7,5 mm Wem gehört die Wahrheit Der politische Gegner im Visier der Kamera Symposium Do 31.10.2019 | Fr 1.11.2019 Eintritt frei. Um Anmeldung wird gebeten: symposium@dok-leipzig.de Kupfersaal, Leipzig #VertieftEuch Eine Veranstaltung von DOK Leipzig, www.dok-leipzig.de gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung, www.bpb.de 69 IS SN 1 43 3- 20 51 Filmblatt 24. Jg., Herbst 2019 10,– € FI LM B LA TT 6 9 Fokus DDR Perspektivwechsel bei Fontane Corinna Schmidt (1951) Der Filmkomponist Günter Kochan Helke Misselwitz’ Frühwerk Engel aus Eisen (1981) von Thomas Brasch Jürgen Rudows Visuelle Anthropologie Als Nachwendebaustelle in plus-minus null (1998) Und in der BRD? Malocher auf zwei Rädern Helden der Landstrasse (1950) 7,5 mm ! Film in der edition text+kritik Jürgen Kasten / Ursula von Keitz / Frederik Lang / Philipp Stiasny (Hg.) Ufa international Ein deutscher Filmkonzern mit globalen Ambitionen etwa 350 Seiten, zahlreiche s/w-Abbildungen ca. € 39,– ISBN 978-3-86916-873-9 Keine andere deutsche Film! rma genießt einen solchen Ruf wie die Ufa. Im In- und Ausland war und ist ihr Name ein Synonym für großes Kino, aber auch für seine Verquickung mit verdeckten wirtschaftlichen, politischen und ideologi- schen Interessen. Von Beginn an versuchte die Ufa eine zweigleisige Strategie – sie produzierte monumentale Spiel! lme für den Export und Genrekino für den nationalen Markt. Dieses Wechselspiel von internationaler und nationaler Ausrichtung wird in »Ufa international« aus vielen Perspektiven neu untersucht. Ufa international Ein deutscher Filmkonzern mit globalen Ambitionen Jürgen Kasten / Ursula von Keitz / Frederik Lang / Philipp Stiasny (Hg.) Schriftenreihe der DEFA-Stiftung Weitere Titel der Schriftenreihe fi nden Sie unter: www.bertz-fi scher.de/defa-stiftung.html mail@bertz-fi scher.de Newsletter: bertz-fi scher.de/newsletter Grit Lemke Unter hohen Himmeln. Das Universum Volker Koepp Gespräche und Refl exionen ca. 300 Seiten | 35 Fotos | Hardcover ¤ 25,- [D] / ¤ 25,70 [A] | ISBN 978-3-86505-416-6 In fünf Jahrzehnten hat Volker Koepp über 60 Do- kumentarfi lme gedreht und ist damit einer der we- nigen DEFA-Re gisseure, die sich vor und nach 1989 mit einem bedeutenden Œuvre in die internatio- nale Filmgeschichte ein- geschrieben haben. Men- schen und Landschaften, die Vergangenheit im Ge- genwärtigen sind Koordi- naten dieses Werks. In größeren und kleineren Gesprächsrunden über und mit Volker Koepp ge- ben Menschen Einblick in die Zusammenarbeit mit dem Regis- seur und ihre Begegnung mit seinen Filmen. Der Band ist zu- gleich eine Fallstudie über die Ästhetik und Ethik des Dokumen- tarfi lms, Produktionsbedingungen und ihren Wandel, über Ost und West, Poesie und Magie. Filmblatt 69 ∙ 2019 1 Editorial Als Thomas Brasch 1981 der Bayerische Filmpreis verliehen wurde, brüskierte er einen Teil des Publikums mit einer Danksagung an seine Ausbildungsstätte in der DDR, der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg. Den Preis bekam Brasch, der die DDR 1976 verlassen hatte, für sein Langfilmdebüt Engel aus Eisen, einen späten Trümmerfilm. Was diesen Film  – ebenso wie seinen Regisseur  – auszeichnet, ist sein unbequemer Blick auf Geschichte und Gegenwart beider Teile Deutschlands, auf Ost und West, wie Christian Rogowski in seinem Beitrag ausführt. Fast zur gleichen Zeit unternahm auch Helke Misselwitz erste Filmexpeditionen in die deutsche Geschichte, die zwischen Dokumentation und Spielfilm changierten. Dass ihre Studentenfilme an der zwischenzeitlich umbenannten Hochschule für Film und Fernsehen der DDR weiterhin sehenswert sind, zeigt Ralf Forsters Untersuchung. Wie im Fall von Brasch und Misselwitz gilt ungewöhnlichen Perspektiven und Perspektivverschiebungen auch das Interesse anderer Aufsätze im neuen Filmblatt. So steht 1951 in Artur Pohls DEFA-Verfilmung von Theodor Fontanes Frau Jenny Treibel nicht mehr die Strippenzieherin Jenny Treibel im Zentrum der Handlung, sondern ihre Antagonistin, die gebildete, aber mittellose Professorentochter Corinna. Folgerichtig hieß der fertige Film auch Corinna Schmidt, den Anett Werner-Burgmann zum Ausklang des Fontanejahrs näher vorstellt. Keine Literaturverfilmung, sondern die Filmbiografie des Schriftstellers Carlo Goldini ist Italienisches Capriccio, eine DEFA-Produktion von 1961 unter der Regie des Italieners Glauco Pellegrini. Bereits im Titel seines Aufsatzes bezeichnet Wolfgang Thiel den Film kokett als misslungen, um im Gegenzug herauszuarbei- ten, wie gut die Musik des Filmkomponisten Günter Kochan ist. Einen Vertreter der visuellen Anthropologie im DDR-Dokumentarfilm stellt Anne Barnert vor: Dem in Moskau an der WGIK ausgebildeten Regiekameramann Jürgen Rudow gelangen in seinen Arbeiten für die Staatliche Filmdokumentation der DDR Mitte der 1980er Jahre Aufnahmen und Beobachtungen von Alltagswirklichkeit in der DDR, die sich deutlich unterscheidet vom Ansatz der DEFA-Dokumentaristen. Schaut ein Ausländer anders auf Berlin als ein Deutscher? Der Ire Eoin Moore zog schon vor dem Mauerfall nach West-Berlin und studierte später an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. In seinem Abschlussfilm plus- minus null (1998), dessen Entstehungsgeschichte Frederik Lang beleuchtet, hält Moore seinen ganz eigenen Blick auf die Baustellenhauptstadt Ende der 1990er Jahre fest; es war zugleich der Beginn einer langjährigen Zusammenarbeit mit dem 2017 verstorbenen Schauspieler Andreas Schmidt, der unser Cover ziert. Die Redaktion Im September 2019 Filmblatt 69 ∙ 20192 Corinna Schmidt, Progress Filmillustrierte, 1951 (Filmmuseum Potsdam) Filmblatt 69 ∙ 2019 3 Anett Werner-Burgmann Die „echte Fontaneluft“ mit neuer Heldin Aus Frau Jenny Treibel wird Corinna Schmidt (1951) Wiederentdeckt 282, 4. Oktober 2019 „,Kleine Wäsche – Rührkarto"eln und Karbonade‘, sagt Frau Jenny Treibel. Die Ka- mera hat unsere Blicke dem kommerzienrätlichen Wagen in die enge Adler straße und Frau Jennys Eintreten in die Wohnung des Professors Schmidt folgen lassen, wo sie der Schmolken diese Worte sagt. Das mit überflüssigen Nichtigkeiten nach dem Geschmack der damaligen Zeit überladenen Zimmer, die ganze bürgerliche Ge- mütlichkeit der Gründerjahre und echte Fontaneluft blenden in der Szene auf, in der die beiden Hauptfiguren, die junge Corinna und Jenny Treibel, einander begrü- ßen. Schon diese ersten Meter des neuen Defa-Films Corinna Schmidt […] nehmen uns gefangen. Ein Zustand, der erst mit Hellwerden des Filmtheaters endet.“1 In ihrer Rezension beschreibt Elisabeth Borchardt die Eröffnungssequenz von Artur Pohls Romanverfilmung Corinna Schmidt (1951) nach Theodor Fontanes hei- terem Gesellschaftsroman Frau Jenny Treibel oder „Wo sich Herz zum Herzen find’t“, der erstmals 1892 als Vorabdruck in der Deutschen Rundschau erschien. Die Erstver- filmung durch die DEFA feierte beinahe sechzig Jahre später am 19. Oktober 1951 sowohl im Kino Babylon als auch im DEFA-Filmtheater Kastanien allee ihre Premiere. Die Adaption „frei nach dem Roman ,Jenny Treibel‘ von Theodor Fontane“ – so der Untertitel – verspricht laut Borchardts Filmkritik nicht nur ein unterhaltsames wie fesselndes Kinovergnügen, sondern geht noch einen Schritt weiter. Schließ- lich soll durch die erste eigene Fontane-Verfilmung der DDR sogar ein Hauch der „echte[n] Fontaneluft“ wehen.2 Auf eine möglichst stilechte und überzeu- gende Inszenierung des Berliner Gründerzeitmilieus legten Pohl und sein Film- team großen Wert. Das zeigen eindrücklich die sorgfältig gestalteten und wohl durchdachten Filmsets3 als auch die vielen überlieferten Entwurfszeichnungen 1 Elisabeth Borchardt: Corinna will Leopold nicht mehr. In: Dtschl. Stimme, Nr. 43, 21.10.1951, S. 6. 2 Die DDR hatte zuvor die bereits vor 1945 begonnene Fontane-Adaption Ich glaube an Dich! (1944/50, R: Rolf Hansen) beendet und in die Lichtspielhäuser gebracht. Der Film ba- siert auf Motiven von Fontanes unvollendet gebliebenen Nachlassroman Mathilde Möhring, der 1906 in dem Familienblatt Die Gartenlaube verö-entlicht wurde. 3 Erich Zander, Karl Schneider, Franz Koehn und Hermann Asmus zeichneten für das Sze- nenbild verantwortlich. Unterstützt wurden sie von dem Kunstmaler Werner Zieschang, von Willy Poetke für die Außenrequisite und für den Bereich der Innenrequisite von Fritz Stemmer und Raimund Krause. Filmblatt 69 ∙ 20194 des Szenenbildners Karl Schneider, die deren Ba- sis bildeten.4 Schneider gehörte nach dem Zwei- ten Weltkrieg einer neuen Generation von Szenen- bildnern an. Er arbeitete ab 1948 bei der DEFA und fertigte im Team des da- maligen Chef-Architekten Erich Zander Entwür- fe an, die er zudem auch bautechnisch umsetzte.5 23  solcher Szenenbildent- würfe zu Corinna Schmidt sind erhalten. Schneiders charakteristischen Feder- und Tuschzeichnungen, die im Passepartout ge- rahmt sind, erlauben uns heute einen besonderen Einblick in Arbeitsweisen und ästhetische Inszenie- rungsstrategien der DEFA- Literaturfilmproduktion in ihren Anfangsjahren.6 4 Die Szenenbildentwürfe stammen von Karl Schneider, auch wenn nicht alle überlieferten Zeichnungen signiert sind, was in der Vergangenheit die Zuordnung erschwerte. Schneider hatte sechs Entwürfe zu Corinna Schmidt, die sich noch in seinem Besitz befanden, nachträg- lich signiert, ehe er sie dem Filmmuseum Düsseldorf überließ. Die restlichen siebzehn Zeich- nungen – und damit der weitaus größere Teil – sind mit dem Nachlass des Szenenbildners Erich Zander in die Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin übergegangen. Die Entwürfe aus diesem Bestand weisen zwar keine Signaturen auf, stimmen aber stilistisch mit den sorgfältig lavierten Federzeichnungen aus Düsseldorf überein. Zander war o-enbar ein passionierter Sammler, denn in seinem Nachlass findet sich eine große Zahl an Szenenbildentwürfen und Skizzen anderer Szenographen. 5 Vgl. Heidi Draheim, Thomas Lieten: Karl Schneider. Ein Maler, der Bilder baut. Düsseldorf: 1993, S. 5. Zander war schon in den 1920er Jahren als Filmarchitekt tätig und wirkte sowohl im nationalsozialistischen Film als auch bei der DEFA. Zwischen 1940 und 1944 stattete er fünf Spielfilme von Veit Harlan aus. Es ist au-ällig, dass sich aus dieser Scha-ensperiode kaum Entwurfszeichnungen in seinem Nachlass erhalten haben. 6 Die Rahmung kann auf eine womöglich interne Ausstellung der Entwürfe hinweisen. Auf dem festen Karton ist die Bezeichnung des Raumes mit dünnen Bleistiftlinien festgehalten. Artur Pohl bei Dreharbeiten, o. J. (Foto: DEFA- Stiftung, Filmmuseum Potsdam) Filmblatt 69 ∙ 2019 5 Die szenographische Gestaltung ist dabei als Bedeutungsträger integraler Bestandteil der filmischen Bearbeitung. Für ein heutiges Publikum, dessen Blick auf Fontane und die Kaiserzeit sich gewandelt hat, ist diese Inszenierung jedoch keineswegs mehr selbsterklärend und verlangt geradezu nach einer Dechiffrie- rung. „Kommunistische Umtriebe“ oder Der verbotene Fontane. So unverfäng- lich und harmlos dieses Filmvergnügen in Borchardts Besprechung und aus ge- genwärtiger Perspektive wirken mag, hatte diese Fontane-Adaption wie kaum eine andere das Zeug, zu polarisieren und in die Mühlen der Zensur zu geraten. Mitten im Kalten Krieg wurde dem Film in der Bundesrepublik der Adenauer-Zeit vorgeworfen, „umstürzlerische kommunistische Gedanken fördernde Tenden- zen“ zu präsentieren.7 Die Mitglieder des Interministeriellen Filmausschusses gaben Corinna Schmidt nicht für die gewerbliche Vorführung frei. Das mag bei einem Fontane-Stoff wie Frau Jenny Treibel, der in einem zutiefst bürgerlichen Milieu verankert ist, auf den ersten Blick verwundern. Die Gründe für das Verbot sind sowohl in den inhaltlichen Verschiebungen der Filmadaption im Unterschied 7 Stephan Buchloh: „Pervers, jugendgefährdend, staatsfeindlich“. Zensur in der Ära Adenauer als Spiegel des gesellschaftlichen Klimas. Frankfurt a. M., New York 2002, S. 227. Die Szenenbildner Karl Schneider und Erich Zander bei den Dreharbeiten zu Die blauen Schwerter (DDR 1949, R: Wolfgang Schleif ) (Foto: DEFA-Stiftung / Erich Kilian; Sammlung Michael Schneider) Filmblatt 69 ∙ 20196 zur Literaturvorlage als auch in der szenographischen Ausgestaltung zu suchen. In Corinna Schmidt geht beides Hand in Hand. So verlegt Artur Pohl, der auch das Drehbuch schrieb,8 den Schwerpunkt von der zur Kommerzienrätin aufgestiegenen Jenny Treibel – gespielt von der bekann- ten Kabarettistin, Sängerin und Schauspielerin Trude Hesterberg – hin zu der ge- witzten wie schönen Professorentochter Corinna Schmidt.9 Die beiden Protago- nistinnen stehen sich als Kontrahentinnen gegenüber. Die Titelheldin Corinna, dargestellt von der Berliner Theater- und Filmschauspielerin Ingrid Rentsch, wächst ohne Mutter in einem kleinbürgerlichen Haushalt auf. Sie bewundert Jenny Treibel, die aus kleinen Verhältnissen kommend den Aufstieg geschafft hat. Der häuslichen Enge will Corinna wie im Roman entfliehen. Eine Heirat mit 8 Das Filmexposee und das dramaturgische Handexemplar verfassten die Schriftstellerin und Drehbuchautorin Dinah Nelken (eigentlich Bernhardine Ohlenmacher-Nelken) und Heine Ohl im Mai 1950. Vgl. Dinah Nelken, Heine Ohl: Exposee zu einem Film aus Alt-Berlin Corinna Schmidt frei nach dem Anti-Bourgeois-Roman „Frau Jenny Treibel“ von Theodor Fontane. o.O. 1950, Sammlung Filmmuseum Potsdam, 31/1998/DB. 9 Trude Hesterberg spielte nach dem Zweiten Weltkrieg hauptsächlich in Filmprojekten der Bundesrepublik, wurde von der DEFA neben Corinna Schmidt noch für Wolfgang Staudtes Märchenadaption Die Geschichte vom kleinen Muck (1953) engagiert. Leutnant a. D. Vogelsang (Egon Brosig) küsst beim Empfang die Hand der Gastge- berin Jenny Treibel (Trude Hesterberg) (Foto: DEFA-Stiftung / Herbert Kroiss) Filmblatt 69 ∙ 2019 7 Leopold, dem willensschwachen jüngeren Sohn der wohlhabenden Familie Treibel, scheint ihr das geeignete Mittel.10 Auf einer Gesellschaft im Hause des Berliner Blau- Fabrikanten Treibel zieht Corinna Leopold in ihren Bann. Während dieser zum Ärger seiner Mutter und seiner Schwägerin Helene vom Charme der jungen Frau ganz hingerissen ist, ignoriert Corinna die Warnungen ihres älteren Vetters Marcel Wedderkopp, sich auf eine Verbindung mit den neureichen Treibels einzu- lassen. Marcel, ein Gymnasiallehrer und glühender Sozialdemokrat, ist schon lan- ge selbst in Corinna verliebt. Jenny wünscht sich hingegen eine reiche Partie für Leopold, doch auch die Schwiegertochter verfolgt ihre eigenen Absichten, denn sie möchte gern ihre Schwester Hildegard mit dem jüngsten Spross der Treibels verheiraten. Corinna und Leopold gelingt es zwar, sich heimlich zu verloben, doch die Schwiegermutter in spe leistet erbittert Widerstand. Gemeinsam wollen Jenny und Helene die drohende Mesalliance verhindern. Das scheint zunächst auch zu glücken, jedoch dringt die Verlobung im Hause Treibel an die Öffentlichkeit und 10 Leopold, gespielt von Josef Noerden, wird als „hübscher, verwöhnter Junge und typischer Vertreter der damaligen Jeunesse d’orée“ im Dramaturgischen Handexemplar beschrieben (Dinah Nelken, Heine Ohl: Corinna Schmidt. Ein Zeitbild frei nach dem Anti-Bourgeois- Roman „Frau Jenny Treibel“ von Theodor Fontane. Dramaturgisches Handexemplar. o. O. 1950, BA DR/117/12530, o. S.). Im Film nennt ihn seine Mutter eine „echte Transuse“. Werkfotografie mit Edelweiß Malchin (Hildegard), Josef Noerden (Leopold) und Ingrid Rentsch (Corinna) (Foto: DEFA-Stiftung, Filmmuseum Potsdam) Filmblatt 69 ∙ 20198 das zwingt Jenny zum Umdenken. Das Machtgefälle zwischen den beiden Antago- nistinnen hat sich nun klar zugunsten Corinnas verschoben. Mit dieser dramati- schen Wendung entfernt sich die Verfilmung immer mehr von ihrer literarischen Vorlage, auch wenn Fontanes Sprachduktus in vielen Dialogen erhalten bleibt. Die Kommerzienrätin will nach der Wahlblamage ihres Gatten, der mit Leutnant a. D. Vogelsang und dessen neu gegründeter Royal-Demokratischer Partei auf das falsche Pferd gesetzt hat, keinen weiteren Skandal riskieren. Sie fleht Corinna an, ihren Sohn zu heiraten, doch Corinna „will Leopold nicht mehr“.11 Als einzige Figur in Corinna Schmidt durchläuft die junge Heldin, geleitet von ihrem Vetter, einen inneren Wandlungs- und Läuterungsprozess, der sie erkennen lässt, „daß Marcel für eine gute Sache kämpft, und Leopold nur das Söhnchen reicher Eltern ist“.12 Nachdem der junge Gymnasiallehrer den Schuldienst quittiert hat, um sich ganz in den Dienst der Arbeiterbewegung zu stellen, wird er als „Opfer des Sozialistenge- setzes des Landes verwiesen“.13 Sowohl seine Ausweisung als auch die Geschehnis- se rund um Marcels Tätigkeit für eine sozialistische Arbeiterzeitung fußen freilich nicht auf dem Fontane-Roman. Der Film verknüpft die Handlung dezidiert mit den Ereignissen der Arbeiterbewegung und dem Sozialistengesetz von 1878. Je mehr sich der Film seinem Ende nähert, umso eigenständiger entwickelt sich die Filmnarration, was schließlich in einem neuen Schluss gipfelt. Statt einer Hochzeit steht in Corinna Schmidt der rasche Abschied des jungen Liebespaa- res am Bahnhof. Marcel wird zwar als „gefährlicher Sozialist“ ausgewiesen, doch überreichen ihm seine Freunde einen von August Bebel und Karl Liebknecht un- terschriebenen Ausweis, der ihm „die Hilfe der Genossen in der ganzen Welt si- chern wird“.14 Dieses Ende ist eine Änderung zum Dramaturgischen Handexemp- lar, das dem Drehbuch vorausging. Ursprünglich sollten Corinna und Marcel noch auf Hochzeitsreise nach Griechenland fahren.15 Damit wäre die Adaption stärker der Literaturvorlage gefolgt, schließt doch Frau Jenny Treibel in bester Komödien- manier mit einer Hochzeit zwischen Corinna und Marcel. Dass die Protagonistin und ihr Vetter zueinander finden werden, steht zwar auch in der Verfilmung außer Frage, wird aber nicht mehr erzählt. Die Wandlung der jungen Professorentochter „vom oberflächlichen, wohlbehüte- ten Backfisch, mit einem Hang für Equipagen und Champagner, zur bewußten jun- gen Frau, der die Fragen nach dem Sinn des Lebens und einer gerechten Ordnung keine Ruhe lassen“, überzeugte allerdings auch in der DDR nicht jeden.16 So emp- 11 Borchardt: Corinna will Leopold nicht mehr. 12 M. S.: Corinna Schmidt. In: DEFA-Pressedienst, Nr. 8, 1951, S. 5. 13 K. H. Busch: Von Jenny Treibel zu Corinna Schmidt. In: Neue Filmwelt, Nr. 7, 1951. 14 M. S.: Corinna Schmidt, S. 5. 15 Nelken, Ohl: Corinna Schmidt. Dramaturgisches Handexemplar, S. 5. 16 wede: Corinna geht den Weg ins Leben. Der DEFA-Film Corinna Schmidt im Babylon und an der Kastanienallee. In: Nachtexpreß, 20.10.1951. Filmblatt 69 ∙ 2019 9 fand etwa der Kritiker Manfred Häckel die Entwicklung der Protagonistin hin zur problembewussten jungen Frau wenig glaubwürdig: „Corinna verbindet sich ihm in dem Augenblick, als Marcel ein Paria, ein Ausgestoßener aus der herrschenden Gesellschaft geworden ist. Das bedeutet für Corinna, daß auch sie mit der herr- schenden Gesellschaft brechen muß, in die sie noch kurz vorher unbedingt aufstei- gen wollte. Aber einen solchen Bruch kann ein Mensch nur vollziehen, wenn er die Arbeiterklasse als einzig fortschrittliche Klasse erkennt, und sich bewußt mit ihr solidarisch erklärt. Das ist für Corinna Schmidt überhaupt nicht möglich, denn in einem Menschen, der eben noch die kleinbürgerliche Illusion eines sozialen Auf- stiegs in krassester Weise vertreten hat, kann nicht plötzlich ein dialektischer Um- schlag erfolgen.“17 Nicht weniger kritisch sah Häckel die Darstellung der Arbeiterklasse, auf die der Film so großen Wert legt.18 Befürworter betonten dagegen, wie wichtig die Schil- derung der Arbeiterbewegung war und attestierten Corinna Schmidt vielmehr eine konsequente Weitererzählung des Fontane-Stoffes: „Ist mit dieser Freiheit 17 Manfred Häckel: Ein neuer DEFA-Film: Corinna Schmidt. In: Tägliche Rundschau, 31.10.1951. 18 Ebd. Corinna zwischen ihrem Vetter Marcel und dem reichen Leopold Treibel. Kaum haben Corinna und Marcel zueinander gefunden, müssen sie sich am Bahnhof trennen. Außendreh in Treptow beim Ausflugslokal Eierhäuschen. Kommerzienrat Treibel in seiner Berliner-Blaufabrik. Filmblatt 69 ∙ 201910 der Stoffbehandlung Fontane nicht Gewalt angetan? Nein! […] So ist es durchaus ,fontanisch‘ gedacht und gehandelt, wenn man bei der Verfilmung des Roman […] die Welt des Arbeiters deutlicher sichtbar macht, als es im Roman geschieht. Corinnas ernste Entscheidung ist hier mit vollem Recht eingebettet in den Strom der Zeit, in der nach dem Gründerkrach der Jahre 1873 die organisierte Arbeiter- schaft den Kampf gegen Bismarcks Sozialistengesetz, gegen das Bürgertum auf- nahm, in der sich diejenigen, die man als ,vaterlandslose Gesellen‘ verleumdete, als die wahren Patrioten zeigte.“19 Der DEFA-Pressedienst rechtfertigt hier die Änderungen der Verfilmung. Die zeitgenössischen Kritiken legen allerdings nahe, dass die Indienstnahme von Fontanes Werken für den Film bei weitem nicht selbstverständlich für die DDR war, obgleich sich dort das Forschungsinteresse an dem Romancier früh regte. Georg Lukács würdigte und rehabilitierte den Schriftsteller in seinem Essay Der alte Fontane (1950) im gleichen Jahr, in dem die Literaturadaption in Produktion ging.20 Vor diesem Hintergrund ist es nur verständlich, wenn Pohl und sein Team 19 M. S.: Corinna Schmidt, S. 8–9. Vgl. außerdem Busch: Von Jenny Treibel zu Corinna Schmidt. 20 Lukács urteilte 1951: „,E6 Briest‘ gehört in jene Reihe der großen bürgerlichen Romane, in denen die einfache Erzählung einer Ehe und ihres notwendigen Bruchs zu einer Gestaltung der allgemeinen Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft emporwächst, gehört in die Reihe von ,Madame Bovary‘ und ,Anna Karenina‘“ (George Lukács: Der alte Fontane. In: Szenenbildentwürfe (ca. 1950) von Karl Schneider für den Korridor … Filmblatt 69 ∙ 2019 11 kein zu großes Risiko mit ihrem Fontane-Filmprojekt eingehen wollten. Indem sie Corinna Schmidt gerade gegen Ende des Films eine klassenkämpferische Note verliehen und Fontanes Frau Jenny Treibel als „Anti-Bourgeois-Roman“ im ersten Exposee und im Dramaturgischen Handexemplar vorstellten, konnte der Verfil- mung ideologisch kaum ein Vorwurf gemacht werden.21 Gründerzeitstimmung zwischen Zimmerpalmen und Nippes. Corinna Schmidt spielt – so macht es der Vorspann deutlich – im Jahr 1878. Gleich in der Eröffnungssequenz, die nicht auf Frau Jenny Treibel beruht, stehen arbeitsuchen- de Männer und Frauen auf der engen Straße vor Mietshäusern mit Ladengeschäf- ten und warten auf den neuen Stellenaushang. Eine herrschaftliche Kutsche bahnt sich rücksichtslos ihren Weg durch die Menge. Ein Unternehmer verspricht gut bezahlte Arbeit. Die Stimmung unter den Arbeitslosen ist aufgeheizt. Im deutschen Kaiserreich stehen sich unterschiedliche Milieus gegenüber: Arbeiter, Groß-, Bildungs- und Kleinbürgertum prallen in Corinna Schmidt aufeinander. Aus der Konfrontation sozialer Lebenswelten heraus entstehen letztlich die Kon- flikte, die die Geschichte vorantreiben. Die Aufgabe der Szenenbildner war es, Wolfgang Preisendanz (Hg.): Theodor Fontane. Darmstadt 1973, S. 71). Lukács hebt in seinem Essay vor allem Fontanes Schach von Wuthenow und Vor dem Sturm hervor. 21 Vgl. Nelken, Ohl: Corinna Schmidt. Dramaturgisches Handexemplar. … und das Wohn- und Speisezimmer bei Schmidts (Deutsche Kinemathek) Filmblatt 69 ∙ 201912 diese angespannte Atmosphäre der Gründerzeit und die unterschiedlichen Umge- bungen der Charaktere für das Publikum überzeugend zu inszenieren und vonein- ander abzugrenzen. Dieses kaiserzeitliche „Alt-Berlin“ mit der „echten Fontane- luft“, das mit so großem Aufwand in Szene gesetzt wird, entstand zwischen April und Juli 1951 als beinahe reiner Studiofilm in den ehemaligen Althoff-Ateliers in Potsdam-Babelsberg. Zur gleichen Zeit wurde dort Wolfgang Staudtes Der Unter- tan (1951) gedreht. Auch für die Adaption nach Heinrich Mann schufen Schnei- der und Zander das Szenenbild.22 Da die Handlung beider Literaturverfilmungen in der Kaiserzeit spielt, nutzten sie die Atelierbauten und Requisiten für beide Filme. Nicht zuletzt die damit einhergehende Kostenersparnis wurde im Schluss- bericht von der Produktionsleitung gelobt.23 Von den Studioaufnahmen ausgenommen sind nur sehr wenige Schauplätze. So drehte beispielsweise das Filmteam in Treptow vor dem bekannten Ausflugslokal 22 Mehr dazu vgl. Anett Werner: Zeige mir, wie Du wohnst und ich will Dir sagen, wer Du bist. Wohnräume in den DEFA-Filmen Der Untertan und Corinna Schmidt. In: kunsttexte.de, Nr. 1, 2014, 15 Seiten. URL: https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/8123/werner.pdf (letzter Zugri-: 18.8.2019). 23 Vgl.  Walter Lehmann: Schluß-Bericht Corinna Schmidt. Berlin 31.12.1951, BA DR/117/ 33488, S. 2. Szenenbildentwürfe (ca. 1950) von Karl Schneider für die Halle … Filmblatt 69 ∙ 2019 13 Eierhäuschen.24 Das Lokal im Plänterwald ist Leopolds Rückzugsort und so wun- dert es kaum, dass er dort nicht nur den von seiner Mutter verbotenen Kaffee ungestört trinken kann, sondern auch heimlich die Verlobung schließt.25 Als ei- ner der wenigen Drehorte in der noch stark kriegszerstörten Stadt bringt diese Gaststätte Berliner Lokalkolorit in den Film. Schließlich war der Ort auch nach 1945 ein beliebtes Ausflugsziel. Das Gros der Sequenzen spielt sich jedoch im Atelier und besonders in den Privaträumen der Schmidts und der Treibels ab. Zu den ersten Wohnräumen, die den Zuschauern gezeigt werden, gehört die Wohnung des Gymnasialpro- fessors Willibald Schmidt, Corinnas Vater, der ehemals Jenny den Hof machte, jedoch mit seinem schmalen Gehalt gegenüber dem reichen Treibel den Kür- zeren zog. Mehr aus sentimentaler Erinnerung an die verflossene Jugendliebe fühlt sich Jenny der Familie Schmidt verbunden und stattet Corinna gemein- sam mit Fräulein Honig einen Besuch ab, um sie zu der so folgenreichen Gesell- schaft einzuladen. Zuvor hielten sie am Material- und Kolonialwarengeschäft, wo Jenny einst „Tüten klebte“, wie es im Film heißt. Schmolke –Haushälterin 24 Die Szenen auf der Veranda wurden wiederum im Studio aufgenommen. 25 Alle genannten Szenen, die in Treptow spielen, fußen nicht auf der Romanvorlage. Eben- so ist der Kellner Mützell, mit dem Leopold auf vertrautem Fuß steht, eine Erfindung der Filmadaption. … und den Speisesaal bei Treibels (Deutsche Kinemathek) Filmblatt 69 ∙ 201914 und Mutterersatz für Corinna  – öffnet der Kommerzienrätin die Tür, nach- dem diese energisch den Klingelstrang zog, und gibt damit den Blick in den schmalen Korridor frei, ehe Corinna den wohlhabenden Besuch in die soge- nannte gute Stube führt, der laut Borchardt „mit überflüssigen Nichtigkeiten nach dem Geschmack der damaligen Zeit“ überladen ist.26 Die Kritikerin findet klar abwertende Worte für die kleinbürgerlich bescheidenen Räume, die trotz ihrer Enge etwa noch mit Salonbronzen und Spitzendeckchen aufwarten. Das Wohnzimmer fungiert gleichzeitig auch als Esszimmer und ist mit dem Mobiliar der Biedermeierzeit eingerichtet. Der kleine Raum wird von einem großen run- den Esstisch, um den sechs schmucklose Stühle gruppiert sind, eingenommen. Von der Decke hängt ein Glaskugelleuchter. Zwei Szenenbildentwürfe von Karl Schneider, der die Filmräume präzise konzipierte, zeigen den langgestreckten Korridor mit einfacher Kommode, Dielenboden und Spiegel sowie das Wohn- und Speisezimmer, das den Schmidts zum Empfang der Gäste dient. Besonders letzterer demonstriere die „ganze bürgerliche Gemütlichkeit“.27 Im Drehbuch ist der Raum wie folgt beschrieben: „Ein gemütlicher Raum mit ererbten Bie- dermeiermöbeln, dunkel tapeziert, dem die ziemlich hohen, schmalen Fenster 26 Borchardt: Corinna will Leopold nicht mehr. 27 Ebd. Entwurf (ca. 1950) von Karl Schneider für das luxuriöse Schlafzimmer Jenny Treibels (Deutsche Kinemathek) Filmblatt 69 ∙ 2019 15 freilich einen etwas steifen und puritanischen Anstrich geben.“28 Mit einer pro- minent im Vordergrund platzierten Zimmerpalme, Beistelltischchen, kleinen Sofas, der Esszimmergruppe und den vielen kleinformatigen Bildern an der Wand wirkt der Raum schon auf Schneiders Zeichnung zwar behaglich, aber auch vollgestellt. Es ist diese kleinbürgerliche Welt, die Corinna allzu gern ge- gen einen Landauer, hübsche Gesellschaften und vor allem gegen eine große Villa mit Garten  – wie die der Treibels  – eintauschen möchte. Dem kleinbür- gerlichen Haushalt der Schmidts wird das mit der Gründerzeit reich gewordene Groß- bzw. Besitzbürgertum gegenübergestellt. Schneider gestaltete ebenso die Außen- und Innenräume der Villa des Kommerzienrates und Industriel- len. Dazu gehört etwa ein markanter Entwurf von der prunkvollen Empfangs- halle mit den hohen Fenstern, den ovalen Oberlichtern, einer gepolsterten Rundbank und der geschwungenen Treppe, die ins Obergeschoss führt. Der Entwurf folgt in seiner Gestaltung der Drehbuchbeschreibung: „Ein strahlend heller Raum, in dem die Treppe aus dem oberen Stockwerk ausläuft. Hier hat das reichgewordene Ehepaar sich offenbar dem Rat eines guten Baumeisters 28 Artur Pohl: Corinna Schmidt. Frei nach dem Roman Jenny Treibel von Theodor Fontane. Drehbuch, 3. Fassung. o. O. 1951, S. 11, Bibliothek der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF, Signatur: X 382/a. Umsetzung im Film: Set-Fotografie von Jenny Treibels Schlafzimmer (Foto: DEFA- Stiftung, Filmmuseum Potsdam) Filmblatt 69 ∙ 201916 anvertraut.“29 In dieser glanzvollen Halle mit dem blanken Boden empfangen die Treibels ihre Gäste, zu denen neben Corinna und ihrem Vetter die Hofda- men, Fräulein von Bomst und die Majorin Ziegenhals, gehören wie auch der Kammersänger Krola, der während der Gesellschaft als Höhepunkt des Abends Jenny am Piano begleiten wird, und Leutnant a. D. Vogelsang. Er agiert un- glücklich als Treibels Wahlhelfer, der für den Sitz im Reichstag kandidiert und eine schmähliche Niederlage erleidet.30 Darüber hinaus zeigt eine weitere Federzeichnung den festlichen Speisesaal, wo die Gesellschaft an einer langen Festtafel vor einer großen Fensterfront di- niert. In halbrunden Nischen sind helle Plastiken angedeutet und üppige exoti- sche Zimmerpalmen runden das Bild ab. In diesen Prunkräumen ergreift Corin- na ihre Chance und verdreht Leopold den Kopf. In starkem Kontrast zu Corinnas kleinem Zimmer mit Bettnische steht Jennys herrschaftliches Schlafzimmer, das als „üppig-schwülstig“ und „herausfordernd und protzig“ charakterisiert wird.31 Die ubiquitäre Zimmerpalme ist gleich vorn auf einer Balustrade drapiert, wäh- rend ein imposantes Bett mit einem ausladenden Betthimmel den Hintergrund füllt. Der Boden ist von einem weichen Teppich bedeckt und die Decke mit Stuck verziert. Eine exotische Nuance erhält der Raum dank einer neobarocken Steh- leuchte in Form eines „Mohren“, wie sie im Historismus beliebt waren. Auf einer Set-Fotografie von Jennys Schlafzimmer sind diese skulpturale ,Mohrenlampe‘ sowie der schwere Betthimmel mit seinen Fransen und Quasten gut zu sehen.32 Der Raumeindruck erinnert nicht zuletzt an die Makart-Räume aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Schon beim Betrachten der Entwürfe fällt ein Detail auf: Beinahe überall auf den Zeichnungen und später in den gebauten Räumen gehört die Zimmer palme zum festen Bestandteil des Interieurs. Häufig sind sie gut sichtbar im Vordergrund platziert. Dieses allgegenwärtige Raumaccessoire wird sogar in einem zeitge- nössischen Pressebericht von den Dreharbeiten gleich mehrfach erwähnt: „Viel- leicht hat es ein Architekt, der im Filmatelier die muffige Zeit um 1890 wieder heraufbeschwören soll, nicht einmal so schwer: er greift zu Zimmer palmen – und die Atmosphäre ist fertig (dennoch nichts gegen die Herren Zander, Schneider, Koehn und Asmus; ihre Dekorationen im Babelsberger Althoff-Atelier sind groß- artig und zeitecht). In diesem Milieu herrscht Frau Jenny Treibel, die Kommer- zienrätin. […] Zimmerpalmen sind und bleiben der Haupteindruck unseres Besuches im Althoff-Atelier. Unter Zimmerpalmen sitzen sie, stehkragenhoch 29 Pohl: Corinna Schmidt, Drehbuch, 3. Fassung, S. 49. 30 Nach der Blamage wird der ehemalige Leutnant des Hauses verwiesen. Für diese Demü- tigung rächt sich Vogelsang, indem er die unliebsame Verlobung Leopolds mit Corinna an die Zeitung weitergibt. 31 Pohl: Corinna Schmidt, Drehbuch, 3. Fassung, S. 38. 32 Auch der „lebensgrosse Mohr“ wird bereits im Drehbuch als Ausstattungsstück genannt, vgl. ebd. Filmblatt 69 ∙ 2019 17 geschlossen und abgesondert vom ,gewöhnlichen Volk‘, die Treibels und ihre Freunde. “33 Auffällig sind die dezidiert abwertenden Attribute, mit denen Bestandteile der großbürgerlichen, aber auch der kleinbürgerlichen Welt sowohl in diesem Zei- tungsartikel als auch in weiteren zeitgenössischen Beschreibungen und im Dreh- buch belegt werden. Es ist die Rede von „muffig“, von „überflüssigen Nichtig- keiten“, „puritanisch“ oder „üppig-schwülstig“. Schnell wird deutlich, dass diese Wohnwelten und Wirkungsräume dem Publikum keineswegs wertungsfrei gegen- über treten, sondern diese ausdrücklich ein negatives Image haben. Insbeson- dere Zimmerpalmen scheinen aus der Rückschau der noch jungen DDR als ein Indiz für die als überholt oder überwunden erachtete Wohnraumausstattung der Kaiser- bzw. Gründerzeit zu gelten. Zu den großbürgerlichen Wohnräumen wie die der Treibels gehören sie genauso wie der Einrichtungspomp aus Kristalllüs- tern, Balustraden, exotischen Raumaccessoires und Stuckdecken, während sie sich im bescheidenen kleinbürgerlichen Haushalt – wie etwa beim Schulprofes- sor Schmidt – zwischen Spitzendeckchen und allerhand Nippes wiederfinden. Die Zimmerpalme als Repräsentationsobjekt wird so nicht nur zum Kennzeichen für das zum Wohlstand gelangte Bürgertum, sondern auch für die Teile des Bürger- tums, die ihnen nacheifern wollen, so wie es sich Corinna vorgenommen hat.34 An Räume wie die der Treibels konnten sich ältere Kinobesucher vielleicht noch aus der Wilhelminischen Zeit erinnern. Sei es aus eigener Anschauung oder me- dial vermittelt über Fotografien in Zeitschriften, Ansichtskarten oder aus der seit den 1910er Jahren beliebten Homestory in Magazinen und Illustrierten, bei der die Leser einen Einblick in das private Wohnumfeld zeitgenössischer Prominenz erhalten.35 Die Filmemacher griffen auf diese bekannten Bildwelten bewusst zu- rück. Aus heutiger Zeit betrachtet, in der Mietshäuser und ,Altbauten‘ aus der Gründerzeit auf dem Wohnungsmarkt begehrt sind, exotische Topfpflanzen nicht mehr als Privileg des reichen Bürgertums gelten und historistisches Mobiliar an- tiquarisch begehrt ist, wirken diese Räume unverfänglich. Das kaiserzeitliche Interieur wird jedoch seitens der Filmemacher in Corinna Schmidt negativ aufgeladen und als Argument in der Filmhandlung eingesetzt. Zugleich sind diese Wohnwelten für das Publikum der Nachkriegszeit, das zeigen 33 o. V.: Corinna Schmidt. 34 Vgl.  dazu auch Werner: Zeige mir, wie Du wohnst, S.  8. Die „Studierstube“ Willibald Schmidts entspricht mit seinen antikisierenden Gipsbüsten, den hohen Bücherregalen, dem Globus und dem „altväterlichen Mobiliar“ zwar eher dem Bildungsbürgertum, ist aber den- noch ebenso beengt und etwas abgewohnt wie die sonstigen Räume der Wohnung (Pohl: Corinna Schmidt, Drehbuch, 3. Fassung, S. 16). 35 Auch im Nationalsozialismus wurde das Medium gezielt eingesetzt und so ließ beispiels- weise zu Propagandazwecken Adolf Hitler seine Privaträume im Berghof, fotografiert von Heinrich Ho-mann, über Zeitungen und Magazine Ende der 1930er Jahre verbreiten. Vgl. Peter York: Zu Besuch bei Diktatoren. München 2006, S. 54. Filmblatt 69 ∙ 201918 die Rezensionen, lesbar und anschlussfähig. Nun stellt sich die Frage, welche Filmsets den Räumen der Neureichen und der Kleinbürger gegenübergestellt wer- den. Dazu zählen gerade die Lebenswelten der Arbeiter, die im Gegensatz zum Roman, hier visualisiert werden. In Frau Jenny Treibel kommt neben dem stumm bleibenden Diener Friedrich bei den Treibels einzig die Schmolke, die resolute wie mütterliche Wirtschafterin, als Vertreterin der Arbeiterklasse vor. Der Film er- weitert das Spektrum der Arbeiterschaft um einige Charaktere wie etwa die disku- tierenden Arbeitslosen zu Filmbeginn, und sie alle erhalten eine Stimme. Darüber hinaus werden ihnen Aktionsräume zugewiesen. Dazu gehören Orte der mühseli- gen Arbeit wie die in der Kesselanlage der Berliner-Blaufabrik oder die triste Kü- che in der Villa Treibel sowie die Redaktionsstube der Freien Presse, für die Marcel Artikel schreibt, die der Schulbehörde missfallen.36 Im Zuge einer Razzia werden die Redaktions- und Druckräume, wie sie auf einer der seltenen Set-Fotografien zu sehen sind, polizeilich geschlossen. Daneben spielt sich das Leben der Arbei- terklasse gerade auf der Straße und sonstigen öffentlichen Plätzen ab; etwa dem Bahnhof, wo Corinna Marcel verabschiedet und Anschluss bei Gleichgesinnten 36 Eine Disposition für einen Drehtag weist darauf hin, dass Teile dieser Szenen an einem Originalschauplatz, der Färberei Spindler in Spindlersfeld, realisiert worden sind. Vgl. o. V.: Disposition für Sonntag, den 17. Juni 1951, 56. Drehtag. o. O. 1951, BA DR/117/32454. Eine Set-Fotografie zeigt die Redaktionsräume der Arbeiterzeitung Freie Presse (Foto: DEFA-Stiftung, Filmmuseum Potsdam) Filmblatt 69 ∙ 2019 19 findet. Auf der Straße werden Corinna und Marcel außerdem Zeuge, wie die Poli- zei unverhältnismäßig hart gegen eine sogenannte „Gewerbsmäßige“ vorgeht. Es ist eine der Schlüsselszenen für Corinnas Entwicklung, denn die Filmheldin beob- achtet hier das Unrecht, was bei ihr den Wandlungsprozess auslöst. Das Berliner Straßenland wird in Corinna Schmidt Ort der Halbwelt charakterisiert und lässt damit an die Asphaltfilme in der Weimarer Republik denken. Auch die Fabrik-, Kontor- und Küchenräume können kaum als positive Räume gewertet werden. Als regelrecht menschenunwürdig wird die Fabrik mit ihren giftigen Dämpfen schon im Drehbuch beschrieben: „Ein niedriger, langgestreckter Saal mit zwei Reihen heizbarer Kessel und übermannshoher Eisenkessel, düster, schmutzig, eine stickige, ungesunde Atmosphäre, die der graue Wintertag draussen kaum durchdringt.“37 Ein positiver Gegenentwurf oder private Wohnungen wie beim Klein- oder Be- sitzbürgertum fehlen hingegen bei der Inszenierung der Arbeiterklasse. Einzig die Redaktion der Arbeiterzeitung ist als Ort des – wenn auch vergeblichen – Wi- derstandes positiv besetzt. Das alles entsprach kaum dem idealen Bild der akti- ven, stolz-kämpferischen Arbeiter, wie es Anfang der 1950er Jahre ideologisch vermittelt werden sollte, und führte bei den Zeitgenossen zu Kritik: „Die Konzep- tion des Films läßt die Arbeiter nur passiv als Arbeitslose protestieren. Man muß sie aber der Wirklichkeit gemäß in der Aktion gegen ihre Ausbeuter zeigen, im Streik, in der Demonstration. Erst ihr Auftreten als kämpfendes Proletariat würde das richtige Gegengewicht zu der zwar sehr einfallsreichen und sehr wichtigen, aber im Grunde doch passiven Kritik an der deutschen Großbourgeoisie in der ironisierten Wiedergabe ihres Lebens bedeuten.“38 Als Opfer jedoch sollte die Ar- beiterklasse kaum dargestellt werden. Unter diesem Gesichtspunkt mag es auch kaum verwundern, dass Corinna Schmidt – trotz des größtenteils positiven Medienechos – lange Zeit die einzi- ge Fontane-Verfilmung in der DDR blieb, bis 1968/69 Effi Briest für das Fernse- hen adaptiert wurde. Die Verfilmung stammt von Wolfgang Luderer, der bereits bei Corinna Schmidt als Regieassistent mitgewirkt hatte. Effi Briest war so er- folgreich, dass er sogar in den Kinos lief. Überhaupt war das Fernsehen in Ost und West der Motor für die zahlreichen Fontane-Verfilmungen. Mehr als 25 Jahre nach Corinna Schmidt ging Frau Jenny Treibel (DDR 1976, R: Hartwig Albiro) in Adlershof in Produktion mit Gisela May als Jenny Treibel, Gabriele Heinz als Corinna Schmidt und Henry Hübchen in der Rolle des labilen Leopold.39 In Kon- kurrenz um die bessere Verfilmung schuf auch die Bundesrepublik 1972 ihre 37 Pohl: Corinna Schmidt, Drehbuch, 3. Fassung, S. 18. 38 Häckel: Ein neuer DEFA-Film: Corinna Schmidt. 39 Die Fernseh-Adaption gri- allerdings vor allem auf Claus Hammels 1963 uraufgeführ- tes Theaterstück Frau Jenny Treibel zurück, das wiederum auf Motiven des Fontane-Romans beruht. Zu Neujahr 1976 wurde Frau Jenny Treibel im Deutschen Fernsehfunk erstmals gesendet. Filmblatt 69 ∙ 201920 eigene Version, die ebenso unter dem Titel Frau Jenny Treibel (1972, R: Herbert Ballmann) in zwei Teilen zwischen Weihnachten und Neujahr in der ARD ausge- strahlt wurde.40 Corinna Schmidt hingegen wurde trotz einiger Schnitte bei einer erneuten Prü- fung im Jahr 1960 nicht für die Aufführung in der Bundesrepublik zugelassen. Pohl saß mit seiner Adaption zwischen den Stühlen, denn er konnte ebenso we- nig den kulturpolitischen Anforderungen der SED entsprechen. Nur ein Dreivier- teljahr nach der Premiere lehnte eine Resolution des Politbüros der SED die An- passungen des klassischen Stoffes ab. Für künftige Literaturfilmprojekte wurde gefordert, dass diese „mit der größten Verantwortung und nach sorgfältiger Aus- wahl auf Grund exakter wissenschaftlicher Forschung zu erfolgen hat. Das Polit- büro warnt vor allen Tendenzen einer Vulgarisierung des Marxismus in bezug auf die Bearbeitung […] des deutschen Kulturerbes.“41 40 Eine zweite Fernsehverfilmung folgte 1982 unter der Regie von Franz Josef Wild, die am 14.12.1982 in der ARD zu sehen war. 41 o. V.: Für den Aufschwung der fortschriftlichen deutschen Filmkunst. Resolution des Politbüros des ZK der SED. In: Neue Filmwelt, Nr. 9, 1952, zitiert nach Ralf Schenk: Mitten im Kalten Krieg 1950 bis 1960. In: Ders. (Red.): Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg. DEFA- Dreharbeiten zu Frau Jenny Treibel, Gisela May (vorn) und Gabriele Heinz (Foto: Filmmuseum Potsdam) Filmblatt 69 ∙ 2019 21 Corinna Schmidt Deutsche Demokratische Republik 1951  / Produktion: DEFA-Studio für Spielfilme, Potsdam-Babelsberg / Regie: Artur Pohl / Drehbuch: Artur Pohl nach Theodor Fontanes Roman Frau Jenny Treibel oder „Wo sich Herz zum Herzen find’t“ (1892) / Produktions leitung: Walter Lehmann  / Aufnahmeleitung: Gustav Lorenz  / Aufnahmeleitung-Assistenz: Dieter Schönemann, Hermann Peters  / Drehbuch: Artur Pohl  / Dramaturgie: Dinah Nelken, Heine Ohl / Regie-Assistenz: Wolfgang Luderer / Regie-Anwärter: Ruth Sanden, Karl-Ernst Schmidt / Kamera: Eugen Klagemann, Rudi Radünz / Kamera-Assistenz: Waldemar Ruge, Horstheinz Neuendorf / Standfotograf: Herbert Kroiss / Szenenbild: Karl Schneider, Erich Zander, Franz Koehn, Hermann Asmus / Filmbildner: Wilhelm Klaue / Kunstmaler: Werner Zieschang / Außenrequisite: Willy Poetke / Innenrequisite: Fritz Stemmer, Raimund Krause / Kostümbild: Vera Mügge / Kostümbild-Assistenz: Helga Mielke / Maske: Herbert Zensch, Gerhard Seiffert, Werner Noack / Schnitt: Hildegard Tegener / Schnitt-Assistenz: Hildegard Conrad / Musik: Hans-Hendrik Wehding / Ton: Emil Schlicht / Ton-Assistenz: Elmar Blimke, Rudolf Seidel  / Garderobiere: Friedrich Keil, Friedrich Sawitzky, Betty Heckmann, Else Lange  / Garderobierenhilfe: Ingeborg Lude  / Produktions-Inspektion: Adelheid Krüger  / Produktions-Inspektions-Assistenz: Günter Lietzke  / Filmkleberin: Lieselotte Knote  / Atelier sekretärin: Ree von Dahlen  / Darsteller: Trude Hesterberg ( Jenny Treibel), Willy Kleinoschegg (Kommerzienrat Treibel), Ingrid Rentsch (Corinna Schmidt), Josef Noerden (Leopold Treibel), Peter Podehl (Marcel Wedderkopp), Hermann Lenschau (Otto Treibel), Chiqui Jonas (Helene Treibel), Hans Hess ling (Prof. Schmidt), Egon Brosig (Leutnant a. D. Vogelsang), Erna Sellmer (Frau Schmolke), Erika Glässner (Majorin Ziegenhals), Ellen Plessow (Fräulein vom Bomst), Edelweiß Malchin (Hildegard Munk), Alfred Hülgert (Kammersänger Krola), Edith Volkmann (Fräulein Honig), Aribert Grimmer ( Friedrich), Freddy Sieg ( Kellner Mützell), Ada Witzke (Anna), Eduard Bornträger (Konsistorialrat), Walter Weymann ( Lehmann), Werner Pledath (Redakteur), 1. Fabrikant (Herbert Richter), 2. Fabrikant (Martin Rosen), 3. Fabrikant (Hans Sanden) u. a. / Format: 35mm, s/w, Ton / Länge: 2694 Meter, 97 Minuten / Uraufführung: 19.10.1951, Babylon und DEFA-Filmtheater Kastanienallee, Berlin (Ost) Kopie: Bundesarchiv, 35mm, 97 Minuten Spielfilme 1946–1992. Herausgegeben vom Filmmuseum Potsdam. Berlin 1994, S.  50–157, hier S. 72. Filmblatt 69 ∙ 201922 Goldoni (Claude Laydu) bei der DEFA, an der Seite von Christel Bodenstein als Nicolette (alle Fotos: DEFA-Stiftung / Rudolf Meister) Filmblatt 69 ∙ 2019 23 Wolfgang Thiel Misslungener Film, gute Musik Innovative Trends in der Filmmusik und Günter Kochans Komposition für Italienisches Capriccio (DDR 1961) Wiederentdeckt 233, 8. Januar 2016 Die Anlässe und Beweggründe, vergessene Kunstwerke aufzuspüren, sind vielfäl- tig. Im Fall des DEFA-Films Italienisches Capriccio (1961) von Glauco Pelle grini begann es bei Recherchen zur Filmmusik-Geschichte der DEFA mit der alten Rund- funkaufnahme einer „Goldoni-Suite“ für Orchester. Sie stammt von Günter Kochan, einem Meisterschüler von Hanns Eisler, der in den 1950er und 1960er Jahren zu den bekanntesten DDR-Komponisten gehörte. Er wurde viel gespielt, hoch deko- riert und nach der politischen Wende fast über Nacht vergessen. 1930 in Luckau geboren, verstarb Kochan 2009 in Neuruppin. Für die „Goldoni-Suite“ hatte er Teile seiner Musik zu Italienisches Capriccio aus dem Jahre 1961 verwendet. Was auf- horchen ließ, war das stilistische Alleinstellungsmerkmal dieser Musik, bezogen auf ihre ursprüngliche Funktion. Mit ihrem neoklassizistischen Zuschnitt bildet diese Filmmusik ein stilistisches Unikat in der DEFA-Musiklandschaft. Auf überraschen- de Weise hebt sie sich von den orchestralen Begleitmusiken für DEFA-Dokumentar- und Spielfilme der 1950er Jahre ab, die bis zu diesem Zeitpunkt von anderen Stilen geprägt waren: Spätromantische Filmsymphonik bei Ernst Roters’ Komposition zu Die Mörder sind unter uns (1946), Einflüsse sowjetischer Filmmusik in Joachim Werzlaus Partitur zu Genesung (1956), partielle Wiederbelebung proletarischer Kampfmusik mit Elementen einer neuen Einfachheit in Hanns Eislers Suite für Unser täglich Brot (1949) sowie eine dramaturgisch pointierte Kammermusik un- ter Einschluss von Trivialmusik bei André Asriel und dem Film Der Lotterie schwede (1958). So war es beim Goldoni-Biopic Italienisches Capriccio die Musik, die den entscheidenden Anstoß gab, den dazugehörigen Film wiederzuentdecken.1 Ein kommunistischer Freundschaftsdienst. Die Premiere des auf Agfa-Color gedrehten Spielfilms Italienisches Capriccio fand am 10. Juni 1961 im Rahmen der 3. Arbeiterfestspiele in Magdeburg statt. Der Kinostart folgte am 27.  Juli (und somit nur zwei Wochen vor dem Mauerbau) im Berliner Kino Babylon in Anwesenheit der Filmscha"enden. In diesem politisch heißen Sommer war das 1 Fünf Jahre später betitelte der Exil-Jugoslawe Vlado Kristl in der Bundesrepublik die filmi- sche Parodie eines Reiseberichts ebenfalls als Italienisches Capriccio, wahrscheinlich ohne den gleich namigen DEFA-Film gekannt zu haben. Gemeinsam ist beiden Filmen nur, dass sie schnell in Vergessenheit gerieten. Filmblatt 69 ∙ 201924 gesellschaftliche Klima in der DDR von der wachsenden Zahl von Flüchtlingen ge- prägt, die (wie es damals im Berliner Jargon hieß) „nach drüben“ gingen. Eine S-Bahn-Fahrkarte für 20 Pfennige war dafür ausreichend. Es waren aber auch die Jahre, in denen die DEFA Kooperationen mit ausländi- schen Filmfirmen suchte.2 Dieses Streben nach Co-Produktionen war seit 1957 Teil des Ringens um die diplomatische Anerkennung der DDR. Dass es in der Fol- gezeit hauptsächlich Kooperationen mit französischen Filmgesellschaften waren, hing mit der wohlwollenden Haltung und Mitarbeit linker französischer Filme- macher zusammen. Beim Italienischen Capriccio lagen die Dinge jedoch etwas anders. Zwei Italiener hatten das Drehbuch geschrieben, und einer von ihnen, der Regisseur, Drehbuchautor und Pädagoge Glauco Pellegrini, führte auch Re- gie. In einem Interview während der Dreharbeiten in Babelsberg äußerte er zwar den Wunsch, dass der entstehende Film „als Freundschaftsband zwischen unse- ren beiden Ländern gelten“ solle; zumal die DDR „von Italiens Regierung offiziell nicht anerkannt“3 sei. Aber in diesem Falle ging es nicht um eine allegorische Freundschaft zwischen „Italia und Germania“ (wie auf dem bekannten Gemälde von Friedrich Overbeck), sondern um einen handfesten Freundschaftsdienst zwi- schen der Kommunistischen Partei Italiens und der SED. Die Wahl dieses Regis- seurs hatte nämlich nichts mit seiner besonderen künstlerischen Eignung zu tun. „Glauco Pellegrini, Mitglied der Kommunistischen Partei seines Landes, dreht nach deren in Berlin vorgetragener Bitte, man möge ihm doch eine Arbeit ver- schaffen, Italienisches capriccio, eine Anekdote aus dem Leben Goldonis. Ein trauriger Abgesang auf die Kooperation mit westeuropäischen Partnern: grell- bunt und laienhaft“, lautet der vernichtende Kommentar von Ralf Schenk.4 Pellegrini, dem es zu dieser Zeit in seiner Heimat aufgrund seiner politischen Einstellung an Aufträgen mangelte, war 1919 in Siena zur Welt gekommen und verstarb 1991 in Rom. Zeitlebens hatte er eine besonders enge Beziehung zu Venedig, woher auch seine Familie stammte. Vielleicht war es kein Zufall, dass sein erster Spielfilm Ombre sul Canale Grande (Schatten über dem Canale Grande), ein Kriminalfilm in der Tradition des Film Noir aus dem Jahre 1951, in einem düster fotografierten Venedig spielte. Ab 1958 arbeitete Pellegrini vor al- lem als Dokumentarfilmregisseur über kunstwissenschaftliche Themen. Politisch links stehend produzierte er auch Filme im Auftrag der KPI.5 2 Ein frühes Beispiel ist Die Abenteuer des Till Ulenspiegel (Musik: Georges Auric) aus dem Jahre 1957 mit Gérard Philipe als Hauptdarsteller und Regisseur. 3 Zit. nach Der Morgen, 4.9.1960. Als Verfasser des Textes wird Manfred Haedler genannt. Dieser sowie alle nachfolgend zitierten Artikel ohne Titelangabe wurden in der Pressedo- kumentation der Bibliothek der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF eingesehen. 4 Ralf Schenk: Mitten im Kalten Krieg 1950 bis 1960. In: Ders. (Red.): Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg 1946–92. Hg. vom Filmmuseum Potsdam. Berlin 1994, S. 97. 5 So drehte Pellegrini z. B. einen Film über den kommunistischen Führer Palmiro Togliatti, der 1948 durch ein Attentat schwer verletzt worden war. Filmblatt 69 ∙ 2019 25 Als sich ihm nun die Gelegenheit bot, nach fast zehnjähriger Pause im Auftrag der DEFA wieder einen Spielfilm zu drehen, wählte er die Lagunenstadt erneut als Schauplatz und Italiens großen Komödienschreiber Carlo Goldoni als zentrale Fi- gur eines theatralisch inszenierten Films, der ausschließlich in den Babels berger Studios realisiert wurde. Bei den vorangegangenen Koproduktionen der DEFA aus den Jahren 1954 bis 1961 hatten bei sechs Filmen auch ausländische Kom- ponisten mitgearbeitet, darunter Berühmtheiten wie Georges Auric und Dmitri Schostakowitsch. Im Fall des Goldoni-Films erhielt dagegen der damals 30jäh- rige Günter Kochan den Auftrag, die Filmmusik zu schreiben, da es sich unge- achtet der bunten Besetzungsliste aus deutschen, italienischen, französischen und tschechischen Akteuren produktionstechnisch um einen reinen DEFA-Film handelte. Bis zu diesem Zeitpunkt lagen von ihm mit Einmal ist Keinmal (1955, R: Konrad Wolf), Heimliche Ehen (1956, R: Gustav von Wangenheim) und Bärenburger Schnurre (1957, R: Ralf Kirsten) nur drei Spielfilmmusiken vor, jedoch galt der Autor von Orchestermusik, Konzerten und Massenliedern als hoffnungsvollstes Talent unter den jüngeren Komponisten der DDR. 1958 wurde von Günter Kochan ein musikantisch angelegtes Klavierkonzert uraufgeführt, das ihn einem größe- ren Konzertpublikum bekannt machte. Auch in diesem Werk arbeitete er wie im Film Italienisches Capriccio mit neoklassischen Stilelementen. Die Erneuerung der internationalen Filmmusik. Italienisches Capriccio und vor allem Günter Kochans Musik entstanden in einer filmhistorisch und film- musikgeschichtlich interessanten, von großen Veränderungen geprägten Zeit. Die DEFA zeigte in den Jahren kurz vor und nach dem Mauerbau das Bestreben, zum einen vermehrt Gegenwartsfilme mit gesellschaftskritischem Ansatz zu dre- hen und zum anderen neue Zugangsweisen zur Gestaltung von Filmen über den antifaschistischen Widerstand und die NS-Herrschaft zu finden. Erstere Ten- denz fand ein jähes Ende mit dem 11. Plenum der SED 1965; die andere Richtung brachte Filme wie Fünf Patronenhülsen (1960, R: Frank Beyer) und Das zweite Gleis (1962, R: Joachim Kunert) hervor. Im westdeutschen Kino gab es einzelne aus dem Gros der kommerziellen Masse herausragende Produktionen, das Oberhausener Manifest gab schließlich 1962 den Startschuss für den Jungen Deutschen Film. In Frankreich begann sich die Nouvelle Vague gegenüber dem französischen „Kino der Qualität“ durchzuset- zen. In der Cinecittá im Südosten von Rom entstanden die Autorenfilme von Michelangelo Antonioni und Federico Fellini und prägten den gesellschaftlichen Diskurs. Bezeichnenderweise zeigen jene neuartigen in- und ausländischen Fil- me auch neue filmmusikalische Konzepte. Erinnert sei an die dissonant kühlen Walzerklänge in François Truffauts Les 400 coups (Sie küssten und sie schlugen ihn, F 1959), an die aggressiven Klanggeräusche in Bernhard Wickis Die Brücke (BRD 1959), an den sparsamen und trotzdem eindrucksvollen Einsatz von Flöte und Gitarre in Fünf Patronenhülsen, an die metallisch spröde Musik für Harfe Filmblatt 69 ∙ 201926 solo im Kammerspielfilm Das zweite Gleis, an die improvisierte Jazzmusik in Das Brot der frühen Jahre (BRD 1962, R: Herbert Vesely), an die atonale Kammer- musik in Antonionis L’Eclisse (I 1962) oder mit einem Blick nach Hollywood an die anti-romantische Musik für ein Streichorchester zu Hitchcocks Psycho (USA 1960) mit ihrer unerbittlichen Motorik der Motive und Rhythmen, mit ihren har- schen linearen Reibungen der Stimmen und den fahlen, gleichsam „entseelten“ Klängen. Was haben diese thematisch und ikonographisch unterschiedlichen Filme mu- sikalisch gemeinsam? Es ist die Abkehr von dem jahrzehntelang omnipräsenten volltönenden Orchestersound im neoromantischen Stil, der seit den 1930er Jah- ren als verpflichtende Norm bei der Vertonung von seriösen Filmen weltweit zur Anwendung kam. Dass nunmehr in zunehmendem Maße an die Stelle eines sin- fonisch besetzten Orchesters variable kleine Besetzungen oder gar eine einsame Harfe traten, hatte nur teilweise mit den geringeren finanziellen Mitteln unab- hängiger Filmproduzenten zu tun. Vielmehr realisierte sich in diesem musika- lischen Paradigmenwechsel eine innovative und kreative Idee. Als ästhetische Maxime war es nunmehr möglich geworden, jedem Film seinen eigenen „Ton“ zu geben – und dies mit Hilfe einer speziell auf ihn zugeschnittenen, klanglich ei- gentümlichen Musik. Die Musik zu ITALIENISCHES CAPRICCIO. Günter Kochans Partitur zu Italienisches Capriccio lässt sich hier einordnen. Zwar komponierte er für das DEFA-Sinfonie- orchester, aber er reduzierte den Klangkörper auf doppelt besetzte Holz bläser, Trompeten, Hörner, Pauken und Streichorchester. So entstand in klanglicher Trans- parenz eine tänzerische, heiter gelöste Orchestermusik, die mit Bezugnahme auf die Goldoni-Zeit ein geistvolles Spiel mit musikalischen Stilelementen des 18. Jahr- hunderts treibt und mit deutlichen Anklängen an Sergej Prokofjews Symphonie clas- sique und an melodische Wendungen aufwartet, wie sie in den filmisch inspirierten Septetten seines verehrten Lehrers Hanns Eisler als kapriziöse Formulierungen an- zutre"en sind. Von ferne tönt auch Igor Strawinskys „Pulcinella“-Suite als histori- sches Vorbild. Die Gestaltung musikalischer Heiterkeit war für Kochan kein Wider- spruch zu seinem Bemühen um eine zeitgenössische Musik im Sozialismus, die er in dieser Zeit immer mit Blick auf ein neues Publikum jenseits des Bildungsbürgertums komponierte. Unter seinen Orchesterwerken aus der Mitte der 1950er Jahre finden sich weitere Versuche einer modernen Musica serena: 1955 entstanden Polkas mit dem Untertitel „Heiteres Stück für großes Orchester“. 1957 stellte er aus seiner Mu- sik zum DEFA-Film Bärenburger Schnurre eine „ Kleine Suite für Orchester“ zusam- men. Mit diesem Streben nach fest gefügten Formen in der Filmmusik setzte Kochan eine ästhetische Forderung von Hanns Eisler um, der für die Filmmusik strukturell eine Balance aus dramaturgisch wirksamer Funktionalität und musikalischer Auto- nomie postulierte. Also keine Füllsel schreiben, sondern kompositorisch ausformu- lierte Fragmente, die gegebenenfalls auch als Stücke in einer Konzertsuite fungie- ren können. Filmblatt 69 ∙ 2019 27 Im Sinne des Eislerschen Konzepts einer gesellschaftlich „nützlichen“ Musik war es in der DDR zudem Usus, dass die Komponisten der E-Musik in ihrem Œuvre neben Oper, Konzert und Kammermusik auch die sogenannten „angewandten Genres“ pflegten. Dies beinhaltete den pädagogischen Auftrag, qualitätsvolle „Musik für die Massen“ zu schreiben, in diesem Falle für das Kinopublikum, das in der Regel nicht wegen der Musik ins Lichtspielhaus kommt. Vorbild war die sowje- tische Musik, deren Hauptvertreter wie Sergej Prokofjew, Dmitri Schostakowitsch oder Aram Chatschaturjan allesamt auch für den Film komponierten. Im west- deutschen Film waren hingegen Filmmusik und Neue Musik völlig voneinander getrennt: Auf der einen Seite die spezialisierten Unterhaltungsmusiker, auf der anderen die Neutöner mit ihren avantgardistischen Experimenten. Während die Aleatorik als ein Prinzip des „gelenkten Zufalls“ – ausgehend von dem Amerika- ner John Cage – später sogar Einzug in die Filmmusik hielt, verfolgten Karl-Heinz Stockhausen und der Grieche Yannis Xenakis mit seiner „stochastischen Musik“ (unter Einbeziehung der Wahrscheinlichkeitsrechnung) total hermetische Kom- positionsprinzipien. Hingegen verblüffte der junge Pole Krzysztof Penderecki auch das breite Publikum mit seiner ganz neuen Klangwelt der Streichinstrumen- te mittels einer dramaturgisch wirkungsvollen Kombination aus Vierteltoninter- vallen, Geräuscheffekten und Clusters (zu deutsch „Ton-Trauben“) in breitange- legten Klangflächen. Musikalische Heiterkeit, tänzerisch dargeboten Filmblatt 69 ∙ 201928 Von solchen Entwicklungen war die „Neue Musik“-Szene der DDR Anfang der 1960er Jahre noch völlig abgekoppelt; zumindest bei jenen Komponisten, die sich als Sozialisten bekannten und in ihren Werken um die musikalische For- mulierung des „Sozialistischen Realismus“ rangen. Einer von ihnen war Günter Kochan, der sich als Filmkomponist um eine sowohl dramaturgisch effiziente als auch allgemeinverständliche Musik bemühte, ohne dass hierdurch die Qualität seines kompositorischen Handwerks gemindert wurde. Mit den Film- und Fernsehprojekten, die ihm angeboten wurden, hatte Kochan allerdings wenig Glück, angefangen mit Konrad Wolfs Debütfilm Einmal ist Kein- mal. Dies trifft in besonderer Weise auch für Italienisches Capriccio zu, mit des- sen „kaum zu überbietenden dramaturgischen Dilettantismus“.6 Die Vorschuss- lorbeeren, die Regisseur Pellegrini während der Dreharbeiten von der Presse erhalten hatte, verwelkten rasch nach Erscheinen des Films. Abgesehen von ver- einzelten Stimmen aus Regionalzeitungen verrissen alle Kritiker einmütig den mit pompösem Aufwand inszenierten Film, für den in den Babelsberger Ateliers umfängliche Bauten für Szenen in Rimini und einem romantisierten Venedig im Stile der Comedia dell’arte errichtet wurden. Die Rede war von „Wirrwarr und Pos- senreißerei um Goldoni“, von „kunterbuntem Historiengemälde“ und „Venezia- nischem Allerlei“, von andauerndem Volksfest-„Operettentrubel“ in drei gravi- tätisch daherkommenden Akten einschließlich eines verschachtelten Prologs. Glauco Pellegrini wurde an seiner ambitionierten Ankündigung gemessen, kei- nen Biografie-Film „alten Stils“ über einen Dichter machen zu wollen, der trotz starker Widerstände die erstarrte Stegreif-Komödie nach dem Vorbild Molières als literarische Sitten- und Moralkomödie reformiert hatte und von dem sich bis in die Gegenwart Stücke wie Diener zweier Herren oder Viel Lärm in Chiozza auf den Bühnen hielten. In der Satirezeitschrift Eulenspiegel schrieb Renate Holland-Moritz die Arbeit des „bis dato unbescholtenen und wohl-renommierten italienischen Regis- seur[s]“ sei eine Zumutung. Von Beginn an sei „niemand mehr imstande, der Handlung zu folgen, bietet sie doch Theater im Theater im Filmtheater […]. Um den Inhalt des Dargebotenen auch nur in etwa nahezukommen, bedürfte es we- nigstens eines einjährigen Spezialstudiums italienischer Theatergeschichte.“7 Gnade vor den Kritikern fanden die schauspielerischen Leistungen von Rolf Ludwig in der Rolle des Erzrivalen und Märchenspiel-Dichters Carlo Gozzi, des Weiteren Dana Smutna als leidenschaftliche Schauspielerin und Geliebte Goldonis sowie Norbert Christian als Abate Chiari. Hingegen galt der französische Haupt- darsteller Claude Laydu als Fehlbesetzung, und Christel Bodenstein überzeugte als Gemahlin Goldonis nur bedingt. Gelobt wurde hingegen uneingeschränkt die vorzügliche Kamera Helmut Bergmanns; vor allem aber gab es Lob für Bauten und Kostüme. Nur im Oktoberheft 1961 der Zeitschrift Deutsche Filmkunst wurde 6 Schenk: Mitten im Kalten Krieg, S. 97. 7 Eulenspiegel, 4.8.1961. Filmblatt 69 ∙ 201930 „Bleib wo du bist und rühr dich nicht“: Verstecken (1979), der zweite Übungsfilm von Helke Misselwitz (Hochschule für Film und Fernsehen der DDR / Filmuniver- sität Babelsberg KONRAD WOLF) Filmblatt 69 ∙ 2019 31 Ralf Forster Auf den Spuren individueller Geschichte Drei Studentenfilme von Helke Misselwitz FilmDokument 201, 13. November 2017 Die Regisseurin Helke Misselwitz ist vor allem durch ihren Dokumentarfilm Winter adé von 1988 bekannt geworden. In ihrer Filmreise durch die DDR sprechen Frauen unerwartet o"en über sich und die Verhältnisse im Land. Die festgehaltenen Begegnungen ließen kommende Umbrüche vorausahnen und zei- gen eine neue Art des dokumentarischen Autorenfilms an, der sich über individu- elle Biografien und unter Einschluss eigener Lebensstationen einem gesellschaft- lichen Zustand annähert. Als Winter adé entstand, war Helke Misselwitz schon 20 Jahre bei Film und Fernsehen beschäftigt. Nach Auftritten als Rezitatorin und Moderatorin ab 1967 hatte sie 1972 als Regieassistentin beim Deutschen Fern- sehfunk begonnen und von 1975 bis 1978 in sieben Folgen der Jugendsendungen Dreieck und Jugendklub TV2 Regie geführt, ehe sie von ihrem Betrieb zum Stu- dium an die Hochschule für Film und Fernsehen der DDR (HFF) nach Potsdam- Babelsberg delegiert wurde.1 Nach ihrem Regie-Diplom 1982 kehrte sie nicht zum Fernsehen zurück, wählte die unsicherere Existenz als Freischa"ende und rea- lisierte vor Winter adé für das DEFA-Studio für Dokumentarfilme einige bemer- kenswerte Kurzfilme, wie 1983 Aktfoto grafie – z. B. Gundula Schulze und 1985 TangoTraum. Wiederholt und zuletzt anlässlich der Buchpräsentation von Sie. Regisseurinnen der DEFA und ihre Filme auf der Berlinale 2019 hat Helke Misselwitz den Beginn des eigenen Œuvres in ihre Nach-Studienzeit verortet, während sie beim Fernsehen alles das gelernt habe, „was Handwerk anbetri"t“.2 Dazwischen lagen drei Jahre, in denen sie in die kreative Atmosphäre an der HFF eintauchte. Ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen waren u. a. Petra Tschörtner, Thomas Heise, Herwig Kipping und Chetna Vora. Sie wollte „eigenes Wissen […] ver- vollständigen, sich mit Theorie befassen“ und „ohne organisatorische und Pro- grammzwänge Filme machen“.3 Fünf Studentenarbeiten belegen die Selbstfin- 1 Selbst neueste Filmografien zu Misselwitz klammern diese Regiearbeiten (als Helke Ho-mann) aus. Vgl. Claus Löser: Helke Misselwitz. In: Cornelia Klauß, Ralf Schenk (Hg.): Sie. Regisseurinnen der DEFA und ihre Filme. Berlin 2019, S. 227–233, hier S. 233. 2 Leonore Brandt: Ich hab dein Herz gesehen, wie es nackt im Glas erzitterte. Die Regisseu- rin Helke Misselwitz. In: Sonntag, Nr. 25, 1986, S. 5. 3 Manfred Mayer, Ulrike Bresch: Ansprüche haben und erfüllen. Porträt der Regiestudentin Helke Ho-mann, Hochschule für Film und Fernsehen, Potsdam-Babelsberg. In: Forum, Nr. 2, 1981, S. 15. Filmblatt 69 ∙ 201932 dung einer Autorenfilmerin, drei davon – allesamt Expeditionen in die jüngere deutsche Geschichte – stehen hier im Mittelpunkt. Nach der ersten dokumentarischen Studie Winterbilder4 von Anfang 1979 schloss sich im ersten Studienjahr an der HFF mit Verstecken die zweite Übung von Helke Misselwitz an, ein 16mm-Kurzspielfilm, neun Minuten, schwarzweiß. In einem Hinterhof spielen zwei Kinder Verstecken. Während das Mädchen mit geschlossenen Augen an einer Hauswand lehnt und „bleib wo du bist und rühr dich nicht“ singt, versteckt sich der Junge. Sie beginnt zu suchen. Ihr Gesang bleibt akustisch präsent und die subjektive, bewegte Kamera folgt ihren Blicken und Wegen. Schließlich verharrt das Mädchen vor einer Tür, an ihrer Kleidung ist der Judenstern sichtbar, die zeitliche Einordnung in die Jahre 1941 bis 1943 wird hergestellt. Das Lied begleitet fortan die im Keller angesiedelte Handlung, es wird eher flüsternd als singend vorgetragen. Ein Verschlag dient dem Mäd- chen als spärliches Nachtlager, ein Versteck, kein Kinderzimmer. Im Off hörbare Schritte von Männerstiefeln erzeugen Angst, sie streichelt ihren Teddy. Darauf bringt der Junge Essen nach unten, später zeichnen beide ihre Fantasiewelt da draußen, träumen sich in eine friedliche Natur. In die Realität zurückgeholt werden sie durch bedrohliche Geräusche: ein haltender LKW, Befehle und laute Stiefelschritte. Sie wecken Assoziationen an eine Razzia, an Deportation. Wie- der ist der Kellerraum voller Angst, die Kinder schauen sich schweigend in die Augen und die Kamera schwenkt auf eine sonnige Zeichnung. Nur wenig haben diese Montagen mit der konventionalisierten Praxis in der DDR gemein, NS-Vergangenheit darzustellen. Diese Praxis kannte Misselwitz zur Genüge, und damit wollte sie brechen. Grundzüge ihres emanzipierten fil- mischen Erzählens sind in Verstecken bereits angelegt – die Auswahl der Pro- tagonisten und der Drehort mitten in der Alltagsnormalität, der Verzicht auf ei- nen Sprecherkommentar, die kreative akustische Ebene. „Es geht hier nicht um die Heroisierung des ‚antifaschistischen Widerstands‘, sondern um elementares zwischenmenschliches Verhalten. Ungewöhnlich war auch der Umgang mit dem Ton, der nie illustrierend oder zur emotionalen Betonung eingesetzt wurde, sondern aus dem Off eigenständig Teile der Handlung übernahm.“5 Mit ihrem nächsten Übungsfilm Ein Leben (1980) und ihrem HFF-Diplom- film Die fidele Bäckerin (1982) begab sich Helke Misselwitz ebenfalls auf die Spuren individuell erlebter, entheroisierter Geschichte und wieder in die Zeit des Nationalsozialismus. Beide Filme sind als geschlossener Werkkomplex an- zusehen, denn sie gehen auf die gleiche Quelle zurück: eine im Sperrmüll in Berlin- Grünau gerettete Sperrholzkiste vom Ufa-Filmverleih, in der sich Fotos, 4 Die laut Auskunft von Misselwitz derzeit nicht vorführbare Rolle stummer 16mm-Film enthält Beobachtungen in Berlin-Köpenick: Kinder schreiben die Buchstaben des Alphabetes an eine Wand, dazu werden pro Buchstabe assoziative Bilder zugeordnet, beispielsweise ein Faschingsverleih für „F“. 5 Löser: Helke Misselwitz, S. 228. Filmblatt 69 ∙ 201934 zu ergründen, wie der große Rest der Gesellschaft sich in der Diktatur verhielt. Auch die schriftliche Diplomarbeit von Misselwitz ist im weiteren Sinne diesem Werkkomplex zuzurechnen, thematisierte sie doch Das Frauenbild im faschisti- schen deutschen Film – die Abhängigkeit seiner Darstellungsweise von der jewei- ligen politischen Taktik, untersucht an ausgewählten Filmbeispielen des „Dritten Reiches“.7 Mehrere Passagen reflektieren das nationalsozialistische Frauenide- al, das als Kontrapunkt zu den Stationen und dem Alltag von Maria Bartel ver- standen werden kann. Ein Leben beginnt mit einer Farbfilmsequenz: Die Handkamera streift durch einen verwahrlosten Dachboden, nach oben klaffen Lücken und Grün wächst auf den Balken. Zwischen dem Gerümpel liegen alte Privatfotos und Postkar- ten verstreut. Es ertönt der Zarah Leander-Hit von 1937 „Der Wind hat mir ein Lied erzählt“.8 Die Filmemacherin spricht aus dem Off: „Was ich da fand, mach- te mich neugierig, neugierig auf ein Leben, das ich nie kennengelernt hatte. Ich wurde geboren, als die besten Jahre der Bäckersfrau Maria Bartel zu Ende gingen: 1947. Maria war damals 46 Jahre alt. Während der Zeit des Faschismus stand sie in der Blüte ihres Lebens.“ Dieses Statement unterstreicht zum einen den persönlichen Zugang, das Interesse von Misselwitz an der Unbekannten, das sie sogleich in Beziehung zur eigenen Biografie setzt – eine Methode, die auf Winter adé vorausweist. Zum anderen kündigt es den Fokus auf den Na- tionalsozialismus an, und eine Spannung wird deutlich: hier die private Blüte und dort die gemeinhin dunklen Jahre. Dies ebenfalls eine Vorwegnahme von Winter adé, der auch so zusammengefasst werden kann: Die individuellen Ge- schichten, ob nun als untypisch oder gewöhnlich deklariert, sind immer anders als die große Geschichte aus den Lehrbüchern. Schließlich ist es der weibliche Blick von Helke Misselwitz auf Frauen, der von hier an die meisten ihrer Filme durchzieht – nicht als bloße feministische Geste, sondern aufgrund der biologi- schen Verwandtschaft: „Frauen waren mir einfach näher.“9 Die folgende, beinahe kriminalistische Recherche nach den Stationen der Maria Bartel hält Misselwitz in Schwarzweiß fest, Fotos werden eingeblendet, und die Regisseurin spricht dazu die ihr zugänglichen fragmentarischen Infor- mationen über Maria Bartel ein – wo sie geboren wurde, wer ihre Verwandten waren, wann, wen und wie oft sie heiratete. Von ihren Erkundungsreisen kehrt Misselwitz mehrfach auf den Dachboden zurück, wechselt wieder zur Farbe. Am ergiebigsten erweisen sich in Ein Leben jene Ausflüge, in denen sie mit Kamera- mann Roland Eising im Ost-Berlin von 1980 unterwegs ist und Orte aufsucht, an denen ihre Protagonistin zu Hause war, wo sie gearbeitet hat: Da streifen die 7 HFF Potsdam-Babelsberg, 3.11.1982. Die Arbeit kann in der Bibliothek der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF eingesehen werden (Signatur: Jr 236). 8 Aus dem Spielfilm La Habanera (D 1937, R: Detlef Sierck). 9 Helke Misselwitz zur Erö-nung ihrer Werkschau „Filmemachen ist für mich wie eine Expe- dition“ am 17.8.2017 im Filmmuseum Potsdam. Filmblatt 69 ∙ 2019 35 Was bleibt von einem Menschen? Spurensuche nach Maria Bartel in Ein Leben (1980) (Hochschule für Film und Fernsehen der DDR / Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF) Filmblatt 69 ∙ 201936 Filmemacher durch den ehemaligen Bäckerladen am Traveplatz (mit den noch vorhandenen Backöfen), in dem jetzt der Installateurmeister Rudolf Goldmann seine Werkstatt betreibt, die genauso aus der Zeit gefallen scheint wie die 50 Jahre älteren Fotos von Maria Bartel. Da interviewt Misselwitz zwei alte Frauen in Bartels Gründerzeitwohnung in der Frankfurter Allee. Sie erinnern sich an das „wunderbare“ Brot der 1920er Jahre, während es heute nicht mehr schmeckt. Gemeinsam schauen sie vom Balkon zur Stelle der damaligen Bäckerei – mittler- weile steht dort ein monströser Neubaublock. Auch andere Wirkungsstätten der Maria Bartel wurden abgerissen, bleiben unauffindbar; Menschen, die sie noch gekannt haben können, „sind verstorben oder verzogen“, wie Misselwitz zu Ein- stellungen aufgebrochener, verwahrloster Briefkästen ohne Namensschilder in einem dunklen Hausflur mitteilt. Einen Gegenpol zu diesen Bildern der Sta- gnation (nicht des sozialistischen Gedeihens) findet die Regisseurin in Maria Bartels Biografie, eine Frau, die immer wieder aufstand, weitermachte: als ihr erster spielsüchtiger und verschuldeter Mann 1935 Suizid beging, als ihr ein Heiratsschwindler den Hof machte, als ihr Freund an einem Herzinfarkt starb und ihr Sohn Arno, der ein an TBC erkranktes Mädchen kennengelernt hatte, nach 1945 selbst durch TBC zu Tode kam. Maria hat genommen und gegeben, äußert die ehemalige Bekannte Frau Ullrich vor der Kamera. Sie half Juden und genoss diverse Liebschaften. Ihr positives Erinnern hinterlässt Achtung vor der um 1975 Verstorbenen und auch Zweifel. Eine Differenz zwischen persönlicher Rückschau und Wahrheit wird erfahrbar. „War sie eine emanzipierte Frau, die mit robustem Willen das Leben meisterte und es – auch unter den politischen Umständen – genoss? Oder einfach eine berechnende Pragmatikerin?“10 „Ohne die Heldin preiszugeben“11 und ihr Handeln zu bewerten, entwarf Misselwitz ein ambivalentes Bild der Porträtierten und vor allem eins, das sich vom Muster der nationalsozialistischen Frau – „Gebärerin“ sowie dem männlichen „starken Ge- schlecht“ und der Familie dienend – erheblich unterschied. Aus beidem zieht Ein Leben seine Grundspannung. Nicht das Gradlinige, sondern das Brüchige und die innere Zerrissenheit der Maria Bartel erklärte Helke Misselwitz in ihrem ersten Spielfilm Die fidele Bäckerin (zugleich ihr Diplomfilm) zum zentralen Thema und wählte dafür eine nicht minder unkonventionelle Form. Zuvor hatte sie 1981 mit HAUS.FRAUEN. eine collage ihre wohl experimentellste Arbeit hochschulintern vorgelegt.12 In 10 Ilka Brombach: Ein Leben, 1980. In: Dies. (Hg.): Babelsberger Freiheiten. Filme der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ 1957–1990 [= Booklet zur DVD-Edition im absolut MEDIEN-Verlag]. Fridolfing 2018, S. 28. 11 Henry Goldberg: Wege und Schicksale – in Filmen dokumentiert. In: Neues Deutschland, 11.10.1980. 12 Zu dem selbst eingesprochenen Text „Nachts wenn das Pendel der Liebe schwingt“ von Paul Celan lässt Misselwitz mutmaßliche Bewohnerinnen einer ramponierten Villa Fragmen- te ihres Lebens als Pantomime darstellen, in Andeutungen und bruchstückhaft, so wie Ge- Filmblatt 69 ∙ 2019 37 der Filmerzählung konzentrierte sie sich auf eine Spanne von etwa zwei Jahren, von Frühjahr 1943 bis Ende Mai 1945, also auf die Endphase des Nationalsozia- lismus und den Neustart nach der Diktatur. Die auf den geretteten Dokumenten und eigenen Recherchen beruhenden Fakten zur Bäckerinnen-Biografie spitzte sie zu, baute darum eine konfliktreiche (aber nicht unwahrscheinliche) Hand- lung: Aus Maria Bartel wurde die gerade ausgebombte Maria Schwarzbach, die bei einer Freundin Unterschlupf findet und – durch Fürsprache des zuständigen Blockwarts Heinz Halbmeier – mit ihrem Sohn Arno eine leerstehende Bäckerei im Erdgeschoss eröffnen kann, die zuvor Juden gehörte. Mit dem kriegsversehr- ten Halbmeier geht sie ein Verhältnis ein, muss es eingehen, um den lungen- kranken Sohn vor der Front zu schützen. Dies misslingt letztlich, offenbar durch Beobachtungen der Gestapo, und Arno wird Teil des „letzten Aufgebotes“. Auch den versteckten Juden auf dem Dachboden kann Maria (trotz Brotgaben) nicht entscheidend helfen, der Blockwart verrät die illegal im Haus Untergebrachten. Es folgt die totale Auflösung – im zerstörten Geschäft trinken Maria, ihre Freun- din und der Blockwart die Weinvorräte leer. Doch am 21. Mai 1945 schreibt Ma- ria einen Brief an die sowjetischen Befreier: Als Antifaschistin und Bäckersfrau wolle sie den Aufbau unterstützen und denunziert Halbmeier: ein aktiver Nazi sei er gewesen, einer von den schlimmen. Misselwitz inszenierte Die fidele Bäckerin in einem historisch korrekt wir- kenden Set, genutzt wurde ein leerstehender Laden und eine Wohnung in Ber- lin-Weißensee. Es entstand jedoch kein realistischer Geschichtsfilm, was zu- nächst der Anlage der Figuren zu verdanken ist. Viele wurden durch namhafte Berufsschauspielerinnen und Berufsschauspieler wie Bärbel Bolle, Margit Ben- dokat, Käthe Reichel und Arno Wyzniewski verkörpert. Sie agieren überhöht und grotesk überspitzt: mal übertrieben steif, mal zu exaltiert, mal zu wortreich oder zu vordergründig emotional. Verletzungen durch die Umstände haben sie allesamt davongetragen, sind zu ehrlicher Kommunikation unfähig. Jochen Wisotzki erinnerte dies „an Gestalten Ödön von Horvaths“,13 die eine vollends entfremdete Gesellschaft zur Anschauung bringen, ohne gegen diese opponie- ren zu können. Die chronologisch aufgebauten narrativen Farbsequenzen wer- den durch ein weiteres starkes Verfremdungselement gebrochen: schwarzwei- ße, teils im Zeitraffer gefilmte surreale Szenen mit der Maria-Darstellerin Bärbel Bolle, die auf der Deponie Mühlenbeck angesiedelt sind. „Die Bäckerin auf einer Müllhalde, auf der Suche nach Gegenständen, die ihr bisheriges Leben präg- ten. Der Abfallhaufen als Metapher für das Ende des Nazireiches. Das Sichtbar- machen von Innenwelten.“14 Jene Welten verweisen ebenso auf die Zukunft wie schichte überliefert wird und auf Zukünftiges wirkt. Vgl. Reinhild Steingröver: Reimagining Woman: The Early Shorts of Helke Misselwitz. In: Kyle Frackman, Faye Stewart (Hg.): Gender and Sexuality in East German Film. Rochester, NY 2018, S. 207. 13 Jochen Wisotzki: Zum zweiten Mal der erste Film. In: Sonntag, Nr. 8, 1983. 14 Martin Mund: Filme zum Anschauen und Streiten. In: Die Weltbühne, 8.3.1983, S. 313. Filmblatt 69 ∙ 201938 auf den kommenden Blick von außen auf die NS-Vergangenheit, also auf die Konstruktion und Rekonstruktion von Geschichte: Wird eine spätere Generation die Handlungsweisen „gewöhnlicher Bürger“ unter einer Diktatur abseits des Gut-Böse-Schemas begreifen und nachempfinden können? Sind es diese (rea- len oder fiktiven) Biografien wert, in der Erinnerungskultur einen Platz zu be- kommen? Und wozu? Für die DEFA hatte der Regie-Mentor von Helke Misselwitz, Ulrich Weiß, diese Fragen 1982 mit „Ja“ beantwortet, als er in Dein unbekann- ter Bruder eine Alltagsskizze der NS-Zeit über ein Figuren-Tableau realisier- te, in dem selbst der kommunistische Widerstand mit Nazi-Spitzeln durchsetzt war – ein Film, der heftige Debatten und Widerstände auslöste, zwar nicht ver- boten, aber mit nur wenigen Kopien veröffentlicht und nur kurze Zeit in den Kinos gezeigt wurde.15 Sowohl Rollenprofile und Schauspielführung als auch die assoziativen Schwarzweißaufnahmen verhinderten in Die fidele Bäckerin jegliche Ein- fühlung und Identifikation mit den Protagonisten. Insofern entfernte sich Misselwitz in ihrem Diplomfilm stärker als in Ein Leben vom ästhetisch Gewohn- ten, wobei sie 1990 ihren ersten Spielfilmversuch – mangels Erfahrung in dem Metier – als noch unvollkommen einschätzte.16 Die bisweilen irritierenden Bil- der zielten auf den aktiven Rezipienten, der letztlich zum Nachdenken über die schwierige Fassbarkeit von Geschichte angeregt werden sollte. Helke Misselwitz beharrte deshalb in ihren Gedanken zum Diplomfilm, aufgeschrieben nach der Rohfilmabnahme auf dem idealistischen Anspruch, die Zuschauer mit solch künstlerisch verdichteten Werken bessern zu wollen – und bediente sich dazu eines Zitates von Friedrich Hölderlin, über den ihr Kommilitone Herwig Kipping parallel zu ihr seinen Diplomfilm Hommage à Hölderlin drehte: „Meinen Zög- ling zum Menschen zu bilden, das ist und war mein Zweck. Überzeugt davon, daß alle Humanität Vernunft heißt, wollte ich sein Edelstes entwickeln und ihn zum Bewußtsein seiner sittlichen Freiheit bringen … […] Ich möchte ins Allge- meine wirken, Bildung, Besserung des Menschengeschlechtes ist mein Ziel. Der Einzelne kann so zum Träger einer Hoffnung werden, die die bessere Zukunft aller einschließt.“17 15 Elke Schieber: Anfang vom Ende oder Kontinuität des Argwohns 1980 bis 1989. In: Ralf Schenk (Red.): Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg. DEFA-Spielfilme 1946–92. Herausge- geben vom Filmmuseum Potsdam. Berlin 1994, S. 286–287. 16 Er „ist mein vielleicht schwächster Film geworden. Ich war ziemlich unsicher und deshalb fehlte mir die Konsequenz.“ In: Axel Geiß: Gegen die Flut bunter Bilder. Gespräch mit Helke Misselwitz. In: Filmspiegel, Nr. 8, 1990, S. 26. 17 Helke Misselwitz: Gedanken zum Diplomfilm. Aufgeschrieben nach der Rohfilmabnahme. In: Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft, Nr. 3, 1982, S. 63. Zitiert wird „Hyperion“ von Friedrich Hölderlin. Vgl. Reinhild Steingröver: Spätvorstellung. Die chancenlose Generation der DEFA. Berlin 2014, S. 166. Filmblatt 69 ∙ 2019 39 Verstecken Deutsche Demokratische Republik 1979 / Produktion: Hochschule für Film und Fernsehen der DDR (HFF), Potsdam-Babelsberg / Regie: Helke Hoffmann (Übung 1. Studienjahr) / Ka- mera: Klaus M. Schmidt / Schnitt: Kerstin Fischer / Produktionsleitung: Christian Sturm / Darsteller: Martin Wölfel / Format: 16mm, s/w, Ton / Länge: 121 m, 9 Minuten Kopie: Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF, DCP, 9 Minuten Ein Leben18 Deutsche Demokratische Republik 1980 / Produktion: HFF, Potsdam-Babelsberg / Buch und Regie: Helke Hoffmann (publizistisch-dokumentarische Filmübung 2. Studienjahr) / Kamera: Roland Eising / Schnitt: Kerstin Fischer / Produktionsleitung: Christian Sturm / Ton: Werner Meiner / Format: 16mm, Farbe und s/w, Ton / Länge: 350 m, 31 Minuten / Aufführungen: 8.10.1980, 3. Nationales Festival Dokumentar- und Kurzfilme der DDR für Kino und Fernse- hen Neubrandenburg (Auftaktprogramm); 21.-28.11.1980, 23. Internationale Leipziger Doku- mentar- und Kurzfilmwoche 1980 (Ehrendiplom); 5.-10.5.1981, 27. Westdeutsche Kurzfilmtage Oberhausen (Ehrendiplom) Kopie: Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF, DCP, 31 Minuten Die fidele Bäckerin Deutsche Demokratische Republik 1982 / Produktion: HFF, Potsdam-Babelsberg (im Auf- trag des Fernsehens der DDR) / Buch und Regie: Helke Misselwitz (Diplomfilm) / Kamera: Andreas Bergmann / Schnitt: Gerda von Dorzewski / Produktionsleitung: Uwe Struwe / Szenarium: Bärbel Dalichow, Wolfram Witt / Kostüme: Joachim Voeltzke / Szenen bild: Udo Genschmer / Maske: Angelika Thom / Dramaturgie: Hans-Joachim Wallstein / Aufnahme- leitung: Uwe Eder, Heinz Arnold / Ton: Johannes Welskop, Jürgen Wittchen / Darsteller: Bärbel Bolle (Maria Schwarzbach), Margit Bendokat (Ilse Kühne Holstein), Arno Wyzniewski (Heinz Halbmeier), Käthe Reichel (Frau Meier), Hans-Uwe Bauer (Arno Schwarzbach), Reinhard Derwikowski, Peter Hiller / Mentor Regie: Ulrich Weiß / Mentor Kamera: Jürgen Brauer / Format: 35mm, Farbe und s/w, Ton / Länge: 1620 m, 59 Minuten / Aufführun- gen: 15.1.1983, Akademie der Künste der DDR, Berlin (Ost), Veranstaltung „Der erste Film“; 11.4.1983, 12.  Studententage der HFF, Filmtheater „Thalia“, Potsdam-Babelsberg (Anerken- nungsdiplom)  / TV-Ausstrahlung: 17.3.1988, 22:35 Uhr, Fernsehen der DDR, 2. Programm (Titel: Die fidele Bäckerin. Emmy und Maria) Kopie: Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF, DCP, 59 Minuten 18 Enthalten auf der Doppel-DVD Babelsberger Freiheiten. Filme der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ 1957–1990. Filmblatt 69 ∙ 201940 Der Scharfrichter und das Mädchen: Katharina Thalbach und Hilmar Thate (alle Fotos: Deutsche Kinemathek) Filmblatt 69 ∙ 2019 41 Christian Rogowski Berlins kurzer Sommer der Anarchie Thomas Braschs Erstlingsfilm Engel aus Eisen (1981) Wiederentdeckt 263, 2. März 2018 Im Dezember 1976 überquerte der Dramatiker und Dichter Thomas Brasch (1945– 2001), zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der Schauspielerin Katharina Thalbach, und deren Tochter Anna, in Folge der Entwicklungen nach der Ausbür- gerung des Liedermachers Wolf Biermann aus der DDR im November, die Grenze von Ost- nach West-Berlin. Im Gepäck hatte er eine Fülle von Texten, die in der DDR nicht publiziert werden konnten. Immer wieder waren seine Theaterstücke dort schon während der Proben verboten oder kurz nach der Urau"ührung abge- setzt worden. Lediglich ein kleines Konvolut von Gedichten konnte 1975 in einem schmalen Bändchen erscheinen.1 Leben in der DDR. 1945 im englischen Yorkshire als Sohn aus Deutschland geflohener jüdischer Kommunisten geboren, war Brasch wiederholt mit der DDR-Obrigkeit in Konflikt geraten. So wurde er 1965 wegen „existentialisti- scher Tendenzen“ vom Journalistik-Studium in Leipzig exmatrikuliert, ebenso 1968 vom Dramaturgie-Studium an der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg nach der Teilnahme an einer Flugblattaktion gegen die Niederschlagung des „Prager Frühlings” durch Truppen des Warschauer Pak- tes. Wegen „staatsfeindlicher Hetze“ angeklagt und nach zweieinhalb Monaten Haft zur „Bewährung in der Produktion“ entlassen, arbeitete er als Fräser im Transformatorenwerk „Karl Liebknecht“ in Ost-Berlin.2 Brasch erfuhr die Re- pressalien eines autoritären staatlichen Machtapparates buchstäblich am ei- genen Leib. In schonungsloser Härte dokumentieren seine Texte den Bankrott der sozialistischen Utopie im „Arbeiter- und Bauernstaat“, in dem eine autori- täre, doktrinär versteinerte Kader-Riege allzu oft Reformversuche und alterna- tive Lebensentwürfe einer jüngeren Generation unterdrückt. So trägt Braschs erstes im Westen verö"entlichtes Buch, ein Band mit kurzen Erzählungen, den tragisch-lakonischen und erschreckend hellsichtigen Titel, Vor den Vätern ster- ben die Söhne.3 1 Thomas Brasch: Poesiealbum 89. Herausgegeben von Bernd Jentzsch. Berlin (Ost) 1975. 2 Zur Biografie vgl. Margarete Häßel, Richard Weber (Hg.): Arbeitsbuch Thomas Brasch. Frankfurt a. M. 1987, S. 413–415. 3 Thomas Brasch: Vor den Vätern sterben die Söhne. Berlin (West) 1977. Filmblatt 69 ∙ 201942 „Zwischen Widerstand und Wohlstand.“ Im Westen wurde Brasch mit o"e- nen Armen empfangen. Presse und Medien zeigten großes Interesse: Das Nach- richtenmagazin Der Spiegel führte im Januar 1977 mit Brasch ein ausgedehntes Interview,4 Günter Grass lud ihn zu einem Begrüßungsgespräch ein, das im Febru- ar 1977 im Literaturmagazin des SWF-Fernsehens ausgestrahlt wurde,5 und Georg Stefan Troller widmete ihm wenig später ein halbstündiges Fernsehporträt in der ZDF-Reihe „Personenbeschreibung”.6 In rascher Folge kamen einige von Braschs bisher unverö"entlichten Stücken an führenden Theatern zur Au"ührung (u. a. Stuttgart, West-Berlin und Bochum) , es regnete Preise und Stipendien. Der Er- zählband Vor den Vätern sterben die Söhne wurde für den kleinen West-Berliner Rotbuch-Verlag zum Verkaufsschlager. Für seinen zweiten Band mit gesammel- ten Texten, Kargo (1977), wechselte Brasch zum wesentlich finanzstärkeren Suhrkamp-Verlag. So schien alles auf eine erfolgreiche Karriere in der bundes- deutschen Kulturlandschaft hinzudeuten. Aber auch im Westen widersetzte sich Brasch gängigen Rollen- und Identitätszuschreibungen, wehrte sich dagegen, als DDR-Flüchtling und Vorzeige-Dissident vom westlichen Kulturbetrieb verein- nahmt zu werden. Er stand der kapitalistischen „sozialen Marktwirtschaft“ der Bundesrepublik genauso kritisch gegenüber wie dem repressiven „real existieren- den Sozialismus“ in der DDR. „Zwischen Widerstand und Wohlstand“, so schrieb Brasch, „lebt es sich ungesund“.7 Hier wie dort diagnostizierte er systembedingte Einschränkungen für autonomes, auf Selbstverwirklichung zielendes Handeln – ob die Gängelung und Bevormundung nun durch einen von Stasi-Spitzeln und Partei-Bürokratie gestützten Machtapparat erfolgte oder durch eine Art Dikta- tur des Geldes. Beide Gesellschaftsmodelle sind, laut Brasch, als Industrie- und Leistungsgesellschaften gekennzeichnet von extremer Entfremdung und auf die Dauer unhaltbar. Im Hinblick auf sein noch in der DDR entstandenes und 1978 in West-Berlin uraufgeführtes Schauspiel Lovely Rita, das um die Ausbruchs- und Gewaltfantasien einer jungen Frau kreist, die 1945 von einem BesatzungsoD- zier vergewaltigt worden war und von einer Filmkarriere träumt, kommentierte Brasch, ihr Aufbegehren „entspricht meiner Erfahrung mit meiner Generation, die sich nicht mit dem identifizieren kann, was war (Krieg, Wiederaufbau einer Leistungsgesellschaft), und nicht mit dem, was zu werden scheint (Perfektionie- rung der Leistungsgesellschaft).“8 4 o. V.: „Ich stehe für niemand anders als für mich“. Schriftsteller Thomas Brasch über seine Emigration aus der DDR. In: Der Spiegel, Nr. 1, 3.1.1977, S. 79–81. 5 Ein Ausschnitt aus dem Gespräch ist einsehbar auf YouTube unter https://www.youtube. com/watch?v=fBscsR0_bk4 (letzter Zugri- am 17.8.2019). 6 Vgl. Annäherung an Thomas Brasch (BRD 1977, R: Georg Stefan Troller). 7 Thomas Brasch: Der schöne 27. September. Gedichte. Frankfurt a. M. 1980, S. 9. 8 Christoph Müller: „Eine geschichtslose Generation“. Thomas Brasch im Gespräch über sich und sein Schreiben. In: Theater heute, Nr. 18/2, 1977, S. 45–46. Zitiert nach Martina Hanf Filmblatt 69 ∙ 2019 43 Politische Widersprüche und untragbare Zustände machen sich in zwischen- menschlichen Beziehungen bemerkbar, unter anderem als Generationskonflikte im Familienzusammenhang. Ein autobiografischer Roman von Braschs jüngerer Schwester Marion und Dokumentarfilme von Christoph Rüter und von Annekatrin Hendel geben Aufschluss darüber, wie sehr die Familie Brasch auf oftmals tragi- sche Weise in spezifisch deutsch-deutsche historische und politische Spannun- gen und Widersprüche verstrickt war.9 Brasch war 1956 als Elfjähriger von seinem Vater, dem SED-Funktionär Horst Brasch, gezwungen worden, in die Naumburger Kadettenschule der Nationalen Volksarmee einzutreten. Und 1968 war es eine Anzeige seines Vaters  – mittlerweile zum stellvertretenden Kulturminister der DDR aufgestiegen – gewesen, die dazu führte, dass Brasch verhaftet wurde.10 Der- artige Lebenserfahrungen machten Brasch misstrauisch gegenüber ideologischer Vereinnahmung. Der Untertitel des ersten Gedichtbands, den der damals 32jähri- ge Brasch 1977 im Westen herausbrachte, spricht für sich: 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen.11 Der „Fall Gladow“. Es nimmt wenig Wunder, dass Figuren, die gegen Obrigkeit und Bevormundung, gleich welcher Art, aufbegehren, für Brasch von besonde- rem Interesse waren. Noch in der DDR trug sich Brasch mit dem Gedanken, einen der spektakulärsten Kriminalfälle der Berliner Nachkriegszeit, den „Fall Gladow“, künstlerisch aufzuarbeiten. 1948/49, zur Zeit der Berlin-Blockade und Luftbrü- cke, hatte der 17jährige Ost-Berliner Kleinkriminelle Werner Gladow, angeregt durch die Lektüre von Groschenromanen und amerikanischen Kriminalfilmen, seinem Vorbild Al Capone nachgeeifert und eine Bande von Berufskriminellen um sich geschart, die unter Ausnutzung der Ausnahmesituation in der geteilten Stadt eine Serie von spektakulären Raubzügen verübte. Wichtiger Verbündeter und Informant war dabei der frühere KZ-Häftling Gustav Völpel, der in der Nach- kriegszeit seinen Lebensunterhalt als Scharfrichter für die alliierten Siegermäch- te verdiente. Ende 1950 wurden Gladow und zwei seiner Bandenmitglieder in ei- nem Aufsehen erregenden Ost-Berliner Prozess wegen Mordes an einem Chau"eur sowie wegen wiederholten schweren Raubes und versuchten Totschlags zum Tode (Hg.): Thomas Brasch. „Ich merke mich nur im Chaos“. Interviews 1976–2001. Frankfurt  a. M. 2009, S. 19. 9 Marion Brasch: Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie. Frankfurt a. M. 2012; Tho- mas Brasch. Dichter, Schriftsteller, Filmemacher (D 2005, R: Christoph Rüter); Brasch – Das Wünschen und das Fürchten (D 2011, R: Christoph Rüter); Familie Brasch (D 2018, R: Annekatrin Hendel). 10 Martina Hanf, Kristin Schulz: Das Thema „Familie“. Aus einem Gespräch zwischen Marion Brasch und den Herausgeberinnen am 27. November 2003. In: Dies. (Hg.): Thomas Brasch. Das blanke Wesen. Arbeitsbuch. Berlin 2004, S. 63–69, hier S. 66. 11 Thomas Brasch: Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schi" aus der eigenen Haut zu kommen. Frankfurt a. M. 1977. Filmblatt 69 ∙ 201944 verurteilt. Die drei Mitglieder der berüchtigten „Gladow-Bande“ (Werner Gladow, Kurt Gäbler, Gerhard Rogasch) gehören somit zu den ersten Bürgern der DDR, die in dem jungen Staat hingerichtet wurden – anders als die Bundesrepublik hatte die DDR die Todesstrafe nicht abgescha"t.12 In der offiziellen Geschichtsschreibung der DDR galt der „Fall Gladow“ als ne- gatives Beispiel für die Verwahrlosung und Verrohung von Jugendlichen in der Nachkriegszeit. Gladow wurde als Schreckgespenst funktionalisiert, als Warnung davor, wie jemand aus Mangel an konstruktivem, sozialistischem Bewusstsein in die Kriminalität abrutscht. Für junge Menschen in der DDR der 1950er und 1960er Jahre hingegen wurde Gladow zu einer Art Volksheld und Identifikationsfigur, um den sich Legenden rankten, die mit Aufbegehren, Selbstverwirklichung und Sehnsucht nach Abenteuer zu tun haben. Im 1981 veröffentlichten Begleitband zu Braschs Film zeichnen denn auch zwei Kapitel die „Legendenbildung“ um den „Fall Gladow“ anhand von zeitgenössischen Berichten und Dokumenten nach.13 12 Vgl. hierzu Wolfgang Mittmann: Große Fälle der Volkspolizei. Band 5: Gladow-Bande. Die Revolverhelden von Berlin. Berlin 2003 sowie die SFB-Dokumentation Die Gladow-Bande. Chicago in Berlin (D 2000, R: Uwe Bönnen, Gerhard Endres). 13 Thomas Brasch: Engel aus Eisen. Beschreibung eines Films. Frankfurt a. M. 1981, S. 129–219 und S. 239–245. Gladow (Ullrich Wesselmann) und seine Bande Filmblatt 69 ∙ 2019 45 Eines dieser Kapitel besteht aus einem Szenarium, das Brasch im Vorfeld zur Arbeit an dem Film entwarf. Unter dem Titel „Lucie, geh oder Das Unglück auf dem Theater“, skizzierte Brasch für das West-Berliner Schillertheater eine Art Stadtrundfahrt, in der Werner Gladows Mutter Lucie die Theaterzuschauer ein- lädt und im Bus zu den Stätten auf beiden Seiten der Mauer chauffiert, an denen die Gladow-Bande tätig war.14 Offenbar hegte Brasch die Hoffnung, für die Rolle der Lucie Oscar-Preisträgerin Simone Signoret zu gewinnen (die 1921 als Simone Kaminker in Wiesbaden geboren worden war und daher deutsch sprach). Ange- sichts der Teilung der Stadt ließ sich das Projekt, das die West-Berliner Zuschau- er per Bus auch in den Ostteil der Stadt hätte führen sollen, allerdings nicht re- alisieren.15 Nachdem Brasch sich zu einer Verfilmung des Stoffes entschlossen hatte, plan- te er zunächst eine Art ironischen „Lehrfilm“: „[S]o wie ein Film über das Leben der Ameisen oder über Bergbauern, wie man das aus der Schule kennt, so soll- te Gladow in diesem Lehrfilm ein Publikum in Kriminalität unterrichten.“16 Die- ser bescheiden konzipierte Film sollte zunächst im Rahmen der ZDF-Reihe „Das kleine Fernsehspiel“ entstehen. Von Rainer Werner Fassbinder wurde Brasch auf Möglichkeiten der bundesdeutschen Filmfinanzierung aufmerksam gemacht, und durch den Einstieg des in München und West-Berlin tätigen Produzenten Joachim von Vietinghoff wurde dann eine ungleich aufwändigere Produktion für einen abendfüllenden „großen historischen Kinofilm“ ermöglicht.17 „Der Staat ist anderweitig beschäftigt.“ Statt die Gangster-Geschichte nach gängigen Mustern mit dramatischen Verfolgungsjagden und packenden Action- Szenen darzubieten, seziert der in kühlen, oft rätselhaft verschlüsselten Mo- mentaufnahmen voranschreitende Film mit klinisch distanziertem Blick das Verhalten von Menschen in einer Ausnahmesituation, ohne dieses moralisch zu bewerten. Auf vielschichtige und oft sperrige Weise erzählt der Scharzweiß gedrehte Film von drei Menschen, die jeder auf seine Weise das Chaos einer sus- pendierten staatlichen Ordnung für sich zu nutzen versuchen, um gegen die bestehenden Verhältnisse aufzubegehren. Die Blockade schneidet nicht nur die Versorgungswege für die drei Westsektoren der Stadt ab, sondern erschwert durch die Aufsplitterung der Polizei auch die Ermittlung und Verfolgung von Straftaten. Im Film kommentiert Völpel trocken die Lage: „Der Staat ist ander- weitig beschäftigt. Die ham mit der Luftbrücke zu tun. Und das is unsre Stun- de. Du hast die Leute, ich hab die Informationen. Und keiner weiß was. Außer 14 Ebd., S. 239–245. 15 Vgl. Häßel, Weber: Arbeitsbuch, S. 179–181. 16 Zit. in ebd., S. 180. 17 Joachim von Vietingho-: Zweifellos ein Visionär. In: Hanf, Schulz (Hg.): Thomas Brasch, S. 132–137. Filmblatt 69 ∙ 201946 wir beide.“18 Braschs Film hält sich nur bedingt an die historisch verbürgten Tatsachen. So stellt er den beiden historischen Protagonisten Gladow (Ullrich Wesselmann) und Völpel (Hilmar Thate) eine weibliche Figur zur Seite: Lisa Gabler ( Katharina Thalbach), die Ehefrau eines der Bandenmitglieder, träumt ihrerseits von einer großen Karriere im amerikanischen Stil, als Sängerin und Tänzerin.19 Statt diese Ziele als irregeleitet zu verurteilen oder sie an festen Moralvorstellungen zu messen, nimmt Braschs Film diese Wunschträume und Aufstiegsfantasien ernst als Manifestationen eines nicht zu unterdrückenden Lebenswillens bzw. eines anarchischen Widerstands gegen unterdrückerische Lebensbedingungen. Krieg und Nachkriegszeit mit ihrem Überlebenskampf und den wiederholten politischen Krisen zwingen die Menschen dazu, sich irgend- wie durchzuschlagen, sei es auf legale oder illegale Weise, so dass die Grenzen zwischen legalem und kriminellem Verhalten verwischen. Alle versuchen, auf ihre Weise „klar zu kommen“, wie es die Mutter Gladows lakonisch auf den Punkt bringt.20 Auch die Versuche von Lisa und von Völpel, die eigene Haut zu retten, als die Bande auEiegt, werden von Brasch nicht einer moralischen Kritik un- terzogen. Braschs Film sträubt sich gegen jegliche ideologische Vereinnahmung, ebenso wie er sich den Konventionen des Kriminal- oder Gangsterfilms verweigert. So wird die Handlung des Films von zwei allegorischen Szenen umrahmt, in denen die Darsteller des Völpel und der Lisa als „Mann mit dem Goldhelm“ und „Frau mit dem weißen Gesicht“ vor einem Propeller-Flugzeug zu sehen sind. Völpel erscheint in einer Art Samurai-Kostüm, zum Zeichen, dass der historische Völpel als Scharfrichter „ein ganz bestimmtes Handwerk gelernt hat und dieses Handwerk ist nicht mehr gefragt.“21 Am Anfang versucht die Frau vergebens, den Propeller der Maschine anzuschieben, der Mann schaut in den Himmel und äußert einen Wunsch: „Lieber Gott, erspar mir, in einer uninteressanten Zeit zu leben.“22 Gegen Ende des Films sitzen die beiden entkräftet unter dem Flugzeug und starren schweigend in die Luft, die Frau pfeift vor sich hin.23 Wohl hat sich die Zeit als „interessant“ erwiesen – der Traum vom Aufsteigen und Aussteigen aber ist offensichtlich ausgeträumt. 18 Brasch: Engel aus Eisen, S. 63. 19 Eine weitere Erfindung Braschs ist die Rolle der schwarzen amerikanischen Besatzungs- soldatin Mimi, die mit Lisa befreundet ist, gespielt von Mimi Strum, die im September 1978 in der amerikanischen Erstau-ührung von Braschs Lovely Rita am Theatre for the New City in New York die Titelrolle gespielt hatte. Vgl. Häßel, Weber (Hg.): Arbeitsbuch, S. 137f. 20 Brasch: Engel aus Eisen, S. 76. 21 Rolf Hosfeld: Der Samurai ist ein großes Thema. omnibus-Gespräch mit Thomas Brasch in Zürich. In: omnibus, Nr. 4, 1981, S. 4–8. Zitiert nach Häßel, Weber (Hg.): Arbeitsbuch, S. 190. 22 Brasch: Engel aus Eisen, S. 17. 23 Ebd., S. 128. Filmblatt 69 ∙ 2019 47 Im Film wird der A