212 MEDIENwissenschaft 02/2016 Christian Hadorn: Der Schock des Wirklichen: Wissenschaftsfilm und Pariser Avantgarde Marburg: Schüren 2015, 208 S., ISBN 9783894728908, EUR 29,90 Christian Hadorn befasst sich in seiner ein hinführender über die „Blütezeit des Monografie mit einem „heute weit- wissenschaftlichen Films in Frankreich gehend vergessenen – äußerst vitalen und Europa“ vor dem Ersten Weltkrieg, Diskurs“ (S.11): der theoretischen und dann der eigentliche Hauptteil über sei- künstlerischen Rezeption des frühen nen Widerhall in der Pariser Avantgarde Wissenschaftsf ilms. Wissenschaft- der 1920er Jahre. Vorab stellt Hadorn die liche Bildproduktion als abenteuerliche grundsätzliche Definitionsfrage „Was ist „Erschließung unbekannter Räume“ ein Wissenschaftsfilm?“, die er anhand stand dem Kino in den 1910er Jahren des Zusammenspiels analytischer wie „so nah wie später selten mehr“ (S.40), rhetorischer Funktionen diskutiert. Hier sie war äußerst populär und befand sich verweist der Autor auch auf die frühe somit keineswegs im Gegensatz zur Dreiteilung des Marktes in fachwis- Unterhaltungsindustrie. Zugleich las- senschaftliche, edukativ vermittelnde sen sich ihre Spuren in Filmen, Texten und populäre, für ein breites Publikum und Aktivitäten der Avantgarde verfol- gedachte documentaires – mit der interes- gen – wie in der vorliegenden Studie, santen Anmerkung, dass zum Beispiel die zunächst ganz dem Biologen und Jean Painlevé die edukative Form zugun- Filmemacher Painlevé gewidmet sein sten der anderen beiden ausblendete, da sollte. Hadorn öffnet den Fokus auf es in der avantgardistischen Filmkultur die Vielfalt der Beziehungen zwischen weniger um „Vermittlung von Realität Wissenschaftsfilm und Avantgarde, […] sondern vielmehr die unmittelbare doch mit zeitlicher und topografischer Erfahrung von Realität“ (S.29) ging. Konzentration auf das Paris der 1910er Im ersten Teil erläutert Hadorn und 1920er Jahre, und positioniert sich technische Stationen des Wissenschafts- „zwischen new film historicism und films wie Hochgeschwindigkeitskamera ‚Bildwissenschaft‘ […] eher auf der Seite und Mikrokinematografie und verweist der Geschichte (und Theoriegeschichte)“ auf Widerstände aus der Wissenschaft (S.15f.). Dabei wird auch nachvollzieh- gegen die „machtvolle neue ästhetische bar, warum sich der Korpus von den Welt“, die „den nüchternen Geist zu nur vereinzelt erhaltenen Filmen auf kontaminieren“ (S.40) drohte, aber theoretische Texte beziehungsweise auch auf berufliche Transgressionen paratextuelle Materialien wie Filmge- zwischen Forschungsinstituten und schichtsbücher, Filmprogramme oder den Filmfirmen Gaumont und Pathé. Plakate verschoben hat. Er rekonstruiert die Anfänge populär- Die mit einem umfangreichen wissenschaftlicher Filmvorführungen Anhang aus Originaltexten versehene (u.a. die Serie The Unseen World [1903] Publikation gliedert sich in zwei Teile: im Ba-ta-Clan) und die explosionsartige Fotografie und Film 213 Blüte vor allem zoologisch-botanischer allem in seiner spezifischen Bewegungs- Produktionen um 1910. Als stilistische kunst und seinem dynamischen, zeitlich Elemente der Filme nennt er an erster orientierten Bezug zum Lebendigen Stelle den Gebrauch von Zeitraffer und – einem „Avantgardismus der Bewe- Zeitlupe, die er als „Elemente einer gung“ (S.154), ähnlich wie es bereits die filmspezifischen, kinematographischen Chronofotografie für den Futurismus Ursprache“ (S.16) wertet. Darüber leistete. Darin schien ein Versprechen hinaus macht er den Begriff der ‚Terri- auf den Film der Zukunft jenseits von bilisierung‘ stark – das schockartige narrativer Repräsentation und „kom- Übersteigern filmischer Sujets etwa merziellen, theaterhaften Filmproduk- durch Vergrößerungseffekte, aber auch tionen“ (S.152) zu liegen. durch entsprechende Beschreibungen in Nur in einem kleinen Ausblick wen- Reklame und Katalogeinträgen. det sich Hadorn abschließend noch Im Hauptteil folgt Hadorn sei- dem Surrealismus zu, mit Verweisen auf ner zentralen Fragestellung, wie und André Breton, Salvador Dalí und den warum der wissenschaftliche Film nach ursprünglich im Mittelpunkt stehenden dem Ersten Weltkrieg zum „Denkmo- Painlevé, der eine ganz andere Wis- dell der filmischen Avantgarde und […] senschaftlichkeit verkörpere: Epstein Ahnvater eines unkommerziellen und nutzte die „Aufdeckungsqualitäten“ des filmspezifischen Gegenkinos“ (S.68) wissenschaftlichen Films, um „umfas- wurde. Auch dieser Teil ist zunächst senden Bewegungsaspekten des neuen eher faktografisch gehalten, etwa im Mediums auf den Grund zu gehen“, spannend zu lesenden Kapitel „Veran- Painlevé dagegen um „die Lebenswelt staltungen, Ereignisse“, das die Pro- des einzelnen, meist bizarren, meist gramme und Teilnehmenden mehrerer aquatischen Tiers offenzulegen und zu Filmcluberöffnungen zusammenträgt – zelebrieren“ (S.8). Hier sieht Hadorn die paratextuelle Lektüre ist an dieser weiteren Forschungsbedarf. Seine – Stelle besonders ergiebig. In den theo- trotz des etwas unscharfen Avantgar- retisch orientierten Kapiteln liegt der de-Begriffs – historisch klar fokussierte Schwerpunkt auf Jean Epstein; dem- Arbeit, die „nicht nur ein marginales gegenüber kommt Germaine Dulac (die Phänomen“ (S.18) verhandelt, sondern ähnliche Zusammenhänge reflektiert, an die Grundlagen der Filmgeschichte ohne jedoch den nachhaltig etablierten rührt, bietet auch darüber hinaus viel- Begriff ‚Photogénie‘ zu verwenden) fältige Anschlussmöglichkeiten. Sie etwas zu kurz – auch die Erläuterungen könnten beim Surrealismus ansetzen, zu Texten von Colette und Émile aber auch bei epistemischen Bildern der Vuillermoz haben eher ergänzenden Gegenwart und der noch (oder wieder) Status. Es sind vor allem Epsteins stark wahrgenommenen Beziehung von Texte, an denen Hadorn seine Thesen Kunst, Film, Dokumentarismus und entwickelt. Der Stellenwert des wissen- Wissenschaft. schaftlichen Films für die Avantgarde der 1920er Jahre bestand demnach vor Natalie Lettenewitsch (Paderborn)