkannt. Ich bin gerne bereit, Interessenten weiteren Aufschluss zu geben. Hoch- achtungsvoll G. Narten, Electro-Bioscop, Budapest.11 Auf jeden Fall wurden jetzt in drei deutschen Fabriken Zeltkinematographen gebaut, die ab der Herbstsaison 1906 Hochkonjunktur hatten. Zelte mit im- posanten Namen reisten durch Europa, zum Beispiel ein »Grand Cirque Royal Biographique« von Ignatz Lampertz. Die renommierte Zeltfabrik Lud- wig Stromeyer, die Zelte für Großzirkusse wie Hagenbeck, Sarrasani und Alt- hoff gebaut hatte, unterhielt seit Beginn des Jahrhunderts eine eigene Abtei- lung für das Schaustellergeschäft.'J Neben Chapiteaux für Zirkusse wurden hier Karussell- und Budendächer, Kassen- und Garderobenzelte hergestellt, gebrauchte Zelttücher ausgebessert und wieder imprägniert. Viele Schaustel- ler und Kinematographenbesitzer verbanden die Reise zum Konstanzer Jahr- markt mit einer fälligen Instandsetzung des Karussells oder der Jahrmarktbu- de. Man konnte sich aber auch ein völlig neues Geschäft bauen lassen und von hier aus seine Tournee antreten. Wie auch immer, es gab gute Gründe, warum viele der seinerzeit großen Jahrmarkt-Unternehmen in der Grenzstadt Kon- stanz Station machten. Eines von ihnen gehörte dem Schweizer Kinopionier Georges Hipleh-Walt aus Biel, der im September 1906 erstmals in Konstanz gastierte. Zu diesem Zeitpunkt war er noch Direktor seines prächtig ausgestat- teten »Salon-Cinematographe«, ein 30 Meter langes und 10 Meter tiefes trans- portables Jahrmarktkino, das eine 40 qm große Leinwand besaß und in dem schon damals 800 Zuschauer Platz fanden. Georges Hipleh-Walt bestellte bei seinem Gastspiel auf dem Konstanzer Jahrmarkt bei der Zeltfabrik Ludwig Stromeyer für die Summe von 150.000 Franken einen riesigen Zirkus-Kine- matographen, der mit mehr als 2.000 Sitzplätzen und einer 80 qm großen Lein- wand vielleicht der größte Zeltkinobau gewesen ist. Bekannt unter dem Na- men »Le Biographe Suisse« bereiste er ab März 1907 die Schweiz, Italien und Deutschland. Hipleh-Walt beschäftigte zwei Operateure, sechs Zeltmeister, eine Sekretärin und zwei Kassierer, außerdem ein Orchester mit zwölf Musi- kern. Beim Start seiner Tournee konnte er sein neues Unternehmen in Kon- stanz gar nicht aufstellen, weil sich für die Frühjahrszeit ein anderer Wander- kinobetreiber, Heinrich Ohr aus Pirmasens, durch Vorauszahlungen ein langfristiges Platzrecht gesichert hatte und sich die Stadt offenbar strikt an 86 - Cbapit.taü1 '!Ir Zirbs-Kinemaf ograpben :: , , ·, In Pllndff •••• ownl• Form, kompl. mit Tn1ttiltlttrlcbtung,Bestublun9 u. eleganten zerlegbaren Uorbauten, "''"' 11 ~·. ... V1Q11d1111 11d UHPNIDht P••lrliaoh. .. und HlidnlDP Kallfflllktlea , die renommierteste Zeltfabrik l.J.Stromeger& Co.,Xonstanz (Baden). 1 , 1 . Vertreter: Paul Obsner. === 1 11 """ 11 1 Freiwilllg und. phne Aufforderung _ ~. · ·:.r::··.,.-; . .- ·. er~ll.1e-ich1 dau die ·· leltfabrlk f. Stromeyer & Co. in :Konstan2 --> .. ., -.. i.-.,~ · !". mir vor 1nehr 111 J1hr11frl1t ..J.871 einen "Zirkus-Kinematographen tleo ich aeil dieaar Zell b8flOIIO· DDd iJa E r. t. .. tl•mil reiae, geliefert haL Der Klntm1toar1ph-Zlrllu1 hl\l aich vonagllch bewlhrt, beim Publikum vielen Belf1II gefunden un,I wird dessen zweckent1preohendt gute Konstruktion von o.llon Fachloulen annrkannl. ----- Ich bin gorne hereit1 Interessenten weiteren Aur,chluss JU golien. ----- J!ochachlungsvoll ! G. Narten, Eleafro„J3ioscop, Budapest. Der Komet, 17.11.1906 diese Abmachung hielt. 14 Erst im September 1909 konnte der in Konstanz gebaute Zirkus-Kinematograph an seinem Ursprungsort während des Jahr- markts gezeigt werden, '5 damals schon unter der Leitung von Hipleh-Walt junior, da der Vater seit 1908 in Biel und Zürich die ersten ortsfesten Kinos betrieb. Noch während die ambulanten Kinematographen untereinander um Platzrechte in den Städten kämpften, hatten sich ab etwa 1906 an den Straßen- ecken bereits ihre neuen Konkurrenten, die stationären Ladenkinos, etabliert, denen sie mit ihrem enormen Platzangebot und ihrer luxuriösen Ausstattung versuchten, Paroli zu bieten. (50 Jahre später wird sich das ortsfeste Kino - dann mit opulenten Breitwandformaten - seinerseits gegen die Konkurrenz des kleinen Fernsehbildes zur Wehr setzen.) Mit noch mehr Prachtentfaltung in immer größeren Zeltbauten traten sie den anfangs meist kleinen und ein- fach ausgestatteten Ladenkinos für kurze Zeit erfolgreich entgegen. Eher am Rande spielten dabei auch die stationären Zirkusgebäude, wie sie in einigen größeren Städten von den Zirkusunternehmen unterhalten wurden, eine Rolle: Während der Zirkus unterwegs war, ließen sie sich problemlos an ambulante Kinematographen vermieten, was für die ortsansässigen Besitzer von Ladenkinos jedesmal eine bedrohliche Konkurrenz bedeutete. So wurde aus Wien zum Beispiel berichtet, daß immer dann, wenn im Zirkus-Schu- mann-Bau mit seinem Platzangebot von 1900 Sitzen ambulante Kinematogra- phen Filmprogramme zeigten, »Dutzende von [Wiener] Kinematographen- besitzer[n] so in das Herz getroffen [wurden], daß sie zugrunde gehen müssen.« 16 Im Annoncenteil des Komet läßt sich nachlesen, daß die Zeltfabriken Jahr für Jahr versuchten, neue interessante Varianten auf den Markt zu bringen. 1908 war die Novität ein Viermaster-Zirkuszelt von Behrens & Kühne;'7 Stro- meyer kreierte »The Great American N ovelty Show«, bei der Kinematograph, Variete und Museum unter einem Dach untergebracht waren.18 Aber schon ab 1909 hatten sich diese Dinosaurier aus der Zeit der Wan- derkinematographen überlebt. Im Komet wurden die ersten Zirkuskinemato- graphen billig zum Verkauf angeboten, darunter auch das Unternehmen von Georg Narten, Arnstadt/Thüringen mit 1000 Sitzplätzen. Familie Heitmann aus Herford verkaufte 1910 ihren Zirkuskinematographen an einen Zeltpredi- ger. Ab 1910 wurden von den Zeltfabriken keine Kinozelte mehr inseriert. Noch einmal hatten die Kinopioniere des Jahrmarkts mit den Zirkuskinema- tographen, diesen ersten riesigen und prachtvollen Zuschauersälen, die den ortsfesten Ladenkinos sicherlich bei weitem an Komfort, Atmosphäre und Kinoerlebnis überlegen waren, alles daran gesetzt, das Kino für sich als ambu- lantes Gewerbe zu retten. Aber die große Zeit des ambulanten Kinos war vor- über, weil sich die ortsfesten Kinematographen-Theater, die Ladenkinos und >Kintöppe< schließlich durchgesetzt haben. In nostalgischer Erinnerung schildert Ferdinand Althoff jr. die letzten Jahre des Kinematographen seines Vaters, der bis zuletzt, d. h. bis in die Tonfilmzeit hinein, noch am ambulanten Kino festgehalten hat: Nachdem diese Pioniere die erste und schwierigste Aufklärungsarbeit geleistet hat- ten, begannen die immer größer und eleganter werdenden Kinos in den Städten die Wanderkinos zu verdrängen. Zuerst nur aus den Großstädten; aber schnell wurde aus der einstmaligen Jahrmarktsbelustigung eine Industrie, die sich Stadt für Stadt eroberte. So wanderte Ferdinand Althoff als erster wieder aufs Land hinaus und fand in den deutschen Dörfern ein neues und dankbares Publikum. Mit allen tech- nischen Neuerungen, die unterdessen geschaffen worden waren, zog er mit einer stattlichen Karawane aus sechs großen Wohn-, Transport- und Küchenwagen und drei Apparatewagen, geschleppt von zwei Großbulldoggs durch Deutschlands Gaue, überall ein in technischer Beziehung sowie in programmlicher Hinsicht erst- klassiges Programm bietend. 19 Während die Schausteller längst anderen Neuheiten nachjagten und den Kine- matographen aufgegeben haben, sobald das Geschäft nicht mehr lohnte, hat der Zirkusmann Althoff weiterhin am >Zirkus< festgehalten, auch wenn er sei- 88 ne »Künstler, die Artisten, das Personal, ja, sogar die Tiere, [nur noch] in klei- nen [Film-] Kartons verpackt«20 ~it sich herumführte, um sie an die Lein- wand zu projizieren. Für ihn ist der Kinematograph immer vor allem ,Zirkus< geblieben. Anmerkungen 1 Diese Erinnerungen an den ersten Ki- dem Spezialitätentheater Melich aus Neuss, nobesuch in seiner Kindheit sind in Joseph das sich allerdings nach mehrjährigem Zwi- Roths kulturkritischer Auseinanderset- schenspiel als Kinematograph ab 1907 all- zung mit der Filmindustrie »Der Anti- mählich wieder ganz in ein Variete-Theater christ« (1934) enthalten.Joseph Roth, Wer- zurückverwandelt hat. Vgl. Paech (Anm. ke J, Das journalistische Werk 1929-1939, 2), s. 23. Köln 1991, S. 576 (vgl. dazu Anne Paech 6 Althoff (Anm. 3), S. 98. Ebenfalls in: und Joachim Paech, Menschen im Kino. »>Das wandernde Urkino,. Ferdinand Alt- Film und Literatur erzählen, Metzler-Ver- hoff, der Vater des ,Kinematographenthea- lag, Stuttgart, Weimar 2000, S. 18). ters<«, Hallische Nachrichten, Nr. 15, 18.1. 2 Inserat in der Osnabrücker Zeitung, 1936, s. 8. 28.8.1900, in: Anne Paech, Kino zwischen 7 Althoff (Anm. 3), S. 97-98. Stadt und Land. Geschichte des Kinos in der 8 Ebenda, S. 99-100 (vgl. auch Zglinicki Provinz: Osnabrück, Jonas Verlag, Mar- [Anm. 4], S. 305). burg 1985, S. 17. 9 . Vgl. Anne Paech, »Das Kino als Zir- 3 Ferdinand Althoff, Die Letzten von kus«, epd Film, 1. Jg., H. 1, 1984, S. 6. Freialdenhoven. Die Geschichte einer alten 10 Der Komet, 22.9.1906, S. 7. Zirkusfamilie, Jülich 1936, S. 98 (Sonder- 11 Der Komet, 24.11.1906, S. 5. druck aus den Rur-Blumen, Heimatwo- 12 Der Komet, 17.11.1906, S. 37. chenschrift zum]ülicher Kreisblatt). 13 Dies geht aus einem Brief Ludwig 4 Wenig später bestätigt ein erhalten ge- Stromeyers vom 4-4-1907 an den Stadtrat bliebener Wandergewerbeschein, daß die- hervor (Stadtarchiv Konstanz Akte S II selbe Befugnis auch für das Jahr 1906 erteilt 4624). Leider sind weitere Dokumente aus worden ist. Vgl. Friedrich von Zglinicki, dieser Zeit einem Großbrand bei der Firma Der Weg des Films, Olms Verlag, Hildes- Stromeyer zum Opfer gefallen. heim 1979, S. 304. 14 Ebenda. Im gleichen Brief bringt Stro- 5 Ein Beispiel dafür ist der Schweizer meyer seinen Ärger zum Ausdruck, daß die Kinopionier Louis Praiss. Er hatte mit sei- Stadt dem Kinobetreiber Hipleh-Walt nem »Grand Theatre des Varietes« im nicht einmal die Aufstellung seines neuen Frühjahr 1896 in Genf auf der Exposition Zeltes für einen einzigen Tag bewilligte, Nationale Suisse gastiert, dort Bekannt- weshalb dieser den Zirkus-Kinematogra- schaft mit dem Cinematographe Lumiere phen als neues Unternehmen bei der Aus- gemacht, ihn schon im Herbst 1896 als reise in die Schweiz mit 1300 Mark verzol- Nummer ins Programm aufgenommen und len mußte. sich ab Herbst 1900 mit seinem »Ersten 1 5 Inserat, Konstanz er Zeitung, 2 3. 9. schweizerischen Riesen-Kinematograph« 1909. ganz auf kinematographische Vorstellun- 16 »Der Kampf um die Existenz«, Der gen umgestellt. Vgl. dazu Anne Paech, Komet, 7.11.1908, S. 10. Konstanzer Kinogeschichte: Die Anfänge 17 Der Komet, 30.5.1908, S. 21. ( 1896-1914), http://www.uni-konstanz.de/ 18 Der Komet, 29.3.1908, S. 14. FuF /Philo/Li tWiss/Medien wiss/ 19 Althoff (Anm. 3), S. 101. welcome.html. Ähnlich verhält es sich mit 20 Ebenda, S. 98. ROBERTA E. PEARSON UND WILLIAM URICCHIO Filmvorführer in New York 1906-1913 Im Februar 1908 erscheint in der Moving Picture World ein Bericht über das gefährliche Dasein eines Filmvorführers, der dem Leser das Blut in den Adern gefrieren läßt: Bei der Vorführung eines Films langte John Riker in das Metallgehäuse der Maschi- ne und bekam statt des Schalters ein blank liegendes Stromkabel zu fassen. Ein 1000 Volt starke,: Strom floß durch seinen Körper, und er konnte seine Hand nicht mehr von dem Kabel lösen. Er rief um Hilfe. Seine Schreie, die durch die schmale Öff- nung der Kabine drangen, hörten sich für das Publikum wie eine phonographische Begleitung des blutriinstigen Dramas an, das in dem Film dargestellt wurde. Die Zuschauer, welche von der Gefahr, in der sich der Mann befand, nichts ahnten, ap- plaudierten [ ...] . [Nach seiner Rettung] umschloß Rikers Hand immer noch das Kabel, welches man gewaltsam herausreißen mußte. Der starke Strom hatte seine Hand fast verkohlen lassen. (Wann lernen die Filmvorführer endlich etwas dazu? Uns ist unbegreiflich, wie ein solches Kabel benutzt werden durfte. Alle Vorführer sollten nur ordnungsgemäß isolierte Kabel verwenden, und wenn sich eine blanke Stelle zeigt, sollte diese mit Isolierband umwickelt werden. - Hrsg.)' Warum beginnen wir mit dieser grausigen Meldung? Der Leser mag glauben, daß wir ganz einfach sensationslüstern sind, doch tatsächlich hat diese Wahl mit unserer Faszination für die Konstruktion von Geschichte zu tun.2 Diese Anekdote ist eine widerspenstige Gegebenheit, die sich nicht ohne weiteres mit anderen Daten in die üblichen Kategorien historischer Belege einordnen läßt. Wir waren zunächst geneigt, sie unter der Rubrik ,Farbtupfer< abzulegen, zusammen mit anderem Material, das uns etwas über den ,Alltag< dieser schon lange der Vergangenheit angehörenden Filmtheater mitteilt. Aber dann began- nen wir zu verstehen, daß der hilflose Mr. Riker vielleicht doch eine zentrale Stelle in unserem Vorhaben einnehmen würde. Wir wollen diese Anekdote zunächst im Zusammenhang mit anderem Be- legmaterial betrachten und dabei die Vermutung äußern, daß sie möglicher- weise eine wichtige kommunikative Funktion erfüllt hat in einem Umfeld, innerhalb dessen andere Kommunikationsformen nicht mehr funktionieren. Zu jener Zeit versuchen sowohl die Spitzen der Filmindustrie, repräsentiert von der Motion Picture Patents Company, als auch andere Gruppierungen wie die Feuerversicherungen oder die New Yorker Wasser-, Gas- und Elektrizi- tätswerke eine Reihe von >vernünftigen< (d . h. nicht-moralischen, wertneutra- len) Regelungen zu propagieren: Keine blanken Kabel anfassen! Nicht rau- chen in der Nähe von Nitrofilm! Nicht mit ungeschulten Vorführern arbeiten! 91 Dies geschieht allerdings in einer Situation, in der Autorität - Vorschriften, Verordnungen, aber auch Hinweise, die auf gesundem Menschenverstand be- ruhen wie der, nur ordnungsgemäß isolierte Kabel zu verwenden -wenig Ver- trauen genießt, ja verdächtig erscheint, in der jedes Gesetz als ein neuerlicher Angriff auf die Filmindustrie oder als Anlaß für Schmiergeldforderungen ge- sehen wird. Wie soll man also vernünftige Warnungen dieser Art kommuni- zieren? Da die diskursive Struktur von Gesetzen und Vorschriften unwirksam ist, behilft man sich mit warnenden Berichten wie dem über den unglückli- chen Riker. Nun stellt sich jedoch die Frage, ob man diese Schlußfolgerung auf der Grundlage der verfügbaren Quellen tatsächlich ziehen kann. Ist die Meldung über Riker eine apokryphe Geschichte, die dazu dienen soll, den Projektionisten ihre schlechten Angewohnheiten auszutreiben? Oder handelt es sich nicht vielleicht doch um einen Tatsachenbericht, der sich auf einen ganz bestimmten Vorführer bezieht? Oder sogar um eine Forderung nach mehr Sicherheit am Arbeitsplatz dieser schlecht ausgebildeten und überbelasteten Arbeitskräfte? Lehrt uns dieser Bericht irgend etwas über John Riker selbst und die Berufsgruppe, der er angehört? In dem Maße, in dein wir uns den unerforschten Klippen der postmoder- nen Historiographie nähern, welche die Erreichbarkeit des objektiven histori- schen Referenten bezweifelt und Widerstand leistet gegen eine aufgezwunge- ne, einstimmige Leiterzählung, gewinnt die Riker-Anekdote an Bedeutung.J Natürlich kann ein relativ kurzer Aufsatz wie dieser die Herausforderungen, die Poststrukturalismus und postmoderne Theorie für die traditionelle histo- riographische Praxis darstellen, nicht in ihrer ganzen Breite behandeln. Doch wir wollen an dieser Stelle untersuchen, auf welche Weise Vorannahmen hin- sichtlich der Natur und der Interpretation von Belegmaterial die Konstruk- tion von Geschichte - und damit auch unser Verständnis von den Arbeitsum- ständen der New Yorker Filmvorführer - grundlegend beeinflussen. Der vorliegende Beitrag ist Teil eines Forschungsprojekts über die Geschichte der Nickelodeons in New York zwischen 1905/06 und 1913, der Periode also, während der die Praxis des Kinobetriebs reguliert und das neue kinematogra- phische Medium in die existierenden Sozialstrukturen integriert wird. In die- sem Zeitraum gibt es dramatische Umbrüche: Am Anfang, als die Nickelode- ons wie Pilze an jeder Straßenecke aus dem Boden wachsen, steht die panische Angst vor der Unmoral der bewegten Bilder, und am Ende ist das Kino bereits auf dem besten Weg, ein ganz normales Massenmedium zu werden, wie eine Verordnung der Stadt New York zeigt, in der praktisch jeder Aspekt des Ki- nobetriebs geregelt ist. In der allgemeinen Vorstellungswelt der Nation ver- körpert New York die Probleme der Urbanisierung, der Immigration sowie des Entstehens einer neuen Öffentlichkeit mit sogenannten >billigen Amüse- ments<.4 In dem Maße, in dem Arbeiter vom Land zu den Industrien wandern und Immigranten versuchen, sich in den Mietskasernen und Arbeitsstätten ein neues Leben aufzubauen, bekommen die preiswerten Unterhaltungsmöglich- 92 keiten der Stadt wie Tanzsäle, Vergnügungshallen und billige Theatermassen- haften Zulauf. Dies wird von den sozialen Eliten als Bedrohung empfunden. New York ist außerdem das Zentrum des berüchtigtsten >billigen Amüse- ments<, des Kinos. Der Sitz mehrerer großer Filmgesellschaften (z.B. Edison, Vitagraph, Biograph) befindet sich in der Stadt, dazu kommen verschiedene Branchenblätter (z.B. The Moving Picture World, The New York Dramatic Mirror). Durch diese Kombination erhält die politische, soziale und kulturelle Debatte um das Kino eine besondere Bedeutung für den Rest des Landes. Obwohl New York nicht notwendigerweise typisch ist für den Kinobetrieb in den Vereinigten Staaten, so spielt es doch eine exemplarische Rolle, und die Untersuchung der lokalen Gegebenheiten ist auch auf nationaler Ebene von Belang.! Die Erforschung des frühen Kinobetriebs ist zu weiten Teilen von der Ver- fügbarkeit und der Verständlichkeit der entsprechenden Belege bestimmt wor- den. Mehrere Faktoren haben den Prozeß des historischen Verstehens gelenkt ( oder behindert): - ein genereller Mangel an erhaltenem Belegmaterial; - die hegemonial eingefärbte Art des erhaltenen Belegmaterials, das zum größten Teil von den dominanten institutionellen Quellen wie der Motion Picture Patents Company stammt, einem Konsortium der führenden Film- gesellschaften, das versucht, über die Kontrolle der wichtigsten Patente ein Oligopol zu errichten; - unzuverlässiges oder uneinheitliches Belegmaterial, da Daten aus unter- schiedlichen Quellen völlig widersprüchlich sein können, ein Problem, das sich insbesondere denjenigen stellt, die herausfinden wollen, wie viele Nickelodeons es in New York gegeben hat und wo sie sich befanden;6 - Belegmaterial wie die Riker-Anekdote, das im Rahmen gängiger historio- graphischer Annahmen schwer zu interpretieren oder zu verifizieren ist und deshalb häufig vernachlässigt wird. Historiker, die sich mit dem frühen Film beschäftigen, wie auch Sozialge- schichtler, die sich für populäre Unterhaltungsformen interessieren, sind diese Probleme mit Geschick und Einfallsreichtum angegangen. Sie haben sich durch lokale Zeitungen, oral history-Archive und Handelsregister gearbeitet, um die Kategorien relevanter Belege zu erweitern. Diese neuen Quellen konn- ten sie verwenden, um über Widerstand gegen bzw. Auseinandersetzungen mit dominanten sozialen Praktiken zu spekulieren/ Doch in einigen Fällen wird das Belegmaterial so behandelt, als öffne es ein relativ transparentes Fenster auf einen soliden und objektiven historischen Referenten. Und einige ordnen das Material zu linearen Erzählungen, in denen eine einzelne interpretierende Stimme den Vorrang erhält. Wie viele, vielleicht die meisten Historiker, wollen sie einfach Geschichte schreiben, anstatt endlos darüber nachzudenken, wie Geschichte geschrieben werden soll. Die außerordentlichen Schwierigkeiten 93 der historischen Arbeit machen diese Haltung für uns durchaus verständlich. Wir hingegen vertreten die Position, daß ein gewisser Grad an Reflexivität hin- sichtlich der eigenen Praxis einen wichtigen Beitrag zu dem historischen Be- wußtsein sein kann, das wir alle anstreben. Der Operateur - so die zeitgenössische Bezeichnung für den Filmvorfüh- rer - ermöglicht die kinematographische Vorstellung. Zudem ist er nicht nur für den stetigen Fluß der Einkünfte des Kinobesitzers verantwortlich, sondern er gewährleistet auch die Sicherheit und das Vergnügen des Publikums. Er ist die zentrale Vermittlungsinstanz zwischen Betreiber und Zuschauer, zwischen Apparat und Ereignis. Obwohl das demographische Profil der Projektionisten alles andere als deutlich ist, deutet das verfügbare Material darauf hin, daß vie- le von ihnen aus der Arbeiterklasse, der unteren Mittelschicht und aus den Kreisen frisch angekommener Immigranten stammen. Ohne den Schutz von Gewerkschaften oder Berufsverbänden, gezwungen, in einem Umfeld zu ar- beiten, in dem die Zahl lizenzierter Operateure die der verfügbaren Stellen übersteigt, sind sie der Willkür des Marktes und der Kinobetreiber ausgelie- fert. Unser Verständnis vom Alltagsleben der Filmvorführer hängt von den theoretischen Ansätzen ab, die wir verwenden, um spekulativ den Widerhall des spärlichen Datenmaterials zu dieser relativ marginalisierten, arbeitsrecht- lich kaum abgesicherten Berufsgruppe zu erforschen. Die herkömmliche Hi- storiographie würde sicher danach streben, die wenigen erhaltenen Daten in einen breiteren Zusammenhang einzuordnen. Doch die Annahme, daß man- che Belege wichtiger sind als andere, zusammen mit der Neigung, einen kohä- renten, in sich geschlossenen Interpretationsrahmen zu verwenden, würde dann zur Konstruktion einer historischen Erzählung führen, in der die Film- vorführer eine eher unbedeutende Rolle spielen. 8 Gegen eine solche Praxis präsentieren wir zwei verschiedene Stränge von Belegmaterial, ohne sie zu in- tegrieren: die offiziellen Dokumente (Gesetze, Präzedenzfälle, berufliche Richtlinien, Gewerkschaftsstatuten usw.) sowie das Anekdotische, Sporadi- sche, das, was sperrig am Rande steht oder als oppositionell betrachtet wird (das Illegale, Verbotene, Transgressive). Diese beiden Stränge sollten nicht als eines der üblichen Gegensatzpaare - innen/ außen, warm/ kalt - betrachtet werden, bei denen beide Begriffe das- selbe Gewicht haben und die Bedeutung aus der Gegensätzlichkeit selbst ent- steht. Auch erhält der zweite, sowohl in der damaligen hegemonialen Konfi- guration wie in der gegenwärtigen historischen Praxis untergeordnete Strang seine Bedeutung nicht als Negation des ersten. Stattdessen schafft er eine vage Unsicherheit, eine gewisse Beunruhigung, die daraus resultiert, daß man ein- zelne Daten gegen den dominanten Strang liest. Kehren wir also zurück zu unserer Beispielanekdote, die ja ein solches Datum am Rande darstellt. In unserer ersten Analyse haben wir im Grunde die Anek- dote schlichtweg in die Dominante eingereiht, indem wir annahmen, sie sei als 94 Lektion für Gesetzesübertreter gedacht, die zynisch geworden seien durch die damals allgegenwärtige Korruption, als deren Emblem die berüchtigte >politi- sche Maschine< der New Yorker Demokratischen Partei, Tammany Hall, gilt. Unsere Konstruktion des diskursiven Riker als Lektion verwehrt dem histori- schen Riker Subjektivität und Handlungsfähigkeit. The Moving Picture World, im Einklang mit den dominanten Institutionen, betrachtet das nicht isolierte Kabel als Fahrlässigkeit, doch Rikers Handlungsweise könnte auch ein Akt der Selbstbehauptung sein, ein Versuch, den Einfluß eben dieser do- minanten Institutionen aus seiner Arbeitsumgebung auszuschließen. Wenn dies der Fall gewesen sein sollte, mag Riker sein Verhalten angesichts der ka- tastrophalen Folgen bedauert haben. Doch das darf nicht dazu führen, daß wir solche Ansätze von Auflehnung, die sich ergeben, wenn wir das Belegma- terial gegen den Strich lesen, außer Acht lassen. Betrachten wir nun die bei- den Stränge von Belegmaterial in fünf verschiedenen Zusammenhängen, um so unser Verständnis der New Yorker Filmvorführer komplexer werden zu lassen. Regeln und ihre Umgehung Seit seiner Gründung 1907 fordert das Branchenblatt The Moving Picture World immer wieder die Lizenzierung der Filmvorführer. Dies gehört zu sei- ner Strategie, die Filmindustrie vernünftigen Regeln zu unterwerfen, um so den herrschenden sozialen Gepflogenheiten zu entsprechen und die Akzep- tanz des Kinos als Massenunterhaltung zu erhöhen. Anfang 1908 kündigt das New Yorker städtische Amt für Wasser-, Gas- und Elektrizitätsversorgung, eine der vielen Behörden, die über den Kinobetrieb mitbestimmen, neue und strengere Regeln für die Lizenzierung von Nickelodeons und Filmvorführern an., Da die Projektionisten als der entscheidende Faktor beim Auslösen oder Verhindern von Kinobränden gesehen werden, legen die Fürsprecher der Filmindustrie großen Wert auf eine solche Lizenzierung. Bei den von Bürger- meister George McClellan veranstalteten Anhörungen zu den Bedingungen des Kinobetriebs stellt der Rechtsbeistand der Vereinigung der Filmauswerter, Gustavus Rogers, fest, daß das Amt für Wasser-, Gas- und Elektrizitätsversor- gung nur nach einer sechsmonatigen Untersuchung und »Nachforschungen« eine Lizenz erteilt. Er versichert seinen Zuhörern, daß das Amt jeden Opera- teur, der sich auch nur »in einer einzigen Hinsicht die geringste Nachlässig- keit« zuschulden habe kommen lassen, sofort die Lizenz entziehe. Nach der berüchtigten Schließung der Nickelodeons durch den Bürgermeister am Weihnachtsabend 1908 erläßt die Stadt weitere Vorschriften für Filmvorfüh- rer. Zudem fordern die Versicherungen weitere Kontrollen. Wenn wir genug Raum hätten, könnten wir leicht den Rest dieses Ab- schnitts mit ausführlichen Darstellungen der von den herrschenden lnstitutio- 95 nen erlassenen Regeln, Vorschriften und Empfehlungen füllen. Als Gegenpo- sition zu diesem soliden Belegmaterial haben wir nur einen einzigen Artikel finden können, wiederum in The Moving Picture World: Es kursieren Gerüchte, daß viele altgediente Filmvorführer bei der Prüfung für die Lizenz mit sinnlosen Fragen belästigt werden und daß die Priifungsausschüsse die Lizenzen zwei bis drei Wochen einbehalten, so daß die Projektionisten ihren Le- bensunterhalt nicht verdienen können. Andere Leute, welche die Unterstützung gewisser Politiker genießen, erhalten angeblich ihre Lizenzen sofort, und zwar nach einer überaus oberflächlichen Priifung. Es sieht sehr danach aus, daß dabei »ge- schmiert« wird. 10 Dies paßt gut zu dem, was von der weit verbreiteten Korruption in der von Tammany Hall beherrschten Stadtverwaltung bekannt ist. Somit kann diese Beschreibung ohne weiteres auch im Rahmen herkömmlicher historiographi- scher Ansätze verstanden werden. Auch wenn wir keinerlei Belegmaterial fin- den konnten, daß auch New Yörker Filmvorführer Schmiergelder zahlen, kann man ohne weiteres schließen, daß es in dieser Zeit eine große Diskrepanz zwischen den Regeln und der Alltagspraxis gibt. Wir könnten diesen Bericht in eine Erzählung einordnen, die den Weg vom Chaos hin zu vernünftigen Regeln beschreibt, wobei die Filmvorführer wiederum als Objekte und nicht als Handelnde gesehen werden. Was jedoch geschieht, wenn wir diesen Beleg gegen den Strich lesen und mit der phantasievollen Einfühlung eines historischen Romanciers verfahren? Wie verhalten sich Riker und seine Kollegen zwischen den Determinanten der Vorschriften einerseits und der ungeschriebenen Praxis andererseits? Nehmen sie die Gelegenheit wahr, sich dem ständig weiter expandierenden Netz der vernünftigen Regeln durch die Intervention eines Politikers zu entziehen? Lehnen sie den Zwang zur Schmiergeldzahlung ab? Wir werden wohl nie eine Antwort auf diese Fragen erhalten. Doch indem man solche Fragen stellt, bil- ligt man den Filmvorführern zumindest einen gewissen Grad an Wahlmög- lichkeiten und Handlungsfähigkeit zu. überprüfbares Wissen und Erfahrung Ganz im Einklang mit der Tendenz rationaler Systeme der Regulierung, staat- lich sanktionierte Zulassungsschranken zu schaffen, verlangt man in New York schon 1908 von denjenigen, die eine Lizenz als Filmvorführer erwerben wollen, sich einer Prüfung zu unterziehen. Einige, wie der Anwalt Gustavus Rogers, der oft die Interessen der Filmindustrie vertreten hat, hoffen, daß die Strenge des Verfahrens auch die Kritiker des Kinobetriebs zufrieden stellen wird. Mit ähnlicher Zielsetzung will die Branchenpresse die Projektion von Filmen als eine hochspezialisierte Tätigkeit darstellen und veröffentlicht re- Po wer's Cameragrapli No>G· .THE FIREPROOF l'IOVING PICTURE l'IACHINE Used by Prominent l'lovlnl Plcture Exh.lbltora AU Ove, . theWorld POWER'S NO. 8 is built for scrvicc. Evcry wcaring part is carefully proportioncd and accu~lel• made of material which lcing cxpcrience has shown Lo bc best suitc: to il~ s()cdal pt.irposc. • Thc pic.turcs J>rojcctcd by il arc stcady aml al.isolutcly ßickcr lc.ss, thcrelorc do not lire or injurc thc cycs. ~OWER'S CAMERACiRAPH NO. 8 has becomc by meri alone the choicc or particular cxhibitors. ,NJCHQLAS PQWMERcTCUREÖMPANY 115 Nassau St , · , . , New York FOR FOURTEEN YEARS THE LEADING MAKERS OF MOTION PICTURE MACHINES. The Tammany Times, 22.1.1912, S. 95 gelmäßig ausführliche technische Erklärungen zu den mechanischen, opti- schen und elektrischen Elementen der Filmprojektoren. Ein weiterer Schritt in diese Richtung ist die von The Moving Picture World 1910 veröffentlichte Ankündigung, daß F. H. Richardson, der in dem Blatt für die Kolumne über Projektorentechnik verantwortlich zeichnet, eine Schule für Filmvorführer eröffnen will. 11 Der Staat, unterstützt von der Branchenpresse, verlangt somit schon recht früh in der Geschichte der Filmindustrie von den Vorführern einen hohen Grad an technischem Wissen, welches professionelle Organisationen wie die New York Fire Underwriters und das American Institute of Electrical Engi- neers in Form von Handbüchern zu Verfügung stellen. Wir könnten zahlrei- che Beispiele anführen, wie dieses Wissen von unterschiedlichen Institutionen gesammelt und verbreitet wird. Wir könnten auch aufzeigen, in welchem Maße die Entstehung eines Berufsstands der Filmvorführer, dem hochspezia- lisierte Subjekte angehören, als Resultat eines Diskurses über technisches Wis- sen und des Prozesses staatlicher Prüfungen dem von Michel Foucault erar- beiteten Paradigma entspricht. Stattdessen wollen wir, gegen diese überaus suggestive Interpretation, welche die Projektionisten als diskursive Objekte behandelt, Belege suchen für die Subjektivität der Operateure sowie für ihr eigenes Verständnis ihrer Alltagserfahrungen. In einem Artikel in der Märzausgabe 1909 von The Nickelodeon, einem Branchenblatt aus Chicago, bezieht Oscar B. Depue Stellung gegen die Prü- 97 fungen für Filmvorführer und behauptet, daß Detailwissen zu Fragen der Elektrotechnik weniger wichtig sei als die in jahrelanger Berufspraxis erwor- bene Erfahrung. 12 Im gleichen Monat veröffentlicht The Film Index die Äu- ßerungen der Vertreter zweier Gewerkschaften, die der Calcium and Electric Light Operators sowie die der Motion Picture Operators of New York City. Diese stellen fest, daß die neuen gesetzlichen Regelungen für die Lizenzverga- be »so streng und rigide« seien, daß etwa 200 Projektionisten ihre Lizenz ver- loren hätten. »Es heißt, daß sich die Prüfung auf allgemeine Erfahrung mit Elektrizität bezieht und den Männern, die wissen, wie man einen Filmprojek- tor bedient, keine faire Chance gibt. Die am stärksten Betroffenen haben be- reits fünf Jahre gearbeitet und zählen zu den besten in der Stadt.« 1 J Dies sind Belege für einen anderen Weg zu technischer Fertigkeit: nicht durch die Un- terordnung unter die Diskurse von Berufskörperschaften oder Kontrollbehör- den, sondern durch Wissen, das in der täglichen Berufspraxis erworben wird. Solchem Wissen Legitimität zuzugestehen, hätte jedoch den Vorschriften der regulatorischen Rationalität widersprochen und die sich langsam herausbil- dende Respektabilität der Filmindustrie unterminiert. In dieser Sache billigt man den Filmvorführern tatsächlich keinen Handlungsspielraum zu: Um ih- ren Beruf weiter ausüben zu können, müssen sie es zulassen, im Machtdiskurs von Berufskörperschaften und Kontrollbehörden als Objekte behandelt zu werden. Wir haben nur wenige Belege für individuellen Protest gegen diesen Sachverhalt gefunden. Doch die Tatsache, daß die Branchenpresse dieses Pro- blem anspricht, zeigt, daß zumindest einige Filmvorführer hier einen Anlaß sehen, Widerstand zu leisten. Die Gewerkschaften und der einzelne Filmvorführer Bis zu diesem Punkt haben wir nur sehr wenige direkte Spuren individueller Handlungsfähigkeit seitens der Projektionisten finden können. Die Existenz der oben erwähnten Gewerkschaften der Calcium and Light Operators und der Motion Picture Operators of New York weist zumindest auf einen gewis- sen Grad kollektiven Handelns hin, auch wenn das Belegmaterial zu diesen Organisationen sehr viel spärlicher ist als das zu den mächtigeren Institutio- nen wie der Stadtverwaltung. Als 1905 die ersten Nickelodeons in New York entstehen, zeigt die Gewerkschaft der Theaterangestellten, die International Alliance of Theatrical and Stage Employees (IATSE) keinerlei Interesse, die Filmvorführer aufzunehmen, möglicherweise, weil man die Filmindustrie noch für völlig unbedeutend hält.14 Als 1907 die Zahl der Nickelodeons im- mer mehr ansteigt, beginnt der Film, dem Theater als bis dahin wichtigste·m Unterhaltungsmedium den Rang abzulaufen. Auch die Filmvorführer fangen an, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Nun aber kommt es zu einem Kon- flikt zwischen der IATSE und der International Brotherhood of Electrical Workers (IBEW). Die IATSE beansprucht, die Filmvorführer zu vertreten, weil es sich um Angestellte der Unterhaltungsindustrie handele, während die IBEW die Projektionisten unter die Elektriker einreihen will.'' Samuel Gom- pers, der Präsident des Dachverbands American Federation of Labor, dem die beiden konkurrierenden Gewerkschaften angehören, entscheidet 1908 zugun- sten der IATSE.16 Die Führung der IATSE sieht nun offenbar in ihrer früheren Vernachlässi- gung der Projektionisten eine Bedrohung ihres potentiellen Alleinvertre- tungsanspruchs für die Filmindustrie: » Wir mußten es schaffen, daß dieser Teil der Industrie als uns zugehörig anerkannt wurde, oder wir hätten sie insge- samt verloren.«' 7 Das erfolgreiche Vorgehen der IATSE bedeutet, daß die New Yorker Projektionisten nun zum Gegenstand zweier konkurrierender Diskurse werden: Der Staat betrachtet sie als qualifizierte Techniker, die IATSE dagegen als Angestellte der Unterhaltungsindustrie. Führen diese ge- gensätzlichen Diskurse dazu, daß den Filmvorführern erneut Subjektivität und Handlungsfähigkeit abgesprochen werden? Angesichts des verfügbaren Belegmaterials sind wir geneigt, diese Frage zu bejahen. Für die IATSE ist das Vertretungsrecht für die Projektionisten ein Mittel, um die Filmindustrie, die ihr nun zweifelsfrei angeschlossen ist, in ihrer Gesamtheit kontrollieren zu können. Doch den Unterlagen der IATSE läßt sich nicht entnehmen, daß man sich um das harte Regime, dem die Filmvorführer durch ihre Arbeitgeber un- terworfen sind, in irgendeiner Weise gekümmert hätte. Aber wir wollen dieses Material wiederum gegen den Strich lesen und über mögliche Handlungspiel- räume spekulieren. Haben sich die Filmvorführer willentlich mit der IATSE statt der IBEW assoziiert, um sich von dem Zwang zur formalen Anerken- nung ihrer technischen Fertigkeit zu befreien, der ihnen vom Staat auferlegt und der von der Branchenpresse befürwortet wird? Hoffen sie, daß die Tatsa- che, daß man sie als Angestellte der Unterhaltungsindustrie und nicht als Techniker definiert, die technischen Ansprüche, die man an sie stellt, geringer werden läßt? Die Quellenlage erlaubt es nicht, diese Fragen zu beantworten. Wenn die Filmvorführer jedoch eine solche Taktik angewandt haben, dann haben sie es wohl schon bald bereut, da sehr schnell ein weiterer Konflikt um Ausbildung und Qualifikationen entsteht. Berichten in der Branchenpresse zufolge über- steigt die Zahl der lizenzierten Operateure die Nachfrage. Belege aus Quellen außerhalb der IATSE zeigen, daß die Gewerkschaft versucht, dies durch ein- geschränkte Lizenzvergaben zu korrigieren.' 8 In derselben Ausgabe der Mo- ving Picture World, in der die Eröffnung von Richardsons Schule für Projek- tionisten angekündigt wird, berichtet das Blatt von einer durch die IATSE geleiteten Prüfstelle für Operateure.'9 Im April 1911 spricht Samuel Gompers vor einer der IATSE angeschlossenen Gruppierung über den Versuch seitens der Gewerkschaft, die New Yorker Stadtverordneten zu überzeugen, von al- len Anwärtern auf eine Projektionistenlizenz eine sechsmonatige Lehrzeit 99 unter der Aufsicht eines erfahrenen Filmvodührers zu verlangen.20 Später im selben Jahr berichtet das Organ der mächtigen politischen Maschine der Stadt, die Tammany Times, daß der oberste Richter des Staates New York, Richter Gavegan, den Versuch, eine sechsmonatige Lehrzeit für Filmvorführer zu er- zwingen, hat scheitern lassen. In einer Vedügung wird Henry Thompson, Leiter des Amts für Wasser-, Gas- und Elektrizitätsversorgung (das die Ope- rateure lizenziert), angewiesen, den Antragsteller Louis Gibelmann auch ohne diese Lehrzeit zur Prüfung zuzulassen.21 Die Tatsache, daß Tammany zu diesem Zeitpunkt keine monolithische und effiziente Maschine ist, sondern von inneren Spannungen zerrissen wird, macht es besonders schwierig, dieses Ereignis zu interpretieren. Auch wenn wir keine entsprechenden Belege gefunden haben, scheint es so, daß es der IATSE gelungen ist, den von Tammany dominierten Stadtrat - der sich von der Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft möglicherweise zusätzliche Schmiergeldeinnahmen erhofft - dazu zu bringen, ein Gesetz zu erlassen, in dem eine Lehrzeit für Projektionisten gefordert wird. Andererseits mag auch Richter Gavegan, der das Gesetz scheitern läßt, selbst dank Tammany seine Position erhalten haben. Sein Urteil bezweckt vielleicht, die Gewerkschaft daran zu hindern, auf dem von Tammany beherrschten Gebiet zu wildern. Oder er ist ein Tammany-Gegner und versucht, deren Einfluß auf den Kino- betrieb einzudämmen. Was auch immer die politischen Hintergründe gewe- sen sein mögen, dieses Ereignis liefert einen weiteren Beleg für die konkurrie- renden Mächte, welche das Arbeitsfeld der Projektionisten strukturieren. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, daß der Einzelne die Möglichkeit hat, die Rivalitäten zwischen Organisationen zu seinen Gunsten zu nutzen. Die Risse im System bieten also bisweilen auch den Raum für individuelles Handeln. Insofern kann man die Initative Louis Giblemans als ein deutliches Beispiel für aktives Handeln seitens eines Filmvorführers betrachten. Die diskursive Konstruktion der Operateure als demographische Kategorie Während der Nickelodeon-Ära zirkulieren in der New Yorker Kinokultur verschiedene konkurrierende Auffassungen über die Filmvorführer, wobei diese selbst kaum die Möglichkeit haben, Stellung zu beziehen. Wir haben ge- zeigt, daß die Diskurse von Staat, Berufskörperschaften, Kontrollbehörden sowie der International Brotherhood of Electrical Workers die Projektionisten als Spezialisten mit großer technischer Kompetenz darstellen, während die IATSE sie als Angestellte der Unterhaltungsindustrie sieht und einige wenige abweichende Stimmen sie als erfahrene Fachleute konstruieren. Andere Strö- mungen, die in die sozialen Auseinandersetzungen um das neue Medium ver- wickelt sind, verwenden ihre eigenen, weniger positiven Konstruktionen, in 100 denen der soziale Status der Filmvorführer wie auch des Publikums in den Nickelodeons als Anlaß zur Sorge erscheint.22 Dabei werden Begriffe wie Ver- antwortungslosigkeit oder gar moralische Dekadenz, die manche mit Immi- granten und Arbeitern verbinden, auch auf die Filmvorführer angewandt. Die Branchenpresse versucht, die Projektionisten als technische Experten zu konstruieren, um den Ängsten der Kinogegner entgegenzuwirken; der ähn- lich motivierte Wunsch, sie als verläßliche Mitglieder der Gesellschaft zu prä- sentieren, führt zu warnenden Berichten über Ereignisse, in denen dies gerade nicht der Fall ist. Auf diese Weise sucht die Branchenpresse die Allianz mit den progressiven Reformern in der Stadt. Diese rekrutieren sich aus den Krei- sen der gesellschaftlichen Eliten, der Kirche, der Lehrer und anderer Gruppie- rungen. Sie versuchen, die durch Immigration und Urbanisierung verursach- ten Verwerfungen durch den Aufbau eines Systems rationaler Regulierungen auszugleichen, wobei auch Erziehungsbestrebungen und Arnerikanisierungs- initiativen eine Rolle spielen. Viele Reformer glauben, daß ein entsprechend kontrollierter Kinobetrieb ein machtvoller Faktor für die Erziehung und Arnerikanisierung von Arbeitern und Immigranten sein kann.2 J Die Bran- chenpresse übernimmt diese Position: Sie weist auf Probleme innerhalb der Industrie hin und kämpft für die Verbesserung der Vorführbedingungen. Im März 1908 berichtet die Moving Picture World, daß viele Nickelodeons in New York aufgrund der Mißachtung polizeilicher, brandschutztechnischer oder baulicher Verordnungen schließen mußten. Mehr als 95 % von 200 über- prüften Lizenzen seien in den Händen von Ausländern oder »inkompetenten« Personen gewesen; mehr als 75 % in denen von Analphabeten, welche die Li- zenzvorschriften nicht einmal lesen konnten. In all diesen Fällen sowie dann, wenn ein Filmvorführer nicht zu einem gewissen Gesprächsniveau in der Lage war, habe man die Lizenzen eingezogen. In dem Bericht heißt es auch, daß vie- le Jugendliche als Projektionisten arbeiteten.24 Der Film Index druckt 1909 einen Artikel des Blatts !nsurance Engineering ab, aus dem hervorgeht, daß die Versicherer zwar im allgemeinen mit der Filmindustrie zufrieden sind und sich über die Nickelodeonbetreiber nicht beklagen können, bei den Filmvor- führern jedoch Sicherheitsbedenken haben: »D ie Risiken im Kinobetrieb sind relativ gering. Die Hauptsorge gilt den Operateuren, bei denen es sich meist um junge Männer mit unsteten Gewohnheiten und wenig Verantwortungsge- fühl handelt.«21 Die Filmvorführer werden aufgrund ihres Alters, »fehlender Intelligenz« oder wegen ihrer »unsteten Gewohnheiten« diskriminiert: Ihnen fehlt die Respektabilität ausgebildeter Fachleute. Dennoch haben wir keine Belege da- für finden können, daß der Staat versucht hätte, diese demographischen Merk- male zu kontrollieren. Ein Aspekt jedoch ist offenbar so bedrohlich, daß er einen staatlichen Eingriff nötig macht: Im Staat New York wird 1910 ein Ge- setz verabschiedet, das nicht eingebürgerte Personen vorn Erwerb einer Filrn- vorführerlizenz ausschließt.26 Dies führt zu einem außergewöhnlichen Doku- 101 ment: einer Petition einiger immigrierter Operateure an Bürgermeister Willi- am]. Gaynor, in der sie ihn bitten, den Verlust ihrer Lebensgrundlage zu ver- hindern. Da Quellen, die von den Projektionisten selbst stammen, selten sind, wollen wir dieses Dokument in voller Länge wiedergeben: Wir, die unterzeichneten Filmvorführer, meist Väter, die große Familien versorgen müssen, bitten Euer Ehren um Hilfe, auch im Namen anderer unglücklicher Ope- rateure. In ein paar Monaten werden wir ohne Brot und Butter sein, nur weil wir das Unglück haben, keine naturalisierten Bürger dieses Landes zu sein. In unseren Herzen fühlen wir uns als Bürger dieser großen Republik, wir haben vorläufige Papiere und darüber hinaus Kinder, die hier geboren sind und zur Schule gehen, und was wird aus ihnen, wenn wir unsere Lizenzen verlieren? Euer Ehren wissen, wie schwierig es für jeden zur Zeit ist, in New York eine neue Stelle zu finden, und wir bitten Sie, gütigst zu bedenken, was geschehen wird, mit dem neuen Gesetz, das ganz ohne Zweifel verabschiedet werden wird, wenn Euer Ehren nicht eine solche Ungerechtigkeit gegen die Menschlichkeit verhindern. Das neue Gesetz besagt, daß niemand als Operateur einer Filmvorführmaschine arbeiten darf, wenn er nicht Bürger der Vereinigten Staaten ist. Deshalb werden viele Väter und Ernährer gro- ßer Familien ihre Lizenzen verlieren und vom Hungertod bedroht sein. Die Mehr- heit der Filmvorführer hat nur vorläufige Papiere, und wir möchten die werte Auf- merksamkeit von Euer Ehren auf die Tatsache lenken, daß verschiedene Lizenzie- rungsstellen in New York auch aufgrund von vorläufigen Papieren Lizenzen verge- ben. Die meisten von uns haben die vergangenen drei Jahre als Operateure gearbei- tet und jedes Jahr die uns von der Kommission für Wasser- und Elektrizitätsversor- gung auferlegten Prüfungen absolviert. Die letzte Prüfung fand im Januar 1910 statt, und wir haben die Lizenz für ein weiteres Jahr erhalten. Mit diesem Schreiben wollen wir Euer Ehren bitten, uns zu gewähren, mit unseren gegenwärtigen Lizen- zen weiter zu arbeiten, bis wir unsere Einbürgerungspapiere erhalten. Wir appelie- ren an Ihr großmütiges Herz und bitten um Hilfe unserer Kinder willen, die unse- rer Hilfe und Unterstützung bedürfen. Gaynor leitet diese Petition weiter an Henry Thompson, den Leiter des Amts für Wasser-, Gas- und Elektrizitätsversorgung, der sie dem Bürgermeister zu- sammen mit einem Brief zurücksendet, in dem es heißt, er habe entschieden, daß »alle Lizenzen, die 1910 vor der Verabschiedung des Gesetzes ausgegeben wurden,[. ..] für ein Jahr ab Ausgabedatum gültig sind. Dies wird in einigen Fällen die Anstellungsdauer der noch nicht eingebürgerten Operateure um einen bis zu sechs Monate verlängern.«17 Das Dokument der Projektionisten zeigt, daß sie sich als in die existierenden sozialen Strukturen integriert dar- stellen, was unter diesen Umständen kaum überraschen kann. Wenn sie auch nicht de jure Bürger der USA sind, so doch de facto: »In unseren Herzen füh- len wir uns als Bürger dieser großen Republik.« Sie sind »V äter und Ernährer großer Familien«, nicht »junge Männer mit unsteten Gewohnheiten« oder Jugendliebe. Sie akzeptieren den Diskurs, der die Filmvorführer als erfahrene Techniker konstruiert, sie »haben die vergangenen drei Jahre als Operateure 102 gearbeitet und jedes Jahr die[ ...] von der Kommission für Wasser- und Elek- trizitätsversorgung auferlegten Prüfungen absolviert«. Auch ihre Kinder sind in die Gesellschaftsstrukturen integriert, sind Bürger der USA qua Geburt und durch ihren Schulbesuch auf dem Wege zu weitergehender Amerikanisie- rung. Damit zeigt dieses Dokument, das direkt von der marginalisierten Gruppe stammt, wie sehr die Filmvorführer die Art und Weise, wie sie von der herrschenden sozialen Ordnung als Kategorie konstruiert werden, selbst über- nehmen. Der Wunsch der Projektionisten, sich in die existierenden Gesellschafts- strukturen und den technischen Diskurs einzufügen, kann zwar keinesfalls als Widerstand gesehen werden, aber doch als eine durch und durch rationale Entscheidung, da sie ja zuvor schon beschlossen hatten, in die USA einzuwan- dern, dort ihre Kinder aufzuziehen und ihre Familien mit ihrer Arbeit als Operateure zu ernähren. Die Frage, ob diese Entscheidung mit Handlungsfä- higkeit gleichgesetzt werden kann, führt zu epistemologischen Überlegungen über das Wesen der Macht, die wir hier nicht ausführen können. Doch die Art und Weise, wie wir das Belegmaterial betrachtet haben, erlaubt es zumindest, diese Frage zu stellen. Regeln am Arbeitsplatz und tägliche Praxis Hier eine weitere, 1907 veröffentlichte warnende Anekdote aus The Moving Picture World: Rauch quoll aus der Vorführkabine während einer Filmvorstellung [ ...] und der wilde Schrei des Operateurs, der aus der Kabine stürzte, verursachte eine Panik unter den fünfzig Besuchern.[ ...] Die Polizei drang zu dem Saal vor und beruhigte die Menge. Niemand war ernsthaft verletzt. Das Feuer wurde ausgelöst durch ei- nen Funken, der aus der Pfeife des Operateurs auf den Film fiel. (Ein Kommentar hierzu erübrigt sich; das Rauchen am Arbeitsplatz eines Filmvorführers sollte unter Strafe gestellt werden! - Hrsg.)28 Ein paar Jahre später wirft die nationale Vereinigung der Feuerversicherer das ganze Gewicht ihrer professionellen Erfahrung in die Waagschale, um dieselbe Forderung zu stellen. In Abschnitt 12 eines Vorschlags zur Regelung von Auf- stellung, Betrieb und Unterhalt von Filmprojektoren heißt es: »Weder das Rauchen noch der Besitz oder das Anzünden von Streichhölzern darf in den Kabinen, Räumen oder Kammern, in denen sich ein Filmvorführgerät befin- det, erlaubt sein.« 2 9 Seit dem Brandunglück in Boyertown, Pennsylvania, von 1908 wird die Bedrohung durch Feuer und die daraus folgende Panik im Publikum in den USA als der hauptsächliche Gefahrenherd bei Filmvorstellungen angesehen.J0 103 Disziplinarmaßnahmen erscheinen als das beste Mittel, um derartige Katastro- phen zu verhindern. In einer progressiven, reformorientierten Zeitschrift, The American City, diskutiert Boyd Fisher die Regulierung von Filmvorstellun- gen zum Schutz der Öffentlichkeit und stellt fest, daß »die Gefahr eines Bran- des die am meisten gefürchtete ist«: Auch der Filmvorführer muß eine Lizenz besitzen, die ihm entzogen wird, wenn er die Sicherheitsregeln nicht beachtet. Diese Maßnahme ist die wichtigste und geeig- netste, um sowohl Feuer als auch Panik zu verhindern. Der Umgang mit feuerge- fährlichem Filmmaterial in unmittelbarer Nähe einer brennenden Bogenlampe for- dert ständige Wachsamkeit, und nur, wenn die Stadtverwaltung einem Filmvodüh- rer zu jeder Zeit die Berufsausübung untersagen kann, ist es möglich, von ihm die gleiche Kooperation zu verlangen wie von den Kinobetreibern. Ein ganzer Katalog von Regeln [ ...] ist notwendig, um die Filmvorführer zu kontrollieren.l' Zu den von der Stadt New York verabschiedeten Maßnahmen gehört auch die Forderung, daß »das Bedienen [des Filmprojektors] nur im Handbetrieb ge- stattet ist«,32 in der Hoffnung, dadurch zu verhindern, daß der Projektionist bei der Arbeit einschläft.Ji Wie die oben zitierte Anekdote aus The Moving Picture World von 1907 andeutet, unterstützen Branchenpresse und Filmjour- nalisten nachdrücklich solche Disziplinarmaßnahmen. David Hulfish, der für das in Chicago herausgegebene Blatt The Nickelodeon arbeitet, veröffentlicht 1909 das Buch The Motion Picture: lts Making and lts Theatre. Am Beispiel eines Nickelodeons, das Filme und Illustrated Songs vorführt, erläutert Hul- fish Schritt für Schritt die Pflichten des Operateurs, von» 1. ) Die Bogenlampe anzünden.« bis »16.) Der Operateur entscheidet über die Länge der Pause, bevor er die Folge seiner sechzehn Pflichten wiederholt.«34 Ein Jahr später veröffentlicht F. H. Richardson, Mitarbeiter der Motion Picture World, sein Motion Picture Handbook: A Guide for Managers and Operators of Motion Picture Theatres, das eine Liste von Hinweisen für Projektionisten in der Form von Vorschriften enthält: »Lies nicht, während Du die Kurbel drehst!«; »Erlaube niemandem den Zutritt zur Kabine während einer Vorführung!«; »Bewahre die ölgetränkten Lappen in einem verschlossenen Behälter auf!«; »Bewahre die nicht benötigten Filme in einer Metallkiste auf!«is Hulfish und Richardson verlangen die strikte Befolgung dieser Regeln am Arbeitsplatz, um die Sicherheit und das Vergnügen des Publikums zu gewähr- leisten; sie kümmern sich jedoch nicht um das Wohl der Filmvorführer, die sie offenbar lediglich als eine Art Zubehör zu den Vorführapparaten betrachten. Wir haben jedoch einen Beleg finden können, in dem seitens einer der herr- schenden Institutionen Besorgnis über die Lage der Filmvorführer geäußert wird. In einem Artikel für The Journal of the American Medical Association behandelt Dr. Howard D. King die Gesundheitsgefährdungen, welche die wachsende Zahl von Filmvorstellungen im ganzen Land mit sich bringt. Mit 104 Blick auf die Kinoangestellten schreibt King: »Die schlechte Ventilation ver- ursacht nicht nur Unwohlsein und Verlust von Energie, sondern auch größere Anfälligkeit für Krankheiten, insbesondere Tuberkulose.[ ...] Der bei außer- gewöhnlich hohen Temperaturen in eine kleine Kabine eingeschlossene Ope- rateur wird leicht zum Opfer der Tuberkulose.«J6 Dem Artikel von Dr. King läßt sich entnehmen, daß seine Sorge um die Projektionisten eher deren möglicher Rolle bei der Ausbreitung von Krank- heiten gilt, also mehr der demographischen Entität als den jeweiligen Indivi- duen. Aber dennoch regen seine Bemerkungen dazu an, über die tägliche Arbeitspraxis der Operateure aus deren eigener Perspektive zu spekulieren. Wenn sie den Regeln und Anweisungen gefolgt sind, dann muß ihre Tätigkeit eintönig und physisch anstrengend gewesen sein, da sie ja per Hand Filme vorführen müssen, die sie schon mehrere Male gesehen haben. Sie dürfen die Anspannung weder durch Lektüre noch durch Gespräche mit anderen Ange- stellten auflockern. Sie können auch weder Rauchen noch Dösen, obwohl sie in der überhitzten Enge der Kabine schläfrig werden, eine Vermutung, die durch den Zwang zum Handbetrieb gestützt wird. Soweit uns bekannt ist, hat kein Projektionist seine eigenen Erfahrungen von der alltäglichen Arbeit aufgeschrieben. Ein annäherndes Verständnis der phy- sischen Wirklichkeit ihres Arbeitsdaseins läßt sich am besten gewinnen, wenn man das Belegmaterial, das von den herrschenden Institutionen stammt, ge- gen den Strich liest. Dieses historiographische Verfahren mag von einigen Le- sern als übermäßig spekulativ verworfen werden. Wir sehen zwar die Grenzen einer solchen Spekulation, doch wir meinen, daß sie ein besseres historisches Verständnis ermöglicht als die einfache Wiedergabe des schriftlichen Belegma- terials der jeweiligen Periode. Dieser Beitrag hat die fragmentarischen Belege herangezogen, die sperrig am Rand der herrschenden Diskurse stehen, um die Risse zwischen den diszi- plinären Diskursen zu öffnen und einen Blick auf das Leben und die Motive individueller Filmvorführer zu ermöglichen. Damit haben wir auch versucht, ein Verständnis von der Handlungsfähigkeit der Projektionisten zu erlangen, auch wenn die Fülle des Belegmaterials eher eine Foucaultsche Sicht auf die Operateure als durch ein disziplinäres Regime geschaffene Subjekte stützt. Wir ziehen keine dieser beiden Interpretationen der anderen vor, sondern wollen sie oszillieren lassen, wie die optischen Illusionen, die sich unaufhör- lich von einer Ente in ein Kaninchen und zurück verwandeln, ungeachtet der Versuche des Betrachters, ein einzelnes Bild zu fixieren. Eine solche Oszillation verletzt einige der grundlegenden Vorschriften her- kömmlicher Geschichtsschreibung. Auch wenn wir es leid sind, Historiker als eine monolithische Kategorie zu konstruieren, scheint es so, als seien viele von ihnen so ausgebildet worden, daß sie Belege aus unterschiedlichen Quellen zu einer kohärenten Erzählung verweben, von der sie glauben, daß sie am besten 105 die Ereignisse und Kausalitäten der Vergangenheit darstellt. Wie Robert Berk- hofer in Beyond the Great Story schreibt: »Daß zwei oder mehr Geschichten über dieselbe Gruppe von Ereignissen erzählt werden können, sorgt für eine tiefe Verstörung auch bei scharfsinnigen normalen [nicht-postmodernen] Hi- storikern.«J7 Solche Geschichtswissenschaftler leisten Widerstand gegen das relativistische Chaos, das durch die Oszillation zwischen zwei oder mehr Er- zählungen hervorgerufen wird. Doch wie wir eingangs bemerkt haben, ergibt das verfügbare Material zur Erforschung des frühen Kinos (und auch vieler anderer möglicher Gegenstände) ein Muster selektiv erhaltener und gefilterter Belege, welche die erzählbaren Geschichten strukturieren. Ihre Ausbildung mag Historiker dazu tendieren lassen, bestimmte textuelle Formen (Empfeh- lungen der Versicherungen, Verordnungen der Stadt) als solide, harte Belege zu betrachten und andere (Anekdoten, indirekte Hinweise oder strukturierte Abwesenheiten) als fragwürdig. Texte, die als institutionell verbürgt und »objektiv« gelten, stellen meist die dominierenden Kräfte innerhalb einer Periode dar, sie repräsentieren die An- sichten, die von herrschenden Institutionen geäußert und später archiviert wurden. Daß Historiker sich meist auf diese Quellen stützen und somit dazu tendieren, die dominanten Erzählungen wiederzugeben, hat seinen Grund in einer Reihe von Vorlieben und Vorurteilen hinsichtlich der Konstruktion von Geschichte: - im Wunsch, Hierarchien der Konsistenz zu etablieren, wobei das Konsi- stente dem weniger Konsistenten vorgezogen wird; - im Wunsch, Widersprüchlichkeiten zu vermeiden und stattdessen nach Daten und Schlußfolgerungen, die einander stützen, zu suchen; - im Wunsch, Geschichte eher als transparent denn als konstruiert zu be- trachten, als einen Gegenstand statt als einen Text; - im Wunsch, holistische Analysen vorzunehmen und zusammenhängende Erzählungen zu schreiben. Im Gegensatz zu der herkömmlichen historischen Praxis haben wir versucht, für Belegmaterial empfänglich zu sein, das den beherrschten Gruppierungen Handlungsfähigkeit einräumt, wie spärlich oder inkonsistent es auch sein mag, und eine Erzählung zu konstruieren, die den Beherrschten eine Stimme ver- leiht. Es bleibt jedoch die bohrende Frage, ob diese Herangehensweise allge- mein anwendbar ist, zumal wir unsere Argumentation auf Belegmaterial aus einem spezifischen geographischen Raum, der Stadt New York, stützen. Doch wenn man sich mit historischen Themen befaßt, in deren Mittelpunkt gesell- schaftliche Randgruppen stehen, bietet dieser Ansatz die Möglichkeit, die leichter erreichbaren Dokumente der herrschenden Klassen zu hinterfragen und ihnen Komplexität zu verleihen. (Aus dem Amerikanischen von Frank Kessler) 106 Anmerkungen 1 »Audience Applauds his Shrieks of städtischen Abteilungen, die mit Aspekten Agony«, The Moving Picture World, 22.2. des Kinobetriebs befaßt sind, die Zahl der 1908, s. 138. Vorführstätten mit 5 50, 675 und 800 an. Zu 2 Für eine detaillierte Analyse sowohl den Implikationen unzuverlässiger Daten dieser Anekdote als auch der allgemei- für die Bewertung der Nickelodeons in nen Problematik der Konstruktion einer New York vgl. Uricchio und Pearson, Geschichte der Nickelodeons vgl. unseren »New York? New York!« (Anm. 5). Aufsatz »Corruption, Criminality and 7 Vgl. z.B. Kathy Peiss, Cheap Amuse- the Nickelodeon«, in: Henry Jenkins, ments: Working Women and Leisure in Jane Shattuck und Tara MacPherson (Hg.), Turn-of-the-Century New York, Temple Hop on Pop: The New Cultural Studies, University Press, Philadelphia 1986; Roy Duke University Press, Durham (im Rosenzweig, Eight Hours for What We Druck). Will: Workers and Leisure in an lndustrial 3 Robert Berkhofer, Beyond the Great City, 1870-1920, Cambridge University Story: History as Text and Discourse, Har- Press, Cambridge 1983 sowie unser Refra- vard University Press, Cambridge 1995, ming Culture (Anm. 4). diskutiert die Frage, »was Geschichte sein 8 Zu den Herausforderungen, welche kann, sowohl als wirkliche Vergangenheit die poststrukturalistische Theorie für die und als Diskurs über diese«. Im Wesen in- herkömmliche geschichtswissenschaftliche terdisziplinär und in seinem Ansatz dekon- Praxis darstellt, vgl. Robert Berkhofer, F. R. struktivistisch, ist dieses Buch eine Heraus- Ankersmit,History and Topology: The Rise forderung an die traditionellen Hierarchien and Fall of Metaphor, University of Cali- von Beweis, Bedeutung und Interpretation, fornia Press, Berkeley 1994; Richard Evans, während es sich gleichzeitig die Vielfalthi- In Defense ofH istory, Granta Books, Lon- storischer Einsichten und Möglichkeiten don 1997; Alan Munslow, Deconstructing zu eigen macht. History, Routledge, London 1997 sowie 4 Zum zentralen Stellenwert von New Hayden White, Tropics ofD iscourse: Essays York vgl. auch das erste Kapitel unseres in Cultural Criticism,Johns Hopkins Uni- Buchs Reframing Culture: The Case of the versity Press, Baltimore 1978. Vitagraph Quality Films, Princeton Uni- 9 »New York Operators Taken in versity Press, Princeton 1993. Hand«, The Film Index, 25.1.1908, S. 4. 5 Der Kinobetrieb in New York City ist 10 »Editorial Notes«, Moving Picture Gegenstand einer Debatte zwischen Histo- World (MPW), 16.5.1908, S. 436. rikern, die sich mit dem frühen Film be- 11 »A School for Operators«, MPW, 29. schäftigen. Vgl. Ben Singer, »Manhattan 1.1910, s. 124. Nickelodeons: New Data on Audiences 12 Oscar B. Depue, »Popular Defense of and Exhibitors«, Cinema Journal, vol. 34, Picture Theaters«, The Nickelodeon, März no. 3, 1995; Robert Allen, »Manhattan My- 1909, s. 67. opia, or, Oh! Iowa!« sowie Ben Singer, 13 The Film Index, März 1909. »New York,Just Like I Pictured lt ...« , bei- 14 IATSE Yearbook, 1905, S. 188-189. de Cinema Journal, vol. 35, no. 3, 1996; 15 IATSE Yearbook, 1907, S. 239. William Uricchio und Roberta Pearson, 16 IATSE Yearbook, 1908, 265. »New York? New York!«; Judith Thissen 17 Ebenda. »Oy, Myopia!«; Ben Singer, »Manhattan 18 »Editorial Notes and Comments«, Melodrama«, alle in Cinema Journal, vol. MPW, 16.5.1908, S. 436; »Observations by 36, no. 4, 1997. our Man About Town«, MPW, 16,4,1910, S. 6 Für 1908 geben die verschiedenen 594· 107 19 »Union Operators to have a New Ex- Installation, Operation and M aintenance of amination«, MPW, 29.1.1910, S. 124. Motion Picture Machines, o. 0., November 20 »Local 35 Hold Big Meeting«, The 1912. Film Index, 1.4.1911, S. 7. 30 Allerdings muß angemerkt werden, 21 The Tammany Times, 30.9.1911, S. 6. daß dieser Brand in einem Opernhaus aus- 22 Vgl. unseren Aufsatz »Constructing gebrochen war, nicht in einem Nickel- the Audience: Competing Discourses of odeon, und auch nicht von einem Filmvor- Morality and Rationalization During the führgerät ausgelöst wurde. Nickelodeon Period«, Iris, Nr. 17, Herbst 31 Boyd Fisher, »The Regulation of Mo- 1994, s. 43-54. tion Picture Theaters: Provisions for the 23 Andere, repressivere Reformer dage- Physical, Moral and lntellectual Control of gen wollen die Nickelodeons schließen und a Form of Popular Entertainment Posses- Filmvorführungen ganz verbieten. sing Great Educational Possibilities«, The 24 »Lines being drawn tighter in New American City, Dezember 1912, S. 520. York City«, MPW, 14.3.1908, S. 208. Die 32 Nachdruck eines Artikels aus In- Moving Picture World spiegelt in diesem surance Engineering in »Fire Risks«, Film Bericht den allgemeinen fremdenfeindli- Index, 10,4,1909, S. 10-11. chen Diskurs jener Zeit wider, der die süd- 33 David Hulfish, »Some Questions Ans- und osteuropäischen Auswanderer, die seit wered«, The Nickelodeon, Dezember 1909, 1880 in die USA strömen, als minderwertig s. 174. und verdächtig darstellt. 34 David Hulfish, The Motion Picture: 25 »Fire Risks«, The Film Index, 10+ Its Making and Its Theatre, Chicago Elec- 1909, s. 10-11. tricity Magazine Corporation, Chicago 26 Akten des National Board of Review, 1909, s. 65-66. 1.9.1910. New York Public Library, Ma- 3 5 F. H. Richardson, Motion Picture nuscripts Department. Handbook: A Guide for Managers and 27 Brief von Henry S. Thompson an Bür- Operators of Motion Picture Theatres, The germeister William J. Gaynor vom 3.10. Moving Picture World, New York 1910, S. 1910, New York City Municipal Archives 169. (die Petition der Filmvorführer ist an die- 36 HowardD.King,M.D.,»TheMoving sen Brief geheftet). Picture Show: A New Factor in Health 28 MPW, 10.8.1907, p. 359. Conditions«, The Journal of the American 29 National Board of Fire Underwriters Medical Association, Vol. 53, Nr. 7, 14.8. and the National Fire Protection Associa- 1909, s. 519· tion, Suggested Ordinance to Regulate the 37 Berkhofer (Anm. 3), S. 24. I08 JEANPAUL GOERGEN »Sensationellste Schaunummer der Gegenwart!« Zeitungsinserate des Berliner Filmpioniers H. 0. Foersterling von 1896 Der Berliner Ingenieur', Optiker' und Erfinder3 Herrmann 0. Foersterling war nicht nur einer der wichtigsten frühen Filmpioniere in Deutschland,4er war in der Gestaltung seiner Anzeigen auch einfallsreicher und kreativer als seine Konkurrenten. Das belegen illustrierte Inserate, die die Firma H. 0. Foersterling & Co., Fabrik optischer, elektrischer, akustischer und mechani- scher Artikel,' Leipzigerstr. 12, ab Mitte 1896 in Der Artist und Der Komet schaltete. Diese Annoncen dokumentieren nicht nur Foersterlings Bedeutung als Kinematographen-Anbieter, sondern geben auch wichtige Einblicke in die sonst kaum durch Abbildungen dokumentierte früheste Kinematographie. Als Kinematographen-Anbieter läßt sich Foersterling erstmals am 9. Mai 1896 in der Rubrik »Bezugsquellen« im Komet nachweisen; sein Angebot an »garantiert echt amerikanischen« Phonographen ergänzte er jetzt durch einen neuen vielversprechenden Apparat, den Kinematographen.6 Foersterlings er- stes illustriertes Inserat mit der Darstellung einer Vorführsituation erschien knapp zwei Monate später im Juli und August 1896 imArtist1 und imKomet.8 Im Anzeigentext preist Foersterling seinen Kinematographen als »Biomato- graph, Edison's Ideal, gleichbedeut. mit Cine-, Kine-, Anemo-, Vivatograph« an. Die Bezeichnung »Biomatograph« wird Foersterling aber nur kurzfristig beibehalten. Seine Werbestrategie, in diesen Anzeigen bereits angelegt, wird in der Folgezeit ganz auf die Anbindung seines Kinematographen an den be- kannten und mit hohem Prestige verbundenen Namen des amerikanischen Erfinders Edison abgestellt. Mit der Marke »Edison's Ideal« kennzeichnet er seine Kinematographen indirekt auch als amerikanisch und somit als modern und technisch ausgereift. Mit diesem werbestrategisch geschickten Vorgehen dürfte sich Foersterling gegenüber seinen Konkurrenten und der verwirren- den Vielzahl an Bezeichnungen für den Kinematographen zumindest kurzfri- stig einen Aufmerksamkeitsvorteil gesichert haben. Die Illustration dieses Inserats zeigt die Vorführung eines Kinematogra- phen in einem größeren Theater oder Variete mit Orchestergraben, Parkett und mehreren Rängen; der Operateur hat, dem Aufführungsort angemessen, einen Frack angezogen (Abb. 1). Diese Darstellung kann als Versuch gelesen werden, den Kinematograph zu adeln, indem er in das Ambiente eines vorneh- men Varietes gestellt wird, das er sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht er- 109 .~„..i.f L ,~ v1· el Geld verdient mn-rlie Yor- Kn '1inn ekmürazteosgterra Z·pe hit P duroh 11LilJll fiihnrng d(•S . , nn- iiJ g-emchlot, zeiitt in Lrihen8g rö,se und ·i ~'1' N;dürl ichk,, it ph11, ti,- d1 iu grü,st,, r Yoll-kom1JH•nh(•it "l·:u i~o11 ';; ] dH>11d o l'hEdison's lebende Photo- graphien<.« Bemerkenswert ist auch die überproportionale Darstellung des Kinematographen sowie insbesondere die des Projektionsbildes: Tatsächlich reichte die Lichtstärke der ersten Kinematographen noch nicht aus, den Raum eines großen Theaters zu überbrücken. Im Apollo-Theater projizierte Messter daher von hinten »in Lebensgröße«' 0 auf die Leinwand. »Das Publikum hielt aber die Bilder für Schattenspiele, da auf der I qm großen Leinwand die sich bewegenden Figuren nur unscharf wahrgenommen werden konnten.«" Der Artist und Der Komet richteten sich an Schausteller, die Foersterling im An- zeigentext auch direkt als Kunden anspricht; deren Auftrittsorte waren aber wenig noble Zelte, Buden und Veranstaltungsräume in Gasthäusern. Mögli- IIO Neueste zugkräftigste Schaunummer! Amerikanisches, elektrisches E~i~~~-T~~ater. (~im· tiL:JHid) l1;'T{H'fUJ1c 8i.:.nbid:nft uon elncm (5\d~ir:;.;;bo.dJ hnHf)lfo\irn. j1; U!+>!t't ~Ji:tim•,;form, in rnt'idj!!:r in rhMigfl· %•ih~11- f.:-1ril: rn,mn:HctJt' ~t1wt:·ctfl:1\Cllbi~ft,'H, ZN:ltdl 1r:1dn. :ll!r~n~üi!1r:11 !lteitbrnni, :J.'1!'1::c 1!1;D 1.-Str:·rn; H'1l h~11urn.lerN 1\,i;- Hlllu. Steta noue Seenen: Prima Kassen-Magnet. (\mipletto 1i;inri0Mung forog. lHH)gt1fo Prt~iiiO. CiHalt11ifa~t1,.i Ztdilu:flg~hndingnng6~1. t)~taus dureh i54'J H. o. Försterlino & Co. Berlin W. Leipzlgor Str1>ssa i~. Die hokan.nto~tMi E'Uu..:tfor, h.1Jmikor u.. Olth.UR(mt1Hcli Lt~ i.i!:lb!)tl YOO UO'.i Heii Jo,hn.m: (l&oMsctie Etfect •Beteuol\!uog mittol~t loiöhh'O. hgniphon ""1, 11iiHfom) (Hatzon, Na.~ei;, "'k' ha.lt(l-11 1rns Nnplühh.11.1, lJ. 0. 'A""' .A.ugou) oto. -etc. Abb. 3. Der Komet, Nr. 599, 12.9.1896 ins Wasser springt. Schließlich ein Derby-Rennen, fünf Cancan-Tänzerinnen, ein Angleridyll sowie eine komische Szene mit einer Frau, einem apportieren- den Hund und einem Polizisten. »Packend! Pickant! Interessant! Lehrreich!« inseriert nun Foersterling den Kinematographen und bringt so die wesentli- chen Schauwerte des frühen Kinoprogramms wie Spannung, Erotik, Informa- tion und Belehrung auf den Punkt (Abb. 3). Die Zeichnung selbst ist so modern wie das neue Medium und die dadurch eingeführte neue Sinneserfahrung. Der Bildaufbau vermittelt einen dynami- schen und simultanen, ja futuristischen Gesamteindruck, der die Erfahrung der lebenden Photographie präzise ausdrückt. Die verschiedenen Lichtbahnen mit den Einzelsujets sind nicht exakt voneinander abgesetzt, sondern gehen ineinander über und evozieren so ein ganzheitliches Bild-Erlebnis, wie es der Besucher eines Kinematographen im Jahre 1896 gehabt haben mag. Alle Sujets sind als Momentaufnahme aus einer noch andauernden Bewegung erfaßt. Auf- fallend auch, daß der Zeichner großen Wert auf die Wiedergabe der von unter- schiedlichen Seiten einfallenden Schatten legt und damit die in den zeitgenös- sischen Kritiken hervorgehobene plastische Wirkung der »Films« betont. Die technische Bedingtheit dieser Bilderflut wird nicht verschwiegen; der Opera- teur wird als seriöser Wissenschaftler porträtiert, der mit einem eher unschein- baren und offensichtlich leicht zu bedienenden Gerät eine ganze Welt erste- hen läßt. 113 Vorführungen der lebenden Photographien waren schon 1896 keineswegs stumm, sondern wurden häufig mit dem Phonographen als zusätzlicher Jahrmarkt-Sensation zu einer »kinematographisch-phonographischen Glanz- Nummer« kombiniert.22 Noch deutlicher wird die Präsentation des Kinema- tographen im Kontext eines Multimedia-Spektakels in der letzten Foerster- ling-Anzeige mit diesem Bild-Motiv in Der Komet Nr. 614 vom 26. Dezember 1896: »Man führt die Bilder[. ..] rück- und vorwärts vor und füllt die Pausen durch mikroskopische Vergrößerungen aus, wodurch der wissenschaftliche Werth dieses sensationellen Schaustückes bedeutend gehoben wird. Zur Be- gleitung durch Deklamation, Rezitation oder Orchester-Musik bedient man sich neuerdings des reizenden leichten >Ediphone Phonograph<.« Foersterlings Rolle als einer der führenden frühen Kinematographen-An- bieter - neben Georg Barding, A. Hesekiel, Oskar Messter, M. Mosich, Ro- main Talbot, Philipp Wolff- ist erst ansatzweise erforscht. Die von ihm gelie- ferten Kinematographen »Edison's Ideal« waren in Europa weit verbreitet. Dieser Geschäftszweig war aber offenbar nur ein (kleinerer?) Teil seines Un- ternehmens, das vor allem auf elektrische Artikel und Apparate insbesondere für Schausteller ausgerichtet war: »Elektrische Velolampen. Equipagen-Be- leuchtung und elektrischen Theaterschmuck. Sämmtl. Apparate für X-Strah- len. Phonographen, Graphophone. Elektrische und Blitz-Anzünder. Trocken- Akkumulatoren. Elektrische Scherzartikel« - das war Foersterlings Palette Anfang 1896.2 3 Zu seinen Kunden zählte er die »bekanntesten Künstler, Komi- ker u. Chansonetten«, die sich bei ihm mit »electrische(r) Effect-Beleuchtung mittelst leichten, trockenen Taschen-Accumulatoren und Mignon-Glühlämp- chen (Gürtel, Diadem, Glatzen, Nasen, Augen)« eindeckten.24 Mitte 1897 er- gänzte er sein Angebot um den »Kinetograf in der Westentasche«,2 s offenbar Abblätterbüchlein, sowie um seinen gesetzlich geschützten Sciopticon-Scene- tograph: »Der Sciopticon-Scenetograph projicirt stehende Bilder, lebende Bil- der, vorwärts, rückwärts, endlos, Farbenspiele, microscopische Präparate, be- leuchtet Serpentintänzerin etc. etc., man kann mit ihm selbst photographische Aufnahmen actueller u. stehender Scenen machen und ihn als Copir-Apparat benutzen.«'6 Immer wieder griff Foersterling die neuesten und modernsten Erfindungen auf, wie etwa die Marconi-Telegraphie.27 Denkbar, daß er als Ki- nematographen-Anbieter am Gemischtwaren-Charakter seiner Firma schei- terte. Foersterlings Rezept, erst mit Erfolg gekrönt, mit graphisch interessan- ten, marktschreierischen Anzeigen den Schaustellern die jeweils neuesten technischen Sensationen in guter Qualität zu Niedrigstpreisen anzubieten, hatte sich überlebt. Die rasante Ausbreitung des Kinematographen und der damit einhergehende wachsende Bedarf an Service-Leistungen und immer neuen Filmen verlangte nach Spezialwerkstätten und spezialisierten. Fach- händlern, die ein breites Angebot für die unterschiedlichsten Anwendungen bereithielten. Um 1900 gab Foersterling sein Unternehmen auf. 114 Anmerkungen 1 Adreßbuch für Berlin und Vororte 14 Auf die Bedeutung dieser Schauräume 1897, Eintrag H. 0. Foersterling. für die Entwicklung der ersten Kinos hat 2 Das Kleine Journal, Berlin, Nr. 225, Deac Rossell in K!Ntop 6 (Anm. 4), S. 178, 16.8.1896 (Vergnügungs- und Vereins-An- hingewiesen. zeigen). Alle Anzeigen zitiert nach Jean- 15 »La belle Duvernois«, als das schönste paul Goergen, Das Jahr 1896. Chronik der Weib der Erde vermarktet, gastierte mit ih- Berliner Kinematographen (mit einem Aus- ren »sujets artistiques« im Herbst 1896 im blick auf das Jahr 1897), Siegen 1998 (= Etablissement Ronacher in Wien. (Anzei- MuK 120/121). gen in: Der Artist, Nr. 609, 11.10.1896 und 3 Der Komet, Nr. 646, 7.8.1897. Nr. 610, 18.10.1896). Sie trat in einem eng- 4 Stephen Herbert, Luke McKernan anliegenden fleischfarbenen Trikot auf und (Hg.), Who's Who of Victorian Cinema: A präsentierte sich »im vollsten Ebenmaasse Worldwide Survey, London 1996. - Deac ihres classischen Körperbaues. Die Duver- Rossell, »Jenseits von Messter - die ersten nois, das Modell einer altgriechischenJuno Kinematographen-Anbieter in Berlin«, und Venus, zeigt sich [ ...] in plastischen KINt op 6 (1997), S. 167-184. -Einen Über- Stellungen und Posen, in förmlichen Far- blick über Preise und Qualität der verschie- benstatuen. [. ..] Die Vorstellung der 4 Jah- denen Berliner Kinematographen-Anbieter reszeiten, ihr Triumphzug als Venus sind gibt Der Komet, Nr. 600, 19.9.1896, S. 3. wahre Augenweiden.« (Wiener Tageblatt, 5 Wie Anm. 1. Nr. 27 7, 8. 1o.1896, zitiert nach der Anzeige 6 Der Komet, Nr. 581, 9.5,1896, S. 14. in Der Artist, Nr. 610, 18.10.1896). 7 Der Artist, Nr. 595, 5.7.1896; Nr. 598, 16 Der Komet, Nr. 651, 11.9.1897. 26.7.1896. 17 Vossische Zeitung, Berlin, Nr. 293, 8 Der Komet, Nr. 590, 11.7.1896, sowie 25.6.1896 und Nr. 295, 26.6.1896 (Anzei- mit erweitertem Text Der Komet, Nr. 591, gen). 18.7.1896, Nr. 592, 25.7.1896 sowie in Nr. 18 Vossische Zeitung, Nr. 296, 26.6.1896. 595, 15.8.1896. 19 Anzeigen in: Norddeutsche Allgemei- 9 »Mitteilungen aus dem Leserkreise« ne Zeitung, Berlin, Nr. 552, 24.II.1896 - [Zuschrift von Messters Projektion Nr. 600, 21.I2.1896, Das Kleine Journal, GmbH, i. A.: Froelich], Der Kinemato- Nr. 326, 25.11.1896 - Nr. 352, 21.12.1896, graph, Düsseldorl, Nr. 55, 15.1.1908. Berliner Tageblatt, Nr. 602, 26.11.1896 - 10 Die Angabe »in Lebensgröße« durch- Nr. 643, 18.12.1896, Berliner Lokal-Anzei- zieht sowohl die ersten Besprechungen des ger, Nr. 553, 25.11.1896 - Nr. 593, 18.12. Kinematographen als auch die Anzeigen- 1896. texte. Die Projektion im Kinematograph 20 Der Komet, Nr. 627, 27-3,1897. Unter den Linden 21 erlolgte auf eine zwei, 21 Der Komet, Nr. 599, 12.9.1896, Nr. nach anderen Angaben drei Meter breite 602, 3.I0.1896, Nr. 614, 26.12.1896 (hier Leinwand. Vgl. Jeanpaul Goergen, »Der zusammen mit der Werbung für sein »ame- Kinematograph Unter den Linden 21«, rikanisches elektrisches Edison-Theater«); K!Ntop 6 (1997), S. 143-165, hier: S. 146. Der Artist, Nr. 605, 13.9.1896, Nr. 607, 11 Joh.-Fr. Rauthe, »Der Aufbau der 27.9.1896, jeweils mit Textvarianten. deutschen Filmindustrie. 6. Das Lichtspiel- 22 Ebenda. theater als Konsument«, Reichsfilmblatt, 23 Ebenda. Berlin, Nr. 19, 9.5.1925, Anm. 58. 24 Der Komet, Nr. 599, 12.9.1896. 12 Joseph Stein, »Das erste Kino in Ber- 25 Der Komet, Nr. 636, 29.5,1897. lin«, Film-Kurier, Berlin, Nr. 95, 23.4.1921. 26 Der Komet, Nr. 650, 4.9.1897 13 Tägliche Rundschau, Berlin, Nr. 272, 27 Ebenda. 18.11.1896. Bioscoop-Salon, Vreeburg 8, with its main attraction: the lecturer (Louis Hartlooper) 116 BERT HOGENKAMP The Impact of Audiovisual Media in the Town of Utrecht A Research Project at the University of Utrecht In the Netherlands, the first film was shown to the public over a century ago, followed in the 1920s by radio broadcasting, in the 1950s by television andin the 1990s by the new digital media. Today the audiovisual media have exten- ded their influence over virtually every aspect of Dutch society as we know it. All the same the national history of the audiovisual media in the N etherlands has not yet been the subject of an integrated research project. Such a project would have to address matters such as: an analysis of cinema, radio and televi- sion audiences; motivation to purchase a radio set, a television or a personal computer; public preferences for certain films, radio and television pro- grammes, computer games or Internet sites; their influence on daily life in ge- neral and on cultural expressions in particular; their relative artistic merits; the dominant position of foreign programmes. To examine issues like these a local research programme has been formulated: the Utrecht Project. This project intends to draw a detailed map of the history of film exhibition, radio, televi- sion and the new media in a single town. Utrecht has been selected for that purpose because of its central location, both geographically and as the hub of transport (headquarters of the national railway system), commerce (seat of the Utrecht Trade Fair) and learning (Utrecht University), and finally also because of its social and political composition. The Utrecht Project is realised by the Department of Film and Television Studies of Utrecht University in close co- operation with the Netherlands Audiovisual Archive. The first results have been made public on the Project's Website (Dutch with English summaries): http://www.let.uu.nl/tftv/Ut rechtProj ect For the benefit of the readers of K!Ntop the following contribution will focus on the first decades of the cinema in Utrecht, tobe more precise the hi- story of the town's first permanent film theatres. Using information collected by Herman de Wit for his MA thesis, 1 by students at Utrecht University and by the author, this article will look into the ownership of these early cinemas, their location and their staff. Particular attention will be paid to the interfe- rence with the local authorities, resulting in a ban for children up to the age of sixteen to visit any cinema, unless it was showing a programme of films appro- ved by a local censorship committee. I 17 Travelling Showmen More than half a year after the first ,living images< had been shown in the N etherlands for the first time (Amsterdam, 12 March 1896), the inhabitants of Utrecht could acquaint themselves with this latest wonder of technology. For the occasion the Frisian travelling showman Christiaan Slieker had put up a marquee in the Tivoli Park. On the 29th November 1896 this Grand Theatre Edison held its first show. Although the screenings did not attract the over- whelming numbers that Slieker had counted on, other showmen saw no rea- son to stay away from Utrecht. They either hired a hall or put up their mar- quees at the annual fair. There was an enormous rush to visit these shows. Herman de Wit concludes that »around 1900 [ ...] virtually the whole popula- tion of Utrecht must have been familiar with the new medium.«• Extremely popular were actualities shot in Utrecht, such as the newsreel of an exercise by the Utrecht fire brigade, produced by the travelling showman H. Grünkorn in 1899. After the turn of the century a new generation of exhibitors took over. The furbishment of their marquees was luxurious, the projection of a high stan- dard with an ample choice of films, which were accompanied by a small orche- stra and a lecturer. But Utrecht was also visited by exhibitors who regarded film as a means rather than an end. In the case of the Salvation Army it was to convert the spectators to the Christian faith, andin the case of the Van Houten Cacao Company to promote the sale of its Rono chocolate drink. The most colourful of these exhibitors was undoubtedly the >people's missionary<, Fre- derik de Keijzer, who set out to save the population of Utrecht from the vices of the fair with his annual >anti-fair shows<. Although the era of these travel- ling showmen did not immediately come to an end once the first permanent cinemas started opening their doors, the emphasis changed towards these new establishments. Seeing films in a building that was permanently fitted with screen, projection booth and chairs, now became the norm. Permanent Cinemas On 3 1 October 1907 the first permanent cinema was opened in a property on the Oudegracht Weerdzijde 21 (today Oudegracht 144). This ,Cinemato- graphe< was run by three Germans from Krefeld: H. Kirchhoff, Dr. Schaffrath and H. Kraemer. That German town was a centre of the trade in film prints, but whether the three founders of the ,Cinematographe< had any previous ci- nema experience is unknown.J The local newspaper Utrechtsch Nieuwsblad praised the ,Bioscoop-Theater< - the name under which it soon became known: »Inside the small hall looks smart, the walls are hung with light-blue green paper, which works very pleasantly. There are two price categories, but 118 Scala Bioscoop, in the Hotel de l'Europe, separate entrance Lange Viestraat 12 119 in both cases the spectators sit on comfortable chairs. The images are beautiful and hardly glitter or flicker.«4 Nevertheless, within a year the ,Bioscoop- Theater< had to close its doors.5 However, at that moment there was already another venue where films were screened on a permanent base. The owner of the Auction Rooms (Venduhuis) at the Vreeburg 8, Richard Bresser, had con- verted one of the rooms into a ,Bioscoop Salon<, which opened its doors on 3 October 1908. The biggest attraction of this cinema was its lecturer Louis Hartlooper. This former actor provided the images with a running commenta- ry, a form of ,dramatisation<, which was highly appreciated by the audience (without fail he ended the show with the formula ,Keep fit<).6 Although the ,Bioscoop Salon Vreeburg< could only be reached by entering a small alley, the location was ideally suited for a cinema, with hotels, bars and other forms of entertainment in the direct vicinity. The next permanent cinema in Utrecht, the ,Flora Bioscope Theater< at the Oudegracht Weerdzijde 9 (today Oude- gracht 156), was surrounded by shops. In fact, the building had previously housed a carpet shop. The ,Flora< held its first screening on 22 December 1909. lts managers were two Germans: Heinrich Lübbe (born 1884 in Neuburg) and Ernst Wulff (born 1877 in Kuddevorde). The latter's younger brother Hein- rich (born 1882 in Kuddevorde) acted as bookkeeper and joined his brother as manager after Lübbe's departure for Berlin in 1911. Lübbe and Wulff had star- ted their cinema careers in Emden, so it was said.7 In 1908 they had opened the Bioscope Theater in Groningen, tobe followed in 1910 by the Friso Theater in Leeuwarden and De Kroon in Zwolle in 1911, thus creating one of the first cinema chains. Like the Vreeburg Cinema the Flora's main attraction was its lecturer: actor Piet Wigman who was engaged in October 1910. While Bresser and Lübbe and Wulff had sufficient business acumen to make a success of the cinemas that they were running, others found it harder to make ends meet. J. de Haan for example, who owned the bar-restaurant Vinicole in the Voorstraat 8. In order to get the coveted licence the building was extensively renovated. In October 1910 the ,Cinema Parisien< started its screenings. Although located centrally it was not as successful as anticipated and within two years De Haan had to close it down. lnJuly 1912, it reopened as ,Cinema Union<, which again lasted less than two years and held its last show in May 1914. A similar fate underwent the >Apollo Bioscoop Theater<, Oudegracht Tolsteegzijde 85 (today Oudegracht 255). lt started in March 1912, under the management of Charles Raasveld, a form er lecturer at the ,Ci- nema Parisien<. Within a couple of months, the cinema was taken over by G.H. van Royen, a former Amsterdam shopkeeper, and reopened as the ,Witte Bios- coop< (White Cinema). The so-called White Cinemas offered programmes that were vetted by the Roman Catholic clergy and therefore offered accepta:ble fare to the faithful instead of »sinful love, suicide and divorce«.8 The ,Witte Bioscoop< had the strong support of the local catholic daily newspaper Het Centrum which called upon its readers to pay a regular visit to the cinema. 120 Louis Hartlooper, lecturer This call was obviously not heeded, for early in 1913 the >Witte Bioscoop< had to close its doors. Van Royen had come to the conclusion that the formula which had proved such a success for his >W itte Bioscoop< in Amsterdam did not work in Utrecht. The place was reopened in April 1913 as the >Centrum Bioscoop<, a name which suggested a link with the aforementioned catholic daily. This was denied in the strongest possible terms by the newspaper which stated bluntly: » We will rejoice when this cinema will disappear as soon as possible.«9 lt did, only to reopen under yet another name as the >Splendid Bioscoop<. This again had only a short life. In May 1914 the premises were fixed up as a carpenter's workshop. The >Thalia< at the Steenweg 37 was another example of a cinema without a future. Like the >Cinema Parisien< it was the initiative of a bar owner, C.B. ten Bosch, who converted his drinking establishment into a film theatre. The >Thalia< started its activities in the spring of 1913, only to end them again in the spring of next year. But the cinema trade in Utrecht did not only attract losers.Just around the corner of Richard Bresser's >Bioscoop Salon<, another cinema was opened in 121 July 1912. The proprietor was Joh. de Liefde, who had fitted out one of the halls in bis Hotel de l'Europe as a luxury film theatre. lt included such novel- ties as a curtain that could be opened and closed electrically and lights that fa- ded slowly. The Hotel de l'Europe was located at the Vreeburg, but a separate entrance for the cinema had been created around the corner in the Lange Viestraat 12. The ,Scala Bioscoop< offered an early example of media concen- tration, for De Liefde was the owner of the local newspaper Utrechtsch Nieuwsblad, which inevitably carried a lot of free publicity for the Scala. Moreover, theScala-Bioscoop-Courant, a weekly carrying news about the Sca- la only, was printed at the Utrechtsch Nieuwsblad presses and delivered free of charge to every household in Utrecht. A few hundred yards from the Scala, at the Oudegracht Weerdzijde 114 (today Oudegracht 73), another luxury cinema, the >Rembrandt Bioscoop- Theater<, opened its doors inJanuary 1913. lt was managed by Leonard Lorje, owner of an office stationary shop, and David Hamburger, travelling trades- man. Both belonged to the small Jewish community in Utrecht. That Lorje and Hamburger only wanted the very best for their cinema, was not only ex- emplified by the size of the screen, the >enchanting illumination< of the theatre and the quality of the films, but in particular by their poaching of the most successful lecturers from other cinemas. First they lured Piet Wigman away from the ,Flora Bioscope-Theater<. When he decided to return to bis old den after only seven months, the actor Ko van Sprinkhuizen was hooked. But a real coup was the transfer to the ,Rembrandt< of the popular Louis Hartlooper who had been offered such a pay rise that he bad no other option but to leave the ,Bioscoop Salon Vreeburg< in the Spring of 1914. The importance of having a first-class lecturer was demonstrated by the advertisement placed in the local press, on the occasion of the opening of the ,New-York Bioscoop< on 19July 1913.10 In it the lecturer Hijman Croisetfea- tured prominently. Croiset, a colourful entertainer with outspoken anarcho- socialist sympathies, would soon leave the new cinema to be replaced by An- dre de Jong who had taken the place of Wigman at the ,Flora< during the latter's short stint with the ,Rembrandt<." The >New-York< was the last of the cinemas to open in Utrecht in the 1910s. Its landmark was a replica of the Sta- tue of Liberty on the roof of the building, which was illuminated at night. In the same year, N.J. Dussenbroek, the owner of the >New York<, opened a ci- nema with the same name in the nearby town of Hilversum. Employers By the Summer of 1913 there were eight film theatres operating in Utrecht. Three of these bad to close within a year. Whether they were typical ,fleapits< is unclear. This was the type of cinema that helped to give the trade such a bad 122 name because of the cheap thrills on offe r - not to mention the vermin and the odours distributed by their customers. Obviously their owners had been un- able to invest sufficiently. Two of them for example were nothing but drinking establishments converted into cinemas without a clear ,business plan<. They could not provide the atmosphere of luxury and modernity that made the other five cinemas so appealing. And they certainly were not in a position to offer the kind of wages that top-dass lecturers who, in Utrecht at least, were so instrumental in creating a loyal clientele, were expecting. With the exception of Lübbe and Wulff, the managers of the five had their base in Utrecht. And when the Wulff brothers were forced to return to Ger- many in August 1914 as a result of the outbreak of the First World War, the running of the ,Flora< was taken over by Anton Hoogenstraaten, the man who had been the owner of the carpet shop which was located on the premises be- fore the cinema opened in 1909." With their knowledge of local circumstances these entrepreneurs aimed to offer their audiences the right blend of the fami- liar and the unusual. There is no evidence that religious denomination, other- wise such a dominating factor in the pillorised society that the N etherlands were becoming in the first quarter of the twentieth century, played a signi- ficant role. Only the ,Witte Bioscoop< was openly displaying its Roman Ca- tholic character, but this was no guarantee for commercial success as we have seen. Further research is clearly needed into the kind of programmes the Utrecht cinemas were exhibiting in the 1910s. Little is known for example on how the change from a programme consisting of a range of short films to one centred around a feature film took effect in Utrecht. Feature films were certainly be- coming more important as the 1910s progressed. In May 1913 the ,Flora< even booked the large hall of Park Tivoli for ten days in order to screen the ltalian blockbuster Quo VAms? (Cines, 1913), thus stressing the film's exceptional character and, of course, generating more income from !arger audiences and higher ticket prices. The example was followed later in that year by the >Rem- brandt< with Gu ULTIMI GIORNI DI PoMPEI [THE LAST DAYS OF POMPEI] (Ambro- sia, 1913).'l The population of Utrecht was increasing steadily during the decade. Amounting to rr9,006 in 1910 it went up to 136,602 in 1918. Moreover as a market town Utrecht attracted large numbers of visitors on a regular basis. In 1917 710,665 tickets (5.25 per inhabitant) were sold for theatrical and non- theatrical film shows. The figure for 1918 is slightly down: 681,526 (4.99 per inhabitant). This drop was undoubtedly due to the economic malaise resulting from the neutrality of the Netherlands in general and a rise of municipal En- tertainment Tax (from 5% to 10%) in particular. As all the cinemas were con- centrated in the centre of town (Utrecht's first and only neighbourhood thea- tre, the ,Olympia<, did not open until 1929), a good public transport system was essential. Locally an efficient electric tram service was run by a municipal 123 corporation, while a wide selection of regional trams and trains provided re- gular services to surrounding villages. 14 There was a remarkable consistency in the management of the five cine- mas. John Fris was managing director of the >Scala< from 1912 to 193 5, Hoo- genstraaten (>Flora<) from 1914 to 1928, Hamburger (>Rembrandt<) from 1913 to 1927, B. van der Heuvel (>New York<) 1913 to 1936 andJan Nijland (>Vree- burg<) from ca. 1917 to 1963 (!). The cinemas were family-run enterprises. An amusing correspondence has survived between John Fris and the Mayor of Utrecht about the behaviour of Mrs. Fris towards a member of the local Cen- sorship Committee. The director's wife had a serious altercation with the hon- ourable member, when she started removing his bicycle from the aisle of the cinema after tripping over it in the dark! When the latter tried to prevent this, Mrs. Fris let him know who the boss in the hause was. Evidently her language was so strong, that the member feit obliged to report the case to the Mayor! 1 s Employees Family members could be used for manning the ticket office, for selling re- freshments and doing other odd jobs, but for the essential positions of projec- tionist, musician and lecturer, specialists were required. An article that lectur- er Andre de Jong wrote in 1913 for the Bioscoop Courant, a weekly for the cinema trade, reviewing six Utrecht cinemas, gives an idea of the order of mer- it at the time. 16 De Jong mentioned two projectionists by name. The musicians of three film theatres were singled out (and praised). But for each and every cinema he passed judgement (generally positive) on the lecturer, modestly re- fraining from praising his own performances in the >Flora<. The predominant position of the lecturers was reflected in the Dutch Union of Cinema and Theatre Employees (Nederlandsche Bond van Bios- coop- en Theaterpersoneel). In November i916 the Utrecht branch had thir- teen members, of whom not fewer than six were lecturers. 17 Among them were Hartlooper, chairman, and Kaljee, secretary of the branch. Of the other mem- bers four were projectionists and three held other positions. In November 1918 the membership stood at 23. This was a considerable rise but compared to Amsterdam (505 members), Rotterdam (224) and The Hague (167) the Ut- recht branch was tiny. 18 The reports in the union journal De Lichtstraal of the branch meetings (usually held at 11 p.m., after the last performances had come to an end) show how members and officials wrestled with articles of associa- tion, elections and expulsions. But in contrast to the national leadership the politics of the Utrecht branch of the union were remarkably conciliatory: The language used was devoid of any reference to the >dass struggle<. In March 1917 the branch reported proudly that thanks to »the actions of our chairman, the management of the Rembrandt Cinema had decided to give its staff four days ofl eave ofa bsence per year on full pay«. '9 In November 1917 a campaign for higher wages was discussed. The conclusion was revealing: »T he wages in Utrecht are such, that only a few members agree with the need for a campaign. To pursue higher wages for non members does not appeal to the meeting at all.«20 Again there was praise for the management of the >Rembrandt< (where the core of the branch membership was employed) for raising the wages of its staff twice within a short span of time. This attitude irritated more radical sec- tions of the union and led to letters in De Lichtstraal, in which the Utrecht branch was depicted as the laughing stock of the union. The radicalisation of the trade-union movement as a result of deteriorating economic circumstances during the course of 191 8 was at least reflected in the language used by the Utrecht branch (there was a reference to »Comrades theatre and cinema sla- ves« in September), but it remained thoroughly reformist with regard to its political aims. 21 Censorship With their staff hardly causing any problems, the employers bad time on their hands to fight an enemy that proved more difficult to deal with: the local Cen- sorship Committee. As in other cities in the Netherlands the teachers cam- paigned against the harm that film shows might cause to children. Their con- cern was not so much the dangers of inflammable nitrate film stock, for stringent safety regulations bad tobe complied with in Utrecht. lt was films »whose subject and plot should definitely be kept out of the realm of thought of the child, and, even more, films, which through the sensation and excite- ment of the performance and through the titillation of the imagination have an unhealthy effect on children, both physically and mentally«, that they were worried about. These words can be found in an advice prepared by the Legal Commission of Utrecht Town Council. lt followed a submission by the Ut- recht branch of the Union of Dutch Teachers, in which much was made of the undesirable influence of the cinema on school children. The exhibitors could not turn the tide. Their arguments were weak. Hamburger for example sent a two-page letter to the municipal authorities in which he contended that there was no need for measures as there was already close co-operation with the police! Although some councillors feit that it was the parents' responsibility to decide which films their children were allowed to see, the majority heeded the advice of the Legal Commission and voted in favour of a bye-law which banned children under the age of sixteen from visiting any film show in Ut- recht. 22 An exception was made for so-called children's screenings, compris- ing of a programme of films that bad been passed by a censorship committee installed by the municipality. On 6 February 1915 the bye-law (>Lichtbeelden- verordening<) came into force. 125 The members of the Censorship Committee were recruited among teachers' unions and organisations catering for youth. Among them was the school teacher W.G. van de Hulst, whose children's books were extremely popular in Reformed circles. But at the centre of attention was another Prote- stant, Andrew de Graaf, chairman of the Censorship Committee. After years of campaigning against prostitution and moral decay, this inspector of the Central Federation for Interna! Missionary Work and Christian Philanthropie Institutions had discovered a new challenge: the cinema. De Graaf held the view that because of the principle of mechanical reproduction, film could by definition not be a form of art. He dismissed the >dramatic film< and only ap- proved of the educational film. Lastly he campaigned for an even stricter bye- law banning anyone under 18 from visiting the cinema. The policy of the Ut- recht film Censorship Committee was clearly affected by De Graaf's views. lt was no surprise that he rose to the top of the exhibitors' list of most hated men, especially after he started disseminating his views nationally. 2 3 Not only did the cinema owners object to De Graaf's views, they were annoyed by the extra fuss that censorship involved. Members of the Censorship Committee had to be offered complimentary tickets and to be provided with short content de- scriptions of the programme. Extrafilms had to be hooked for the cinemas to fall back on in case the Committee did not pass a programme. The exhibitors retaliated, for example by presenting the films in unheated cinemas (>why bother to put on the heating for three members of the Censorship Commit- tee ?<), which forced one of the committee members suffering from rheuma- tism to resign! There were more resignations. The new weekly programme started on Friday evening and as the prints arrived only early in the afternoon, the Censorship Committee was left no other choice but to hold its viewing sessions on Friday afternoon. However, quite a number of the schoolteacher members were refused leave of absence on what was a normal schoolday. The result was an extremely high turn-over of the committee. Only De Graaf remained.24 After a while some exhibitors no longer bothered to submit their pro- grammes to the Censorship Committee, taking the loss of income (those of under the age of sixteen were automatically banned) for granted. Still they were left with the tricky problem of preventing those youngsters from en- tering their premises, for the Utrecht police held regular inspections. On 26 January 1916 a thirteen-year old boy was arrested for attending a programme consisting of KONINGIN ELISABETH's DOCHTER [QUEEN ELISABETH's DAUGH- TER], KNOPJE MOET TROUWEN [PEG HAS TO MARRY] and DE VIERVOETIGE VIR- TUOOS [THE FouR-FOOTED VIRTUoso] in the >Flora<. Managing director Hoo- genstraten was found guilty by the Court. Symbolic as the fine of merely half a Guilder may have been, it was cause for Hoogenstraten to appeal. The case ended in the Supreme Court, where the verdict was quashed on 9 October l 9 l 6.25 126 The decision of the Supreme Court forced the authorities to rewrite the bye-law, which offered the exhibitors another chance to take the edge off it. This time at least they managed to get together for a concerted campaign, send- ing one address on behalf of all of them to the Town Council. On the other hand, De Graaf and his Committee, idle until the new bye-law had come into force, saw it as an ideal opportunity to appeal for raising the age from sixteen to eighteen! In the end both parties were disappointed: the old bye-law, re- written so as to make it more legally waterproof, was adopted. lt came into force on 15 October 1917, more than a year after the Supreme Court's de- cision. The war between the exhibitors and the Censorship Committee was resumed. The surviving correspondence is full of rumours that children were admitted, of demands that cinemas should be closed for not complying with the bye-law, of complaints that members of the Committee were treated un- fairly and of moaning that it was impossible to run a business. Given the fact that the Committee judged only a handful of films suitable for those under sixteen, it did indeed hardly pay to organise children's matinees andin the ear- ly 1920s the ,Vreeburg< was the only cinema to offer such shows.26 This constant bickering with the local authorities proved to be excellent training though for the Utrecht exhibitors. Although few in numbers com- pared with Amsterdam or Rotterdam, their executive qualities were highly ap- preciated on anational level. lt was no coincidence that it was David Hambur- ger, the managing director of the ,Rembrandt<, who invited his colleagues to a national meeting in Amsterdam on II February 1918, where they discussed ways of joining forces against the obstacles put in their way by church and secular authorities. As a result of this meeting the Union of Managers of Dutch Film Theatres was founded, later renamed the Netherlands Cinema Associa- tion (Ne derlandsche Bioscoopbond), of which Hamburger was to become the chairman for many years.27 Conclusion Many of the developments described above are not typical to Utrecht but can be discerned elsewhere in the Netherlands (or, for that matter, abroad). To what extent the films which were exhibited in those early years of the cinema helped to forge a national identity is a question that obviously needs to be addressed. In that respect the extreme popularity of news items depicting local events (such as the exercise by the Utrecht fire brigade) must not be forgotten. The names given to the film theatres indicate the continuation of the traditions of variety theatre on the one hand and the association with Americanism on the other. The ,New York< with its Statue of Liberty offers a good example of the latter. The rise of the cinema meant the emergence of new profe ssions and of new professional associations. The occupational boundaries were not al- 127 ways clear: was a lecturer an actor first and a cinema employee second, or vice versa? And what about a projectionist: was he (sie) a mechanic or a cinema employee, i.e. did he belang to a craft or a cinema trade union? Another fruit- ful area of research concerns cinema's gradual embedding in the ,fabric of so- ciety< with its regulations and those who monitor their compliance. One of the questions that the Utrecht Project will hope to answer once further research has been carried out concerns the effect of the early develop- ments on cinema culture in Utrecht. Despite repeated campaigns by the exhi- bitors the bye-law which banned children up to the age of sixteen from visiting film shows remained in force until 1941, when the German occupying forces (!) decided to suspend it. After anational Cinema Act had come into force in 1928, Utrecht had been the only town to retain such a strict bye-law. Why the political support for the ban was so strong in Utrecht is another question that will need tobe answered. lt has been pointed out above how stable the num- ber of cinemas in Utrecht was after 1914. In the 1930s not only their number increased, but most of the existing film theatres were extensively renovated or even completely rebuilt. The most conspicuous change was that of the >Vree- burg< in 1936, which architect and designer Gerrit Rietveld made into a temple of light and modernity. The relationship between the artistic elite and the ci- nema >milieu< in Utrecht is obviously an area that begs further research. Final- ly, today's cinema culture in Utrecht can be characterised as vibrant compared to many other towns in the N etherlands. On average the inhabitant of Utrecht pays 4.1 visits to the cinema per year, which is far above the national average of 1. o. lt is the harne of the Netherlands Film Festival, the Dutch Animation Film Festival and the Impact multimedia festival. lt is tempting to look for con- tinuity, but to what extent is today's cinema culture really a legacy of the achievements in the early days of cinema in Utrecht? Notes 1 Much of the information collected by de! en bioscoopexploitatie (1907-1916) Uean Herman de Wit for his MA thesis Film in Desmet and the early Dutch film trade and Utrecht van 1895 to 1915 (1986) is now cinema exhibition (1907-1916)], Amster- available on the Utrecht Project Website dam 2000, pp. 125-130. http://www.let.uu.nl/tftv /Ut rechtProj ect 4 Utrechtsch Nieuwsblad, 19 February 2 Herman de Wit, Film in Utrecht van 1908, quoted by Herman de Wit, op. cit., p. 1895 tot 1915, MA thesis Theatre Studies, 83. Utrecht University, 1986, p. 139. 5 lt is unclear whether an attempt to re- 3 In his dissertation lvo Biom gives ade- vive the Bioscoop-Theater in April 1909 tailed description of the trade between the was successful. The local authorities grant- Dutch distributor and exhibitor Jean Des- ed Henri Marie Bourre, an agent for the met and the Westdeutsche Film-Börse in Parisian firm Cinema-Fix, permission to Krefeld. Cf. lvo Blom, Pionierswerk. Jean run a cinema on the premises, but whether Desmet en de vroege N ederlandse filmhan- (and if so, for how long) film shows were 128 given remains a mystery. Cf. Herman de of cinema performances (Stukken betref- Wit, op. cit., p. 99. fende het toezicht op bioscoopvoörstellin- 6 Cf. Ansje van Beusekom, »Louis gen), 1916 -May 1918, in the Utrecht Pub- Hartlooper (1864-1922). Explicateurte Ut- lic Record Office (HUA), VI 1059.2. recht«, in: ]aarboek Mediageschiedenis 6, 16 Bioscoop Courant, 1 February 1913, Amsterdam 1995, pp. 182-194. PP· 5-6. 7 Roh de Kam, Frans Westra, Eene zeer 17 De Lichtstraal, November 1916. interessante vertooning ... Bo jaar bioscopie 18 De Lichtstraal, February 1919. in Groningen, Groningen 1983, p. 2r. 19 De Lichtstraal, April 1917. 8 Het Centrum, 8 July 1912, quoted by 20 De Lichtstraal, December 1917. Herman de Wit, op. cit., p. 11 5. 21 De Lichtstraal, September 1918. 9 Het Centrum, 14 April 1913, quoted 22 Twenty members voted in favour of by Herman de Wit, op. cit., p. 117. the proposal and thirteen against. 10 Utrechtsche Courant, 18 June 1913, re- 23 De Graaf published his views in vari- printed in: Herman de Wit, op. cit., p. 124. ous periodicals. A summary appeared 11 For a short while Hijman Croiset under the title Het bioscoopvraagstuk [fhe showed his skills as a lecturer in the Am- Cinema Question], Utrecht 1919. sterdam ,Rode Bioscoop< (Red Cinema), 24 Documents regarding the supervision run by his anarcho-socialist political of cinema performances (Stukken betref- friends from September to December 191 3. fende het toezicht op bioscoopvoorstellin- Cf. Bert Hogenkamp, »De Roode Bios- gen), December 1913 - December 1915, in coop«, in: Skrien 136 (Summer 1984), pp. the Utrecht Public Record Office (HUA), 33-35. VI 1059.r. 12 The fact that Lübbe, the Wulff bro- 25 Documents regarding the supervision thers and Hoogenstraaten were all Luthe- of cinema performances (Stukken betref- rans may have played a role in the founda- fende het toezicht op bioscoopvoorstellin- tion of the ,Flora< and in its continuation gen), 1916 - May 1918, in the Utrecht after the departure of the brothers to Ger- Public Record Office (HUA), VI 1059.2. many m 1914. 26 Documents regarding the supervision 13 Herman de Wit, op. cit., p. 127. of cinema performances (Stukken betref- 14 Between 1942 and 1964 a special fende het toezicht op bioscoopvoorstellin- railway cinema (,Spoorbio<), in a disused gen), 1916-May 1918 andJune 1918-Feb- railway carriage at Utrecht's Central Sta- ruary 1928, in the Utrecht Public Record tion, catered to those who had some spare Office (HUA), VI 1059.2 and VI 1059.3. time before catching a train. 27 »In Memoriam: D. Hamburger«, in: 1 5 Documents regarding the supervision Officieel Orgaan van de NBB, 1947. 129 Frank B. Gilbreth bei der Aufnahme eines Arbeitsstudienfilms 130 LARSNOVAK Motion Study/Moving Pictures Die Anfänge des tayloristischen Arbeitsstudienfilms bei Frank B. und Lillian M. Gilbreth Filmische und photographische Studien von Bewegungsabläufen des mensch- lichen Körpers, wie sie schon am Ende des 19. und zu Beginn des 20.Jahrhun- derts aufgenommen wurden, sind in den Medien- und Kulturwissenschaften keineswegs unbeachtet geblieben. Im Vordergrund stand dabei jedoch entwe- der ein bestimmter und in der Tat zentraler Exponent dieser Bewegung, der französische Physiologe Etienne-Jules Marey,1 oder eine spezifische Ausprä- gung dieser Richtung, nämlich die medizinische Photographie und Kinemato- graphie. 2 Nur am Rande hat man sich dagegen mit den beiden amerikanischen Tayloristen Frank B. (1868-1924) und Lillian M. (1878-1972) Gilbreth befaßt, die ebenfalls im genannten Zeitraum technische Bildmedien zur Aufzeichnung menschlicher Bewegung einsetzten. Das Hauptaugenmerk der wenigen Arbei- ten hierzu richtete sich wiederum auf die Zyklographie und deren Derivate,i während die zahlreichen und nicht weniger wichtigen Filme einer adäquaten wissenschaftlichen Darstellung bis heute harren.4 Schon Marey und Eadweard Muybridge bezogen in ihre Aufnahmen auch Arbeitsbewegungen ein.S Dies geschah jedoch eher in einem wissenschaftli- chen als in einem industriellen Kontext und ausschließlich unter Zuhilfenah- me photographischer Techniken. Mareys Filme hingegen bezogen sich stets auf andere Typen von Bewegungen, die zudem für ihn ebenso wie für Muy- bridge der primäre Untersuchungsgegenstand blieben. Erst die Gilbreths stell- ten Arbeitsverrichtungen eindeutig in den Mittelpunkt ihres Interesses, ver- folgten dabei vorrangig das Ziel einer effizienzsteigernden Optimierung und bedienten sich hierzu auch der Filmkamera. Sie taten dies, lange bevor Taylo- rismus und Fordismus zum hegemonialen Produktionsparadigma aufstiegen, und lange bevor sich innerhalb dieses Kontextes der Film als ein Mittel des Bewegungsstudiums fest etablierte. Das Genre des Arbeitsstudienfilms ist ihre Schöpfung. Taylorismus und Fordismus: Die Disziplinierung des arbeitenden Körpers Taylorismus und Fordismus stellten eine bestimmte historische Etappe inner- halb jener zunehmenden Rationalisierung der gesellschaftlichen Arbeit dar, deren Prinzip mit Georges Bataille als beschränkte Ökonomie, deren Metho- 131 de mit Michel Foucault als Disziplinierung benannt werden kann: Arbeits- kraft gilt als kostbare Ressource, die nicht mehr bloß abgeschöpft wird, son- dern deren Wirkungsgrad und Produktionsertrag pro Zeiteinheit permanent und endlos zu steigern sind. Das ist nur möglich, wenn ihre formelle in eine reelle Subsumtion unter das Kapital überführt wird. Das Taylor-System bot hierfür zunächst eine Radikalisierung der schon älteren Arbeitsteilung an, nämlich eine noch striktere Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit und eine Zerlegung der letzteren bis in die einzelnen Handgriffe, sowie eine Perfektionierung der räumlich-zeitlichen Koordinierung bei der Reintegra- tion der Teilarbeiten. Darüber hinaus führte er aber zwei völlig neue Zugriffe auf den Produktionsprozeß ein: die Beobachtung und die Normierung. Beide Zugriffe waren durch eine Reihe von Gemeinsamkeiten gekennzeichnet. Es ging dabei zunächst um eine Erfassung sowohl der Produktivität selbst als auch sämtlicher technischer wie humaner Faktoren, die diese Produktivität be- einflussen. Neben den Objekten teilten Beobachtung und Normierung auch eine gemeinsame Methode: Beide operierten in einem quantitativen Sinne und mit mikrophysikalischer Präzision. Schließlich wurden im Falle des humanen Faktors, des arbeitenden Körpers, beide Funktionen auf diesen selbst übertra- gen, und zwar in zwei Schritten: Auf eine hierarchische Disziplinierung in der Gruppe folgte die individuelle Selbstdisziplinierung. Bezüglich ihrer Effekte fielen Beobachtung und Normierung auseinander: Ersterer ging es darum, ihre in einer anonymen und amorphen Anhäufung gegebenen Gegenstände zu dif- ferenzieren und zu individuieren. Letztere aber applizierte auf die nunmehr identifizierten Gegenstände die Verfahren der Selektion, der Allokation und der Homogenisierung, der Reduktion aller Varianten auf den one best way, der allerdings unendlich optimierbar blieb. Die Beobachtung des Produktionsablaufs erschöpfte sich keineswegs in der Individuierung. Vielmehr produzierte sie durch eine statistische Häufung und einen systematischen Vergleich der erhobenen Einzeldaten sowie das zu- sammenfassende übernehmen alter, oral tradierter Kenntnisse auch ein allge- meines Wissen. Auf dieser Ebene kam es zur Konstituierung zweier neuer Humanwissenschaften: der Betriebswirtschaftslehre und der Arbeitswissen- schaft. Beiden Disziplinen gelang es bald, sich akademisch zu institutionalisie- ren: der Arbeitswissenschaft in Europa schon ab 1890, der Betriebswirt- schaftslehre in den USA ab 191 o. Bereits im 19. Jahrhundert hatte Bentham mit dem Panoptikon eine archi- tektonische Anlage geschaffen, in der die zu disziplinierenden Körper auf Par- zellen verteilt wurden, die konzentrisch auf einen zwar sichtbaren, aber nicht einsehbaren Kontrollposten bezogen waren. In dieser auch auf Fabrik und Arbeitersiedlung angewandten Anordnung waren die Funktionen der Beob- achtung und der Normierung qua Internalisierung verdinglicht. Der Fordis- mus bediente sich zu einer solchen Vergegenständlichung nicht mehr eines architektonischen, sondern eines maschinellen Dispositivs, nämlich des Fließ- 132 bandes, einer schon älteren Erfindung, der er durch ihre Übertragung auf die Automobilproduktion zur allgemeinen Durchsetzung verhalf. Im Fließband, das den Transfer der Werkstücke mechanisierte, deren Bearbeitung aber den menschlichen Körpern überließ, waren sowohl die Koordinierung der Teilar- beiten als auch-unter Ausnutzung der physischen Überlegenheit der Maschi- ne über den Körper - die Normierung des Arbeitstempos implementiert. Die skizzierten Veränderungen nahmen um 1900 in den USA ihren Anfang und verbreiteten sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts im weltweiten Maß- stab und über die Grenzen des Systemgegensatzes hinweg, schubweise geför- dert durch den gesteigerten Produktionsbedarf während und nach den beiden Weltkriegen. Dieser Durchsetzungsprozeß, der auch mit einer Modifikation des Systems einherging, verlief keineswegs reibungslos, sondern wurde durch massive soziale und politische Auseinandersetzungen begleitet. Mit der geo- graphischen verband sich jedoch eine soziale U niversalisierung: Rationalisiert wurden nicht nur alle Formen industrieller Arbeit, sondern auch die Land- wirtschaft, die niedrigqualifizierte Kopfarbeit in den Büros, die Schul- und Berufsausbildung. Das neue Leitmilieu der Disziplin waren nicht mehr Klo- ster, Kaserne oder Gefängnis, sondern die Fabrik. Und von der Arbeit in den geschlossenen Milieus der Gesellschaft griff der Taylorismus auch auf die öf- fentliche und die private Sphäre über; Zum logischen Abschluß kam diese To- talisierung in der Selbstanwendung, sozusagen der Rationalisierung der Ra- tionalisierung. Es gibt keine menschliche Bewegung, die sich nicht filmen ließe Das an der amerikanischen Ostküste tätige Ehepaar Frank und Lillian Gil- breth richtete seine Aufmerksamkeit zwar auch auf Fragen der Arbeitspsy- chologie6 und des Designs von Werkzeugen, Maschinen und Arbeitsplatzum- gebung.7 Das vorrangige Interesse galt jedoch der physischen Seite des Arbeiters, den Bewegungen, mit denen dieser seine Tätigkeit ausführte, wor- auf im übrigen auch schon die Verbesserung der Arbeitsmittel bezogen war, zielte diese doch letztlich auf eine Optimierung der Arbeitsbewegungen.8 Explizit forderte Frank Gilbreth eine Erweiterung des Taylorschen Zeitstu- diums um ein Bewegungsstudium erstmals 1909 in seinem Lehr- und Hand- buch Bricklaying System.9 Bis zu seinem Tod arbeitete er gemeinsam mit sei- ner Frau und der von ihm gegründeten Gilbreth Research Group' 0 unermüdlich an der Realisierung dieser Idee; indes blieb die Gründung eines Gilbreth Research Institute eine Vision." Noch während seiner Tätigkeit in der Baubranche bediente sich Frank Gil- breth, der offensichtlich über eine ausgeprägte visuelle Begabung verfügte, 12 zur Dokumentation der dortigen Arbeitsprozesse der Photographie.' 3 Das 1908 erschienene Buch Concrete System enthielt zahlreiche photographische 133 Illustrationen, die aufeinanderfolgende Arbeitsschritte zeigten, ohne daß es sich jedoch um Serienphotographien im eigentlichen Sinne handelte.' 4 Um 1911 kam Gilbreth zu der Erkenntnis, daß für ein genaues Bewegungsstu- dium, ein Mikrobewegungsstudium, eine technische Aufzeichnung der Bewe- gungen unverzichtbar sei. Als geeignetes Mittel hierzu erschien ihm nun vor allem jenes Medium, das damals als einziges fähig war, Bewegung als Bewe- gung abzubilden, und das seine ursprüngliche Faszinationskraft aus eben die- ser Fähigkeit bezogen hatte: der Film. In Motion Study (1911) schlug er zum ersten Mal den Gebrauch stereoskopischer und kinematographischer Kame- ras vor.'1 Zusätzlich motiviert durch die Meinungsverschiedenheiten mit Taylor über die Notwendigkeit wie auch Autorschaft des Bewegungsstudiums, setz- te Frank Gilbreth diesen Vorschlag ein Jahr später bei der New England Butt Company in Rhode Island mit der Unterstützung des für das scientific ma- nagement aufgeschlossenen Fabrikleiters John Aldrich selbst in die Tat um.16 Um von vornherein effiziente Bewegungen zu erhalten, wählte er die besten Arbeiter aus; um die Bewegungen jedoch qua Vergleich nochmals verbessern zu können, gab er der Auswahl einen relativ großen Umfang.'7 Trotz erhebli- cher Beleuchtungsprobleme18 war er mit den Ergebnissen und den sich aus diesen eröffnenden Perspektiven äußerst zufrieden.'9 Noch im selben Jahr berichtete er hiervon den Mitgliedern der American Society for Mechanical Engineers, darunter auch Taylor.20 Die zweite Gelegenheit zu Filmaufnahmen erhielt Gilbreth 1914/i 5 bei der wesentlich größeren Auergesellschaft in Ber- lin.21 Es ist beziehungsreich, daß sich unter den Firmen, für die er in den fol- genden Jahren arbeitete, einerseits der Autohersteller Pierce-Arrow, anderer- seits die Optik- und Rohfilmproduzenten Zeiss und Eastman Kodak befanden.22 Auch die Gilbreths blieben von dem Bestreben, die Rationalisierung auf sämtliche Lebensbereiche zu übertragen, nicht ausgenommen: In Applied Motion Study (1916) riefen sie »das ganze Volk und besonders die kommende Generation« dazu auf, »ihre Gedanken auf die Bewegungselemente ein[zu]- stellen«,2i und zwar »auf allen Gebieten«, »in ihren Arbeits- wie Mußestun- den«.24 Das Bewegungsstudium wurde zu einer »Gilbreth obsession«, zum »centerpiece of an all-around regime for ,better living«<.21 Dementsprechend richteten die Gilbreths »movie cameras at nearly any human undertaking«:26 auf das Mauern, das Bohren, das Verpacken, das Schneiden und Polieren von Seife, wie in der Kompilation zu sehen, oder auch auf das Aufbrechen von Austern, das Pflücken von Preiselbeeren und das Nähen per Hand.27 Für die Remington Typewriter Company entstanden Aufnahmen von Stenotypistin- nen. Auf ihrer Basis konnten neben dem Design der Schreibmaschinen auch die Schreibbewegungen selbst, etwa das Wechseln des Papiers, optimiert wer- den.28 Die Gilbreth-Kompilation zeigt auch Aufnahmen aus dem Operationssaal 134 und dem pharmazeutischen Labor. 29 In der Tat filmte Frank Gilbreth mehrere hundert Blinddarmoperationen,0 und die Mandelentfernungen bei seinen ei- genen Kindern." Er führte die Filme den Chirurgen vor, um ihren fachmänni- schen Rat in seine Verbesserungsvorschläge zu den Bewegungen der Ärzte selbst, zur Positionierung der Schwestern sowie zur Gestaltung und Anord- nung der Operationsinstrumente einzubeziehen, und schlug ihren Einsatz zu Lehrzwecken vorY 1915 faßte er seine bisherigen Erfahrungen in einem Vor- trag vor der American Medical Association zusammen.H Doch nicht nur die behandelnden Mediziner, auch die behandelten Kran- ken wurden zum Gegenstand filmischer Bewegungsstudien, deren Ziel kei- neswegs immer in einer Verbesserung von Diagnose und Therapie bestand. Vielmehr ging es oft genug darum, durch die Entwicklung spezieller Arbeits- methoden und -mittel eine Eingliederung in den Produktionsprozeß zu er- möglichen. 1917 fertigte Frank Gilbreth Filme und Zyklographien von Epi- leptikern an,34 wie sie zuvor schon von Albert Londe, Desiree Magloire und Paul Regnard photographiert worden waren.J1 In Zusammenarbeit mit A. B. Segur filmte er für das Rote Kreuz Blinde.'6 Ähnlich wie Georges Demeny,7 benutzte er den Film, um Tauben das Lippenlesen beizubringen.J8 Als er in den ersten beiden Jahren des Ersten Weltkriegs in europäischen Krankenhäu- sern Operationen drehte, kam er in Berührung mit kriegsverwundeten Solda- ten.39 Die Bewegungsstudien, die er daraufhin an Invaliden durchführte, re- sultierten in der Erfindung von Werkzeugen, die auch von Einarmigen zu gebrauchen waren, etwa von speziellen Schreibmaschinen oder magnetischen Hämmern, wie sie in der Kompilation gezeigt werden. Die Untersuchung von Kriegsversehrten war es auch, mit der Gilbreth nach dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg der amerikanischen Armee seine Dienste anbot.40 Diese beauftragte ihn jedoch nicht mit dem Studium der Invaliden selbst, sondern jener, die Invalidität erst produzieren: der Soldaten. Schon vor 1910 hatte die amerikanische Regierung die Bewegungen beim Gebrauch diverser Waffen analysieren lassen.4' Im Dezember 1917 wurde nun Gilbreth zur ln- fanterieschule von Fort Sills in Oklahoma abkommandiert, um dort fünfzig Filme zu drehen, die die Rekrutenausbildung ergänzen und verkürzen sollten. Seine Frau blieb in Providence zurück, unterstützte ihn aber durch das Zusen- den von Kameras und anderen Ausrüstungsteilen sowie durch die Begutach- tung der ihr aus Fort Sills zugeschickten Filmmuster. Die Arbeit verlief kei- neswegs unproblematisch: Es kam zu Problemen bei der Zusammenarbeit mit den Armeeangehörigen, eine schwere Erkrankung zwang Frank Gilbreth nach einigen Wochen zu einer Unterbrechung, und schließlich erging aus Washing- ton der Befehl, das Projekt vorzeitig zu beenden und sich für eine neue Aufga- be bereitzuhalten, so daß von den geplanten fünfzig Filmen nur dreißig reali- siert wurden. Auch das Vorhaben, neben dem Ausbildungsbereich der Armee auch deren Verwaltung zu rationalisieren, blieb unverwirklicht. Dennoch lei- stete Gilbreth einen beachtlichen Beitrag zur effizienteren Gestaltung von 135 Geräten und Bewegungsabläufen. So studierte er etwa das Geschirr, das An- schirren und die Pflege der Pferde und optimierte - wie auch der Kompilation zu entnehmen ist - die De- und Remontage des Browning-Maschinenge- wehrs.42 Zu kinematographischen Studienobjekten wurden auch Sänger und Sportler.43 Die Kompilation enthält Aufnahmen von Baseballspielern, nämlich den New York Giants, und von Mannschaftsruderern auf dem Hudson mit ihren hochgradig synchronisierten Bewegungen. Schließlich bezog Gilbreth sogar den privaten Haushalt, und zwar den eigenen privaten Haushalt, ein: Er unterwarf seine vielköpfige Familie einerseits einem strengen Alltagsregiment einschließlich Stoppuhr und process charts, machte sie andererseits zum Expe- rimentierfeld für die Erprobung von Techniken, die anschließend auf den Bereich der professionellen Arbeit übertragen wurden.44 Dementsprechend filmte er seine Kinder sowohl beim Geschirrspülen als auch beim Schreibma- schineschreiben.41 Systematisch ausgearbeitet wurden diese Überlegungen zur Effizienzsteigerung im Haushalt jedoch erst nach Frank Gilbreths Tod von seiner Frau.46 Anfängliche Widerstände Frank Gilbreth betrieb seine filmischen und zyklographischen Aufnahmen mit großem Engagement und oft auf eigene Kosten. Er kaufte stets die neue- sten Filmausrüstungen oder entwickelte diese selbst weiter.47 In seiner Umge- bung stießen seine Bemühungen dagegen nur auf begrenzte Resonanz. Zwar setzte der Psychotechniker Hugo Münsterberg, der 1912 einen kinematogra- phischen Fahrtrainer eingerichtet hatte48 und 1916 mit The Photoplay eine der ersten Filmtheorien vorlegte, in Frank Gilbreths Aufnahmetechniken die Hoffnung, psychologische Reaktionszeiten messen zu können.49 Und die po- pulären Zeitschriften Current Opinion und Literary Digest berichteten über die Filmaufnahmen in der Butt Company bzw. im Operationssaal.1° In den jeweiligen Fachöffentlichkeiten aber fanden Gilbreths filmische Bewegungs- analysen zunächst nur wenig Anklang. Die Mehrheit der Mediziner bezwei- felte seine Kompetenz auf dem Gebiet der Chirurgie. Das New York Hospital kooperierte zwar eine Zeitlang mit ihm, setzte seine Anregungen aber nicht um. Nur OP-Schwestern und einige vereinzelte Chirurgen fanden sich zu ernsthafter Zusammenarbeit bereit.P Allerdings dürfte das Wirken der Gil- breths, das im übrigen viele spätere Neuerungen vorwegnahm,5 2 auch in die- sem Bereich einige Spuren hinterlassen haben. Auch unter den Betriebsleitun- gen sowie den Tayloristen selbst fand die filmische Bewegungsaufzeichnung zunächst kaum Anerkennung und Verbreitung; insbesondere Taylor stand ihr ablehnend gegenüber.lJ Das hatte drei Gründe: Erstens waren die Gilbreths selbst nicht gerade die besten Propagandisten ihrer kinematographischen und 136 photographischen Verfahren. Diese fanden in den unsystematischen, da stets um Aktualität bemühten Publikationen der Gilbreths nie eine angemessene Darstellung.!4 Zweitens war die Filmtechnik für Laien damals noch schwer handhabbar,n wie u.a. die Beleuchtungsprobleme der Gilbreths selbst belegen. Diese erkannten das Problem und forderten eine möglichst schnelle Vereinfa- chung der Aufnahmetechnik.56 Drittens hieß es, die Anfertigung eines Bewe- gungsstudienfilms sei zu teuer.17 Aldrich und Segur hielten dem die enormen Produktivitätssteigerungen entgegen, die durch das Mikrobewegungsstudium ermöglichten wurden und dessen Kosten weit überwogen.18 Die Gilbreths selbst versuchten die Kosten zu reduzieren, indem sie die Filmkamera nur in lohnenden Fällen zum Einsatz brachten, mit vor Ort verfügbarer Ausrüstung arbeiteten19 und den Filmverbrauch durch eine Unterteilung des handelsübli- chen Formats verringerten.60 Die Situation verbesserte sich erst in den 192oer Jahren, in deren erster Hälfte die Idee der Bewegungsanalyse überhaupt eine größere Akzeptanz fand und in deren zweiter Hälfte mehr und mehr amerikanische Hochschulen La- boratorien für Bewegungsstudien einschließlich der dazugehörigen photogra- phischen und kinematographischen Ausrüstungen einrichteten.61 Begründet war dieser Wandel im Verschwinden der oben genannten Hindernisse: 1923 wurde mit der Einführung von federbetriebenen Kameras, 16mm-Sicherheits- film und 500 Watt-Lampen die Filmtechnik erheblich vereinfacht und verbil- ligt.62 Und in den Jahren 1925-27 gab Lillian Gilbreth, die zu Lebzeiten ihres Mannes diesem die Bewegungsaufzeichnung fast völlig überlassen und sich stattdessen auf psychologische Fragen konzentriert hatte,6J mit Unterstüt- zung von Joseph Piacitelli, einem früheren Mitarbeiter ihres Mannes,64 sieben Kurse, in denen sie den Gebrauch von Film und Photographie für das Arbeits- studium lehrte.61 Die Prothetisierung des Auges So schwer durchsetzbar der Film auch als Mittel des Bewegungsstudiums zu- nächst war, so sehr trug er doch umgekehrt zur Akzeptanz des Bewegungsstu- diums selbst bei. Denn die »films of Gilbreth's innovations gave prospective clients an apparently indisputable record of his method's practicality«66 und »eliminated a good part of the mental obstructions that might otherwise have occurred«.67 Neben dieser propagandistischen kamen dem Film jedoch auch drei systematische Aufgaben zu, nämlich in Hinblick auf die Beobachtung, die Normierung und deren Internalisierung. Wie Gilles Deleuze bemerkt hat, ist jedem Akt der Sagbarmachung eines Gegenstandes innerhalb des Dispositivs der Disziplin ein Akt der Sichtbarma- chung vorgeschaltet, der seinerseits oft, wie im Falle des Panoptikons, einem materiellen Artefakt überlassen wird. Genau diese Konstellation war auch 137 beim Bewegungsstudium gegeben: Die Bewegungen des arbeitenden Körpers waren für die natürliche Wahrnehmung ein »unsichtbares Gebiet«.68 Sie muß- ten, bevor sie diskursiviert werden konnten, erst wahrnehmbar gemacht wer- den. Genau dies taten Filmkamera und -projektor, diese - um eine Formulie- rung von Jean-Louis Comolli zu entleihen - »Maschinen des Sichtbaren«: Sie prothetisierten das Auge des Tayloristen und ermöglichten es ihm, »[to] see ourselves as no one has ever seen us«.69 Auf diese Weise konstituierten sie ein Wissen, das anderenfalls inexistent geblieben wäre/0 Denn obwohl die Filme der Gilbreths heutigen Ansprüchen an wissenschaftliche Filme sicherlich nicht gerecht werden, waren sie es doch, denen die Gilbreths die Entdeckung der Gesetze der Bewegungsökonomie und die Inventarisierung der Bewe- gungselemente verdankten/1 Der Bewegungsstudienfilm entsprach demnach im emphatischen, nämlich enthüllenden, nicht bloß registrierenden Sinne je- ner »realistischen Tendenz«, die Kracauer später zum »Grundprinzip« des Films erklärte/2 Freilich wurde dadurch nicht bezweckt, die Realität einer ästhetischen und konkreten Erfahrung zu erschließen und so vor den Abstrak- tionen einer wissenschaftlich-technischen Kultur zu erretten, wenngleich sich die Gilbreths nicht nur für die Produktivität, sondern auch für die »Anmut« einer effizienten Bewegung begeistern konnten.73 Das Ziel bestand vielmehr auch hier darin, die Wirklichkeit in einen Gegenstand des Wissens, und mehr noch: der Macht zu transformieren. Vier Wahrnehmungsverstärkungen waren es, die der Film in der Anfangszeit des Bewegungsstudiums zu leisten imstan- de war: I. Jede Arbeitsbewegung ist singulär und transitorisch. Die Filmkamera jedoch stellt nicht bloß einen optischen, sondern einen piktoralen Apparat dar: Sie redupliziert einen Gegenstand in einem Bild. Weil dieses Bild dauerhaft ist, können flüchtige Objekte in ihm konserviert werden: »Das große Problem war die Festhaltung der gemachten Bewegungen, und man kam zu der Er- kenntnis, daß der Kinematograph die geeignetste Vorrichtung für eine solche genaue Registrierung sei.«74 So wurde das Gedächtnis des Beobachters entla- stet und ein eingehendes Studium der Bewegung ermöglichui Die Konservie- rung der Bewegung erlaubte zum einen deren beliebig häufige »W iederho- lung«,76 die Frank Gilbreth bei einem besonders gelungenen Arbeitszyklus wiederum technisch implementierte, nämlich in einer Schleife: »Gilbreth would select this most perfectly performed cycle of motions out of a film, cut and join its ends so that it could be run over and over again with no break in the rhythm of the work.«77 Damit wurde in der Repräsentation der Bewegung realisiert, was in deren Praxis von der tayloristischen Dressur der Körper zwar angestrebt, aber nur näherungsweise erreicht wurde. Die Konservierung der Bewegung erlaubte zum anderen deren zeitliche und räumliche Verschiebung, so daß die Untersuchung »zu irgendeiner Zeit und an irgendeinem Ort«78 er- folgen konnte, was vor allem für ihre Internalisierung von Bedeutung war. 2. Viele Arbeitsbewegungen waren für die natürliche Wahrnehmung zu 138 schnell oder zu langsam. Der Film konnte sie bei der Aufnahme durch Zeitlu- pe verlangsamen, durch Zeitraffer beschleunigen:» Time in a Gilbreth film[ ...] could be slowed down and speeded up at will.«79 So ist etwa die in der Kom- pilation enthaltene Nachstellung des Taylorschen Roheisenexperiments im Zeitraffer aufgenommen. Ein Anhalten des Films bei der Wiedergabe erlaubte es, die Bewegung zum Stillstand zu bringen.80 3. Neben der zeitlichen konnte der Film auch die räumliche Skalierung manipulieren: Zu kleine Bewegungen konnten bei der Aufnahme durch ein Teleobjektiv, bei der Wiedergabe durch eine Projektion oder ein »magnifying glass«81 vergrößert werden. Dadurch ließen sich auch Distanzen überbrücken, die mitunter eingehalten werden mußten, um die zu beobachtende Bewegung nicht zu beeinflussen oder zu behindern.82 Ein Beispiel für diese Vergrößerung stellen die in der Kompilation enthaltenen Detailaufnahmen der Augen- und Fingerbewegungen der Stenotypistin dar. Umgekehrt konnten ausgedehnte Bewegungen, die sich bei beengten Verhältnissen mit dem bloßen Auge nicht mehr überblicken ließen, mithilfe eines Weitwinkelobjektivs verkleinert wer- den. 4. Jede Arbeitsbewegung ist räumlich und bietet aus jeder Richtung einen unterschiedlichen Anblick dar. Deshalb mußte das Ziel darin bestehen, »die Bewegungen, wenn irgend möglich, von jedem Winkel aus einem Studium zu unterwerfen«.8J Einern natürlichen Beobachter war aber zu jedem Zeitpunkt nur eine Ansicht zugänglich. Um die Bewegung aus mehreren Perspektiven erfassen und die dabei auf ihn einströmende Informationsfülle verarbeiten zu können, mußte er entweder zu einer Filmkamera und zwei Spiegeln greifen, die in einem Winkel von 4 5° zur Bildebene positioniert wurden und neben der Frontalansicht eine Seitenansicht sowie die Oberansicht der Bewegung zeig- ten, oder aber zu mehreren Kameras, die auf die unterschiedlichen Raumdi- mensionen verteilt wurden.84 Der Film machte die Bewegung aber nicht nur sieht-, sondern auch meß- bar. 85 Die Gilbreths bedienten sich hierzu mehrerer Verfahren, die schon Ma- rey und Muybridge benutzt hatten: Sie isolierten den zu beobachtenden Kör- per von allem Irrelevanten, indem sie ihn vom üblichen Arbeitsplatz in den sogenannten »betterment room«86 versetzten und dort vor einen einfarbig- neutralen Hintergrund stellten. Die Quantifizierung bezog sich unmittelbar auf den von der Bewegung durchlaufenen Raum und die von ihr verbrauchte Zeit, aus denen sich mittelbar die Geschwindigkeit errechnen ließ. Die Raum- vermessung erfolgte mithilfe eines Koordinatenrasters,87 das im Hinter- oder Untergrund angebracht oder - wie bei der Großeinstellung von den Händen der Stenotypistin in der Kompilation - durch Doppelbelichtung überblendet wurde.88 Sollten alle drei Raumdimensionen erfaßt werden, wurde ein zwei- tes, senkrecht zum ersten stehendes Raster hinzugefügt. Zur Messung der Zeit wurde im Blickfeld der Kamera das sogenannte Mikrochronometer, eine Prä- zisionsuhr, deren schneller Zeiger Hundertstelsekunden maß, plaziert.89 Oft 139 nahm man zur Kontrolle eine zweite Uhr hinzu.9° Das Mitfilmen der Uhren bot gegenüber dem herkömmlichen, manuellen Zeitstudium zwei Vorteile, die ein weiteres, von den Gilbreths explizit betontes Motiv für die Einführung des Films in das Arbeitsstudium darstellten:91 Indem die Uhr schon vor Beginn der Aufnahme gestartet und erst nach deren Beendigung angehalten wurde, konnten Reaktionszeiten ausgeschaltet werden.92 Ferner wurden nicht nur bestimmte Eckpunkte der Bewegung, sondern deren gesamter Verlauf zeitlich erfaßt.9J Mikrochronometer und Meßraster sind in fast jedem Film der Kom- pilation zu sehen. Mitunter nimmt ersteres den Vorder-, letzteres den Hinter- grund ein, so daß der arbeitende Körper zwischen beiden regelrecht eingekeilt ist. Dann wieder rückt das Chronometer in die Bildmitte und drängt den Kör- per an den Rand. In allen Fällen aber teilt sich durch diese Bilder die Unter- werfung der Körper unter den tayloristischen Beschleunigungsimperativ deutlich mit. Das dritte Moment der Beobachtung bildete die Zerlegung, die sich zu- nächst auf den Körper bezog: Die Gilbreths trennten stets die irrelevanten von den relevanten Körperteilen. Zu letzteren gehörten die Hände und Arme, oft auch- man erinnere sich an die Stenotypistin aus der Kompilation - die Au- gen.94 Gelegentlich wurden die relevanten Glieder nochmals unterteilt, die Hände etwa in die einzelnen Finger. Meistens wurden diese Zerlegungen durch die Kadrierung der Filmkamera unterstützt. Zerlegt wurde aber auch die vom Körper vollzogene Bewegung: 1915 stellten die Gilbreths in dem Aufsatz »Motion Study for the Crippled Soldier« ein Inventar von 16 Bewegungsele- menten auf, aus denen sich jede Bewegung zusammensetzen sollte,91 gaben ihnen in Umkehrung ihres Namens die Bezeichnung »Therbligs«96 und ord- neten ihnen sequentiell kombinierbare Piktogramme und Farben zu.97 Hier handelte es sich nicht mehr um einen Diskurs über die Bewegung, sondern um eine Transformation der Bewegung selbst in einen Diskurs, genauer: in eine Schrift, also um eine Transkription.98 Der erste Schritt der Bewegungsnormie- rung bestand darin, die als unproduktiv geltenden Bewegungselemente zu eli- minieren und die übriggebliebenen Elemente neu zusammenzusetzen.99 Wenngleich die Operationen der Zerlegung, Selektion und Resynthetisierung der Bewegung nicht am Filmmaterial selbst vorgenommen wurden, entspra- chen auch sie einem filmischen Prinzip, nämlich der Montage: The Gilbreths edited workers' motion rather than motion picture film. By breaking down movement their experiments distilled time and motion into discrete units, like the individual shots comprising a film. Just as narrative film reassembled separate pieces of duration, the Gilbreths synthesized the elements of any motion in a new narrative of work. 100 Die Inszenierung der besten Bewegung und die Selbstdisziplin Seit ihren Anfängen konkurrierte die Disziplinierung der Arbeit mit deren Mechanisierung, mit der sie das Ziel der Produktivitätssteigerung teilte. Dabei wurde zunehmend deutlicher, daß letztere ersterer überlegen war. Was lag da für die Disziplinierung näher, als sich die Mechanisierung zum Vorbild zu neh- men. Eben dies geschah beim zweiten Schritt der Bewegungsnormierung, der Überformung der resynthetisierten Bewegungselemente. Denn bei dieser han- delte es sich um eine Mechanisierung des arbeitenden Körpers selbst, was durchaus im Selbstverständnis einiger Tayloristen lag: Erstens hatten schon die extreme Arbeitsteilung und die Eliminierung bestimmter Bewegungselemen- te die Tätigkeit auf einige wenige oder sogar auf eine einzige Bewegung redu- ziert. Zweitens wurde diese Bewegung endlos -und dem Anspruch nach iden- tisch - repetiert. Drittens wurde die Bahn dieser Bewegung so stark wie möglich verkürzt, indem man sie linearisierte oder geometrisierte. Viertens wurde die Bewegung auf alle verfügbaren Körperteile verteilt, damit keiner von diesen zu irgendeinem Zeitpunkt untätig blieb. Fünftens wurden die Be- wegungen der Körperteile sowohl untereinander als auch mit den Bewegun- gen anderer Körper streng koordiniert, synchronisiert, symmetrisiert. '0' Auch hierzu stand der Film in einer engen Beziehung, und zwar zunächst indirekt, da er ebenfalls auf mechanischen Maschinen basierte und damit an der Rolle des Normierungsmodells partizipierte, dann aber auch direkt, indem er als Normierungsmittel, als »Lehrmittel«,102 zum Einsatz kam: Die Gil- breths teilten die von ihnen erarbeitete Bewegungsnormalie den Arbeitern keineswegs verbal mit. Vielmehr übten sie zunächst nur einen - von ihnen aus- gewählten - Arbeiter in die Normalie ein und nahmen dann deren Ausfüh- rung auf. Diesen Film führten sie den restlichen Arbeitern vor; wie aus der Kompilation hervorgeht, stellten sie ihm zum Vergleich oft eine Aufnahme der alten Arbeitsmethode gegenüber. 10i Die Normalie war nun nicht mehr eine abstrakte Vorschrift, sondern trat den Arbeitern als ein anschauliches »Bei- spiel«104 entgegen, mit dem sie sich identifizieren konnten. Der Realitätseffekt des Films hatte die Normalie vom bloßen Sollen in ein scheinbares Sein, von der bloßen Möglichkeit in eine scheinbare Wirklichkeit überführt. Zusätzlich für die Normierung eingenommen wurden die Arbeiter dadurch, daß sie von der Position des Beobachtungsobjekts, die sie bei der Aufzeichnung ihrer Be- wegungen eingenommen hatten, in die des Beobachtungssubjekts wechselten: »Gilbreth was quick to see the value, in winning worker co-operation, if workers were able to watch each other in a film showing them at work by both old and new methods.« 101 In Wirklichkeit blieb die Rolle des Arbeiters von der des Arbeitswissenschaftlers natürlich deutlich unterschieden: Bildeten für diesen die Filmbilder einen Gegenstand distanzierter Analyse, so trat jener zu ihnen in ein Verhältnis der Identifikation, der Unterwerfung. Es ist häufig auf Korrespondenzen zwischen den phasenphotographischen und zyklographischen Bewegungsstudien und zeitgenössischen Tendenzen in der bildenden Kunst, wie sie sich etwa bei den italienischen Futuristen sowie Marcel Duchamp oder Paul Klee finden, hingewiesen worden. Ein artistisches Potential enthielten aber auch-wenngleich in ganz anderer Weise - die Bewe- gungsstudienfilme. Denn während die der Beobachtung dienenden Filme ei- nen objektiv-dokumentarischen Charakter beanspruchten, waren die Lehdil- me durchaus inszeniert: Die in ihnen gezeigte Bewegung war nicht vorgefunden, sondern eigens für die Aufnahme hergerichtet worden. Der Ar- beiter agierte in ihnen als Darsteller eines Schauspiels, über das der Instruk- teur Regie führte. Zum Moment der Inszenierung trat dasjenige des Wettbe- werbs und der Attraktion: Schon im Rahmen seiner Studien zu Bricklaying System hatte Frank Gilbreth Wettkämpfe eingeführt, um die Motivation der Arbeiter zu steigern.'o6 Auf der Japanisch-Britischen Ausstellung 1910 in London wurde er mit einer jungen Japanerin bekannt gemacht, die als eine der Hauptattraktionen in 40 Sekunden 24 Schuhcremepackungen etikettierte. Er steigerte ihren Sensationswert nochmals, indem er ihren Zeitbedad für die 24 Packungen zunächst auf 26, dann auf 22 Sekunden reduzierte.107 Die Filmauf- nahmen vom Schreibmaschineschreiben dienten nicht nur einer Effizienzstei- gerung im Arbeitsalltag der Büros. Die von Gilbreth trainierten Stenotypistin- nen gewannen auch Preise bei Wettbewerben in Chicago und New York. Hortenze Stollnitz etwa »typed 137 words per minute to become the world's champion typist of 1916«.108 Abrichtung, Mechanisierung und Egalisierung erschienen hier als ein artistisch-sportives Spektakel individueller Selbstdar- stellung, in dem sich der arbeitende Körper narzißtischem Selbstgenuß hinge- ben konnte. Seinen Höhepunkt erreichte das inszenatorische Moment in den Armeefil- men der Gilbreths. Denn dort war es auch auf den Zuschauer bezogen, indem die Filme wirkliches Interesse für die gezeigten Vorgänge wecken sollten. 109 Dies führte zur Einfügung von Zwischentiteln, die »snappy«,110 »short and peppy« 111 formuliert und direkt an das Publikum adressiert waren. So setzte sich etwa in dem in die Kompilation aufgenommenen Film der Zwischentitel »For ordinary cleaning remove only ... « in den Schrifttafeln »bolt« und »lock frame« fort, die direkt neben die entsprechenden Teile des Gewehrs gehalten wurden. Der nächste Zwischentitel forderte zur Benennung weiterer Teile auf: »W hile this expert assembles this gun without lost motions, see how many parts you can name«. Darüber hinaus griff Frank Gilbreth zum Mittel der Narrativierung: »Better training films, he assured his superiors, would require >a humorist, a jingle writer, and a scenario writer<.« 112 So wurden Szenen ein- bezogen, die mit den zu optimierenden Tätigkeiten nicht das Geringste zu tun hatten, nämlich »human interest scenes« und >»hate pictures< showing the atrocities of our opponents«."J Schließlich sprang das inszenatorische Ele- ment auch auf die eigentlich filmische Ebene über: Frank Gilbreth »adopted cinema techniques [ ... ], including progressions from distant shots to close- ups«. 114 Als lnspirationsquelle dienten tatsächlich Spielfilme, deren Machart und Wirkungsweise Lillian Gilbreth, die Psychologin, bei Kinobesuchen stu- dierte und dann ihrem Mann brieflich mitteilte."5 Die kinematographischen Manipulationen der Bewegungsgeschwindigkeit konnten auch bei der Vorführung des Films zu Lehrzwecken zur Anwendung gelangen: »T he Gilbreths claimed these possibilities were educational - that viewing fast actions at slower speed made them more comprehensible, while viewing ordinary motions speeded up either made wrong motions ludicrous or planted the ideal of faster work in the viewer's head.« 116 Der Film fungierte hier als eine Maschine, mit der sich das Arbeitstempo beliebig regulieren ließ, und trat damit in eine Analogie zum Fließband. Auf solche Analogien ist schon oft, etwa von Ilja Ehrenburg, Walter Benjamin, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, hingewiesen worden. Diese Vergleiche blieben aber stets vage, weil sie sich auf den gewöhnlichen Spielfilm, damit aber auf zwei ver- schiedene Kontexte, nämlich Arbeit und Freizeit, und auf eine in Schocks zer- fallene Rezeption bezogen. Im Falle des tayloristischen Lehrfilms war die Analogie viel enger: Zwar unterschied er sich vom Fließband darin, daß er nicht auf der Ebene physischen Zwanges, sondern auf der des Appells und der Repräsentation operierte. Er hatte mit ihm aber den sozialen Kontext und das Bezugsobjekt gemein: die Produktion. Den Gilbreths war es immer auch um eine Internalisierung der Bewe- gungsrationalisierung gegangen: Die Arbeiter selbst sollten »bewegungsbe- wußt« gemacht werden.1'7 Ein Mittel hierzu war der »three-position plan«, bei dem jedem Arbeit eines über ihm stehenden Arbeiters antrainiert wurde, aber jeder auch selbst einen unter ihm stehenden Arbeiter trainierte. " 8 Auch hierzu trug die Vorführung des Films vor den Arbeitern bei. Das betraf so- wohl die Beobachtung, da den Arbeitern auf der Leinwand andere Arbeiter präsentiert wurden, als auch die Normierung, da die Arbeiter durch Frank Gilbreths mündliche Kommentare zu eigenen Rationalisierungsvorschlägen aufgefordert wurden. "9 Allerdings war die Internalisierung hier noch nicht weit fortgeschritten. Denn erstens wurde der Film von den Arbeitern zwar selbst rezipiert, aber nicht produziert, was vielmehr weiterhin dem Tayloristen überlassen blieb. Zweitens handelte es sich nur um eine gegenseitige Beobachtung in der Grup- pe, noch nicht um eine Selbstbeobachtung des einzelnen Individuums. Doch auch hier konnte der Film Abhilfe schaffen. Denn eine natürliche Selbstbeob- achtung war »während der Ausführung der Arbeit nie möglich«; erst der Film, der die Arbeit für eine spätere Betrachtung festhalten konnte, »gewährt[e J dem Arbeiter den Vorteil, seine Bewegungen zu sehen«.120 Um dem Arbeiter aber eine zeitgleiche Aufnahme der Bewegungen zu ermöglichen, entwickelten die Gilbreths einen speziellen »Apparat zum selbsttätigen Mikrobewegungsstu- dium«.121 Hier galt nun im strengsten Sinne: »[T]he observer and observed become one«. 122 143 Fazit: Der Film als Schlüsse/medium Die Multifunktionalität des Films wies diesem eine zentrale Stelle im Dispoitiv des Taylorismus zu und machte ihn mit dem Panoptikon vergleichbar, das sich von ihm jedoch zugleich durch die Fiktionalisierung und Synchonisierung der in ihm verdinglichten Funktionen unterschied. Noch enger war seine Nähe zur Zyklographie, die gleichfalls von den Gilbreths erstmals 1912 benutzt, universell angewendet und den Zwecken der Propaganda, Beobachtung, Nor- mierung und Internalisierung dienstbar gemacht wurde. Die spätere histori- sche Entwicklung gab dem Film jedoch den Vorzug vor der Zyklographie: Während sich jener spätestens in den 195oer Jahren als fester Bestandteil der Rationalisierung der Arbeit etablieren konnte, blieb diese immer eine An- gelegenheit von Einzelgängern wie etwa Anne Shaw. Denn anders als die Zy- klographie wandelte sich der Film von einer komplizierten und kostspieligen Spezialtechnik zu einem einfachen und billigen Massenmedium. Das ökono- mische Argument aber überzeugt einen Tayloristen immer. Anmerkungen Dieser Beitrag beruht auf einem Kapitel meiner Magisterarbeit: Lars Novak, Mechanische Maschine und produktiver Körper: Zum Zusammenhang von Taylorismus/Fordismus und Film, Institut für Theaterwissenschaft, Freie Universität, Berlin 1999. 1 Vgl. vor allem Michel Frizot, Etienne- sehe Spezialtechnik, deren Erfinder im üb- Jules Marey, Centre National de la Photo- rigen Marey ist, hier aus. Informationen graphie, Paris 1984; Marta Braun, Picturing über ihre Weiterentwicklung und Verwen- Time: The Work of Etienne-Jules Marey dung durch die Gilbreths finden sich in der (1830-1904), University of Chicago Press, Mehrzahl der von mir im folgenden be- Chicago 1992; Fram;:ois Dagognet, Etien- nutzten Literatur. Vgl. ferner Frank B. Gil- ne-]ules Marey: A Passion for the Trace, breth, »Chronocyclegraph Motion: De- Zone Books, New York 1992. vices for Measuring Achievement«, in: 2 Vgl. insbesondere Lisa Cartwright, Efficiency Society Journal 5 (1916); ders., Screening the Body: Tracing Medicine's Vi- »M otion Model and the Age of Measure- sual Culture, University of Minnesota ment«, in: Dodge Idea 32 (1916); Bruce Press, Minneapolis, London 1995; Martin Kaiper, »The Cyclograph and Work Mo- Kemp, ,,,A Perfect and Faithful Record,: tion Model«, in: Lew Thomas, Peter Mind and Body in Medical Photography d'Agostino (Hg.), Still Photography, the before 1900«, in: Ann Thomas (Hg.),Beau- Problematic Model, NFS Press, San Fran- ty of Another Order: Photography in cisco 1981; Peter Weibel, Die Beschleuni- Science, Yale University Press, New Haven gung der Bilder: In der Chronokratie, Ben- 1997; Jutta Philipps-Krug, Cecilia Haus- teli, Bern 1987; Ram6n M. Reichert, »Die heer (Hg.), Frankensteins Kinder: Film und Arbeitsmaschine: Dokumente zu Sozial- Medizin, Cantz, Zürich 1997. technologie und Rationalisierung«, in: 3 Ich spare deshalb diese photographi- Brigitte Felderer (Hg.), Wunschmaschine 144 Welterfindung: Eine Geschichte der Tech- Schreibmaschinentastatur zu sehen, die die nikvisionen seit dem 18. Jahrhundert, Häufigkeit der verschiedenen Buchstaben Springer, Wien, New York I996. und die Kraft der einzelnen Finger aufein- 4 Ich möchte damit nicht bestreiten, daß ander abstimmte. In der New England Butt die Forschungsliteratur über die Gilbreths Company richtete F. Gilbreth ein »fatigue und den Taylorismus allgemein hin und museum« mit ineffizienten Arbeitsmitteln wieder Hinweise auf diese Filme enthält; ein (vgl. Yost [Anm. 4), S. 250). im folgenden werde ich mich selbst auf die- 8 Die Kompilation zeigt beispielsweise, se Hinweise stützen. Was bis heute jedoch daß die Einführung eines Fußpedals eine fehlt, ist eine systematische, historisch voll- Einbeziehung der Füße in den Arbeitspro- ständige und theoretisch durchdringende zeß und damit eine Freisetzung der Hände Darstellung. Einen ersten Schritt in diese für andere Verrichtungen ermöglicht. Richtung möchte dieser Aufsatz unterneh- 9 Vgl. Siegfried Giedion, Die Herrschaft men. Ein Grund für das in Rede stehende der Mechanisierung: Ein Beitrag zur ano- Forschungsdefizit besteht sicherlich darin, nymen Geschichte, Europäische Verlagsan- daß von den insgesamt über 80.000 Metern stalt, Frankfurt a.M. I982, S. I27; Gerhard belichteten Filmmaterials (vgl. Edna Yost, Kaminsky, Heinz Schmidtke, Arbeitsab- Frank and Lillian Gilbreth: Partners for lauf- und Bewegungsstudien, Hanser, Life, The American Society of Mechanical München I960, S. I3. Engineers, Van Rees Press, New York I949, IO Vgl. Stewart M. Lowry, Harold B. S. 240), das größtenteils an der Purdue Uni- Maynard, G. J. Stegemerten, Time and Mo- versity in West Lafayette (Indiana) lagert, tion Study and Formulas for Wage lncen- nur ein sehr kleiner Teil öffentlich zugäng- tives, McGraw-Hill, New York, London lich ist. Es handelt sich dabei im wesentli- I940, S. 75 • chen um die Kompilation TttE ORIGINAL II Vgl. Yost (Anm. 4), S. 290 und 308. FILMS OF FRANK B. GILBRETH, I9Io-I924 I2 Vgl. Mike Mandel, Making Good (USA I968, Perkins Productions), die auch Time: Scientific Management. The Gil- meinem Aufsatz zugrundeliegt. breths Photography and Motion Futurism, 5 Vgl. Braun (Anm. I), S. 32off.; Anson California Museum of Photography, Uni- Rabinbach, »Der Motor Mensch - Ermü- versity of California, Riverside, Santa Cruz dung, Energie und Technologie des I989, S. IO. Belege hierfür sind etwa die menschlichen Körpers im ausgehenden I9. graphische Gestaltung der von den Gil- Jahrhundert«, in: Tilmann Buddensieg, breths entwickelten Bewegungskarten oder Henning Rogge (Hg.), Gestaltende Technik auch die Zuordnung von Farben und Pik- und Bildende Kunst seit der Industriellen togrammen zu den Bewegungsgrundein- Revolution, Quadriga, Berlin I98I, S. I33 heiten. und I35; Eadweard Muybridge, The Hu- I3 Vgl. Braun (Anm. I), S. 34I; vgl. auch man Figure in Motion, Dover Publications, Yost (Anm. 4), S. 222. New York I95 5, Plate 77ff. I4 Vgl. Giedion (Anm. 9), S. I27. 6 Dieses Interesse ging vor allem auf L. I 5 Vgl. Braun (Anm. I ), S. 34 I. Gilbreth zurück, die eine Ausbildung als I6 Vgl. Yost (Anm. 4), S. 223; Brian Price, Psychologin genossen hatte. Vgl. z.B. »Frank and Lillian Gilbreth and the Moti- Lillian M. Gilbreth, The Psychology of on Study Controversy, I907-I930«, in: Da- Management: The Function of Mind in De- niel Nelson (Hg.), A Mental Revolution: termining, Teaching, and Installing Me- Scientific Management since Taylor, Ohio thods of Least Waste, Sturgis & Walton Co., State University Press, Columbus I992, S. New York I9I4. 60. 7 So ist etwa in der Kompilation der Gil- I7 Vgl. Yost (Anm. 4), S. 223; vgl. auch breth-Filme das berühmte Maurergestell Braun (Anm. I), S. 34I. oder auch eine neue Anordnung der I8 Vgl. Price (Anm. 16), S. 62. 145 19 Vgl. Yost, S. 225. lern als Mutter und Hausfrau, kaum aber als 20 Vgl. Kaminsky, Schmidtke (Anm. 9), berufstätige Psychologin in Erscheinung S. 14; Michael O'Malley, Keeping Watch: A tritt, ebenso wie an der Beziehung zu den History of American Time, Penguin, New älteren Töchtern, die ihre sexualmorali- York 1990, S. 233. schen Selbstbefreiungsversuche gerade da- 21 Vgl. Price, S. 63 und 69; vgl. auch Yost, durch gegen den Widerstand ihres Vaters s. 254. durchzusetzen versuchen, daß sie auf die 22 Vgl. Yost, S. 254 und 259; vgl. auch ökonomische Effizienz des neuen Frauen- Price, S. 69. bildes hinweisen. 23 Vgl. Frank B. und Lillian M. Gilbreth, 32 Vgl. Yost (Anm. 4), S. 245. Angewandte Bewegungsstudien: Neun 33 Veröffentlicht als »Motion Study in Vorträge aus der Praxis der wissenschaftli- Surgery« im Canadian]ournal of Medicine chen Betriebsführung, Verlag des Vereines and Surgery 40 Quli 1916). deutscher Ingenieure, Berlin 1920, S. 77. 34 Vgl. Yost (Anm. 4), S. 281 und 291; vgl. 24 Vgl. ebenda, S. 39. auch Mandel (Anm. 12), S. 12. 25 Mandel (Anm. 12), S. 12. 35 Vgl. Cartwright (Anm. 2), S. 48f.; vgl. 26 O'Malley (Anm. 20), S. 230. auch Friedrich A. Kittler, Grammophon 27 Vgl. Mandel, S. 12. Film Typewriter, Brinkmann & Bose, Ber- 28 Vgl. Mandel, S. 12; vgl. auch Yost, S. lin 1986, S. 213. 26of. sowie Arthur Lassally, Bild und Film 36 Vgl. Yost (Anm. 4), S. 281. im Dienste der Technik, Teil 2: Betriebski- 37 Vgl. Andre Drevon, »Les travaux de nematographie, Wilhelm Knapp, Halle a.d. Georges Demeny«, in: Alexis Martinet Saale 1919, S. 14. Ausschnitte aus diesen (Hg.), Le cinema et La science, CNRS Edi- Filmen sind in der Kompilation zu sehen. tions, Paris 1994, S. 53f. 29 Vgl. auch Gilbreth, Gilbreth (Anm. 38 Vgl. Mandel (Anm. 12), S. 12. 23), S. 38 und 58; vgl. auch Giedion (Anm. 39 Vgl. Yost (Anm. 4), S. 255. 9),S.127. 40 Vgl. ebenda, S. 266 und 27of. 30 Vgl. Yost (Anm. 4), S. 245. 41 Vgl. ebenda, S. 202. 31 Vgl. Frank B. Gilbreth jr., Ernestine 42 Vgl. ebenda, S. 271ff.; vgl. auch Man- Gilbreth Carey, Im Dutzend billiger, Lo- del (Anm. 12), S. 12. thar Blanvalet Verlag, Berlin 1952, S. 121ff. 43 Vgl. Gilbreth, Gilbreth (Anm. 23), S. Es handelt sich hier um den ersten von 38; vgl. auch Price (Anm. 16), S. 61 und mehreren autobiographischen Romanen, Mandel (Anm. 12), S. 12. der von zwei der insgesamt zwölf Kinder 44 Vgl. Yost (Anm. 4), S. 261 und 269. der Gilbreths verfaßt und von Walter Lang 45 Vgl. Gilbreth jr., Gilbreth Carey in CHEAPER BY THE DozEN (USA 1950, (Anm. 31), S. 8, 64 und 187. Twentieth Century Fox) verfilmt wurde. 46 Vgl. Lillian M. Gilbreth, The Home- Buch und Film verdienten eine eingehende- maker and Her Job, D. Appleton & Co., re Analyse, die vor allem auf das Verhältnis London 1927; vgl. auch Price (Anm. 16), S. zwischen ökonomisch-technischer Moder- 71 sowie Giedion (Anm. 9), S. 663f. und nität und gewandelten Geschlechterrollen O'Malley (Anm. 20), S. 232. einzugehen hätte. Denn während der in den 47 Vgl. Yost (Anm. 4), S. 255, 226f. und 192oer Jahren neu herausgebildete Frauen- 23 5. Allerdings versuchte F. Gilbreth auch, typus des Girls im zeitgenössischen Dis- die Chronozyklographie und die Stereozy- kurs mit der Taylorisierung der Arbeit un- klographie durch Patentierung kommer- mittelbar kurzgeschlossen wurde, treten an ziell auszubeuten (vgl. Braun [Anm; 1], S. F. Gilbreth, wie er in CHEAPER BY THE Do- 343). ZEN dargestellt wird, diese beiden Formen 48 Vgl.Jörg Schweinitz, »P sychotechnik, der Modernisierung auseinander. Das zeigt idealistische Ästhetik und der Film als sich am Verhältnis zur Ehefrau, die vor al- mental strukturierter Wahrnehmungsraum: Die Filmtheorie von Hugo Münsterberg«, Anzeige, in der Lassally seine Dienste zur in: Hugo Münsterberg,Das Lichtspiel: Eine Anfertigung von »kinematographische[n] psychologische Studie [1916] und andere Bewegungsanalysen« und »Arbeitsanwei- Schriften zum Kino, Synema, Wien 1996, sungen« anbot. Als Lehrbeauftragter der S. IO. TH Karlsruhe nahm 1935 W. Bucerius bei 49 Vgl. Yost (Anm. 4), S. 259. Versuchen mit Farbspritzpistolen Zeitlu- 50 Vgl. O'Malley (Anm. 20), S. 231; vgl. penfilme auf (vgl. Jürgen Bönig, Die Ein- auch Yost, S. 242. führung von Fließbandarbeit in Deutsch- p Vgl. Yost, S. 246ff. land bis 1933; 2 Bde, LIT, Münster 1993). In 52 Vgl. ebenda, S. 240 und 248f. der Sowjetunion fertigte in der ersten Hälf- 53 Vgl. ebenda, S. 225f. te der 192oer Jahre A. K. Gastev am zentra- 54 Vgl. ebenda, S. 242ff. len arbeitswissenschaftlichen Institut in 5 5 Vgl. Price (Anm. r 6), S. 70. Moskau die ersten »Kinoaufnahme[n] des 56 Vgl. Braun (Anm. r), S. 344. Arbeitsprozesses« an (Rene Fülöp-Miller, 57 Vgl. Yost (Anm. 4), S. 226; vgl. auch Geist und Gesicht des Bolschewismus, Price, S. 70. Amalthea, Zürich, Leipzig, Wien r 926, Ta- 58 Vgl. Yost, S. 226 und 326f. fel 201). 59 Vgl. ebenda, S. 260. 66 O'Malley (Anm. 20), S. 233. 60 Vgl. Lassally (Anm. 28), S. 14, Abb. 5. 67 Yost (Anm. 4),S. 218;vgl. auch Lowry, 61 Vgl. Yost, S. 308 und 327. Maynard, Stegemerten (Anm. ro), S. 75. 62 Vgl. Price, S. 70. 68 Giedion (Anm. 9), S. 44. 63 Vgl. Yost, S. 229, 235 und 317f. 69 Gilbreth, Gilbreth, zit. n. O'Malley 64 Vgl. ebenda, S.319. (Anm. 20), S. 233. 65 In den 193oer und 4oer Jahren wurde 70 Vgl. Kaminsky, Schmidtke (Anm. 9), das Bewegungsstudium in den USA vor al- S. I 3f. lem durch D. Porter, R. M. Barnes und M. 71 Vgl. Lowry, Maynard, Stegemerten E. Mundei weitergeführt (vgl. Yost [Anm. (Anm. ro); S. 75; vgl. auch Yost (Anm. 4), S. 4J, S. 339f.). Letzterer übertrug die An- 26rff. wendung des Films vom Gilbrethschen 72 Siegfried Kracauer, Theorie des Films, micromotion study auf das sogenannte me- Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1993, S. momotion study, die Analyse langer, multi- 67. funktionaler und kollektiver Bewegungen, 73 Vgl. Gilbreth, Gilbreth (Anm. 23). wobei er sich des Zeitraffers bediente (vgl. 74 Ebenda, S. 53. Kaminsky, Schmidtke [Anm. 9], S. r 56; vgl. 75 Vgl. O'Malley (Anm. 20), S. 233. auch Benjamin Niebel, Motion and Time 76 Vgl. Lassally (Anm, 28), S. 12 und 16. Study, Richard D. Irwin, Homewood 1972, 77 Yost (Anm. 4), S. 263f. S. 243). Nach Deutschland gelangte der Be- 78 Gilbreth, Gilbreth (Anm. 23), S. 37. wegungsstudienfilm - wie bemerkt - schon 79 O'Malley (Anm. 20), S. 233f.; vgl. auch 1914 durch F. Gilbreth selbst, der ur- Lassally (Anm. 28), S. 17f. sprünglich geplant hatte, hier länger zu So Vgl. Lassally, S. 12 und 16. arbeiten und nur durch den Krieg zur Sr Price (Anm. 16), S. 60. Rückkehr in die USA gezwungen wurde 82 Vgl. Gilbreth, Gilbreth (Anm. 23), (vgl. Yost, S. 254ff.). 1919 wies Arthur s. 58. Lassally (Anm. 28, S. 9) in seinem Hand- 83 Ebenda, S. 58. buch über Bild und Film im Dienste der 84 Vgl. ebenda, S. 72, 58. Technik auf den »hohe[n] Wert der Kine- 85 Lassally (Anm. 28, S. 12) nennt den matographie als eines Mittels zur photogra- Bewegungsstudienfilm ein »Meßfilmver- phischen Festlegung von Bewegungsvor- fahren«, eine »Kinematogrammetrie«. gängen« hin und erläuterte die wichtigsten 86 Price (Anm. 16), S. 61; vgl. auch Man- Prinzipien. Das Buch enthielt auch eine del· (Anm. 12), S. r r. 147 87 Vgl. Gilbreth, Gilbreth (Anm. 23), S. 1928 von dem Choreographen R. von La- 54; vgl. auch Giedion (Anm. 9), S. 127. ban zunächst für den Tanz entwickelt und 88 Vgl. Gilbreth, Gilbreth, S. 56f.; vgl. in den 194oer Jahren auf die industrielle auch Mandel, S. 1 r. Arbeit übertragen (vgl. Hanno Möbius, 89 Vgl. Gilbreth, Gilbreth, S. 53; vgl. »Teilung und Zusammensetzung: Heinrich auch Lassally (Anm. 28), S. 12 und von Kleist und die Entwicklung zum O'Malley (Anm. 20), S. 233. Rhythmus-Begriff in Tanz und Arbeit so- 90 Vgl. O'Malley, S. 251. wie in der Literatur«, in: Hanno Möbius, 91 Vgl. Price (Anm. 9), S. 61; vgl. auch Jörg Jochen Berns (Hg.), Die Mechanik in Yost (Anm. 4), S. 204f. und 299f. den Künsten: Studien zur ästhetischen Be- 92 Vgl. Price, S. 66f.; vgl. auch O'Malley, deutung von Naturwissenschaft und Tech- s. 232. nologie, Jonas Verlag, Marburg 1990, S. 93 Allerdings gingen durch die filmische 178f.). Seine acht Elemente standen nicht Zerlegung des Zeitkontinuums all jene Ab- l:tß nebeneinander, sondern konnten schnitte verloren, in denen der Filmstreifen durch Veränderung bestimmter Variablen weitertransportiert wurde. Die Gilbreths ineinander überführt werden (vgl. Kamin- schufen hier Abhilfe, indem sie zwei pha- sky, Schmidtke [Anm. 23], S. 96ff.). senversetzt laufende Kameras verwende- 99 Vgl. Gilbreth, Gilbreth (Anm. 23), S. ten. Wählte man nun für den einzelnen 49 und 36. Bildkader eine Belichtungszeit, die minde- 100 O'Malley (Anm. 20), S. 235. stens so groß wie die Transportzeit zwi- 101 Alle fünf Aspekte der Mechanisie- schen zwei Kadern war, so wurde »eine rung lassen sich auch der Kompilation der ununterbrochene Aufnahme des Arbeits- Gilbreth-Filme entnehmen. Insbesondere vorganges erzielt [ ...] , bei der auch nicht findet sich hier ein Beispiel für die Einbe- der Bruchteil einer Sekunde an Zeit verlo- ziehung möglichst vieler Körperteile, in ren« ging (Gilbreth, Gilbreth [Anm. 23], diesem Fall der zweiten Hand und der S. 59). Mit der späteren Umstellung des Füße. Filmtransports von manuellem auf mecha- 102 Gilbreth, Gilbreth (Anm. 23), S. 54; nischen Betrieb - zunächst auf Feder-, dann vgl. auch Yost (Anm. 4), S. 223 und Lassally auf Motorbetrieb - wurde die Uhr voll- (Anm. 28), S. 16. ständig verzichtbar, da nun die Kamera 103 Vgl. Yost, S. 224. selbst als eine solche fungierte und dabei 104 Gilbreth, Gilbreth, S. 54. eine ähnliche Auflösung erreichte. 105 Yost, S. 224; vgl. auch Gilbreth, Gil- 94 Vgl. Lassally (Anm. 28), S. 14. breth, S. 78 sowie O'Malley (Anm. 20), S. 95 Vgl. Price (Anm. 9), S. 64; vgl. auch 238 und 251f. Yost (Anm. 4), S. 261ff. 106 Vgl. Yost, S. 166. 96 Vgl. Niebel (Anm. 65), S. 165 und 172. 107 Vgl. ebenda, S. 18If. 97 Vgl. O'Malley (Anm. 20), S. 236f. 108 Mandel (Anm. 12), S. 12; vgl. auch 98 Später folgten andere Inventare. Das Yost (Anm. 4), S. 26of. reduktivste unter ihnen wurde wohl in den 109 Vgl. Yost, S. 272; vgl. auch O'Malley 192oer Jahren von Gastev entwickelt: Es (Anm. 20), S. 252f. enthielt nur zwei Grundbewegungen, näm- 110 Yost, S. 274. lich Schlag und Druck (vgl. Fülöp-Miller 111 O'Malley,S.252. [Anm. 65], S. 283; vgl. auch Rainer Traub, 112 Ebenda. »L enin und Taylor: Die Schicksale der ,wis- 113 Ebenda, S. 253; vgl. auch Yost, S. 272 senschaftlichen Arbeitsorganisation< in der und 274. (frühen) Sowjetunion«, Kursbuch 43, 1976, 114 O'Malley, S. 252; vgl. auch Yost, S. S. 15 2). Das systematischste und abstrakte- 274. ste Inventar, das auch mit einer zweidimen- 115 Vgl.Yost,S.273. sionalen Notation ausgestattet war, wurde 116 O'Malley, S. 235 und 233; vgl. auch Yost, S. 224. Parodiert wurde dieses Vorge- (Anm. 23), S. 39 sowie Frank B. Gilbreth, hen durch einen Wochenschaukamera- Das ABC der wissenschaftlichen Betriebs- mann, der für ein Porträt der Gilbrethschen führung, Julius Springer, Berlin 1917, S. 52. Familie diese beim Mittagessen in Zeitraf- 118 Vgl. Yost (Anm. 4), S. 237. fer aufnahm und den Zwischentitel »Die 119 Vgl. ebenda, S. 224. zeitsparende Familie Gilbreth beim Mit- 120 Gilbreth, Gilbreth [Anm. 23], S. 58 tagessen« hinzufügte (vgl. Gilbreth jr., Gil- und 37. breth Carey (Anm.31], S. 193). 121 Ebenda, S. 59. 117 Vgl. Gilbreth, zit. n. Giedion (Anm. 122 Gilbreth, Gilbreth, zit. n. O'Malley 9), S. 127; vgl. auch Gilbreth, Gilbreth (Anm. 20), S. 238. 149 STORSTADSFAROR 150 ASTRID SÖDERBERGH WIDDING Hasselblads Fo tografiska AB as Film Producer 1915-1917 Sensationalism or Quest for Quality? lt has remained relatively unknown that the Swedish camera company Has- selblads Fotografiska AB went into film production in Gothenburg during three hectical summer seasons, from 1915-1917,1 after which the company merged into the larger Skandia; for a long time, these early films were also re- garded as lost. However, with the rediscovery of the original negatives to no less than 19 of the company's 30 feature films, new light could be shed on three years in the cinema of the teens. These years had been almost effaced from the map of Swedish film history, as the largest part of the Svenska Bio productions from these years by Sjöström, Stiller and others had been destroyed in an archive fire in 194 I. The history of Hasselblad is inextricably connected to that of Georg af Klercker, who directed all but one of the feature films produced by the com- pany. Lieutenant af Klercker, who had left the army for the theatre, thereby causing a scandal; was recruited by producer Charles Magnusson as head of the new Svenska Biostudio at Lidingö 1911-13, when he left to work for Pa- the Freres' Swedish branch and spent some time in Copenhagen. He returned to work with Hasselblad - after which he left film production, with the ex- ception of an unsuccessful comeback in 1926. One could have suspected that the restoration of parts of the rediscover- ed Hasselblad films would have caused numerous comments from Swedish film historians. However, with the exception of a few essays by Bengt Ide- stam-Almquist and Leif Furhammar, all that followed were some negativere- marks by general film historians; af Klercker was considered superficial, most- ly from a strict auteur perspective comparing his films to those of Sjöström and Stiller.' But the international rediscovery of the films, due to the Pordeno- ne festival in 1986, led to their reintroduction within international film histo- ry.J In his dissertation on Swedish cinema 1912-20, John Fullerton has also analysed several aspects in af Klercker's films, e. g. their use of off screen space.4 What is striking to today's spectator is the elaborate visual style of the films; deep focus photography of high quality as well as advanced lighting devices, combined with a very precise narrative economy. However, it is less interesting to evaluate - as most historians have clone - whether af Klercker lp could be called »the third Swedish auteur« of the silent era, worthy of the same attention as his more renowned contemporaries. The most fruitful way of ana- lysing these films is rather, I would suggest, to relate them to their historical context, and to contemporary production in particular, combining the study of the history of a company with discussing reception. The period when Hasselblad produced films is, in many respects, a tran- sitional era, which from the point of view of film production is characterised by sharp reversals. In the shadow of World War I, as production giants like France collapsed, Swedish cinema suddenly discovered its new possibilities to reach the world market. 1915-16, a large quantity of films in international style were produced, by Hasselblad as well as by its main competitor and prede- cessor Svenska Bio.5 Another question is to what extent the Hasselblad pro- ductions developed another style, a narrative technique distinctive from that of Svenska Bio. The Hasselblad films have usually been characterised by their typically urban profile and their sensationalism. In 1917-18, the Svenska Bio production on the other hand was reoriented towards fewer productions, where Swedishness became a key ward together with the reliance upon litera- ry sources, with the cultural prestige that they brought along. Sensationalism was a stage that had passed by in a context where the film medium forcefully tried to establish its new status as art. However, it may be too schematic to consider the Hasselblad films as sensational only, in contrast to a supposedly later development towards quality films; this is a central question in this essay. Narrative development is yet another question that lends itself to analysis, not only from a Swedish perspective but also in relation to international norms. How do these films relate to classical narration, with its claims for spatial and temporal coherence? This question is in focus among many silent film historians; how the Hollywood narrational mode gradually acquires domi- nance as it is integrated by smaller national cinemas, but also the resistance to Hollywood hegemony and the alternatives developed by these small pro- ducers. Within Swedish cinema,John Fullerton has traced a non-classical style during the transitional period, whereas Jan Olsson argues that this style, though obviously present in certain films, was not generally valid. By analy- sing a Stiller film produced by Svenska Bio, ALEXANDER DEN STORE (Alexander the Great, 1917), he points to the presence of a classical style; however, this might be enlarged also to the Hasselblad productions.6 Voices from the press The events that led to the start of the Hasselblad company are impossible to map in any detail as source material is lacking. However, it is clear that the main purpose was not to produce films, as the memorandum of association was established for a new production company, but that the plans at first rather concerned distribution. lt was of utmost importance to interfere in the controversy between Nordisk Filmsand Pathe Freres, where [ ... ] each of them had threatened to boycott the cinema proprietors who dared to buy films from their competitor. The new company now would make it their fore- most object to show these two competing film factories that nobody was obliged to yield to their dictatorship. The new company thus intended to procure novel and beautiful pictures for the Swedish cinemas from other sources, i.e. the big film com- panies as weil in America as on the European continent/ In Göteborgs Aftonblad the discussion continued during the summer 191 5 on »the conflict between the foreign big film companies that had become extremely grave last spring, and their endeavour to rule supreme, each of them in their market«. This is mentioned as the explicit motive for Hasselblad to turn to production: »Already at that time it was announced that we should be able to produce fully satisfactory and good films for use in our own country without being dependent on supply from abroad.«8 The local perspective ad- opted in the article gives the somewhat misleading impression that there exi- sted no Swedish production at the time. But the explicit aim to acquire inde- pendency towards foreign produc;tions interestingly prefigures the later period of the so called »golden age« of Swedish cinema, 1917-23, with its even more exaggerated nationalist discourse in the press.9 The level of ambition, however, was quite modest from the outset: »T he idea is to produce small comedies as well as more serious films«. 10 In another article from the following year, it is confirmed that these pro- ductions were considered more or less an experiment, but that the positive experience had led to the decision not only to continue, but also to extend production significantly. 11 lt might also be worth noting that the company had already, by way of its immediate predecessor Victoria, successfully started producing nonfiction films. This production continued until the merger with Skandia in 1918, with no less than 144 titles passing on to the Board of Cen- sors, many of which overlap the fiction films thematically or visually. Probab- ly, material shot on the same occasions was used both for fictional and non- fictional purposes. The Hasselblad production of feature films started with ROSEN PA TISTE- LÖN (The Rose on Thistle Island, 1915), based on a novel by Emilie Flygare- Carlen. From the plot descriptions included in the film programs it becomes clear that the unhappy love story of the novel was changed in Willy Grebst's film version into a romantic story with a happy end. Also, parts of the story that could have caused censorship problems were eliminated, such as the ro- mance between the heroine and a smuggler, or the murder of a customs officer. As suggested above, the Standard image of the Hasselblad feature pro- ductions portrays the company as a stronghold of sensationalism, influenced by Danish cinema of the teens. A comparison to the later policy of Svenska Bio reveals that Hasselblad produced no literary adaptations before the mer- ger into Skandia, with the exception of Flygare-Carlen, a choice that could hardly be considered as a search for cultural prestige, even though her novels were immensely popular. On the other hand, the company's search for origi- nal scripts was at that time considered as a quest for quality. 11 Several films also testify to a social ambition, a search to win recognition by seriousness of purpose. lt is also possible to trace a reorientation of the company's production policy in this direction as the censors banned the thril- ler MYSTERIET NATTEN TILL DEN 25:E (The Mystery of the Night Before the 25th). But weil before this setback, a couple of scripts that could hardly be considered sensational, had already been brought to the screen by the compa- ny. AKTIEBOLAGET HÄLSANS GÄVA (The Gift of Health, Ltd.), classified as dra- ma or satire, and with a script by no less a person than the film censor Gustaf Berg, explicitly aimed at polemizing against quackery. 1 i VÄGEN UTFÖR (The Way Down) deals with morphine addiction, and FöRSTADSPRÄSTEN (The Sub- urban Vicar), scripted by Danish author Harriet Bloch, evokes social prob- lems. And Manne Göthson's STORSTADSFAROR (Perils of the Big City, the only Hasselblad film by another director), was subtitled »Social Drama«. FöR HEM OCH HÄRD (For Hearth and Horne), finally, was the only war film to be pro- duced in Sweden during World War I, made as propaganda for the emergency service and financed by fundings from the Crown Princess. The sensations are thus clearly counterbalanced, and Hasselblad's productions are situated right in the middle of the film historical intersection between despised public mar- ket amusement and emerging art form. In discussing the reception of the Hasselblad films by the press, perhaps the most interesting part is to try tracing a specific discourse on the history of the company; this kind of discourse is most likely to be found within the film press. In the first volume of Filmbladet, there are only a few short paragraphs concerning Hasselblads. Thus, in July 191 5, an announcement is published that Aktiebolaget Victorias filmbyra has been constituted, and in the next issue from the same month, there is a short note announcing that Swedish film dra- mas based on original scripts are being shot in Gothenburg on the initiative of Nils Bouveng/4 The second volume, 1916, pays much attention to Hasselblad, in March, by a notice under the headline »I mportant filming in Sweden the approaching season«, where the company's ads for actors and »really good and original scripts« are also explicitly mentioned/5 In April, a langer »Film letter from Gothenburg« is published, which presents the staff of the company and particularly emphasises the thorough scrutiny of potential scripts: Thus when a manuscript arrives it must be read first by lieutenant af Klercker, then by Nils Bouveng, managing director at Hasselblads, and finally by mr Georg Has- selblad. Moreover, most of the manuscripts have to be dramatised for the cinema and all of them have to be remade in one way or another. Many of them have to be 154 >censored, by the trio Klercker, Hasselblad, Bouveng; on that day only when the Gothenburg journalist from Filmbladet interviewed the director, 30 manuscripts came in. But then they had been sent both from Sweden, Norway, Denmark, Fin- land and even from Germany. Many Swedish authors of great reputation have con- tributed their works, but for the time being their names will be kept secret. '6 That the companies in several ways practised a certain self-censorship is well documented by recent research; however, that censorship as metaphor was used also by contemporaries in order to describe the script selection process is worth noting. The pretensions to quality were obviously high in the Hassel- blad company. This is confirmed by a long notice in June, where the staff is presented again, now together with three »experienced operators responsible for the camerawork«, and a detailed description of the new studio at Otterhäl- lan, the installation of which is said to have »been clone with American quick- ness within two months only, but nevertheless it is altogether first dass and equipped with all the arrangements belonging to a modern film studio«. '7 In the August issue, the scripts filmed during the summer season were listed. lt was particularly noted that »[t]he authors are mostly Swedes. Many of them are well known. And it is certain that the cinema-going audiences during the winter will enjoy a pleasant surprise when they find out how solid and splen- did the produced Swedish manuscripts have turned out to be«.18 In yet another presentation of the company's staff, it is furthermore underlined that several actors were recruited from abroad: both Nils Chrisander and Sybil Smolowa came from Berlin. The Swedishness functions as guarantee of the quality of the scripts, their national solidity, whereas the actors from abroad lend an aura of international importance to the productions. In December the same year, the result of an inquiry is presented concerning the task of Swedish film art, addressed to »the only three film directors who for the time being are engaged in the direction of films in this country«: Sjöström, Stiller, af Klercker. '9 The result of the inquiry was somewhat meagre as the directors seem to have been busy elsewhere; af Klercker's re- sponse was the most eloquent, commenting on the importance of naturalness both in acting and settings. But the content of the inquiry as such is less intere- sting than the fact that Klercker - with both picture and signature - here ob- viously figures as one of the three first-rate directors of his time. This also clearly testifies to the fact that the Hasselblad company was well established in Swedish film culture by the end of 1916. The year after, Filmbladet follows up its coverage of the company with a note on »Hasselblad's new productions« in the May issue.1° In 1918, there is a long report on the merger of Hasselblad, the Swedish Pathe company and Victoria into Filmindustri A.-B. Skandia, in terms that make it clear that this should be regarded as an advantageous ex- pansion of film industry in Sweden.1' Summing up the Hasselblad years in an article from Biografägaren 1935, 155 which ends in an analysis of the Hasselblad film AKTIEBOLAGET HÄLSANS GÄVA, a general conclusion is offered on the company: »Victoria co-operated with Hasselblads in Gothenburg, who had begun to make Swedish film pro- ductions. These were considered promising for their time. Nils Bouveng and his director, Georg af Klercker, wanted to reach a higher level with their film productions than the cheap romance common at that time. Distinguished people took notice and supported the new attempts.«22 This posthumous re- putation differs significantly from the standard picture of a company focussed on the sensational and thrilling only, that has been drawn by older Swedish film historians, but seems all the more well grounded in the press of the pe- riod. If, then, this history of the Hasselblad company that may be sketched from the reception of the press is to be compared to the actual representations in the films or their patterns of narration, what conclusions might then be drawn? Both in the sensation films and the social problem films, one issue remains at the centre, namely the question of modernity. I will suggest that this question remains closely linked to the representation of women. I will also try to summarise a few points where the question of the modern by means of its ci- nematic expressions - such as lighting, editing - is extended to the stylistic level. Ambiguous modern women An ambivalent attitude towards modernity was generally widespread in Scan- dinavia at the turn of the century. In this context, the contrast between urban and rural seems particularly central, or to put it in more general terms: the contrast between the new world and the old, which turns out to be typical of the Hasselblad films. In an essay on Scandinavian folk museums, Mark B. Sandberg argues that industrialisation and the rapid breakthrough of mo- dernity in Scandinavia in the 19th century had led to a sense of loss and nost- algia towards traditional culture. »As actual folk bodies from the rural popu- lation increasingly crossed the line from country to city, becoming urban spectators of their former culture themselves, the absent folk body, collective- ly imagined, acquired great representational currency [ ... J.«•i At first sight, the folk museums may seem to be situated at the opposite end of the cultural spectrum from the spectacles and visual attractions associated with moderni- ty. However, »a closer examination of the ways early folk museum visitors articulated the impressions of their visits suggests that the received experience of spectating sometimes exceeded the founding paradigm in important ways.«24 This ambiguity is as true of cinema. Several Hasselblad films also combine the portrayal of rural culture with urban sensations for which the company has above all become famous; this pattern occurs both in KÄRLEKEN NATIENS BARN SEGRAR (Love's Victory) or fYRVAKTARENS DOTTER (The Lighthouse Keeper's Daughter). The turning of folk culrure into a spectacle, displayed to an audience, is also present in ROSEN PÄ T1STELÖN, in the description of the sight that awaits a traveler on the island thirty years after the dramatic events told had occurred, on the same spot: a small inn. Business at the inn was great, and Lindgren earned many an extra coin only by gent- ly drawing a curtain from a pane of glass in front of curious travelers. The pane of glass was part of a door in a remote corner, and whoever looked through it only saw a small room with a bed, a table and a couple of chairs. At the table, an old woman was sitting in a starched cap, crumpled and wrink.Jed. Her feeble hands were play- ing mechanically with two small shells. There were no traces of beauty in the sallow face, emaciated by sorrow - >and yet,, said the inn-keeper's wife, who used to sneak behind her husband, >she used tobe called The Rose on Thist!e Island,.•, This quotation relates the experience of spectating to modernity and places woman as a contradictory key figure at its very centre; in the Hasselblad pro- ductions, the female figure also appears as a central expression both of the possibilities of modernity, its risks and the search for traditional values. 157 In Babel and Babylon, Miriam Hansen discusses a number of the myths and cliches that contribute to articulating modernity in a complex way within American silent cinema. Particularly, her study of INTOLERANCE demonstra- tes, through apparent contradictions and narrative transformations, how mo- dernity is expressed both in the excessive way of portraying femininity in the film and in its way of registering both social and sexual transformations in society.26 In the Hasselblad films as well, transgressed identities, both sexually and socially, are in focus. In several films, the cabaret is a central place on the borderline between two worlds; it offers the possibility of new careers for peasant girls or maids. The poor peasant girl Olga in KÄRLEKEN SEGRAR enjoys a huge success as cabaret artist, and the maid Violet in NATIENS BARN (Children of the Night), having been sentenced for theft in spite of her innocence, leaves for the United States (which represent the very essence of modernity) on her release and be- comes equally successful as a music hall singer. Both films focus upon the vi- sual performance to an audience. Thereby, these women are clearly sexualised, but most particularly, they become representatives of a double-edged moder- nity. On one hand, there is the promise of an independent or glamorous urban life. On the other hand there are the ever-present threats of white slavery or drugs, the latter being the destiny awaiting the heroine Mary in VÄGEN UTFÖR. And Flora inSTORSTADSFAROR (Perils of the Big City), who is at first presented as housemaid, then appears as a vamp at the decadent cabaret The Night Owl, barely to be recognised. The staging of the scene clearly demonstrates her fate being worse than death, which also threats her innocent friend, who, however, instead saves Flora through the help of a Salvation Army worker. The whole setting recalls numerous other films on the white slavery theme, from the Danish counterparts from 191 o and onwards - DEN HVIDE SLAVEHANDEL (Whi- te Slavery), produced in two versions in 1910 by Fotoramafilm and Nordisk Films, or DEN HVIDE SLAVEHANDELS SIDSTE 0FFER (The Last Victim of White Slavery) from 1911 - to the American white slavery films, with TRAFFIC IN SOULS from 191 3 as the perhaps best known example. In these films, the hero- ines are thus ambiguous; however, the erotic decadence is counterbalanced by contrasting images, making them acceptable to censorship in all its dimensi- ons, from the official Board of Censors to the judgement of press and audi- ence. As character development was limited in Swedish cinema of the period, these f emale characters are turned into series of rapidly succeeding icons of women in modernity. This is true also of Violet in NATIENS BARN, who from a helpless, fainting maid is unexpectedly turned into an active femme fatale and then suddenly into a countess, as she marries her former employer; here again, the cabaret is portrayed positively, as the very seal of the new world, offering new and formerly unexplored possibilities for women. The new potentials of life in the city also offe r these women on screen the 158 possibility to take on temporary identities in urban space. In I MÖRKRETS BO- JOR (In the Fetters of Darkness), Elinor temporarily joins a band of robbers that she meets in a bar, in order to prevent a burglary in the house where she used to live and where her son, with whom she has lost contact, now Jives. The »good« motive, however, never totally conceals the pure pleasure of watching her disguise, her way of adopting the gestures and attitudes of the criminal gang. Once again, femininity is on display, and values of the old world- in this case, the stable and unchanging life in Elinor's old villa and garden - are con- trasted to but also combined with values of the new, such as the ability to dis- appear temporarily or to take on a new identity in the anonymous big city, or the possibilities of communication society (as Elinor sends a telegram to warn her son). Exotism, another significant feature of many films from this period, also appears in Hasselblad productions like I MINNENAS BAND (In Memories' Tram- mels) or NoBELPRISTAGAREN (The Nobel Prize Winner). The parallels in the history of cinema and modernity are, of course, legion: from the exotic attrac- tions of the world fairs and fairgrounds, by way of the travel genre of early cinema and the actualities from faraway places, to the contrasts in the emer- ging classical American cinema between white and black culture in particular. This exotism is in Hasselblad films exclusively associated with women. The exotic woman is on the side of a more primitive society. In I MINNENAS BAND, the gipsy girl Roszica marries a count, but her longing for freedom becomes too obsessive and so she leaves civilisation and returns to her family. In No- BELPRISTAGAREN, dr Arel who leaves for the front with his fiancee falls in love with a woman made homeless by war, the darkhaired, hot-headed and impa- tient Olga, as his blond fiancee after an accident has become paralysed for life. To these stereotypes are added the erotic qualities of the exotic women. On the other hand, in NüBELPRISTAGAREN there is a perspective of integration, which Rashit M. Yangirov has also traced in Russian cinema of the period. Here, the representative of the »primitive«, of »nature«, is at least pardy inte- grated into culture and the society of development. But still, »the other wo- man« clearly remains the »other« woman, and thus highlights cultural clashes in modern society. 27 Myriam Tsikounas on her part has analysed representations of the sharp confrontation or conflict between two worlds, the old and the new, in Russian films 1914-1917 (a pattern recognisable both from American or French cine- ma of the period).28 A similar pattern could be discerned also in the Hassel- blad films. An example is offered by the representation of nobility, in KÄRLE- KEN SEGRAR and NATTENS BARN, but also in I MINNENAS BAND, I MÖRKRETS BOJOR, FöRSTADSPRÄSTEN or REvELJ (Reveille). In these films, a woman stands in the centre, having to choose between the different worlds. If nobility is re- presented positively in the first two examples, this is not the case in the other films, where the perspective is reversed. In FöRSTADSPRÄSTEN, to mention but 159 one example, the comfortable life at the beautiful von Tillisch estate in the countryside is contrasted to the rude life of the suburbian pastor, leading an everyday life caught up in poverty and social problems. But the noble envi- ronment is clearly characterised as limited and narrow-minded; prejudiced against the pastor, lacking joy and spontaneity. No wonder, then, that the he- roine Elin, after hesitating for a long time, finally chooses to live with the pa- stor instead of marrying her noble fiance, thus choosing the new world instead of the old, which is represented as a historical impasse. Against the noblemen of the old world, Hasselblad films frequently offer portraits of scientists - the groundbreakers of the new world. Most note- worthy among these is a female character, lnger in MELLAN LIV OCH oöo (Bet- ween Life and Death). She joins her fiance dr Brinck in medical research, and so becomes one of the numerous scientists of the Hasselblad films, the engi- neers of the new world. Together, they are engaged in developing a new anti- dote that would revolutionise medicine. However, dr Brinck falls in love with another woman, and out of jealousy, lnger attempts to poison her rival. Then, on her own, she succeeds in developing the antidote, which saves the poisoned girl, and before she leaves the country forever she gives her f ormer fiance the credit for the discovery. I find lnger particularly interesting in her role as the only female scientist, beside the numerous cabaret girls and maids. Despite her obvious skilfulness, the highly negative connotations associated with this modern woman adds yet another aspect to the high degree of ambivalence that is characteristic of modernity. If then, as Miriam Hansen has argued, cinema functioned both as part and symptom of the crisis as which modernity was perceived, it is equally clear that the female characters on screen, as projections, function as expressions of or responses to exactly the same crisis. The plurality of modernity, together with its erosion of both gender hierarchies and social or cultural structures - that is, the breakdown of boundaries of traditional society, between good and evil, virgin and whore, private and public - leads to the multiplication of over- lapping or contrasting gender stereotypes. Thus, the multitude of perspectives on female identity displayed in the Hasselblad films also suggests that this fe- male identity is both discursively constructed and historically changeable. Light, staging and editing In an article entitled »La Nouvelle Mission de Feuillade; or, What Was Mise- en-Scene«, David Bordwell notes that the traditional decoupageltableau dua- lity in silent cinema has been recast by researchers such as Tom Gunning, Kri- stin Thompson, Richard Abel or Ben Brewster. They attribute the rise of intrascene editing principally to filmmakers in the United States while positing that Russian, Scandinavian, and Western Eu- 160 ropean filmmakers elaborated an alternative system predicated upon depth staging. These scholars have suggested that while there are some continuities between the depth shot of the 1910s and the flat, distant, »primitive« tableau, the diffe rences may be significant enough to warrant considering the years 1909 to 1918 as not simply a prolongation of primitive cinema but instead a major transitional phase, perhaps even a distinctive stylistic period.29 In the last chapter of his book on film style, »On Staging in Depth«, Bord- well returns to the same general idea, and examines among other things the deep staging during this transitional period in film history. He states that »the director of the 1910s could lay out the action in considerable depth. In a vast set (some were sixty feet front to back), the playing areas might be multiplied, with distinct zones activated in the course of a scene.«i0 This is true not least in the case of Hasselblad (the studio at Otterhällan was also more than sixty feet in length). The films tend to rely on staging in depth rather than on cutting, yet not without noteworthy exceptions. But in general, through a complex play with centering, creating a dynamic flux bet- ween stability and instability, they offer a clear example of deep staging cine- matography. According to Bordwell, »in the absence of cutting-based stylistic norms, imaginative filmmakers took rough schemas from early film and de- veloped them into a mise en scene displaying a range of emphasis, dynamism and refinement suitable to the new complexities of longer films.«J' Particular- ly interesting is the relation between this mise-en-scene and the lighting de- vices used in the films. In their discussion of pictorial staging in the theatre, Ben Brewster and Lea Jacobs state: »Advances in lighting did thus make the depth of the stage more available as an arena of the action rather than a picto- rial background.«F In general, this seems to be true not only of theatre, but also of cinema. However, and somewhat paradoxically, in the case of Hassel- blad, the experiments of the company seem to point in the other direction, towards a lesser degree of lighting, whereas deep staging remains the central principle of spatial organization. Darkness also figures as a theme already in the title of several films from the company: NAITENS BARN, MYSTERIET NAITEN TILL DEN 25:E, I MÖRKRETS BOJOR, NAITLIGA TONER (Night Music). The critics regularly noted the sceneries in the Hasselblad productions, as in most Swedish films of the period, but their reception also offers a certain amount of commentaries to the lighting, one of the most noteworthy stylistic specificities in the company's productions, commentaries which are someti- mes related to the discussion of the landscape. Hasselblad films defy the idea, expressed among others by Fabrice Revault d'Allonnes, that a theatrical light should be characteristic of pre-classical as well as classical cinema, and that it is only with modern cinema that more naturalistic lighting devices have become predominant. This is motivated by an empirical fact: that it was not until quite late in the history of cinema that the sensitivity of the raw film was sufficiently developed to allow a lesser degree of illumination, particularly if an image in 161 depth is intended; today's 400 ASA should be compared to 10-20 ASA until the end of the 3os.33 According to Revault d'Allonnes, the very possibility of depth in the image is directly dependent on a high degree of light. However, in spite of these limitations, Hasselblad films make little or no use of stage-like lighting. In their book Theater to Cinema, Ben Brewster and LeaJacobs offer a framework for such a rereading of lighting in cinema, separately from the devices of the theatre. They »reject the view that the history of the cinema is one of a steady emancipation from theatrical models. [ ...] Film lighting, for example, always owed more to still photography and painting than it did to theatrical lighting.«H Among the early light experiments is a scene from MINISTERPRESIDENTEN (The Minister President), filmed during the summer 1916. Here, an entire sequence where the corrupt lawyer Alphonse Carrel commits burglary at the banker Leroux' place, in order to steal some documents from a safe deposit that would compromise the president and hero, Jean Bazard, is filmed with Carrel's electric torch as the only source of light. However, while this scene was successfully staged, little attention seems to have been paid to narrative continuity in the lighting, particularly in the last reel. One critic of the period complained about this: »In one image, the electric light is on, in the next, oc- curring at about the same time, Our Lord's brilliant sunshine provides the lighting, and the next moment one reaches out for the electric again. Thus, it is not clear which time of the day is intended.«31 The following year, I MÖRKRETS BOJOR contained another remarkable scene of burglary. Here, a man having received a warning sits in the dark in a living room waiting for the thieves. The maid switches off the ceiling lamp before leaving, and the man then goes on to switch off the lamp on his desk, so that the room becomes completely dark and his presence can barely be noticed. When the thieves arrive, however, one of them carries an electric torch which at his opening of the living room door is directed straight towards the camera. Deeds of darkness seem to inspire dark images. This preference for the darkened screen might be related to the critique of electric arc lighting on sta- ge in the nineteenth century. Wolfgang Schivelbusch describes how the trans- formation of the stage by the new types of light carried new challenges and possibilities, but was met with scepticism in some respects: »The dispropor- tionally strong and intense light[. ..] washes out all the surrounding colours and because theatrical devices become crudely apparent in the bright light, it destroys all illusion«,J6 Even though the problem with colours had dissap- peared in a cinematic context, the awareness of the artificiality of the set and the possibly destroyed illusion is equally true of the bright film image. Schivelbusch's claim that »darkness heightens individual perceptions, ma- gnifying them many times« also motivates the Hasselblad option of privile- ging the shadows, which gives a particular intensity to the single source of light when it appears on the screen.J7 Hasselblad - specific or typical? In a somewhat contradictory manner, the history of the Hasselblad company both seems to confirm and to contradict traditional historical arguments on the films. The photographic qualities, the lighting effects, the remarkable stagings in depth mentioned both by critics of the time and later historians remain central characteristics of the company's films. At the same time, the variations in the uses of continuity editing defy sim- plistic classifications in »pre-classical« versus »classical«. If the stylistic em- phasis in the Hasselblad productions, with their emphasis on light effects and stage-like compositions, clearly lies on mise-en-scene rather than cutting, it is also clear, as I have shown elsewhere, that they cannot be seen as unambiguous representatives of a non-classical or pre-classical mode of narration.38 They seem to introduce a parallel mode in relation to classical narration rather than falling behind. lt is obvious, however, that genre hierarchies or pre-established ideas on the complexity of certain narrative forms tend to block a more precise understanding of how the films are actually narrated. That the most sub- stantial example of classical style in the entire production of the company is to be found in one of the most simple narratives, the uncomplicated comedy LöJTNANT GALENPANNA (Lieutenant Madcap) may not be expected and thus disregarded; the opposite is true of the detective story MYSTERIET NATTEN TILL DEN 2 5: E or the war film FöR HEM OCH HÄRD, which both stylistically and with regard to composition are among the least elaborated Hasselblad productions. However, the general narrative complexity of the Hasselblad films, from deep staging to continuity cutting, points to the need of less rigid dichotomies in the analysis of European cinemas of the teens. The reception of the press, which is still the central source as to actual re- sponses from audiences, has little to teil about narration as such, but is as con- tradictory as the issues of representation and style. The quest for quality out- lined above is clearly in focus. Here, yet another aspect is added in the late FYRVAKTARENS DOTTER, where the portrayal of landscape is eloquently fore- grounded by the critics, echoing the reception of the Svenska Bio production TERJE VIGEN (1917) by Victor Sjöström, the film that marked the beginning of the so called »golden age« of Swedish cinema. This film seems to represent an effort from the company to renew production according to new demands. But hand in hand with this search for quality, sensationalism remained constantly present throughout the history of the company, along with the risk of being blacklisted by censors and critics with the standard insult of the time, incar- nating what was considered the threat of American culture: Nick Carter.39 In spite of the contradictions, however, Hasselblad clearly held the position as main challenger to the dominant producer Svenska Bio, enjoying large critical acclaim which testifies to the popularity of the films. The story of Hasselblad, finally, still contains several questions that, at present, may not be solved. Did Pathe Freres play an active role in establishing the new company? How ab out the missing films - is it possible that they might revise the general picture of Hasselblad? Does the company's merger into Skandia mean that it disappeared without leaving any distinct traces? Still, the bits and pieces here recollected suggests that a specific profile of the company might be discerned, a company producing films of high technical quality, situating itself in the midst of the contradictions of the transitional era. Notes 1 The following article summarizes 51 Swedish films were produced during parts of a study in Swedish by the author, these ~o years. In Svensk Filmografi 1, Stumfilm i brytningstid, Stil och berättande Lars Ahlander ed., Almqvist & Wiksell, i Georg af Klerckers filmer [Silent Cinema Uppsala 1986, where all feature films are in Transition, Style and Narration in the listed, the result is 79 films. films of Georg af Klercker], Aura förlag, 6 Fullerton, op. cit.; Jan Olsson, »För- Stockholm 1998. storade attraktioner, klassiska närbilder«, 2 Bengt Idestam-Almquist, Filmstaden Aura. Filmvetenskaplig tidskrift II: 1-2, Göteborg, Hasselblads-Georg af Klercker- 1996, PP· 34-79. en bortglömd epok [Göteborg City of Ci- 7 Göteborgs Aftonblad, Apr 13, 1915. nema, Hasselblads - G af K - A Forgotten 8 Göteborgs Aftonblad, Jul 3, 1915. Era), Elanders, Göteborg 1971; Leif Fur- 9 Fora thorough analysis of this period, hammar, »Filmpionjär i skuggan av see Bo Florin,Den nationella stilen, Studier Sjöström och Stiller« [Film Pioneer in the i den svenska filmens guldälder [The Na- Shadow of Sjöström and Stiller], Chaplin tional Style. Studies in the Golden Age of 208, 1/r987, pp. 26-29; Rune Waldekranz, Swedish Cinema], diss., Aura förlag, Stock- Filmens historia, vol 1, Norstedts, Stock- holm 1997. holm 1978,pp.481,490, 54o;Gösta Werner, 10 Ibid. Den svenska filmens historia, Norstedts, 11 Nya Dagligt Allehanda, Feb 29, 1916. Stockholm 1979, p. 19. 12 The company's script competition in a 3 Kristin Thompson & David Bordwell, prestigious weekly magazine, Veckojourna- Film History -An lntroduction, Mc Graw len, was but one sign of this. Hili, Inc., New York etc. 1994,p. 65; Ginet- 13 The censors noted that the film should te Vincendeau (ed.), Encyclopedia of Euro- be seen as »the base for a strong tendency pean Cinema, Cassell & BFI, London 199 5, against quackery and quack remedy«. Cen- p. 243. sor card 16. 684, The Swedish Board of 4 John Fullerton, »The Development of Film Censors. a System of Representation in Swedish 14 Filmbladet 1:12, Jul 1, 1915, p. 159; Film 1912-1920«, Dissertation, Dept. of 1:13,Jul 15, 1915, p. 166. Film Studies, Univ. of East Anglia, May 15 Filmbladet 2:5, Mar 1, 1916, p. 68. 1994. 16 Filmbladet 2:7, Apr 1, 1916, p; 100. 5 According to Längfilm i Sverige 1910- 17 Filmbladet 2:11,Jun 1, 1916, p. 156. 1919 [Feature Films in Sweden 1910-1919), 18 Filmbladet 2:16, Aug 15, 1916, p. 214. Bertil Wredlund & Rolf Lindfors eds., 19 Filmbladet 2:24, Dec 18, 1916,p. 346. which lists all films longer than 750 metres, 20 Filmbladet 3:9, May 1, 1917, p. 131. 21 Filmbladet 4:8, Apr 15, 1918, p. 141. Style, Harvard UP, Cambridge, Mass. etc. 22 Biografägaren 10:19, Nov 30, 1935, p. 1997, p. 179. l I. 31 Ibid., p. 198. 23 Mark B. Sandberg, »Effigy and Narra- 32 Ben Brewster and Lea Jacobs, Theater tive«, in: Cinema and the Invention of Mo- to Cinema, Stage Pictorialism and the Ear- dem Life, Leo Charney & Vanessa R. ly Feature Film, Oxford UP, Oxford/ New Schwartz eds., Univ. of California Press, York 1997, p. 150 f. Berkeley etc. 1995, p. 325· 33 Fabrice Revault d'Allonnes, La lu- 24 Ibid., p. 321. miere au cinema, Eds. Cahiers du cinema, 25 Emilie Flygare-Carlen (1842), Rosen Paris 1991, p. 22. pa Tistelön, Ählen & Äkerlunds, Göteborg 34 Brewster and Jacobs, op. cit., p. 214. 1913, p. 207. 3 5 Nya Dagligt Allehanda, Sep 20, 1916. 26 Miriam Hansen, Babel & Babylon, 36 Wolfgang Schivelbusch [1988], Disen- Harvard UP, Cambridge Mass. etc. 1991, chanted Night, The Industrialization of PP· 199-217. Light in the Nineteenth Century, Univ of 27 Rashit M. Yangirov, »L',accent eth- California Press, Berkeley etc. 1995, pp. nique< dans le premier cinema rosse«, Cine- 199,202. ma sans frontieres/Jmages Across Borders, 37 Ibid., p. 22 r. Roland Cosandey & Fran~ois Albera eds., 38 »Towards Classical Narration? Georg Ed. Payot, Lausanne / Nuit Blanche Ed., af Klercker in Context«, by the author, in: Quebec 1995, pp. 106-121. Nordic Explorations, John Fullerton & Jan 28 Myriam Tsikounas, »La representation Olsson eds., John Libbey, London etc. de l',ailleurs, dans !es films russes«, ibid., 1999, PP· 197-203. PP· 314-328. 39 Ulf Boethius offers an elaborate analy- 29 David Bordwell, «La Nouvelle Missi- sis of the Nick Carter phenomenon in Swe- on de Feuillade; or, What Was Mise-en Sce- dish literature in his book När Nick Carter ne«, The Velvet Light Trap 37, 1996, p. 10. drevs pa flykten [When Nick Carter was 30 Bordwell, On The History of Film chased away], Gidlunds, Stockholm 1989. Buchbesprechungen Lauren Rabinovitz, For the Love of Pleasure. Women, Movies and Culture in Turn-of-the-Century Chicago, Rutgers University Press, Brunswick, N. J., London 1998, XVI, 233 S., ill. Entgegen den Erwartungen, die der Titel des Buchs möglicherweise weckt, handelt es sich bei Lauren Rabinovitz' Studie nicht um eine lokale Kinoge- schichte, zumindest nicht um eine, in der Zahl, Standort und Entwicklung der Abspielstätten, die Präsenz der Filmindustrie usw. recherchiert und dokumen- tiert werden. Die Stadt Chicago, neben New York das zweite wichtige Zen- trum des frühen amerikanischen Kinos, dient Rabinovitz in erster Linie als Fokus für eine eher kulturgeschichtliche Untersuchung zu den Veränderun- gen im öffentlichen Raum der (amerikanischen) Großstädte und den sich hier- aus ergebenden Möglichkeiten für Frauen, sich in der Öffentlichkeit zu bewe- gen. Kino und Film behandelt sie als Symptome, aber auch als Agenten innerhalb dieses Prozesses. Die drei Kapitel des ersten Teils beschäftigen sich mit der Ökonomie der Blicke im urbanen Raum. Baudelaires flaneur ist inzwischen, vor allem über die Rezeption bei Walter Benjamin, zu einer geradezu emblematischen Figur der modernen Großstadt geworden, die beobachtend den urbanen Raum durchstreift und ihn sich schauend aneignet. In den letzten Jahren haben ver- schiedene Autorinnen darauf hingewiesen, daß es sich dabei um eine rein männliche Gestalt handelt, daß es zu ihr kein weibliches Pendant, keine »fla- neuse« gibt: Unbegleitete Frauen, die sich aktiv blickend auf der Straße bewe- gen, geraten leicht in den Verdacht, Prostituierte zu sein. Diese Asymmetrie zwischen männlichem und weiblichem Blick beschreibt Rabinovitz anhand zeitgenössischer Romane, Photographien, Zeichnungen und Gemälde. Das folgende Kapitel, das der Chicagoer Weltausstellung von 1893 gewidmet ist, befaßt sich mit einem abgegrenzten, >sicheren< öffentlichen Raum, in dem die Besucherinnen (d ie der weißen Mittelklasse angehören) zum Schauen eingela- den werden. Doch gleichzeitig erscheint die massive Präsenz des Fremden, Exotischen in zeitgenössischen Berichten immer wieder auch bedrohlich. In vielen Zeichnungen mit Szenen der Weltausstellung sind die schauenden Frauen ihrerseits Objekte männlicher Blicke, so daß auch hier keine gleich- berechtigte Symmetrie entsteht. Der dritte städtische Raum, den Rabinovitz beschreibt, sind die großen Warenhäuser, deren Bedeutung um die Jahr- hundertwende stark zunimmt. Hier treten Frauen als Kundinnen wie als Verkäuferinnen in Erscheinung, in einer sozial gemischten Umgebung, in der ein forschender weiblicher Blick nicht nur erlaubt, sondern geradezu ge- fordert und gefördert wird. In diesem Zusammenhang diskutiert Rabinovitz eine Reihe von filmischen Beispielen aus den Jahren zwischen 1903 und 1907, die sie als Anzeichen für eine Veränderung in der Ökonomie des Schauens deutet. Die drei Kapitel des zweiten Teils schließen chronologisch an die geschil- derten Entwicklungen an und diskutieren die Umwälzungen im öffentlichen Raum im Zusammenhang der frühen Filmindustrie. Wie andernorts auch, ge- rät das Kino in den Jahren ab 1907 vermehrt in den Blick von Reformern, die in ihm eine moralische Gefahr insbesondere für Frauen und Kinder sehen. Dieser Teil der Studie beschäftigt sich direkt mit der Situation in Chicago, wo die Debatte um das Kino mit besonderer Heftigkeit geführt wurde. Auch wenn das Muster der Auseinandersetzungen und der verschiedenen Gegen- strategien seitens der Kinobetreiber sich von dem, was aus anderen Untersu- chungen zu dieser Thematik bekannt ist, nicht wesentlich unterscheidet, ist das hier analysierte lokale Material überaus interessant. Darüber hinaus be- trachtet Rabinovitz die Nickelodeon-Debatte nicht für sich, sondern sie ver- sucht vor allem, mit Bezugnahme auf die neueren filmhistorischen Forschun- gen den komplexen Beziehungen der frühen Filmzuschauerinnen zu dem, was sich vor und auf der Leinwand abspielt, besser gerecht zu werden. Die lokale Debatte ist somit nur ein Ausgangspunkt für weitergehende Betrachtungen. Die hier behandelte Problematik verdiente es allerdings, Gegenstand einer ei- genen Untersuchung zu werden, während in diesem Kapitel notwendigerwei- se vieles nur angedeutet werden kann. Das Verhältnis von Film und Vergnügungsparks stellt eine weitere Facette in dieser Studie dar. Zum einen geht es dabei um spezifische Formen der Film- präsentation, wie die der Hale's Tours, die in solchen Parks stattfinden, aber auch um die filmische Darstellung der Vergnügungen selbst. Anhand von Bei- spielen wieBOARDING ScHOOL GIRLS (Edison 1905) undSTAGESTRUCK (Edison 1906), in denen jeweils Gruppen junger Frauen aus der strengen Disziplin von Institutionen ausbrechen und sich den Attraktionen von Coney Island hinge- ben, verfolgt die Autorin ihre These von den grundlegenden Veränderungen des weiblichen Verhaltens im öffentlichen Raum. Die hier und an anderen von Rabinovitz diskutierten Phänomenen sichtbar werdende Mobilität, die sich die Frauen erobern, wird aber, so die Überlegungen im letzten Kapitel, vom Streben der Kinoindustrie nach Respektabilität und sozialer Anerkennung wieder eingeschränkt. Die zunehmende Institutionalisierung des Kinos sowie die Narrativisierung der Filme schaffen einen anderen Zuschauer(innen)typus. Doch das bedeutet für Rabinovitz keineswegs, daß das Kino nun selbst zu ei- ner disziplinierenden Institution wird. Als Teil eines übergreifenden sozialen Prozesses leistet es einen Beitrag zu den fundamentalen Veränderungen der großstädtischen Öffentlichkeit und dem Entstehen einer Konsumentenkultur, an der Frauen auf eine Art und Weise teilhaben? wie sie zuvor nicht möglich war. Lauren Rabinovitz' For the Love of Pleasure ist somit zwar keine lokale Kinogeschichte, doch das Lokale bleibt ein wichtiger Aspekt ihrer Untersu- 168 chung. Chicago als moderne Großstadt, als Veranstaltungsort einer Weltaus- stellung, als Standort der frühen Filmindustrie sowie als Ort der Auseinander- setzung um den sozialen und moralischen Status der Nickelodeons fungiert als Katalysator in einer Studie, die versucht, das frühe Kino in einen breiteren kulturgeschichtlichen Kontext zu stellen. Dabei geht es ihr insbesondere darum, die Bedeutung der sich in jener Periode vollziehenden Veränderungen für die Stellung der Frauen im öffentlichen Raum herauszuarbeiten. Einige der hier konstruierten Zusammenhänge zwischen dem Kino und der Kultur der Modeme werden inzwischen zwar in vielen Studien mehr oder weniger un- hinterfragt angeführt (so läßt sich die Analogie zwischen dem Blick auf die Leinwand und dem in die Schaufenster der Warenhäuser eben nur behaupten), statt sie ihrerseits einer kritischen Betrachtung zu unterwerfen. Doch dies wiegt nicht allzu schwer gegenüber den vielen interessanten Analysen von weitgehend unbekanntem Belegmaterial. In jedem Fall aber kann dieses Buch als Herausforderung an die herrschende Praxis lokaler und regionaler Filmge- schichtsschreibung gelesen werden, da es die Frage stellt, wie die für den je- weiligen Bereich erhobenen Daten und Materialien in einem breiteren Diskus- sionszusammenhang fruchtbar gemacht werden können. Frank Kessler Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 19. Jg. (1999), Heft 74: Fotografie und Projektion, herausgegeben von Timm Stad, Jonas Verlag, Marburg, 76 S., reich ill., Einzelpreis 39 DM. Zeitgleich mitK/Ntop 8 (1999) zu Film und Projektionskunst ist ein Themen- heft der Fotogeschichte zum projizierten photographischen Standbild erschie- nen. Das Interesse an der Erforschung der Projektionsmedien, die vor und neben dem frühen Kino existierten, zieht jetzt allmählich auch im deutschen Sprachraum Kreise, die über vereinzelte Buchpublikationen hinausgehen. Bei Stummfilmen, die stets vor Publikum live mit Musikbegleitung und häufig mit Sprachkommentierung gezeigt wurden, ist die herkömmliche Fixierung der Forschung auf Form und Inhalt der überlieferten Bilder obsolet, seit ihre Wie- deraufführung mit Klavier- bzw. Orchesterbegleitung erfolgt. Vergleichbare Aufführungen historischer Diapositive bieten einige wenige professionelle Ensembles mit Laterna magica-Schauen, in denen neben gemalten Glasbildern auch photographische Laternbilder inszeniert werden. Historiker haben da- von noch nicht Notiz genommen. Wie Jens Ruchatz und Timm Stad in ihrem Editorial (S. 2) bemerken, interessiert sich die Geschichtsschreibung der Pho- tographie bei ihrer Auseinandersetzung mit Bildern »in aller Regel für die ,Bildleistung< und nicht für ihre Materialität und die Verbreitung der Wieder- gaben«. Photographien erscheinen »als frei konvertierbare Information«, ohne daß ihre materiellen Eigenschaften und die Umstände des Bildgebrauchs Be- rücksichtigung finden. Die zeitgenössische Aufführungspraxis von Diapositi- ven ist bisher kaum untersucht worden. Für Historiker der Photographie bie- tet sich hier ein zwingender Ansatzpunkt, um die Produktgeschichte zur Mediengeschichte fortzuschreiben. Photographie und Projektion sind für Jens Ruchatz ein »perfektes Paar«: Die Projektion bietet sich technisch zur Betrachtung von Photographi- en an, weil Kamera und Laterne geometrisch und optisch analog arbeiten. Außerdem sind Diapositive in der enormen Vergrößerung auf der Leinwand gemalten Glasbildern in der Detailzeichnung überlegen. Dennoch findet die auf der Londoner Weltausstellung 18 51 vorgestellte Fixierung photographi- scher Emulsion auf Glas in Deutschland erst Jahrzehnte später für die Projek- tion Verwendung, nachdem die Laterna magica als Bildungsmedium aner- kannt war (vgl. dazu auch den Beitrag von Jens Ruchatz in K/Ntop 8). Deac Rossell gibt einen Überblick zur deutschen Produktion von Pro- jektionslaternen, die in der Nürnberger Spielwarenindustrie konzentriert ist, weil englische Firmen den Markt für professionelle Schaustellerlaternen be- reits beherrschen. Geräte aus Nürnberg dominieren Ende des 19.Jahrhunderts den Weltmarkt für Kinder- und Heimlaternen. Möglicherweise hat dies dazu beigetragen, daß die Laterna magica im deutschen Sprachraum bis heute vor- rangig mit Kinderspielzeug assoziiert wird. Richard Crangle untersucht life model slides - mit Laienschauspielern in bühnenartig arrangierten Sets auf genommene Bildergeschichten, die u.a. zur dramatischen Inszenierung moralischer Appelle gegen die im englischen Proletariat verbreitete Trunksucht dienten. Margarethe Szeless stellt den sozi- aldokumentarischen Lichtbildervortrag »Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens« vor, der von 1904 bis 1908 rund dreihundert Mal in der Wiener Urania aufgeführt wurde und an die 60.000 Zuschauer erreichte. Nathalie Boulouch und Arno Gisinger zeigen amAutochrome-Verfah- ren der Brüder Lumiere, warum die Leinwand der privilegierte Ort für die Präsentation früher Farbphotographie war. Öffentliche Projektionen in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg nutzten die Illusionskraft des farbigen Lichtbilds für die Inszenierung attraktiver optisch-akustischer Aufführungs- ereignisse. Die Autochrome-Diapositive wurden dabei mit Filmprojektionen, Gedichtrezitationen und live-Musik kombiniert. Abschließend skizziert Timm Starl mit einer Chronologie zur Projek- tion im Österreich des 19.Jahrhunderts eine mediengeschichtliche Perspekti- ve, die nicht nur eine umfassende Verknüpfung von Vergrößerung, Vorfüh- rung und Verbreitung von Photographien andeutet, sondern auch auf die intermedialen Bezüge zur Kinematographie verweist. Es bleibt zu hoffen, daß es diesem Themenheft der Fotogeschichte gelingt, ein weitgehend unbekann- tes neues Forschungsfeld zu öffnen. Die Historiographie des frühen Kinos könnte daraus großen Nutzen ziehen - war es doch bis in die 191oer Jahre keineswegs selten, daß Filme und Diapositive in Kombination vorgeführt wurden. Martin Loiperdinger Ralph Nünthel,Johannes Nitzsche Kinematographen & Films. Die Geschichte des Leipziger Kinopioniers, seiner Unternehmen und seiner Technik, Sax-Ver- lag, Beucha 1999, 132 S., 57 Abb., DM 22,80 Lokale Filmgeschichtsschreiber, die mehr zu berichten haben, als in einen Ar- tikel in der örtlichen Zeitung paßt, mußten in der Vergangenheit entweder selbst in die Tasche greifen bzw. erhielten zur Publikation mitunter Gelder von ortsansässigen Firmen. Bei seiner Geschichte des Leipziger Kinopioniers Johannes Nitzsche ist es Ralph Nünthel nicht nur gelungen, das internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm als Herausgeber zu gewinnen, sondern auch fünf auf dem Gebiet des Films tätige Firmen und Ein- richtungen zur Finanzierung seiner Schrift zu bewegen. Auch wenn die Ga- ben wohl vor allem auf die Verbundenheit der Spender mit der Stadt zurück- zuführen sein dürften, handelt es sich u. E. um ein positiv zu wertendes Signal für die Filmgeschichtsforschung. Nach den ,Firmographien< einiger bekannter deutscher Filmunternehmen der Frühzeit (z.B. Messter, Deutsche Gaumont, Eclair/Decla) wird nun auch die Geschichte kleinerer Firmen untersucht. Die Firma Nitzsche gehörte zu den bedeutendsten in Mitteldeutschland. Sie stellte ab 1903 Projektoren, spä- ter auch Zubehör für Lichtspieltheater her, produzierte eine Reihe von Filmen (vgl. die Filmographie im Anhang), gründete 1908 einen Verleih und betrieb ab 1911 selbst erfolgreich ein Kino. Bis Anfang der 3oer Jahre war ihre Exis- tenz untrennbar mit ihrem Gründer Johannes Nitzsche (1879-1947) verbun- den, dann übernahm die Konkurrenzfirma Zeiss-Ikon das Werk. Ralph Nünthel hat vermutlich noch wenig Erfahrung auf dem Gebiet der Filmgeschichtsschreibung (er wertet, wenn man den Quellenhinweisen Glau- ben schenkt, z.B. keine regionalen Tageszeitungen aus, verankert seine Beob- achtungen nicht im stadthistorischen, regionalen bzw. nationalen Kontext etc.). Der Hauptteil ist deshalb bedauerlicherweise etwas unbefriedigend. Nünthel beschreibt die Firmengeschichte im Eiltempo, zählt knapp seine hi- storischen Funde auf, ohne dabei z.B. über die Bedeutung von Lücken nach- zudenken oder Aussagen, die aller Wahrscheinlichkeit nach der eigenen Le- gendenbildung dienten, kritisch zu hinterfragen. (Was auch fehlt, aber nicht Gegenstand einer Technikgeschichte ist, sind Hinweise auf Besitzverhältnisse, Programminhalte, Personalausstattung etc. der Leipziger Kinos, die hoffent- lich einmal nachgeliefert werden.) Die Stärke des Buches liegt vorwiegend im Bereich der Erschließung von Primärquellen und deren statistischer Auswertung im Anhang. Nünthel be- schäftigt sich mit der Auswertung von Daten, die er durch den Vergleich von Informationen schriftlicher und mündlicher Art erhielt. In seiner Auflistung des »kompletten Kinobestands der Stadt Leipzig« zwischen 1906 und 1990 zeichnet er die wechselvolle Geschichte der Etablissements nach: Namensän- derung, Adressenwechsel, Variationen in der Anzahl der Sitzplätze sowie Aus- tausch der eingesetzten Projektorenmodelle. (Leider gibt er nicht an, welchen Quellen er genau seine Informationen entnommen hat. Dies gilt auch für den Hauptteil der Studie.) Zudem hat der Autor bei seiner Suche nach dem Ver- bleib der Nitzsche-Kinoapparate nicht nur in Deutschland (Archive, Privat- sammler), sondern auch jenseits der Grenzen recherchiert, so in fast allen eu- ropäischen Ländern wie auch den USA. (Seiner Erfahrung als Sammler verdankt der Leser sogar Angaben über den Zustand der erhaltenen Geräte.) Diese Informationen sind für die noch immer viel zu wenig erforschte Tech- nikgeschichte des Kinos in Deutschland von elementarer Bedeutung. Herbert Birett und Sabine Lenk Michael Achenbach, Paolo Caneppele, Ernst Kieninger (Hg.), Projektionen der Sehnsucht. Saturn. Die erotischen Anfänge der österreichischen Kinemato- grafie (Reihe: Edition Film und Text, 1), Filmarchiv Austria, Wien 1999, 200 S., ill., incl. Videokassette (VHS, Pal) mit 12 Saturn-Filmen, 60 Min., Buch 21 DM, Video 42 DM, Buch und Video 56 DM Seit dem Leitungswechsel von Walter Fritz zu Ernst Kieninger (1996) und der Umbenennung macht das Filmarchiv Austria in Wien in rascher Folge auf sich aufmerksam, vor allem auf dem Publikationssektor. Nach Elektrische Schat- ten. Beiträge zur Österreichischen Stummfilmgeschichte (1999) und Film ist Comics. Wahlverwandtschaften zweier Medien (ebenfalls 1999) ist nun ein drittes Werk erschienen, das sich einem noch wenig erforschten Bereich der frühen Kinematographie widmet: dem erotischen Film. Mit Projektionen der Sehnsucht beginnt das Filmarchiv Austria eine Editionsreihe, welche die Er- gebnisse einer Filmrecherche nicht nur via Text und Illustration verbreitet, sondern den Gegenstand der Untersuchung selbst auf Videoband zur Verfü- gung stellt. Die 1906 gegriindete Filmfirma Saturn des Chemikers und Photographen Johann Schwarzer stellte bis zu ihrer durch die Obrigkeit erzwungenen Schliessung 1911 Filme für sogenannte Herrenabende her. Über 50 Titel konn- ten nachgewiesen werden, obwohl den Herausgebern nur ein einziger Katalog der Firma (vermutlich von 1907) zur Verfügung stand, den sie im Anhang als Faksimile abdrucken. Von den 26 bisher wiedergefundenen Filmen ist nur ein knappes Viertel (vermutlich) vollständig erhalten. (Fast alle von Achenbach und Caneppele einzeln vorgestellten 16mm- und 35mm-Kopien stammen aus deutschen Archiven [SDK, DIF, Bundesarchiv], das Filmarchiv Austria selbst besitzt nur drei Titel. Um so mehr ist es den Herausgebern zugute zu halten, daß sie einen Teil der Saturn-Produktion auf Video den heutigen Betrachtern wieder zugänglich gemacht haben.) Um den laufenden Bildern einen Kontext zu geben, führt Paolo Caneppele in die Anfänge der erotischen Kinematographie ein; da er viele mit dem The- ma verbundene Aspekte nur anreißen kann, inspiriert der Streifzug durch die Vor- und Friihgeschichte zu eigenen Studien: Sein Überblick beriihrt erotische Aspekte in der Literatur (Villiers de l'lsle-Adam, Walter Scott, Jules Verne), der Laterna magica, dem Kaiserpanorama und dem Mutoskop, geht über zur Nacktheit im Film, motiviert beispielsweise durch Tänze, Akt-Studien im Maleratelier, Schwimm- oder Badewünsche der Damen oder durch komische Momente (z.B. ein Floh in der Unterwäsche). Auch geht er kurz auf die Ent- wicklung der erotischen Kinematographie in Österreich ein. Ernst Kieningers Betrachtungen zur »Erotik im Wanderkino« zeigen den Einsatz in der ambulanten Kinematographie auf. Man lernt viel über das Wan- derkinowesen in Österreich (über das Kieninger 1992 seine Diplomarbeit schrieb), eine Erscheinung, die vor allem in Deutschland noch der Aufarbei- tung harrt. Da sich der Band um die ,filmische Erfüllung erotischer Phantasi- en< dreht, hätte man sich noch etwas mehr Informationen über den spezifi- schen Einsatz dieser Filmart auf dem Jahrmarkt gewünscht. Wie unterschied sich die Präsentation hier von der Vermarktung in ortsfesten Spielstätten? Waren die Filme fester Bestandteil des ambulanten Repertoires oder verzich- teten viele Wanderkinobesitzer darauf? Gab es Dörfer und Gemeinden, die streng gegen diese Art der Unterhaltung vorgingen bzw. Gegenden, die wenig Auflagen machten? etc. Da im Deutschen wie im Habsburger Reich selten of- fen über den Inhalt von »(Pariser) Herrenabenden« gesprochen wurde-in den Ausnahmefällen handelte es sich gewöhnlich um Proteste und Versuche, diese verbieten zu lassen -, ist es natürlich schwer, allgemeingültige Aussagen zu machen, weshalb sich Kieninger bei der Analyse auf die Praxis einzelner Be- triebe Qohann Bläser, die Briider Josef, Edmund und Fridolin Oeser, Oskar Gierke, Louis Geni,Johann Georg Lautermann) beschränkt. Dieses Problem hat auch Michael Achenbach bei seinem Beitrag zur Fir- mengeschichte von Saturn, da er oft zwischen den Zeilen lesen mußte bzw. auf Akten der Polizei oder Justiz angewiesen war, in denen es um Beschwerden 173 und Beanstandungen in Einzelfällen ging. Dank der Werbung, die die Firma anfänglich betrieb, um erste Kunden anzuziehen, und dem erwähnten Katalog lassen sich Rückschlüsse ziehen.auf das Image der Firma, die mit ihrer Pro- duktion ernsthafte künstlerische Ambitionen hatte: »Wir machen an dieser Stelle darauf aufmerksam, daß unsere Films rein künstlerischer Tendenz sind und wir auf das peinlichste vermeiden, der Schönheit durch Geschmacklosig- keit Abbruch zu tun.« (S. 80) Allein mit dem Wunsch, durch den angemelde- ten ,Kunstanspruch< die Obrigkeit geneigt zu stimmen, läßt sich dieser Zusatz nicht abtun, denn die »Hersteller und Kinobesitzer solcher pikanter Filme [bewegten sich, S.L.] ständig in einer Grauzone des Gesetzes« (S. 82) und wa- ren der Willkür ausgesetzt. Mal wurden Herrenabende problemlos genehmigt, mal strengstens untersagt oder mindestens teilzensiert, mal für Damen und Herren zugelassen, mal nur für Herren, mitunter auch freigegebene Program- me kurzfristig wieder verboten. Manchmal mußten sich Kinobesitzer gegen ein Strafverfahren wehren, manchmal interessierten sich die lokalen Autoritä- ten nicht für das Programm. Saturns Produktion lief bis Herbst 1910 unge- stört. Die vermutlich durch die mißbräuchliche Verwendung des Saturn- Logos bei einem Film der Konkurrenz verursachte Beschwerde eines höheren Staatsbeamten beim Außenministerium brachte zwar Ende 1909 eine erste Hausdurchsuchung, doch wurde kein belastendes Material gefunden. Ein an- onymes Schreiben 1910 an das Innenministerium führte schließlich zum Ver- bot der Firma im Februar 1911. Wie in Deutschland protestierten auch im Nachbarland Lehrer, Frauenvereine sowie die Kirche gegen die ,Unmoral der Kinematographen<, was schließlich eine negative Grundstimmung erzeugte und Motive für das Einschreiten gegen die Saturn-Produktion lieferte. Projektionen der Sehnsucht steht in der leider noch kleinen Reihe von Ver- öffentlichungen, die Text und Filmbild kombinieren: So brachte z.B. das Brit- ish Film Institute parallel zur Artikelsammlung Early Cinema. Space, Frame, Narrative (hrsg. v. Thomas Elsaesser, London 19 90) die beiden Videobänder Early Cinema. Primitives and Pioneers heraus. Weitere Beispiele sind Film und Schokolade von Martin Loiperdinger (Stroemfeld Verlag, Frankfurt 1999), eine Kooperation mit Les Archives du Film, sowie Peter Delpeuts Be-' gleitbuch und Kassette zur 4oteiligen Videoserie Cinema perdu mit Filmen des Nederlands Filmmuseum (erschienen im Verlag Bas Lubberhuizen, o.O. 1997). Das Filmarchiv Austria hat diesen Ansatz erweitert: Filmbilder und - analysen sowie deren historische Kontextualisierung durch Filmwissenschaft- ler werden durch die Beigabe von Quellenmaterial (Reprint des Firmenkata- logs) ergänzt, wodurch der Leser eigene Forschung betrieben kann. Es ist zu hoffen, daß diese Beispiel Schule macht. Sabine Lenk 174 Roger Smither (Hg.), First World War U-Boat: A Guide Published to Accom- pany the Video Release of the Films DER MAGISCHE GüRTEL and THE ExPLOITS OFA GERMAN SUBMARINE (U 35) OPERATING IN THE MEDITERRANEAN. London: Lloyd's Register of Shipping for the Imperial War Museum, 2000; 211 S., pbk., inkl. VHS-Video, ca. 80 min., viragiert und s/w. In KINt op 8 hat Sabine Lenk auf drei »V isualisierungsprojekte der medien- geschichtlichen Forschung« hingewiesen, die - teilweise sich neuer Techno- logien bedienend - auf »die visuelle und auch auditive Umsetzung von Er- kenntnissen« setzen und »einen direkten, einfachen, teilweise interaktiv spielerischen Zugang über Auge und Ohr ermöglichen« (S. 181). Neben den drei Beispielen, die Lenk präsentierte, kann nun auf zwei weitere Projekte hin- gewiesen werden, wenngleich beide sich der konventionelleren Methode von kombiniertem Buch und Video bedienen. Das Filmarchiv Austria hat seine Reihe »Edition Film & Text« mit einer Kompilation der erotischen Filmproduktionen der Wiener Firma Saturn und einem lesenswerten Begleitbuch begonnen (vgl. die Besprechung von Sabine Lenk). Das Londoner Imperial War Museum hat den deutschen Propaganda- Film DER MAGISCHE GüRTEL, den das Bufa 1917 auf dem U-Boot U. 3 5 drehen ließ, um in befreundeten und neutralen Ländern den uneingeschränkten U- Bootkrieg gegen England zu rechtfertigen, restauriert und in einer kombinier- ten Buch- und Video-Edition veröffentlicht. Das weitgehend von Roger Smither verfaßte Begleitbuch versteht sich als Guide und setzt entsprechend bei seinen Lesern keine Vorkenntnisse voraus. Die kursorische Geschichte der V-Boot-Entwicklung vor dem Ersten Welt- krieg, über Kampftaktiken der Waffe, die Rolle des U-Boot-Kriegs in der Pro- paganda und die Biographie des Kommandanten Lothar von Arnauld de la Periere, der U.35 auf ihrer Mission vom 31. März bis zum 6. Mai 1917 befeh- ligte, sind daher naturgemäß sehr allgemein halten und wollen lediglich Hin- tergrundinformationen aufrufen, die den Film kontextualisieren. Der Hauptteil des Buches (S. 5 5-128) besteht aus Einstellungsprotokollen von insgesamt vier Schnitt-Fassungen des Films, der nach dem Krieg von den Briten, Amerikanern und Franzosen - und zwar unter weitgehender Beibe- haltung der originalen Bildfolgen - für die anti-deutsche Propaganda einge- setzt wurde. Auch Arnauld de la Perieres Logbuch über die Feindfahrt, in dem übrigens die Anwesenheit des Kameramannes Loeser an Bord nicht erwähnt wird, ist hier in Übersetzung abgedruckt und offenbart chronologische Dis- krepanzen zwischen der filmischen Narration und den tatsächlichen Ereignis- sen. Der propagandistische Effekt von DER MAGISCHE GüRTEL scheint nicht all- zu groß gewesen zu sein. Martin Loiperdingers Studie über die Rezeption der deutschen Filme über den Handelskrieg - neben DER MAGISCHE GüRTEL auch EIN BESUCH BEI UNSEREN BLAUJACKEN und GRAF DOHNA UND SEINE »MÖWE« 175 (beide 1917)- belegt, wie sehr Bilder von untergehenden Schiffen dazu ange- tan waren, das Publikum emotional zu ergreifen und gegen eine Kriegsfüh- rung einzunehmen, die auf die Versenkung von zivilen Handelsschiffen ausge- richtet war. DER MAGISCHE GüRTEL wurde deshalb im neutralen Ausland oft nur vor handverlesenem Publikum gezeigt - eigentlich keine Propaganda mehr, sondern preaching to the confessed. Dagegen schien es ein Leichtes zu sein, die Bilder aus diesem Film für die Gegenpropaganda zu verwenden. Im Oktober 1919 erschien in England ein Film mit dem Titel THE ExPLOITS OF A GERMAN SUBMARINE (U.35) OPERATING IN THE MEDITERRANEAN, unter dem Motto »An amazing pictorial record of Hun submarine warfare taken from the deck of the U 3 5« (S. 150). Auch in den USA kursierten ab 1919 Filmmaterialien, die in ihren Bildteilen auf DER MAGI- SCHE GüRTEL zurückgingen. THE LOG OF THE U-3 5, wie die amerikanische Ver- sion schließlich hieß, benutzte auch Bilder, die in der britischen Version fehl- ten. Auch die französische Fassung, LA CROISIERE DE L'U. 3 5, die Gaumont im Februar 1920 veröffentlichte, beinhaltete einige Inserts, die in keiner anderen Fassung enthalten sind, auf die die deutschen Kritiken aber gelegentlich hin- gewiesen haben. Allen drei Fassungen ist gemein, daß sie durch veränderte Zwischentitel die Aussagen der Bilder in eine andere Richtung lenken und die Wirkabsicht der deutschen Propaganda - die Einhaltung der Humanität im Seekrieg durch die deutsche Kriegsmarine zu beweisen - mit dem Vorwurf der ungerechtfertigten Versenkung ziviler Handelsschiffe konterkarieren. Auch die deutschen Filme AUF EINER FERNFAHRT MIT u 3 5 ( 1921) und DEUTSCHES U- BooT AUF KAPERFAHRT (1939!) sind gekürzte Versionen von DER MAGISCHE GüRTEL, wie überhaupt Materialien aus diesem Film in zahlreichen Kompila- tionen verwendet wurden, gewiß nicht zuletzt in Georg Graffes jüngster ZDF-Dokumentation über Ernest Shackleton (HöLLENFAHRTEN: HELDENSA- GA IM EISMEER, D 2000). Die amerikanischen und französischen Fassungen ha- ben nur in kleinen Fragmenten überlebt. Die englische Fassung ist hingegen vom Imperial War Museum ebenfalls restauriert worden und wurde der Vi- deo-Edition beigegeben. Der Begleitband wird abgeschlossen von Beiträgen über die Restaurierung des Films, einer Reflexion über die spezifischen Probleme der Musik, die für die Bilder der beiden in ihrer Aussage gegenläufigen Filme suggestive Klänge finden mußte und einem Appendix zeitgenössischer Reaktionen auf die insge- samt vier verschiedenen Versionen von DER MAGISCHE GüRTEL. Handreichun- gen für den Einsatz des Videos im Schulunterricht sind gewiß eine sinnvolle Ergänzung für diese vorbildliche Edition. Ulijung Die Redaktion hat erhalten Gerhard Kemner, Gelia Eisert, Lebende Bilder. Eine Technikgeschichte des Films, Deutsches Technikmuseum, Berlin 2000, 159 S., reich ill. Instruktiver Überblick zur Technikgeschichte vor allem des frühen Films und der visuellen Medien des 19. Jahrhunderts, publiziert zur Eröffnung der entsprechenden Dauerausstellung im Deutschen Technikmuseum. Patrick Desile, Genealogie de la lumiere. Du panorama au cinema, L'Harmattan, Paris 2000, 302 S., 1 50 FF. Die auf einer Dissertation von 1992 beruhende Studie über die vielfältigen visuellen Medien des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf die Rolle von Licht und Beleuchtung beschreibt auch die Kinematographie als eine spezifische Praxis des Lichts. Laurent Mannoni, Etienne-Jules Marey. La memoire de l'oeil, Cinematheque franc;aise / Edizioni Gabriele Mazzotta, Milano 1999, 41 8 S., ill., J 5o FF. Reichhaltig illustrierte und vorzüglich dokumentierte Studie zu Leben und Werk des französischen Physiologen und Chronophotographen. John Fullerton, Astrid Söderbergh Widding (Hg.),Moving Images: From Edi- son to the Webcam, John Libbey, Sydney 2000, 201 S., ill. Ausgewählte Beiträge der Tagung »Technologies of Moving Images« vom Dezember 1998 in Stockholm mit Aufsätzen zum frühen Kino von Alison Griffiths (Anfänge des ethnographischen Films), Jan Holmberg (Teleskope in frühen Filmen), Solveig Jülich (Röntgenphotographie und früher Film), Frank Kessler (Feerien) und Paul C. Spehr (Entstehung des 35mm-Filmformats). Thierry Lefebvre, Jacques Malthete, Laurent Mannoni (Hg.), Lettres d 'Etienne-]u les M arey a Georges Demeny 1880-1894, Association franc;aise de recherche sur l'histoire du cinema / Bibliotheque du film, Paris 1999, 541 S., ill., 2 5o FF. Die ausführlich kommentierte Ausgabe umfaßt 422 Briefe von Marey an Demeny, 18 Briefe von Demeny an Marey sowie einen Anhang mit 59 weiteren Briefen von und anMarey. Frederic Zarch, Catalogue des films projetes aS aint-Etienne avant la premiere guerre mondiale, Publications de l'Universite de Saint-Etienne, Saint-Etienne 2000, 474 s., 150 FF. Chronologisches Repertorium der zwischen April 1896 und Juli 1914 in Saint- Etienne aufgeführten Filme; Titelwiedergabe in französisch, ohne Originaltitel der Importfilme; filmographische Daten, soweit ermittelbar; ausgewählte Inhaltsbe- schreibungen und -analysen aus der zeitgenössischen oder späteren Publizistik; al- phabetische Namens- und Titelindices, kein Kreuzindex der Originaltitel. 177 Marie-Helene Gutberlet, Zur Repräsentation von Frauen und Geschlechter- verhältnissen in sogenannten ethnographischen und kolonialen Filmen ( r9ro- r960)- eine kommentierte Filmagraphie, Mitteilungen des Zentrums für Frau- enstudien, J. W. Goethe-Universität Frankfurt am Main, Nr. 5/Mai 2000, 202 S., ca. 10 DM. Hilfreiche Sichtung zahlreicher einschlägiger Filme der Frühzeit aus der Sammlung des N ederlands Filmmuseum, mit Kurzbeschreibung, Kommentierung und Anregun- gen zur Programmierung. Reinhold Zwick, Otto Huber (Hg.), Von Oberammergau nach Hollywood. Wege der Darstellung]esu im Film, Katholisches Institut für Medieninforma- tion, Köln 1999, 302 S., ill., 32 DM. Otto Huber über die Attraktivität Oberammergaus um die Jahrhundertwende; Über- setzung von Charles Mussers »Passions and the Passion Play« (Film History, 1993); Farbreproduktion von 78 kolorierten Laterna Magica-Bildern, welche die Passion 1910 dokumentieren. John Fullerton,Jan Olsson (Hg.),Nordic Explorations: Film Before r930,John Libbey, Sydney 1999, 280 S., ill. Als Begleitband zu den Giornate del Cinema Muto 1999 erschienene Aufsatzsamm- lung zum dänischen, finnischen, norwegischen und schwedischen Kino der zehner und zwanziger Jahre. Richard Brown, Barry Anthony, A Victorian Film Enterprise. The History of the British Mutoscope and Biograph Company, r897-r9r5, Flicks Books, Wiltshire 1999, 34 5 S., ill., 4 5 f'. Bahnbrechende Monographie zur Firmengeschichte des britischen Unternehmens vonM&B. Luke McKernan (Hg.), A Yank in Britain. The Lost Memoirs of Charles Ur- ban, Film Pioneer, The Projection Box, Hastings 1999, 95 S., ill., 9.95 f'.. Annotierte Edition der bisher unbekannten Erinnerungen, die Charles Urban 1942 in den letzen Monaten seines Lebens handschriftlich verfaßt hat. Marguerite Engberg, Filmstjernen Asta Nielsen, Klim, Aarhus 1999, 191 S., reich ill. Umfassende Monographie in dänischer Sprache. Elena Dagrada, La rappresentazione dello sguardo nel cinema delle origini in Europa. Nascita della soggettiva, CLUEB, Bologna 1998, 343 S., ill., 42.000 Lit. Historisch-theoretische Studie zum Point-of-view-shot im frühen Film mit einer aus- führlich kommentierten Filmographie. 178 Mitteilungen aus dem Bundesarchiv, 8.Jg. (2000), Nr. 1, 89 S., ill. Egbert Koppe zum Stand der Restaurierungsarbeiten am filmischen Nachlaß Sklada- nowskys; Hans-Gunter Voigt zur Geschichte der Wochenschauen in Deutschland bis 1918. montage/AV, 8.Jg., Nr. 2, 1999, Populäre Figuren, 134 S., ill., 20 DM. Annette Förster über die französische Schauspielerin Musidora und die von ihr ver- körperte Gestalt der Irma Vep in LEs VAMPIRES von Louis Feuillade (1915116). Film History, vol.11, no. 3, 1999, Early Cinema, 150 S., ill., 20 US-$. Frank Gray zur Debatte Smith versus Melbourne-Cooper in K!Ntop 3, 4 und 5; lvo Biom kommentiert Anton N öggeraths Erinnerungen an seine Arbeit als Kameramann 1898-1908; Alison Griffiths über die Anfänge des ethnographischen Films im frühen Reisefilm; Scot Barme über frühes Kino und Filmproduktion in Thailand; Robert Spadoni über Vitagraph und die Entwicklung des shot/reverse shot; David Mayer über die Entstehung von Griffith's A DRUNKARD's REFORMATION; Michael Harnmond zur Rezeption von THE ßIRTH OF A NATION in England; John Hiller über frühe kine- matographische Apparate in der Smithsonian Photo History Collection. Film History, vol. 11, no. 4, 1999, Global Experiments in Early Synchronous Sound, 104 S., ill., 20 US-$. Zwölf Beiträge zum Thema, die auf die Domitor-Konferenz 1998 in der Library of Congress zurückgehen. Griffithiana, Nr, 6 5, Oktober 1999, 1 59 S., ill., 40.000 Lit. Bo Berglund über Arbuckle und Keaton; Eric Lange über einen Zufallsfund von 90 Filmen zwischen 1896 und 1906; Diane Smith und Robert Singer zum Naturalismus in Griffith's Temperenz-Filmen; Michael Achenbach und Paolo Caneppele über die Erotikfilme der Wiener Saturn-Film. lconics - International Studies of the Modem Image, vol. 5 (2000), Japan So- ciety of Image Artsand Sciences, 166 S., 2000 Yen. Englischsprachiger Beitrag von Frank Kessler zum Genre der Feerie. 1895, Nr. 29, Dezember 1999, 190 S., ill., 100 FF. Olivier Joos zu Jahrmarktkino und Wanderkinematographen in den Minengebieten des Pas de Calais und Douai von 1895 bis 1914; Alain Carou über Prozesse namhafter Autoren gegen Filmproduzenten und -auswerter in Frankreich zwischen 1906 und 1909. Cinematheque, Nr. 16, Herbst 1999, 142 S., ill., 100 FF im Abo. Laurent Veray über Kriegsfilme der Jahre 1914-1918. Cinematheque, Nr. 17, Frühjahr 2000, 114 S., ill., 100 FF im Abo. Claudine Kaufmanns »Tagebuch der Restaurierung«, Teil 4, über zwei französische Filme von 1912. 179 Archives, Nr.81, August 1999,A la recherche d'objets filmiques non identifies, 20 S., ill., 30 FF. Alison MacMahan und Sabine Lenk über das Wiederauffinden bzw. Identifizieren von Filmen Alice Guy-Blaches. Reseaux, Nr. 99, 2000, Cinema et reception, 286 S. Frank Kessler zur historisch-pragmatischen Analyse eines frühen Nonfiction-Films. Fotogenia, Nr. 4-5, 1999, 386 S., 65.000 Lit. Sondernummer zur Neubewertung des italienischen Stummfilms, alle Beiträge auf italienisch sowie in englischer oder französischer Übersetzung; zum frühen Film u.a. lvo Blom, Gian Piero Brunetta, Michele Canosa, Monica Dall'Asta, Giovanni Lista, Andrea Meneghelli und Irmbert Schenk. lmmagine - Note di Storia del Cinema, Nr. 40-41, 1998, 9000 Lit. Auszugsweiser Abdruck der ersten offiziellen Stellungnahme der katholischen Kir- che zum Kino aus dem Jahr 1914, mit einer Einleitung von Giovanni Marchesi. 180 Die Autorinnen und Autoren Herbert Birett, Autor von Lichtspiele, Das rich und leitet derzeit ein Forschungspro- Kino in Deutschland bis 1914 bezeichnet jekt zur nichturbanen Kinogeschichte der sich selbst als »Hobby-Filmhistoriker«. Deutschschweiz, das vom schweizerischen Nationalfonds unterstützt wird. Publika- Amelie Duckwitz studiert Medienwissen- tionen über japanische Gespenster, jiddi- schaft, Soziologie und Politikwissenschaft sche Filmgeschichte und Stummfilm. an der Universität Trier. Martin Loiperdinger lehrt Medienwissen- Jeanpaul Goergen, Filmhistoriker, Vor- schaft an der Universität Trier. standsmitglied von Cinegraph Rabelsberg, arbeitet u.a. für das DFG-Projekt »Ge- Lars Novak hat das Studium der Theater- schichte und Ästhetik des dokumentari- wissenschaft, Germanistik und Philosophie schen Films in Deutschland«, lebt in Berlin. an der Freien Universität Berlin abge- schlossen und promoviert jetzt zum Thema Michaela Herzig studiert Medienwissen- psychoanalytische Filmtheorie. schaft, Soziologie und Betriebswirtschafts- lehre an der Universität Trier. Anne Paech, Filmhistorikerin, arbeitet über die deutsche Kinogeschichte. Neue- Bert Hogenkamp leitet die Forschungsab- stes Buch: Menschen im Kino (mit Joachim teilung des Nederlands Audiovisueel Ar- Paech, Stuttgart/Weimar 2000). chief und ist außerordentlicher Professor für die Geschichte von Film, Radio und Roberta E. Pearson ist Reader in Media and Fernsehen an der Universität Utrecht. Cultural Studies an der Universität Cardiff. Neuestes Buch: Film, Television and the Sie schreibt derzeit mit William Uricchio Left in Britain, 1950 to 1970 (Lawrence & The Nickel Madness (University of Cali- Wishart, London 2000). fornia Press). Karsten Hoppe studiert Medienwissen- Astrid Söderbergh Widding lehrt Cinema schaft, Ethnologie und Soziologie an der Studies an der Universität Stockholm und Universität Trier. ist Mitherausgeberin der schwedischen filmwissenschaftlichen Zeitschrift Aura. Uli Jung, Filmhistoriker, ist wissenschaftli- cher Mitarbeiter des DFG-Projekts »Ge- Susanne Theisen studiert Medienwissen- schichte und Ästhetik des dokumentari- schaft, Anglistik und Politikwissenschaft schen Films in Deutschland« an der an der Universität Trier. Universität Trier. William Uricchio ist Professor für Compa- Frank Kessler unterrichtet Film- und Fern- rative Media Studies am MIT (Massachus- sehwissenschaft an der Universität Ut- sets) und an der Universität Utrecht. Er recht. schreibt derzeit mit Roberta E. Pearson The Nickel Madness (University of Cali- Sabine Lenk leitet das Filmmuseum der fornia Press). Stadt Düsseldorf. Jörg Wollseheid studiert Politikwissen- Mariann Lewinsky unterrichtete zehn J ah- schaft und Medienwissenschaft an der Uni- re Filmwissenschaft an der Universität Zü- versität Trier. 181