zeitschrift für medienwissenschaft 1/2023 gesellschaft für medienwissenschaft (hg.) zeitschrift für medienwissenschaft 2 8 PROTOKOLLE 1/2023 — EDITORIAL Medienwissenschaft zu betreiben bedeutet immer auch, sich zu fragen, was die Voraussetzungen und Bedingungen der eigenen Forschung sind. Die Medialität von Dingen und Ereignissen wird häufig erst in der Beschäftigung mit ihrer Theorie und Geschichte, ihrer Technik und Ästhetik freigelegt. In diesem Sinne betreibt die ZfM eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epis- temischen Konstellationen zu fragen. Unter dieser Prämisse sind Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso wichtig wie die Präsenz von Wissenschaftler*innen verschiedener disziplinärer Herkunft. Die ZfM bringt zudem verschiedene Schreibweisen und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben. Jedes Heft eröffnet mit einem SCHWERPUNKTTHEMA , das von einer Gastredaktion k onzipiert wird. Unter EXTRA erscheinen aktuelle Aufsätze, die nicht auf das Schwerpunktthema bezogen sind. DEBATTE bietet Platz für theoretische und / oder (wissenschafts-)politische Stellungnahmen. Die Kolumne WERKZEUGE reflektiert die Soft- und Hardware, die Tools und Apps, die an unserem Forschen und Lehren mitarbeiten. In den BESPRECHUNGEN werden aktuelle Veröffentlichungen thematisch in Sammelrezensionen diskutiert. Die LABORGESPRÄCHE setzen sich mit wissenschaft- lichen oder künstlerischen Forschungslaboratorien und Praxisfeldern auseinander. Von Gebrauch, Ort und Struktur visueller Archive handelt die BILDSTRECKE. Aus gegebenen Anlässen konzipiert die Redaktion ein INSERT. Getragen wird die ZfM von den Mitgliedern der Gesellschaft für Medienwissenschaft, aus der sich auch die Redaktion (immer wieder neu) zusammensetzt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich an der ZfM zu beteiligen: (1) die Entwicklung und redaktionelle Betreuung eines Schwerpunkt- themas, (2) die Einreichung von Aufsätzen und Reviewessays für das Heft und (3) von Buchrezen- sionen und Tagungsberichten für die Website. Alle Beiträge sind im Open Access verfügbar. Auf www.zfmedienwissenschaft.de befinden sich das Heftarchiv, aktuelle Besprechungen und Web-Extras, Blog-Beiträge sowie genauere Hinweise zu Einreichungen. — MAJA FIGGE, MAREN HAFFKE, TILL A. HEILMANN, KATRIN KÖPPERT, FLORIAN KRAUTKRÄMER, ELISA LINSEISEN, JANA MANGOLD, GLORIA MEYNEN, MAJA-LISA MÜLLER, BIRGIT SCHNEIDER, FLORIAN SPRENGER, STEPHAN TRINKAUS, THOMAS WAITZ — INHALT Editorial PROTOKOLLE 10 O L I V E R L E I S T E RT / M A RY S H N AY I E N Protokolle Einleitung in den Schwerpunkt 18 L AU R A N I E B L I N G Interoperable Protokolle Der DICOM-Standard und die konfliktträchtige D igitalisierung medizinischer Bilder 30 TOBIAS STADLER Grammatiken der Alterität Das Protokoll als Labor der Sozialität 43 JA N H A R M S Von Sprechakten und S chreibfakten Logiken des Protokolls in den True-Crime-Podcasts «Serial» und «Undisclosed» 55 M A RT I N D E G E L I N G / S O H E I L H U M A N Internet Privacy Protocols 71 A L E X A N D E R R . G A L L OWAY im Gespräch mit M A RY S H N AY I E N und O L I V E R L E I S T E RT «Ob man etwas tun kann oder nicht, ist eine rein mechanische oder materielle Frage» Zu den Politiken und Effekten von Internetprotokollen und den Möglichkeiten ihrer Historisierung 86 W E N DY H U I K YO N G C H U N im Gespräch mit O L I V E R L E I S T E RT und M A RY S H N AY I E N «Das Protokoll ermöglicht eine Bruderschaft» Zu Offenheit, dem Sozialen und der Dekolonisierung von Protokollen BILDSTRECKE 96 A N TO N I A B A E H R / J U L E F L I E R L / I S A B E L L S P E N G L E R / N A D I A L AU R O vorgestellt von PHILIPP HOHMANN Die Hörposaune LABORGESPRÄCH 106 A N JA K A I S E R im Gespräch mit M A R E N H A F F K E und JA N A M A N G O L D Rutschige Medien Theoriereflexion, Feminismus und Aktivismus im Grafikdesign EXTRA 122 B E AT E O C H S N E R / J U D I T H W I L L KO M M / H A R A L D WA L D R I C H / M A R K U S S P Ö H R E R «Serious Gaming» – oder Spielen ernst nehmen Ein Forschungsprogramm DEBATTE Medienwissenschaft und Bildung 139 A N D R E A S W E I C H / A D R I A N N A H L U K H OV Y C H Bildungsauftrag. Was Medienwissenschaft im Kontext von Medien und Bildung tut, tun könnte und tun sollte WERKZEUGE 150 T H O M A S WA I T Z Performanz/Fame Über Wissenschaftskommunikation 154 AU TO R * I N N E N 157 B I L D N AC H W E I S E 158 I M P R E S S U M — PROTOKOLLE Erste Ausgabe der Zeitschrift Protokolle. Wiener Jahreszeitschrift für Literatur, bildende Kunst und Musik (1966), Cover entworfen von Haimo O. Lauth. Herausgeber und Mitbegründer Gerhard Fritsch in der Einleitung: «PROTOKOLLE, DIE NICHT VOLLSTÄ NDIG SEIN, ABER EINE GEW ISSE V ERBINDLICHK EIT H ABEN wollen» (Herv. i. Orig.). PROTOKOLLE —– Einleitung in den Schwerpunkt Protokolle 2.0? Eine kleine Polemik 1 Vgl. Hannah Murphy, Tim Als hätten wir es vorausgesehen! Seit der Planung dieses Schwerpunkts ist Bradshaw: Twitter job cuts begin as viel Bewegung auf dem Plattform-Markt zu notieren, die auch die Diskus- Musk warns of ‹massive› revenue drop, in: Financial Times, 5.11.2022, sion um die Wichtigkeit und den Einsatz von Protokollen neu entfacht hat. ft.com/content/b9a2a0ec-d3fe-422d- Mit der Übernahme Twitters durch Elon Musk, der erst einmal die Hälfte bc62-fa9ddfd3f06c (16.11.2022). 2 Vgl. Cristina Criddle, Hannah der Belegschaft gefeuert hat und absehbar viel Ärger mit Regulierungsbe- Murphy: Meta cuts 11,000 staff in hörden und Werbekund*innen haben wird,1 blühen das Fediverse und des- largest cull in company’s history, in: Financial Times, 9.11.2022, ft.com/ sen derzeit bekanntester Mikroblogging-Dienst Mastodon auf. Meta hat für content/348068b1-24d9-434b-9ae7- über 15 Milliarden US-Dollar das teuerste Computerspiel aller Zeiten ge- 6599027bf84f (16.11.2022). 3 Vgl. Dave Lee: Amazon scruti- baut, woraufhin der Aktienkurs um 60 Prozent eingebrochen ist, und hat über nises lossmaking units in search of 11.000 Mitarbeiter*innen gekündigt.2 Auch Amazon macht weder mit seinem savings, in: Financial Times, 10.11.2022, ft.com/content/b6e8e01c-cc48-43cc- digitalen Assistenzsystem Echo noch mit seinen Stores Gewinne 3 und hat 9405-2fc67ff20817 (16.11.2022). zum ersten Mal über 10.000 Corporate-Mitarbeiter*innen entlassen. Alpha- 4 Vgl. Cecilia Kang: Google Agrees to $ 392 Million Privacy Settlement bets Kerngeschäft läuft zwar noch recht rund (obwohl die damit systematisch With 40 States, in: New York Times, verbundenen Geldstrafen auch für Alphabet langsam schmerzhaft sein dürf- 14.11.2022, nytimes.com/2022/11/14/ technology/google-privacy-settlement. ten) 4 – die Aktie hat innerhalb eines Jahres jedoch auch um rund ein Drittel html (16.11.2022). nachgegeben, und der Ruf nach Entlassungen wird lauter.5 Seit das Geld nicht 5 Vgl. Richard Waters, Tabby Kinder: Alphabet faces call from mehr so billig ist wie in all den vielen Jahren der Null-Zins-Politik zuvor, mel- activist fund to cut headcount, in: den auch verschiedene Plattformlieferdienste, dass sie nicht mehr lange durch- Financial Times, 15.11.2022, ft.com/ content/6daa5d29-8595-4630-a633- halten werden.6 Es stellt sich also die Frage: Erreichen wir mit dem Ende des eb1f8b138446 (16.11.2022). billigen Geldes nun auch das Ende des Plattformzeitalters? Vielleicht zeigt 6 Vgl. Sarah O’Connor: How will we remember the age of cheap sich aber auch einfach nur, dass Menschen dann doch lieber Textnachrich- money?, in: Financial Times, 1.11.2022, ten mit Emojis schreiben wollen, als in der vollen Immersion baden zu ge- ft.com/content/1d2af214-caf6-4326- 916d-b597577186c8 (16.11.2022). hen. «Wir brauchen Protokolle, keine Plattformen», schreibt Geert Lovink 10 ZfM 28, 1/2023 in seinem aktuellen Buch.7 Doch wieso eigentlich? Welche Hoffnungen werden in Protokolle gesetzt? Welchen Unterschied machen sie? Was sind Protokolle? Protokolle strukturieren und formieren, was war und was sein wird. Dabei operieren sie sowohl de- skriptiv als auch präskriptiv, stets jedoch normie- rend. Als Textsorte 8 speichern Protokolle Sprech- akte mit Anspruch auf Wahrheit in Schriftform, insbesondere im institutionellen Kontext. Cornelia Vismann datiert dies auf die römischen Instituti- onen, genauer auf Cäsars erstes Konsulat im Jah- re 59 v. Chr., als die senatorischen acta, die Mitschriften der Verhandlungen Abb. 1 Tweet von Elon Musk: des römischen Senats, veröffentlicht und durch öffentliche Aufbewahrung im «the bird is freed» vom 28.10.2022, Screenshot Archiv personenunabhängig wurden: «Mit der Emanzipation der Akten von ihren Aktenführern […] bereitet sich der Wechsel des Herrschaftsdispositivs von der Nachricht zum Nachweis und damit von Administration zu Autorität vor».9 Indem Protokolle ferner durch Echtheitszeichen zertifiziert und aus- schließlich auf hoheitlichem Papyrus niedergeschrieben wurden, eröffneten sie «im Raum der Regierungstechnologien die Epoche der Wahrheit», wie Michael Niehaus eindringlich schreibt.10 Dieses «Protokoll-Dispositiv» orga- nisiert fortan zurechenbare, beurkundete und adressierbare Beweisfähigkeit durch «übernommene Zeugenschaft für geschehene und vollzogene acta».11 Autorität gewinnen Protokolle ferner durch ihre «Kopräsenz zur Aktion», wie Vismann herausarbeitet, denn «die mündliche Handlung wird zur Wahrheits- garantin der schriftlichen und umgekehrt macht ihre Verschriftlichung eine 7 Geert Lovink: In der Plattform- mündliche Verhandlung wahrheitsfähig».12 Dies erforderte auch neue Medien- falle. Plädoyer zur Rückeroberung des techniken, die mit der Geschwindigkeit der Sprechakte mithalten konnten. Internets, Bielefeld 2022, 183. 8 Vgl. Michael Niehaus, Hans- Die «präsentische Struktur»13 von Protokollen wird möglich durch mit Grif- Walter Schmidt-Hannisa (Hg.): feln in Wachs geritzte Schnellschrift, die erst in Reinschrift transkribiert auf Das Protokoll. Kulturelle Funktion einer Textsorte, Frankfurt / M. 2005. Dauer und Wahrheit abstellt. Im Feld des Rechts und der Verwaltung wird 9 Cornelia Vismann: Akten. Me- Protokollieren zum Fakten produzierenden Akt und damit performativ.14 Als dientechnik und Recht, Frankfurt / M. 2000, 84. Instrument der Kontrolle verbürgen und verwalten Protokolle Wahrheit. Nur 10 Michael Niehaus: Epochen ihr Zustandekommen kann fortan noch angefochten werden. Ihre Inhalte sind des Protokolls, in: ZMK. Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, Jg. 2, durchs Codieren immunisiert und gelten als authentisch.15 Nr. 2, 2011, 141 – 156, hier 141. 11 Vismann: Akten, 85 f. 12 Ebd., 86. 13 Ebd. Internet-Protokolle 14 Vgl. ebd., 87 – 89. 15 Für 2023 ist ein weiterer Die kontrollierende, Fakten schaffende Eigenschaft von Protokollen ist indes Sammelband zum Thema ange- auch für andere Spielarten des Protokolls jenseits des Rechts, der Verwaltung oder kündigt: Peter Plener, Nils Werber, Burckhardt Wolf (Hg.): Das Protokoll, der Diplomatie gültig: Technisch-operative Protokolle beschreiben Kaskaden Berlin, Heidelberg 2023. SCHWERPUNKT 11 OLIVER LEISTERT / MARY SHNAYIEN Abb. 2 Entwicklung von TCP- formalisierter Standards oder Übereinkommen, die als Kontrollr egime flexibler und IP-Protokollen (Zeitstrahl), materieller oder semiotischer Organisation implementiert werden. Damit struk- nach Bakni 2022 turieren Protokolle autoritär, vorhersagbar und hierarchisch das Format und Verhalten von Daten und Objekten sowie deren Möglichkeiten der Teilnahme an infrastrukturellen Netzwerken.16 Obgleich regelbasiert, bleiben sie offen für eine Vielzahl verschiedener Inputs, denn es «besteht zwischen deren Vorschrift- charakter, Kontrolleffekten und den Praktiken im Netzwerk kein strikt deter- ministischer Zusammenhang».17 Indem sie auf je eigene Weise codieren, was sie regieren, entstehen potenziell Konflikte einer Übersetzung über verschiedene Protokoll-Milieus hinweg.18 Im Feld der Netzwerkprotokolle haben insbesondere das Transport C ontrol Protocol (TCP) sowie das Internetprotocol (IP) zum Erfolg des Internets, wie wir es heute kennen, beigetragen: Mit TCP / IP konnten Nutzer*innen erstmals hersteller*innenunabhängig, ausfallsicher, dezentral und unabhängig von Inhal- 16 Vgl. Gerd Beuster, Oliver L eistert, Theo Röhle: Protocol, in: ten (content agnostic) quasi synchron Daten schicken und empfangen. Die Idee Internet Policy Review, Bd. 11, Nr. 1, und Implementierung der Aufteilung von Netzwerkdaten in einzelne Pakete 31.3.2022, policyreview.info/glossary/ protocol (15.8.2022). auf Protokollebene, die je unterschiedliche Wege durch das Netz n ehmen 17 Sebastian Gießmann: Die konnten, um am Zustellort wieder korrekt zusammengesetzt zu werden, in Verbundenheit der Dinge. Eine Kultur- geschichte der Netze und Netzwerke, Kombination mit einfachen Weiterleitungsregeln und dem Ende-zu-Ende- Berlin 2016, 125. Prinzip durch I P-Adressen hat wohl entscheidend zum Siegeszug des Internets 18 Vgl. Ned Rossiter: Software, Infrastructure, Labor. A Media Theory beigetragen. «If the Internet is still public – that is, an indeterminate space of Logistical Nightmares, New York that belongs to no one – it is because the Internet is a protocol, is TCP / IP»,19 2016, 96. 19 Wendy Hui Kyong Chun: Control schrieb W endy Hui Kyong Chun 2006 und erläutert im Gespräch mit uns in and Freedom. Power and Paranoia in dieser ZfM- Ausgabe ihre heutige Sicht auf Protokolle. the Age of Fiber Optics, Cambridge (MA) 2006, 63. Doch die offene Protokoll-Designphilosophie,20 die das Internet hervor- 20 Vgl. Laura DeNardis (Hg.): brachte, bringt, ähnlich wie Open-Source-Software, auch Probleme mit sich. Opening Standards. The Global Politics of Interoperability, Cambridge (MA) 2011. Das Scheitern der Einführung von IPv6 ist hier vielleicht der eindringlichste 12 ZfM 28, 1/2023 EINLEITUNG IN DEN SCHWERPUNKT Fall: Bereits seit 2014 sind in Asien alle IPv4-Adressen vergeben. IPv6, das diese Knappheit lösen sollte, fristet jedoch seit seiner Einführung im Jahr 1995 (!) ein nerdiges Schattendasein im operativen Betrieb des Netzes der Netze, da weder Plattformen noch Services oder Privathaushalte spürbar von seiner Durchsetzung profitieren.21 Auch hat sich die Offenheit und Selbstre- gulierung des Internets als Einfallstor unternehmerischer und k ommerzieller Strategien erwiesen: «[T]he self-regulation of the Internet architecture un- dermined the very design goals of the Internet architecture, changed its socio- technical imaginary, and facilitated the prioritization of corporate i nterests.»22 Insofern gilt es fortan, auch Internetprotokolle samt ihrer Designphilosophie zu problematisieren und die Frage zu stellen, wie der kapitalistische Verein- nahmungsapparat in Zukunft außen vor gehalten werden kann: «The pre- sumably ‹good› protocols and decentralized nature as a ‹network of networks› turned out to be unable to challenge both centralized platforms and authori- tarian control and proved susceptible to control and unable to route around real-world politics and treat it as damage», wie Geert Lovink kürzlich kon- statieren musste.23 Die von Alexander Galloway entworfene Machtanalytik von TCP / IP und DNS in seinem vor rund 20 Jahren erschienenen Buch Protocol. How Control Exists after Decentralization 24 ordnet er selbst im Gespräch in dieser ZfM-Aus- gabe als eher von historischem Wert ein. Seine Definition von protocol als «a type of controlling logic that operates outside institutional, governmental, and corporate power, although it has important ties to all three»,25 hat dennoch me- dienkulturwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit digitalen Medien und Kulturen in den letzten beiden Jahrzehnten maßgeblich geprägt: Protocol als sich ständig in Bewegung befindliche, modulierende und modulierte Struktur, mit der Macht und Kontrolle als stets fluide denkbar werden, wirft eben genau die Frage auf, welche Art von Kontrolle oder Management dies ist und wie 21 Vgl. Paul Dourish: The once and f uture internet: infrastructural Widerstand darin noch Platz findet. tragedy and ambiguity in the case Sollten sich die eingangs konstatierten Bedeutungsverluste von Plattformen of IPv6, in: Internet Histories, Bd. 2, Nr. 1 / 2, 2018, 55 – 74. als nachhaltig erweisen, erscheint heute die Frage nach dem Stellenwert von 22 Niels ten Oever: «This is not Protokollen umso dringlicher. Hat eine protokollogische Kontrolle, die «based how we imagined it»: Technological affordances, economic drivers, and in openness, inclusion, universalism, and flexibility» ist,26 in Anbetracht des the Internet architecture imaginary, Niedergangs der Werte, die einst das Internet hervorbrachten, heute mehr in: New Media & Society, Bd. 23, Nr. 2, 2021, 344 – 362, hier 357. als nostalgisches Schwelgen zu bieten? Es gibt kein Zurück, sagt Galloway 23 Geert Lovink: Extinction Internet. hier im Interview, ähnlich wie Geert Lovink, der schreibt: «Is it possible to Our Inconvenient Truth Moment, Amsterdam 2022, o. S., networkcul go back from platforms to protocols? Is there still time left to do the coding tures.org/wp-content/uploads/2022/11/ and create new scripts of connection? With levels of despair and anger rising, ExtinctionInternetINC2022Miscellanea. pdf (25.11.2022). many feel it will be too little too late.»27 Wut und Verzweiflung sind jedoch 24 Alexander R. Galloway: vielleicht nicht die besten Ratgeber*innen. Vielmehr geht es (wieder einmal) Protocol. How Control Exists after Decentralization, Cambridge (MA) um Experimente, um Versuchsanordnungen und temporäre Assoziationen, die 2004. dazu dienen, Bedürfnisse und Wünsche heutiger Verschaltungen von Mensch 25 Ebd., 122. 26 Ebd., 142. und Maschine zu artikulieren. 27 Lovink: Extinction Internet, o. S. SCHWERPUNKT 13 OLIVER LEISTERT / MARY SHNAYIEN Blockchain-Protokolle Es mag überraschen, derartige Protokoll-Experimente ausgerechnet im Feld der Blockchains anzutreffen. Blockchains erinnern verblüffend an Protokolle, wie sie Cornelia Vismann beschrieben hat, mit dem Unterschied, dass keine hoheit- lichen, sondern kryptografische Zertifikate die A uthentizität im B uchungsbuch verbürgen sollen. Auch ähneln Blockchains frappierend Protokollen in ihrer Eigenschaft als Mitschriften von Transaktionen und K ommunikation. Ein Löschen ist nicht vorgesehen. Erneut ist es die Offenheit von TCP / IP, auf die dies alles aufsetzt und die diesen Boom der wundersamen Welten der Blockchain-Protokolle erst zulässt. Dies zeigt einmal mehr, was auch W endy Hui Kyong Chun im Interview sagt: Offenheit hat zunächst wenig mit Öffentlichkeit und wohl noch weniger mit Teilhabe zu tun. P rotokolle, die paradigmatisch künstliche Verknappungen im Digitalen forcieren sollen, set- zen protokollogisch reibungslos auf TCP / IP auf. Hierfür werden kryptografische Zertifikate, Schlüssel und Hashes auf der Kette verwaltet,28 mit denen allerlei 28 Vgl. Beuster u. a.: Protocol. Wetten a bgeschlossen werden: Das Zusammenbasteln von hochriskanten 29 Vgl. Karen E. C. Levy: F inanzprodukten mithilfe sogenannter Smart-Contracts, die vielmehr kurze Book-Smart, Not Street-Smart: Blockchain-Based Smart Contracts Programme sind und nur wenige Eigenschaften mit Verträgen teilen,29 dringt and The Social Workings of Law, als Folge davon in den Heim- und Amateurbereich vor. Wetten auf zukünftige in: Engaging Science, Technology, and Society, Bd. 3, 2017, 1 – 15. Werte (Options) oder synthetische, ineinander verschachtelte Derivate, unver- 30 The Big Short, Regie: Adam gesslich in The Big Short porträtiert,30 lassen sich protokollogisch grenzenlos ver- McKay, USA 2015. 31 Vgl. Saule T. Omarova: vielfachen. Dies ist insofern irritierend, als Bitcoin, die Mutter aller Blockchains, New Tech v. New Deal: Fintech as einst als Gegenentwurf zur etablierten Finanzwelt antrat, das g anze Feld nun a S ystemic Phenomenon, in: Yale Journal on Regulation, Bd. 36, Nr. 2, aber wie eine Version derselben auf Steroiden wirkt. Doch neben und oft im 2019, 735 – 793. Schatten vom unregulierten Ausbau predatorischer Finanzlogiken 31 als Open- 32 Vgl. Marc Garrett u. a. (Hg.): Artists Re:Thinking the Blockchain, Source-Ressource entstehen protokollogische Experimente mit ganz anderen London 2018. Zielen. Künstler*innen 32 und Aktivist*innen 33 versuchen, einen systematischen 33 Vgl. Oliver Leistert: On the Question of Blockchain Activism, in: Platz für die Funktionalitäten von Blockchains in den Assemblagen und Dispo- Graham Meikle (Hg.): The Routledge sitiven künstlerischer und kollektiver Praktiken zu finden.34 Hier werden neue Companion to Media and Activism, New York 2018, 376 – 384. Formen der Mitwirkung, Abstimmung und Governance erprobt – mit, durch 35 34 Vgl. Felix Stalder, Janez Fakin und auch gegen 36 technisch-operative Blockchain-Protokolle. Janša (Hg.): From Commons to NFTs, L jubljana 2022, aksioma.org/ from-commons-to-nfts/publication (7.12.2022). 35 Vgl. Wessel Reijers u. a.: Now Zu den Beiträgen the Code Runs Itself: On-Chain and Fast 20 Jahre nach dem Erscheinen von Galloways Buch fragt diese Ausgabe Off-Chain Governance of Blockchain Technologies, in: Topoi, Bd. 40, Nr. 4, der ZfM nicht zuletzt ihn selbst, was heute von der einstigen Vormachtstel- 2021, 821 – 831. lung technischer Protokolle Anfang der 2000er geblieben ist, wie sich ihr 36 Vgl. Jaya Klara Brekke, Kate Beecroft, Francesca Pick: The Stellenwert in digitalen Kulturen verändert hat und ob wir nicht doch viel- Dissensus Protocol: Governing leicht ein Comeback von Protokollen und Protokollogisierung erleben. Dazu Differences in Online Peer Commu- nities, in: Frontiers in Human Dynamics, versammelt das vorliegende Heft Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven Bd. 3, 26.5.2021, frontiersin.org/articles/ und Fachkulturen, die sich mit der Rolle von Protokollen über verschiedene 10.3389/fhumd.2021.641731/full (14.7.2021). Medien hinweg auseinandersetzen, mit ihren Ausschlüssen, Ambivalenzen und 14 ZfM 28, 1/2023 EINLEITUNG IN DEN SCHWERPUNKT Überschüssen, mit dem Verhältnis von Protokollen und Standards, den Ver- schränkungen von Protokollen mit Arbeit(sweisen), Privatheitsdiskursen und dem Sozialen. LAURA NIEBLING stellt in ihrem Beitrag Interoperable Protokolle. Der DICOM-Standard und die konfliktträchtige Digitalisierung medizinischer Bilder den seit den 1990er Jahren sukzessive ausgerollten internationalen DICOM- Standard für Bilddatenmanagement als Nexus verschiedenster Institutionen, Akteur*innen, ökonomischer, medizininformatischer und datenschutzrecht- licher Interessen vor. Dabei gilt ihr kritischer Blick der Interoperabilität me- dizinischer Apparate und Handlungen als Paradigma des Gesundheitssystems: Anhand der mit dem DICOM-Standard verbundenen Aushandlungsprozesse des Verhältnisses von Protokollen, Standards und medizinischer Arbeit weist Niebling auf die Veränderungen der dazugehörigen (Arbeits-)Kulturen hin. Interoperabilität als Paradigma, so ihre Feststellung, muss als Analysekategorie von Arbeitskulturen in digitalen Kulturen verstanden werden. Mit seinem Beitrag Grammatiken der Alterität. Das Protokoll als Labor der Sozialität liefert TOBIAS STADLER eine vergleichende Analyse kommerzi- eller und alternativer sozialer Netzwerke und befragt diese aus marxistischer Perspektive auf ihre jeweiligen Herstellungspraktiken von Sozialität. Ob- gleich alternative und kommerzielle soziale Netzwerke einen gemeinsamen Ursprung in der von Google entwickelten OpenSocial-Syntax und daher in gewissem Maß ihre grammars of action teilen, werden die Praktiken und ideologischen Strategien kommerzieller sozialer Netzwerke im Kontrast beschreib-, kritisier- und veränderbar. Die Protokolle alternativer sozialer Medien begreift Stadler in diesem Sinne als Labor: Sie lassen Praktiken und Gemeinschaften entstehen, die es ermöglichen, Sozialität als kollektive Res- source zu denken, und zu erproben, wie deren Herstellung, Inwertsetzung und Pflege über ihre Grundlagen in den Grammatiken kommodifizierter So- zialität hinauswachsen kann. In Von Sprechakten und Schreibfakten. Logiken des Protokolls in den True-Crime- Podcasts «Serial» und «Undisclosed» exploriert JAN HARMS am Beispiel der beiden genannten Serien, wie True-Crime-Podcasts in den Medienwechsel von Sprache zu Schrift intervenieren. So arbeitet er heraus, dass schriftliche Geständnisprotokolle, die auf Tonbandaufzeichnungen mündlicher Geständ- nisse basieren, Ambivalenzen und Überschüsse des Mündlichen, wie etwa Sprechpausen oder Klopfgeräusche, zugunsten der Schaffung von Wahrheiten in Form von Schreibfakten verknappen und unterschlagen. Genau diese im Me- dienwechsel vernachlässigten Ambivalenzen und Überschüsse sind es jedoch, die in einem neuen Protokoll der desktop detectives und internet sleuths stark gemacht und gegen das offizielle Protokoll gewendet werden, um unschuldig Verurteilten Recht zukommen zu lassen. MARTIN DEGELING und SOHEIL HUMAN blicken in ihrem Beitrag I nternet Privacy Protocols aus der Perspektive der Informatik auf die Geschichte SCHWERPUNKT 15 OLIVER LEISTERT / MARY SHNAYIEN verschiedener gescheiterter Inter- net-Datenschutzprotokolle der letz- ten Jahre: das XML-basierte P3P, das auf einem HTTP-Header beru- hende Do Not Track sowie dessen Nachfolgeprotokoll Global Privacy Control, das als Reaktion auf den 2019 in Kraft getretenen C alifornia Consumer Privacy Act entstand, ebenso wie das auf den Anforde- rungen der DSGVO beruhende Ad- vanced-Data-Protection-Control- Protokoll. Degeling und Human erläutern nicht nur die technische Abb. 3 Diagramm «Protocol Funktionsweise der jeweiligen Protokolle, sondern verdeutlichen, dass auch ihr Relationships», aus der ersten Scheitern an der Intersektion von Gesetzen, ökonomischen Interessen und tech- Standardisierung des TCP (RFC: 793), 1981 nischer Umsetzung differenter Akteur*innen und Institutionen als Ausdruck der vielschichtigen gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse betrachtet werden muss, die die Entstehung von Protokollen prägen. Im Gespräch mit ALEXANDER R. GALLOWAY zieht dieser knapp 20 Jahre nach dem Erscheinen seines Buches Protocol. How Control Exists after Decentral- ization eine kritische Bilanz seiner machtanalytischen Thesen zu P rotokollen wie TCP / IP und DNS im Hinblick auf die Veränderungen des Internets in den letzten zwei Jahrzehnten. Den Verlust der Vormachtstellung von Protokollen zugunsten der Plattformisierung des Netzes stets im Hinterkopf, haben wir mit Galloway am Beispiel von Blockchain-Protokollen über die zwar in Grund- zügen veränderte, aber dennoch uneingeschränkte Aktualität von Protokollen gesprochen. Weiterhin haben wir diskutiert, ob und inwiefern Internetproto- kolle der richtige Ort sind, um Menschenrechte zu verankern und in digitale Kulturen einzuschreiben, ob sie antipatriarchal oder queer sein könnten und was es mit den protokollogischen Möglichkeitsbedingungen im Verhältnis zu Utopie, Moral und Ethik auf sich haben könnte, um schließlich bei libidinösen Ökonomien und Social Media sowie der Frage zu enden, inwiefern angesichts von Elon Musks Twitter-Übernahme eine Transformation unseres Begehrens notwendig ist. WENDY HUI KYONG CHUN führt im Gespräch mit uns Protokolle als elementar für die Herstellung von Authentizität ein, weist aber auch darauf hin, dass deren – jeweils eigenen Protokollen folgende – Überschreitung min- destens genauso wichtig ist. Die Themen des Gesprächs reichen von offenen Blockchain-Protokollen, die dennoch proprietäre Anwendungen ermöglichen, über die Ambivalenz technischer Protokolle, die zwar nicht als klassisch-patri- archal beschrieben werden können, da sie sich gegen hierarchische Strukturen wenden, aber dennoch durch die Schaffung von Bruderschaften patriarchale 16 ZfM 28, 1/2023 EINLEITUNG IN DEN SCHWERPUNKT Kontrolle aufrechterhalten, sowie über die Verwobenheiten von technischen und sozialen Protokollen bis zu verschiedenen Möglichkeiten, Protokolle zu dekolonisieren, die, wie Wendy Hui Kyong Chun exemplarisch am kanadi- schen Diskurs darlegt, sich mit Fragen des Ortes und des Landes auseinan- dersetzen, wobei die Fragen, auf was Protokolle gründen, was sie erdet und sie nahtlos und universell erscheinen lässt, im Vordergrund stehen. Denn schluss- endlich können Protokolle erst durch ihre Relationalitäten rückwirkend den Anschein erwecken, dass sie selbst alles steuerten. — OLIVER LEISTERT, MARY SHNAYIEN SCHWERPUNKT 17 L A U R A N I E B L I N G INTEROPERABLE PROTOKOLLE — Der DICOM-Standard und die konfliktträchtige Digitalisierung medizinischer Bilder Für viele Kliniken brachten die frühen 1970er Jahre eine Zeit des medien- technischen Aufbruchs. Digitale Bildgebungssysteme wurden erworben oder entwickelt und in den Abteilungen eingesetzt – das Ziel waren Krankenhaus- informationssysteme (KIS), die die langen Wege der ‹Röntgentüten› aus und 1 Hartmut Wehrs: Die Geschichte der Health-IT. Die Entwicklung von in klinikeigene Archive, die «Silberminen», der Vergangenheit überantworten Klinik-IT und Praxiscomputer, Dietzen- sollten.1 Bilder speichern, teilen und bearbeiten zu können wurde zunehmend bach 2019, 404. Röntgenaufnahmen auf Röntgenpapier wurden in zu einer bedeutsamen Medienpraxis für viele medizinische Fachbereiche und P appmappen transportiert, bevor versprach profunde Entwicklungsimpulse für die medizinische Diagnostik und man sie abschließend im hauseige- nen Archiv lagerte. Forschung.2 Doch die Entwicklung der Technik brachte eine der größten Hür- 2 Vgl. José van Dijck: The Transpar- den selbst mit. Die Systeme kommunizierten zu Beginn nur schwerfällig: In- ent Body. A Cultural Analysis of Medical Imaging, Seattle 2005, 8. formationen zirkulierten begrenzt oder überhaupt nicht. Als Antwort auf diese 3 Vgl. Wolfgang W. Baus, B. Kober: Probleme wurde in der US-amerikanischen Medizin Mitte der 1980er Jahre ein Digital Image Communication in Radiotherapy, in: Thorsten M. Standard vorgeschlagen, der 1993 den bis heute verwendeten Namen Digital Buzug, Heinz Handels, Dietrich Imaging and Communications in Medicine (DICOM) erhielt.3 Sein Bilddaten- Holz (Hg.): Telemedicine. Medicine and Communication, New York 2001, management umfasst Protokolle zur Speicherung und zum Austausch und soll- 33 – 43, hier 36. te international zur Basis medizinischer Bildarbeit werden. Wenn mit Bernhard 4 Bernhard J. Dotzler: Nachrichten aus der früheren Welt – und Zukunft. Dotzler gesprochen der Computer das Medium ist, «das alle anderen Medien Zur Programmierung der Literatur kassiert»,4 so liegt es nahe, dass computerbasierten Bildern in der Medizin eine mit und nach Babbage, in: Norbert Bolz, Friedrich A. Kittler, Christoph ähnliche Wirkmacht zugesprochen wird. Dass das digitale Röntgen sowie die Tholen (Hg.): Computer als Medium, zugehörige Bildverarbeitung das Potenzial hätten, zur «‹Killerapplikation› […] München 1994, 39 – 69, hier 57. 5 Wehrs: Die Geschichte der Health- [zu werden], die alle alten Technologien über kurz oder lang ersetzen würde IT, 404. Der Journalist und Autor […], war zwar klar, aber bei den Krankenhäusern irgendwie nicht verinner- Hartmut Wehrs (1948 – 2020) war als Herausgeber des Krankenhaus-IT licht», notiert der Fachjournalist Hartmut Wehrs mit leichter Süffisanz über Journals und Gründer und Geschäfts- die 1990er / 2000er Jahre.5 führer des Antares Computer Verlags eine wichtige Stimme in der Denn in Deutschland kam es bei der Einführung von DICOM zu erhebli- Geschichte der Medizininformatik chen Konflikten, in denen es v. a. um die Schnittstellen in Krankenhausnetz- der Bundesrepublik. 6 Ebd., 430. werken, bezogen auf die sogenannten DICOM-«Dialekte»,6 ging. Mit der 18 ZfM 28, 1/2023 Kontrolle über Protokolle sollten komplexe Datensätze, wie es me- dizinische Bilder mit ihren Metada- ten sind, jene technischen Schnitt- stellen passieren können, die in modernen Krankenhaussystemen in vielfältiger Weise auftraten und so eine Interoperabilität medizini- scher Apparate und Handlungen ermöglichen. In der Herstellung und Nutzung dieser Bilder griffen allerdings verschiedene Ebenen der Reglementierung ineinander, die erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Digitalisierung der bild- gebenden Medizin in Deutschland haben sollten. Ausgehend von eini- gen Grundlagen zu DICOM möchte ich deshalb den historischen Dialekt-Streit Abb. 1 Prototyp eines Bild- analysieren, um über das Verhältnis von Protokollen und Standards in der me- gebungssystems, Demonstratio n im Washington Veterans dizinischen Arbeit nachzudenken. Hierfür nutze ich eine Quellensammlung H ospital, 1977 von zeitgeschichtlichen Fachmagazinartikeln aus den Jahren 1990 bis 2016, die im Krankenhaus-IT Journal und im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht wur- den,7 sowie die Textgattung der medizinischen bzw. medizin-informatischen Handbücher. Der Fokus auf diesen zentralen Organen für IT und Medizin in Deutschland dient einer ersten Erhebung der wichtigsten Themen und Posi- tionen. Die Archive der Zeitschriften wurden hierzu nach einer Auswahl von Schlagworten um DICOM (v. a. PACS, RIS, KIS, bildgebende Medizin) ausge- wertet. Eine darauf basierende Diskursanalyse, wobei mit Foucault Aussagen als «Ereignisse und funktionelle Abschnitte, die ein sich allmählich aufbauendes System bilden», verstanden werden,8 soll im Anschluss aufzeigen, wie proto- kollbasierte Netzwerke als konstitutives Element von Medizinkultur analysiert werden können. Ich folge der Perspektive aus der privatwirtschaftlichen IT auf DICOM und gehe von der These aus, dass Protokolldebatten oftmals zunächst zwar auf der im ‹Dialekt›-Begriff angelegten IT-Jargon-Ebene von Semantik 7 Einige Artikel sind zudem in er- und Syntax geführt werden, darüber hinaus aber fast immer auf technokultu- weiterter Form erschienen in Wehrs relle Machtkonflikte in sich konstituierenden Digitalkulturen verweisen. Das Branchenrückblick: Geschichte der Health-IT, weshalb dieser ergänzend Ziel dieses Beitrags ist es, anhand des (medizin-)informatischen Begriffs der herangezogen wird. Interoperabilität einen Ansatz zu entwickeln, wie digitale Arbeits- und Wis- 8 Michael Ruoff: Foucault-Lexikon, Paderborn 2007, 100. Der Fokus senssysteme in ihrer IT-Vernetzung und Standardisierung analysiert werden auf den publizierten Artikeln ist können. Ich schlage hierbei vor, Interoperabilität als medientheoretische Ka- hier eine forschungspragmatische Verengung. Eine ausführlichere tegorie zu nutzen, um mit ihr die wachsende Zahl an protokollkontrollierten, Forschung sollte in der Zukunft auch standardisierten Medienn etzwerken und die auf ihnen basierenden digitalen die interne Korrespondenz und z. B. Geschäftsdokumente und Verträge Medien(arbeits)kulturen zu erforschen. mit Kliniken untersuchen. SCHWERPUNKT 19 LAURA NIEBLING Protokolle und Standards als operative Kategorien: die Organisation von DICOM DICOM wird als technischer Standard bezeichnet, in dem Protokolle zusam- mengefasst sind. Beide Begriffe sind informations- und ingenieurswissenschaft- lich gesprochen zunächst «Regeln, welche das Format, den Inhalt, die Bedeu- tung und die Reihenfolge gesendeter Nachrichten zwischen verschiedenen Elementen der gleichen Schicht festlegen».9 Protokolle kann man hierbei ver- stehen als ein «Regelwerk, das beschreibt, wie Daten in einem Computernetz übertragen werden sollen», bzw. konkreter, «wie Datenverbindungen initiiert oder in welchem Format Daten übertragen werden müssen, damit die Gegen- seite sie interpretieren kann».10 Sie sind damit die Grundlage für die Netz- kommunikation, da sie vorgeben, wie «in horizontaler Richtung eine logische Verbindung zwischen zwei Instanzen» aufgebaut werden kann.11 Standards sind demgegenüber größere Konzepte, die (Informations-)Objekte zusammenfüh- ren,12 die für bestimmte Vorgänge benötigt werden, also Regeln für «structure, content, and protocol for a particular task».13 Technische Standards enthalten meist Sets von Protokollen – strukturelle Unterschiede zwischen beiden For- men der Regelung liegen im Umfang und den Bedingungen, über die diese 9 Claudio Franzetti: Essenz der eingeführt und umgesetzt werden. Der DICOM-Standard besteht heute aus Informatik, Berlin 2019, 92. 10 Johanna Christina Czeschik, 22 Hauptteilen und über 200 Ergänzungen,14 die aufeinander aufbauend ver- Matthias Lindhorst: Rechnernetze, schiedene Aspekte einer Bildumgebung definieren, in der über Geräte Bilder in: Roswitha Jehle u. a. (Hg.): Me- dizinische Informatik kompakt, Berlin aufgenommen, gespeichert, bearbeitet und geteilt werden. DICOM definiert 2015, 265 – 289, hier 275 und 273. die Formate für medizinischen Bildaustausch, d. h. «data and quality necessary 11 Ebd., 273. 12 Vgl. Steven C. Horii: DICOM, in: for clinical use».15 Der Standard dient allein dem Einsatz in der Medizin, also George C. Kagadis, Steve G. Langer einem Kontext, in dem Anwender*innen nur selten dezidiert informationswis- (Hg.): Informatics in Medical Imaging, Boca Raton 2012, 41 – 69, hier 50. senschaftlich (aus-)gebildet sind. DICOM ist deshalb konzipiert als 13 Shawn Kinzel u. a.: Operational Issues, in: George C. Kagadis, Steve G. Langer (Hg.): Informatics in Medical a uniform, well-understood set of rules for the communication of digital images. Imaging, Boca Raton 2012, 275 – 289, This has been accomplished through defining, as unambiguously as possible, the hier 280. terms it uses and in the definition of object-oriented models for medical imaging 14 Vgl. Tim Benson, Graham information.16 Grieve: Principles of Health Interoper- ability. SNOMED CT, HL7 and FHIR, Cham 2021, 437. Einsetzbar ist DICOM in der gesamten apparativen Bandbreite der bildge- 15 Ebd. benden Verfahren – u. a. Röntgen, MRT, CT 17 – und v. a. in bildbasierten 16 Brent K. Stewart: Picture Archiving and Communication Sys- Arbeitsbereichen wie der Radiologie, Pathologie oder Nuklearmedizin. Die tems, in: George C. Kagadis, Steve Anwendungsplattformen für DICOM sind in der Regel Picture Archiving G. Langer (Hg.): Informatics in Medical Imaging, Boca Raton 2012, 235 – 251, and Communication Systems (PACS). Hierbei handelt es sich um Rechner, hier 237. S erver und Kliniknetzwerke, die die Diagnosegeräte mit Ausgabeanlagen und 17 Vgl. Olaf Dössel: Die bildge- benden Verfahren in der Medizin, einem Archiv verbinden, um die erforderliche Bildspeicherdauer von bis zu in: ders., Thorsten M. Buzug (Hg.): 30 Jahren zu ermöglichen.18 Sie sind in einem Krankenhaus beispielsweise Biomedizinische Technik – Medizinische Bildgebung, Berlin 2014, 1 – 8, hier 4. in der Radiologie eingebunden in ein Radiologieinformationssystem (RIS), 18 Vgl. Walter Swoboda: Informa- ein EDV-System zur Dokumentenverwaltung (Patient*innenstammdaten, tions management im Gesundheitswesen, Konstanz 2017, 52. T ermine etc.), das die DICOM-Schnittstelle bereitstellt, die PACS-Geräte 20 ZfM 28, 1/2023 INTEROPERABLE PROTOKOLLE ansteuert und selbst wiederum im Idealfall Bestandteil eines krankenhauswei- Abb. 2 Diagramm einer ten KIS ist.19 PACS-Infrastruktur in der Radiologieabteilung eines Die Ursprünge von DICOM liegen in den Entwicklungen bildgebender Krankenhauses mit Auszeichnung Diagnostikverfahren ab den 1970er Jahren. Das American College of Radi- der DICOM-Schnittstellen, nach Ratib u. a. 2016 ology (ACR) initiierte mit der National Electrical Manufacturers Associa- tion (NEMA) 1982 eine Arbeitsgruppe, um einen technischen Standard für die wachsende Zahl bildgebender Apparate und Netzwerke zu schaffen.20 Die Entwicklung des ARC / NEMA 300 erfolgte 1985, bereits 1988 erschien ACR / NEMA V 2.0, der die Grundlage von Hardware, Datenbankstrukturen und Befehlszeilen um eine Nachrichtenstrukturierung erweiterte, die den Netzwerkkanalanforderungen der bildgebenden Apparate Rechnung trug. Die 1993 erschienene dritte Version wurde direkt unter dem Namen DICOM eingeführt und stand zugleich für ein neues Konzept: Alle Änderungen sind bis heute abwärtskompatibel, sodass keine neuen Gesamtversionen mehr lanciert werden müssen, sondern kleinere Editionen mit Jahreszahlen und Buchstaben erscheinen.21 Zuständig für deren Verwaltung und Entwicklung im dynamischen Anwendungsumfeld der modernen Medizintechnologie ist 19 Vgl. Albert R. Bakker: HIS, RIS, heute die Medical Imaging & Technology Alliance (MITA), eine Abteilung and PACS, in: Computerized Medical Imaging and Graphics, Bd. 15, Nr. 3, der NEMA. Letztere vertrat 1990, also nur wenige Jahre vor der Einführung 1991, 157 – 160. von DICOM, bereits 630 Elektronikfirmen mit einem Jahresumsatz von fast 20 Vgl. Stewart: Picture Archiving and Communication Systems, 237. 100 Milliarden US-Dollar.22 Ihre Kernaufgabe ist die Interessensvertretung 21 Vgl. W. D. Bidgood Jr., Steven und Kontrolle der elektrotechnischen Industrie, wobei sie Letzteres v. a. C. Horii: Introduction to the ACR-NEMA DICOM standard, in: über Publikationen – wie Standards, Anleitungen, White Papers und techni- Radiographics, Bd. 12, Nr. 2, 1992, sche Dokumente –, aber z. B. auch über «educational forums» organisiert.23 345 – 355, hier 346. 22 Vgl. ebd., 347. Die MITA arbeitet ähnlich, vertritt aber konkret die Hersteller*innen in der 23 Ebd. SCHWERPUNKT 21 LAURA NIEBLING medizinischen Bildgebung, für die sie technische Standards entwi- ckelt und regulatorische Beschrän- kungen abbauen möchte. DICOM ist ihr wohl wichtigstes Produkt auf einem Markt, auf dem 2021 allein in ihrem Geschäftsland USA 37,97 Milliarden US-Dollar umge- setzt wurden.24 Für seine Entwick- lung und Pflege betreibt sie das DICOM Standards Committee, das mehrfach pro Jahr Vorschläge zur Verbesserung oder Verrentung (retirement of features) von Teilen des Standards prüft und über de- ren Einrichtung entscheidet. Vor- schläge werden hierbei von allen Abb. 3 Mobile Ultraschalltechnik Nutzer*innen erbeten, die Entscheidung, welche umgesetzt werden, verbleibt im Krankenhaus, hier das GE allerdings in den Gremien. Vivid i, erstmalig gelauncht 2004 DICOM und der Schnittstellenstreit in Deutschland in den 2000er Jahren Die Einführung von DICOM in den USA war 1993 bereits mit Blick auf den Weltmarkt geschehen. So bemühte man sich um die Zusammenarbeit mit internationalen Vereinigungen für Standardisierung, wie den technischen Komitees der International Organization for Standardization (ISO), der für Elektronik zuständigen Internationalen Elektrotechnischen Kommission (IEC) und in Europa dem Technischen Komitee CEN / TC 251 (Medizinische Informatik) des Comité Européen de Normalisation (CEN).25 In der deut- 24 Vgl. Medical Imaging Market Size, Share & Covid-19 schen Medizin nutzte man zu dieser Zeit noch überwiegend analoges Ar- Impact Analysis, By Type (Magnetic beitsmaterial und eigens dafür gebaute Archivräume.26 Ein deutsches Pflege- Resonance Imaging, Computed Tomography, X -ray, Ultrasound, and handbuch listete 1997 z. B. Röntgentüten noch als Organisationsstandard.27 Molecular Imaging), By Application Auch 2004 hieß es noch im Deutschen Ärzteblatt, dass viele Krankenhäuser in (C ardiology, Neurology, Orthope- dics, Gynecology, Oncology, and Deutschland «der informationstechnischen Entwicklung hinterher[hinken]» Others), By End User (Hospitals, würden.28 Der Anteil von digitalen Bildnetzwerken in Form von RIS-Sys- Specialty Clinics, Diagnostic Imaging Centers, and Others), and temen (58 %) und PACS-Systemen (53 %) lag bei 43 befragten Unikliniken Regional Forecasts, 2021 – 2028, zwar bei einem guten Mittelwert, allerdings verfügten von 1524 befragten in: Fortune Business Insights: Market Research Report, Januar 2022, kleineren Krankenhäusern «nur 13 Prozent über ein RIS und ein PACS».29 Zu- fortunebusinessinsights.com/industry- gleich gab es eine vor allem hersteller*innengesteuerte Aufbruchsstimmung, reports/medical-imaging-equipment- market-100382 (12.9.2022). die sich u. a. in einem Themenbereich der Fachmesse Medica 2004 zeigte, bei 25 Vgl. Bidgood, Horii: Intro- der die neuen Generationen von mobileren, leichteren bildgebenden Apparaten duction to the ACR-NEMA DICOM standard, 354. vorgestellt wurden.30 22 ZfM 28, 1/2023 INTEROPERABLE PROTOKOLLE Der tatsächliche Marktwandel hin zu digitaler Bildarbeit lässt sich retro- spektiv deshalb einerseits an der Entwicklung in den Krankenhäusern able- sen, anderseits aber auch an den wortstarken Pressekonferenzen wie jener, die F ujifilm 2007 abhielt. Dort wurde von einem massiven Einbruch des analogen Filmmarkts berichtet, der im firmeninternen Bereich ‹Medical Imaging und Life Science› zu einer kompletten Neuausrichtung im Rahmen der «‹zwei- ten Gründung› von Fujifilm» führen sollte – mit proprietärem PACS-System mit Materialien, Hard- und Software-Produkten für alle Arbeitsschritte.31 Die Vielzahl an Firmen, die in ähnlicher Weise Gesamtsysteme oder integrale Teilbereiche entwickelten, ermöglichte allerdings keineswegs einen dynami- 26 Vgl. Erich Pelikan, Thomas Tolxdorff: Medizinische Bildverarbei- schen Markt für effiziente Digitalisierung. Viele hatten eigene Produkte, für tung, in: Hans-Jürgen Seelos (Hg.): die sie die «Transaktionskosten und [den] Organisationsaufwand» der Ein- Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie, Berlin 1997, 63 – 81, richtung h erunterspielten.32 hier 64; Jens Hausmann: Archivie- In der Verbindung der budgetierten Klinik mit den visionären Her- rung, in: Stefanie Becht u. a. (Hg.): Lehrbuch der radiologischen Einstell- steller*innen ergab sich so eine konfliktbeladene Situation.33 Eine Diskus- technik, Berlin 2019, 63 – 67, hier 64. sionsrunde 2005 zeigte, welche Bedeutung Schnittstellen für den Markt 27 Vgl. Josef Weitl: Pflegestandards im Krankenhaus. Organisationsstan- hatten: «‹Ohne Schnittstellen funktioniert die IT-Landschaft nicht […]. Wer dards der Pflegestationen. Allgemeine das Schnittstellengeschäft beherrscht, hat einen Vorteil›», hieß es dort.34 Der und spezielle Pflege, Hannover 1997, 132 – 135. D ICOM-Standard, der in der Theorie Schnittstellen organisieren sollte, erwies 28 Heike E. Krüger-Brand: sich über zehn Jahre nach seiner Einführung als Teil des Problems, denn unter- Picture Archiving and Communi- cation System. Anforderungen, schiedliche PACS-Hersteller*innen boten abweichende Möglichkeiten, die not- Konzepte und Trends, in: Deutsches wendigen Felder einer Akte auszufüllen.35 Auch das Deutsche Ärzteblatt bemerk- Ärzteblatt, Bd. 101, Nr. 30, 2004, A-2132–A-2133, hier A-2132. te 2004 kritisch, dass etwa 70 KIS- und 50 RIS-Firmen in Deutschland für einen 29 Ebd. Markt mit «sehr heterogenen Hardware-Plattformen und Betriebssysteme[n]» 30 Vgl. Kay Müllges: Medica 2004. Größere Auflösung bei kürzeren sorgen würden, auf dem Interpretationsspielraum von DICOM zur Daten- Untersuchungen, in: Deutsches Ärzte- speicherung Grauzonen geschaffen habe, mithilfe derer manche Firma «ihre blatt, Bd. 101, Nr. 47, 2004, A-3213. 31 Wehrs: Die Geschichte der Marktposition» ausbauen konnte.36 Ein Vertreter von Siemens monierte dies im Health-IT, 434 f. Jargon der Gesundheits-IT als vornehmlich semantisch-syntaktisches P roblem, 32 Ebd., 430. 33 Vgl. Hartmut Wehrs: PACS- insofern «es in DICOM noch ‹Dialekte› gibt, die nicht mit dem Standard über- Bausteine. Technik, Organisation einstimmen».37 Auch wenn ein vielfältiger Markt zunächst also Chancen für und Partnerschaft, in: Krankenhaus-IT Journal, Bd. 3, 2006, 130 – 134. eine breite Digitalisierung bot, zeigt sich hier vor allem, wie Unschärfen in 34 Wehrs: Die Geschichte der technischen Standards im «Kompetenzgerangel» der IT-Akteur*innen gezielt Health-IT, 431. 35 Vgl. ebd., 430. instrumentalisiert wurden und sich der Prozess einer Standardisierung damit 36 Krüger-Brand: Picture ins Gegenteil verkehrte.38 A rchiving and Communication System, A-2133. Ein unausgesprochener, aber bemerkenswerter Konsens bestand zu dieser 37 Wehrs: Die Geschichte der Zeit hingegen darin, dass die Konflikte auch und gerade mit divergierenden H ealth-IT, 430. 38 Wolf-Dietrich Lorenz: PACS auf Erwartungshaltungen in Bezug auf ‹Serviceleistungen› zu tun hätten. IT- dem Weg zum Multimedia-Archiv. Vertreter*innen der Zeit monierten, aus der Medizin würde «in Ausschrei- Technische Finesse, Schnittstellen- defizite und Kompetenzgerangel, bungen oft eine Responsezeit von einer Stunde an 24 Stunden am Tag in: Krankenhaus-IT Journal, Bd. 5, und siebenmal in der Woche» gefordert, falls es zu technischen Störungen 2008, 6 – 10. 39 Hartmut Wehrs: Markt im komme. Hier bräuchte es eine «Erziehung des Kunden» hin zu einem ‹re- Wandel. Investitionssicherheit heißt alistischen Bedarf›.39 Zu dieser ‹Erziehung› gehörte – und hier spannt sich Migrationsfähigkeit, in: Krankenhaus- IT Journal, Bd. 6, 2005, 110 – 113, ein Bogen zur MITA –, dass die Entscheidung für IT-Lösungen häufig über hier 113. SCHWERPUNKT 23 LAURA NIEBLING Veranstaltungen befördert werden sollte. Diese dienten wiederum als Grund- lage für fachjournalistische Diskussionen des Themas und erreichten so mit einer subversiven Digitalisierungslehre eine Leser*innenschaft jen- seits der Seminare.40 Darunter fielen auch die medizinisch-technischen Radiologieassistent*innen (MTRAs), die im Quellenmaterial um den DICOM- Konflikt kaum in Erscheinung treten.41 Dies ist insofern bemerkenswert, als MTRAs an den Geräten den mediatisierten Workflow übernehmen, also der 40 Z. B. Krüger-Brand: Picture eigentliche Knotenpunkt interoperabler Abläufe sind. Ein Chefarzt kommen- Archiving and Communication System, A-2132. tierte dazu aber bereits 2002, dass digitale Abläufe den «Arbeitsablauf des 41 Für eine Vertiefung dieser Radiologen nicht durch unnötiges Nebeneinanderarbeiten in v erschiedenen F ragen sollten facheigene Zeitschrif- ten wie radiologie technologie oder Systemen» stören sollten.42 Man trennte z. B. zwischen dem RIS, «um Radiopraxis hinzugezogen werden. T erminbuchung und Leistungserfassung durchzuführen»,43 und dem PACS als 42 Ulrich Fink, Georg Fischinger: RIS / PACS-Einsatz im Klinikum Arbeitsplatz der Radiolog*innen. In wenigen Fallbeispielen wird deutlich, dass Villingen-Schwenningen. Auf den die MTRAs schließlich die Schulungen für die Systeme erhielten und damit Workflow kommt es an!, in: Kranken- haus-IT Journal, Bd. 2, 2002, 6 – 8, zu Ansprechpartner*innen vor Ort wurden.44 Als Grundlage für die Apparate- hier 7. medizin machte DICOM zudem den Beruf für den Klinikalltag unersetzlich.45 43 Ebd. 44 Vgl. o. A.: Auf dem Weg zur Betont wird für die Zeit der 2010er Jahre dennoch v. a., dass für die MTRAs digitalen Patientenakte. Kliniken der alles nun «sehr viel effizienter geworden» sei.46 Aufschluss darüber, ob sie auf Landeshauptstadt Düsseldorf digita- lisieren Radiologie, in: Krankenhaus- DICOM rückwirkten und z. B. in der Frage der Dialekte in Erscheinung tra- IT Journal, Bd. 6, 2005, 36 – 39. ten, findet sich hingegen nicht. Dies ist vermutlich damit zu erklären, dass die 45 Ein Lehrbuch dazu süffisant: «Wer soll denn sonst die Geräte Implementierung von digitalen Bildverfahren zunächst auf der Ebene des Kli- bedienen?»; Tina Hartmann: nikmanagements auftrat und die Firmen vor Ort dann in den eigenen Ver- Berufsbild und Berufsgeschichte, in: dies., Martina Kahl-Scholz, Christel fahren anlernten.47 Die so auftretenden «Schnittstellenerp ressung[en]»,48 also Vockelmann (Hg.): Fachwissen MTRA. die Marktmacht derjenigen, die die Schnittstellen kon trollierten, erklären die Für Ausbildung, Studium und Beruf, 2. Aufl., Berlin 2018, 4 – 27, hier 7. Tendenz zu proprietären Systemlösungen. Erhebliche Kosten konnten aber 46 O. A.: Auf dem Weg zur selbst dann auftreten, wenn Systeme ‹aus einer Hand›49 Updates brauchten digitalen Patientenakte, 37. 47 Vgl. ebd. oder bei Neugeräten «die Schnittstelle nicht verhandelt [wurde], so dass sie 48 Hartmut Wehrs: Von Schnitt- oft teuer nachgekauft werden» musste.50 Trotz aller Herausforderungen no- stellenerpressung, Abzockerpreisen und Lippenbekenntnissen, in: tierte das Deutsche Ärzteblatt 2012: «Digitale Bildarchivierungs- und Kommu- Krankenhaus-IT Journal, Bd. 4, 2005, nikationssysteme […] auf Basis des DICOM-Standards sind inzwischen fester 14 f. 49 Ebd. Bestandteil in der Radiologie und Nuklearmedizin.»51 Gesamtmedizinisch kam 50 Wolfgang Riedel zit. n. Lorenz: es hingegen zur Fragmentierung – d. h. zu einem Nebeneinander von digita- PACS auf dem Weg zum Multi media- Archiv, 6. len und analogen Verfahren52 – in Kliniken und Abteilungen.53 Schnittstellen- 51 Heike E. Krüger-Brand: Medizi- standards wie DICOM werden hier immer wieder als Möglichkeit beschworen, nische Bildgebung. Integriertes Bild- management, in: Deutsches Ärzteblatt, sich «auf einem hohen [Sicherheits-]Niveau […] bei der Beschaffung und Ver- Bd. 109, Nr. 31 / 32, 2012, A1566. netzung neuer Geräte mehr Freiräume zu verschaffen und dabei Kosten zu 52 Vgl. Hausmann: Archivierung, 64. sparen».54 Bis heute bleiben diese Argumente, die im Kern den Werbeslogans 53 Vgl. Lorenz: PACS auf dem Weg der MITA entsprechen, bestehen und verbinden in der Frage von Protokollen zum Multimedia-Archiv, 7. 54 O. A.: Weißbuch zur sicheren und Standards den medizinischen Wunsch nach flexibler Arbeitstechnologie Vernetzung im Operationssaal und und die medienökonomischen Anforderungen datenschutzkonformer und in der Klinik, in: Deutsches Ärzteblatt, 2.9.2014, aerzteblatt.de/nachrichten/ funktionierender Netzwerke. Der Leitbegriff dieser Auseinandersetzung ist 59961/Weissbuch-zur-sicheren-Vernet heute mehr denn je die Interoperabilität, die zum Paradigma der deutschen zung-im-Operationssaal-und-in-der- Klinik (12.9.2022). digitalen Medizin geworden ist. 24 ZfM 28, 1/2023 INTEROPERABLE PROTOKOLLE Interoperabilität als Analysekategorie für digitale Medizinkulturen Am Beispiel von DICOM wird deutlich, dass die Medizin in ihrer medialen Ausstattung ein Arbeitsumfeld darstellt, das kritisch auf die Eigenlogik sei- ner technischen Systeme befragt werden sollte. Eine Vielzahl von Apparaten, Netzwerken und Softwareprodukten aus häufig proprietären Systemen muss ineinandergreifen. Entwicklung und Standardisierung dieser technischen Ausstattung können das medizinische Personal und selbst die zahlenden In- stitutionen aber oft nicht selbst kontrollieren. Für dieses Zusammenspiel von Faktoren wird in der Medizin(-informatik) der Begriff der Interoperabilität genutzt. So heißt es beispielsweise in einer Beschreibung der MITA, DICOM sei «the universal standard for the interoperability of medical images, even when generated by different scanners».55 In der Medizininformatik wird die Interoperabilität von Systemen zunächst auf der Ebene der codierbaren Sys- temvernetzung diskutiert, also wie bei DICOM u. a. Semantik und Syntax.56 Aus der Medizin wird auch eine Lesart als «soziales Konzept» gefordert: 55 Testimony of David Fisher, «Menschen müssen […] sich vertrauen, um dann Daten interoperabel aus- in: U. S. Government (Hg.): Medical tauschen zu können.»57 Im Anwendungsfeld zwischen Medizin und Medizin- Radiation: An Overview of the Issues: Hearing Before the Subcommittee on informatik erweist sich Interoperabilität damit als ein beweglicher Begriff, der Health of the Committee on Energy and sowohl die technisch-o rganisatorische Informationsübermittlung als auch die Commerce, House of Representatives, One Hundred Eleventh Congress, Second arbeitskulturellen Nutzungskontexte einbeziehen muss. Die Medienwissen- Session, 2010, 111 – 122, hier 119. schaft liest interoperable Medien zunächst als marktregulierende Technik, in- 56 Vgl. Sylvia Thun, Carolin Stellmach: Struktur und Herausfor- sofern sie «eine wesentliche Voraussetzung für die Internationalisierung von derungen der Medizininformatik in Verwertungsketten und damit für die Etablierung translokaler M ediensysteme Deutschland, in: Curare. Zeitschrift für Medizinethnologie, Bd. 45, Nr. 1, und Märkte» darstellen.58 Diese Formierungen wirken unmittelbar auf Ar- 2022: Computer und Medizin, beitskulturen zurück, wie Erhard Schüttpelz an Verwaltungsmedien zeigt, 64 – 77, hier 69. 57 Stefanie Weber, Kai U. die auch in der Medizin greifen. Er konstatiert: «Diese Interoperabilität [der Heitmann: Interoperabilität im I nfrastrukturen] hat sich mittlerweile als der Kern der Anpassungsfähigkeit Gesundheitswesen: auch für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) der digitalen vernetzten Medien herausgestellt, der Anpassung an alle Berufs-, verordnet, in: Bundesgesundheitsblatt, Geschäfts- und Organisationsaufgaben.»59 Es geht bei diesen Arbeitsmedien Bd. 10, Nr. 64, 2021, 1262 – 1268, hier 1262. um eine immer «lückenlosere georeferenzierte Überwachung und Verwal- 58 Axel Volmar: Das Format als tung» von Materialien, Menschen und Abläufen.60 Protokolle und insbeson- medienindustriell motivierte Form. Überlegungen zu einem medien- dere Standards dienen als Machtinstrumente dieser Anpassungsfähigkeit und kulturwissenschaftlichen Formatbe- können selbst im semi-öffentlichen Gesundheitswesen ihre subversiven me- griff, in: ZfM, Jg. 12, Nr. 22 (1 / 2020): Medium | Format, 19 – 30, hier 27. dienökonomischen Strukturen verankern. Schaut man die schwierige Digita- 59 Erhard Schüttpelz: Medien- lisierung der Bildmedizin an, so scheint es kein Zufall, dass Standardisierung revolutionen und andere Revolutio- nen, in: ZfM, Jg. 9, Nr. 17 (2 / 2017): im Kontext der Automatismen-Forschung als Entwicklung «im Zeichen des Psychische Apparate, 147 – 161, Opaken, des Rätsel- und Geisterhaften, oder technisch gewendet, im Denk- hier 159. 60 Ebd. bild der Black Box» beschrieben wird.61 Auch die ‹Dialekte› von DICOM ste- 61 Martin Müller: Standardisie- hen für codierbare Mehrdeutigkeiten, trotz und entlang derer in der Me- rung und Naturalisierung – zur Einleitung, in: ders., Christoph dizin «Praktiken, Wahrnehmungen und Technologien in einen Zustand der Neubert (Hg.): Standardisierung und Selbstverständlichkeit übergehen» sollen.62 Ausgehend von einer solchen Naturalisierung, Paderborn 2019, 9 – 23, hier 9. ‹Selbstverständlichkeit› und im Anschluss an Schüttpelz schlage ich deshalb 62 Ebd. SCHWERPUNKT 25 LAURA NIEBLING vor, Interoperabilität als Paradigma, als quasi kritisches Moment von proto- kollkontrollierten, s tandardisierten Mediennetzwerken und den auf ihnen ba- sierenden digitalen Medien(arbeits)kulturen zu verstehen. Denn der allgemeine Protokollbegriff und auch die technische Logik der DICOM-Hierarchien verweisen auf eine bedeutsame technokulturelle Validie- rung, die mit den Protokollfunktionen einhergeht. Protokolle, so ihre erwei- terte Deutung, sind oft eine «Niederschrift» und in ihrer Verschriftlichung von Abläufen eine «öffentliche Urkunde».63 Aber sie können auch Regeln und Hierarchien vorab festlegen; z. B. im politischen Kontext, wo Protokolle eine «ordnende und regelnde Funktion» haben, u. a. im Sinne einer «Sicherstellung der formellen Basis» und als «international gültige Zeichensprache» für Ver- haltensregeln bei Veranstaltungen.64 Beide Funktionen – Validierung und Rege- lung von Prozessen – finden sich im übertragenen Sinne auch bei technischen Protokollen. Diese sind somit ein Instrument der Regulierung, das in Standards gebündelt werden kann. Die ISO beschreibt Standards in ihrer allgemeinen De- finition als «the distilled wisdom of people with expertise in their subject mat- ter».65 Standards werden damit zunächst als universelle, epistemische Katego- rien präsentiert. Sie stehen zugleich aber auch recht offensiv für institutionelle Machtverhältnisse, denn die Expert*innen kennen und repräsentieren in dem Vorgang vor allem die Bedürfnisse ihrer Organisationen.66 Es ist bedeutsam für das Verständnis von medialen, interoperablen Vorgängen, in deren Kern Protokolle Verfahren organisieren, diese Zusammenhänge von Konstitution und Implementierung – insbesondere durch Logiken der Standardisierung – in den Blick zu nehmen. Aus ihnen können bei genauer Befragung Muster von teilweise längst verschatteten kulturellen Praktiken, Verhältnismäßigkeiten und Abhängigkeiten abstrahiert werden. Die diskursiven Formationen, die für die Protokolle des DICOM-Standards relevant sind, lassen sich hierbei beispiels- weise zunächst von der Medical Imaging & Technology Alliance aus entwi- ckeln. Die MITA wirbt damit, dass bildgebende Verfahren aufgrund ihrer Standards der «most ‹networked› aspect of health care in the clinical setting» seien.67 Der Netzwerkbegriff impliziert ein dynamisches Entwicklungsumfeld, in dem Input für die Entwicklung aus einer breiten Nutzer*innengruppe stam- 63 Richard Lackes: Protokoll, in: Gabler Wirtschaftslexikon, 19.2.2018, men kann. DICOM ist damit nominell zugänglich für die Medizin(-informatik) wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/ (durch Vorschläge zum Standard), allerdings in Entscheidungsfragen dezidiert protokoll-45140 (8.8.2022). 64 Olaf Jelinski: Diplomatisches abgekoppelt. Die Skizze der DICOM-Struktur und der erweiterten internati- Protokoll versus Corporate Protocol. Das onalisierten Standardisierungsprozesse zeigt vielmehr, wie viele Institutionen internationale diplomatische Protokoll im Vergleich zum Protokoll in Unter- und Aktanten (in-)direkt involviert sind. Sie bringen eigenlogische Vorgaben nehmen. Eine Analyse des Protokolls als mit und ermöglichen so einen sukzessiven, wuchernden Ausbau zunehmend politische Institution, Frankfurt / M. 2017, 178 – 180 und 217, nbn-resolving. interpretationsoffener technischer Strukturen. Eine interoperable Medizin org/urn:nbn:de:gbv:9-002334-6. muss damit auf arbeitskultureller Ebene die Disparitäten eines modernen, von 65 ISO Standards are Internation- ally Agreed by Experts, 2022, ökonomischen Fragen gelenkten Gesundheitssystems navigieren. Wie sich iso.org/standards.html (5.8.2022). im Dialekt-Streit zeigte, liegt eine wesentliche Anforderung an DICOM da- 66 Vgl. ebd. 67 Testimony of David Fisher, 119. rin, «einen möglichst reibungslosen Datenaustausch zwischen bildgebenden 26 ZfM 28, 1/2023 INTEROPERABLE PROTOKOLLE Modalitäten verschiedener Hersteller zu erreichen».68 Zugleich zielt DICOM mit größtmöglicher Offenheit darauf ab, zum Anwendungsstandard für alle Hersteller*innen zu werden, und unterminiert so eindeutige Strukturen. Der Standard bietet z. B. «mehr als einen Netzwerkdienst an, um Bilder in einem Bildarchiv zu suchen und herunterzuladen. Jedem DICOM-System steht es frei keinen, einen oder mehrere davon zu unterstützen.»69 Der eingangs zitierten wohlwollenden Behauptung, der Standard sei «as unambiguously as possible», kommen damit ungewollt neue Nuancen zu.70 «In a nutshell – standards are hard», heißt es lakonisch im Handbuch Public Health Informatics and Information Systems.71 Eine pointierte Erkenntnis – leben wir doch, wie Florian Sprenger bemerkt, «in einer bis ins Detail – und gerade in den Details – standardisierten Welt».72 Obschon eine Standardisierung als der logischste Weg für effiziente, systemische Vernetzung verstanden wird, ist der Prozess durch die involvierten Interessensvertreter*innen schwierig. Die ‹Selbstverständlichkeit› des DICOM-Standards verweist in einem z weiten Schritt zudem implizit auf die medizinische Arbeitspraxis. Denn die (Weiter-)Entwicklung von DICOM hat vor allem mit der nutzungsgeschichtli- chen Realität medizinischer Arbeitsumgebungen zu tun: The natural process of DICOM device manufacturing, selling, and using spans a cy- cle of several years (modalities are expensive, and hospital administrators are typical- ly conservative and budget-conscious, trying to get the most out of the equipment), sometimes even to the point of keeping things until they fall apart. […] This creates 68 Martin Dugas, Karin Schmidt: an environment in which drastic updates are not really welcome, and compatibility Medizinische Informatik und Bioinfor- matik. Ein Kompendium für Studium und with older equipment (and, consequently, older DICOM) becomes a must.73 Praxis, Berlin 2013, 96. 69 Michael Onken: Internationale Für die Integration im medizinischen Alltag bedeutet dies eine « unvollständige technische Standards, in: Stefan Müller-Mielitz, Thomas Lux (Hg.): Einhaltung des DICOM-Standards, die auf betriebswirtschaftliche Hinter- E-Health-Ökonomie, Wiesbaden 2017, gründe (Alleinstellungsmerkmale von Produkten), aber auch auf die Komple- 623 – 645, hier 623. 70 Stewart: Picture Archiving and xität von DICOM zurückzuführen» ist.74 Bedenken hierzu kamen bereits im Communication Systems, 237. Schnittstellenstreit auf und sollten mit Lösungen aus der Medizininformatik 71 J. A. Magnuson, Riki Merrick, James T. Case: Public Health arbeitspragmatisch – und dies ist eine Kernerkenntnis der hier angestellten Information Standards, in: J. A. Betrachtung über Interoperabilität als Analysekategorie für Machtverhältnis- Magnuson, Paul C. Fu, Jr. (Hg.): Public Health Informatics and Informa- se – über eine ‹Erziehung› des medizinischen Personals adressiert werden. Es tion Systems, London 2014, 133 – 153, ist bezeichnend, dass hier mit ‹Erziehung› ein Begriff auftaucht, der in den hier 136. 72 Florian Sprenger: Standards machtdiskursiven Schriften Foucaults am anderen Ende des Spektrums der und Standarten, in: Martin Müller, Kontrollinstanzen von Körpern und Gesellschaft liegt.75 Die Verwaltung der Christoph Neubert (Hg.): Standardi- sierung und Naturalisierung, Paderborn Medizin, die über den Einsatz von vernetzten, interoperablen Medien nötig 2019, 23 – 45, hier 23. wird, wird hier aus der privatwirtschaftlichen Medizininformatik – die Rolle der 73 Oleg S. Pianykh: Digital Imaging and Communications in Medicine Klinikverwaltungen hängt damit zusammen, müsste aber eigenständig betrach- (DICOM). A Practical Introduction and tet werden – perspektiviert als ein Anerziehen, eine regelrechte Infantilisierung Survival Guide, Berlin 2008, 17. 74 Dugas, Schmidt: Medizinische jener Anwender*innen, die die Technik nicht einrichten oder konzipieren, son- Informatik und Bioinformatik, 96. dern ‹nur› für ihre Arbeitsabläufe brauchen. Dies scheint sich zumindest in der 75 Vgl. Michel Foucault: Der Mensch ist ein Erfahrungstier, Frank- Debatte um DICOM zunächst auch auf den Beruf der MTRAs zu erweitern, die furt / M. 1996, 118 – 120. SCHWERPUNKT 27 LAURA NIEBLING in den Prozessen der Klinik eigentlich den elementaren Knotenpunkt zwischen Informatik und Medizin – quasi die personifizierte Interoperabilität – bilden. Diese treten in den Quellen zur Debatte um DICOM fast nicht in Erscheinung und werden, wenn überhaupt, eher als Workflowmanager*innen dargestellt, die mit der neuen Technik Abläufe effizienter durchführen können. Es kann hier anschliessend an Foucault konstatiert werden: Medizininformatische Protokoll- arbeit (statt Regierung) heißt «in diesem Sinne, das Feld eventuellen Handelns der anderen [Mediziner*innen] zu strukturieren».76 Das so nebenbei s kizzierte Gefälle erklärt in Teilen sicherlich das Bedürfnis in der Medizin nach Inter- operabilität als einer sozialen Kategorie, in der Menschen maßgeblich sind, nicht Protokolle, Netzwerke und Apparate. Es ist sicherlich zu fragen, welche Rolle MTRAs als Mittler*innen hier in Zukunft spielen könnten.77 Denn der Blick auf Protokolle und die Hindernisse bei ihrer Anwendung offenbart die Machtverhältnisse, die in der Nutzung und Konfiguration ebendieser auftre- ten – beispielsweise die arbeitskulturellen Unterschiede zwischen Medizin und Medizininformatik, die beide Kontrolle über ihre Arbeitsbereiche, vor allem bei deren Überlappung, beanspruchen. Hier manifestieren sich Fragen einer Interoperabilität als (Selbst-)Verwaltungskategorie, die die von Skepsis gepräg- te Implementierung digitaler Medizinverfahren – wie bei DICOM – begleiten und prägen. Fazit und Ausblick Das computergenerierte Bild wird in zeitgenössischen Betrachtungen medi- zinischer Arbeit häufig zur fundamentalen, erkenntnisleitenden Perspektive ebendieser erhoben.78 Doch das Bild allein ermöglicht keine digitale Me- dizin – erst durch die es hervorbringenden Apparate, die in Netzwerken in reglementierte Austauschprozesse treten, wird es für medizinische Arbeit nutzbar. Möglich wird dies über technische Standards, in denen Protokolle die Übermittlung von Daten organisieren und reglementieren. An der lang- 76 Michel Foucault: Nachwort. samen Etablierung von DICOM, das sich von einem internationalen Standard Das Subjekt und die Macht, in: zu einem festen Bestandteil der bildlastigen deutschen Medizinfachrichtun- Hubert L. Dreyfus, Paul Rabinow (Hg.): Michel Foucault. Jenseits gen entwickelt hat, lassen sich hierbei auftretende Diskrepanzen illustrieren von Strukturalismus und Hermeneutik, und nuanciert nachzeichnen. Denn in Krankenhäusern gilt oft das Paradigma Frankfurt / M. 1987, 241 – 261, hier 255. der Interoperabilität, das auf medienpragmatischer Ebene aus Effizienz- und 77 Nicht zuletzt aufgrund der Kostengründen die Verbindung verschiedener Systeme bedeutet. Befragt man jüngsten MTA-Reformgesetze 2021, in denen u. a. die Berufsbe- dieses Paradigma medienkritisch, so können seine Parameter zu einer Analyse- zeichnung in das eigenständigere kategorie digitaler Arbeitswelten werden. Standards und Protokolle sind darin ‹medizinische*r Technolog*in für Radiologie› verändert wurde. der Kern medizinischer Bildarbeit – «DICOM is the standard that m akes med- 78 Vgl. Kirsten Ostherr: Medical ical imaging work»79 –, aber sie unterliegen in ihrer Herstellung und Anwen- Visions. Producing the Patient through Film, Television, and Imaging Technolo- dung selbst Regulationsprinzipien, die es zu untersuchen gilt. Dabei erweisen gies, Oxford 2013, 4. sie sich als Machtinstrumente, die Strukturen, Handlungen und Arbeitskultu- 79 Benson, Grieve: Principles of Health Interoperability, 437. ren ‹verschatten› und den Status der Handelnden in Abhängigkeit voneinander 28 ZfM 28, 1/2023 INTEROPERABLE PROTOKOLLE bestimmen. Für den medizinischen Arbeitsalltag scheinen diese Prozesse zu- nächst nur insofern relevant, als sie langlebige, funktionierende Produkte er- möglichen – aber die nähere Analyse anhand der historischen Quellen sowie der Handbücher legt nahe, dass die Interoperabilität als Analysekategorie zu kurz greift, wenn sie Standards und Protokolle auf ein semantisch-syntakti- sches Problem reduziert. Vielmehr offenbart sich in ihr eine Perspektive auf medizinische Arbeitskulturen und das in ihnen herrschende Verständnis von digitalisierter Arbeit. Anschlussfähig sind hier noch weitere medientheoretische Aspekte wie die Kommunikationslogiken oder die repräsentativen Struktur- defizite jener Daten, die in der Interoperabilität und insbesondere bei der Standardisierung für interoperable Protokolle auftreten. Auch die Verhältnis- mäßigkeiten zwischen Klinikverwaltungen, medizinischem Personal, der haus- eigenen IT und der universitären Medizininformatik bräuchten eigenständige Betrachtungen. Denn die Frage, wer verdatet und wie verdatet wird, ist direkt relevant für die gesamtgesellschaftliche Frage, welche Auswirkungen eine digi- talisierte Gesundheitsversorgung und -politik hat. — SCHWERPUNKT 29 T O B I A S S TA D L E R GRAMMATIKEN DER ALTERITÄT — Das Protokoll als Labor der Sozialität Die sogenannten walled gardens diverser Plattform-Unternehmen wurden in der Free-Software-Community schon problematisiert, als diese Phänomene noch kaum Thema in den Medienwissenschaften waren. Als Alternative zu geschlos- senen, proprietären Systemen wird dort nicht nur die Offenheit von Quellcode 1 Eine oft genutzte Referenz ist Mike Masnick: Protocols, Not propagiert, sondern auch die Nutzung von freien Standards, Protokollen und Platforms: A Technological Approach Schnittstellen. «Protocols, not Platforms!», lautet eine der in diesem Kontext to Free Speech, erschienen in der Essay-Series Free Speech Futures des oft gehörten Losungen.1 Aus der Free-Software-Community stammen auch die Knight First Amendment Institute meisten der Entwickler*innen des ActivityPub-Protokolls. Dieses abstrahiert die at Columbia University, 21.8.2019, knightcolumbia.org/content/protocols-not- Logiken sozialer Netzwerkplattformen (SNPs) in einem offenen Standard und platforms-a-technological-approach- wurde 2018 vom World Wide Web Consortium (W3C) veröffentlicht – also to-free-speech (21.12.2022). Masnick und andere Autor*innen diskutieren jener Institution, die seit den frühen 1990er Jahren für Standards wie HTML, diese Idee aber bereits seit Jahren, webRTC oder XML zuständig ist.2 vgl. u. a. ders.: Protocols Instead Of Platforms: Rethinking Reddit, Die Website der vom W3C organisierten Social Web Working Group be- Twitter, Moderation And Free Speech, ginnt mit den Worten: «Don’t you miss the days when the web really was the in: Techdirt, 17.7.2015, techdirt.com/ 2015/07/17/protocols-instead-platforms- world’s greatest decentralized network? Before everything got locked down into rethinking-reddit-twitter-moderation- a handful of walled gardens? So do we.»3 Damit ist bereits der Ton gesetzt und free-speech (21.12.2022). 2 Ein Standard ist ein Dokument die Motivation der Entwickler*innen des ActivityPub-Standards fassbar. Wie zur Definition eines Protokolls viele andere offene Netzwerke positioniert sich das sogenannte Fediverse – das oder einer Syntax, das bzw. die später auf unterschiedliche Weise Netzwerk aus einigen Tausend Servern, die mittels ActivityPub miteinander implementiert werden kann. Eine interoperieren – als Alternative und in direkter Opposition zu kommerziellen Implementierung ist eine Software, die das Protokoll ‹spricht›, also zur SNPs. Auf der Website von Mastodon, der bekanntesten ActivityPub-Imple- Interaktion mit anderen Implemen- mentierung, wird dies etwa so beschrieben: «Social networking that’s not for tierungen nutzen kann. Im Weiteren werden Standard und Protokoll sale. Your home feed should be filled with what matters to you most, not what a in Bezug auf ActivityPub synonym corporation thinks you should see».4 Die Entwicklung, Bereitstellung und Nut- verwendet. 3 Social Web Working Group: o. T. zung von alternativen sozialen Netzwerken wird in diesem Kontext oft selbst [Willkommenstext auf der Home- schon als aktivistische, politische Aktivität betrachtet. page], ActivityPub Rocks!, 14.11.2016, activitypub.rocks (14.10.2022). Im Sinne der Free-Software-Community, die weniger von der Freiheit der 4 Mastodon: o. T. [Willkommens- Software, sondern eher von den Freiheiten der Nutzer*innen spricht, will ich hier text auf der Homepage], 21.9.2022, joinmastodon.org (14.10.2022). das Bild der walled gardens als eine Beschreibung von Einhegung ern st nehmen. 30 ZfM 28, 1/2023 Ich beschreibe damit die Akkumulation gesellschaftlicher Arbeit und kollektiver Ressourcen durch kommerzielle SNPs, bevor ich die so skizzierten Aspekte an- hand der Brüche, Kontinuitäten und Widerstände im Fediverse diskutiere. Dafür zeige ich zuerst, wie die Tätigkeiten von Nutzer*innen auf kommerziellen SNPs arbeitsförmig organisiert werden, um soziale Daten als Waren zu produzieren. Danach analysiere ich zwei Teile des ActivityPub-Protokolls: Anhand der föde- rierten Netzwerkstruktur und der Syntax für soziale Daten lassen sich jeweils die Auswirkungen der formellen und der reellen Subsumtion unserer S ozialität diskutieren. Somit beschreibe ich unsere Sozialität als kollektiv produzierte Ressource und die Protokolle und Infrastrukturen als Orte der Auseinanderset- zung um deren Produktion, Zugänglichkeit und Verteilung. Die Protokolle alter- nativer sozialer Netzwerke sind in diesem Kontext als Labore zu verstehen, in denen Abgrenzung zur kapitalistischen Logik des Werts und andere Formen der Re- / Produktion und Sorge um Gemeinschaften erprobt werden. Daten waren Aktivitäten Jede Handlung, die wir innerhalb kommerzieller SNPs ausführen, soll dort nur auf eine Art ermöglicht werden, die für die Produktion von personenbezogenen, sozialen Daten optimiert ist. Diese Daten bieten die Grundlage für verschie- denste Geschäftsmodelle, wobei personalisierte Werbeflächen bei Weitem die üblichste Art sind, wie diese Datenwaren ihren Wert realisieren.5 Die Hand- lungen und Aktivitäten der Nutzer*innen solcher sozialen Netzwerke werden zur Basis eines weitreichenden Produktionsprozesses – was bedeutet, dass die Nutzer*innen arbeiten, auch wenn sie dafür nicht entlohnt werden. Ihre unbe- zahlte Arbeit produziert Datenwaren, die selten direkt verkauft werden, aber die ökonomische Basis für einige der größten und wertvollsten Unternehmen des gegenwärtigen Kapitalismus bilden. Der Wert von sozialen Daten entsteht v. a. relational, wie Salomé Viljoen beschreibt: Um mit ihnen ökonomisch wertvolle Aussagen treffen zu können, braucht es mehr als nur die Daten einer Nutzerin, nämlich die Verbindung vie- ler solcher Datensätze.6 Der Inhalt einer einzelnen, in Datenform festgehalte- 5 Andere Arten sind z. B. der Verkauf von Verhaltensvorhersage nen sozialen Interaktion ist für die jeweilige*n Nutzer*innen trotzdem relevant. und zumindest versprochener Carolin Gerlitz beschreibt diese Vielseitigkeit als die Multivalenz von Daten, Verhaltensmanipulation oder das Trainieren von neuronalen die für unterschiedliche Akteur*innen auf Plattformen jeweils unterschiedliche Netz werken (die heutzutage als Wertregister bedienen sollen.7 Für Christian Fuchs lässt sich eine solche Mehr- KI bezeichnet werden), um deren Fähigkeiten danach als Service seitigkeit anhand des Marx’schen Warenbegriffes fassen. Wie jede andere Ware zu verkaufen. haben die von Nutzer*innen produzierten Datenwaren sowohl einen Tausch- 6 Vgl. Salomé Viljoen: A Relational Theory of Data Governance, in: als auch einen Gebrauchswert. Fuchs weist darauf hin, dass diese Datenwaren Yale Law Journal, Bd. 131, Nr. 2, 2021, im Kontext von kommerziellen SNPs sogar einen gedoppelten Gebrauchswert 573 – 654. 7 Vgl. Carolin Gerlitz: What haben: Während eine Plattform dadurch Kategorisierungen, Konsumgruppen Counts? Reflections on the Multiva- und Verhaltensextrapolationen erstellen kann, tritt der Gebrauchswert für lence of Social Media Data, in: Digital Culture & Society, Bd. 2, Nr. 2, Nutzer*innen als kollektive Sozialität auf: die entstehenden und gepflegten 2016, 19 – 38. SCHWERPUNKT 31 TOBIAS STADLER Gemeinschaften, das gemeinsam produzierte und gesammelte Wissen, die mögliche Solidarität, der Austausch in z. B. wissenschaftlichen Netzwerken. Die sozialen Interaktionen und Tätigkeiten der Nutzer*innen sind also auf eine Art arbeitsförmig organisiert, die ihre eigenen Bedürfnisse nach Sozialität, Austausch und Information bedienen kann und gleichzeitig dem Akkumulations- Imperativ der kommerziellen Plattformen gehorcht. Dieser gedoppelte Ge- brauchswert führt zu einer kuriosen Invertierung des Marx’schen Warenfetischs. Dessen klassische Definition würde darauf abheben, wie die Warenform die so- zialen Relationen, in die sie eingebettet ist, hinter den ökonomischen Funktio- nen versteckt, die sie in der kapitalistischen Produktionsweise innehat. Dadurch erscheinen die sozialen Relationen zwischen arbeitenden Menschen in Produk- tion, Zirkulation, Konsumption, Reproduktion oder Müllverwertung als Ver- hältnis zwischen Dingen und nicht mehr als Beziehung zwischen Menschen und ihren Körpern. Aber durch die informationelle und v. a. soziale Natur der « social media commodity» erscheint der Warenfetisch hier invertiert: Der ö konomische Charakter der Datenware verschwindet hinter ihrem sozialen Gebrauchswert.8 Die Modellierung, Quantifizierung und Kommodifizierung der Sozialität durch die ökonomischen Logiken der kommerziellen SNPs verschwinden hinter dem warmen Schein des Sozialen. Die Plattformen eignen sich die unbezahlte Arbeit der Nutzer*innen an, wodurch sie ideologisch unsichtbar gemacht wird. Wäh- renddessen spiegeln sie die Arbeit der jeweils anderen Nutzer*innen als ihren eigenen Service – als Grund, warum man überhaupt dort sein will. Die Unsichtbarmachung dieser Arbeit ist auch aufgrund ihres sozialen Charakters einfach, greift diese ideologische Strategie doch auf bekannte Mus- ter zurück. So ist ein klassisches Beispiel etwa die Abspaltung reproduktiver Arbeit im Haushalt in eine vermeintlich private Sphäre, wodurch sie als femi- nisierte Tätigkeit erst gar nicht mehr als tatsächliche Arbeit erscheint. Kylie Jarett betont die lange Kontinuität solcher Unsichtbarmachungen und der Inwertsetzung von Arbeit jenseits klassischer Lohnarbeitsverhältnisse: [E]xamples of the long history of capitalist logics manifesting in non-market con- texts suggest that if we are to understand labour in Big Data capitalism, it is vital to recover and incorporate labour histories that do not belong to white men in indus- trialised labour.9 8 Christian Fuchs: Digital Labour and Karl Marx, New York 2014, 261. Diese Perspektive ist u. a. wichtig, um sich nicht vom Schein der völligen Neu- 9 Kylie Jarrett: Through the Repro- artigkeit dieser Technologien und ihrer kapitalistischen Anwendung täuschen ductive Lens: Labour and Struggle at the Intersection of Culture and zu lassen, denn die Logik von Einhegung und Unsichtbarmachung ist eine E conomy, in: David Chandler, im Kapitalismus immer wiederkehrende. Die Privatisierung, Expropriation Christian Fuchs (Hg.): Digital Objects, Digital Subjects. Interdisciplinary und Umformung von gesellschaftlichen Ressourcen ist nicht nur Grundlage Perspectives on Capitalism, Labour and des Kapitalismus, wie der Begriff der ursprünglichen Akkumulation suggeriert, Politics in the Age of Big Data, London 2019, 103 – 116, hier 105. sondern eine Strategie, die als Reaktion auf Krisen, Widerstände oder a ndere 10 Vgl. Silvia Federici: Die Welt Neuerungen immer wieder angewandt wird.10 Die einschließende und zentral- wieder verzaubern. Feminismus, Marxis- mus & Commons, Wien 2020, 38. isierende Logik kommerzieller SNPs funktioniert über die Einhegung und 32 ZfM 28, 1/2023 GRAMMATIKEN DER ALTERITÄT Inwertsetzung der gemeinschaftlichen Re- / Produktion von Sozialität. Sie er- schöpft sich jedoch nicht in offensichtlicher Zentralisierung. Anne Helmond beschreibt Plattformisierung als doppelte Bewegung, die sowohl die Dezentra- lisierung von «platform features» als auch eine gleichzeitige Rezentralisierung von «‹platform ready› data» beinhaltet.11 Solche Dezentralisierungen von Platt- form-Features erfolgen nicht selten mit offenen Standards, so waren beispiels- weise sowohl der frühe Facebook-Chat als auch Googles ehemaliges gTalk mit dem XMPP / Jabber-Protokoll interoperabel, um den Umstieg auf die Plattfor- men für Nutzer*innen dieses Standards leichter zu machen. Diese Dezentralisierung und Verbreitung ermöglicht auch die Ausweitung des Produktionsraums: Möglichst jede Interaktion soll in den so a ufgespannten Capture-Systemen erfassbar gemacht werden. Denn die für dezentrale F eatures notwendigen Schnittstellen sind personalisiert und sollen die produzierten Da- ten rezentralisieren. Nur so können die konkreten Tätigkeiten der Nutzer*innen für die Produktion von Waren genutzt werden. Die spezifische Form dieser Ar- beit wird von den Interfaces und den darunterliegenden Protokollen der Apps, Devices und Infrastrukturen strukturiert und wird so für den Produktionspro- zess optimiert. Lässt sich die Zentralisierung von Arbeit mit Marx als Prozess der formellen Subsumtion beschreiben, so ist die granulare Formalisierung und Veränderung der sozialen Tätigkeiten als Teil der reellen Subsumtion zu be- trachten, die den Produktionsprozess nach den Interessen des Kapitals transfor- mieren soll. Die hier nur skizzierte historisch-materialistische Perspektive auf E inhegung zeigt eine ökonomische Perspektive auf die in der Free-Software-Community sonst eher individualistisch gefasste Kritik an der Zentralisierung durch große Plattformunternehmen, die sich vornehmlich an Begriffen wie free speech und surveillance orientiert, nicht so sehr an Begriffen wie Arbeit und Ressourcen.12 Trotzdem sind es dieselben Phänomene, dieselben Einhegungs-Prozesse und Privatisierungen, gegen die sich meine Kritik wendet. In diesem Sinne verste- hen sich alternative soziale Netzwerke wie das Fediverse als dezidiert opposi- tionelle Gegenentwürfe zu kommerziellen sozialen Netzwerkplattformen und ihren Logiken von Überwachung, Kontrolle und Vermarktung. Während ich zeigen werde, dass sie viele der Praktiken und ideologischen Strategien ihrer kommerziellen Gegenstücke fortschreiben, legen sie auch manche Logiken offen und machen sie dadurch kritisierbar und veränderbar. Deshalb lohnt es sich, auf alternative Netzwerke zu blicken, um dort die Verschaltungen lebendi- 11 Anne Helmond: The Platformi- ger Arbeit zu betrachten. zation of the Web: Making Web Data Platform Ready, in: Social Media + So- ciety, Bd. 1, Nr. 2, 2015, 1 – 11, hier 1, doi.org/10.1177/2056305115603080. Föderierte Topologie 12 Ein gutes Beispiel dafür sind die Grundsätze der Free Software Der ActivityPub-Standard besteht aus drei großen Teilen, die zusammen er- Foundation (FSF) und des dazuge- möglichen, föderierte soziale Netzwerke aufzubauen. Der Abstract des Stan- hörigen GNU Projects, in die hier eingeführt wird: gnu.org/philosophy/ dards der W3C beschreibt dies so: philosophy.html. SCHWERPUNKT 33 TOBIAS STADLER The ActivityPub protocol is a decentralized social networking protocol based upon the ActivityStreams 2.0 data format. It provides a client to server API for creating, updating and deleting content, as well as a federated server to server API for deliver- ing notifications and content.13 Ein Netzwerkprotokoll definiert «a set of rules which determine how two or more entities should communicate».14 Das Protokoll setzt also die Regeln für die Interaktion zwischen zwei Servern fest, selbst wenn diese sich davor nicht kannten. Im Fall von ActivityPub wird dafür einerseits festgelegt, wo im übertragenen Datenpaket z. B. der Text eines Postings steht, wo der Userna- me, das Profilbild etc. Andererseits wird geregelt, wie mit eingehenden und ausgehenden Datenpaketen umzugehen ist. Diese Datenpakete haben hier das weit verbreitete jsonLD-Format und werden im Standard als activities bezeichnet. Dafür wird ein anderer Standard namens ActivityStreams 2.0 als Syntax für solche sozialen Daten verwendet. Dort wird bestimmt, welche Arten von Akteur*innen, Objekten und Handlungen jede Implementierung 13 Social Web Working Group: des Protokolls erkennen muss. Die beiden Schnittstellen (Application Pro- ActivityPub: W3C Recommendation, 23.1.2018, w3.org/TR/activitypub gramming Interfaces, APIs) zwischen C lient und Server bzw. zwischen ver- (14.10.2022). schiedenen Servern ermöglichen die dezentrale, ‹föderierte› Topologie des 14 Drago Hercog: Communication Protocols: Principles, Methods and Netzwerks. Die erste Schnittstelle wird jedoch wenig genutzt, denn die meis- Specifications, Cham 2020, 15. ten Implementierungen definieren dafür entweder eigene APIs oder nutzen 15 Der erste Abschnitt ‹Overview› des ActivityPub-Standards ist leicht die API der größten ActivityPub-Implementierung Mastodon. Für die Struk- verständlich verfasst und gibt eine tur des Netzwerks ist die Interaktion zwischen unterschiedlichen Servern des- gute Einführung in diese Struktur. Es lohnt sich, diesen bei Interesse wegen relevanter. direkt zu lesen, vgl. w3.org/TR/ Ein*e Nutzer*in mit einem Account auf einem Server kann mit Accounts activitypub. 16 Das E-Mail-Protokoll zeigt und Inhalten auf anderen Servern interagieren, indem activities hin und her an vielen Stellen sein Alter und es verschickt werden. Dafür gibt es auf Protokollebene eine Kombination von mussten viele spätere Funktionen hinzugefügt werden, um auf Sicher- akteurs- und serverspezifischen inboxes und outboxes, die konzeptionell an eine heitsprobleme oder Phänomene Mischung aus E-Mail-Postfächern und RSS-Feeds erinnert.15 Aufgrund des wie Spam zu reagieren. Gleichzeitig ist die parallel zum technischen stark abstrahierten Vokabulars dieser Aktivitäten sind Handlungen wie liking, Standard entstandene Governance- blocking oder following über Servergrenzen hinaus möglich, egal ob das andere Struktur sehr strikt. 17 Von den weltweit über vier Posting oder der andere Account auf einem Server ist, dessen Software auf die Milliarden E-Mail-Nutzer*innen Einladung zu Events spezialisiert ist wie Mobilizon, auf das Teilen von Fotos nutzen etwa 40 Prozent Googles Service Gmail, vgl. o. A.: Number of wie Pixelfed, das Streamen von Videos wie Peertube oder auf Microblogging active Gmail users worldwide from wie Mastodon. So lässt sich also die föderierte Netzwerktopologie erklären: January 2012 to October 2018, in: statista.com, Oktober 2018, statista. Ein*e Nutzer*in verbindet sich mit einem Server, auf dem sie*er einen Account com/statistics/432390/active-gmail- hat. Dieser verbindet sich nun mit anderen Servern, auf denen Accounts sind, users (17.10.2022). 18 Vgl. Masnick: Protocols, Not mit denen die*der Nutzer*in interagieren will. Aus der föderierten Topologie Platforms. erklärt sich auch der Name des Fediverse. 19 Tatsächlich ist der Begriff Fedi- verse nicht ganz eindeutig und wird Solche Topologien sind nicht neu: Das E-Mail-System ist ein f öderiertes manchmal auch für eine größere Netzwerk. Auch wenn dies technisch immer schwieriger wird,16 betreiben wei- Menge sich überlappender Netzwerke mit verschiedenen Protokollen terhin viele Organisationen ihre eigenen E-Mail-Server. Mittlerweile ist das genutzt. Meistens wird aber das auf Netzwerk jedoch rund um wenige Knoten stark zentralisiert, denn kommer- dem ActivityPub-Protokoll basieren- de Netzwerk damit bezeichnet. zielle Implementierungen wie Microsoft Outlook, Yahoo! Mail oder Googles 34 ZfM 28, 1/2023 GRAMMATIKEN DER ALTERITÄT Gmail haben einen Großteil aller Nutzer*innen an sich binden können.17 Die Abb. 1 Eine beispielhafte activity: Kontrolle über so große Teile des Netzwerks bringt starken Einfluss auf In diesem jsonLD-dictionary führt ein*e Akteur*in eine Aktivi- Akteur*innen in anderen Teilen mit sich. Aber während diese Unternehmen tät an einem object aus. Der actor E-Mails so zum Teil ihrer Plattform machen können, können sie das Netzwerk ist ein Account namens «alyssa» auf dem Server «https://social. trotzdem nicht vollständig privatisieren und einhegen. Deswegen versuchen example», der type der Aktivität alternative Netzwerke explizit nicht, eine Plattform zu werden, sondern rund ist create und das object hat den type ‹Note›, ist also ein einfaches um offene Standards, Schnittstellen und Protokolle zu wachsen. «Protocols, Textposting, das selbst wieder not Platforms!»18 ist hier gleichzeitig politische Design-Entscheidung und als ganzes dictionary mit content und Ähnlichem beschrieben wird. Selbstschutz vor zukünftigen Einhegungsversuchen. Alyssa postet hier einen öffent- Selbst in dem Bereich, den wir heute im engeren Sinne als social networking lichen Beitrag über verliehene Bücher. Das Beispiel stammt verstehen, wird das föderierte Modell bei ActivityPub nicht zum ersten Mal aus dem offiziellen ActivityPub verwendet. Während das Open-Source-Netzwerk diaspora* zwar föderiert S tandard: w3.org/TR /activitypub aufgebaut war, basiert es doch ursprünglich auf einheitlicher Software und ist erst später als allgemeines Protokoll formuliert worden. Andere Projekte wie GNUsocial oder Friendica hatten ähnliche Wege beschritten. Viele dieser Projekte haben zumindest zusätzlich zu ihren eigenen Schnittstellen auch die Actitivity Pub API implementiert und sind somit zum Teil des Fediverse ge- worden.19 Anstatt einer Plattform mit gleichförmiger user experience und verein- heitlichten Interfaces bieten die Abstraktionen des Protokolls viele Arten der Teilnahme und des Zugriffs auf das Netzwerk und seine Ressourcen. Die mit Abstand größte Implementierung Mastodon orientiert sich stark am klassischen Microblogging im Stile Twitters, dies ist aber nicht im Protokoll festgelegt. Die u nterschiedlichen Server müssen nicht einmal dieselbe Software installiert haben, da es unterschiedliche Implementierungen von ActivityPub gibt. D iese ermöglichen von Instagram-mäßigem Fotosharing bis YouTube-ähnlichem sozialem Videostreaming verschiedenste Interaktionsweisen. SCHWERPUNKT 35 TOBIAS STADLER Instanzen als Gemeinschaften Die verschiedenen Server – Instanzen genannt – sind aber nicht nur der Ort, an dem einzelne Accounts gehostet werden, sondern meistens auch eigenstän- dige Communitys. Solche Instanzen können rund um gemeinsame Interessen etwa an Handarbeitsprojekten oder Open-Source-Software entstehen, sie kön- nen geteilte Kunstprojekte sein oder dezidiert aktivistische, politische Orte. Manche Instanzen werden für bestimmte Städte oder Regionen e ingerichtet, manche aus dem Kontext bestehender Kollektive oder I nstitutionen. Das Fediverse ist also keine Plattform mit einheitlicher user experience und glo- balen Content- und Moderationsregeln, sondern ein Netzwerk von selbst organisierten Communitys, die ihre jeweiligen Regeln über die Verwaltung des Servers, die Moderation von Inhalten oder die Interaktionen mit anderen C ommunitys diskutieren und festlegen können. Föderation ist in diesem Sinne also nicht nur die technische Bezeichnung der Netzwerktopologie, sondern auch die politische Art der Selbstverwaltung und Selbstorganisation der Men- schen in diesem Netzwerk.20 Dezentralisierung als technischer Selbstzweck hat per se keinen emanzipa- torischen Effekt. Herrschaftliche Kontrolle kann auch nach solcher Dezen- tralisierung noch durch techno-soziale Netzwerke hindurch wirken, wie u. a. auch von Alexander R. Galloway gezeigt wurde.21 Viel interessanter ist d eswegen der soziale Aspekt dieser föderierten Organisationsform in eigenständigen Communitys. Zentrale Entscheidungen über die Ordnung eines sozialen Raums werden hier nicht mehr von Plattformunternehmen getroffen, deren Beweggründe für einzelne Nutzer*innen nicht hinterfragbar oder anfechtbar sind. Stattdessen werden sie zum Thema der ganzen Community, die in d irekte Beziehung zu den Administrator*innen treten kann. Gemeinsame Diskussio- nen darüber, welche Inhalte auf einer Instanz moderiert werden sollten, mit welchen anderen Communitys man interagieren möchte oder wie die Auf- nahme von neuen Nutzer*innen stattfinden soll, stellen die ansonsten harte Grenze zwischen Nutzer*innen auf der einen Seite und Administrator*innen und Moderator*innen auf der anderen Seite in Frage. Die reproduktive A rbeit Letzterer – das Sorgen für die Community genauso wie das Betreuen der 20 Zum politischen Begriff der Infrastruktur – wird dadurch sichtbarer gemacht sowie auf eine andere Art Föderation im Fediverse vgl. Robert W. Gehl, Diana Zulli: The Digital verteilt und thematisiert. Covenant: Non-Centralized Platform Dadurch wird einerseits sichtbar, wie viel dieser reproduktiven Arbeit in Governance on the Mastodon Social Network, in: Information, Communica- unseren digitalen Infrastrukturen steckt. Andererseits aber auch, welch ein- tion and Society (im Erscheinen). flussreiche Machtposition dieses Verhältnis zwischen Administrator*innen 21 Alexander R. Galloway: Protocol. How Control Exists after Decentraliza- und Nutzer*innen beinhaltet – ein Zusammenhang, der die Tätigkeit von tion, Cambridge (MA) 2006. Adminas mit vielen anderen Care-Relationen verbindet. Dies fügt sich in 22 Debbie Chachra: Care at Scale: Bodies, agency, and infrastructure, Debbie C hachras Bezeichnung von Infrastrukturen als «care at scale» ein.22 Eintrag im Blog Comment Magazine, Soziale Netzwerke als digitale Infrastrukturen setzen uns in anhaltende Bezie- 5.8.2021, cardus.ca/comment/article/ care-at-scale (9.8.2021). hungen zueinander und unterstützen uns dabei, die Bedürfnisse unserer Körper 36 ZfM 28, 1/2023 GRAMMATIKEN DER ALTERITÄT und Gemeinschaften zu erfüllen. Gleichzeitig strukturieren sie diese Bedürf- nisse und Ressourcen aber auch entlang der Interessen ihrer Designer*innen, Besitzer*innen und Betreiber*innen. Diana Zulli, Miao Liu und Robert Gehl zeigen in ihrer Untersuchung ver- schiedener Fediverse-Instanzen, dass die meisten Content-Regelungen dort sehr weit gefasst sind und auf der Grundlage von Vertrauen und Beziehungen innerhalb der Communitys funktionieren.23 Des Weiteren gibt es m ehrere in- formelle Netzwerke von Moderator*innen, die sich über dritte Instanzen aus- tauschen, mit denen sie aus verschiedensten Gründen nicht mehr f öderieren wollen. Wie effektiv so eine verteilte Form der Moderation sein kann, lässt sich am Beispiel der Bewegung IsolateGab zeigen: Als die neonazistische Plattform Gab sich im Sommer 2019 mit dem Fediverse verband, wurden alle damit assoziierten Instanzen schnell von den allermeisten anderen K noten blockiert, so dass Gab sich schlussendlich wieder ganz aus dem Fediverse zurückzog. Eine soziale und politische Lösung zeigte sich hier als effektive Antwort auf ein Problem, das sonst meistens nur technisch gefasst wird.24 Gleichzeitig legt die direkte Auseinandersetzung mit solchen Moderations- regeln auch tieferliegende Probleme offen. Verschiedene Be dürfnisse daran, welche I nhalte mit content warnings versehen werden sollen, haben zwischen verschiedenen In stanzen bereits zu heftigen Konflikten geführt. Besonders Schwarze Menschen weisen schon länger darauf hin, wie der dezentrale Aufbau der Moderation im Fediverse den Einfluss gesellschaftlicher R assismen auf die Entscheidungen einzelner Moderator*innen oder Communitys d irekter sicht- bar macht. Unter Schwarzen Wissenschaftler*innen wie Timnit Gebru oder 23 Vgl. Diana Zulli, Miao Liu, Jonathan Flowers wird intensiv diskutiert, wie «the whiteness of M astodon» mit Robert Gehl: Rethinking the «social» den technologischen Affordanzen von Mastodon und dem Fediverse allgemein in «social media»: Insights into topology, abstraction, and scale on zusammenhängt.25 Solche Prozesse verlaufen also nicht ohne Konflikte, denn the Mastodon social network, in: die Moderation von Inhalten wird zum sozialen und politischen Problem in- New Media & Society, Bd. 22, Nr. 7, 2020, 1188 – 1205. nerhalb von Gemeinschaften anstatt zu einem rein ökonomischen, rechtlichen 24 Zu diesem Beispiel und zu oder technischen. f öderierter Content-Moderation allgemein vgl. Derek Caelin: Die Zentralisierung unserer digitalen sozialen Interaktionen sowie ihre Decentralized Networks Vs The arbeitsförmige Organisation auf den Plattformen einer Handvoll großer Un- Trolls, in: Hoda Mahmoudi, Michael H. Allen u. Kate Seaman (Hg.): ternehmen wurde oben bereits als Einhegung beschrieben, die ein Teil der Fundamental Challenges to Global Peace formellen Subsumtion nach Marx ist. In diesem Prozess wird work zu labour, and Security: The Future of Humanity, Cham 2022, 143 – 168. wodurch die einfache Lebenstätigkeit der sozialen Interaktion gleichzeitig als 25 Dieser Austausch ist über abstrakte, Wert produzierende Arbeit fungiert.26 Dafür wird die Arbeit von viele Beiträge und Threads verteilt, weswegen hier beispielhaft auf ein Nutzer*innen eingehegt und zentralisiert, die produzierten Waren werden zu Gespräch von Justin Hendrix mit privatem Eigentum anderer.27 In diesem Sinne lässt sich der Aufbau föderierter F lowers verwiesen wird: The White- ness of Mastodon, in: Tech Policy Infrastrukturen als der Versuch verstehen, der formellen Subsumtion, der Ein- Press, 23.11.2022, techpolicy.press/the- hegung unserer digitalen Sozialität durch das Kapital, zu widerstehen und die whiteness-of-mastodon (20.1.2023). 26 Vgl. Karl Marx: Das Kapital. dort produzierten Ressourcen dem Markt zu entziehen. Vor allem aber geht es Kritik der politischen Ökonomie, Berlin auch darum, die Orte und Bedingungen dieser Form von peer-production wieder 2017 [1962], 61 f. und Fuchs: Digital Labour and Karl Marx, 257. selbst zu bestimmen. 27 Vgl. Marx: Das Kapital, 533. SCHWERPUNKT 37 TOBIAS STADLER Die Kontinuität im Vokabular Der zweite Teil des ActivityPub- Standards ist eine modular erweiter- bare Syntax für soziale Daten, in der ein bestimmtes Set an Akteur*innen, Handlungen und Objekten defi- niert wird. Diese wurden aus einem älteren W3C-Standard namens ActivityStreams 2.0 übernommen und definieren eine grundlegende Grammatik sozialer Interaktionen, durch die möglichst alle Server im Fediverse miteinander interoperie- ren können. Diese Abstraktionen Abb. 2 Eine leicht gekürzte erschaffen den Handlungsraum, den wir aus verschiedenen anderen sozialen Auswahl aus dem core vocabulary Netzwerken kennen: liking, sharing, following, events, posts, accounts, groups. Das von ActivityStreams 2.0, w3.org/ TR /activitystreams-vocabulary gesamte Vokabular ist in drei Kategorien unterteilt, in actors, activities und objects. Dadurch ergibt sich für jede Aktivität ein Aufbau aus Subjekt, Verb und Objekt: Ein Account liked ein Posting. Ein Server blockiert ein Profil. Ein Bot tritt einer Gruppe bei. Diese linguistische Abstraktion ist eine wortwörtliche «grammar of action», wie Phil Agre sie in seiner Defintion von capture beschrieben hat.28 Agre setzt capture der klassischen surveillance gegenüber. Während Letztere v. a. als passive Beobachtung von Handlungen, meistens als visuelle Metapher wie der geheimen Kamera in der Decke, gedacht wird, ist Ersteres eher als auto- matisierte Aufzeichnung von Zuständen in streng definierten Möglichkeits- und Handlungsräumen zu verstehen. Indem enge Sets von Zuständen und Hand- lungen – die «grammars of action» – definiert werden, die dann an bestimm- ten Stellen von automatisierten Systemen ausgelesen werden können, werden Handlungen parsable, also maschinenlesbar. Überwachung und Kontrolle wer- den hier von einer passiv verstandenen Aufzeichnung zu einer aktiven Forma- tierung und ermöglichen damit die automatisierte ökonomische Überwachung unserer Sozialität in kommerziellen SNPs sowie die Reformatierung dieser sozi- alen Handlungen, um die Produktion sozialer Daten zu optimieren.29 Allerdings 28 Philip E. Agre: Surveillance and ist jedes Protokoll ein Set möglicher kommunikativer Handlungen zwischen capture: Two models of privacy, in: Computersystemen, von TCP / IP über IMAP bis hin zu ActivityPub. Digitale The Information Society, Bd. 10, Nr. 2, 1994, 101 – 127. Netzwerke brauchen gewisse gemeinsame Abstraktionen, um erfolgreich Nach- 29 Vgl. Till A. Heilmann: Datenar- richten austauschen zu können. Abstraktion alleine ist also noch keine kapita- beit im «Capture»-Kapitalismus. Zur Ausweitung der Verwertungszone listische Einhegung. Capture ist eine Form von Überwachung, die bestimmte im Zeitalter informatischer Überwa- Prozesse und Verhaltensweisen nach ökonomischen Logiken restrukturieren chung, in: ZfM, Jg. 7, Nr. 13 (2/2015): Überwachung und Kontrolle, 35 – 47, soll – Agres eigene Beispiele sind meistens Optimierungen von Arbeitsabläufen; doi.org/10.25969/mediarep/1561. er zeichnet eine genealogische Linie von den t aylorschen «time-and-motion 30 Agre: Surveillance and capture, 117. studies» zu modernen Capture-Prozessen.30 Solche Prozesse lassen sich als ein 38 ZfM 28, 1/2023 GRAMMATIKEN DER ALTERITÄT weiterer Aspekt der Subsumtion von Arbeit unter das Kapital fassen, denn Marx beschreibt in der historischen Entwicklung des Produktionsprozesses noch ei- nen weiteren Schritt: Auf die formelle Subsumtion folgt die reelle Subsumtion, durch die der Produktionsprozess anhand von Neuverschaltung, Arbeitsteilung und Einsatz von Maschinen optimiert wird, also der Arbeitsprozess und seine Abläufe verändert werden.31 In kommerziellen SNPs bedeutet dies, dass die In- teraktionen der Nutzer*innen durch die Möglichkeitsräume und Aufforderungen der Protokolle und Interfaces zu möglichst datenintensiven Sozialpraktiken um- geformt werden sollen. Bei dem Vokabular, das wir in Abb. 2 sehen, sollte sofort auffallen, wie bekannt es ist. Es sind genau jene Handlungsgrammatiken, die wir als Nutzer*innen kommerzieller SNPs gelernt, normalisiert und internalisiert haben. Der eigent- liche Gegenentwurf ActivityPub schreibt damit viele der sozialen Logiken kommerzieller Plattformen weiter fort, indem er ihre Grammatiken unkritisch nachbaut. Damit bilden diese Handlungsgrammatiken weiterhin den Kern der im Fediverse ermöglichten Sozialpraktiken. Ihr Zweck ist zwar nicht mehr die Mehrwertproduktion und ihre Ergebnisse verwirklichen ihren Wert nicht mehr im Warentausch, aber die Form der digitalen Infrastrukturen, der Produktions- mittel unserer Sozialität, wurde direkt aus den rekonfigurierten Produktionspro- zessen übernommen. Dies ist die kapitalistische Kontinuität einer reel subsumierten Arbeit, die im Echo unserer marktförmigen und industrialisierten Sozialität weiterlebt. Wir werden dazu angehalten, weniger mit Menschen zu kommunizieren und stattdessen mehr mit dem Content von Accounts zu interagieren. Die Bezeich- nung als «industrialised social relations» übernehme ich von Yuk Hui und H arry Halpin.32 Damit fassen die beiden nicht nur die Zentralisierung auf kom- merziellen SNPs, sondern auch die atomisierende Dynamik der spezifischen O rganisation unserer Sozialität, die auf dezentralen Alternativen mit derselben strukturellen Logik nicht verschwinden: One can imagine that the image of a social network as merely lines between dots constrains the horizon of innovation, as such a primitive image cannot understand how to graphically represent any collectivity beyond the individual as primary, and instead always takes any collectivity as a consequence or byproduct of the map of interconnected atoms.33 Die Organisation der Interaktion funktioniert im Fediverse weiterhin arbeits- förmig, auch wenn sich der Wert der Datenwaren wahrscheinlich niemals im Tausch realisiert. Dies geht einher mit der industrialisierten Produktion unserer 31 Vgl. Marx: Das Kapital, 533. 32 Yuk Hui, Harry Halpin: Col- Sozialität, womit die Summe unserer sozialen Interaktionen, unserer geteilten lective Individuation: The Future of Geschichten, unserer Memes, unserer Verhältnisse zu uns selbst und zu ande- the Social Web, in: Geert Lovink, Miriam Rasch (Hg.): Unlike Us Reader. ren gemeint ist. Diese Kontinuitäten entstanden nicht nur durch festgefahrene Social Media Monopolies and their Normen und fixe Erwartungen daran, wie ein soziales Netzwerk auszusehen Alternatives, Amsterdam 2013 (INC Reader 8), 103 – 116, hier 107. habe. Die Genealogie des Vokabulars von ActivityStreams 2.0 geht zurück auf 33 Ebd., 106. SCHWERPUNKT 39 TOBIAS STADLER OpenSocial, eine ursprünglich von Google entwickelte Syntax, die zur Ab- straktion und zum Austausch sozialer Aktivitäten entwickelt wurde. Nachdem OpenSocial einer unabhängigen Institution zur Entwicklung übergeben wur- de, haben sich auch einige andere Plattformen daran bedient. Es gab einen Zeitpunkt im Jahr 2009, als Google, MySpace, Yahoo!, StudiVZ und andere Plattformen dieselbe Syntax für ihre sozialen Daten nutzten.34 Sogar Facebook griff auf das Vokabular zurück, um damit die erste Version der Open-Stream- API zu bauen und Entwickler*innen damit den Umstieg von ihrer bisherigen API leichter zu machen. Die Idee der interoperablen Implementierung eines solchen Standards steht langfristig jedoch im Widerspruch zur kommerziellen Plattformlogik, die zwar in frühen Aufbauphasen gerne mit offenen Standards hantiert, aber nur um diese Verbindungen später zu kappen und die daraus ent- standenen Netzwerkeffekte zu nutzen und so das Verlassen der Plattform an hohe soziale und technische Kosten zu koppeln. Deswegen haben all die Platt- formen, die OpenSocial in unterschiedlichen Weisen implementiert hatten, auch nie ernsthaft miteinander interoperiert. Später wurde der Standard der W3C übergeben, aus welcher die Standards entstanden, die in die Entwicklung von ActivityPub eingeflossen sind. «Stacking infrastructures» Aufbauend auf den bestehenden Infrastrukturen funktioniert auch das Fediver- se als Teil der globalen TCP / IP-Netze, mit all deren Kommerzialisierungen, Einhegungen und Rezentralisierungen. In der Untersuchung von Infrastruk- turen werden diese Abhängigkeiten von bestehenden Elementen als «installed base» diskutiert,35 als bereits existierende Praktiken, Konventionen, Werkzeu- ge und Systeme, die für die Entstehung neuer Infrastrukturen konstitutiv sind. Roel Roscam Abbing wendet diese Phrase für die Entwicklung von «computa- tional alternatives» und beschreibt dafür die «installable base» als bestehenden Möglichkeitsraum, als existierende Versuchsanordnung in Form von installier- barer und ausprobierbarer Open-Source-Software.36 In der direkten Auseinan- dersetzung mit dieser installierbaren Basis können Fragen formuliert und Prak- 34 Vgl. Aaron Goldmann: B enjamin Goering on «Activity- tiken entwickelt werden, um daran andere Formen von digitaler Sozialität und Pub W3C R ecommendation», der dafür notwendigen Infrastruktur zu erarbeiten und zu erproben. In diesem Y outube, 23.5.2022, youtube.com/ watch?v=c17gjxEoyMQ (15.10.2022). Sinne sind alternative Netzwerke wie das Fediverse als Labore zu verstehen, in 35 Susan Leigh Star: The denen Praktiken und Gemeinschaften entstehen sollen, die über die kommo- Ethnography of Infrastructure, in: American Behavioral Scientist, difizierte Sozialität kommerzieller SNPs hinausweisen sollen und die sich ohne Bd. 43, Nr. 3, 1999, 377 – 391, doi.org/ Extraktivismus und unsichtbar gemachte Ausbeutung erhalten können. Solche 10.1177/00027649921955326, 382. 36 Roel Roscam Abbing: On Alternativen können als Raum des Experimentierens und der Diskussion verän- c ultivating the installable base, in: derbarer Parameter dienen. PDC ’22: Proceedings of the Participa- tory Design Conference 2022, Bd. 2, Die entsprechenden Experimente können unabhängig voneinander durchge- Association for Computing Machin- führt werden. Einzelne Communitys können für sich jeweils erarbeiten, was sie ery, New York 2022, 203 – 207, doi.org/10.1145/3537797.3537875. brauchen und wollen. Die stark voneinander abweichenden Implementierungen 40 ZfM 28, 1/2023 GRAMMATIKEN DER ALTERITÄT des Protokolls ermöglichen unterschiedliche Arten, sich mit dem Netzwerk ins Verhältnis zu setzen, ohne dass dieses einer vereinheitlichten user e xperience unterworfen werden müsste. Selbst das in diesem Beitrag problematisierte V okabular von ActivityStreams 2.0 lässt sich durch die Linked-Data-Logik des Standards föderiert erweitern, um verschiedene Arten von Interaktionen und Communitys zu ermöglichen – selbst wenn das problematisierte Grundvokabu- lar von allen gleich benutzt werden muss. Das Prinzip föderierter Infrastrukturen, die durch offene Standards mitein- ander verbunden sind, hat auch das Interesse der Europäischen Union geweckt, die mit dem Digital Markets Act die Interoperabilität von Messenger-Diens- ten festschreiben will und damit in ihrer Strategie zu digitalen Infrastruktu- ren also in Richtung föderierte Systeme steuert.37 Spätestens die Übernahme von T witter durch eine der reichsten Personen dieser Welt im Herbst 2022 hat erneut für erhöhte Aufmerksamkeit für das Fediverse gesorgt. Die Activity- Pub-Implementierung Mastodon wurde von vielen Twitter-Nutzer*innen als bestehende Alternative entdeckt, die daraufhin begannen, das Fediverse zu er- kunden.38 Diese sprunghafte Zunahme an Nutzer*innen hat sich hinsichtlich verschiedener Aspekte als Herausforderung für das Netzwerk herausgestellt, von den rechnerischen Ressourcen kleinerer Server über die Aufmerksamkeits- kapazitäten von Moderator*innen größerer Server bis hin zu den sozialen Nor- men des gesamten Netzwerks. Etablierte Unternehmen wie tumblr und flickr haben bereits angekündigt, an der Implementierung des ActivityPub-Proto- 37 Die Europäische Union betreibt zudem zwei Fediverse-Instanzen: kolls als Schnittstelle zu ihren jeweiligen Plattformen zu arbeiten.39 Während zum einen EU Voice für Microblog- die Implementierung des Standards alleine noch keine Einhegung bedeutet, ging, basierend auf Mastodon (social. network.europa.eu/about), und zum sollten solche Nachrichten trotzdem daran erinnern, dass auch andere offene, anderen EU Video für Streaming, föderierte Netzwerke bereits erfolgreich eingehegt wurden. basierend auf Peertube (tube.network. europa.eu/about). 38 Aufgrund der föderierten Struktur ist es notorisch schwierig, zuverlässige Zahlen zur Größe und Fazit Nutzung des Fediverse zu erheben. Die Beschäftigung mit den jetzt existierenden Alternativen zu kommerziel- Projekte wie fediverse.party oder der Fediverse Stats Bot zählen len sozialen Netzwerkplattformen, als «installable base» und als Labore ernst mittels Webcrawler und APIs um die genommen, kann den Blick auf zweierlei Arten von Ressourcen eröffnen, de- sieben Millionen Accounts auf etwa 7000 Servern, von denen etwa 2 Mil- ren Re- / Produktion und Verteilung Teil einer Diskussion digitaler Zukünfte lionen als «monthly active users» sein sollte. gezählt werden, vgl. o. A.: About Fediverse, in: fediverse.party, ohne Zum einen erleichtert es die föderierte Netzwerktopologie, über die mate- Datum, fediverse.party/en/fediverse riellen Grundlagen digitaler Services zu sprechen, denn ein Fediverse, das in (9.12.2022). 39 Vgl. Sarah Perez: Flickr weighs virtuellen Servern entsteht, die von Amazons AWS oder Microsofts Azure ge- support for ActivityPub, the social mietet werden, kann nicht das Ziel sein. Viel eher sollte sich daraus die Forde- protocol powering Twitter alternative Mastodon, in: Techcrunch, 28.11.2022, rung nach öffentlichen Ressourcen für digitale Infrastrukturen ergeben – etwa techcrunch.com/2022/11/28/flickr- die von Evgeny Morozov aufgestellte Forderung nach der Vergesellschaftung weighs-support-for-activitypub-the- social-protocol-powering-twitter- von Daten- und Rechenzentren.40 Historisch haben sich föderierte Systeme alternative-mastodon (8.12.2022). wie das klassische Web oder das E-Mail-Netzwerk auf etablierte Institutionen 40 Vgl. Evgeny Morozov: Socialize the Data Centres!, in: New mit informationellem Interesse gestützt, etwa Bibliotheken oder Universitäten. Left Review, Bd. 91, 2015, 45 – 66. SCHWERPUNKT 41 TOBIAS STADLER Diese übernahmen – zumindest damals noch – ihren Nutzer*innen gegen- über mehr Verantwortung als gegenüber Kund*innen oder gar unbezahlten Produzent*innen. Hier ist also nicht nur die Wartung materieller Server ge- meint, sondern auch die Care-Arbeit, die funktionierende Communitys und Kommunikationsräume brauchen. Zum anderen ermöglicht uns die Perspektive auf unsere Sozialität als kollektiv produzierte Ressource, über die liberale Kritik der Verletzung der bürgerlichen Privatsphäre oder der Vermachtung von Subjektivierungspro- zessen hinauszugehen, wenn wir über kommerzielle soziale Infrastrukturen sprechen. Die von uns in unseren Interaktionen produzierten Daten haben einen sozialen Gebrauchswert als gemeinschaftliche Ressourcen. Die Diskus- sion alternativer Standards und Protokolle ist wichtig, um Wege zu finden, wie diese unter demokratischer Kontrolle produziert und genutzt werden können. Dominic Piétrons Idee von Datengenossenschaften könnte hierfür hilfreich sein,41 so wie Salomé Viljoens Konzept einer «democratic data governance».42 Aber die Besprechung des für diese Produktion genutzten Vokabulars hat auch 41 Vgl. Dominik Piétron: Öffent- gezeigt, dass nicht nur die Produkte jener Daten produzierenden Arbeit an- liche Plattformen und Datengenos- ders zu verteilen sind, sondern dass der Produktionsprozess selbst auch forma- senschaften. Zur Vergesellschaftung digitaler Infrastrukturen, in: Timo tierend in unsere Sozialität eingreift. Deshalb kann sich die Suche nach Alter- Daum, Sabine Nuss (Hg.): Die un- nativen nicht nur auf den Umgang mit Daten beschränken, wenn diese bereits sichtbare Hand des Plans. Koordination und Kalkül im digitalen Kapitalismus, e xistieren, sondern muss auch die Bedingungen und Prozesse ihrer Produktion Berlin 2021, 110 – 124. in den Interfaces und Protokollen unserer digitalen Infrastrukturen in den 42 Viljoen: A Relational Theory of Data Governance, 638. Blick nehmen. — 42 ZfM 28, 1/2023 J A N H A R M S VON SPRECHAKTEN UND SCHREIBFAKTEN — Logiken des Protokolls in den True-Crime-Podcasts «Serial» und «Undisclosed» «For the last year, I’ve spent every working day trying to figure out where a high school kid was for an hour after school one day in 1999, or if you want to get technical about it, and apparently I do, where a high school kid was for 21 min- 1 Serial, S1 EP1: The Alibi, utes after school one day in 1999.»1 Mit dem Fokus auf diese 21 Minuten be- Podcast-Folge, Produktion: Sarah ginnt die Journalistin Sarah Koenig im Oktober 2014 die erste Staffel des Po- Koenig, Julie Snyder, Dana Chivvis, Erstausstrahlung 3.10.2014, dcasts Serial. Über zwölf Folgen hinweg schildert sie ihre Recherchen zum Fall TC 00:00:30 – 00:01:35. der 1999 ermordeten 18-jährigen Highschool-Schülerin Hae Min Lee, in dem 2 Zur Intermedialität des Podcasts vgl. Martin Spinelli, Lance Dann: der Ex-Freund des Opfers, Adnan Syed, angeklagt und im Jahr 2000 schuldig Podcasting. The Audio Media Revolution, gesprochen wurde. Koenigs Faszination fürs getting technical äußert sich dabei in New York, Ann Arbor 2019, 13 f. 3 Der Begriff protocol wird im einer akribischen Beschäftigung mit Dokumenten unterschiedlichster Art. Sie untersuchten Material selbst nicht rekonstruiert das Geschehen auf der Basis von Ermittlungsakten, Polizeiberich- verwendet, was auf die im Vergleich zum deutschen Pendant engere ten und Tatortfotos, die dem Publikum, dem damit eine ähnliche Affinität unter- Bedeutung zurückgeführt werden stellt wird, unter der Rubrik Maps, Documents, Etc. auf der Webseite des Podcasts kann: ‹Protocol› meint die Vor-, nicht aber die Mit-Schrift, während ‹Proto- teilweise bereitgestellt werden. Mit Serial – so viel kann hier vorweggenommen koll› im Deutschen beide Funktionen werden – zeigt sich der Podcast als mehr als ein bloß auditives Medium.2 umfasst. Bezüglich der Mitschrift differenziert das Englische weiter Insofern das Rezeptionsangebot eben auch digitalisierte Akten und w eiteres zwischen ‹transcript›, das insbeson- Schriftgut umfasst, scheint der True-Crime-Podcast geradezu prädestiniert, dere auch im gerichtlichen Kontext das Wortprotokoll bezeichnet, und Momente des Medienwechsels zwischen Stimme und Schrift in den Blick zu den ‹minutes›, bei denen es sich eher nehmen, die auch das Protokoll als zentrales Medium des Rechts ausmachen.3 um ein Ergebnisprotokoll handelt. 4 Cornelia Vismann: Action Dessen transkriptive Logik kann mit Cornelia Vismann auf die pointierte For- Writing. Zur Mündlichkeit im Recht, mel «Aus Sprechakten werden Schreibfakten und am Ende schlicht Akten» ge- in: dies.: Das Recht und seine Mittel. Ausgewählte Schriften, hg. v. Markus bracht werden,4 der Übergang von der Stimme zur Schrift geht im juridischen Krajewski, Fabian Steinhauer, Frank- Kontext mit einer festgeschriebenen «Protokoll-Wahrheit» einher.5 Diese furt / M. 2012, 394 – 416, hier 399. 5 Ebd. e rscheint in Serial jedoch zunehmend verdächtig, denn anstelle klarer Fakten 6 Vgl. etwa jüngst Neil Verma: ergeben sich im Laufe der Recherche zahllose Widersprüche, Unklarheiten Nobody Knows Anything. Recessive Epistemologies in True Crime Podcast- und Zweifel. Immer wieder sieht sich Koenig daher gezwungen, die Frage nach ing, in: Mia Lindgren, Jason Loviglio Syeds Schuld neu zu bewerten. Ihre Ambivalenz, so wurde vielfach konstatiert, (Hg.): The Routledge Companion to Radio and Podcast Studies, London, ist das eigentliche Thema von Serial.6 New York 2022, 179 – 187, hier 181 f. SCHWERPUNKT 43 JAN HARMS Anlass zum Zweifeln bieten etwa die Aussagen des Zeugen Jay Wilds, aus de- nen sich zahlreiche Inconsistencies – so der Titel der vierten Folge – ergeben. Sein bei Vernehmungen und vor Gericht protokolliertes Geständnis, er habe Syed beim Vergraben der Leiche geholfen, findet sich in mindestens sechs Versionen, die sich in teils maßgeblichen Details voneinander unterscheiden.7 Von Interesse sind im Folgenden allerdings nicht die einzelnen Widersprüche der inkonsisten- ten Aussagen, sondern vielmehr, wie die Podcasts Serial und später Undisclosed sich diesen über die Modalitäten ihrer Aufzeichnung nähern. Verbrechen und Urteil werden, in gegendokumentarischer Manier, nicht als einfach gegeben, sondern als Resultate juridischer und medialer Prozesse verstanden.8 So gibt Koenig etwa die handschriftlichen Notizen der Polizei wieder, de- nen zufolge Wilds bei seiner ersten Befragung zunächst einen banalen Tages- ablauf schildert – Besuch in der Mall, Treffen mit Freund*innen –, bevor die Aussage schließlich in ein Geständnis seiner Beteiligung am Verbrechen um- schlägt: «After two pages of notes like that, it says, ‹Alright, I come clean.›»9 Während der Vernehmung entstanden, mag diese Echtzeitmitschrift zwar zu- nächst Präsenz und Glaubwürdigkeit suggerieren,10 damit wird jedoch durch Koenig – wohl nicht ganz ernsthaft – schon im nächsten Satz gebrochen: «At least, that’s what I think it says. The detective’s handwriting is messy, so 7 Serial, S1 EP4: Inconsistencies, maybe it says, ‹A bright eye came down.›»11 Der Sprechakt, mit dem Wilds Podcast-Folge, Produktion: Sarah Koenig, Julie Snyder, Dana Chivvis, sein Geständnis beginnt, wird zwar «mit einem institutionell abgesicherten Erstausstrahlung 16.10.2014, Wahrheitsanspruch in Schrift gespeichert»12 und damit zur Tatsache, das TC 00:23:20. 8 Zu diesem Verständnis des undeutliche Schriftbild erlaubt es aber eben auch, ganz andere – wenn auch Gegendokumentarischen vgl. Esra sinnlose – Aussagen aus dem Protokoll herauszulesen. Damit steht die Notiz Canpalat u. a.: Operationen, Foren, Interventionen. Eine Annäherung an sinnbildlich für ein medientheoretisches Wissen, das in Serial an dieser Stelle den Begriff Gegen\Dokumentation, anzuklingen scheint. Denn verdichtet sich in der Debatte um Mündlichkeit in: dies. (Hg.): Gegen\Dokumentation. Operationen – Foren – Interventionen, und Schriftlichkeit die Einsicht einer grundsätzlichen Mediengebundenheit Bielefeld 2020, 7 – 25. von Kommunikation,13 so zeigt sich hier im Speziellen, wie die protokollari- 9 Serial, S1 EP4: Inconsistencies, TC 00:12:40. sche Transkription mit Arbitrarität und Störung einhergeht: «Das Protokoll 10 Vgl. Vismann: Action Writing, ist kein transparentes, neutrales Medium, sondern konstruiert eine Wirklich- 398. 11 Serial, S1 EP4: Inconsistencies, keit.»14 Der Weg von den Sprechakten zu den Schreibfakten erweist sich als TC00:12:48. prekär. Dass das Protokoll einen produktiven wie restriktiven Anteil an der 12 Michael Niehaus: Epochen des Protokolls, in: Zeitschrift für Medien- von ihm hervorgebrachten Wahrheit hat, wird als implizit-medientheore- und Kulturforschung, Bd. 2, Nr. 2: tische Beobachtung von den beiden Podcasts mitgeführt und entfaltet dabei Medien des Rechts, 2011, 141 – 156, hier 141. auch politisches Potenzial – können so doch auch staatliche Akteur*innen der 13 Vgl. weiterführend Sybille Wahrheitsfindung kritisch in den Blick genommen werden. K rämer: Mündlichkeit / Schriftlich- keit, in: Alexander Roesler, Bernd Stiegler (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn 2005, 192 – 199, hier 192 f. Leerstellen 14 Michael Niehaus: Protokollie- Wilds’ unleserlich protokollierter Sprechakt «Alright, I come clean» geht ren, in: Heiko Christians, Matthias Bickenbach, Nikolaus Wegmann nicht nur mit einem darauffolgenden Geständnis einher, sondern auch mit (Hg.): Historisches Wörterbuch des einem neuen Aufzeichnungsmodus – an die Stelle der handschriftlichen Noti- Mediengebrauchs, Bd. 1, Köln u. a. 2015, 463 – 481, hier 479. zen tritt nun eine Tonbandaufnahme. Indem die Instanz der Aufzeichnung von 44 ZfM 28, 1/2023 VON SPRECHAKTEN UND SCHREIBFAKTEN der menschlichen Hand(schrift) auf ein technisches Speichermedium verscho- Abb. 1 «Maps, Documents, etc.» ben wird, scheinen die Mängel der manuellen Mitschrift ausgehebelt – wird als digitale Paratexte auf der Seite von Serial hier doch vermeintlich mit ‹mechanischer Objektivität›15 einfach alles Gesagte neutral aufgezeichnet und so das schriftliche Protokoll eigentlich überflüssig.16 Aber, so stellt Koenig schnell fest, auch dieser Mitschnitt liefert eben nur einen Ausschnitt des Gesagten: «In both of Jay’s taped statements, there’s a before. A period of time before the tape recorder is turned on. When the cops first 15 Den Begriff der mechanical objectivity prägen Lorraine Daston bring Jay in on February 28th, they talked to him for about an hour before the und Peter Galison für ein Paradigma tape went on.»17 Der banale wie grundlegende Umstand, dass die Aufzeichnung streng regulierter technischer B ildproduktion in den Wissenschaf- eben erst mit ihrem Start beginnt, öffnet Raum für Spekulationen. Eigentlich ten des späten 19. Jahrhunderts, soll das Tonband lückenlos alles Gesagte dokumentieren, doch das Verhör un- vgl. dies.: Objectivity, New York 2007, 121 – 125. ter Ausschluss der Öffentlichkeit bleibt eine Leerstelle, die Interpretationen 16 Vgl. Niehaus: Epochen des ermöglicht und anregt.18 Wie zuvor schon die handschriftlichen Notizen auf Protokolls, 155 f. 17 Serial, S1 EP8: The Deal with Uneindeutigkeiten des Protokolls hinweisen, so sucht Koenig auch im Ton- Jay, Podcast-Folge, Produktion: band nach solchen Spielräumen für Ambivalenz. Nicht allein das schriftliche Sarah Koenig, Julie Snyder, Dana Chivvis, Erstausstrahlung 13.11.2014, Protokoll geht notwendigerweise mit – intentionalen oder nicht-intentiona- TC 00:14:20. len – Mängeln, S törungen und Ausschlüssen einher,19 ebenso ist die technische 18 Vgl. Peter Brooks: Troubling Confessions. Speaking Guilt in Law and Aufzeichnung von Unzulänglichkeiten geprägt. Literature, Chicago, London 2000, Entscheidend ist dabei, wie Koenig diese Leerstelle bestimmt und konkre- 12 – 14. 19 Vgl. Niehaus: Protokollieren, tisiert. Denn hier zeigt sich, dass die Stimme im Kontext der Rechtsprechung 463 f. eben nicht autonom von der Schrift agiert, sondern stets auf diese bezogen 20 Vgl. Cornelia Vismann: Medien der Rechtsprechung, Frank- bleibt.20 Um Teil der Akten werden zu können, wird die Tonbandaufzeichnung furt / M. 2011, 124. SCHWERPUNKT 45 JAN HARMS Abb. 2 Undisclosed stellt den nicht nur transkribiert – dazu mehr im Folgenden –, sondern die Aufnahme ist P odcast in den Kontext digitali- auch in protokollarische Ordnungen eingebunden, die weitere Anhaltspunkte sierter Aktenkonvolute für Zweifel bieten: Then, on March 15th, the second interview. Jay signs his initials to an official expla- nation of rights form at 3:15 p.m. Then the tape starts […]. 6:20 p.m. So from 3:15 to 6:20, three hours have gone by since Jay signed that form. This is what’s called the pre-interview, and Trainum [ein Experte für falsche Geständnisse, JH] says, that’s where the mischief can happen. The contamination. Not necessarily intentionally, but it happens. The pre-interview was when the cops and the witness kind of iron out the statement so it can be taped as a coherent thing. That was standard proce- dure back then.21 Anders als dem schriftlichen Protokoll fehlt es dem auditiven Mitschnitt an «Unterschreibbarkeit»22 und damit der Möglichkeit zur institutionellen Be- glaubigung. Deshalb sind Formulare notwendig, in denen Wilds die Belehrung über seine Rechte als Verdächtiger bestätigt und die nun für Koenig als Zeit- signaturen fungieren. Diese Initialen wachen über die Einhaltung der proto- kollarischen Vorschriften, das Protokollformular sichert die Förmlichkeiten.23 Als Nebeneffekt kann so nachvollzogen werden, dass Wilds bei seiner zweiten 21 Serial, S1 EP8: The Deal with Befragung bereits um 15:15 Uhr mit den Beamt*innen spricht – über drei Stun- Jay, TC 00:14:34. 22 Niehaus: Epochen des den bevor die Aufnahme um 18:20 Uhr startet. Koenigs Verdacht über eine P rotokolls, 155. mögliche Beeinflussung des Zeugen durch die Polizei ergibt sich somit aus dem 23 Vgl. Vismann: Action Writing, 410 f. Protokoll selbst heraus und folgt ganz dessen Logik: «Nur auf dem Boden der 46 ZfM 28, 1/2023 VON SPRECHAKTEN UND SCHREIBFAKTEN Protokoll-Wahrheit […] lässt sich ein im Protokoll faktizierter Akt überhaupt angreifen.»24 Jenseits der Wahrheit der Aussage bildet das Protokoll eine for- melle Wahrheit über deren Zustandekommen ab.25 Statt des vom Zeugen Wilds versprochenen «coming clean» des Geständ- nisses ermöglicht das Vorgehen der Polizei also Kontamination. Die Leerstelle des pre-interview macht damit gleichzeitig auf die Ausschlüsse des Protokolls aufmerksam wie auch auf dessen produktive Funktion: Protokolle können nicht nur unterschlagen, was ist, sie können auch produzieren, was nicht ist. Wie ge- schriebene Protokolle zeichnet auch das Tonband einen Gesprächsverlauf nicht einfach auf, es «gibt also keineswegs wieder, was tatsächlich gesagt worden ist, sondern erarbeitet die Antwort, die ins Protokoll aufgenommen werden 24 Ebd., 399. soll».26 Diese protokollarische Performativität bringt eine sich selbst beglau- 25 Vgl. ebd., 398 f. 26 Niehaus: Epochen des bigende Wahrheit hervor, die Sprecher*innen unabhängig vom tatsächlichen P rotokolls, 155. Herv. i. Orig. Geschehen an ihre Aussagen bindet.27 Auch eine Lüge oder sonstige Falschaus- 27 Vgl. Stefan Nellen: Die Akte der Verwaltung. Zu den administrativen sage wird durch das Protokoll zum geglückten Sprechakt 28 – mit realen Konse- Grundlagen des Rechts, in: Marcus quenzen, verbringt der Ex-Freund des Mordopfers, Adnan Syed, doch aufgrund Twellmann (Hg.): Wissen, wie Recht ist. Bruno Latours empirische Philosophie von Wilds’ Aussage schließlich 23 Jahre in Haft. einer Existenzweise, Konstanz 2016, Der Verdacht, es könne sich bei Syeds Verurteilung um einen möglichen 65 – 91, hier 79. 28 Vgl. Vismann: Action Writing, Justizirrtum handeln, verleiht den medialen Logiken des Protokolls somit 407 – 411. politische Brisanz, bieten sie doch Ansatzpunkte für Fragen nach der Funkti- 29 Zur inhärenten whiteness von Serial vgl. auch Jay Caspian Kang: onsweise und Zuverlässigkeit von behördlichen Ermittlungen. Dennoch blei- White Reporter Privilege, in: The Awl, ben, bei allem Wissen um die Funktionsweise des Protokolls, dessen inhärente 13.11.2014, theawl.com/2014/11/white- reporter-privilege (21.4.2021). Machtverhältnisse und damit konkrete politische Ansatzpunkte in Serial eher 30 Vgl. dazu auch Ellen Mc- Nebensache. Es kann wohl auch als Ausdruck eines – bisweilen als spezifisch Cracken: The Serial Commodity. Rhetoric, Recombination, and weiß identifizierten 29 – Privilegs verstanden werden, dass die Journalistin Koe- Indeterminacy in the Digital Age, nig den Kontext von institutionellem Rassismus für die Aussage des Schwar- in: dies. (Hg.): The Serial Podcast and Storytelling in the Digital Age, zen Belastungszeugen Jay Wilds bei der Polizei nur sehr beiläufig thematisiert. New York 2017, 54 – 71, hier 62 – 65. Dementsprechend wurden Serial und Koenig im Zuge der Freilassung Syeds McCrackens kritische Analyse macht in dieser Unsicherheit, die sie als im September 2022 teilweise scharf kritisiert, weil sie – auf die eigene Unsi- strategisch gesetzte Fassade der cherheit und Ratlosigkeit fokussiert – ein Fehlverhalten der Polizei im Rahmen Unentscheidbarkeit ansieht, einen maßgeblichen Aspekt des auch kom- der Ermittlungen zwar in Betracht zieht, systemische Hintergründe aber eben merziellen Erfolgs von Serial aus. nicht klar benennt.30 31 Vgl. etwa Michael Buozis: G iving Voice to the Accused. Serial and the Critical Potential of True Crime, in: Communication and Critical / Cultural Studies, Bd. 14, Nr. 3, Überschüsse 2017, 254 – 270. Die Kanonisierung Ungeachtet solcher Einwände wird Serial immer wieder als Startpunkt eines von Serial erfolgt auch im wissen- schaftlichen Kontext frühzeitig, 2017 neuen True-Crime-Booms mit explizit kritischer Ausrichtung beschrieben,31 erscheint etwa ein Sammelband wie etwa Jean Murley exemplarisch konstatiert: «[T]rue crime now seems to zum Podcast, vgl. McCracken (Hg.): The Serial Podcast and Storytelling in be taking up the offer to critically examine reality, not just to serve it up on a the Digital Age. plate.»32 Damit grenzen sich neuere Formate dezidiert von tradierten True- 32 Jean Murley: Making Murderers. The Evolution of True Crime-Narrativen ab, die ohne weitreichenden investigativen Anspruch aus- Crime, in: Chris Raczkowski (Hg.): kommen und in denen polizeiliches Wissen oftmals besonders privilegierten A History of American Crime Fiction, Cambridge (MA) 2017, 288 – 299, Status genießt. Auch wenn die fortbestehende Dominanz solcher zumeist hier 289. SCHWERPUNKT 47 JAN HARMS voyeuristischen und täter*innenzentrierten Formate für das Genre von den teils äußerst optimistischen Diagnosen einer kritischen Wende von True Crime nicht erfasst wird,33 zeichnet sich dennoch mit dem Aufkommen des Podcasts eine neue Tendenz ab. Denn Serial trägt als «first household-name in podcast- ing»34 nicht nur wesentlich zur Etablierung dieses Mediums bei, sondern regt auch zahlreiche Nachfolger an.35 So entstehen unmittelbar nach der Veröffent- lichung von S erial neben intensiven Diskussionen in den Sozialen Medien auch weitere, daran anschließende Podcasts.36 Eine besondere Rolle nimmt hier der Podcast U ndisclosed ein, der sich ab April 2015 mit den Ermittlungen gegen Syed beschäftigt und die detailorientierte Rekonstruktion noch einmal deutlich weitertreibt: Während sich Serial über eine Laufzeit von achteinhalb Stunden erstreckt, widmet Undisclosed dem Fall insgesamt über 46 Stunden. 33 Zu nennen wären hier z. B. Podcasts wie My Favourite Murder In der akribischen Auseinandersetzung mit den Aussagen von Jay Wilds tritt oder Crime Junkie, die für eine dabei auch eine Verschärfung des politischen Potenzials zutage, wie schon der K ommodifizierung von Verbrechen durch True Crime stehen. kurze Paratext zur dritten Folge Jay’s Day deutlich macht: «The team tracks 34 Spinelli, Dann: Podcasting, 14. Jay Wilds’ movements on Jan 13, 1999, using documentary evidence to sort 35 Neben Podcasts wie In the Dark oder On Our Watch können auch the truth from the lies.»37 Im Kontrast zur Ambiguität von Serial formuliert dokumentarische Streaming-Serien Undisclosed nun einen Anspruch auf klare Fakten, der Podcast verfolgt explizit wie Making a Murderer oder The Jinx als exemplarisch für eine kritisch- die Agenda, Syeds Unschuld zu beweisen – und bewegt sich damit auch in einer investigative Wende von True Crime aktivistischen Sphäre.38 Dies ist wohl einerseits durch einen persönlichen Bezug gesehen werden, vgl. auch Stella Bruzzi: Making a Genre. The Case einer der Hosts zu erklären – Rabia Chaudry ist persönlich mit Syeds Familie of the Contemporary True Crime befreundet – und andererseits durch die juristische Expertise aller drei Hosts, Documentary, in: Law and Humani- ties, Bd. 10, Nr. 2, 2016, 249 – 280. zwei Anwältinnen und ein Professor für Beweisrecht, bedingt. 36 Der Fall ist außerdem Gegen- Neben den Ungereimtheiten in Wilds’ Aussage geht es auch in Undisclosed stand der HBO-Doku-Serie The Case Against Adnan Syed (Regie: Amy Berg, um die Dokumentationsmodi der Vernehmung. Host Susan Simpson leitet ihre 1 Staffel, 4 Episoden, 2019). Überlegungen mit dem Verweis auf einen zuvor verfassten Blogeintrag ein:39 37 Undisclosed, S1 EP3: Jay’s Day, Podcast-Folge, Produktion: Rabia Chaudry, Colin Miller, If you’ve read my blog, you know that I’ve spent a lot of time analyzing Jay’s inter- Susan S impson, Erstausstrahlung view statements. There’s a lot of weird stuff in there, but when you read a transcript, 12.5.2015, Shownotes zur Folge. 38 Im Anschluss an die erste the context for a lot of statements is lost. When parts of the dialogue don’t seem Staffel, bei der die Frage nach Syeds to make sense or don’t add up, you’re left wondering if there’s some sort of tone of Schuld im Zentrum steht, beschäf- voice or some inflection or something else about the interaction that could explain tigt sich Undisclosed in den folgenden why they’re saying the things they said.40 Staffeln mit 22 weiteren Fällen, bei denen die Macher*innen von Justiz- irrtümern und Machtmissbrauch Im schriftlichen Medium des Blogs hatte sich Simpson bereits eingehend den ausgehen. Die Staffel The Killing of Freddie Grey thematisiert etwa tödli- Transkripten von Wilds’ Aussagen gewidmet und dabei ihre Irritationen und che Polizeigewalt. Allgemein gilt der den Verdacht beschrieben, die Verschriftlichung könnte der tatsächlichen Aussage Anspruch, aktiv in juristische Fälle zu intervenieren, indem neue Beweise nicht vollends gerecht werden. Nun, im Rahmen des Podcasts, kann sie auch präsentiert und unter Umständen auf die digitalisierten Tonbandaufzeichnungen zurückgreifen und diese mit der ein neues Verfahren bzw. die Freilas- sung eines*einer Beklagten erwirkt verschriftlichten Version abgleichen. wird. Im März 2022 wird der Podcast Dabei fallen Simpson im auditiven Mitschnitt zunächst die langen Pausen nach sieben Jahren eingestellt. 39 Vgl. für die im Folgenden auf, die Wilds in seiner Aussage immer wieder macht und die das schriftliche besprochene Sequenz Undisclosed, Protokoll unterschlägt. Sie fragt sich und das Publikum, ob das Zögern auf S1 EP3: Jay’s Day, TC 00:32:25. 40 Ebd., TC 00:32:05. Unkenntnis der Tat zurückzuführen sein könnte, weil er tatsächlich gar nicht 48 ZfM 28, 1/2023 VON SPRECHAKTEN UND SCHREIBFAKTEN daran beteiligt war. Die Wahrheit der Aussage verortet sie somit nicht mehr Abb. 3 Karten aus der Polizei- auf der Ebene des Gesagten, sondern vielmehr in den lautlichen Qualitäten akte dienen zur Rekonstruktion der Ermittlung der Stimme selbst. Damit bekräftigt sie jenes Primat der Stimme, das Vismann schon in Prozessordnungen um 1800 identifiziert, wonach es die «unverstellte Stimme unter der Oberfläche des Gesagten» sei, «die unkorrumpiert und au- thentisch Seelenzustände offenbart».41 Auch gegen den Willen der Aussagenden könne die Stimme folglich die Wahrheit enthüllen. Indem nun aber die Schrift des Protokolls diese hörbaren Leerstellen der Lesbarkeit entzieht, verdichtet sie das Zögern und verleiht der Aussage so eine Kohärenz, die sie in Form des Tonbandmitschnitts nicht zu haben scheint. Kontamination geschieht folglich nicht nur im Off vor der Aufnahme, wie es Koenig in Serial gemutmaßt hat- te, sondern «Protokolle [selbst] kontaminieren den unmittelbaren Eindruck».42 Der Medienwechsel in die Schrift verdeckt die losen Enden in der Aussage und produziert kohärente Schreibfakten. Doch zeigt sich im zögernden Wilds mehr als ein «Subjekt, das im Reden und in der Art seiner Rede sich verrät».43 Denn die Tonbandaufzeichnung gibt mehr über das Zustandekommen der Aussage preis, als sie wohl sollte. Um die These einer Beeinflussung Wilds’ durch die Polizei zu untermauern, kann der Podcast die auditive Trumpfkarte spielen. Simpson integriert Ausschnit- te aus den Tonbändern und zeigt unter Zuhilfenahme von Audiosoftware, 41 Vismann: Action Writing, 408. dass die Pausen in der Aufnahme zwar stumm, aber keineswegs still bleiben: 42 Vismann: Medien der Recht- sprechung, 121. Wilds’ Zögern fällt immer wieder mit einem Klopfgeräusch zusammen, nach 43 Ebd., 118. SCHWERPUNKT 49 JAN HARMS Abb. 4 Der Podcast Undisclosed dem er dann mit neuem Elan weitererzählt. Die Erklärung für dieses Ge- wird selbst zum Transkript räusch – onomatopoetisch übersetzt als «tap, tap, tap» – führt Simpson schließ- lich zu D okumenten aus der Ermittlungsakte. Ihrer Interpretation nach hätten die beiden Polizisten Wilds in der Vernehmung durch lautes Tippen auf eine Karte von Baltimore und eine Chronologie des Tattages diejenigen Stationen vorgegeben, die in seiner Aussage als Nächstes vorkommen müssten, um ein kohärentes Geständnis zu erzeugen. Jenseits der Sprache zeigen sich konkrete semiotische Anhaltspunkte, die es erlauben, die Leerstellen in einem Moment der hermeneutischen Vereindeutigung zu füllen. Wie Serial legt also auch Undisclosed gleichzeitig die Ausschlüsse und die pro- duktiven Seiten des Protokolls offen. Während das polizeiliche Transkript jedes Zögern in der Aussage kaschiert, bringt das Tonband einen Überschuss hervor. Die performative Wirkung des Protokolls produziert eben nicht nur institu- tionelle Wahrheiten im Sinne der Ermittler*innen, deren Äußerung von den Sprechenden vielleicht unbeabsichtigt war. Es ist gleichsam für Gegenlektüren mobilisierbar, denn das «Protokoll ist ein Medium des Rechts, aber es ist zu- gleich mehr als das, insofern es einen Überschuss produziert. Es schafft institu- tionelle Tatsachen, von denen fraglich ist, welcher Verwendung oder Verarbei- tung sie zugeführt werden sollen.»44 Diese produktive Funktion des Protokolls zeigt sich also nicht nur in der Möglichkeit, Fakten hervorzubringen, die nicht mit der Welt übereinstimmen, sondern auch in einem Surplus, das gegen die 44 Niehaus: Epochen des Protokolls, 146. Ermittlung selbst gewendet werden kann. In Simpsons Deutung der nicht fürs 50 ZfM 28, 1/2023 VON SPRECHAKTEN UND SCHREIBFAKTEN Protokoll bestimmten Klopfgeräusche schreiben sich diese als Index der Mani- pulation in die Materialität der Aufzeichnung ein und machen die die Aussage bestimmenden Machtverhältnisse explizit.45 Aktenkundig-Werden Noch einmal deutlich umfangreicher als Serial stellt Undisclosed seinem Publi- kum Dokumente aus den polizeilichen und gerichtlichen Akten zur Verfügung. So können etwa die Stadtkarten mit den hörbaren Zeigegesten abgeglichen werden. Die digitale Karte – von Polizist*innen ausgedruckt, später einge- scannt und nun als PDF auf der Website des Podcasts aufrufbar – erhält da- mit eine völlig neue Funktion. Sie verliert ihren ursprünglichen Zweck, das geschehene Verbrechen zu lokalisieren, und dient nun zur Rekonstruktion der Polizeiarbeit. Nicht mehr die Referenz der Karte auf die Tatorte und die B ewegungen der Verdächtigen sind von Interesse, sondern die Referenz auf die Karte als Dokument der Ermittlung. Diese exzessive Bereitstellung von Akten, etwa auch in The Undisclosed Wiki, der sich zum Ziel setzt, sämtliche verfüg- baren Fallakten zu bündeln und geordnet zugänglich zu machen, folgt selbst dem Gedanken des protokollarischen Überschusses. Darin liegt die Hoffnung, in der Masse des Schriftguts möglicherweise das entscheidende und juristisch r elevante Indiz für den Fall zu entdecken und das als defizitär empfundene Ur- teil zu korrigieren, denn «[j]edes Protokoll erzeugt eine unerwünschte Daten- 45 Vgl. Niehaus: Protokol- knappheit, wohingegen das Urteil desto besser gegründet ist, je mehr Daten lieren, 463 f. Niehaus’ eigenes man auszuwerten hat».46 Beispiel an dieser Stelle ist ein Protokoll aus dem Konstanz des Im «späteren Wiedergebrauch»47 der Ermittlungsakten, etwa einer ihren ur- späten 18. Jahrhunderts. In diesem sprünglichen Zwecken und Intentionen zuwiderlaufenden Relektüre, kommt lässt sich eine Durchstreichung entziffern, die die – damals bereits True Crime auch als paradigmatischer Fall partizipativer Digitalkultur zum verbotene – Androhung von Gewalt Tragen. Der umfassende Upload von Dokumenten geht mit einer Idee von belegt. Entgegen seinen Intentionen lässt sich so aus dem Protokoll ein Transparenz durch digitale Zugänglichkeit einher, dem Wunsch, näher an die Gewaltverhältnis herauslesen. Wahrheit zu gelangen, wenn nur genug Daten verfügbar sind.48 Angeregt da- 46 Niehaus: Epochen des Protokolls, 153. durch beginnen Rezipient*innen als desktop detectives oder internet sleuths selbst zu 47 Cornelia Vismann: Akten. ermitteln und zu theoretisieren.49 Eine solche Popularisierung semi-forensischer Medientechnik und Recht, Frank- furt / M. 2000, 169. Methodiken sieht Simon Rothöhler «auf spezifische Weise mit rezenten Phäno- 48 Zu diesem Phantasma digitaler menen und Verfasstheiten digitaler Medienkulturen» verbunden,50 zu denen True-Crime-Formate vgl. auch V erma: Nobody Knows Anything, 185. auch der Podcast gezählt werden kann. Denn als unabgeschlossener M edientext 49 Vgl. Tanya Horeck: Justice regt dieser eine weiterführende transmediale Auseinandersetzung in besonde- on Demand. True Crime in the Digital Streaming Era, Detroit 2019, 4 – 7. rem Maße an: «[A] podcast is more than a mere audio text, it is a relationship invited 50 Simon Rothöhler: Medien der through an audio text between people involved in making and listening to that Forensik, Bielefeld 2021, 106. 51 Spinelli, Dann: Podcasting, text and beyond».51 Die gemeinsame Arbeit der Produzent*innen und eines Pu- 13, Herv. i. Orig. blikums, das sich über Soziale Medien als Community formiert,52 überschreitet 52 Vgl. ebd., 13 f. 53 Friedrich Balke, Bernhard die Grenzen des Auditiven. Siegert, Joseph Vogl: Editorial, in: So stellt das Mündliche in Form des Verhörmitschnitts in Undisclosed einer- Archiv für Mediengeschichte, Nr. 16, 2016: Medien der Bürokratie, 5 – 12, seits ein Feld «der antibürokratischen Kritik und Widerständigkeit» dar,53 das hier 5. SCHWERPUNKT 51 JAN HARMS es erlaubt, festgeschriebene Wahrheit zu hinterfragen. Die konkreten Alter- nativszenarien, die der Podcast ins Spiel bringt, haben den Anspruch, in die offizielle Sphäre des Rechts zurückzuwirken und die – im September 2022 tat- sächlich erfolgte – Freilassung Syeds zu erreichen. Anders als in Serial bleiben die Lücken im Protokoll dabei keine spekulativen Leerstellen, sondern werden in eine semi-juristische Argumentation eingebunden. Es scheint daher kon- sequent, dass – bei aller Skepsis gegenüber der kontaminierenden Schrift des Protokolls – in Undisclosed nicht einfach die vermeintliche Unmittelbarkeit und Neutralität der Stimme in einer Tonbandaufzeichnung triumphiert. Stattdessen bleiben auch die Podcast-Stimmen auf die Schrift bezogen. Um Barrierefreiheit und eine bessere Auffindbarkeit durch Suchmaschinen zu gewährleisten, wird auf der Website von Undisclosed ein Transkript jeder F olge bereitgestellt.54 Die im Podcast abgespielten Ausschnitte aus der Vernehmung werden hier erneut, aber eben anders als im polizeilichen Transkript, ins Schriftliche überführt – aus den Sprechakten werden neue Schreibfakten. Was das offizielle Protokoll unterschlägt, wird nun explizit ausgewiesen: Auslassungspunkte markieren Zögern und Pausen, die hörbaren Zeigegesten finden sich als «tap, tap, tap» verschriftlicht. In eckigen Klammern heißt es beispielsweise an einer Stelle, an der die Polizisten mutmaßlich eine Karte hervorholen, um Wilds den nächsten Schauplatz zu zeigen und den Ablauf der Geschehnisse vorzugeben: «[sound of paper, tap]». Wird das polizeiliche Protokoll mit seinen Unterschlagungen als Produkt eines Machtverhältnisses entlarvt, das die gerichtliche Version stützt, ja überhaupt hervorbringt, nimmt 54 Auch für die Forschung zu das Podcast-Transkript selbst ebendiese Taktik auf: Die neuen Deutungen Podcasts nehmen diese Transkripte eine nicht unerhebliche Bedeutung werden als neue Protokoll-Wahrheit hervorgebracht, sie werden «schlicht ein. Ein umfangreiches Korpus Akten».55 wie Undisclosed wird auf diese Weise durchsuchbar. Dabei ist zu beach- Mit dieser alternativen Transformation von Sprechakten zu Schreibfakten ten, dass es sich selbstverständlich werden die juridischen Protokoll- und Akten-Logiken nicht verlassen, sondern um eine Transkription handelt, die den Gegenstand verändert. vielmehr zeigt sich exemplarisch, wie der Podcast diesen weiterhin folgt. Wo die 55 Vismann: Action Writing, 399. protokollarischen Prozesse der juridischen Faktenproduktion mit i mplizitem 56 Nellen: Die Akte der Verwal- tung, 71. medientheoretischen Wissen aufgedeckt werden, kommen wiederum selbst 57 Vgl. Niehaus: Protokollieren, evidenzstiftende Verfahren zum Einsatz. Podcaster*innen und Rezipient*innen 470 f. 58 Vgl. dazu etwa Pooja Rangan, erstellen neben den Transkripten des Podcasts immer neue Übersichtsdoku- Brett Story: Four Propositions on mente, Tabellen, Zeitleisten, Personenregister oder interaktive Karten. Damit True Crime and Abolition, in: World Records, Nr. 5, 2021: Beyond Story, findet die institutionell-bürokratische Form der Akte als Zusammenstellung 1 – 8, hier 4. heterogener Dokumente, die im juristischen Kontext als «Kernprozessor des 59 Zu dieser Kritik vgl. auch Daniel LaChance, Paul Kaplan: Rechts» fungiert,56 eine digitale Entsprechung. Sind das Zu-den-Akten-Nehmen Criminal Justice in the Middlebrow und die Produktion von Schreibfakten sonst Privilegien staatlicher Ermitt- Imagination. The Punitive Dimen- sions of Making a Murderer, in: lungsbehörden, eignen sich die wilden Aktensammlungen solche Techniken des Crime, Media, Culture. An International Geltend-Machens an.57 Journal, Bd. 16, Nr. 1, 2020, 81 – 96; sowie Laura Laabs: Symptome des Treten sowohl Serial als auch Undisclosed also als Gegenentwürfe zu den Systems. (In-)Stabile Körper in True-Crime-Formaten auf, die offizielles Wissen über Verbrechen unkritisch M aking a Murderer und The Staircase, in: ffk Journal, Bd. 6, 2021, 341 – 360. wiedergeben, so kann ihr Umgang mit den Ermittlungsakten als indikativ für 52 ZfM 28, 1/2023 VON SPRECHAKTEN UND SCHREIBFAKTEN ihr ambivalentes Verhältnis zu juristischen Institutionen verstanden werden. Wo sich Serial durch den individualisierten Blick Koenigs einer Benennung etwa rassistischer Machtstrukturen entzieht, verbleibt auch Undisclosed bei aller Skepsis gegenüber den offiziellen Schreibfakten in den Gegenlektüren inner- halb der Logiken des Protokolls und damit des Rechts. Vor dem Hintergrund jüngster abolitionistischer Bewegungen im Rahmen von Black Lives Matter erscheinen damit auch kritische Formen von True Crime als nicht immer ge- eignet, systemische Fragen über eine karzerale und punitive Strafjustiz zu stel- len.58 Vielmehr können sich auch hier – insbesondere mit dem Motiv der*des unschuldig Verurteilten – unter umgekehrten Vorzeichen erneut Logiken von Schuld und Strafe in die alternativen Protokolle einschreiben.59 — SCHWERPUNKT 53 © Soheil Hosseini 54 ZfM 28, 1/2023 M A RT I N D E G E L I N G / S O H E I L H U M A N INTERNET PRIVACY PROTOCOLS — Als das Internet in den 1990er Jahren zunehmend populär wurde, waren v iele Hoffnungen und Wünsche an vermeintliche Anonymität geknüpft. Schnell wurde aber klar, dass vollständige Anonymität mit den genutzten Protokollen nicht möglich ist. Selbst ein datenschutzfreundlich konfigurierter Webserver benötigt IP-Adressen, um Websites an die Browser zu verschicken. Mit der Zeit wurde der Bedarf an personenbezogenen Daten über die Nutzer*innen einer Website, insbesondere zum Zweck der Personalisierung und Werbung, immer größer. Offenes und verdecktes Sammeln von Daten auf Websites wurde folg- lich ein integraler Bestandteil des Webs. Schon früh versuchten verschiedene Initiativen, Protokolle und globale Standards für Datenschutz im Internet zu entwickeln, aber angesichts der offenen Struktur des Webs konnten sich d iese Techniken, die von datenorientierten Marktakteur*innen abgelehnt wurden, nicht durchsetzen. In diesem Artikel werfen wir einen Blick auf die Geschichte der Internet- Datenschutzprotokolle, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, und zeigen, wie sie (bisher) nicht in der Lage gewesen sind, die datengetriebenen Praktiken der Webdienstanbieter*innen zu verändern. Entlang Lawrence Lessigs vier «modalities of regulation» (code, law, market und norms) 1 werden wir die selbst-regulatorischen, technischen Initiativen wie die Platform for Privacy Preferences Project (P3P) und Do Not Track (DNT) der frühen 2000er Jahre in einen Zusammenhang stellen mit neueren gesetzlichen Bestimmungen wie der D atenschutzgrundverordnung (DSGVO) und dem California Consumer Privacy Act (CCPA), die zwar keine spezifischen Protokolle vorsehen, aber die Debatte um neue Protokolle wie Federated Learning of Cohorts (FLoC), Glo- bal Privacy Control (GPC) oder Advanced Data Protection Control (ADPC) 1 Lawrence Lessig: Code and entfacht haben. Allen Ansätzen gemein ist ein Verständnis von Privatheit, das Other Laws of Cyberspace, New York, 1999, 121 – 132. sich auf Transparenz und individuelle Einwilligung konzentriert. Gemein- 2 Shoshana Zuboff: Das Zeitalter sam ist ihnen auch, dass sie bisher von der breiten Masse der Unternehmen des Überwachungskapitalismus, übers. v. Bernhard Schmid, Frankfurt / M., des Überwachungskapitalismus 2 ignoriert oder ausgehebelt werden. Nach fast New York 2018. SCHWERPUNKT 55 MARTIN DEGELING / SOHEIL HUMAN 30 Jahren Debatte um Internet-Privacy-Protokolle zeichnet sich ab, dass erst seit der verstärkten Regulierung durch die DSGVO und den CCPA und der be- ginnenden Durchsetzung dieser Vorgaben eine Entwicklung eingesetzt hat, die eine Zusammenführung der Erwartungen von Nutzer*innen und Marktgesche- hen möglich erscheinen lassen. Der Beitrag schließt mit einer Auflistung von Gegensätzen in den Protokollen, die aktuell diskutiert werden, und fragt, ob die aktuell diskutierten technischen Lösungen einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Modalitäten der Regulierung leisten können. Einführung: Datenschutz und das Internet Die Sorge um Privatsphäre war von Beginn an Teil der Debatten um das In- ternet. Im April 1995, nicht lange nachdem grafische Browser 1993 dazu bei- getragen hatten, das ‹Surfen› im Internet populär zu machen, veranstaltete die amerikanische Federal Trade Commission (FTC), die für den Schutz der Verbraucher*innenrechte zuständig ist, ihren ersten Workshop zum Thema D atenschutz im Internet. Damals ging es v. a. um Websites, die die Nutzer*innen aufforderten, personenbezogene Daten direkt an die Websites zu übermitteln, ohne Informationen darüber bereitzustellen, wie Daten verwendet oder weiter- gegeben werden würden. Während sich die FTC in erster Linie für Transparenz einsetzte, begannen Websites ihr Geschäft durch personalisierte Online-Werbung zu finanzieren, wodurch ein weiteres Datenschutzproblem entstand, das an Bedeutung seitdem zugenommen hat. Zwar wurde die erste Online-Werbung im Jahr 1994 wie ein allgemeiner Werbeplatz in einer Offline-Zeitschrift verkauft, wobei drei Monate lang dieselbe Anzeige zu einem Festpreis gezeigt wurde – ohne dass persönliche Daten benötigt wurden. Doch schon bald darauf, Anfang 1995, tauchten die ersten Werbemarktplätze auf, die Werbung individualisierten. Be- reits Ende 1995 wurde DoubleClick gegründet, das erste Unternehmen, das heute zu Google gehört und das Cookies zur Verfolgung und Profilierung von Nutzer*innen auf verschiedenen Websites einsetzte.3 Information und Einwilligung 3 Vgl. Martin Kihn: Paleo Pellet: How DoubleClick worked, in: Eine der wesentlichen Normen zum Schutz der Privatsphäre ab den 1990er Paleo Ad Tech – The Secret History of Jahren bis heute basiert häufig auf dem notice-and-choice-Prinzip. Bei der FTC Advertising on the Internet, Audio- Aufzeichnung, 9.11.2021, paleoadtech. sind dieses und weitere Grundsätze in den Fair Information Principles zusam- com/2021/11/09/paleo-pellet-how- mengefasst, die in den USA 1973 entworfen wurden. In Deutschland wurden doubleclick-worked (12.10.2022). 4 Vgl. Wilhelm Steinmüller u. a.: zur selben Zeit ähnliche Grundsätze formuliert. In einem 1971 erstellten Gut- G rundfragen des Datenschutzes. Gut- achten für das Bundesinnenministerium, das die Grundlage für viele Daten- achten im Auftrag des Bundesministeri- ums des Innern, Drucksache VI / 3826, schutzgesetze schuf, sind Information und Einwilligung ebenfalls zentrale Be- Anlage 1, Deutscher Bundestag, standteile.4 Dabei bezieht sich das Prinzip in beiden Fällen auf den Austausch 7.9.1972, dserver.bundestag.de/btd/06/ 038/0603826.pdf (16.12.2022). von Daten zwischen einer Einzelperson und einer privaten Institution – die 56 ZfM 28, 1/2023 INTERNET PRIVACY PROTOCOLS Datenverarbeitung durch staatliche Stellen war und ist meist separat geregelt. Der Begriff ‹Information› bezieht sich auf die Notwendigkeit, die Person, deren Daten gesammelt und verarbeitet werden, über die Einzelheiten der Verarbei- tung zu informieren. Wer darf welche Daten für welche Zwecke verwenden? Das offensichtlichste Beispiel für einen Datenschutzhinweis ist eine Datenschutz- erklärung. Auf der Grundlage dieser Informationen sollte der*die Einzelne die ‹Wahl› haben, diesen Praktiken zuzustimmen oder eine*n andere*n Akteur*in auf dem Markt zu suchen. Das notice-and-choice-Prinzip geht dabei von einem Idealzustand der Transaktion von Daten zwischen rationalen Akteur*innen aus. In der Praxis sind die Probleme der Benutzer*innenfreundlichkeit von Daten- schutzerklärungen und Cookie-Bannern sowie die fehlenden Alternativen zu den großen Plattformen hinlänglich bekannt. Es fehlt aber auch eine Berück- sichtigung jenseits eines rein individualistischen Ansatzes für den Datenschutz, der die relationalen Aspekte von Informationen berücksichtigt, wenn Daten nicht nur eine Person, sondern Gruppen betreffen. Dass Daten als tauschbare Ware behandelt werden, verkennt zudem die Tatsache, dass sie v ervielfältigt, in andere Zusammenhänge gestellt und zu einem anderen Zeitpunkt auf neue Art verarbeitet werden können, die in dem Moment, in dem wir auf «Ich akzeptiere» geklickt haben, nicht vorstellbar sind. Untersuchungen zu sozialen Netzwerken und Online-Werbung haben gezeigt, dass nur wenige Menschen mitbedenken, wie ihre Daten verwendet werden oder was aus ihnen abgeleitet werden kann.5 «P3P and history» Wichtige technische Protokolle zur Verbesserung des Datenschutzes im Inter- net – also Regulierung durch Code – gehen zurück auf von der FTC organisierte Workshops. Die FTC veranstaltete ab 1995 Workshops und Anhörungen zum Thema Verbraucher*innen-Datenschutz. Aus diesen Diskussionen gingen frühe Protokolle wie P3P (Platform for Privacy Preferences Project) hervor, die in den Arbeitsgruppen des World Wide Web Consortium (W3C) standardisiert wur- den. Das W3C definiert bis heute die höheren Protokolle wie HTTP,6 auf denen 5 Vgl. Idris Adjerid, Alessandro Acquisti, George Loewenstein: das Internet aufbaut, und HTML, das bestimmt, wie Browser Websites darstellen. Choice Architecture, Framing, and Cascaded Privacy Choices, in: Management Science, Bd. 65, Nr. 5, 2019, 2267 – 2290, doi.org/10.1287/ P3P mnsc.2018.3028. 6 Tieferliegende Protokolle wie Die Entwicklung von P3P vollzieht Lorrie Cranor in einem 2002 erschiene- TCP / IP werden von der Internet nen Buch nach, das sich an Entwickler*innen richtet.7 Danach begannen die Engineering Task Force entwickelt. 7 Lorrie Faith Cranor: Web Privacy Diskussionen 1996 mit einem «Consumer Privacy On the Global I nformation with P3P, Sebastopol 2002. Infrastructure» betitelten FTC-Workshop.8 Bei diesem Workshop schlugen 8 Ankündigung des Workshops auf der Website der Federal Trade Forscher*innen vor, die bereits ein Jahr zuvor vom W3C standardisierte Plat- Commission: ftc.gov/news-events/ form for Internet Content Selection (PICS) zu erweitern. PICS war Teil der events/1996/06/consumer-privacy- global-information-infrastructure frühen Bemühungen um das semantische Web, die darauf abzielten, (Web-) (31.1.2023). SCHWERPUNKT 57 MARTIN DEGELING / SOHEIL HUMAN Inhalte in einem vordefinierten Schema zu beschreiben, um deren Inhalt und Kontext automatisch auswertbar zu machen. PICS wurde hauptsächlich zur Kateg orisierung und Bewertung von Websites im Hinblick auf ihre Eignung für Kinder verwendet. Zu diesem Zweck konnten Browser so konfiguriert wer- den, dass sie Websites mit bestimmten Bewertungen blockierten. Paul Resnick, wie auch Cranor damals bei AT & T in der Abteilung ‹Public Policy Research› beschäftigt, führte hierzu auf dem Workshop aus: [D]ie große Idee hier ist, dass, wenn wir den Hinweis in ein Standardformat pa- cken und den Leuten erlauben, ihre Präferenzen auszudrücken, die Software den Vergleich automatisch durchführen kann und dass zumindest manchmal der Hinweis und die Auswahl im Hintergrund geschehen, anstatt immer eine Last zu sein.9 Er beschrieb aber auch die Probleme dieses Ansatzes, die er in der Notwendig- keit eines standardisierten Vokabulars und der Selbstregulierung durch die Web-Industrie sah. Alle semantischen Beschreibungsbemühungen sind darauf angewiesen, dass der*die Eigentümer*in der Website Angaben macht, die den definierten Standards entsprechen und natürlich den Inhalt der Website wahr- heitsgemäß wiedergeben. Ein Jahr später wurde ein erster Prototyp eines Pro- tokolls vorgestellt.10 Im Laufe der nächsten zwei Jahre wurde eine Spezifikation entwickelt, die dann aufgrund der Bedenken von Wirtschaftsvertreter*innen stark vereinfacht wurde. Unter anderem wurden Funktionen entfernt, die eine automatische Aushandlung von Datenfreigaben ermöglichen sollten. Die Dis- kussion um P3P wurde 1997 in eine technische Architekturgruppe (TAG) des W3C verlagert und eine erste gültige Fassung des Standards erschien 2002.11 Zu diesem Zeitpunkt ist auch die erste Stimme aus der europäischen Po- litik dokumentiert.12 Nach Cranor gab die Europäische Kommission eine Stellungnahme zu P3P ab, die Punkte enthielt, welche auch 20 Jahre später in der Datenschutz-Grundverordnung wiederzufinden sind: Datenschutzvor- schriften müssen rechtlich abgesichert werden, um durchgesetzt werden zu können. In der Stellungnahme wurde auch eine klare Definition von Min- 9 Paul Resnick, zit. in Federal deststandards gefordert. Trade Commission: Federal Trade Um P3P zu unterstützen, müssen Websites mehrere Dokumente erstellen Commission: Public Workshop on Consumer Privacy on the Global und so referenzieren, dass ein Browser sie automatisch abrufen kann. Zuerst Information I nfrastructure, 4.6.1996, braucht es eine P3P-Policy, die einer formalisierten Datenschutzerklärung ent- 4.6.1999, hier 87, ftc.gov/sites/default/ files/documents/public_events/consumer- spricht und in einer XML-basierten Struktur geschrieben ist. Hierfür wurde in privacy-global-information-infrastru der Spezifikation eine Terminologie bereitgestellt. Zusätzlich zu der vollstän- cture/pw960604.pdf (28.10.2022) (eigene Übers.). digen P3P-Policy erlaubte die Spezifikation, eine ‹kompakte Richtlinie› als 10 Der ursprüngliche Prototyp H TTP-Header zu senden. HTTP-Header sind rein textbasierte technische In- ist immer noch online verfügbar unter w3.org/Talks/970612-ftc/ftc-sub. formationen, die bei jedem Aufruf einer Website mitgesendet werden und keine html (28.10.2022). zusätzlichen Aufrufe erfordern. Die kompakte Policy sollte sich nur auf Cookies 11 Die Version 1.0 der Spezifikation ist abrufbar unter w3.org/TR/P3P/ beziehen. Der Header enthielt eine Reihe von dreistelligen Abkürzungen, die, (12.12.2022). wie in der allgemeinen Richtlinie beschrieben, als spezifische Kombinationen 12 Vgl. Cranor: Web Privacy with P3P, 54. von Elementen interpretiert werden konnten. So bedeutet beispielsweise die 58 ZfM 28, 1/2023 INTERNET PRIVACY PROTOCOLS Header-Information «OTI IVA OUR», dass eine beliebige Kennung (OTI) für individuelle Analysen (IVA) verwendet und über einen vom Unternehmen be- stimmten Zeitraum gespeichert wird (OUR). 2008 verfügten etwa 21 Prozent der 5000 meistbesuchten Websites (in den USA) über eine P3P-Policy.13 Obwohl die meisten Browser P3P nicht umsetz- ten und beispielsweise Mozilla die Unterstützung bereits 2007 einstellte, wurde P3P von Microsofts Internet Explorer – in den 2000er Jahren der Browser mit dem größten Marktanteil – weiterhin unterstützt. Der selbstregulierende Ansatz hat sich jedoch nicht nur in Bezug auf seine Verbreitung nicht bewährt. In einer Studie von 2010 stellten die Autor*innen fest, dass ein Drittel der 33.000 unter- suchten Websites P3P nicht korrekt umsetzten.14 Während dies einerseits auf die Komplexität von P3P zurückgeführt wurde, fanden die Autor*innen auch 2700 Websites, die dieselbe ungültige Richtlinie verwendeten. Der Ursprung dieser fehlerhaften Beschreibung der Datenschutzpraxis lag ironischerweise bei Microsoft. Es gab ein bekanntes Problem in der Kombination der kom- pakten Policys und der Verwendung von Frames beim I nternet Explorer, für die Microsoft selbst in einem Blogpost die Verwendung einer speziellen, aber ungültigen kompakten Policy empfahl.15 Do Not Track Während sich abzeichnete, dass P3P sich nicht durchsetzen würde, entstand ab 2007 mit Do Not Track ein Standard, der technisch wesentlich weniger komplex war und ebenfalls ausschließlich auf einem HTTP-Header beruhte. Während P3P davon ausging, dass Websites ihren Besucher*innen etwas mit- 13 Vgl. Lorrie Faith Cranor zuteilen hätten, geht es bei DNT um eine Informationsübermittlung in die u. a.: P3P deployment on websites, in: Electronic Commerce Research andere Richtung: Das Senden der binären DNT:1-Header-Information durch and Applications, Bd. 7, Nr. 3, 2008, den Browser soll Webservern signalisieren, dass der*die Absender*in nicht 274 – 293, hier 274, doi.org/10.1016/ j.elerap.2008.04.003. verfolgt werden möchte. Firefox unterstützte DNT ab Februar 2012, andere 14 Vgl. Pedro Giovanni Leon u. a.: folgten. Durch die Umsetzung im Browser war es wesentlich einfacher, die T oken attempt: the misrepresenta- tion of website privacy policies Marktdurchdringung zu erreichen. through the misuse of p3p compact DNT wurde 2007 von mehreren Datenschutzgruppen, darunter die policy tokens, in: WPES ’10: Proceed- ings of the 9th annual ACM workshop Electronic Frontier Foundation (EFF) und das Center for Democracy and on Privacy in the electronic society, Technology (CDT), als eine Kampagne initiiert, in deren Rahmen die FTC 4.10.2010, 93 – 104, hier 93, doi.org/10.1145/1866919.1866932. dazu aufgefordert wurde, eine Do-Not-Track-Liste zu erstellen.16 Der Vor- 15 Vgl. ebd., 98. schlag sah vor, dass sich jedes Online-Marketingunternehmen bei der FTC 16 Vgl. Ryan Singel: Privacy Groups Call For Do-Not-Track-Me registrieren müsste, um u. a. die von ihm genutzten Internetdomains anzuge- List to Rein in Online Ad Firms, in: ben. Die FTC sollte diese Liste dann an Browser-Anbieter*innen weitergeben Wired, 31.10.2007, wired.com/2007/10/ privacy-groups-2 (27.9.2022). können, damit diese, ähnlich wie Werbeblocker-Add-ons, dann jene Domains 17 Vgl. Website easylist.to blockieren könnten. Der Unterschied zu Werbeblockern bestand dabei darin, (28.10.2022); hier stehen verschie- dene Blocklisten zur Verfügung, dass diese sich auf eine manuell kuratierte Liste von Domains stützten, die die ganze Domains oder Teile von Freiwilligen gepflegt wurden (und bis heute werden),17 statt von einem von Websites im Browser blockieren, um z. B. Werbeeinblendungen von einer Regierungsbehörde geführten Register. Drei Jahre später erwähnte zu verhindern. SCHWERPUNKT 59 MARTIN DEGELING / SOHEIL HUMAN der Vorsitzende der FTC bei einer Anhörung vor dem US-Senat zum Thema Online-Datenschutz eine Do-Not-Track-Liste. Beim W3C waren beide Ideen, sowohl die der Filterliste als auch die eines separaten Headers, Teil einer ersten Einreichung von Microsoft im Jahr 2011;18 der erste technische Spezifikationsentwurf konzentrierte sich dann allerdings nur noch auf den Header.19 Die Hauptaktivität im Zusammenhang mit der Standardisierung fand zwischen 2011 und 2014 statt, als sieben ver- schiedene Spezifikationen veröffentlicht und fast 10.000 E-Mails über die Pro- jekt-Mailingliste ausgetauscht wurden.20 Das Einfügen eines HTTP-Headers war selbst keine besondere Schwierigkeit. Länger zogen sich die Debatten darum, was das eine Bit an Informationen für Folgen bei denen haben sollte, die es empfangen: Es ging um Fragen des Trackings, darum, ab wann eine Re- Identifizierung als Tracking gelten sollte, wer sich durch DNT angesprochen fühlen sollte und welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden sollten. Während diese Diskussionen fortgeführt wurden, erreichte der Standardisie- rungsprozess insgesamt nur einen ‹Kandidatenstatus›, bevor die Entwicklung 2019 endgültig eingestellt wurde. Der erste Rückschlag für DNT war 2012 die Ankündigung von Microsoft, den DNT-Header standardmäßig einzuschalten. Dieser Schritt wurde schnell von Online-Werbeunternehmen angegriffen, die im Gegenzug ankündigten, DNT zu ignorieren. Im Dezember 2014 kritisierte ein Artikel in der New York Times, dass die damals aktuelle Version der Spezifikation v. a. kleinen Tracking- Unternehmen schaden würde, da Google und Facebook nach den Definitionen als Unternehmen mit direkten Verbindungen zu den Kund*innen das DNT- 18 Vgl. Andy Zeigler, Adrian Attribut ignorieren könnten.21 Grund für das Scheitern von DNT sei, dass die Bateman, Eliot Graff: Web Tracking Spezifikation des Protokolls von der FTC an eine industriedominierte Gruppe Protection, W3C, 24.2.2011, w3.org/ Submission/web-tracking-protection/ beim W3C übergeben worden sei. (10.10.2022). Größere Studien zur Umsetzung von DNT sind rar, da nicht automatisiert 19 Vgl. Roy T. Fielding: Tracking Preference Expression (DNT), W3C, überprüft werden kann, wie die Empfänger*innen-Seite DNT umsetzt. Ende 14.11.2011, w3.org/TR/2011/WD- 2018 erwähnten nur 14 der 32 meistgenutzten Werbenetzwerke DNT in ihrer tracking-dnt-20111114 (10.10.2022). 20 Archiv verfügbar auf der W3C- Datenschutzerklärung.22 Nur fünf gaben an, DNT zu unterstützen und das Tra- Website, lists.w3.org/Archives/Public/ cking einzustellen, sollte der Browser den entsprechenden HTTP-Header senden. public-tracking (28.10.2022). 21 Vgl. Fred B. Campbell: The Slow Death of ‹Do Not Track›, in: New York Times, 26.12.2014, nytimes.com/2014/12/27/opinion/ AdChoices the-slow-death-of-do-not-track.html Exemplarisch für die Regulierung durch den Markt ist das AdChoices-Pro- (31.10.2022). 22 Vgl. Tobias Urban u. a.: A Study gramm, das 1999 von der Digital Advertising Alliance (DAA), einer Interessen- on Subject Data Access in Online gruppe der Online-Werbe-Industrie, als Reaktion auf die Kritik am Online- A dvertising After the GDPR, in: Cristina Pérez-Solà u. a. (Hg.): Data Tracking gegründet wurde. Die DAA hat zwar nie einen technischen Standard Privacy Management, Cryptocurrencies oder ein Protokoll vorgeschlagen, aber an den oben genannten mitgewirkt. and Blockchain Technology: ESORICS 2019 International Workshops, DPM Bis heute findet sich in Online-Anzeigen ein kleines blaues AdChoices-Drei- 2019 and CBT 2019, Luxembourg, eck. Auf der verlinkten Website können Nutzer*innen manuell das Tracking September 26 – 27, 2019, Proceedings, Cham 2019, 61 – 79, hier 79. von 125 Unternehmen deaktivieren. Anstelle eines einheitlichen Protokolls 60 ZfM 28, 1/2023 INTERNET PRIVACY PROTOCOLS speichert der Dienst Opt-out-Cookies für jeden einzelnen Dienst im Browser. Der Nachteil dieses Vorgehens ist, dass mit dem Entfernen von Cookies aus dem Browser auch die Opt-outs gelöscht werden, zudem wird die tatsächliche Zahl der Unternehmen, die Tracking zu Werbezwecken einsetzen, wesentlich h öher geschätzt.23 Europäische Datenschutzgesetze als Intervention Die oben beschriebenen Protokolle, die dazu dienen, Datenschutz im Internet zu verbessern und insbesondere Tracking einzudämmen, wurden ausschließlich von US-Institutionen vorangetrieben und waren auf Selbstregulierung ausge- richtet. Eine gesetzliche Regulierung (law im Sinne Lessigs) bestand v. a. in der EU, wo die 2002 in Kraft getretene Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation erste Standards setzte (2009 wurde die Richtlinie novelliert). Sie enthält klare Aussagen zur Verwendung personenbezogener Daten und insbesondere von Cookies. In technologieneutraler, jedoch nicht geschlechts- neutraler Sprache verlangt sie, «dass die Speicherung von Informationen […] im Endgerät eines Teilnehmers oder Nutzers […] nur gestattet ist, wenn der betreffende Teilnehmer oder Nutzer auf der Grundlage von klaren und um- fassenden Informationen […] seine Einwilligung gegeben hat».24 Für Cookies bedeutet diese Einwilligung ein aktives Opt-in statt der vom DNT favorisierten Opt-out-Variante. Dieses Opt-in soll mit Informationen einhergehen, die es Nutzer*innen ermöglichen, eine bewusste Entscheidung zu treffen. Die euro- 23 Die Website WhoTracksMe, päische Rechtsarchitektur sieht vor, dass Richtlinien mit einer Frist von vier die kontinuierlich Websites auf Tracker untersucht und diese Jahren in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Eine Studie aus dem klassifiziert, listet 928 solcher Unter- Jahr 2017 hat jedoch gezeigt, dass nur knapp die Hälfte der Websites die seit nehmen, vgl. whotracks.me/trackers. html (12.12.2022). 2013 geltenden Vorschriften befolgen.25 So konstatieren die Autor*innen für 24 Art. 5, Abs. 3 Richtlinie die K ategorie ‹Nachrichten und Medien›, dass 89 Prozent der Websites ohne 2009 / 136 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates, Zustimmung ein Nutzer*innenprofil erstellen. 25.11.2009, data.europa.eu/eli/ Im Jahr 2018 legte die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) strengere dir/2009/136/oj/deu (31.10.2022). 25 Vgl. Martino Trevisan u. a.: Standards für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch O nline- 4 Years of EU Cookie Law: Results und Offline-Dienste in der EU fest. Die DSGVO, die im Unterschied zur and Lessons Learned, in: Proceedings on Privacy Enhancing Technologies, e Privacy-Richtlinie ohne Umsetzung in nationales Recht und dadurch Bd. 2019, Nr. 2, 2019, 126 – 145, schneller in Kraft treten konnte, enthält keine wesentlichen Änderungen in doi.org/10.2478/popets-2019-0023. 26 Vgl. Martin Degeling, Christine den Regularien, sie setzt weiter auf Information und Einwilligung in Form Utz, Tobias Urban: Effekte der von Opt-in, bietet aber die Möglichkeit, Unternehmen bei Datenschutz- DSGVO auf Websites und die Ent- wicklung der ePrivacy-Verordnung, verstößen mit hohen Strafen von bis zu 4 Prozent des gesamten weltweiten in: vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte Jahresumsatzes zu belegen. Die Auswirkungen auf die Internetindustrie wa- und Gesellschaftspolitik, Bd. 59 (3 / 4), Nr. 231 / 232, 2020, 77 – 86. ren gemischt: Die DSGVO führte dazu, dass mehr Websites Datenschutzer- 27 Vgl. Tobias Urban u. a.: klärungen und Cookie-Banner enthielten; den Einsatz von Cookies hat sie Measuring the Impact of the GDPR on Data Sharing, in: ASIA CCS ’20: allerdings zunächst nicht beeinträchtigt.26 Weitere Studien zeigen, dass die Proceedings of the 15th ACM Asia Weitergabe von Tracking-Daten innerhalb von Werbenetzwerken an weitere Conference on Computer and Communi- cations Security, 5.10.2020, 222 – 235, Unternehmen deutlich zurückgegangen ist.27 doi.org/10.1145/3320269.3372194. SCHWERPUNKT 61 MARTIN DEGELING / SOHEIL HUMAN Da es sich bei der DSGVO um ein Gesetz und nicht um einen technischen Standard handelt, sind genaue Protokolle für die Einwilligung nicht definiert. Mehrere Studien weisen darauf hin, dass sich seit 2018 Praktiken zum Einholen einer Einwilligung entwickelt haben, welche die gesetzlichen Vorgaben mög- lichst weit auslegen und nicht selten überschritten haben. Kretschmer u. a. hal- ten in einer Übersichtsstudie zusammenfassend fest, dass seit dem I nkrafttreten der GDPR «Online-Dienste ihren Nutzern immer häufiger Möglichkeiten bieten, der Datenverarbeitung zu widersprechen, aber regelmäßig den Zugang durch unnötig komplexe und manchmal unzulässige Schnittstellengestaltung erschweren» sowie dass diese Situation im Widerspruch zu den Wünschen steht, «die die Nutzer*innen sowohl mündlich als auch durch ihr Handeln zum Ausdruck gebracht haben».28 Consent-Management-Plattformen und das Ende von Cookies Heutzutage nutzen viele Websites, die, um Strafen zu vermeiden, an der Ein- haltung der gesetzlichen Vorgaben interessiert sind, sogenannte Consent- Management-Plattformen (CMP), die automatisierte Lösungen für die Ein- bettung von Cookie-Bannern in Websites anbieten. Einerseits stellen CMPs den Entwickler*innen technische Mittel zur Verfügung, um externe Dienste zu identifizieren, die in einer Website integriert sind und gleichzeitig C ookies setzen (Werbung, aber auch etwa Video-Einbettungen), und können dabei helfen, diese zu deaktivieren, solange ein*e Nutzer*in keine ausdrückliche Zustimmung erteilt hat. Andererseits unterstützen CMP-Anbieter*innen Website-Betreiber*innen bei der consent optimization, womit im Marketing- jargon Praktiken bezeichnet werden, die darauf abzielen, die Opt-in-Rate zu erhöhen. Hierbei wird die Einwilligung zu einer notwendigen Marketing- Kennzahl, bei der durch Tests verschiedener Gestaltungen und der schrift- lichen Erläuterung versucht wird, eine möglichst hohe Zustimmungsrate zu erhalten. In einem Whitepaper stellt eine der führenden CMP-Anbieterinnen in Europa fest: «Langfristig werden die Zustimmung und das damit verbun- dene Vertrauen der Nutzer die neue Währung im Marketing werden.»29 Die Firma empfiehlt, zunächst die Zahl der Nutzer*innen zu erhöhen, die mit e inem Cookie-Banner interagieren, da die meisten versuchen würden, diesen 28 Michael Kretschmer, Jan zu ignorieren und – wenn sie dazu gezwungen seien – ohnehin auf «Akzeptie- Pennekamp, Klaus Wehrle: Cookie ren» klicken würden. Banners and Privacy Policies: M easuring the Impact of the GDPR CMP-Anbieter*innen befinden sich in einer eigentlich unmöglichen Rolle. on the Web, in: ACM Trans. Web, Ihr Geschäftsmodell basiert auf dem Versprechen an Website-Betreiber*innen, Bd. 15, Nr. 4, Artikel 20, Juni 2021, 1 – 42, hier 1 (eigene Übers.). die Komplexität der DSGVO-Konformität übernehmen zu können, während 29 Usercentrics: Optimising the sie gleichzeitig versuchen müssen, die Einschnitte, z. B. bei Werbeeinnahmen, Opt-in Rate A new discipline in online marketing, Juni 2020, usercentrics. so gering wie möglich zu halten. Dies funktioniert aber nur, wenn die com/wp-content/uploads/2020/06/ Nutzer*innen überzeugt werden können, auf ihren Datenschutz zu verzichten. Whitepaper-_-Opt-in-Optimization.pdf (19.10.2022) (eigene Übers.). Eine Analyse fünf solcher CMP-Anbieter*innen durch Toth u. a. konnte auch 62 ZfM 28, 1/2023 INTERNET PRIVACY PROTOCOLS zeigen, dass die angebotenen Standardkonfigurationen von Cookie-Bannern nicht den aktuellen rechtlichen Anforderungen genügen 30 und dass die CMP- Anbieter*innen selbst von sogenannten dark patterns Gebrauch machen, die Website-Betreiber*innen dazu bringen sollen, kostenpflichtige Zusatzange- bote zu buchen.31 Andere sind bereits einen Schritt weiter gegangen und haben die Einwil- ligung selbst zu einem handelbaren Gut transformiert. Ein verbreitetes In- strument zum Einwilligungsmanagement ist das Transparency and Consent Framework (TCF) des Interactive Advertising Bureau (IAB). Die Mitglied- schaft in diesem Netzwerk von Marketingfirmen, die Zustimmungen e inzelner Nutzer*innen untereinander weitergeben, kostet 1500 Euro pro Jahr. Das zu- gehörige Protokoll legt fest, wie Websites Einwilligungen so gestalten kön- nen, dass sie nicht nur für die Website gelten, auf der sie a bgefragt werden, sondern zentral für einen Dienst eingeholt und ausgetauscht werden können. Gegenüber denjenigen, deren Daten gesammelt werden, wird das TCF als eine Möglichkeit dargestellt, die Anzahl der Cookie-Banner zu begrenzen, da eine Einwilligung zwischen den Websites ausgetauscht wird, sodass die Nutzer*innen nicht jeweils individuell befragt werden müssen. Aber für W ebsites und Werbetreibende ist es eine Möglichkeit, auf eine Datenbank zu- rückzugreifen, zu der auch Websites beitragen, die sich nicht unbedingt an die Regeln der informierten Einwilligung halten.32 Im Februar 2022 verhängte die belgische Datenschutzbehörde daher eine Geldstrafe gegen das IAB; die 30 Vgl. Michael Toth, Nataliia endgültige gerichtliche Entscheidung darüber, ob diese Praxis mit der DSGVO B ielova, Vincent Roca: On dark vereinbar ist, steht noch aus. p atterns and manipulation of website publishers by CMPs, in: Parallel zur rechtlichen Debatte und zu den technologischen Entwick- Proceedings on Privacy Enhancing lungen, die die Einhaltung der Vorschriften gewährleisten sollen, versucht Technologies, Nr. 3, 2022, 478 – 497, petsymposium.org/popets/2022/po Google, wie 20 Jahre zuvor Microsoft, seine Position als Anbieter*in des ak- pets-2022-0082.pdf (16.12.2022). tuell meist verwendeten Browsers zu nutzen, um eine Änderung der DSGVO 31 Dark Patterns sind Praktiken der Gestaltung von Websites, die durchzusetzen. 2019 kündigte Google an, die Unterstützung für Cookies von darauf abzielen, Nutzer*innen zu Drittanbieter*innen in Google Chrome bis 2022 zu entfernen. Auf die Ankün- einem bestimmten Verhalten zu drängen, z. B. das Akzeptieren von digung folgten mehrere technische Vorschläge, die die gleichen Vorteile der Cookies oder auch das möglichst Profilerstellung auf Basis anderer Technologien bieten sollten, wobei die Daten- schnelle Abschließen eines Kaufs auf Shopping-Websites. Für eine erfassung hauptsächlich auf die Google-Plattform verlagert wurde. Im Frühjahr Liste von dark patterns vgl. Arnuesh 2021 wurde etwa F ederated Learning of Cohorts (FLoC) im Google Browser Mathur u. a.: Dark Patterns at Scale: Findings from a Crawl of 11K Shop- erstmals getestet. Hierbei werden Nutzer*innen auf Basis ihres Surfverhaltens ping Websites, in: Proceedings of the gruppiert und Interessen-Kohorten zugeordnet, die dann von Websites abgeru- ACM on Human-Computer Interaction, Bd. 3, Nr. CSCW, November 2019, fen und bei der Personalisierung von Werbung berücksichtigt werden können. doi.org/10.1145/3359183. Bereits wenige Wochen nachdem der Test öffentlich bekannt gemacht wurde, 32 Vgl. Célestin Matte, Nataliia Bielova, Cristiana Santos: Do Cookie hatten alle weiteren Browser-Hersteller*innen der Technik bereits eine A bsage Banners Respect my Choice?: erteilt. Wenige Monate später zog Google den Test und den gesamten Vor- Measuring Legal Compliance of B anners from IAB Europe’s Transpar- schlag zurück und stellte als Ersatz die Topics API vor, die eine feste Liste von ency and Consent Framework, in: Interessen vorgibt statt eine beliebigen Zuordnung vorzunehmen. Die grund- 2020 IEEE Symposium on Security and Privacy (S&P), 2020, 791 – 809, sätzliche Kritik blieb allerdings gleich: Erstens würde die Implementierung im doi.org/10.48550/arXiv.1911.09964. SCHWERPUNKT 63 MARTIN DEGELING / SOHEIL HUMAN Browser zu einer Monopolstellung durch Google führen, die es zu verhindern gelte.33 Zweitens seien Googles Vorschläge techno-zentrisch und könnten den Widerspruch, dass das Unternehmen einerseits mehr Datenschutz verspreche und andererseits wesentlicher Profiteur im Überwachungskapitalismus sei, nicht lösen.34 Eine nachträgliche Analyse von FLoC konnte dann auch zeigen, dass der versprochene Datenschutzgewinn durch Anonymisierungstechniken bei der Berechnung und Verarbeitung der Daten im Browser durch die Eindeutigkeit der Profile ausgehebelt wird.35 Aufgrund der mangelnden Zustimmung zu den neuen Techniken und fehlenden Alternativen hat Google die Pläne für das Ende von Cookies zuletzt auf 2024 verschoben.36 33 Vgl. Peter Snyder: Google’s Topics API: Rebranding FLoC Was folgt: GPC und ADPC Without Addressing Key Privacy Nach dem Ende von P3P und DNT geriet die Debatte über öffentlich ent- Issues, 26.1.2022, brave.com/web- standards-at-brave/7-googles-topics-api wickelte Standards eine Zeit lang ins Stocken. Aktuelle Initiativen auf der (12.12.2022). Ebene von code orientieren sich nun direkt an den regulatorischen Vorgaben 34 Vgl. David Eliot, David Murakami Wood: Culling the FLoC: (law), insbesondere der DSGVO und dem 2019 in Kraft getretenen California Market Forces, Regulatory Regimes Consumer Privacy Act (CCPA), der v. a. dadurch Wirkung entfaltet, dass er and Google’s (Mis)Steps on the Path Away from Targeted Advertising, für alle in Kalifornien und im Silicon Valley ansässigen Unternehmen An- in: Information Polity, Bd. 27, Nr. 2, wendung findet. 2022, 259 – 274, doi.org/10.3233/ IP-211535. Einer der wichtigsten Unterschiede von Datenschutzprotokollen, die auf der 35 Vgl. Alex Berke, Dan Calacci: Grundlage des CCPA oder der DSGVO entwickelt worden sind, besteht darin, Privacy Limitations Of Interest- Based Advertising On The Web: ob sie dem Opt-in- oder den Opt-out-Ansatz folgen. Während zur Kommu- A Post-Mortem Empirical Analysis nikation eines globalen Opt-out ein binäres Attribut ausreichen könnte, sind Of Google’s FLoC, in: Proceedings of the 2022 ACM SIGSAC Conference zur Kommunikation von Opt-in-Informationen und Einwilligungen komplexe- on Computer and Communications re Mechanismen erforderlich. Auf der Grundlage des CCPA wurde dem W3C Security (CCS ’22), 13.10.2022, doi. org/10.1145/3548606.3560626 mit Global Privacy Control (GPC) ein Nachfolger für DNT vorgeschlagen, (12.12.2022). und gleichzeitig wird mit Advanced Data Protection Control (ADPC) ein auf 36 Vgl. Allison Schiff: Google D elays The End Of Third-Party D SGVO-Überlegungen basierendes Protokoll entwickelt.37 Cookies (Again), From 2023 To The End Of 2024, in: Adexchanger.com, 27.7.2022, adexchanger.com/privacy/ google-delays-the-end-of-third-party- GPC cookies-again-from-2023-to-the-end- of-2024 (26.10.2022). Nach dem Scheitern von DNT wurde die Entwicklung neuer Opt-out-Da- 37 Es sei hier ausdrücklich darauf tenschutzprotokolle für eine Weile ausgesetzt. Die Durchsetzung des CCPA hingewiesen, dass einer der Autoren auch Autor und Mitwirkender bei in Kalifornien lieferte jedoch eine neue gesetzgeberische Motivation und Un- ADPC ist. terstützung. Gemäß dem CCPA haben Nutzer*innen das Recht, den Verkauf 38 Vgl. Sebastian Zimmeck, Kuba Alicki: Standardizing and oder die Weitergabe ihrer persönlichen Daten abzulehnen, und Unternehmen Implementing Do Not Sell, in: WPES müssen es ihnen ermöglichen, dieses Recht auszuüben. GPC wurde entwickelt, ’20: Proceedings of the 19th Workshop on Privacy in the Electronic Society, um diese CCPA-Anforderung (und die des DSGVO-Rechts auf Widerspruch) zu Virtual Event USA, 2020, 15 – 20, erfüllen, aber nicht weitergehende rechtliche Vorgaben der DSGVO wie die doi.org/10.1145/3411497.3420224. 39 Vgl. globalprivacycontrol.github. der informierten Einwilligung und der Implementierung von Opt-in-Maßnah- io/gpc-spec (19.10.2022), wo die men.38 Das Protokoll spezifizierte GPC als einen binären Wert, der als Teil eines technischen Details des Protokolls beschrieben werden. HTTP-Headers übertragen wird.39 Die Wiedereinführung von DNT als GPC 64 ZfM 28, 1/2023 INTERNET PRIVACY PROTOCOLS ist die Folge der Bemühungen von Akademiker*innen, datenschutzfreundli- chen Organisationen wie dem EFF sowie einigen großen Medienunternehmen in den Vereinigten Staaten – namentlich der New York Times und der Washington Post.40 Während sich die GPC-Spezifikation und der Unterstützer*innenkreis seit der Vorstellung 2020 kaum verändert haben, ist ihre Standardisierung beim W3C zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehbar. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels unterstützten 0,1 Prozent von mehr als 4 Millionen getesteten Websites GPC.41 ADPC Advanced Data Protection Control (ADPC) 42 ist ein vorgeschlagenes Protokoll für die Übermittlung von Einwilligungsanfragen und Datenschutzeinstellun- gen über den Browser oder das Betriebssystem.43 Entwickelt wird ADPC in Zusammenarbeit zwischen Forscher*innen und der Verbraucher*innenschutz- organisation noyb.eu, die regelmäßig Unternehmen wegen Verstößen gegen die DSGVO verklagt. Die ADPC-Spezifikation bezieht sich auf den Rechtsrahmen der DSGVO 40 Vgl. globalprivacycontrol.org/ und die ePrivacy-Richtlinie.44 Ausgangspunkt der DSGVO ist, dass die Verarbei- orgs#Business (26.10.2022). Die tung personenbezogener Daten nur dann rechtmäßig ist, wenn sie eine entspre- Website listet die an der Entwicklung und Umsetzung beteiligten Unter- chende Rechtsgrundlage hat; eine Grundlage ist, dass «die betroffene Person in nehmen. die Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten für einen oder mehrere be- 41 Auf gpcsup.com werden tages- aktuelle Zahlen zur Verbreitung von stimmte Zwecke eingewilligt hat».45 Ebenso verlangt die Datenschutzrichtlinie GPC gezeigt. für elektronische Kommunikation die Zustimmung der Nutzer*innen, wenn 42 Vgl. Soheil Human: Really Enforceable Solution to Protect Daten auf Endeinrichtungen gespeichert oder von Endgeräten abgerufen wer- End-users Consent & Tracking Deci- den, die über das unbedingt erforderliche Maß hinausgehen.46 Darüber hinaus sions (RESPECTeD), in: Sustainable Computing Reports and Specifications, haben Nutzer*innen ein Widerspruchsrecht.47 Bd. 2022, Nr. 2, 2022, 1 – 18, Es liegt in der Entscheidung von Nutzer*innen, wie sie die Ausübung ih- research.wu.ac.at/files/35399528/ Soheil_ Human_ADPC_Prj4625_ rer DSGVO-Rechte einem*r Datenverantwortlichen mitteilen – dies kann per RESPECTeD_netidee_call14_Endbericht_ E -Mail, durch einen Brief oder eine Schaltfläche auf einer Website erfolgen. Es Final_ Report_Projekte_V06_2.pdf (31.1.2023). können aber auch technische Mittel eingesetzt werden: 43 Vgl. Soheil Human: Advanced Data Protection Control (ADPC): An Interdisciplinary Overview, in: • Art. 21 Abs. 5 DSGVO sieht ausdrücklich vor, dass «die betroffene Person arXiv, 20.9.2022, doi.org/10.48550/ ihr Widerspruchsrecht mittels automatisierter Verfahren ausüben kann, arXiv.2209.09724 (19.10.2022). 44 Vgl. ebd. bei denen technische Spezifikationen verwendet werden». 45 Art. 6 Abs. 1a DSGVO: • In Erwägungsgrund 32 der DSGVO wird auch klargestellt, dass die Ein- R echtmäßigkeit der Verarbeitung. 46 Vgl. Art. 5 Abs. 3 DSGVO: holung und Erteilung einer Einwilligung in verschiedenen Formen erfol- Grunds ätze für die Verarbeitung gen kann, z. B. durch «das Ankreuzen eines Kästchens beim Besuch einer personenbezogener Daten. 47 Vgl. Art. 21 Abs. 2 DSGVO: Website oder die Auswahl technischer Einstellungen für Dienste der In- Widerspruchsrecht. formationsgesellschaft», sofern sie Anforderungen wie Information und 48 Vgl. European Commission: Proposal for the Regulation on Eindeutigkeit erfüllt. Privacy and Electronic Communica- • Die vorgeschlagene ePrivacy-Verordnung sieht ebenfalls automatisierte tions (2017 / 0003 [COD]), 2017, ec.europa.eu/newsroom/dae/document. Mittel zur Kommunikation von Präferenzen betroffener Personen vor.48 cfm?doc_id=41241 (16.12.2022). SCHWERPUNKT 65 MARTIN DEGELING / SOHEIL HUMAN Die ADPC-Spezifikation 49 definiert diese automatisierten Mittel, die es Website-Besucher*innen ermöglichen sollen, die Zustimmung für die spezifi- schen Zwecke zu erteilen oder zu verweigern, bereits erteilte Einwilligungen zu widerrufen sowie der Verarbeitung für Direktmarketingzwecke zu wider- sprechen. Dies ermöglicht es den Nutzer*innen, Datenschutzentscheidungen einfach über den Webbrowser zu verwalten und anzupassen, wie Anfragen präsentiert und beantwortet werden (z. B. Verwendung einer Browsererweite- rung zum Importieren von Listen vertrauenswürdiger Websites). Das Ergebnis könnte vergleichbar sein mit der Art und Weise, wie Websites um Erlaubnis bitten, auf eine Webcam oder ein Mikrofon zuzugreifen: Der Browser verfolgt die Entscheidungen der Nutzer*innen auf Site-by-Site-Basis. ADPC spezifiziert Attribute für die Einholung, die Erteilung und den Wi- derruf von Einwilligungen sowie den Widerspruch gegen die Verarbeitung ähnlich wie P3P, aber mit etwas größerer Flexibilität. Technisch erläutert wird im Standard die Verwendung eines Header-basierten Informationsaustauschs in Kombination mit zusätzlichen Informationen – unter Verwendung aktueller Web-Programmierstandards – mit JavaScript und JSON. Im Vergleich zu P3P ist die Spezifikation offener, z. B. in Bezug auf die Definition von Datentypen, die von der Spezifikation ausgenommen sind. Die Entwicklung von ADPC wird größtenteils innerhalb eines akademischen Diskurses vorangetrieben. Als Zie- le werden u. a. auch automatische Aushandlungen und eine Anwendbarkeit auf andere Bereiche (wie das Internet der Dinge) gesetzt. ADPC bietet erweiterte und umfangreiche Möglichkeiten für die bidirektionale Kommunikation von Daten, Informationen und Entscheidungen im Zusammenhang mit Einwilli- gung, kann aber auch zum Senden von binären Attributen wie GPC oder DNT verwendet werden. Darüber hinaus können beide Parteien (d. h. die für die Ver- arbeitung Verantwortlichen und die betroffenen Personen) die Kommunikati- on mittels ADPC einleiten. So kann beispielsweise ein*e für die Verarbeitung Verantwortliche*r Datenschutzinformationen und die angeforderten Einwilli- gungen und Entscheidungen an die betroffene Person übermitteln oder der*die Nutzer*in kann Widersprüche an die datenverarbeitende Stelle senden. Keines der neueren Protokolle erfährt breite Unterstützung vonseiten der Werbeindustrie. Diese arbeitet eher an der Minimalumsetzung der gesetzlichen Vorgaben. Neben der AdChoices-Website, die nach wie vor zur Verfügung steht, gibt es noch eine neue Website, die im Wesentlichen der AdChoices-Site entspricht, nur andere Farben verwendet und Opt-out-Optionen anbietet, die das CCPA-Opt-out signalisieren sollen.50 49 Vgl. dataprotectioncontrol.org/ spec (26.10.2022), wo Details Die Probleme des Datenschutzes im Internet des Protokolls gezeigt werden. 50 Vgl. privacyrights.info Keines der Datenschutzprotokolle, die in diesem Artikel vorgestellt wurden, (12.12.2022), wo Nutzer*innen gilt heute als internetweiter Standard oder hat etwas daran geändert, welche ihre Opt-out-Rechte nach CCPA wahrnehmen können. personenbezogenen Daten wie von Internetplattformen verarbeitet werden. 66 ZfM 28, 1/2023 INTERNET PRIVACY PROTOCOLS Eine technikzentrierte Analyse würde die Ansätze als ‹gescheitert› betrachten, weil sie weder gültige W3C-Spezifikationen sind noch den Datenschutz für Internetnutzer*innen messbar verbessern. Aber diese Bewertung würde ange- sichts der Komplexität des Problems zu kurz greifen. Die Entwicklungen der Protokolle erlauben eine Analyse der verschiedenen Akteur*innen und ihrer widersprüchlichen Ziele, die dazu führen, dass Akteur*innen nur in den jewei- ligen Modalitäten der Regulierung agieren. Während werbefinanzierte Un- ternehmen wirksame Datenschutzprotokolle bisher verhindert haben, führt das Scheitern der Selbstregulierung dazu, dass strengere gesetzliche Vorgaben entwickelt werden. Diese brauchen zwar länger bis zur Umsetzung, könnten aber auf lange Sicht eine größere Wirkung haben. Ähnlich wie bei anderen soziotechnischen Systemen ist die Geschichte und die laufende Debatte über Internet-Privacy-Protokolle ein gutes Beispiel für die kontinuierliche Aus- handlung zwischen denjenigen, die das Internet betreiben, besitzen und kon- trollieren (wollen). Im Folgenden wollen wir eine Reihe von Dichotomien zwischen den bisherigen Protokollen aufzeigen und skizzieren, was wir in Zu- kunft erwarten können. Opt-in vs. Opt-out Obwohl ‹Information› und ‹Einwilligung› sowohl in den USA als auch in der EU zwei zentrale Elemente bei der Regulierung des Datenschutzes sind, gibt es grundlegende Unterschiede bei ihrer Umsetzung. Das EU-Recht sieht Opt-in-Verfahren vor, bei denen personenbezogene Daten nur dann verar- beitet werden, wenn die betroffene Person ausdrücklich und in Kenntnis der Sachlage ihre Einwilligung gegeben hat. Die US-Perspektive, die sich auf die FTC-Leitlinien und Vorschriften wie die des CCPA stützt, tendiert zu Opt- out-Verfahren, bei denen die Nutzer*innen das Recht haben, bestimmten Daten praktiken zu widersprechen. Opt-in erfordert Protokolle, die eine Reihe notwendiger Informationen und auch Einwilligungen in verschiedenen Abstu- fungen unterstützen. Vertrauen vs. Kontrolle Eine weitere Unterscheidung ist zwischen vertrauensbasierten und kontroll- basierten Ansätzen möglich. Beim vertrauensbasierten Ansatz wird die Ver- antwortung für das Einhalten des Datenschutzes an diejenigen Unternehmen übergeben, die auch für die Datenverarbeitung verantwortlich sind. Ein Vorteil liegt, wie bei DNT, im vergleichsweise geringen Aufwand des Protokolldesigns. Allerdings ergibt sich ein Interessenkonflikt aufseiten der Unternehmen, die sowohl von den Daten profitieren wollen als auch für die Gestaltung etwa der Einwilligungsdialoge oder die konkrete Umsetzung von Widersprüchen ver- antwortlich sind. Dies ist umso problematischer, als es keine Mechanismen SCHWERPUNKT 67 MARTIN DEGELING / SOHEIL HUMAN gibt, die das Vertrauen zwischen den verschiedenen Parteien stärken könnten, z. B. Transparenzmaßnahmen, durch welche die tatsächlichen Datennutzungs- praktiken nachvollziehbar werden. Bei kontrollbasierten Ansätzen wird versucht, ein Machtgleichgewicht zwi- schen den Datenverarbeitenden und den Betroffenen herzustellen. Die wich- tigste Voraussetzung für eine Verschiebung des Machtgefüges ist die Kom- munikation und die Verifikation, d. h. die Möglichkeit, Daten, Verfahren und Benutzer*innenschnittstellen zu kontrollieren und die Einhaltung der angege- benen Datenschutzmaßnahmen zu überprüfen. Komplex vs. binär Binäre Protokolle sind einfach zu übernehmen, aber in ihrer Funktionalität und ihren Auswirkungen sehr begrenzt. Aus Sicht von Nutzer*innen scheinen ein- fache binäre Signale wie DNT oder GPC sinnvoller, allerdings sind sie nicht dazu geeignet, eine informierte Entscheidung zu ermöglichen. Komplexere Protokolle sind schwieriger zu entwickeln, ermöglichen dafür aber auch kom- plexere Entscheidungen, etwa bestimmte Funktionen von Dritten (wie z. B. eingebettete Videos) zuzulassen, personalisierte Werbung aber zugleich nicht zu erlauben. Während Cookie-Banner die Nutzer*innen von Websites eine Zeit lang vor die Wahl zwischen einer einfachen Zustimmung und einer kom- plexen Ablehnung durch «erweiterte Einstellungen» stellten, haben Kontroll- behörden diese Praxis mittlerweile für unzulässig erklärt, sodass eine tatsäch- liche binäre Entscheidung (alles ablehnen oder allem zustimmen) möglich ist, ohne dass komplexere Einstellungen verschwinden müssen. Global vs. bereichsspezifisch Ein Grundproblem der informierten Einwilligung ergibt sich aus der gesetz- lichen Anforderung, dass sie spezifisch sein muss. Das bedeutet, dass jede Web- site und jeder Dienst in der Lage sein sollte, für den jeweiligen Kontext zu erklären, warum eine Einwilligung erforderlich ist, anstatt globale Optionen wie DNT oder GPC zu verwenden. Bei ADPC etwa kann jede Website eine eigene domänenspezifische Einwilligungsanfrage senden und die betroffenen Personen können selektive Entscheidungen bezüglich der Anfragen treffen. So soll es Nutzer*innen möglich sein, z. B. auf Nachrichtenseiten Werbedienste zu erlauben, die zur Refinanzierung der Seite beitragen, derselben Funktion auf anderen Seiten aber zu widersprechen. Alternativen zur individuellen Einwilligung Während die Unterschiede zwischen Opt-in und Opt-out bereits die F rage implizieren, ob eine Einwilligung überhaupt erteilt werden sollte, gibt es 68 ZfM 28, 1/2023 INTERNET PRIVACY PROTOCOLS weitere Bedenken gegenüber der Einwilligung zu berücksichtigen. Im EU- Recht werden verschiedene Gründe definiert, nach denen die Verarbeitung personenbezogener Daten möglich ist. Die Einwilligung ist nur eine davon. So dürfen Websites beispielsweise personenbezogene Daten (wie IP-Adres- sen) verarbeiten, wenn dies aus technischen Gründen erforderlich ist; hier- für ist keine Einwilligung erforderlich. Der Grundsatz der Datenminimie- rung verlangt, dass bei allen Datenverarbeitungen personenbezogene Daten grundsätzlich nicht oder nur im erforderlichen Umfang verwendet werden. Würden Websites diesen Grundsatz befolgen, wäre in den meisten Fällen keine Einwilligung und damit kein Cookie-Banner notwendig. Nur dort, wo Nutzer*innen Daten eingeben (oder über APIs zur Verfügung stellen), wäre eine ausdrückliche, kontextbezogene Einwilligung erforderlich. Dies ist z. B. der Fall, wenn eine Website den Standort der Nutzer*innen über den Browser abfragt. Aber auch jenseits der individuellen Datenabfrage muss das Verständnis von Privatheit als etwas, das jede*r Einzelne für einen Moment ‹aufgeben› kann, in Frage gestellt werden.51 Was immer die Einzelnen an Informationen ‹freige- ben›, betrifft auch die Menschen um sie herum. Dies ist leicht nachvollziehbar, z. B. im Zusammenhang mit Bildern, die auf einer Social-Media-Plattform ge- teilt werden. Es gilt auch für den Bereich der Online-Werbung, in dem In- formationen über eine*n Nutzer*in die Privatsphäre anderer beeinflussen. Dies gilt insbesondere für Verfahren wie FLoC. Aber auch wenn beispielsweise zwei Personen dieselbe WLAN-Verbindung und damit dieselbe IP-Adresse nutzen, können sie von den Tracking-Unternehmen als ein Haushalt betrachtet wer- den, was zur Folge hat, dass ihre Profile wechselweise die für sie geschaltete Werbung beeinflussen. Einwilligung ist nicht auf Datenschutz beschränkt Die Einwilligung ist ein grundlegendes Konzept, das derzeit in den meisten Fällen auf einen einzigen Mechanismus reduziert ist, um die Zustimmung zu Datenschutzrichtlinien und Nutzungsbedingungen einzuholen, d. h. zu allen 51 Vgl. Beate Rössler: Der Wert des Privaten, Frankfurt / M. 2001. datenschutzrelevanten Praktiken – aber nicht nur zu diesen. Wie in der Lite- 52 Vgl. Soheil Human, Mandan ratur erörtert wird, missbrauchen einige Unternehmen die Intersektionalität Kazzazi: Contextuality and intersectionality of e-consent: von Privatheit und Einwilligung in medizinischen Bereichen, um von ihren A human-centric reflection on Nutzer*innen eine Zustimmung unter unlauteren Umständen zu erhalten.52 digital consenting in the emerging genetic data markets, in: 2021 Darüber hinaus kann die zunehmende Allgegenwärtigkeit digitaler Tools, die IEEE European Symposium on Security Menschen beeinflussen oder sogar manipulieren (von verschiedenen mobilen and Privacy Workshops (EuroS&PW), 2021, 307 – 311, doi.org/10.1109/ Apps über das Internet der Dinge und Augmented Reality bis zu KI-basierten EuroSPW54576.2021.00051; Niklas Technologien), die Bedeutung der datenschutzfreien Einwilligung erhöhen. Da Kirchner, Soheil Human, Gustaf Neumann: Context-sensitivity of es schwierig (oder sogar unmöglich) ist, zwischen (nicht-)datenschutzrechts- informed consent: The emergence of konformen Einwilligungen zu unterscheiden, sollten Internet-Privacy-Proto- genetic data markets, in: Workshop on Engineering Accountable Information kolle explizit in Richtung Datenschutzmanagement entwickelt werden. In Systems. ECIS, 2019. SCHWERPUNKT 69 MARTIN DEGELING / SOHEIL HUMAN Anbetracht dessen scheint ein einzelnes Bit von Opt-out-Attributen nicht aus- reichend zu sein, um der umfassenden Komplexität der Einwilligung gerecht zu werden. Offene Fragen: Durchsetzung und Pluralismus Es scheint unvermeidlich, dass in den kommenden Jahren mehrere Internet- Privacy-Protokolle nebeneinander existieren. Selbst wenn Regulierungsbehör- den spezifischere technische Leitlinien veröffentlichen, wird es wahrscheinlich verschiedene Implementierungen in Browsern oder auf Websites geben. Es ist eine offene Frage, wie die, die Einwilligungen geben und die, die Einwilli- gungen erbitten, mit unterschiedlichen Protokollen oder sogar widersprüchli- chen Signalen umgehen sollten. Hils u. a. haben gezeigt, dass schon jetzt viele 53 Vgl. Maximilian Hils, Daniel Nutzer*innen widersprüchliche Datenschutzpräferenzen senden, wenn sie z. B. W. Woods, Rainer Böhme: Conflict- ing Privacy Preference Signals einen Browser verwenden, der standardmäßig das DNT / GPC-Signal sendet, in the Wild, in: arXiv, 29.9.2021, die Nutzer*innen aber aus Gewohnheit die Option «Alles akzeptieren» in ei- doi.org/10.48550/arXiv.2109.14286 (12.12.2022). nem Einwilligungshinweis anklicken.53 — 70 ZfM 28, 1/2023 A L E X A N D E R R . G A L L O WAY im Gespräch mit M A RY S H N AY I E N und O L I V E R L E I S T E RT «OB MAN ETWAS TUN KANN ODER NICHT, IST EINE REIN MECHANISCHE ODER MATERIELLE FRAGE» — Zu den Politiken und Effekten von Internetprotokollen und den Möglichkeiten ihrer Historisierung Das Gespräch beginnt mit einer Rekapitulation der vor rund 20 Jahren in A lexander Galloways Buch Protocol dargelegten machtanalytischen Thesen zu Protokollen wie TCP / IP und DNS. Ferner geht es darum, inwiefern Internetprotokolle antipatri- archal sein können und ob und wie sie Werte wie Menschenrechte implementieren können. Als Beispiel aktueller Protokollentwicklungen geht es im Gespräch um Blockchain-Protokolle. Auch wird der Unterschied zwischen Überwachung und Erfassung durch Computer herausgestellt sowie die protokollogischen Möglich- keitsbedingungen des Handelns ins Verhältnis zu Utopie, Moral und Ethik gesetzt, um schließlich die Frage nach einer notwendigen Transformation des Begehrens angesichts der libidinösen Ökonomien von Social Media aufzuwerfen. Eine Lang- fassung des Gesprächs ist auf www.zfmedienwissenschaft.de zu finden. — Mary Shnayien / Oliver Leistert Vor rund 20 Jahren erschien dein Buch Protocol und kurz darauf The Exploit,1 das du zusammen mit Eugene Thacker ge- schrieben hast. Zu dieser Zeit waren Netzwerke zu einem der zentralen For- schungsgebiete der Medienwissenschaft geworden. Man kann sagen, dass deine Publikationen dazu beigetragen haben, dieses Thema zu erforschen, zumal du in deine Betrachtung von Netzwerken eine Analytik der Macht integriert hast, die explizit theoretische Werkzeuge von Michel Foucault, Gilles Deleuze oder Antonio Negri und Michael Hardt verwendet, um neue Perspektiven der Netzwerkforschung zu eröffnen. 1 Alexander R. Galloway: Protocol. Das Motiv der emanzipatorischen Kräfte, die dem Internet scheinbar in- How Control Exists After Decentraliza- newohnen, war Anfang der 2000er noch das hegemoniale Narrativ. Mit dei- tion, Cambridge (MA) 2004; ders., Eugene Thacker: The Exploit. A Theory nen Büchern hast du gezeigt, dass, selbst wenn wir viele dieser ideologischen of Networks, Minneapolis 2007. SCHWERPUNKT 71 ALEXANDER R. GALLOWAY | MARY SHNAYIEN / OLIVER LEISTERT Behauptungen wie die Versprechen der Dezentralisierung für bare Münze nehmen, Machtstrukturen nicht einfach verschwinden, sondern sich zu neuen Formen der Herrschaft umstrukturieren. Dabei sind Protokolle, und insbeson- dere das TCP / IP-Protokoll, zu einem zentralen Ort der Macht und Kontrolle geworden, wenn auch auf eine neue Art und Weise: eher durch Modulation als durch Unterdrückung und Disziplinierung. Heute hat sich die a llgemeine Sicht auf das Internet aufgrund der umfangreichen Datenextraktion durch Plattformen, Cloud Computing und KIs sowie aufgrund der Erkenntnisse über Netzwerkeffekte, beispielsweise bei Wahlen, stark verändert. Kurzum: Das Internet ist heute ein ganz anderes als vor 20 Jahren. Wie wirkt sich das auf deine Analyse aus? Wie müssen wir angesichts der heutigen Machtstruktu- ren im Internet unsere machtanalytischen Konzepte überarbeiten, und welche Rolle spielt die Frage des Protokolls heute in diesem Zusammenhang? Alexander Galloway Die Idee zu Protocol stammt eigentlich aus den späten 1990er Jahren. Die erste Version des Manuskripts wurde 2001 fertiggestellt, aber nach Überarbeitungen wurde es dann ein paar Jahre später veröffentlicht – es stammt also wirklich aus der Web-1.0-Ära. Und es gibt im Buch bereits einige Hin- weise auf einen vermeintlich bevorstehenden Wandel: Ich glaube nicht, dass es damals jemandem wirklich bewusst war, aber 2004 und 2005 sind äußerst wichtige Jahre, denn in diesen Jahren findet dieser dramatische Wechsel zu der Ära statt, in der wir uns jetzt befinden – der Web-2.0-Ära. Mit ihr ist eine Art Abschwächung der protokollogischen Technologien zugunsten einer Rückkehr zu einer eher proprietären Infrastruktur verbunden. Es war mir sehr wichtig, den Begriff Protokoll zu definieren – nicht im negativen, sondern im positiven S inne – und zu s agen, dass diese Technologien offen sind: Sie werden frei entwi- ckelt und öffentlich überprüft. Sie verkörpern Prinzipien, die in gewisser Weise demokratisch sind, beispielsweise die Entscheidungsfindung im Konsens ist in den Protokollen integriert. Es handelt sich dabei nicht um eine Abstimmung, sondern um einen Konsens, der in einer Art allgemeinem offenen, demokrati- schen Impuls zustande kommt. Protokolle werden freiwillig übernommen. Es gibt keinen totalitären Impuls. Sie sollen leicht, schlank und unaufdringlich sein, was auch sehr wichtig ist. Ich habe in diesem Kontext eine Philosophie der Kon- tingenz, Heterog enität und Vielfalt hervorgehoben, die auch v ollständig in die Entwurfsphilosophie von Protokollen eingebettet ist, was vielleicht am besten durch den sogenannten Grundsatz der Robustheit veranschaulicht wird. Dieses Prinzip wird im RFC (Request for Comments) 793 formuliert, obwohl es auch an anderen Stellen auftaucht, an denen die Protokollautor*innen schreiben: «[B]e conservative in what you do, be liberal in what you accept from others.»2 Während der zweite Teil dieses Mottos anschaulich macht, was Kontingenz und Hetero genität im Zusammenhang mit Protokollen bedeuten, ist der erste 2 Jon Postel (Hg.): Transmission Control Protocol, Request for Teil eine wichtige Erinnerung daran, dass diese Protokolle eine Art von Stan- C omments (RFC) 793, September dardisierung sind und dass es sich um Technologien des Managements, der 1981, 1 – 85, hier 13, rfc-editor.org/info/ rfc793 (3.1.2023). O rganisation oder der K ontrolle im Deleuze’schen Sinne handelt. 72 ZfM 28, 1/2023 «OB MAN ETWAS TUN KANN ODER NICHT, IST EINE REIN MECHANISCHE ODER MATERIELLE FRAGE» Von Anfang an wurden Protokolle getrennt von zwei vorherrschenden poli- tischen Sphären entworfen: dem Staat, den Regierungen, den Nationalstaaten und dem kommerziellen Sektor, dem Markt und dem Kapitalismus. Die Proto- kolle wurden vom Silicon Valley abgegrenzt, obwohl beide Bereiche eng mitein- ander verwoben sind (und die Technologieunternehmen profitieren stark davon, dass sie sich nicht um die Protokolle kümmern müssen). Es ist sehr wichtig, dass Protokolle weder zu den eigentlichen kommerziellen, proprietären Unterneh- mungen gehören noch zu den rein staatlichen Unternehmungen. Wir haben also diese Art von ‹guten Werten› des Protokolls: Demokratie, Offenheit, Horizontalität, Vielfalt, Freiheit, Flexibilität. Teil der Ideologie des Protokolls ist, dass es pragmatisch und nicht ideologisch ist. Ich bin von Anfang an davon ausgegangen, dass all diese Werte tatsächlich vorhanden und real sind, um dann zu beobachten, dass Gerechtigkeit, Frieden und Liebe auf dem Planeten nicht wirklich zunehmen. Wir müssen also nüchtern darüber nachdenken, wie einige dieser ‹guten Werte› oder ‹Tugenden› von Protokollen selbst ein Regime von Organisation, Management und Kontrolle verkörpern könnten. Vor diesem Hintergrund können wir beginnen, Protokolle zu historisieren. Ich glaube, dass sich die Dinge in den 2000er Jahren zu ändern beginnen, und man kann eine allgemeine Art von Rückschritt oder ein Nachlassen von Protokollen beobach- ten. Heute befinde ich mich in einer merkwürdigen Lage: Unabhängig davon, ob ich vor 20 Jahren mehr oder weniger kritisch war, neige ich heute fast dazu, nostalgisch auf die Ära des Protokolls zurückzublicken und vielleicht sogar einige der Tugenden des Protokolls gegen die neuen Herren und neuen Königreiche, die neuen Regime, Machtzentren und Milliardäre von heute zu verteidigen. Viel- leicht ist das ein falscher oder unberechtigter Wunsch, und es gibt wahrschein- lich keinen Grund, der 1990er Version des Internets nachzutrauern. Dennoch denke ich, dass ein gewisses Grundbekenntnis zu liberalen Werten wichtig ist, auch wenn eine differenziertere politische Analyse weitergehen muss. O.L. Kannst du diesen Pragmatismus der Protokolle näher erläutern? A.G. Ich denke, dieser Pragmatismus durchdringt einen Großteil der Infor- matik im Allgemeinen. Außerdem ist er völlig in die Politik des Kalten Krie- ges verwickelt, die auch die politische Ideologie der Protokolle durchdringt. Er wurzelt in einer Art britischem und nordamerikanischem Pragmatismus und einer empirischen Haltung – er ist sehr stark von der Haltung des Wes- tens geprägt, die besagt: «Lasst euch nicht von einer politischen Ideologie leiten. Wir werden nicht von einer rationalistischen Ideologie angetrieben, wir haben unsere Ärmel hochgekrempelt und versuchen einfach, Probleme zu lösen und neue Dinge zu entwickeln.» Und das ist auch ein Teil dessen, wie Informatik funktioniert: Sie ist eine Wissenschaft. Es gibt natürlich theo- retische Komponenten, aber Computer sind endliche Maschinen, die Aufga- ben erledigen, und ein Großteil der Informatik wird von einer pragmatischen Mentalität angetrieben, bei der es um Effizienz und Problemlösung, iteratives SCHWERPUNKT 73 ALEXANDER R. GALLOWAY | MARY SHNAYIEN / OLIVER LEISTERT Design und diese Art von Prinzipien geht. Es mag also subtil sein, aber ich glaube, dass wir diese Mentalität nicht von der Haltung zu Zeiten des Kalten Krieges loslösen können, aus der die ersten Protokolle in den späten 1960er Jahren entstanden sind. M.S. Das erinnert an Thomas Kuhns Bemerkungen darüber, dass es in der normalen Wissenschaft (normal science) um das Lösen von Puzzles geht,3 und diese Mentalität des Puzzlelösens ist natürlich auch in der Informatik zu finden, aber sie dient auch als Ersatz dafür, irgendwie ‹nicht politisch zu sein›, was eine sehr libertäre Idee ist. A.G. Und offen gesagt sehr amerikanisch. Vergessen wir nicht, dass es sich trotz des Konzepts und der Behauptung, Protokolle seien total, universell und völlig offen, um eine Art Unicode-Philosophie handelt, wie alle Sprachen und Alpha- bete. Gleichzeitig war die überwiegende Mehrheit der Ingenieur*innen, die an den Protokollen arbeiteten, nicht nur US-amerikanisch, sondern sie stammte aus einer sehr kleinen Region in Kalifornien, sodass es sich um eine unglaublich kleine und exklusive Bevölkerungsgruppe handelte, wenn man eine Art Sozial- geschichte der protokollogischen Entwicklung schreiben will. Das hat sehr viel mit dem zu tun, was später die kalifornische Ideologie genannt wurde. M.S. / O.L. Heute erscheinen uns queere, post- und dekoloniale Perspektiven in der deutschsprachigen Medienwissenschaft weiter verbreitet als noch vor 20 Jahren. Während diese Perspektiven v. a. bei der Analyse audiov isueller Medien sowie bei erkenntnistheoretischen Fragen zum Tragen kommen, sind digitale Medien und damit auch Protokolle und Standards nur sel- ten Teil dieser Diskussionen. Da es sich bei Protokollen auch um soziale Gatekeeping-Mechanismen handelt, die auf individueller Ebene durch be- stimmte Formen des Passings unterlaufen werden können, sowie um tech- nische Gatekeeper von Diskursen, die die Möglichkeitsbedingungen von Äußerungen definieren, erfordert ihre Analyse intersektionale feministi- sche Perspektiven. An welcher Stelle könnte wiederum eine postkolonia- le, dekoloniale oder queere Kritik an Protokollen und Standards beginnen? Und gibt es einen Weg der Dekolonisierung oder des Queerings von Proto- kollen und Standards? A.G. Das ist eine gute Frage. Der Cyberfeminismus spielt in Protocol eine Rolle, und ich bin immer noch von Sadie Plant beeinflusst, auf die ich immer wie- der zurückkomme. Sie schreibt diesen sehr dramatischen Satz, den ich gerne zitiere, weil er wirklich radikale Konsequenzen hat: «Cybernetics is femini- 3 Vgl. Thomas S. Kuhn: Die S truktur wissenschaftlicher Revolutionen, sation.»4 Und man kann dies sowohl bei Donna Haraway als auch in neueren F rankfurt / M. 2020 [1962]. Werken z. B. des Xenofeminismus sehen: Es scheint eine Art Konvergenz oder 4 Sadie Plant: Feminisations. Reflections on Women and Virtual Beziehung zwischen Geschlecht, sexualisierten Körpern und dem Computer, Reality, in: Lynn Hershman Leeson der Maschine zu geben. Ich verwende Sadie Plant der Einfachheit halber als (Hg.): Clicking In: Hot Links to a Digital Culture, Seattle 1996, 37 – 38, hier 37. einen Bezugspunkt, aber ich denke, dass Protokolle in gewisser Weise weiblich 74 ZfM 28, 1/2023 «OB MAN ETWAS TUN KANN ODER NICHT, IST EINE REIN MECHANISCHE ODER MATERIELLE FRAGE» sind oder zumindest die Feminisie- rung oder ein Queering der Infra- struktur widerspiegeln. Und ich denke, es ist sehr wichtig, sich mit dieser grundlegenden Erkenntnis auseinanderzusetzen. Wir können nicht sagen, dass Protokolle die Fortsetzung einer Art patriarcha- lischer Hierarchie sind. Ich glaube einfach nicht, dass das eine genaue Beschreibung ist. Um also auf die Frage einzugehen, müssen wir uns mit einem grundlegenden Wider- spruch auseinandersetzen: der Fra- ge, wie eine queere, postkoloniale oder dekoloniale Kritik des Protokolls aussehen könnte. Vielleicht müssen wir Abb. 1 Thomas Kuhn versteht diese Frage auf zwei verschiedenen Ebenen beantworten. Einerseits unterstütze normale Wissenschaft als das Lösen von Puzzles ich persönlich (und ich würde dafür plädieren, dass andere das auch tun) eine Art Basis an liberalen Werten, womit ich meine, dass Menschen nicht belästigt werden, Zugang zu Gesundheitsversorgung haben und dass sie sich in ihrem Leben entfalten können sollen – das sind wichtige Werte für mich. Aber an- dererseits glaube ich nicht, dass eine Rückkehr zur protokollogischen Ära oder den dazugehörigen Werten ein gutes Ziel für die progressive Linke oder die von euch genannten Bewegungen wäre. Mit anderen Worten, und das habe ich in dem ursprünglichen Protocol-Argument sehr deutlich dargelegt: Ich bin für Heterogenität, aber ich glaube nicht, dass Heterogenität uns retten wird. Für mich ist die interessanteste Arbeit nicht die, die versucht, zu einer Art Ethos der 1968er oder sogar der 1990er Jahre zurückzukehren, sondern die, die versucht, explizit außerhalb dieses protokollogischen Moments zu denken. Dafür gibt es viele Beispiele – ich persönlich fühle mich von der Kritik an Repräsentation und Repräsentationalismus angezogen, wie z. B. in den jüngsten Debatten über die Konzepte von Opazität oder Verschleierung. In meiner Arbeit über François Laruelle 5 beschäftige ich mich mit dem Begriff der Irreversibilität. Repräsen- tation hat eine bidirektionale Logik, und Laruelle hat eine sehr ausgefeilte Art, über eine totale Ablehnung von Reversibilität zugunsten von Unidirektionalität nachzudenken. Ich sehe darin eine gewisse Gemeinsamkeit mit Opazität und Verschleierung, mit sogenannten prophylaktischen statt promiskuitiven Tech- nologien. Seit Längerem fühle ich mich von der Zukunftskritik in den Arbeiten 5 Vgl. Alexander R. Galloway: Laruelle. Against the Digital, Minnea- von Lee Edelman 6 angezogen, und in jüngerer Zeit von der Art und Weise, wie polis 2014. sich der Begriff des Pessimismus in den Black Studies entwickelt hat. Dazu sind 6 Vgl. Lee Edelman: No Future. Queer Theory and the Death Drive, mir insbesondere Calvin Warrens Arbeiten über den Schwarzen Nihilismus 7 Durham 2004. als eine Denkweise aufgefallen, die keine strikte Rückkehr zu den Werten und 7 Vgl. Calvin L. Warren: Ontological Terror. Blackness, Nihilism, and Emanci- Prinzipien der protokollogischen Ära bedeutet. pation, Durham 2018. SCHWERPUNKT 75 ALEXANDER R. GALLOWAY | MARY SHNAYIEN / OLIVER LEISTERT M.S. Ich möchte noch einmal ein wenig zurückgehen: Du sagtest, dass Proto- kolle die Feminisierung oder das Queering der Infrastruktur w iderspiegeln. Es ist zwar sehr reizvoll, Protokolle als queer zu betrachten, aber ich bin mir nicht sicher, ob das möglich ist, da sich Queerness als politisches Projekt oder als Philosophie mit alternativen Formen von Gemeinschaft und gemeinschaft- licher Organisation beschäftigt. Im besten Fall formalisiert das Protokoll diese Organisationsstrukturen, aber im schlimmsten Fall verunklart und verschiebt eine Protokollogisierung Verantwortlichkeiten und R echenschaftspflichten. A.G. Ja, das leuchtet mir ein. Das Interessanteste in den Feminist, Queer und Trans Studies ist das Nachdenken über neue Formen von Sozialität oder Gemein- schaft. Ich wollte nur betonen, dass viele Leute das Konzept und die Realität der Differenz – v. a. im Poststrukturalismus – als eine Art inhärent fortschrittliche(s) Realität oder Phänomen dargestellt haben, oft nach dem Motto ‹Identität versus Differenz›, wobei Identität der normierende, dominante Modus, Differenz hin- gegen der deviante ist. In ihrem Buch A Hacker Manifesto 8 zeigt McKenzie Wark auf, wie Unterschiede und messbare Differenzen auf einer sehr basalen Ebene in die Computerinfrastruktur eingebettet wurden. Darauf aufbauend: Glauben wir diesem Grundsatz von Sadie Plant, dass Kybernetik Feminisierung ist? Wir könnten dieses Prinzip natürlich ablehnen, das könnte die Geschichte verkom- plizieren, aber ich möchte es nicht ablehnen und daher sagen: Vielleicht ist es Feminisierung. Wie gehen wir also mit dieser Art von chaotischem, widersprüch- lichem Szenario um, wie geht es weiter? Deshalb denke ich, dass es bei den in- teressantesten Arbeiten in der feministischen Theorie, der Queer Theory und den Trans Studies nicht darum geht, zu einer Art 68er- oder sogar 90er-Ethos zurückzukehren, sondern andere Richtungen einzuschlagen. M.S. / O.L. RFC 8280 9 ist ein interessantes Dokument im Hinblick auf Proto- kolle und als Reaktion auf ein Versagen von Internetdesign, weil es Über- legungen zu Menschenrechten und Internetdesign darlegt. Dieser RFC hat einige Kritik hervorgerufen, da er die explizite Implementierung politischer Werte in das Protokolldesign fordert, was einige als außerhalb der Frage von Protokollen stehend ansehen. Aber Protokolle waren noch nie unpolitisch, wie du und andere in ihren Arbeiten gezeigt haben. Was hältst du davon, Werte wie die Menschenrechte in Internetprotokolle zu integrieren? Gibt es eine Grenze dafür, was ein Protokoll leisten kann? A.G. Das ist eine hoch interessante Frage, denn ihr habt Recht, diese Art von RFC im Stil von Amnesty International bricht das ‹Gentlemen’s A greement› – dass Protokolle nicht explizit politisch sein sollten. Ich möchte nur zwei D etails 8 Vgl. McKenzie Wark: A Hacker M anifesto, Cambridge (MA) 2004. hervorheben, denn in gewisser Weise folgt RFC 8280 einer klassischen 9 Vgl. Niels ten Oever, Corinne p rotokollogischen Philosophie, die meiner Meinung nach gar nicht so sehr Cath: Research into Human Rights Protocol Considerations, Request von den allerersten Protokollen abweicht. Zunächst einmal: Unterstützt das for Comments (RFC) 8280, Oktober Protokoll von vornherein Heterogenität? Das ist etwas, das von Anfang an 2017, 1 – 81, rfc-editor.org/info/rfc8280 (2.8.2022). in die Protokolle eingebaut wurde – es sind unterschiedliche Technologien, 76 ZfM 28, 1/2023 «OB MAN ETWAS TUN KANN ODER NICHT, IST EINE REIN MECHANISCHE ODER MATERIELLE FRAGE» sie sind weitgehend Standards, ja, aber auf die schlankeste Art und Weise. Wahrscheinlich sind sie in letzter Konsequenz Standards, aber wir können nicht leugnen, dass Dif- ferenz, Heterogenität, Vielfältigkeit, Kontingenz, dass all diese Dinge nicht von den Protokollen ausge- schlossen sind, sondern ausdrücklich als Teil der Kernstruktur der Tech- nologie enthalten sind. Der zweite Punkt, den ich her- vorheben möchte, ist der sogenann- te inhaltliche Agnostizismus. Ich habe diesbezüglich gemischte Gefühle, denn es ist eine Rückkehr zu einer Art klassisch-liberalen universalistischen Hal- Abb. 2 Venn-Diagramm RFC tung, die sich im Grunde genommen hinter einem Schleier der Ignoranz positio- 8280, nach Niels ten Oever, Corinne Cath 2017 niert, als ein universelles Subjekt, das selbst aus der Geschichte herausgenommen ist. Aber in einem sehr allgemeinen Sinne ist der Inhaltsagnostizismus interes- sant: Claude Elwood Shannon, der eine Art Philosophie des Inhaltsagnostizismus vertrat, sagte, dass der semantische Inhalt einer Nachricht angesichts der syntak- tischen Codierung der Nachricht irrelevant sei.10 Dies ist ein seit Langem beste- hender philosophischer Grundsatz in der Informations- und Datenverarbeitung. Dieser Inhaltsagnostizismus ist wirklich interessant, denn er besagt im Grun- de, dass wir nicht beeinflussen können, was jemand sagt, denkt oder macht, aber wir können die Metadaten dazu beeinflussen: Wir wissen, woher eine Nachricht kommt, wir wissen, wohin sie geht, wie schnell sie dort ankommt, wie häufig du mit bestimmten Leuten korrespondierst und mit wem du nicht kommunizierst. Es gibt also eine Art Gnostizismus auf struktureller und einen Agnostizismus auf inhaltlicher Ebene. Aber selbst der Agnostizismus auf der inhaltlichen Ebene ist brüchig – wenn man keine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung hat, kann man die- sen Agnostizismus vergessen. Im Allgemeinen würde ich jedoch sagen, dass die Werte des Protokolls mehr oder weniger unbedenklich sind und auf einer grund- legenden Ebene unterstützt werden sollten, insbesondere wenn die Alternative die Herrschaft von Milliardären ist. Ich denke, dass inhaltlicher Agnostizismus gut ist. Wenn ich etwas in eine Steckdose stecke, ist die Elektrizität inhaltsneu- tral, es macht für sie keinen Unterschied, ob ich meinen Laptop oder meinen Kühlschrank anschließe, und ich denke, das ist ein wichtiges und vorteilhaftes politisches Prinzip. 10 Vgl. Claude Elwood Shannon: M.S. Da du dich auf Shannon und seine Kommunikationstheorie beziehst: The Mathematical Theory of Shannon beschäftigt sich so sehr mit dem Rauschen, dass er sich fast gar Communication, in: Bell System Technical Journal, Bd. 27, Nr. 3, 1948, nicht mit dem Medium des Kanals beschäftigt. Aber aus der Sicht der 379 – 423, hier 379. SCHWERPUNKT 77 ALEXANDER R. GALLOWAY | MARY SHNAYIEN / OLIVER LEISTERT Medienwissenschaft ist es eine seltsame Annahme, dass ein Inhalt nicht medienspezifisch ist – warum sollte Kommunikation nicht me- dienspezifisch sein, warum sollte ein Protokoll nicht medienspezi- fisch und damit inhaltsneutral sein? Wie soll das überhaupt funktionie- ren? Wenn wir über Protokolle und ihre Rolle in verschiedenen Tech- Abb. 3 Claude E. Shannon: nologien sprechen, müssen wir bedenken, dass das Protokoll dazu beiträgt, was Schematic diagram of a general in den jeweiligen Medien gesagt werden kann und was nicht. communication system, 1948 A.G. Ja, das macht absolut Sinn, und du hast völlig Recht, wenn du sagst, dass Shannon vom Rauschen besessen war, ebenso wie Norbert Wiener. Aber ich denke, dass Shannons Definition von Information auf Entropie basiert, also im Wesentlichen auf kontingenten Möglichkeiten. Sie beruht auf den thermodyna- mischen Prinzipien der Entropie, dem sogenannten Chaos und dem Zufall und der Fähigkeit eines Kanals, unbegrenzt zu sein. Entropie, Chaos und Zufällig- keit sind im Wesentlichen ein Maß für die Unbegrenztheit des Kanals. Um auf eine der vorhergehenden Fragen zurückzukommen, nämlich ob die Kybernetik eine Feminisierung ist, müssen wir meines Erachtens auch sagen, dass die In- formationstheorie ein Weg ist, bestimmte technische Phänomene oder materi- elle Realitäten explizit miteinzubeziehen, die sehr lange Zeit als das Andere oder als Marker für das, was die vorherrschende Rationalität bedroht, gekennzeichnet wurden: Chaos, Lärm und Kontingenz, die oft selbst feminisiert oder innerhalb der kolonialen Tradition mit nicht-westlichen Akteur*innen assoziiert werden. Das ist für mich ein Zeichen dafür, dass wir wirklich klar und direkt sagen müs- sen, dass es bei Kybernetik, Informationstechnologien und Netzwerken, viel- leicht nicht in ihrer Gesamtheit, aber sicherlich in sehr wichtigen spezifischen Aspekten, nicht um den Ausschluss des Weiblichen, des Anderen, des Markier- ten, des Differenten, des Heterogenen geht, sondern explizit darum, dies alles einzubeziehen, einzubauen und direkt im Herzen der Medien zu verwalten und zu kontrollieren. Norbert Wiener ist in diesem Punkt weniger klug, denn für ihn ist Rauschen einfach nur Rauschen, eine Sache, die das Signal bedrohen kann. Das Signal könnte korrumpiert werden, also sollte man versuchen, das Rauschen zu eliminieren. Shannon vertritt eine genau gegenteilige Haltung: Shannon sagt, dass Signale aus einer thermodynamischen Skala von potenziell chaotischem Ver- halten bestehen. Und das ist radikal. Und ich denke, wir haben im Grunde die Shannon-Version geerbt, nicht die Wiener-Version. M.S. / O.L. Wenn wir uns umschauen, wo heute Innovationen im Protokoll- design stattfinden, fällt der Blick auf Blockchain-Protokolle. In diesem Feld enthalten die Protokolle auch ökonomische und Governance-Regeln. 78 ZfM 28, 1/2023 «OB MAN ETWAS TUN KANN ODER NICHT, IST EINE REIN MECHANISCHE ODER MATERIELLE FRAGE» Und das betrifft nicht nur Protokolle innerhalb der ersten Schicht, wie das E thereum-Protokoll, sondern es werden mehr und mehr Protokolle auf Schicht zwei eingesetzt, die ihre eigenen Ökonomien und Affordanzen mit- bringen. Wir scheinen uns hier in einer sehr experimentellen Phase zu be- finden, in der es auch viele Fehlschläge gibt. Im Allgemeinen pushen Block- chains ein Modell der künstlichen Verknappung und der Finanzialisierung, indem sie Protokolle mit ökonomischen Regeln verknüpfen. Gleichzeitig be- zweifeln viele, dass Blockchains für irgendetwas gut sind, und sehen in ihnen oft nichts anderes als Ponzi schemes und Betrugsmaschinen. Auch wenn dies sicherlich in vielen Fällen zutrifft, bleibt abzuwarten, ob dies alles war, woran wir uns in 20 Jahren im Hinblick auf Blockchains erinnern werden. Wie siehst du dieses große Experimentierfeld der Protokolle in diesem Bereich? Und wie viele Bereiche sollte ein Protokoll überhaupt enthalten, wenn wir bedenken, dass Blockchain-Protokolle Governance, Ökonomie und Finanzen regeln? Was treibt wohl den Wunsch an, diese Felder über- haupt in die protokollogische Kontrolle zu integrieren? A.G. Inmitten eines größeren Trends der letzten 15 oder 20 Jahre, in denen protokollbasierte Technologien mehr oder weniger zusammengebrochen sind, ist die Blockchain-Technologie wahrscheinlich das größte Gegenbeispiel. Wenn die Frage also lautet: «Wo stehen Protokolle heute?», so denke ich, dass die Antwort lautet: Blockchains. Diese sind ein Gegenbeispiel, weil sie eher einem Protokoll als einem kommerziellen proprietären Standard ähneln. Ja, das stimmt. Gleichzeitig denke ich, dass Blockchain-Technologien anschaulich zeigen, dass Protokolle von politischen Prinzipien durchdrungen sein können und sind, und direkte politische, soziale und technische Möglichkeiten haben – und dies wird sogar stolz verkündet. Diejenigen, die Blockchain-Technologien propagie- ren, gehen davon aus, dass es sich um eine politische Intervention handelt. Aber um ganz ehrlich zu sein: Ich bin von Blockchains angewidert. Ich habe mehr oder weniger zu Protokoll gegeben, dass ich dagegen bin – ich denke, dass es technische Gründe gibt, Blockchains abzulehnen: Sie sind langsam. Sie sind eine dramatisch ineffiziente Art, Rechenprozesse durchzuführen. Ich glaube immer noch nicht, dass wir ein Problem haben, für das Blockchains eine gute Lösung oder einen guten Anwendungsfall darstellen. Am meisten beunruhigen mich je- doch die politischen Gründe, die gegen Blockchains sprechen. Und auch die- se sind bereits bekannt: Ich denke, es gibt dramatische politische Probleme mit der Tokenisierung oder der Finanzialisierung des Alltags durch Marktlogiken von Derivaten und Spekulation. Durch die Tokenisierung werden alle Aspek- te des menschlichen Lebens sehr direkt kommodifiziert, was ich uninteressant finde – ich bin abgestoßen von der libertären Philosophie, die die Blockchain- Technologien durchdringt. David Golumbia hat auf den nicht ganz so unver- hohlenen Antisemitismus hingewiesen, der vielen dieser Dinge zugrunde liegt, die Ablehnung von Zentralbanken, die Sorge um ‹Eliten›, die die Geldmengen SCHWERPUNKT 79 ALEXANDER R. GALLOWAY | MARY SHNAYIEN / OLIVER LEISTERT kontrollieren, und so weiter. Kryptowährungen passen auch zum allgemeinen Trend der Privatisierung des Geldes in den letzten Jahren.11 Krypto-Leute wür- den sagen: «Wir privatisieren nicht, wir machen es dezentral.» Aber dies passt auch gut zur Tatsache, dass im Grunde genommen niemand mehr nationale Währungen verwendet. Ob man nun eine Visa-Karte benutzt oder mit Krypto- währungen bezahlt, man führt im Wesentlichen nicht-staatliche Transaktionen durch – daher denke ich, dass dies mit einem allgemeinen Trend zur Privatisie- rung von Geld übereinstimmt. Als Linker und Marxist würde ich sagen, dass alles, was privatisieren will, in die falsche Richtung geht. Außerdem behaupten Kryptowährungen, anonym zu sein, aber in der Praxis sind sie oft weniger anonym als einfaches Bargeld. Und wir sehen, dass Trans- aktionen mit Kryptowährungen jetzt über zentralisierte Börsen gehen müssen, die zum aktuellen Zeitpunkt stark reguliert sind. Selbst wenn man die Börse hin- ter sich gelassen hat, gibt es Möglichkeiten, einfache Kontrollen der Signaturen durchzuführen, um Informationen darüber zu sammeln, wie die Transaktionen abgelaufen sind. Ich glaube, die Leute merken, dass Kryptowährungen viel we- niger anonym sind, als anfangs versprochen wurde. Deshalb bin ich in dieser Hinsicht sehr skeptisch. Ich bin mir sicher, Oliver, dass du bessere Beispiele kennst, und sicherlich gibt es Leute, Freund*innen von mir, Genoss*innen von mir, die auf der Linken viel mehr an den potenziellen utopischen Möglichkei- ten von DAOs (Distributed Autonomous Organizations) oder anderen Formen der verteilten Organisation interessiert sind, die Smart Contracts auf eine Weise nutzen, die interessant sein könnte. O.L. Es ist sehr interessant zu beobachten, dass sich im Kunstbereich viele Menschen sehr für Blockchain-Technologien interessieren, die ja auch für die Bezahlung von Tantiemen genutzt werden können. Denn im Moment bekommen alle etablierten Künstler*innen in Deutschland ihre Tantiemen über zentrale Sammelstellen wie die GEMA, und ich sehe den Reiz der Blockchains u. a. darin, dass sie es jungen Künstler*innen ermöglichen, auch für ihre Arbeit bezahlt zu werden, unabhängig von im Grunde unfairen Ver- teilungsschlüsseln oder Verträgen mit Labels. A.G. Ich gehe davon aus, dass diese ‹NFT-Ära› dramatische Probleme mit sich bringt, die erst in der Zukunft auftauchen werden. Ein Problem ist, dass Arbei- ten, die auf dem Bildschirm oder in der Maschine existieren, vergänglich sind. Selbst der Versuch, ein Kunstwerk, das vor fünf oder zehn Jahren entstanden ist, wieder zum Laufen zu bringen, ist oft sehr schwierig. Organisationen wie rhizome.org haben eine Menge Arbeit geleistet, indem sie Emulatoren entwi- ckelt und damit versucht haben, Arbeiten aus den späten 1990er oder sogar den frühen 2000er Jahren wieder auszustellen. Für Shu Lea Cheangs Werk Brandon musste das Guggenheim Museum viel Geld investieren und einen ganzen Res- 11 Vgl. David Golumbia: The taurierungsprozess durchführen – für ein Werk, das eigentlich nur ein paar Jah- Politics of Bitcoin: Software as Right- Wing Extremism, Minneapolis 2016. re alt ist. Ich gehe also davon aus, dass es in Zukunft schwierig werden könnte, 80 ZfM 28, 1/2023 «OB MAN ETWAS TUN KANN ODER NICHT, IST EINE REIN MECHANISCHE ODER MATERIELLE FRAGE» einige der Werke zu betrachten, die heute als NFTs geprägt werden. Ich könn- te mich irren, aber ich gehe davon aus, dass der Lebenszyklus einiger dieser Werke kürzer sein wird, als die Leute erwarten. Und es ist keineswegs undenkbar, dass Kryptowährungen durch neue Erfin- dungen auf dem Gebiet der Informatik überflüssig werden. Auch wenn es zu diesem Zeitpunkt noch Science-Fiction ist, könnte das Quantencomputing der- zeitige Verschlüsselungen sehr leicht brechen. Und ich weiß nicht, was das für die Blockchain-Infrastruktur bedeuten würde, aber es wird sie definitiv in erheb- lichem Maße durcheinanderbringen. Ich habe es schon einmal gesagt: Ich schätze die sogenannte ‹veraltete› Tech- nologie immer mehr. Ich halte Bargeld für eine großartige Technologie. Das gilt auch für Papier. Es hat einen Archivierungswert, den Computer wirklich nicht haben. Das ist die einzige Fußnote, die ich der NFT-Diskussion hinzufü- gen würde. Und vielleicht ist sie nicht einmal überraschend, denn ein NFT ist im Grunde ein Zertifikat. Und wir wissen spätestens seit der Konzeptkunst, dass Zertifikate ein ganz normaler Bestandteil der Herstellung und des Verkaufs von Kunst sind. Als die NFTs entwickelt wurden, sah ich sie also als eine Weiterent- wicklung des Verkaufszertifikats. M.S. / O.L. Wir haben uns sehr für deine Bemerkung interessiert, dass «[p]roto- col […] synonymous with possibility» ist.12 In Anlehnung an Fredric Jameson, der bemerkte, dass es eines der schwierigsten Dinge unter den Bedingun- gen des gegenwärtigen Kapitalismus sei, sich eine Utopie vorzustellen 13 (und heute könnten wir in diesem Zusammenhang nicht nur den Kapitalismus an- führen, sondern auch auf das verstärkte Aufkommen rechtsextremer Positio- nen im öffentlichen Diskurs sowie die Klimakatastrophe hinweisen), hast du betont, dass Protokolle damit zu tun haben, welche Zukünfte und Utopien vorstellbar sind. Angesichts der aktuellen Lage der Welt scheint es manchmal unmöglich, sich Utopien vorzustellen. Hemmen die Protokolle, in denen und mit denen wir leben, unsere Zukunftsvisionen? Brauchen wir eine post-pro- tokollogische Utopie, und wie könnte diese aussehen? A.G. Ich denke, wir müssen zwischen Möglichkeit und Utopie unterscheiden, auch wenn die Entwickler*innen der ersten technischen Protokolle dachten, sie würden eine Art fortschrittlichere technologische Infrastruktur schaf- fen (Fred Turner hat ausführlich darüber geschrieben 14). Als ich sagte, dass Protokoll gleichbedeutend mit Möglichkeit ist, lag für mich die Betonung allerdings darauf, dass Fragen der Moral oder des Ermessens – mit anderen Worten die Frage «Kann / Sollte ich etwas tun?» – zugunsten von einer Art Möglichkeitsraum wegfallen. Man kann sich das gut anhand der Denkweise von Hacker*innen vorstellen: Wenn man in einen entfernten Rechner eindrin- 12 Vgl. Galloway: Protocol, 168. 13 Vgl. ebd. gen kann, wird man auch in ihn eindringen. Das meine ich, wenn ich sage, 14 Vgl. Fred Turner: From Counter- dass es einen Möglichkeitsraum oder eine Angriffsfläche gibt: Bei der Angriffs- culture to Cyberculture. Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise fläche geht es nicht mehr darum, nach bestimmten moralischen Grundsätzen of Digital Utopianism, Chicago 2006. SCHWERPUNKT 81 ALEXANDER R. GALLOWAY | MARY SHNAYIEN / OLIVER LEISTERT zwischen Dingen, die man tun sollte oder nicht, zu differenzieren. Der Mög- lichkeitsraum besagt im Grunde genommen: Ob man etwas tun kann oder nicht, ist eine rein mechanische oder materielle Frage. Wenn jemand einen Exploit ausführen kann, wird es getan – es wird physisch geschehen. Es han- delt sich also um einen materialistischen Ansatz, bei dem es darum geht, dass physische Beschränkungen, aber nicht Ermessensfragen oder ethische / morali- sche Praxis leitend werden. Aber ich fühle mich auch zu Utopien hingezogen. Jameson denkt oft über Utopien nach, nicht so sehr als Vision einer kommenden Zukunft, sondern vielmehr als eine Möglichkeit, das ideologische Fenster dessen zu erfassen, was möglich zu sein scheint. Er macht also fast eine Art kantianische Geste: Das Nachdenken über Utopien ist eine gute Möglichkeit, die Möglichkeitsbedin- gungen für ein bestimmtes Szenario zu begreifen. Und so könnte die Utopie- forschung tatsächlich am nützlichsten sein: nicht aufgrund dessen, was sie aktiv zeigt, sondern weil sie eine Art Silhouette oder den Umriss eines Möglichkeits- raums schafft. M.S. Ich habe den Eindruck, dass es ein interessantes Spannungsverhältnis zwischen Machbarkeit und Möglichkeit gibt, das protokollogisch bestimmt ist. Wenn ich darüber nachdenke, was in der Welt machbar ist und was in einer anderen Welt möglich sein könnte, werde ich von dem, was machbar ist, im besten Fall geleitet, im schlimmsten Fall begrenzt. A.G. Ja, ich denke, das ist wichtig, und die Frage, was machbar ist, was prak- tisch ist, ist auch wichtig für die Hacker*innen-Mentalität, auf die ich mich bezogen habe. Computer sind endliche Maschinen; sie existieren in einem re- alen, begrenzten Raum. Sie haben begrenzte Ressourcen und andere endliche Beschränkungen. Vielleicht beschreibe ich also eine subtile Verschiebung hin zu einer Mentalität, die sich weniger auf das Machbare und mehr auf das rein logisch Mögliche konzentriert, ohne diese anderen Dinge zu vernachlässigen. Das lässt sich an einer einfachen Metapher verdeutlichen: Sagen wir, du gehst eine Straße entlang und fragst dich: «Ist es möglich, dass ich in dieses Gebäude einbreche?» Nun ja, es ist möglich: Du könntest einen Ziegelstein durch das Fenster werfen, aber normalerweise werden alle möglichen sittlichen, mora- lischen oder ethischen Grundsätze wirksam, die das Verhalten in der Öffent- lichkeit regeln. Aber es scheint so, als würden diese in der Welt der Computer nicht mehr greifen. Mit anderen Worten: Es kommt dort häufiger vor, dass Leute den Stein durch das Fenster werfen und hineinschauen. Virale Phänome- ne sind an dieser Stelle ebenfalls ein gutes Beispiel. Der Stein könnte ein Com- putervirus sein, oder er könnte Covid sein – beides ist sehr protokollogisch. Gibt es ein moralisches Urteil darüber, ob sich ein Virus ausbreitet oder nicht? Die Antwort lautet: absolut nicht. Die Ausbreitung ist mechanisch, sie ist phy- sisch, es geht um echten materiellen Kontakt, um Zugang und Verletzbarkeit. Die Möglichkeit liegt für mich also auf der Angriffsfläche. 82 ZfM 28, 1/2023 «OB MAN ETWAS TUN KANN ODER NICHT, IST EINE REIN MECHANISCHE ODER MATERIELLE FRAGE» M.S. / O.L. Angesichts der kürzlichen Übernahme von Twitter durch Elon Musk haben wir viel über deine Bemerkung nachgedacht, dass Widerstand gegen Protokolle sinnlos ist: «Opposing protocol is like opposing gravity – th ere is nothing that says it can’t be done, but such a pursuit is surely misguided and in the end hasn’t hurt gravity much.»15 Zum ersten Mal lässt sich eine be- merkenswerte und wachsende Zahl von Nutzer*innen beobachten, die sich weg von Twitter und in das Fediverse bewegen, das von anderen P rotokollen regiert wird, mit anderen Grammatiken des Handelns und somit ande- ren Möglichkeiten, miteinander in Beziehung zu treten. Die Gründe für das Verlassen von Twitter sind dabei sehr unterschiedlich: Einige gehen, weil ihre Freund*innen gegangen sind, einige gehen, um Twitter aktiv für Werbekund*innen zu entwerten und so zu dessen Untergang beizutragen, andere gehen, weil sie Twitter als Plattform satthaben. Und wir haben uns gefragt, ob du diese Bewegung als eine Form von Widerstand gegen Proto- kolle bezeichnen würdest – und ob es möglich ist, sich in anderen Lebensbe- reichen durch eine breite und organisierte Abkehr vorherrschenden Proto- kollen zu widersetzen? A.G. Ich denke, sich heute über die Auswüchse und Probleme einer überborden- den protokollogischen Organisation Gedanken zu machen, ist in gewisser Weise ein Luxus oder ein Privileg. Für mich waren dies in den späten 1990er Jahren echte politische Fragen, die zu stellen mir wichtig erschien. Heute hingegen wäre ein wenig mehr protokollogische Organisation wünschenswerter – die Gefahr, dass sie überhandnimmt, besteht nicht mehr. Es gibt allerdings auch Praktiken des deplatforming. Ich habe mich gefreut, dass Trump deplatformed wurde, klar. Aber das ist auch ein Beweis dafür, dass die Infrastruktur nicht neu- tral ist. In den letzten Wochen haben wir gesehen, wie Elon Musk aus einer Laune heraus Twitter-Konten gesperrt hat, und das ist eine noch wahnsinni- gere oder extremere Version des deplatforming. Wir müssen auch den Markt berücksichtigen, der bestimmtes Verhalten auf dramatische Weise formt und verhindert, und ich denke, wir müssen nüchtern betrachten, wie Organisation und Kontrolle in unseren Gesellschaften existieren. Wir haben bisher viel über die realen materiellen Bedingungen gesprochen. Wir müssen an dieser Stelle aber auch auf eine uralte psychoanalytische Frage zurückkommen, nämlich die Frage nach dem Begehren oder dem Genuss. Sie spielt eine wichtige Rolle bei dem Versuch, die libidinöse Ökonomie der Psyche zu verstehen – der Erfolg von Plattformen wie TikTok, YouTube oder Twitter hängt von der Frage des Vergnügens oder des Begehrens ab. Und das ist nur eine Makro-Beschreibung – wie sieht das eigentlich aus? Ich möchte betonen, dass wir uns in einer Ära zu befinden scheinen, in der unsere Beziehung zur Technik extrem ödipal ist. Ging es in der Ära des Pro- tokolls um den Anti-Ödipus, also darum, sich in einem Zustand ohne einer vom Herrensignifikanten bestimmten symbolischen Ökonomie zu befinden, 15 Galloway: Protocol, 147, so scheint es, als wären wir heute wieder bei ‹Papa, Mama und ich›, dem Trio, Herv. i. Orig. SCHWERPUNKT 83 ALEXANDER R. GALLOWAY | MARY SHNAYIEN / OLIVER LEISTERT das Deleuze und Guattari in ihrem Buch Anti-Ödipus verspotten.16 Mit anderen Worten: Die Menschen scheinen heutzutage einen Meister haben zu wollen, und das könnte Trump oder Bolsonaro oder Musk sein, aber es könnte auch einfach die Cloud als eine Art zentralisiertes Kontrollaggregat sein. Das ist es, was ich damit meine, dass wir uns gerade in einer Art ödipalem Modus befinden. M astodon oder das Fediverse im Allgemeinen sind vielleicht eher protokollogisch, oder zumindest sind sie der Linux-Ära, der Open-Source- Ära ä hnlicher. Ich glaube aber, dass wir eine andere Form des Genusses, eine a ndere l ibidinöse Ökonomie brauchen, damit das Fediverse für uns funktio- niert. Es braucht eine andere Zeitlichkeit. Der Medienkonsum muss in diesen Räumen anders ablaufen. Es ist eine soziale Frage, aber ich glaube auch, dass sie eng mit den Fragen der libidinösen Ökonomie und einer Transformati- on des Begehrens verwoben ist. Und ich denke, wir sollten es versuchen! Wir sollten an diesem Punkt alle proprietären Plattformen aufgeben und zu ver- teilten Open-Source-Protokollen zurückkehren. M.S. Es gibt eine Menge Leute, die darauf bestehen, dass Mastodon wirklich gut für ihre geistige Gesundheit ist: Sie fühlen sich nicht so leer wie nach einem weiteren TikTok-Binge. Sie empfinden Mastodon als weniger aufre- gend, als ruhiger, und sie empfinden sich nicht als ‹süchtig› danach. A.G. Ja, ich denke, das ist alles richtig. Und das Groteske und Verrückte an so etwas wie TikTok ist, dass es zwar eine Plattform ist und von sehr spezifi- schen Technologien angetrieben wird, aber dass es nutzer*innengesteuert ist, dass es Peer-to-Peer ist, was bedeutet, dass es unsere libidinöse Ökonomie auf schändliche Weise formt: Sozialität und Peer-to-Peer-Beziehungen werden in gewisser Weise als Waffe eingesetzt. Und ich denke, das ist etwas, mit dem sich die Menschen auseinandersetzen müssen und das sie wirklich in den Griff bekommen müssen. Das Gleiche gilt für Twitter: Elon Musk ist ein passender Avatar, er gibt dem größeren Apparat ein Gesicht, und ja, er ist der reichste Mann der Welt, aber es gibt immer noch dieses horizontalistische Prinzip, das in vielen dieser Social-Media-Formate zur Waffe wird. Ob Gamification oder Follower-Counts, es sind immer die fesselndsten, die verführerischsten, die Endorphin-induzierendsten Elemente, die durch eine Art Marktlogik an die Spitze steigen. O.L. Dies alles hängt auch damit zusammen, dass wir in einer Warengesell- schaft leben und unsere Subjektivität im Wesentlichen auf diese Art von Wünschen ausgerichtet ist – das war damals auch Teil der Kritik von D eleuze und Guattari. Über Mastodon nachzudenken würde also auch bedeuten, über neue, entstehende Gesellschaften und Subjektivitäten nachzudenken. A.G. Ja. Und ich mag das Phänomen, dass jemand einen Mastodon-Server star- 16 Vgl. Gilles Deleuze, Félix tet und dann eine Art Mikro-Community mit vielleicht nur 100 bis 200 regis- Guattari: Anti-Ödipus, 15. Aufl., Frankfurt / M. 2016 [1972]. trierten Nutzer*innen auf diesem Server schafft. Ich denke, es gibt einen Anreiz, 84 ZfM 28, 1/2023 «OB MAN ETWAS TUN KANN ODER NICHT, IST EINE REIN MECHANISCHE ODER MATERIELLE FRAGE» insbesondere da wir uns weltweit auf dem Höhepunkt einer populistischen Ära befinden, zu diesen oder zu anderen Formen der sozialen Interaktion zurückzu- kehren, die nicht so massiv von Unternehmen und staatlichen Mächten struk- turiert zu sein scheinen. Vielleicht ist das naiv, aber ich mag das. M.S. Ich auch. Ich bekomme oft zu hören, dass das eine naive Haltung sei, aber es ist wirklich so, dass die neuen Nutzer*innen auf Mastodon die D ezentralisierung schätzen und Aspekte von Twitter ziemlich kritisch sehen. Interessanterweise mochten sie diese Aspekte zwar vorher schon irgendwie nicht, waren sich aber nicht dessen bewusst, dass sie direkt mit der Zentrali- sierung von Twitter verbunden sind. A.G. Ja, ich glaube, es gibt sogar eine Zeile im Anti-Ödipus, in der Deleuze und Guattari im Wesentlichen sagen, dass das Begehren immun gegen diese Art von äußeren Kräften sei. Ich denke, das ist völlig falsch. Ich denke, dass das Begehren absolut formbar ist. Es ist etwas, das man kultivieren kann, etwas, das man aktiv verändern kann. Wenn du an einem Tag eine bestimmte libidinöse Konstellation hast und deine Umgebung und deine tägliche Praxis veränderst, kannst du Vergnügen und Begehren beeinflussen. Wenn man z. B. lernt, eine bestimmte Ernährung zu mögen, und dann seine Ernährung ändert – siehe da, man mag auch diese andere Ernährung. Die Menschen fühlen sich oft von un- bewussten materiellen Kräften ergriffen, ohne zu erkennen, dass die Bedingun- gen geändert werden können und dass man aktiv daran mitwirken kann, eine andere Richtung einzuschlagen. — SCHWERPUNKT 85 W E N D Y H U I K Y O N G C H U N im Gespräch mit M A RY S H N AY I E N und O L I V E R L E I S T E RT «DAS PROTOKOLL ERMÖGLICHT EINE BRUDERSCHAFT» — Zu Offenheit, dem Sozialen und der Dekolonisierung von Protokollen Oliver Leistert / Mary Shnayien Wir möchten mit einer etwas weiter gefassten Frage zum Thema Protokoll beginnen: Wie sind Protokolle in die sozialen und ökonomischen Systeme, Infrastrukturen und in das Imaginäre zeitge- nössischer Internetkulturen eingebettet? Wendy Hui Kyong Chun Protokolle sind heute in Infrastrukturen und Vorstellungen von Authentifizierung und Authentizität eingebettet – so wie sie es schon im- mer waren. Im Englischen bedeutet Protokoll zunächst «a prologue; p refatory material […]. The original record or minutes of a transaction, negotiation, ex- amination».1 Als Aufzeichnung von Verhandlungen verlagern sie sich bald von einer beglaubigten Wiedergabe der Art und Weise, wie Dinge geschehen, zu der Art und Weise, wie sie geschehen sollten. Als Formen der Authentifizierung sind sie allgegenwärtig – von technischen Infrastrukturen bis hin zum Imaginären der sozialen Medien. Die Blockchain beispielsweise ist ein Protokoll im modernen und archaischen Sinne des Wortes: Sie besteht buchstäblich aus Transaktionsprotokollen, aber ihre Authentizität ergibt sich nicht aus ihrer Einzigartigkeit – es gibt eben nicht nur ein Proto- koll –, sondern aus ihrer mannigfaltigen Wiederholung: Es gibt viele Protokolle, die sich gleichen. Die Authentizität hängt also eher von der Fülle als von der 1 Protocol, in: Oxford English Dictionary, oed.com/view/Entry/153243 Knappheit der Informationen ab. Aber unabhängig von ihrem jeweiligen Ein- (5.1.2023), deutsch: «ein Prolog; satzgebiet sind es die Mitschriften – das Protokoll –, die der Authentizität oder einleitendes Material […]. Die ursprüngliche Aufzeichnung oder Authentifizierung zugrunde liegen. das Protokoll einer Transaktion, Ver- Protokolle und ihre Übertretung beherrschen auch das soziale Imaginäre. handlung, Untersuchung» (übers. v. Mary Shnayien). Heutzutage zeigt man seine Authentizität nicht nur, indem man Protokolle 86 ZfM 28, 1/2023 befolgt, sondern auch indem man sie überschreitet (was selbst zu einer eigenen Form von Protokoll ge- worden ist). Auf Instagram z. B. gibt es Protokolle (im Sinne von Kon- ventionen) dazu, wie und was man postet, posiert usw., aber um als ‹au- thentisch› wahrgenommen zu wer- den, muss man diese Konventionen auch ein wenig überschreiten: Die Perspektive muss ein wenig ver- schoben sein; die Pose muss – ob- wohl sie stark gescriptet ist – spon- tan und zufällig wirken. Ich denke bei dieser transgres- siven Authentizität an Reality-TV und die Macht, die das als TV-For- mat verkaufte Reality-TV bei der Definition von Authentizitätspro- tokollen hat. Auch wenn dies nichts mit sozialen Medien zu tun hat, ist es doch von entscheidender Bedeu- tung. Das Beispiel, das ich in Discri- minating Data 2 verwende, um diesen Punkt zu verdeutlichen, sind die US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen des Jahres 2016, die sowohl Fake Abb. 1 Guardian-Artikel von News normalisierten als auch als ‹Authentizitätswahlen› bezeichnet wurden. Die Amber Jamieson am 20.2.2016, Screenshot (24.1.2023) Person, die gewonnen hat, hat bei beidem gepunktet – und es ist kein Zufall, dass es sich dabei um einen Reality-TV-Star handelte, der es verstand, durch hochgradig gescriptete, aber scheinbar unverstellte und enthüllende Episoden ‹echt› zu wirken. Tatsächlich wiederholte seine Kampagne auf unheimliche Art die Tricks und das Format von The Apprentice – anstatt dass Trump eine ticken- de Zeitbombe war, die immer wieder auf bizarre Weise vom Drehbuch abwich, hielt er sich in Wahrheit unbeirrbar und zielstrebig an das Script. Auf diese Weise gelang es ihm, alle anderen Kandidat*innen als doppelzüngige Heuchler*innen erscheinen zu lassen, weil sie sich nicht an die transgressiven Protokolle von Re- ality-TV hielten. Jede aufrichtige Bemühung anderer Kandidat*innen, echt zu wirken, wurde als unecht verspottet: von Jeb Bushs Brille bis zu Hillary Clintons Hot-Sauce-Flasche. Entscheidend ist, dass nicht alle Übertretungen gleich sind und dass der Umstand, welche offenen Geheimnisse wertgeschätzt werden, bestimmt, zu 2 Wendy Hui Kyong Chun: welchem ‹Cluster› man gehört: von Incels bis zu den Anhänger*innen von Discriminating Data. Correlation, Neighborhoods, and the New Politics of Gwyneth Paltrows Lifestyle-Marke Goop. Diese Cluster werden dann durch Recognition, Cambridge (MA) 2021. SCHWERPUNKT 87 WENDY HUI KYONG CHUN | MARY SHNAYIEN / OLIVER LEISTERT Korrelationen und gemeinsame Feind*innen zu Mehrheiten zusammenge- führt – das ist Hegemonie rückwärts. Zusammenfassend lässt sich also sagen: Protokolle sind sowohl in techni- scher als auch in sozialer Hinsicht Schlüssel zu Fragen der Authentifizierung, insbesondere bei deren Überschreitung. O.L. Danke! Das war sehr aufschlussreich, v. a. der Begriff der Über- schreitung im Kontext von Protokollen. Lass uns mit der nächsten Frage fortfahren: Als wir unser Interview mit Alexander Galloway führten, bestand er darauf, dass das Protokoll, in diesem Fall ist TCP / IP gemeint, antipa- triarchale Werte verkörpert. Wie würdest du die Politiken des Protokolls beschreiben? W.H.K.C. In Protocol argumentiert er mit Sadie Plant, dass das Protokoll antipa- triarchalisch ist – und er behauptet, dass es, obwohl es antipatriarchalisch ist, nicht unbedingt befreiend ist, sondern eher eine andere Form der Kontrolle darstellt. Plant argumentiert, dass Digitalität das Patriarchat in Frage stellt und dass Computertechnik schon immer feminin war. Anhand des Protokolls ver- sucht Alex Galloway zu verstehen, wie Kontrolle innerhalb nicht-hierarchischer Machtstrukturen funktioniert. Das ist wichtig, denn so können wir verstehen, wie Dinge, die offen und nicht hierarchisch zu sein scheinen, dennoch kontrol- liert werden. Aber es wirft auch einige Fragen auf. Kann z. B. das Patriarchat in scheinbar nicht-hierarchischen Situationen überleben? Sind Protokolle – ver- standen als offizielle Protokolle von Transaktionen und / oder offizielle Regeln der Etikette – nicht hierarchisch? Als Protokolle, die dokumentieren, was gewesen ist, sind Protokolle so- wohl mit offiziellen Machtstrukturen als auch mit Theorie verbunden. Theorie kommt vom griechischen Begriff theōria, der eine Gruppe griechischer Beamter bezeichnete, die in eine andere Stadt reiste, um ein Ereignis zu beobachten. Wenn sie Zeugen eines Ereignisses waren und sagten, dass es stattgefunden hatte, dann wurde es als geschehen betrachtet – sie hatten es authentifiziert. Die Theorie selbst geht also auf Momente der Niederschrift zurück, die mit Macht und Namen zu tun haben, also damit, wer unterschreiben kann und wer bedeutend ist. Eine andere Frage ist: Wie können wir das Patriarchat subtiler verstehen denn als hierarchische Strukturen? Bemerkenswert ist, dass digitale Technolo- gien mit Formen von Männlichkeit einhergehen, die nicht weniger toxisch sind als ältere: Silicon Valley hat ein großes Gender-Problem; Incels usw. sind wohl kaum feministisch. Sogar die Vorstellung von Kontrolle als Macht hat einen ziemlich fiesen Beigeschmack. Wenn William Burroughs etwa behauptet, dass Kontrolle dem Leitsatz ‹Mutter weiß es am besten› folge, dann ist das weder ein Kompliment noch notwendigerweise wahr. Wenn überhaupt, scheint Kon- trolle eine männliche Projektion weiblicher Macht zu sein – man denke nur an den Hass, den viele in der Alt-Right auf Feminist*innen haben. 88 ZfM 28, 1/2023 «DAS PROTOKOLL ERMÖGLICHT EINE BRUDERSCHAFT» M.S. Vielen Dank, mir gefällt die Idee, das Patriarchat auf eine subtilere Art und Weise zu betrachten – als etwas, das den Alltag über hierarchische Struk- turen hinaus strukturiert. Ein Aspekt, der mir in den Sinn kommt, ist, dass Protokolle offen für Vielfalt sind – die Idee, diverse Inputs zu a kzeptieren und sie dabei nicht unbedingt zu vereinheitlichen, sondern miteinander kompatibel zu machen. Würdest du sagen, dass dies im Gegensatz zu einer subtileren Betrachtung des Patriarchats steht, oder glaubst du, es wäre eher ein diversity-washing der technischen Protokolle? W.H.K.C. Nein, ich denke, Protokolle sind immer beides gleichzeitig. Einige L eute haben bekanntlich argumentiert, dass die patriarchalische symbolische Ordnung seit einiger Zeit angegriffen wird – von Fredric Jamesons Diagnose der Postmo- derne bis zu Slavoj Žižeks Argument, dass wir in der Ära der ‹kleinen Brüder› leben, die eher im Realen als im Symbolischen existieren. Alexander Galloway hat argumentiert, dass dies nicht der Bereich von Big Brother ist, sondern von Big Bro, verkörpert durch Typen wie Mark Zuckerberg oder Larry Page.3 Das Protokoll ermöglicht eine Bruderschaft, die sich zuweilen gemeinsam gegen das wehrt, was sie als matriarchalische Kontrolle wahrnimmt. Die Art und Weise, wie Vielfalt in diesem Bereich funktioniert, ist komplex – und mit einer Logik verbunden, die darauf abzielt, Mehrheiten zu schaffen, indem sie immer kleine- re, aber mächtigere Subkulturen aneinanderreiht. Also das, was ich mit umge- kehrter Hegemonie meinte. O.L. Wenn wir uns umsehen, wo zurzeit technische Protokolle entwickelt werden, fällt der Blick auf das Feld der Blockchains, und dort nicht nur auf Layer-1-Protokolle, sondern auch auf den zweiten Layer, also dorthin, wo die sogenannten Daos und Dapps 4 per Smart Contracts angesiedelt sind. Wie siehst du das Revival von Protokollen in diesem umstrittenen Bereich? Wie verändert sich der Begriff des Protokolls, wenn er in hochgradig mone- tarisierte und finanzialisierte Internetkulturen eintritt? W.H.K.C. Was mich an der Blockchain fasziniert, ist, dass sie im Grunde ein Pro- tokoll ist – sie ist die Transkription dessen, was passiert ist. Was die zweite E bene angeht, würde mich interessieren, was deiner Meinung nach passiert. O.L. Es gibt diese Rhetoriken rund um Blockchains, die sehr kritisch gesehen 3 Alexander R. Galloway: Big Bro (Review of Wendy Hui werden müssen: Layer-2-Protokolle haben z. B. meines Wissens nie wirklich Kyun Chun, Discriminating Data etwas mit Dezentralisierung zu tun. Ferner werden Datenschutzgesetze in Correlation, Neighborhoods, and the New Politics of Recognition), diesem Feld stur ignoriert. Nutzt man beispielsweise MetaMask, das kürz- Eintrag im Blog Boundary 2, lich teilweise von JPMorgan Chase übernommen wurde, läuft jede Ethere- 10.1.2022, boundary2.org/2022/01/ alexander-r-galloway-big-bro-review-of- um-Transaktion mit der MetaMask-Wallet auch über deren S erver. Was wir wendy-hui-kyun-chun-discriminating- auf der Ebene von Layer 2 beobachten können, ist, wie sich konventionelle data-correlation-neighborhoods- and-the-new-politics-of-recognition Finanzmächte auf der Protokollebene neu konsolidieren; es ist eine Re-Zen- (5.1.2023). tralisierung. Ferner ist es auch schwieriger, diese proprietären Layer-2-Proto- 4 Dao steht für decentralized autonomous organization, Dapp steht kolle zu analysieren, im Unterschied zu den offenen Layer-1-Protokollen für decentralized application. SCHWERPUNKT 89 WENDY HUI KYONG CHUN | MARY SHNAYIEN / OLIVER LEISTERT darunter. Das sind einige der Unterschiede zwischen diesen beiden Schich- ten, und deshalb habe ich sie in der Frage getrennt angesprochen. W.H.K.C. Ja, ich denke, das betrifft deine größere Frage, was ein Protokoll ermög- licht und wie wir es verstehen können. Viele der Argumente bezüglich der Of- fenheit von TCP / IP als Protokoll besagen auch, dass das, was auf der Ebene von proprietärer Hardware und Anwendungen passiert, ebenso wichtig ist. Selbst wenn etwas protokollogisch offen ist: Spielt das eine Rolle, wenn es auf etwas aufsitzt, das proprietär ist, und etwas ermöglicht, das ebenfalls nicht offen ist? Und das führt auch zu der Frage nach der Vielfalt, die du vorhin aufgeworfen hast: Was kann durch ein Protokoll ermöglicht werden, wenn es zwischen die- sen beiden Dingen eingebettet ist – gibt es immer noch etwas, das auf / wegen dieser mittleren Schicht passieren kann? O.L. Lass uns mit der nächsten Frage fortfahren, die in gewisser Weise schon etwas älter ist. Ich habe vor diesem Interview noch einmal ein bisschen in Control and Freedom gelesen, und du schreibst da diesen etwas skeptischen Satz: «If the Internet is still public – that is, an indeterminate space that be- longs to no one – it is because the Internet is a protocol, is TCP / IP.»5 Und natürlich haben sich seit 2006 unzählige Dinge geändert. Deshalb interes- siert uns, ob du das heute noch schreiben würdest oder ob du es umformu- lieren würdest. W.H.K.C. Nun, für mich ist das ‹Wenn› (if) hier entscheidend: Ich habe versucht zu verstehen, inwieweit Öffentlichkeit noch eine Rolle spielt oder existiert. Um auf einen früheren Zeitpunkt unserer Diskussion zurückzukommen: In C ontrol and Freedom habe ich mich auf TCP / IP konzentriert, aber ich habe auch festgestellt, dass höhere Anwendungsebenen mit Cookies, Überwachung und Privatisierung durchsetzt sind. Und die Hardware-Ebene war nicht nur proprietär, sondern wurde auch unter stark geschlechtsspezifischen und ungleichen Arbeitsbedingun- gen hergestellt. Und so war das ‹Wenn› für mich immer zwischen diesen offen- kundig privaten Strukturen eingebettet. Dieser Satz war insgesamt eingebettet in das größere Argument, dass wir uns von ‹öffentlich und privat› zu ‹offen und geschlossen› bewegen. Ich habe versucht, die Implikationen dieses Übergangs anhand einiger Klassiker der D emokratietheorie zu denken, wie etwa Claude Leforts Argument, dass die Demokratie nicht deshalb existiert, weil die Macht allen gehört, sondern weil sie niemandem gehört – im Herzen der Demokratie liegt der ö ffentliche Raum, den niemand besitzt. Dieser Raum kann besetzt werden, aber nicht besessen. Geschlossene oder offene Räume hingegen können Eigentum sein – ein Ein- kaufszentrum ist beispielsweise ein offener Raum. Ein weiteres Argument, das für mich wichtig war, kommt von Hannah Arendt, und zwar das Argument, 5 Wendy Hui Kyong Chun: dass die Öffentlichkeit einen Sinn für das Gemeinsame ermöglicht, das über die Control and Freedom. Power and privaten Interessen hinausgeht. Das Konzept eines Protokolls, das üblicherwei- Paranoia in the Age of Fiber Optics, Cambridge (MA) 2006, 63. se von Maschinen, wenn nicht auch von Menschen gesprochen wird, scheint 90 ZfM 28, 1/2023 «DAS PROTOKOLL ERMÖGLICHT EINE BRUDERSCHAFT» einen Austausch zwischen komplett unterschiedlicher Hardware zu ermögli- chen. Meine Frage war also: Spielt das eine Rolle, und wenn ja, welchen Unter- schied macht das? Öffnet dieses gemeinsame Protokoll unsere Maschinen, oder gar uns selbst und unsere Interaktionen, für etwas anderes als die Schließungen, die auf einer dieser beiden Ebenen stattgefunden haben? Um auf deine Frage zurückzukommen: Würde ich das heute schreiben? Wahrscheinlich ja, aber mit mehr Einschränkungen, oder sogar mit denselben Einschränkungen, die alle in diesem Satz enthalten sind. Außerdem betrachte ich Protokolle zunehmend als sozial und nicht als öffentlich oder privat. Arendt zufolge vermischt das Soziale – sehr zu ihrem Missfallen – das Öffentliche und das Private, indem es private Beschwerden und Forderungen an die Öffentlichkeit bringt. Ich bin zwar mit Arendts Bewertung der athenischen Öffentlichkeit, die sowohl theoretisch als auch his- torisch von der Sklaverei abhing, nicht einverstanden, aber ich denke, dass ihre Beschreibung des Sozialen entscheidend ist, wenn auch nicht so, wie sie es meinte. Anstatt mich dem Marxismus als Verfechter des Sozialen zuzuwenden, bin ich zunehmend fasziniert von dem, was ich das ‹kapitalistische S oziale› nenne: Das Soziale, wie es sich aus der Überwachung und Verwaltung von Arbeiter*innen in den 1920er Jahren, aus Studien über U S-I nternierungslager und Soldat*innen während des Zweiten Weltkriegs entwickelt hat. Die M ethoden, die in diesen Studien entwickelt wurden, sind in die modernen Plattformen der sozialen Medien eingeflossen. Diese Methoden setzten die Unzufriedenheit und das Misstrauen der Arbeiter*innen und Häftlinge vo- raus – sie versuchten, dieses Misstrauen zu fördern und zu verwalten. Meine Frage, die sich aus dieser historischen Arbeit ergibt, lautet: Können wir Unzu- friedenheit und das Soziale anders denken? O.L. Wir können sehen, dass die Rhetorik der Offenheit für den Neolibera- lismus in vielen Bereichen wichtig war. Es ist sehr interessant, über TCP / IP so nachzudenken, dass die Art von Universalismus, die die Protokoll-Suite verkörpert, und deren Agnostizismus solche Bewegungen des Kapitals er- möglichen und somit Offenheit und Öffentlichkeit neu konfigurieren. M.S. In Bezug auf die Art und Weise, wie wir das Soziale denken, insbeson- dere in Bezug auf soziale Medien und Protokolle, musste ich auch über die Migration von Twitter-Nutzer*innen in das Fediverse nachdenken. Was denkst du darüber? W.H.K.C. Ich finde das großartig, und es gab eine Menge Beschwerden über die sozialen Protokolle, die Teil dieser neuen Plattformen sind. Es gibt diese Proto- kolle, die jede Plattform strukturieren, und wir denken überhaupt nicht an sie, wenn wir sie einfach als Formen von content moderation betrachten. M.S. Ja, mir ist aufgefallen, dass es eine ziemlich große Diskussion zwischen alten und neuen Nutzer*innen darüber gibt, ob man content warnings für die SCHWERPUNKT 91 WENDY HUI KYONG CHUN | MARY SHNAYIEN / OLIVER LEISTERT eigenen Beiträge verwenden soll- te. Natürlich könnte man dies als eine Frage der Inhaltsmoderation betrachten, aber man kann diese Frage auch als eine Frage des sozi- alen Protokolls betrachten. Wenn wir uns also schon in die Richtung von Bräuchen und Protokollen unter Menschen begeben, ist dies vielleicht ein guter Zeitpunkt für unsere nächste Frage: Womit würde eine postkoloniale, deko- loniale und / oder queere Kritik an (technischen) Protokollen und Standards beginnen? Ich denke Abb. 2 Auch Protokolle müssen an das ‹Technische› in Klammern, weil ich bei dieser Frage eher an soziale durch Widerstände hindurch Protokolle zwischen Menschen denke, wie z. B. Protokolle des Passings im Kontext von race oder Geschlecht in einer bestimmten Situation. Und als Folgefrage: Gibt es einen Weg, um Protokolle und Normen zu dekolonisie- ren oder zu queeren, und wie würdest du die Hauptprobleme beschreiben, die hier angegangen werden müssen? W.H.K.C. ‹Dekolonial› ist ein sehr spezifischer Begriff. Vor allem in Kanada dreht er sich um Fragen von Land und Indigenität. Wenn wir also über De- kolonisierung nachdenken, müssen wir uns mit Fragen des Ortes und des Landes auseinandersetzen – und die Begriffe grounded normativity von Leanne Betasamosake Simpson und Glen Coulthard sowie grounded relationalities von Jodi Byrd heranziehen.6 Wenn wir dies tun, ändert sich das Wesen des Pro- tokolls, denn technische oder soziale Protokolle bestehen nie nur zwischen Menschen und Maschinen. Wir müssen uns immer fragen: Auf was gründen Protokolle? Was erdet (grounded) sie? Was lässt Protokolle so nahtlos und universell erscheinen? Ich finde, die Tatsache, dass überhaupt irgendein Protokoll funktioniert, ist ein Wunder. Es ist wirklich erstaunlich. Denkt einmal darüber nach, was es allein auf der technischen Ebene an permanenter Regulierung braucht – z. B. Widerstände, die elektrische Ladungen ausgleichen, damit man seine Hard- 6 Glen Coulthard, Leanne ware nicht abfackelt, wenn man sie einsteckt. Es gibt eine ganze Maschinerie Betasamosake Simpson: Grounded Normativity / Place-Based Solidarity, und Relationalitäten, die Protokolle überhaupt erst ermöglichen und die rück- in: American Quarterly, Bd. 68, Nr. 2, wirkend den Anschein erwecken, dass das Protokoll alles steuere. Dies war das 2016, 249 – 255; Jodi A. Byrd: To Hear the Call and Respond: Grounded Thema von Programmed Visions.7 Relationalities and the Spaces of Emergence, in: American Quarterly, Bd. 71, Nr. 2, 2019, 337 – 342. M.S. Ein ähnlicher Ansatz, der sich nicht auf Protokolle konzentriert, wird 7 Wendy Hui Kyong Chun: in den CARE-Prinzipien der indigenen Datenverwaltung formuliert, die die Programmed Visions. Software and Memory, Cambridge (MA) 2011. Beziehungen zwischen den gesammelten Daten und dem Subjekt, von dem 92 ZfM 28, 1/2023 «DAS PROTOKOLL ERMÖGLICHT EINE BRUDERSCHAFT» sie gesammelt werden, betonen und das Recht des Subjekts hervorheben, Abb. 3 Grafik entworfen nach mitbestimmen zu können, wie die Daten gesammelt werden und zu welchem den CA RE-Prinzipien der Indigenous Data Governance Zweck sie verwendet werden.8 O.L. Als ich anfing, darüber nachzudenken, was eine Dekolonisierung von Abb. 4 Screenshot von Protokollen bedeuten könnte, wurde mir klar, dass wir, wenn wir es genau I ndigenous AI (24.1.2023) nehmen wollen, darüber nachdenken müssen, wie durch alle Schichten un- serer materiellen und mathematischen Konstruktionen oder technischen Er- findungen hindurch alles eine koloniale Geschichte hat, auch der Meter oder die Meile als Maßeinheit. An diesem Punkt habe ich mich gefragt, wie ein neues Regelwerk aussehen könnte, das postkoloniale Standards einführt, wie z. B. alternative Maße oder Vorschläge, wie man nicht nur misst, sondern wie man sich zur Welt verhält. Das ist es, was ich in diese Frage der kolonialen Praktiken von Standards und Protokollen einbringen kann: Neue Beziehun- gen wären notwendig – zum Boden, zur Erde. Ich denke, es gibt eine Rei- bung zwischen dem Messen oder der mathesis und anderen kosmologischen Ansätzen. Wo siehst du einen Ansatzpunkt für diese Diskussion? W.H.K.C. Wie du bereits erwähnt hast, gibt es die CARE-Prinzipien und ver- 8 Vgl. Stephanie Russo Carroll schiedene Formen der Offenheit. Eine andere Möglichkeit, über die Grenzen u. a.: The CARE Principles for Indig- enous Data Governance, in: Data verschiedener Regulierungspraktiken nachzudenken, sind die vielen Arten und Science Journal, Bd. 19, Nr. 43, 2020, Weisen, wie diese Praktiken versagen. 1 – 12, doi.org/10.5334/dsj-2020-043. 9 Vgl. Jason Edward Lewis u. a.: Es gibt auch Protokolle, die den Begriff der Universalität in Frage stellen. Indigenous Protocol and Artificial In- In Bezug auf Dekolonialität und Indigenous Studies gibt es das Indigenous AI telligence Position Paper, Honolulu 2020, doi.org/10.11573/spectrum. Protocol,9 ein faszinierendes Dokument, falls ihr es noch nicht gelesen habt, das library.concordia.ca.00986506. SCHWERPUNKT 93 WENDY HUI KYONG CHUN | MARY SHNAYIEN / OLIVER LEISTERT über verschiedene Möglichkeiten spricht, wie wir Verwandtschaften (kinship) mit unseren Maschinen herstellen sollten. Es gibt auch großartige Arbeiten, die sich mit den unbekannten und unbe- rechenbaren Räumen der Berechnung und des racial capitalism befassen, wie etwa Luciana Parisis Arbeiten mit Denise Ferriera da Silva und Ezekiel Dixon- Román.10 Parisis frühe Arbeiten haben gezeigt, wie alltägliche Algorithmen mit unberechenbaren Größen umgehen – jede endliche Rechenoperation stößt auf unendliche Operationen und Teile. Aus diesem Grund, so Parisi, sind sie spe- kulative Operatoren, die sowohl den Bereich der abstrakten Objekte als auch den des Zufalls ausloten. Unter der Oberfläche scheinbar allgegenwärtiger Rechenoperationen verbirgt sich also eine ‹ansteckende Architektur›11 unend- 10 Critical Computation Bureau: Editorial – Dialogues on Recursive licher Teile, die in jeder endlichen Operation e xplodieren. Algorithmen – Din- Colonialisms, Speculative Computa- ge, die scheinbar nur Befehle erteilen oder Befehle befolgen – offenbaren so, tion, and the Techno-social, in: E-Flux, Nr. 123, 2021, e-flux.com/ dass alle abstrakten Objekte eine Schicht von Potenzialitäten haben. Ausgehend journal/123 (5.1.2023). von Audre Lordes Erkenntnis, dass ‹die Werkzeuge des Meisters niemals das 11 Luciana Parisi: Contagious Architecture. Computation, Aesthetics, Haus des Meisters abreißen werden›, hat Parisi mit da Silva und Dixon-Román and Space, Cambridge (MA), zusammengearbeitet, um das Potenzial von B lackness innerhalb dieser Instru- London 2013. 12 Luciana Parisi, Denise Ferreira mentalisierung von Wissen zu untersuchen. Parisi und da Silva argumentieren da Silva: Black Feminist Tools, in einem gemeinsamen Artikel, dass nur aus der Position von «slave-machines» Critique, and Techno-poethics, in: E-Flux, Nr. 123, 2021, e-flux.com/ und «unorthodox models of computation» den Alptraumszenarien der Welt- journal/123/436929/black-feminist- zerstörung – die alle mit Macht und Ausbeutung zu tun haben – widerstanden tools-critique-and-techno-poethics (5.1.2023). werden kann.12 — 94 ZfM 28, 1/2023 — BILDSTRECKE ANTONIA BAEHR / JULE FLIERL / ISABELL SPENGLER / NADIA LAURO — Die Hörposaune Vorgestellt von PHILIPP HOHMANN Die Hörposaune (2022) ist ein Film und eine Performance; beide sind durch (hand-)schriftliche Handlungsanweisungen für Sprache, Gesang und Bewe- gung – Partituren / Scores – organisiert.1 Deren szenische wie filmische Insze- nierung bringt queere Körper(-verhältnisse) hervor. Das Publikum lauscht in der Performance über Kopfhörer den verstärkten und in ihrer Klanglichkeit gerade- zu haptischen Schmatz-, Sprech- und Atemgeräuschen der Performer*innen Jule Flierl und Werner Hirsch. In einer akustischen Einverleibung durch einge- führte Mikrofone erklingt gar der raunende Sound ihres Körperinneren. Der Film stellt über diesen Klang in einem Spiel mit der Trennung von Raum- und Sprachebene eine Verbindung von Innerstem und Äußerstem her: Das Grummeln des Körperinneren wird zum atmosphärischen Dröhnen ei- nes konturlosen schwarzen Raumes, der sich traumartig in die audiovisuelle Szenerie aus Teppich-Bühnenarchitektur, (Papier-)Körpern und Plexiglassphä- 1 Die Hörposaune – live, Konzept / ren einfügt. Die visuelle Bewegung von Kamera und Schnitt bildet darin einen Partituren / Regie: Antonia Baehr, Jule Flierl; Performance: Jule Flierl, eigenen Atem, die das sicht- und hörbare Atmen der Performer*innen in ihren Werner Hirsch; Visuelle Installation: Glashelme aufnimmt. Sich dreidimensional auffaltende Anatomie- und Dekor- Nadia Lauro; Die Hörposaune – Film, Regie: Isabell Spengler, Antonia aktionsbücher vermitteln in beiden Werken den Eindruck einer V orlesestunde Baehr, Jule Flierl; Kinematografie: und werden zugleich selbst als Körper erfahrbar, vermengen sich akustisch Bernadette Paassen. Im Folgenden werden auszugsweise Partituren mit ihrem fleischlichen Gegenüber (vorsichtiges Auf- und Zuklappen lässt die von Baehr und Flierl mit Fotografien Pappkonstruktionen knarzen), werden befühlt und animiert: Lungen falten sich (Anja Weber) der Performance ab- gebildet (vgl. 97 – 100), darauf folgen auf und zu, Mägen und Därme knurren, Blumenarrangements hecheln, blühen Konzept- und Storyboard-Zeich- als Genitalien auf. nungen von Isabell Spengler mit Stills des gleichnamigen Films (vgl. Die Hörposaune vermischt Körper aus Papier, Fleisch und Klang in der Inter- 101 – 104). Ausführlichere Angaben zu pretation notierter, dreidimensionaler und organisch-technischer Scores und Autor*innenschaften finden sich im Abbildungsverzeichnis. verunsichert so die konventionalisierte Lesbarkeit eines jeden (Buch-)Körpers in 2 Antke Engel: Queer / Assem- einer queeren Assemblage: 2 Explizite Anweisungen gegen implizite, normative blage. Begehren als Durchquerung multipler Herrschaftsverhältnisse, (Wahrnehmungs-)Protokolle. Die intermediale Konstellation der Arbeiten erwei- in: Isabell Lorey, Roberto Nigro, tert die Assemblage zum Auditiven, rückt mit der Übersetzung a isthetischer Di- Gerald Raunig (Hg.): Inventionen 1. Gemeinsam. Prekär. Potentia. Dis-/ mensionen dem Publikum durch die Ohren auf die Leiber. Das spürbare Begeh- Konjunktion. Ereignis. Transversalität. ren der Performer*innen, berührt zu werden und zu berühren, verhandelt nicht Queere Assemblagen, Zürich, Berlin 2011, 237 – 252. nur die sozio-ästhetische Konstitution von Körpern, es öffnet sie füreinander. — Die Bildstrecke wurde von Martin Adler und Philipp Hohmann gestaltet. 96 ZfM 28, 1/2023 — LABORGESPRÄCH Abb. 1 Undisciplined Toolkit, Le Signe – Centre National du Graphisme, September 2020, Ausstellungsansicht 106 ZfM 28, 1/2023 A N J A K A I S E R im Gespräch mit M A R E N H A F F K E und J A N A M A N G O L D RUTSCHIGE MEDIEN — Theoriereflexion, Feminismus und Aktivismus im Grafikdesign Die selbstständige Grafikdesignerin Anja Kaiser vertritt seit 2021 die Professur für Typografie an der Hochschule für Gestaltung und Buchkunst Leipzig. An Schnittstellen von Grafikdesign, Kunst und Aktivismus entwickelt sie vor dem Hintergrund feministischer Designgeschichte Methoden und Werkzeuge für un- diszipliniertes Gestalten. In ihren Projekten für Print und Digitalmedien reflektiert Kaiser die institutionellen, technischen und ökonomischen Bedingungen ästhe- tischer Vermittlungsarbeit, indem sie den modernistischen Standards von Les- barkeit, Funktionalität und Rationalität vielschichtige und vielstimmige, instabile und widerständige Texturen gegenüberstellt. Ihr 2021 gemeinsam mit Rebecca Stephany herausgegebenes Glossary of Undisciplined Design versammelt kollektiv erarbeitete Spekulationen und Interventionen, Genres und Narrative als kritische Arbeit am Kanon. In 55 Beiträgen präsentiert das Glossar anhand von Stichworten wie «C for Care Advice», «D for Dysfunctional Workplace», «F for Failing Queerly» und «U for Unstable Signs» ein offensiv fragmentarisches unpacking der Disziplin. Kaisers Arbeiten wurden international ausgestellt und ausgezeichnet, u. a. auf der Design-Biennale in Brno und in einer umfassenden Einzelausstellung im Le Signe – dem Centre National du Graphisme in Chaumont. 2017 erhielt sie den ‹ INFORM. Preis für konzeptuelles Gestalten› der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig. Im Gespräch, das Maren Haffke und Jana Mangold im September 2022 mit ihr geführt haben, gibt Anja Kaiser Einblicke in ihre gestalterische und aktivis tische Praxis. Eine Unterhaltung über die messy histories der Designtheorie, über Ökonomisierung und Demokratisierung digitaler Tools, über die Potenziale solidarischer Ästhetik und über Barrierefreiheit. — LABORGESPRÄCH 107 ANJA KAISER | MAREN HAFFKE / JANA MANGOLD Jana Mangold Man könnte sagen, Typografie ist immer schon Mediendenken. Gestaltende fragen sich: Was leistet ein Medium, und was leistet es nicht? Lassen sich Möglichkeiten und Grenzen von Medien und Formaten erken- nen, erweitern oder auch drehen? Was ist für dich eine zentrale Medien- eigenschaft der Typografie? Anja Kaiser Ich spreche gern von einem visuellen Übersetzen. So verstehe ich eigentlich das typografische Gestalten. Es geht darum, aus einem Projekt h eraus zu übersetzen. Das sind immer sehr spezifische Entscheidungen. Aus meiner ei- genen Praxis interessiert mich stark die Frage: Was sind konventionelle Medien für das Veröffentlichen, und welche Medien ließen sich für das je spezifische Vorhaben besetzen oder vielleicht auch umnutzen, die weniger erwartbar sind, aber die dialogisch funktionieren oder die die Ansprache suchen? Grafikdesign wird oft fälschlicherweise als formal ausführende Tätigkeit begriffen. Jemand kommt und wendet sich schon mit einer konkreten Gestal- tungsidee an dich. Und man muss erstmal sagen: Okay, stopp. Lass uns darüber sprechen, was ihr gerade macht und was euch beschäftigt. Maren Haffke Im Projekt Glossary of Undisciplined Design 1 scheint es ja ge- rade auch um Reibungen und Kommentierungsverfahren zu gehen, bis hin zu Interventionen, die sichtbar machen, welche Zugänge durch Gestaltung verstellt werden – eine Reflexion dessen, was in bestimmten Formen der Aufbereitung denkbar oder nicht denkbar ist. Kannst du erzählen, wie es zu diesem Projekt kam? A.K. Das Glossary of Undisciplined Design ist im Rahmen des INFORM-Preises ent- standen, den ich 2017 von der Galerie für Zeitgenössische Kunst L eipzig (GfZK) erhalten habe. Das ist ein Preis für konzeptuelles Gestalten an der Schnittstelle von Kunst und Grafikdesign. Die damalige Neuproduktion hat mich vor viele Fragen gestellt. Der hack war für mich schließlich, die Institution als ein Ver- öffentlichungsmedium zu verstehen, wie das Buch oder wie ein Plakat. Und da raus ist dann ein Projekt entstanden,2 zu dem begleitend noch ein Vortrag ge- halten werden sollte, in dem ich etwas aus meiner Praxis erzählen würde. Aber ich wollte keine Portfolioshow abhalten, von der man im Grafikdesign übli- cherweise ausgeht: Man zeigt einen Auftrag nach dem nächsten und erklärt, wie dieser grafisch gelöst wurde. Allerdings ist die Präsentation der Lösungsansätze, der happy endings, eigentlich nicht das Interessante, sondern folgt lediglich dem 1 Anja Kaiser, Rebecca Stephany Versprechen, Grafikdesigner*innen würden jedes Problem zielorientiert in ein (Hg.): Glossary of Undisciplined Design, Leipzig 2021, spectorbooks.com/ gestaltetes Medium übersetzen. In dem Moment dachte ich deshalb, da hat sich book/glossary-of-undisciplined-design so eine Form eingeschliffen, die wir doch nochmal in Frage stellen, also auch (13.1.2023). 2 Whose.Agency (2018 – 2019), ein als Gestaltungsgegenstand begreifen können. Also habe ich Rebecca Stephany widerständiges feministisches Klein- eingeladen, die zurzeit Professorin in Kassel ist und dort redaktionelles Gestal- anzeigenformat, vgl. die Darstellung auf der Internetseite der GfZK, ten unterrichtet, um über Konstellationen und Prozesse hinter den Projekten zu gfzk.de/2018/deinform-preistraegerin- sprechen. Und daraufhin haben wir sehr intuitiv einen Vortrag konzipiert, in dem anja-kaiser sowie die Projektprä- sentation unter www.whose.agency es darum ging zu fragen: Durch welche Konventionen und Traditionen in der (13.1.2023). 108 ZfM 28, 1/2023 RUTSCHIGE MEDIEN Gestaltungslehre sind wir eigentlich selbst gegangen und wie müssen wir diese aus der Gegenwart hinterfragen? Auf welche Referenzen beziehen wir uns? Und wir haben gemeinsam unsere Projekte reflektiert und versucht, Arbeitsbegriffe zu finden und zu schärfen. So haben wir z. B. messy history aufgegriffen, also: Was ist eigentlich die traditionelle Designgeschichte, die einem als Kanon präsentiert wird? Oder wir haben darüber gesprochen: Wie kann man Medien gestalten, die ‹rutschiger› sind? Bei denen ich nicht schon, bevor ich mich konzeptionell oder erzählerisch in das Gestalten und Übersetzen stürze, weiß, was das Medium ist, sondern ich muss es vielleicht noch in der jeweiligen Logik erfinden. Auch ein T-Shirt oder Telefonbuch kann als Veröffentlichungsmedium fungieren. Natür- lich spielte auch unsere feministische Positionierung eine große Rolle, und wir haben mit dem Vortrag großes Interesse geweckt. Anschließend schlug uns die Direktorin der GfZK, Franciska Zólyom vor, ein Symposium zu konzipieren. Wir hatten ja im Vortrag über Forscher*innen, Pädagog*innen und Gestalter*innen aus verschiedenen Generationen gesprochen, die unsere Praxen geprägt haben. Und diese wollten wir nun auch zum Symposium einladen mit der Bitte, ihre Arbeitsbegriffe mitzubringen.3 Konventionelle Arbeitsbegriffe im Grafikdesign wären: das Raster, die Schriftklassifikation usw. Demgegenüber kamen bei un- serem Symposium Arbeitsbegriffe über Allianzen, fürsorgliche Design praktiken, solidarische Medien und kritische Umarmungen zusammen. Das viertägige Symposium haben wir als eine Art ‹Redaktionsmaschine› verstanden. Wir haben Studierende eingeladen, das Symposium als solches in seiner Konzeption mitzubearbeiten. Es sollte Logiken der Frontalpräsentation 3 Darunter Sheila Levrant de brechen, aber auch die Zwischenzeiten wie Pausen mitdenken und gestalten. B retteville (USA), die seit den 1960 / 70er Jahren den Diskurs Daraufhin haben Studierende zahlreiche partizipative Formate entwickelt.4 um feministisches Grafikdesign Von Anfang an sollten sich alle Beteiligten eingeladen fühlen, ihre Arbeitsbe- grundlegend geprägt hat. Außerdem eingeladen waren Ece Canlı (Portu- griffe mit uns in den Buchkörper des Glossary of Undisciplined Design zu überfüh- gal), Sara Kaaman (Schweden) sowie ren. Ein Glossar bezieht sich ja eigentlich immer auf einen Haupttext. Es bietet Clara Balaguer, Hackers & Design- ers | Anja Groten & Juliette Lizotte Referenzmaterial oder eine Begriffsklärung, um den Haupttext lesbar zu halten, und Jungmyung Lee (alle aus den zu vertiefen oder zu kommentieren. Der Haupttext ist für uns die Disziplin des Niederlanden). 4 Stellvertretend für viele Grafikdesigns, wie wir sie selber gelehrt bekommen haben und wie wir sie als weitere seien hier genannt: «Posing Wissen an Kunsthochschulen vorfinden. Und wir heften dieser Disziplin mit all questions on failure, weakness and dilettantism» – Vortrag und ihren Konventionen, Themen und Regeln jetzt mal andere Arbeitsbegriffe und Veröffentlichung von Hanna Müller Erläuterungen an. Mit 52 Beiträgen von 23 internationalen Designer*innen, und Mio Kojima mit Juliana Vargas Zapata und Severin Geißler; «B for Aktivist*innen, Pädagog*innen und Theoretiker*innen auf 312 Seiten erforscht Blanketing» – partizipative Installa- das Glossary of Undisciplined Design Undisziplinarität als eine feministische Aus- tion von Juliana Vargas Zapata und Juliane Schmitt; «U for Undisciplined einandersetzung mit dem Feld des Grafikdesigns, unhinterfragten Regeln und Charade» – Edutainment-Format diskriminierenden Strukturen. Severin Geißler, Hanna Müller and Kathrin Rüll; «G for G.A.S. (Das Grübeln / Die Arbeitswut / Das M.H. Es geht mit dem Glossar also darum, frontale und einstimmige Verfah- Stundenhotel)» – Performance von Juliane Schmitt; «A for about- ren in installative Konstellationen und vielstimmige Prozesse zu überführen. turn» – Symposiumsszenografie von Epistemologische, technische, historische, materielle und körperliche An- Diane Hillebrand, Teresa Häußler und Florian Knöbl. ordnungen werden durchgearbeitet als eine Reaktion auf eine herkömmliche LABORGESPRÄCH 109 ANJA KAISER | MAREN HAFFKE / JANA MANGOLD Art zu vermitteln. Wie bist du an den Punkt gekommen, an dem das für deine Arbeit wichtig wurde? A.K. Ich bin selber durch eine konventionelle typografische Lehre gegangen, mit Fragen wie: Wie wird Schrift klassifiziert? Wie werden Schriften in Mi- schung zueinander gebracht? Wie werden Gestaltungsraster erstellt, und wie lassen sich typografische Hierarchien ausformulieren? Im tonangebenden mo- dernistischen Designverständnis gibt es Regeln der ‹guten Typografie›. Ins Schlittern bin ich geraten, als ich für mein Masterstudium in die Niederlande gegangen bin, wo ich mich quasi in einem anderen Bezugssystem wiederfand. Es war ein sehr internationaler Studiengang. Dort galt ich als die traditionelle, ordentliche deutsche Typografin. In den Niederlanden gab es eine viel größere Freizügigkeit im gestalterischen Denken im Vergleich zu meiner Ausbildung zuvor. Es ging da nicht darum, Meisterin eines Handwerks zu sein, sondern das relationale Erzählen in den Fokus zu stellen. Und das hat mich enorm ge- prägt. Wenn ich mich z. B. mit technologisch vermittelten Fragestellungen im Feminismus beschäftige, dann ist die Umgebung, in der ich da kommuniziere, vielleicht eine Plattform wie tumblr, und dann muss ich eben genau an diesem Ort über Erzählstrategien nachdenken. Es war eine enorme Bereicherung, in- nerhalb einer sehr internationalen Studierendenschaft zu sein und festzustellen: Wenn wir über unsere visuellen Referenzen und Codes sprechen, dann müssen wir uns ungemein viel erzählen und zeigen, um diese zu verstehen. Ich habe auch angefangen, visuelle Alltagskultur genauer zu dokumentieren und in mei- ne Gestaltung einzubeziehen: Referenzen aus der Popkultur, Werbeästhetik, feministische Gesellschaftskritik und Gestaltung von Menschen, die nicht ‹pro- fessionell› als Gestalter*innen trainiert sind. Natürlich hilft es einem zunächst, so ein Regelwerk, so ein Gerüst zu haben, an dem man sich langhangelt. Aber es sollte keine unumstößliche Wahrheit sein. M.H. Durch deine künstlerisch-aktivistische Praxis in vernetzten digitalen Räumen hast du es ja auch mit verschiedensten Anschlussstellen zu tun: Templates, Standards, Formate, Protokolle, Interfaces usw. Das geht einer- seits in den Bereich der Programmierung, aber andererseits auch in den Be- reich ökonomischer Standards, die implementiert werden. Bis dahin, dass die Programme nur noch als Abonnements vorliegen. Und um da zu intervenie- ren, gibt es ja auch ganz unterschiedliche Ansatzpunkte, an denen man sich abarbeiten muss. Wie gehst du damit um? A.K. Das ist tatsächlich eine Schwierigkeit. Schon in der Lehre werden Bedingun- gen gelegt. Zum Beispiel wird ein bestimmtes Softwarepaket vermittelt, das von ausschließlich einem Konzern entwickelt und verwaltet wird. Es gibt Software, die monopolartig auf dem Markt steht, die Dateiformat-Standards bestimmt, aber auch an die Workflows von Druckmaschinen angeschlossen ist, sodass du mittlerweile in Schwierigkeiten gerätst, wenn du andere Gestaltungsprogram- me verwendest, weil du die Standards in der Produktion nicht erfüllst. Diese 110 ZfM 28, 1/2023 RUTSCHIGE MEDIEN Abb. 2 Glossary of Undisciplined Design, März 2021, Buchübersicht LABORGESPRÄCH 111 ANJA KAISER | MAREN HAFFKE / JANA MANGOLD Entwicklung hat in den letzten Jahren rasant zugenommen. Der Hersteller*innen bestimmen Lizenz- und Speichermodelle z. B. über Cloud-Funktionen, Miet- modelle und nimmt starken Einfluss auf unsere individuellen Workflows bzw. verunmöglicht diese. Gleichzeitig ist dadurch eine Bewegung in der Gestaltungs- szene entfacht worden, die sich zum Ziel gesetzt hat, vermehrt eigene, freie oder kostengünstigere Software zu bauen und diese auch mit einer Community wei- terzuentwickeln.5 Ich beobachte auch eine Demokratisierung der digitalen Tools, nur dass diese selten an weiterverarbeitende Schnittstellen anschließen können. Zahlreiche Programme bieten heute Gestaltungsvorlagen an. Und ich finde, es ist auch total wichtig, sich diese anzuschauen, um zu verstehen, was da eigentlich für Verfasstheiten drinstecken. Ich überprüfe permanent, was es für frei zugäng- liche Software gibt. Was kann ich davon lernen, oder was muss ich davon wissen, um die visuelle Sprache interpretieren und auf diese Codes reagieren zu können? Ich nehme auf jeden Fall die Open-Source-Bewegung sehr stark wahr, und gleichzeitig merkt man natürlich im alltäglichen Geschäft: Du musst Daten an die Druckerei weitergeben, um das produzieren zu können, und es sind viel- leicht umfangreiche Kataloge, da gehen große Summen über den Tisch. Mit einer Software zu arbeiten, die dann als Schnittstelle zum nächsten Workflow nicht kooperieren kann, ist enorm problematisch in der Praxis. Es ist ja teuer geworden, Bücher zu produzieren. Die Papierpreise sind seit der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine in die Höhe geschossen. Druckereien, v. a. mittel- ständische, kleine Druckereien, sind von Insolvenz bedroht. Derweil finden sich mehr und mehr Online-Druckereien, von denen wir gar nicht mehr wissen, wo diese produzieren. Wer druckt dort? Und unter welchen Arbeitsbedingungen? Als Gestalterin bin ich an diesen Prozessen beteiligt und auch verantwortlich, eine lokale Zusammenarbeit z. B. gegenüber meinen Auftraggeber*innen zu vermitteln und einzufädeln. Darüber hinaus möchte ich mich eigentlich nicht von Hersteller*innen wie Adobe Inc. abhängig machen, um meine Praxis aus- zuüben. Denn diese würden ja letztlich auch meine Preispolitik bestimmen. Im Gestaltungsbereich ist prinzipiell das Bereichernde, dass es so viele fachspezi- fische Professionalisierungen gibt. In meiner Arbeit möchte ich mit Low- und Pro-Software von verschiedensten Produzent*innen arbeiten, mit spezialisier- ten Druckereien und maßgeschneiderten Schriften, die ein*e Schriftgestalter*in in Präzisionsarbeit über Monate hinweg entwickelt hat. Und gleichzeitig merke ich, dass dies Spannungen erzeugt: Wer hat eigentlich noch die budgetären 5 Open Source Publishing Mittel, solch ein Kooperieren zu ermöglichen? (OSP) ist ein in Brüssel ansässiges Designteam, das in der Praxis Free Libre and Open Source Software M.H. Das ist faszinierend, denn es gibt in der Medienwissenschaft und in der (FLOSS), lizenzfreie Schriften und Copyleft-Lizenzen anwendet. Das Musik diese Romantisierung des Programmierens, das in der Musikpro- Ziel ist es, Gestaltung und Werk- duktion tatsächlich einer der wenigen Wege ist, um digital aus bestimmten zeuge – wenn immer möglich – als Quell material zur Verfügung Rastern zu kommen. Zugleich sehen wir viele wichtige ästhetische Impulse, zu stellen und zu versuchen, die von Leuten kommen, die Programme nutzen, die eingebaut sind in die Auftraggeber*innen davon zu überzeugen, dasselbe zu tun. Vgl. consumer technology. Wie im «graphic design is my passion»-Meme, mit www.osp.kitchen. 112 ZfM 28, 1/2023 RUTSCHIGE MEDIEN missmatched-Fonts und Wobble-Logos, das für diese Demokratisierung steht, die auch relevant scheint für Entwicklungen an Schnittstellen von ge- stalterischer Sprache und Technologie. A.K. Ja, das ist interessant, dass du das so explizit sagst. Software zur Schrift- gestaltung wurde demokratisiert, und ich kenne kaum noch Studierende, die noch nicht eine Schrift gestaltet haben. Diese Generation ist viel vertrauter im Umgang mit Technologie und überschreitet selbstverständlich disziplinäre ‹Grenzen›. Ich beobachte eine große Experimentierfreude und Schwemme an Schriften, die sich bis hin zur Unleserlichkeit austobt. J.M. Wie seid ihr gerade auch hinsichtlich der verschiedenen Interventions- möglichkeiten im Gestaltungsbereich beim Glossary of Undisciplined Design vorgegangen? Ihr habt ja das Symposium am Vorabend der Covid-19-Pan- demie abgehalten. Und dann musste das Buch während der Zeit von Wellen, Lockdowns und ausgebremsten Arbeitszusammenhängen erstellt werden. A.K. Mit dem Skelett von ca. 20 Glossarbegriffen aus unserem Vortrag und den Begriffen der Studierenden und Vortragenden des Symposiums war es uns wichtig, eine Großzügigkeit in der Form walten zu lassen. Wir sagten: Wenn es deinem Arbeitsbegriff entspricht, wissenschaftlich darüber zu schreiben, dann bist du gern dazu eingeladen. Aber wenn es einen Foto-Essay benötigt, um die Erzählung zu artikulieren, oder eine Bedienungsanleitung oder eine Anzeigensetzung, dann entspricht gerade diese Vielstimmigkeit den Überset- zungen in unserem Glossar. Rebecca und ich hätten als Herausgeberinnen und Gestalterinnen das gesam- te Buch selbst gestalten können. Aber wenn wir es eigentlich mit einem Ka- non, einem Regelwerk, zu tun haben, das sehr unumstößlich mit einer Stimme spricht, sollte es dann Sinn ergeben, dass wir das Buch allein gestalten? Rebecca hat von Anbeginn stark dafür plädiert, dass wir alle, die wollen, befähigen müs- sen, ihre Beiträge selbst zu gestalten. Was mir erst einmal Sorge bereitet hat, denn ich hatte keine Erfahrung oder ein Rezept für die Buchgestaltung mit so vielen Beteiligten. Wir mussten zumindest ein Skelett, eine Dramaturgie und eine Strukturierung vorab konzipieren. Das heißt, wir mussten uns, bevor wir die Inhalte tatsächlich hatten, schon auf gewisse Parameter einigen. Es benötigte einen Seitenplan, um den Umfang der Beiträge zu vergeben und produktions- technische Bedingungen zu klären. Dann wollten wir eigentlich auch an diese Grundsubstanz der Produktion ran. Anstatt mit den üblichen Standarddruck- farben CMYK zu arbeiten, haben wir uns ein spezifisches Farbprofil anfertigen lassen, mit nur drei Sonderfarben, was auch ein Stück weit ökonomischer ist, weil eine Druckfarbe wegfällt. Deswegen brauchte es auch ein Handbuch für alle Beteiligten, welches diesen Workflow erklärt und Gestaltungsmöglichkei- ten vorstellt. Das war schon ein enormer kommunikativer Aufwand. Aber im Prinzip hat uns die Pandemie erst ermöglicht, diese zahlreichen Gespräche ohne große Ablenkung zu führen, wenn auch bedauerlicherweise nur digital. LABORGESPRÄCH 113 ANJA KAISER | MAREN HAFFKE / JANA MANGOLD Abb. 3 Whose.Agency, Leipzig 2019, digitale Anzeigenkampagne im öffentlichen Raum, http://whose.agency 114 ZfM 28, 1/2023 RUTSCHIGE MEDIEN Wir wussten von Anfang an, wir wollen das Glossar in ein kleines handliches Format übersetzen, das sich kostentechnisch gut auf der Druckmaschine aus- geht, das aber auch jederzeit zur Anwendung kommen kann, um es in Bezug zu anderen Büchern zu lesen, wie z. B. neben der Detailtypographie. Nachschlagewerk für alle Fragen zu Schrift und Satz. Das Glossar sollte auch keinen festen Einband bekommen und wir entschieden uns für ein poröses, flexibles Umschlagmaterial. Die Herausforderung und das Gute zugleich war, nicht zu wissen, was es be- deuten würde, so viele gleichzeitig an dem Buchprojekt als Gestalter*innen und Autor*innen zu beteiligen. Und es wurde deutlich, diese gemeinschaftlichen und kollektiven Arbeitsprozesse konnten wir nur leisten, weil wir beide gerade an Hochschulen tätig waren und uns diesen Forschungsfreiraum nehmen konnten. Aber wenn ich bedenke, in einem Jahr bin ich wieder selbstständig: Aus dieser Position wäre es unmöglich, so ein Projekt umzusetzen. J.M. Was du zuletzt über die Form gesagt hast, ist mir sofort aufgefallen, als ich das Glossary of Undisciplined Design an der Unibibliothek aus dem Regal gezogen habe. Es stand dort zwischen lauter ‹dicken Kloppern›. Ein Glossar ist ja auch ein Genre, das dazwischensteht. Ständig mischen sich neue Stim- men ein und es kann nie diesen enzyklopädischen Anspruch einlösen.6 Im Vergleich zu anderen neueren Publikationen, die einen ähnlichen integrie- renden Ansatz im Hinblick auf die Designgeschichtsschreibung und Barrie- ren aller Art haben,7 ist euer Glossary ja auch ein Spiel, auch ganz viel Gestal- tungsangebot anstelle eines Lehrbuchs. A.K. Uns war das auch total wichtig, denn es ist ja das Repertoire, das das Grafik- design bietet: bildhaft zu formulieren, doppelte Beschreibungen vorzuneh- men – es gibt auch Glossarbegriffe, die tauchen mehrfach auf und die sind un- terschiedlich definiert – oder bewusst für Lücken zu sorgen. Wir wollten viele gestalterische Sprachen aufnehmen. Bei anderen Publikationen gibt es meist ein Gestaltungskonzept, das durchformuliert ist, mit einer bestimmten ästhetischen Aufladung. Bei unserem Buch wird ein akademischer Text auf einmal zu einem Patchwork oder zu einer Collage, oder eine Erzählung wird selbstverständlich zu einem Gedicht. Und dabei funktioniert das Glossary of Undisciplined Design auch rein ästhetisch – wie ein lookbook. Es ist aber auch ein Handbuch, das ich zu Rate ziehen kann, wenn ich mich gerade Gestaltung nähere und verstehen will, 6 Vgl. Cornelia Vismann: Benjamin als Kommentator, in: Eva was passiert, wenn ich etwas in eine andere Form überführe. Ein Handbuch, das Horn, Bettine Menke, Christoph sehr viele Angebote macht und selbstverständlich fabuliert, statt zu behaupten, Menke (Hg.): Literatur als Philosophie. Philosophie als Literatur, München eine Antwort auf all diese unterschiedlichen Sprechakte zu haben. 2006, 347 – 362; Markus Krajewski, Rebecca und ich fanden es ganz wichtig, dass das Glossary of Undisciplined Cornelia Vismann: Kommentar, Code und Kodifikation, in: Zeitschrift Design ein Buch wird, das wir in einer möglichst hohen Auflage produzieren und für Ideengeschichte, Jg. 3, Nr. 1, in die Bibliotheken bringen. Denn diese feministischen G estaltungsdiskurse Frühjahr 2009, 5 – 16. 7 Vgl. etwa Ellen Lupton u. a.: gibt es ja schon viel länger und nicht erst seit gestern. Aber wenn wir in den Extra Bold. A Feminist, Inclusive, Bibliotheken unsere Semesterapparate zusammenstellen, finden wir viele der Anti-Racist, Non-Binary Field Guide for Graphic Designers, Hudson 2021. Quellen und Referenzen nicht. LABORGESPRÄCH 115 ANJA KAISER | MAREN HAFFKE / JANA MANGOLD M.H. Es funktioniert damit ja auch als Reparatur am Kanon. Ihr sagt, es gibt feministische Designgeschichte, die in den Archiven aber eine Lücke ist. Ihr bezieht euch auf diese Arbeiten und vermittelt sie dabei.8 Ich finde es inter- essant, dass ihr das mit dem Glossar-Format erzählbar macht, indem ihr die Lücke gleichzeitig noch miterzählt. A.K. Ja, es war uns z. B. wichtig, den Text über messy histories zu schreiben und auch auf Texte aus den 80ern, 90ern zu verweisen. Rebecca und ich haben uns in den letzten Jahren Semesterapparate und Textsammlungen erarbeitet, die sehr stark von den Klassikern abweichen, die wir selbst vorgesetzt bekamen. Und für dieses Buch wollten wir uns auch auf andere Generationen beziehen und die bereits geführten Diskurse sichtbar machen: welche Texte entstanden sind und wer sich auf wen bezogen hat und was jetzt in der Gegenwart von die- sen Reflexionen bleibt. Und was uns im Buch wichtig war, ist, sich bewusst von anderen Bereichen und Stimmen inspirieren zu lassen und davon auch Methoden und Strategien für das grafische Gestalten abzuleiten. Mit Undiszipliniertheit nehmen wir Bezug auf den US-amerikanischen Kultur- und Literaturwissenschaftler Jack Judith Halberstam.9 Auf den Begriff «undisciplined knowledge» sind wir zum ersten Mal in dessen Buch The Queer Art of Failure gestoßen. Halberstams Plädoyer für eine ‹queere Kunst des Scheiterns› zeigt das Potenzial der Verweigerung gesell- schaftlich normierter Erwartungen an unsere Körper, unsere Identitäten, und überträgt dies auf die akademische Wissensproduktion. Wir haben uns gefragt: Wenn Jack Halberstam in unserer Disziplin säße, was würde das dann eigentlich bedeuten? Da versuchen wir auch, Lust am Denken und am Ausstatten dieser Werkzeugkoffer neu möglich zu machen. J.M. Für die Lehre ist das ja eine große Frage: Wie verlernt man den Kanon? Indem man den neu Dazukommenden gar keinen Kanon gibt? Oder indem man ihn gibt, um dann die Abweichung zu fördern? Kann ich nur in Formen der Nachahmung zu Neuem kommen? Oder bringst du Studierende in einen weißen Raum und dann sollen sie mal loslegen? A.K. Da habe ich auch keine so konkrete Antwort drauf. Ich glaube, man muss Lehre eigentlich viel ganzheitlicher denken. Ich habe einen Workshop mit Stu- dierenden hier in Leipzig entwickelt, der hieß «Dirty Typography», und das 8 Vgl. die Einträge im Glossary war eine riesige Freude, weil wir einen konkreten Ausgangstext transkribiert of Undisciplined Design (wenn nicht haben. Dabei haben wir überlegt: Wer sendet und wer empfängt? Und durch anders angegeben von Hg.): «O for Once Upon a Time» (von Sara welche Parameter kann die Transkription beeinflusst werden? Das heißt, es Kaaman, 21 – 30), «U for Unstable wurde klar, dass dieser Text, der eigentlich ja für alle der gleiche ist, durch ver- Signs» (65 – 68), «B for Binary Burden of Birthing» (69 – 75), «P for Playing schiedene Transkriptionsszenarien total viele verschiedene Varianten im Emp- Fast and Loose with Tools» (91 – 96), fang ergibt, je nachdem wie ich ihn sende und mit welcher Sensibilität oder aus «R for Relationality» (99 – 103), «M for Master’s Tools Monster’s welcher Position heraus ich empfange. Dann sind wir dazu übergegangen, den Tools» (von Ece Canlı, 109 – 120), Text zu lesen und dabei alles, was man an sich selbst als vermeintlich schlechtes «M for Messy Histories» (179 – 184). 9 Jack Halberstam: The Queer Art Leseverhalten wahrgenommen hat, bewusst zu dokumentieren. Und daraufhin of Failure, Durham 2011. 116 ZfM 28, 1/2023 RUTSCHIGE MEDIEN wurde der Text erneut typografisch inszeniert. Es ging darum, genau darauf zu achten: Was sind die Dinge, die ich nicht verstehe, oder wo sind die Momente, in denen ich abschweife, und was würde das typografisch bedeuten? Das könnte so eine Grundlage sein, die nicht vom vermeintlichen Kanon guter Gestaltung ausgeht, sondern erst einmal fragt, mit welchem Verständnis und Anspruch wir uns einem Text nähern, und dies sehbar und gestaltbar zu machen versucht. Sich anzugucken: Was bleibt eigentlich hängen? Und was wäre jetzt eigent- lich wichtig und wie kannst du das typografisch sichtbar machen? Das ist ja am Ende die Frage. Und in der Lehre habe ich oft das Gefühl, dass sich am allerbesten ausgeht – wovon ich auch am meisten profitiert habe –, wenn viele unterschiedliche Lehrende zuständig sind, die nie die gleichen Fragen stellen oder auf die gleichen Konzepte pochen. Das Beste wäre, wenn wir viele unterschiedliche Lehrende wären, die das auch untereinander aushalten, unterschiedliche Antworten zu geben. Von der Infrastruktur der Hochschulen her gibt es oft gar nicht die Möglichkeiten. Das sehe ich z. B. gerade als eine echte Herausforderung: Erstmals unterrichte ich in so einem Klassenprinzip, und ich habe nicht viele Ressourcen, andere Positi- onen einzuladen. Und den Studierenden muss ich klar machen: Ich bin ja auch nur ein Filter, der mit einem gewissen Verständnis deine Arbeit befragen kann. Also ich würde mir eigentlich wünschen, dass wir mehr wären, um da so in Irri- tationen und Widersprüche zu geraten. M.H. Das interessiert mich auch hinsichtlich bestimmter Gestaltungsästhetiken. Du hattest eben tumblr feminism als eine Inspiration genannt und mit dem Be- griff verbindet man ja u. a. einen Fotografiediskurs, bei dem es stark um girlhood geht, um Weichheit, um Sanftheiten. Bei den Arbeiten, die du beschrieben hast, scheint es jedoch stark ums Reingrätschen zu gehen, um glitches, boldness und Härte. Kannst du etwas über die Wahl deiner Mittel sagen? A.K. Es ist mir auf jeden Fall ein großes Anliegen, bold zu sein. Laut und kräftig. Das hat auch viel mit meinem eigenen feministischen, politischen Background zu tun. Ich hatte immer das Gefühl, wir müssen uns ermächtigen, bestärken, Platz einnehmen und diesen behaupten und verteidigen. Das interessiert mich auch visuell: Wie kann ich Platz einnehmen? Und ganz wichtig finde ich, in so einer typografischen Vielstimmigkeit zu arbeiten, also nicht nur eine Kom- position zu erarbeiten, die eine größtmögliche Vereinfachung mit sich bringt, sodass sich möglichst schnell eine Leserlichkeit herstellt, sondern dass ich fast schon so verdichtet und vielschichtig in der Typografie arbeite, dass eher ein Bild daraus entsteht. Dabei steht ein ‹Vorne› und ‹Hinten› und was davon ei- gentlich lauter ist, immer in Abhängigkeiten. Ich möchte gerade nicht die D inge schälen und schälen, bis nur noch das Eine übrig bleibt, sondern eher fragen: Wie müssen die verschiedenen textlichen Informationen, die verschie- denen typografischen Gesten denn zusammenkommen, damit sie anfangen, miteinander zu sprechen? Das sind komplexer gestaltete Kompositionen. Sie LABORGESPRÄCH 117 ANJA KAISER | MAREN HAFFKE / JANA MANGOLD brauchen in ihrem Gelesen-Werden mit Sicherheit auch länger. Das ist ja auch beim Glossar manchmal schwierig. Und ich verstehe auch, dass es manchmal nervt. Aber vor allem bei Ankündigungen ist mir so eine Aufladung wichtig. Und diese ästhetische Hülle führt dann dazu, dass ich das, worum es geht, tiefer betrachten möchte, weil es hoffentlich zu mir spricht – egal ob es fürsorglich oder anstrengend zu mir spricht. Diese experimentellen Ansätze betreffen Kontexte, die Fragen nach der Zu- gänglichkeit auch aushalten müssen, weil auch die Frage ist, ob die Dinge, über die wir sprechen und zu denen wir einladen wollen, für alle zugänglich sind. Vielleicht muss man es also aushalten, dass man bestimmte Zugänge nicht legt oder auch mal eher emotionale Zugänge legt, als sich auf eine vermeintliche Rationalität zurückzulehnen. Mit Sicherheit ist mein Verständnis nicht für alle leserlich in allen unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Das sind ja auch Behauptungen, die aus einem sehr westlichen, eurozentristischen Verständnis kommen. Das darf man auch in Frage stellen. J.M. Die Frage der Barrierefreiheit, die durch unsere digitalen Kommunika- tionsformen ja inzwischen auch alle viel unmittelbarer z. B. durch Content- Management-Systeme am Arbeitsplatz betrifft, stellt sich anhand deiner A rbeiten tatsächlich schnell ein. Wie gehst du an diesen Anspruch heran? A.K. Ich glaube, wir finden keine Gestaltung, die an alle kommuniziert. Aber wir können mit Sicherheit Varianten von Dingen andenken. Die Frage ist aber, ob wir die Bereitschaft für Varianten mitbringen? Für die Kunsthalle O snabrück haben wir z. B. eine Webseite gestaltet, die manche Menschen sicher total un- gewöhnlich und anstrengend finden.10 Die Kunsthalle unterscheidet nicht län- ger zwischen dem Ausstellen und dem Vermitteln. Und unsere Webseite ver- sucht diese Setzung sichtbar zu machen. Sie funktioniert deswegen wie eine große Tabelle, die nur zeitlich ordnet, da stehen die Ausstellungen dann neben der Vermittlung, das ganze Programm ist ineinandergemischt. Das führt natür- lich zu Reibungen und Problemen, weil Menschen mit einer gewissen Logik trainiert sind für Kunstinstitutionen. Und jetzt kommen sie auf die Seite und müssen das neu erarbeiten oder denken: «Oh. – Jetzt muss ich da vielleicht mal anrufen oder dahin gehen.» Und als Kommunikationsdesignerin denke ich: Das ist doch auch gut, wenn du in Kontakt trittst und verstehst, da läuft etwas nicht so, wie du es kennst. Und zugleich muss man sich darüber im Klaren sein, dass das auch Ausgrenzungen schafft – dann brauchen wir vielleicht eine Ein- ladungskarte für diese Menschen. Wir haben so viele Medien, mit denen wir sprechen und gestalten können, dass ich glaube, dass wir Antworten auf solche Fragen haben, aber wir haben eben keine Antworten in dem Rationalisieren 10 Vgl. kunsthalle.osnabrueck.de von Kommunikationswegen. Die Kunsthalle Osnabrück hat sich z. B. entschie- zur visuellen Konzeption in Zusam- menarbeit mit Grafikdesignerin den, alles in einfacher Sprache zu formulieren und mit einem Doppelpunkt zu Franziska Leiste, Programmierung gendern, weil sie viele Künstler*innen vertritt, die sich nicht einer cis-hetero- UX-Design Liebermann Kiepe Reddemann – Interdisciplinary normativen Idee zuschreiben. Design Studio. 118 ZfM 28, 1/2023 RUTSCHIGE MEDIEN Abb. 4 Whose.Agency, Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, 2019, Ausstellungsansicht LABORGESPRÄCH 119 ANJA KAISER | MAREN HAFFKE / JANA MANGOLD Für das Jahresthema «Barrierefreiheit» haben wir 2021 die Webseite in zwei Varianten veröffentlicht. Es gibt einen Button «Design» und die Gestaltung baut sich etappenweise ab. Und ich kann das am Screen nachvollziehen, bis die Formatierung wie für einen Screen-Reader aufbereitet ist. Ich sehe, wie ein hierarchisches System von Tabs geht, eine Struktur, die ich mir als Variante angucken kann. Ich bin sehr dankbar, dass wir solche Sachen zusammen mit der Kunsthalle Osnabrück denken konnten; dass die Institution das auch zugelassen und ausgehalten hat. Denn natürlich findet das künstlerische Fachpublikum es auch komisch, auf einmal nur Texte in einfacher Sprache zu lesen, wo die Texte ja oftmals mit einer bestimmten Aufladung kommen, die einen manchmal auch ganz schön im Dunkeln stehen lässt. Es sind v. a. die großen digitalen Plattformen, die prägen, was Barrierefrei- heit ist und was die Strukturen dafür sind. Ob das wirklich die Potenziale und Möglichkeiten sind, die wir im digitalen Raum haben, wage ich zu bezweifeln. Ich würde mir mehr Angebot von Variationen wünschen und nicht nur den Versuch, immer diesen einen Nenner für alles zu finden. M.H. Also würdest du sagen, dass man für mehr Beteiligung auch mehr Struk- turen und letztlich Ressourcen braucht, damit man im Vertrauen auf die Vielstimmigkeit mit boldness auch mal ins Partikulare gehen kann? A.K. Es gibt im Glossary of Undisciplined Design auch einen Glossarbegriff über die Förderung. Es war ein Glück, mit dem Rückgrat der Institution gestartet zu sein, denn als Einzelpersonen hätten wir das gerade an so einer Schnittstelle nicht machen können. Es gibt eigentlich nur Förderung für Kunst, nicht so richtig für Gestaltungs- und Designdisziplinen, und da haben wir eine ganz schöne Nische besetzt. Deswegen ist das auch so ein komisches Objekt gewor- den, weil viele daran mitsprechen, weil wir so viele Varianten anbieten. Die größte Aufgabe des Projekts war tatsächlich, eine Struktur aufzustellen, die so viel Beteiligung ermöglicht. Und sie auch bezahlen zu können. In den seltens- ten Fällen hast du diese Strukturen und deswegen interessiert es mich auch, solche Projekte mit zu initiieren. Dann kannst du von vorneherein mitdenken und sagen: Wenn uns das wichtig ist, dann müssen wir erstmal die Ressourcen und Mittel bekommen. Die Gestaltung ist ja am Ende immer das i-Tüpfelchen. Das, was als Oberfläche bleibt. Das kann eigentlich nur so gut werden, wie die Strukturen und Gespräche davor waren. Du kannst nicht sagen: Ich hab das alles nicht und mach trotzdem diese Gestaltung. Du arbeitest ja auch mit den Materialien von anderen, sei es, dass du die einen eingeladen hast, die Bilder zu konzipieren, sei es, dass du die anderen angefragt hast: Könnt ihr spezifisch da- für eine Schrift gestalten? Du bist ja als Gestalterin nie solo aktiv, wie man das in der Designgeschichte oft liest. Wir sind Kollaborateur*innen. — 120 ZfM 28, 1/2023 — EXTRA Abb. 1 Fortnite Rift Tour Featuring Ariana Grande, Werbe-Teaser (Orig. in Farbe) 122 ZfM 28, 1/2023 B E AT E O C H S N E R / J U D I T H W I L L K O M M / H A R A L D WA L D R I C H / M A R K U S S P Ö H R E R «SERIOUS GAMING» ODER SPIELEN ERNST NEHMEN — Ein Forschungsprogramm «These days play looks more like labor, and labor looks more like play. Rather than having dissipated, the mutual overlap of games and work has only grown more insidious.»1 Im August 2021 begeisterte die Sängerin Ariana Grande mit ihrer zu fünf ver- schiedenen Uhrzeiten stattfindenden Rift Tour die Spieler*innencommunity von Fortnite Battle Royale (vgl. Abb. 1): 2 Fortnite is a place for the imagination and the impossible. With the Rift Tour, we’re 1 Alexander R. Galloway: bringing a musical journey to life that players can experience, feel, and join alongside Counter-gaming, Eintrag im their friends. […] We’re so grateful to have an iconic superstar like Ariana Grande Blog Culture and Communication, and her team join us for a musical experience at metaverse scale, and for players and 23.12.2014, cultureandcommunica tion.org/galloway/counter-gaming fans alike to experience the Rift Tour! 3 (20.12.2022). 2 Fortnite Battle Royale, Epic Während die Kombination von Videospiel- und Musikereignis nicht neu Games, USA 2017. 3 Phil Rampulla: Ariana Grande ist, eröffnet die Zusammenarbeit von Ariana Grande mit Fortnite doch Steps into the Metaverse as the neue Dimensionen, die gleichermaßen für die Spiele- und die Musikindus- Headliner for Fortnite’s Rift Tour, in: Epic Games, 1.8.2021, epicgames.com/ trie wertvoll sind.4 Die Zusammenführung von Ariana-Grande-Fans – allein site/en-US/news/ariana-grande-steps- auf Instagram hat die Sängerin 339 Millionen Follower*innen – mit schät- into-the-metaverse-as-the-headliner- for-fortnites-rift-tour (11.10.2022). zungsweise 78 Millionen teilnehmenden Fortnite-Spieler*innen führte zu ei- 4 Vgl. Revital Hollander-Shabtai, ner Steigerung der Aufmerksamkeit und infolgedessen einer Zunahme der Or Tzofi: Music Innovation and the Impact of COVID-19 on the Way Zugriffszahlen.5 Den Spieler*innen und Musikfans entstanden keine direkten We Experience Music, in: Gali Einav Zusatzkosten und es blieb ihnen auch während der Tour ausreichend Zeit, um (Hg.): Transitioning Media in a Post COVID World. Digital Transformation, spezifische Quests für das Spiel zu erledigen. Neu war bei dieser Tour aller- Immersive Technologies, and Consumer dings, dass die Spieler*innen bereits vor dem Set Grande-inspirierte virtuel- Behavior, Cham 2022, 41 – 60. 5 Vgl. Jacob Birken: Videospiele. le und in der Community gefragte und prestigeträchtige Merchandise- und Digitale Bildkulturen, Berlin 2022. EXTRA 123 BEATE OCHSNER / JUDITH WILLKOMM / HARALD WALDRICH / MARKUS SPÖHRER Sammelgegenstände wie den Ariana-Grande-Skin, den Sweetener Sailshards G lider oder die 7 Rings Smasher Pickaxe erwerben konnten.6 Diese Strategien allein aber vermögen die entstandenen Kosten – von der 6 Vgl. Diego Nicolás Argüello: Programmierung über das Publicity Management bis zu Grandes Gage – kaum Fortnite Rift Tour Ariana Grande concert, Save the Date times, timer zu decken. Eine ausschlaggebende Rolle für die zusätzlichen Investitionen resolution and quests explained, spielt das hinter Fortnite stehende Business-Modell.7 Fortnite ist ein Free-to- in: Eurogamer, 13.9.2021, eurogamer. net/fortnite-rift-tour-save-the-date- Play-Spiel, d. h. es kann kostenlos heruntergeladen und auf unterschiedlichen times-timer-resolution-quests-8006 Plattformen und Devices gespielt werden. Sämtliche Basisdienstleistungen und (12.10.2022). 7 Vgl. Timo Schöber, Georg -services werden also kostenfrei zur Verfügung gestellt, während weitere Ser- S tadtmann: Fortnite: The Business vices oder Gegenstände wie z. B. Season und Battle Passes oder rein dekorative Model Pattern Behind the Scene, E uropean University Viadrina Frank- Skins in Form von In-Game- oder In-App-Käufen erstanden und in der furt (Oder), Department of Business F ortnite-Währung V-Bucks bezahlt werden müssen. Dieses Modell sorgt dafür, Administration and Economics, Discussion Paper Nr. 415, 2020, dass Fortnite eines der erfolgreichsten Videospiele ist, nicht nur in Bezug auf doi.org/10.2139/ssrn.3520155. die Anzahl der aktiven und passiven Spieler*innen(konten),8 sondern auch im 8 Fortnite verzeichnete 2020 ca. 80 Millionen aktive monatliche Hinblick auf den wirtschaftlichen Gewinn. Wie verschiedene Analysen zeigen, Spieler*innen, 2021 ca. 83 Millionen, ist der Erwerb dieser Zusatzfunktionen und -dienstleistungen gleichermaßen die Anzahl der registrierten Konten stieg von 250 Millionen im März für das mood management, den flow, die loyalty der Spieler*innen wie auch für den 2019 auf 350 Millionen nur ein Jahr Erwerb sozialen Kapitals und für Teilhabe relevant.9 Als ebenso erfolgreiche später, vgl. Leon Hurley: What’s the Fortnite player count in 2022?, in: Praxis hat sich das Umsatzmodell der Games-as-a-Service (GaaS) oder Service Gamesradar, 17.11.2022, gamesradar. Games erwiesen. Dabei werden in einem Videogame kontinuierlich neue Spiel- com/how-many-people-play-fortnite (16.1.2023). inhalte bereitgestellt und so der Wiederspielwert und die Langzeitmotivation 9 Zu mood management, flow gesteigert. Diese Art von Games, zu denen auch Fortnite gezählt werden kann, und loyalty vgl. Joonheui Bae u. a.: Affective value of game items: a können von Seiten der Entwickler*innen im besten Falle über Jahre hinweg mit mood management and selective Updates versorgt und mit jeder Season um neue Inhalte erweitert werden. exposure approach, in: Internet Re- search, Bd. 29, Nr. 2, 2019, 315 – 328; Spätestens an dieser Stelle drohen (vermeintliche) Grenzen zwischen spie- Gen-Yih Liao, T.C.E. Cheng, Ching-I lerisch erzeugter Motivation, Leistungsfreude und Produktivität auf der einen Teng: How do avatar attractive- ness and customization impact Seite und ihrer ökonomischen Nutzbarmachung, Verwertung und kontinuier- online gamers’ flow and loyalty?, in: lichen Steigerung auf der anderen Seite zu verschwimmen: Die Comic-hafte Internet Research, Bd. 29, Nr. 2, 2019, 349 – 366. Zu Monetarisierung vgl. Darstellung von Fortnite versammelt eine sehr hohe Anzahl von jüngeren Alexander Bernevega, Alex Gekker: Spieler*innen,10 der Free-to-Play-Modus und die kostengünstigen In-Game- The Industry of Landlords: Exploring the Assetization of the Triple-A Käufe bilden ein niedrigschwelliges Angebot. Dieses schafft allerdings auch Game, in: Games and Culture, Bd. 17, schnell Abhängigkeiten. Tatsächlich ist die Möglichkeit, In-Game-Käufe zu Nr. 1, 2022, 47 – 69; Sonia Fizek, Markus Rautzenberg: The work of tätigen, sehr verlockend, besonders in Free-to-Play- oder Service Games mit game in the age of automation, in: ihrem kostenfreien Zugang und den vorwiegend geringen Preisen. Durch die Journal of Gaming & Virtual Worlds, Bd. 10, Nr. 3, 2018, 197 – 201. zahlreichen Möglichkeiten mehr oder weniger kostengünstiger In-Game- Käufe 10 Vgl. Christopher D. Merwin können dabei bis zu 125 Prozent höhere Einnahmen als bei Premium-Spielen u. a.: The World of Games: eSports. From Wild West to Mainstream, Equity erzielt werden.11 Als weitere den Erfolg von Fortnite erklärende Faktoren wer- Research Report von Goldman Sachs den die Zusammenarbeit der Plattform mit anderen Firmen und Unternehmen Group, Inc., 2018, 17. 11 Vgl. Schöber, Stadtmann: (wie der Musikindustrie), die «Offenheit»12 des Geschäftsmodells etwa in Be- Fortnite, 7. zug auf die Integration popkultureller Praktiken wie Dance Moves oder auch 12 Alexander Osterwalder, Yves Pigneur: Business Model Generation. die Implementierung einer mehrseitigen (MSP) oder Cross-Plattform-Strate- Ein Handbuch für Visionäre, Spiel- gie und damit die Adressierung diverser Kund*innengruppen angeführt. Auf veränderer und Herausforderer, Frank- furt / M., New York 2011, 180 f. diese Weise zieht Fortnite eine Vielzahl von Nutzer*innen unterschiedlicher 124 ZfM 28, 1/2023 «SERIOUS GAMING» – ODER SPIELEN ERNST NEHMEN sozialer Medien und Gaming-Plattformen an. Dies betrifft nun nicht nur etwaige Besucher*innen der Rift Tour; vielmehr geht es darum, dass Großevents dieser Art professionell beworben, aber in gleichem Maße von Freund*in zu Freund*in (mit-)geteilt werden: Die zunehmende Popularität bedeutet gleich- zeitig, dass mehr oder weniger hauptberufliche Fortnite-Streamer*innen es sich schlicht nicht erlauben können, das Ereignis zu verpassen. Ihre Teilnahme gerät zu einer Art Pflicht, in deren Rahmen das Ereignis selbst wie auch das (Mit-) Spielen über verschiedene Plattformen (mit-)geteilt wird.13 Die am Beispiel von Fortnite und der Rift Tour Ariana Grandes aufgezeigten Verflechtungen von Spielwelten, (Erwerbs-)Arbeit und Wirtschaftsbereichen sind ebenso vielfältig wie komplex. So zieht das plattformübergreifende digita- le Geschäftsmodell der Service Games mit innovativen Verwertungspraktiken neue Grenzen zwischen Praktiken, Diskursen und Effekten dessen, was wir ge- meinhin als ‹Spielen› bezeichnen, und dem, was in der Erwerbslogik als ‹Arbei- ten› gilt. Hybride Begriffsbildungen wie «playbour»14, «laborious play» oder «playful work»15 dokumentieren auch sprachlich diese wachsende Verquickung und werfen Fragen danach auf, ob z. B. Spielen überhaupt ‹Spaß› machen kann, wenn es externen Erfolgszwängen oder Glücksbedingungen unterworfen wird, oder ob andersherum Arbeiten nur oder erst dann Vergnügen bereiten kann, wenn es spielerisch wird. Welche Auswirkungen zeitigen Dynamiken der ‹Ver- spielung› (Gamification) von Arbeits- und Produktionswelten, wenn das Spie- len wie auf twitch zur Erwerbsarbeit gerät oder Popsänger*innen professionelle Auftritte und Shows in die Spielwelt verlegen? Und wie sind parallel zu ver- zeichnende Prozesse der ‹Verarbeitung› (Workification) zu beurteilen, wenn Praktiken des Spielens und Spielumgebungen zunehmend von Organisations- und Effizienzstrukturen durchzogen werden? Mit dem Konzept des Serious Gaming, wie wir es in diesem Artikel vorstellen, wollen wir eine Vorgehensweise vorschlagen, mit der die komplexen Wechsel- 13 Vgl. Beate Ochsner, Markus wirkungen zwischen Spielen und Arbeiten adressiert und in drei Modalitäten des Spöhrer, Harald Waldrich: Twitching Spielens – ‹Einspielen›, ‹Mitspielen› und ‹Ausspielen› – beschreibbar gemacht Laborious Play or: How Game- Streaming Changes Modes of werden können. Im Folgenden werden wir die vielfältigen Perspektivierungen Playing, in: Markus Spöhrer, Harald des Forschungsgegenstandes aufzeigen und Anschlussmöglichkeiten für medi- Waldrich (Hg.): Einspielungen. Prozesse und Situationen digitalen Spielens, enwissenschaftliche Zugänge zur Untersuchung von Prozessen der Gamification Wiesbaden 2020, 179 – 206. und Workification in transdisziplinären Forschungskontexten eröffnen. Abschlie- 14 Julian Kücklich: Precarious Playbour: Modders and the Digital ßend werden wir noch einmal auf die Rift Tour von Ariana Grande zurückkom- Games Industry, in: The Fibreculture men und sie in die von uns vorgeschlagenen Spielmodalitäten einbetten. Journal, Nr. 5, 2005, five.fibreculture journal.org/fcj-025-precarious-playbour- modders-and-the-digital-games- industry/ (15.11.2022). 15 Pablo Abend u. a. (Hg.): Zwischen Spielen und Arbeiten Digital Culture and Society, Jg. 5, Ausgangspunkt unserer Überlegungen war die Beobachtung, dass Spie- Nr. 9 (2/2019): Laborious Play and Playful Work I, Bielefeld 2020; vgl. len – und dies nicht erst seit der Pandemie – zunehmend soziale Relevanz zu- dazu Arwin Lund:Playing, Gaming, gesprochen wird und es zugleich in den Blickpunkt ökonomischer Interessen Working and Labouring: Framing the Concepts and Relations, in: tripleC, rückt, die die Verwertbarkeit dieses Potenzials ausloten. Umgekehrt nehmen Bd. 12, Nr. 2, 2014 , 735 – 801. EXTRA 125 BEATE OCHSNER / JUDITH WILLKOMM / HARALD WALDRICH / MARKUS SPÖHRER traditionelle Arbeitspraktiken, -routinen und -themen – von professionellen Ga- ming-Streamer*innen über Aufgaben des Grinding und Farming bis hin zu spezi- fischen Geschäftsmodellen in der Spieleindustrie – einen wachsenden Bereich im Kontext des Spielens ein. Im Zuge der Digitalisierung wurde diese Entwicklung beschleunigt, was verschiedene Praktiken, Prozesse oder Operationen des Spie- 16 Vgl. Tobias Werron: Die lens in immer größerem Maße verdatet, statistisch vergleichbar und als Potenzi- zwei Wirklichkeiten des modernen Sports: Soziologische Thesen ale berechenbar gemacht hat. In dieser Form können sie in anderen Bereichen zur Sportstatistik, in: Andrea weiterverarbeitet werden. Tobias Werron hat dies am Beispiel des modernen Mennicken, Hendrik Vollmer (Hg.): Zahlenwerk. Kalkulation, Organisation Wettkampfsports aufgezeigt;16 ein anderer großer Bereich ist die Finanzwelt und und Gesellschaft, Wiesbaden 2007, dabei v. a. der sogenannte Credit Score im Kreditwesen.17 Versuche, das spieleri- 247 – 270. 17 Vom Credit Score zum Social sche Potenzial, die Motivation und ‹reine› Spielfreude zu messen, berechenbar zu Score ist es ein kurzer Weg, vgl. machen und zu verwerten, finden sich in verschiedenen Spielkontexten wieder, Jenna Burrell, Marion Fourcade: The Society of Algorithms, in: Annual von reinen Unterhaltungsspielen bis zu Spielen mit externen Zwecken, den so- Review of Sociology, Bd. 47, Nr. 1, genannten Serious Games.18 Als Vorbilder sind hier u. a. Forschungen aus dem Be- 213 – 237. 18 Vgl. Clark C. Abt: Serious Games, reich der Arbeitswissenschaft und -organisation anzuführen.19 Ziel unseres For- Lanham, London 1987 [1970]. schungsprogramms zu Serious Gaming ist es, die zunehmenden Verschränkungen 19 Vgl. Christina Vagt: Organis- mus und Organisation, in: ZfM, Jg. 8, von ‹Spielen› und ‹Arbeiten› in Prozessen der Gamification zum einen und der Nr. 14 (1/2016): Medienökologien, Workification zum anderen zu problematisieren. Neben der Untersuchung kon- 19 – 32, doi.org/10.25969/media rep/1687. kreter Praktiken in transdisziplinären Studien zwischen Diskursanalyse, Medien- 20 Im Luhmann’schen Sinne ethnografie und experimenteller Forschung geht es darum, die diesen Praktiken bestimmt eine Leitdifferenz nicht, was selegiert werden muss, wohl zugrunde liegenden Genealogien, Logiken und Semantiken zu erforschen, die aber dass selegiert werden muss, die Leitdifferenz Spielen / Arbeiten immer wieder neu ausbuchstabieren.20 vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Ideen zur Instrumentalisierung des spielerischen Potenzials, wie von Ben Frankfurt / M. 1987, 19. Sawyer und David Rejeski im Rahmen ihrer 2002 gegründeten Serious Games 21 Vgl. z. B. Ben Sawyer, David Rejeski: Serious Games. Improving Pub- Initiative am Woodrow Wilson Center for International Scholars vorgeschla- lic Policy Through Game-based Learning gen,21 sind in der Vergangenheit von der Forschung immer wieder in Bezug and Simulation, Washington 2002; Ben Sawyer: Research Essay: What auf Aspekte der Digitalisierung, Kommerzialisierung und, mit steigender Ten- Will Serious Games of the Future denz, der Gamification problematisiert worden.22 Dabei stand und steht bei Look Like? in: International Journal of Gaming and Computer-Mediated Simu- den vorwiegend anwendungsorientierten und auf der (kurzfristigen) Spiele- lations, Bd. 3, Nr. 3, 2011, 82 – 90. produktion, der Beratung zur Herstellung oder der Evaluation konkreter 22 Vgl. Sebastian Deterding u. a.: Gamification. Using game-design Produkte beruhenden Forschungsprojekten zu Serious Games nach wie vor die elements in non-gaming contexts, Realisierung ihrer sogenannten «Doppelmission» im Vordergrund, nämlich in: CHI EA 2011: Extended Abstracts on Human Factors in Computing «ernsthafte Z iele» zu erreichen, «ohne das Spielerlebnis zu korrumpieren».23 Systems, 7.–12.2011, 2425 – 2428, Ein Blick in die zahlreichen Studien und Metastudien zeigt jedoch, dass – un- doi.org/10.1145/1979742.1979575; Mathias Fuchs u. a. (Hg.): Rethinking geachtet der technischen Entwicklungen und Anwendungsfortschritte – die Gamification, Lüneburg 2014; Felix mit den Projekten verbundenen Hoffnungen, die auf die inhaltliche, struktu- Raczkowski: Digitalisierung des Spiels. Games, Gamification und Serious Games, relle und ästhetische Konzeptualisierung sowie technische Implementierung Berlin 2018; Lennart E. Nacke, gesetzt wurden, meist nicht oder nur zum Teil erfüllt werden konnten.24 Als S ebastian Deterding: The Maturing of Gamification Research, in: Gründe werden das Fehlen adäquater Formate, entsprechender Kapazitäten Computers in Human Behavior, Bd. 71, sowie geeigneter wissenschaftlicher Einrichtungen und «sozialer Orte der 2017, 450 – 454. 23 Josef Wiemeyer: Serious Games Begegnung»25 angeführt, um erfolgreich zwischen empirischen und theore- für die Gesundheit. Anwendung in der tisch ausgerichteten Forschungsrichtungen zu vermitteln. Zudem wird immer Prävention und Rehabilitation im Über- blick, Wiesbaden 2016, 17. wieder das Fehlen einer systematischen und von Beginn an zu fördernden, 126 ZfM 28, 1/2023 «SERIOUS GAMING» – ODER SPIELEN ERNST NEHMEN nachhaltigen Zusammenarbeit von Wissenschaft, Praxis und Öffentlichkeit so- wie mangelnde transdisziplinäre Methodenarbeit genannt.26 24 Vgl. Michael Sailer, Lisa H omner: The Gamification of Learn- In methodisch-theoretischer Abgrenzung zu häufig produktions- oder an- ing: A Meta-analysis, in: Educational wendungsorientierten Forschungsansätzen zu Serious Games nimmt das Konzept Psychology Review, Bd. 32, 2020, 77 – 112; Susanne Strahringer, des Serious Gaming Spielen selbst ernst. Es macht die Effekte der komplexen Christian Leyh (Hg.): Gamification und Verflechtungen und Verschiebungen zwischen Spiel- und Arbeitsorganisation Serious Games. Grundlagen, Vorgehen und Anwendungen, Wiesbaden 2017; Tom sowie Verwertungsmöglichkeiten, d. h. zwischen Spielen, die vermehrt Arbeits- Baranowski u. a.: Games for Health prozesse abbilden und einfordern, sowie Arbeitsabläufen, die über Level- und for Children: Current Status and Needed Research, in: Games for Health Score-Architekturen strukturiert werden und den Wettbewerbsdruck erhöhen, Journal, Bd. 5, Nr. 1, 2016, 1 – 12. zum Forschungsgegenstand. Erst in der Perspektive eines prozessualen Serious 25 Thesenpapier für eine Games- Strategie des BMVI: Punkt 4.1., Gaming 27 werden soziale, kulturelle und ökonomische Transformationen sicht- 31.5.2021, bmwk.de/Redaktion/DE/ bar, die Al Gore bereits 2011 andeutete, als er in seiner Keynote zum 8th Annual Downloads/Anlagen/Games/games-stra tegie-thesenpapier.html (14.11.2022). Games for Change Festival in New York Games als «the new normal» bezeich- 26 Vgl. Axel Jacob, Frank nete.28 Dieser normalisierten und zugleich normalisierenden Ausweitung der Teuteberg: Game-Based Learning, Serious Games, Business Games Spielzone entspricht eine Entgrenzung der Arbeitszone, die die Grenzziehung und Gamification – Lernförderliche zwischen Spielen und Arbeiten im Prozess zunehmender Workification des Anwendungsszenarien, gewonnene Erkenntnisse und Handlungsempfeh- Spielens, d. h. arbeitsähnlicher, sich wiederholender und routinisierter Hand- lungen, in: Strahringer, Leyh (Hg.): lungsabläufe, beständig aufweicht. Gamification und Serious Games, 97 – 112. 27 Mit der Hervorhebung der Während nun der Begriff der Gamification und damit das Eindringen Verlaufsform des Verbs soll zum spielerischer Logiken in nicht-spielerische Umgebungen und Kontexte seit einen die spezifische Zeitlichkeit und zum anderen die Situiertheit der zu Längerem im Gebrauch ist, ist die Workification, wie sie erstmals von Eron untersuchenden Praktik des Serious Rauch als Zunahme spielinternen Leistungsdrucks und monotoner Aufgaben Gaming betont werden. 28 Charles Tsai: Al Gore: ‹Games oder auch als Mehrwertproduktion und Einkommensgenerierung beschrie- are the New Normal›, in: Huffpost, ben wurde, deutlich weniger untersucht.29 So erfordern Rauch zufolge zahl- 6.12.2017, huffpost.com/entry/al-gore- games-social-good_b_881017 reiche Videospiele bestimmte Formen des Grindings.30 In fordistischer Logik (14.11.2022). werden dabei repetitive Tätigkeiten durchgeführt, bis der Loot gewonnen 29 Vgl. Eron Rauch: Workification. Bridging Worlds: Workified Games werden kann. Dabei fällt es zunehmend schwer, diese Tätigkeiten und Ent- IV, in: Videogametourism, 4.10.2022. wicklungen – Sigl spricht von «fun pain»31 – als unterhaltsame Freizeitbeschäf- videogametourism.at/tags/workification (14.11.2022). tigung oder gar lustvolle Zeitverschwendung zu verstehen. Vielmehr werden 30 Begriffe wie Grinding, Grinden Spieler*innen zwar in bunter Verpackung, aber eben doch «ohne Alternative und Grinder bezeichnen die Durch- führung bzw. die Durchführenden zu Befehlsempfängern und Laufburschen» und «Gamification […] kehrt […] von eher monotonen, wiederkehren- nach ihrem Ausflug in die Welt der wirtschaftlichen Effizienzoptimierung als den Aufgaben mit dem Ziel, sich Spielvorteile zu verschaffen. Workification zurück in die Spiele».32 Gleichzeitig aber sind mit dieser Praxis 31 Rainer Sigl: Workification: des Spielens (und / oder Arbeitens) potenziell eine soziale Wertsteigerung – die Warum sich Games immer mehr wie Arbeit anfühlen, in: Der Standard, Spieler*innen steigen im Ranking auf – wie auch ökonomische Verwertbarkeit 22.5.2016. verbunden, denn es gibt die Möglichkeit, sich für das Grinding bezahlen zu 32 Ebd. 33 Marion Fourcade: Zählen, benen- lassen, ‹ergrindete› Gegenstände auf Ebay zu erwerben oder auch Spieler*inn- nen, ordnen. Eine Soziologie des Unter- en / Mitarbeiter*innen anzustellen, um den Erfolg dann für sich zu verbuchen. scheidens, Hamburg 2022, 62 – 73. 34 Stefan Mau: Das metrische Wir. Als Generatoren eines datenbasierten «Überkapital[s]»33 schreiben sich Video- Über die Quantifizierung des Sozialen, spiele mit immer neuen Differenzsetzungen zwischen Spielen und Arbeiten Frankfurt / M. 2017. 35 Ulrich Bröckling, Susanne zugleich in die zunehmende «Quantifizierung»34 wie auch «Ökonomisierung Krasmann, Thomas Lemke (Hg.): des Sozialen»35 ein, die neue Formen des sozioökonomischen Statusgewinns Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozia- und -verlusts begründen. len, Frankfurt / M. 2000. EXTRA 127 BEATE OCHSNER / JUDITH WILLKOMM / HARALD WALDRICH / MARKUS SPÖHRER Abb. 2 Das GameLab der Vor diesem Hintergrund möchten wir über die Untersuchung gamifizierter Universität Konstanz unterstützt Elemente der Arbeitswelt oder auch von Arbeitsweisen, -themen und -struktu- die Forschung zu Serious Gaming mit seiner Ausstattung und ren hinausgehen, wie sie klassischerweise auf einer narrativ-ästhetischen Spiel- I nfrastruktur (Orig. in Farbe) ebene repräsentiert und verhandelt werden.36 Es gilt, bestehende analytische Konzepte und Forschungsansätze zu Videospielen in ernsthaften Kontexten sowie zum Arbeiten in gamifizierten Umgebungen zu erweitern, indem Prakti- ken des Spielens und / oder Arbeitens selbst in den Blick genommen und hierbei auch traditionelle Spielarten, wie z. B. Brett- und Kartenspiele, berücksichtigt werden (vgl. Abb. 2). Die Kombination von Untersuchungen, die sich konkre- ten zeitgenössischen Praktiken des Spielens und Arbeitens widmen, mit Unter- suchungen zu historischen Diskursformationen und Machtmechanismen, die an der Entstehung von Wissensordnungen und -subjekten des Spielens / Arbeitens beteiligt sind, ermöglicht es dabei nachzuvollziehen, wie sich z. B. Vertriebs- strategien, Prozesse der Vermarktung aber auch Einstellungen und Verhaltens- weisen der Spieler*innen im Verhältnis zueinander entwickeln. Die Verwer- tungslogiken, die über die Relationen der Gleichsetzung diskreter Einheiten von Werten wie Spieldauer, Spielehrgeiz, Kooperativität, Fitness, Wissen, aber 36 Vgl. z. B. Andreas Fischer, Tom auch Skins, Loots, Scores etc. einen Tauschwert erzeugen, der die Beziehun- Uhlig: Arbeit als Spiel – Spielen als Arbeit. Thesen zum neuen Verhältnis gen über eine Art Angebot-und-Nachfrage-Dynamik reguliert, greifen dabei von Erwerbsarbeit und Videospiel, gleichermaßen im Arbeits-, Finanz-, (Aus-)Bildungs- und Erziehungs- oder in: Paidia. Zeitschrift für Computerspiel- forschung, 21.1.2021, paidia.de/arbeit- Gesundheitsbereich wie auch im Unterhaltungs- oder Freizeitbereich. Vor die- als-spiel-spielen-als-arbeit-thesen-zum- sem Hintergrund wollen wir an der Leitdifferenz zwischen Spielen und Arbei- neuen-verhaeltnis-von-erwerbsarbeit- und-videospiel (13.11.2022). ten ansetzen, ohne jedoch die eine oder die andere Seite der Unterscheidung 128 ZfM 28, 1/2023 «SERIOUS GAMING» – ODER SPIELEN ERNST NEHMEN hervorzuheben. Vielmehr stehen die spezifischen Praktiken und Situationen im Vordergrund, die Serious Gaming in operativen Verschaltungen von Gamifica- tion und Workification als stets neues und flexibles Differenzprodukt zwischen Spielen und Arbeiten hervorbringen. Die Unterscheidungen lösen sich dabei nicht auf, sondern werden dynamisiert, damit einhergehend differenziert und sind in ihrer Komplexität nur transdisziplinär zu untersuchen. Was wann, wie, warum und für welchen Zeitraum zum Serious Gaming wird, hängt nicht allein vom Spieldesign, den Regeln oder übergeordneten Zielset- zungen ab, sondern entfaltet sich aus Spielsituationen, Spielweisen und der Materialität der Spielelemente, aus Zugangsvoraussetzungen und Motivatio- nen sowie aus Leistungsansprüchen, Vermarktungs- und Verwertungsstrate- gien und vielem mehr. Unterschiedliche Spielmodalitäten: Ein-, Mit- und Ausspielen Um die Komplexität der vielen Ebenen und Verquickungen von Spielen und Arbeiten analysierbar zu machen, schlagen wir vor, von konkreten Praktiken des Spielens auszugehen und dabei zwischen drei verschiedenen Modalitäten zu unters cheiden: dem Einspielen, dem Mitspielen und dem Ausspielen. Mit diesen Modalitäten eröffnen wir Zugangs- und Zugriffspunkte, die die Umstände, Be- dingungen und Möglichkeiten des Spielens sichtbar werden lassen. Dabei kann der Zugriff über Modalitäten nicht nur für gegenwartsbezogene Forschung, sondern auch für historische Spiel- und Arbeitsarrangements sowie darauf bezo- gene Praktiken fruchtbar gemacht werden. In ein Spiel können oder müssen zukünftige Spieler*innen sich einspielen oder sie werden eingespielt. Sie können oder müssen mit dem Spiel wie auch miteinander spielen und es kann ihnen unter Umständen ‹böse› mitgespielt werden. Trümpfe können ebenso wie (Mit-)Spieler*innen ausgespielt werden, ein Spiel kann enden, wenn es oder man ausgespielt ist oder hat, es kann, soll oder muss auch zugleich einen Wiedereinstieg ermöglichen. In welcher Weise sich nun die Leitdifferenz Spielen / Arbeiten in diese Modalitäten einschreibt und produktiv gemacht werden kann, wird im Folgenden erläutert. Mit der ersten Modalität des ‹Einspielens› möchten wir das Werden des Spie- lens oder des Arbeitens und damit auch der Spieler*innen oder Arbeiter*innen adressieren. Sie fokussiert in genealogischer Perspektive auf Spiel- und Verarbeit- barkeit von Regeln, Strukturen und konkreten Spielelementen. Mithilfe dieser Modalität erfassen wir die Entstehung von Beziehungsgefügen zwischen Orten, Ereignissen, Elementen, Akteur*innen und Momenten, die Situationen in Spiel- oder Arbeitsprozesse übersetzen und in deren Dynamik Spielen in Arbeiten oder umgekehrt umschlagen kann. Die zweite Modalität, das ‹Mitspielen›, umschreibt die Ko-Relationen und wechselseitigen Anpassungsleistungen zwischen den ver- schiedenen Akteur*innen. Hier werden Fragen nach spezifischen Möglichkei- ten und Bedingungen des Mitspielens, zu- oder auch abnehmender Adaptation, EXTRA 129 BEATE OCHSNER / JUDITH WILLKOMM / HARALD WALDRICH / MARKUS SPÖHRER Personalisierung und Tailoring zentral. Das Mitspielen gerät im Hinblick auf die spielerische Ausbildung eines verantwortungsvollen Handelns und Verhaltens, aber auch auf deren Mess- und Berechenbarkeit in den Fokus. Damit können auch Geräte, Regelsysteme, Diskurse, Ergebnisse, Quantitäten oder Zuschau- ende und Forschende zu Mitspieler*innen oder Arbeiter*innen werden. Die Modalität des ‹Ausspielens› verweist auf das mögliche Ende und somit auf die (Definitions-)Grenzen des Spiels, aber auch auf neuerliche Einspielungs- und Anschlussmöglichkeiten während des Spielprozesses. So bedeutet Ausspielen nicht automatisch das Ende des Spiels, sondern wird zugleich als spiel- oder ar- beitssituatives Verwirken einer Handlungsoption oder -aufforderung verstanden, die den Ausgang einer Situation prägt und neue Ein- und Mitspielbedingungen erwirkt. Fragen nach der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Nutz- und Verwertbarkeit des Spiel(en)s sowie nach Möglichkeiten und Bedingungen der Produktivitätssteigerung stehen dabei im Mittelpunkt der Untersuchungen. Auf Basis dieser drei Modalitäten werden mithin unterschiedliche Situati- onen des Serious Gaming, d. h. Schnittstellen sowie Adaptions- und Überset- zungsprozesse zwischen Spielen und Arbeiten, beleuchtet und analysiert. Dabei sind die Modalitäten nicht als teleologische Abfolge oder Entwicklungsperspek- tive zu verstehen, sondern dienen vielmehr der Sichtbarmachung von Querver- bindungen und Rekursivitäten zwischen den verschiedenen Spielmöglichkeiten und damit verbundenen Praktiken. Die Modalitäten sind nicht bei allen Spiel- oder Arbeitspraktiken gleichermaßen einsetzbar und es lässt sich zumeist nur rückwirkend feststellen, welche der drei Modalitäten in einem spezifischen so- ziotechnischen Arrangement wesentlich gewirkt hat.37 Beispielsweise wird der Arbeitsaufwand, den die Vorbereitung auf das Spielen oder die Einübung von Spielzügen erfordert, in der Modalität des ‹Mitspielens› weitgehend unsichtbar. Ob sich routinierte Spielhandlungen und ein strategisches Miteinander-Spielen auszahlen, zeigt sich in der Modalität des ‹Ausspielens›. Der eigentliche Zweck oder der Erfolg eines Spiels oder einer vielleicht dem Ziel des Spiels gegenläu- figen Spielpraxis lässt sich leichter beim ‹Ein-› und ‹Ausspielen› einschätzen. Wie die Arten und Weisen des Spielens sich auf die Verwertungsprozesse aus- wirken und wie umgekehrt diese in die Spielpraktiken zurückgespielt werden, soll in den folgenden Abschnitten schlaglichtartig beleuchtet werden. 37 Unter einem «soziotechni- schen Arrangement» verstehen wir komplexe, raumzeitlich begrenzte und dynamische Anordnungen von ‹Einspielen› menschlichen und nicht-mensch- lichen Akteur*innen in konkreten Mit der Modalität des ‹Einspielens› zielen wir weniger auf den Anfang des Spielsituationen. Vgl. Annemarie Spiel(en)s, sondern auf kontinuierliche Übersetzungsprozesse zwischen dem (im- Mol, John Law: Complexities: An Introduction, in: dies. (Hg.): mer wieder neuen) Einstieg ins Spiel und der Routinisierung, zwischen Adaptation Complexities. Social Studies of und Widerstand, zwischen Exploration und Exploitation von Regelsystemen und Knowledge Practices, Durham, London 2002, 1 – 23. Handlungspotenzialen, die eine Genealogie sozialer, kultureller, epistemischer 38 Johan Huizinga: Homo ludens. und anderer Rahmenbedingungen des Serious Gaming sichtbar machen. Im Vor- Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek b. Hamburg 2006, 20. dergrund steht die Analyse unterschiedlicher Praktiken der «Einspielung»38 von 130 ZfM 28, 1/2023 «SERIOUS GAMING» – ODER SPIELEN ERNST NEHMEN Spieler*innen, Spiel- und Arbeitsmaterialien in die Spielwelt. An welchen Mo- menten, so ist zu fragen, findet ein Umschlag von der ‹Einspielung› zur ‹Einarbei- tung› statt und unter welchen Bedingungen, wenn überhaupt, ist eine Rückkehr ins Spielen möglich? Eine wichtige Rolle spielen dabei die verschiedenen Materia- lien (z. B. Spielsteine, Karten, Bauklötze, Würfel, Joysticks, digitale Devices, Trai- ningsgeräte), an die die Aufgabe delegiert wird, menschliche und nicht-menschli- che Akteur*innen aufeinander einzuspielen und zu stabilisieren. Untersuchungen zu Regeln und Regelbildung, zu historischen und zeitgenössischen Diskursen, 39 Vgl. Marc R. Johnson: The Unpredictability of Gameplay, London kulturellen und sozialen Dynamiken und soziotechnischen Arrangements schlie- u. a. 2020. ßen daran an, um aufzuzeigen, wie trotz zunehmender Routinisierung und dro- 40 Vgl. Philip Staab: Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft hendem Spannungs- oder Motivationsverlust eine systematisch bedingte Unvor- in der Ökonomie der Unknappheit, hersehbarkeit 39 erzeugt werden kann, um die Spieler*innen ‹im Spiel› zu halten. Frankfurt / M. 2019. 41 Vgl. Klaus Schwab: Die Vierte Betrachtet werden dabei auch infrastrukturelle Gegebenheiten wie z. B. Barriere- industrielle Revolution, München 2016. freiheit, Alters- oder Genderbegrenzungen, die in der Phase des ‹Einspielens› 42 Friedrich Schiller: Spiel und Freiheit – Der ästhetische Zustand erforderlich oder hinderlich sein können. Spätestens an diesem Punkt stellt sich (1793 / 94), in: Hans Scheuerl (Hg.): die Frage, ob und wenn ja welche Praktiken der Widerständigkeit Spieler*innen Das Spiel. Theorien des Spiels, Bd. 2, Weinheim, Basel 1991, 34 – 40. gegen das Eingespielt- oder Eingearbeitet-Werden entwickeln können. 43 Vgl. Anne Schmitz-Hüser: Aus der Perspektive der Medien- und Kulturwissenschaften eröffnen sich hier Wenn das Spiel zur Arbeit wird. Veränderungsprozesse im Erwach- neue Forschungsfelder, gerade wenn die diskursive Ebene der Differenzlogik senenspiel, in: Psychologie und zwischen Spielen und Arbeiten mitgedacht wird. Die v. a. im Kontext der kapita- Gesellschaftskritik, Bd. 31, Nr. 4, 2007, 73 – 93, hier 75. listischen Arbeitsgesellschaft – und besonders des aktuellen Digitalkapitalismus 40 44 Matthias Flatscher: Das und seiner Konsequenzen für den Arbeitsmarkt 41 – hervorgebrachte Unter- Spiel der Kunst als die Kunst des Spiels. Bemerkungen zum Spiel scheidung zwischen Spielen und Arbeiten steht diskursgeschichtlich in engem bei Gadamer und Wittgenstein, in: Zusammenhang mit dem ‹ernsthaften Spielen›, das dem «freien Spielen» ge- R einhold Esterbauer (Hg.): Orte des Schönen. Phänomenologische Annähe- genübergestellt wird.42 Allerdings verhält sich auch das ‹freie› Spielen der Ernst- rungen. Für Günther Pöltner zum 60. haftigkeit gegenüber relativ, können doch bestimmte Funktionalisierungen des Geburtstag, Würzburg 2003, 125 – 154. 45 Vgl. Leander Scholz: Anrufung Spielens – wie Übung (beim Kind), Erholung, Sozialisation usw. – von Anfang und Ausschließung. Zur Politik der an davon ausgenommen werden,43 da der lediglich aus einer Außenperspektive Adressierung bei Heidegger und Althusser, in: Michael Cuntz u. a. wahrgenommene Unterschied zwischen Ernst und Spiel «im Vollzug des Spieles (Hg.): Die Listen der Evidenz, Köln seine Berechtigung» verliert.44 Kulturwissenschaftlich ausgerichtete Forschungen 2006, 283 – 297; Michel Foucault: Subjekt und Macht, in: ders.: zeigen, dass ein sogenanntes ‹ernsthaftes Spielen› im Sinne des serio ludere als A nalytik der Macht, Frankfurt / M. höfische Machttechnik auf eine lange Theoriegeschichte verweist,45 wobei sich 2005, 240 – 263. 46 Vgl. Marc Föcking: Serio der Fokus im bürgerlichen Kontext auf individuelle Bildungsmöglichkeiten ver- ludere. Epistemologie, Spiel und schiebt,46 um ab dem 19. Jahrhundert den gleichermaßen effizienzorientierten Dialog in Nicolaus Cusanus’ De ludo globi, in: Klaus W. Hempfer, Helmut Übungs- und Trainingsgedanken für Geist und Körper hervorzuheben.47 Pfeiffer (Hg.): Spielwelten. Performanz und Inszenierung in der Renaissance, Stuttgart 2002, 1 – 19. 47 Vgl. Friedrich Wilhelm August ‹Mitspielen› Fröbel: Die Menschenerziehung, Keilhau 1826. Das ‹Einspielen› von Spieler*innen in und auf soziotechnische Arrangements 48 Im Bereich der Game Studies mit dem Ziel der Leistungsoptimierung verweist bereits auf die Modalität des spätestens mit der Veröffentlichung der Wii Fit (2006) und den «mimetic ‹Mitspielens›, in welcher der zuletzt geäußerte Übungs- und Trainingsgedan- interfaces» ein wichtiges Thema, vgl. ke in Bereichen der Gesundheit und des Sports, aber auch der Bildung und Jesper Juul: A Casual Revolution. Re- inventing Video Games and Their Players, des Lernens auf seine Möglichkeiten und Bedingungen hin geprüft wird.48 Die Cambridge (MA), London 2012. EXTRA 131 BEATE OCHSNER / JUDITH WILLKOMM / HARALD WALDRICH / MARKUS SPÖHRER Abb. 3 Der Adaptive Controller Modalität des ‹Mitspielens› bezieht sich ebenso auf spezifische V oraussetzungen von Microsoft in Aktion des Miteinander-Spielens und der Übergänge zum Miteinander-Arbeiten (oder womöglich auch Gegeneinander-Arbeiten) wie darauf, mit dem Spiel (d. h. den Spielmaterialien, den Anordnungen, den Spieler*innen usw.) zu spielen, um das Spielen (noch) interessanter, erfolgreicher und produktiver zu gestalten und die Spieler*innen im Spiel zu halten. Dabei ist der ‹Erfolg› des jeweiligen Spielzwecks – gleich ob dieser im Spielen selbst oder auch in der Vermittlung externer Fähigkeiten, Verhaltens- oder Wissensformen liegt – an konkrete, zu erforschende Praktiken des Mitspielens oder spezifische Materialien gekoppelt, die das Im-Spiel-Bleiben und damit die Aussicht auf Kompetenzzuwachs oder Aneignung verschiedener Fähigkeiten fördern. Als Klassiker der militärisch begründeten Computerspielgeschichte gelten Flugsimulatoren. Inzwischen lässt sich auf ganz verschiedene Traditionen spieleri- scher Simulationen in Lehr- und Lernumgebungen als Übungen für den Ernstfall zurückgreifen, z. B. in Kontrollräumen, in der Medizintechnik oder in Form von Plan- und Strategiespielen im Katastrophenschutz und diplomatischen Diensten.49 Die vermeintlich ‹universalen› ludischen Lern- und Lehrdispositive sind jedoch in ihren Möglichkeiten zur (An-)Passung an individuelle, subjektive oder sozio- kulturelle Kontexte limitiert. So kann am Beispiel spezifischer soziotechnischer Lernumgebungen experimentell, aber auch medienethnografisch untersucht wer- 49 Vgl. Rolf F. Nohr, Serjoscha den, inwiefern mehr oder weniger gamifizierte Interventionen, Praktiken oder Wiemer (Hg.): Strategie Spielen. Materialien bestimmte Momente und Situationen des Übergangs, d. h. Prozesse Medialität, Geschichte und Politik des Strategiespiels, Münster 2008. der Aneignung oder des Widerstands, hervorbringen oder verhindern. Spuren 132 ZfM 28, 1/2023 «SERIOUS GAMING» – ODER SPIELEN ERNST NEHMEN von Improvisations- und Erfindungsreichtum zu adaptiven Controllern in Com- puterzeitschriften zeugen z. B. davon, wie viel Arbeitsaufwand es erfordern kann, die normierten Spielmechaniken so anzupassen, dass Menschen mit körperlichen oder kognitiven Behinderungen überhaupt (mit- und ein-)spielen können (vgl. Abb. 3). Es gilt zu fragen, in welchen Situationen des ‹Mitspielens› sich derartige Adaptionspotenziale und Konfigurationspraktiken als diskursive oder individu- ell wahrgenommene Arbeitsprozesse einschreiben. Wie lange kann oder muss ‹mitgespielt› / ‹mitgearbeitet› werden, um einen Kompetenzgewinn zu bewirken und welchem Leistungsdruck werden die Spieler*innen dabei ausgesetzt? Mit ähnlichen Fragen sieht sich die experimentelle Erforschung von Eltern- Kind-Interaktionen konfrontiert, die das Spannungsverhältnis zwischen der spie- lerischen Komponente jener Interaktion (Gamification) und dem Ziel der Hand- lungen, also dem Lernerfolg beim Kind, untersucht. Eine neue Dimension der Auswertung und Reflexion experimenteller Verhaltensstudien im Bereich des Se- rious Gaming bietet dabei die direkte Inbezugsetzung zu historischen Erhebungs- daten. Über längere Zeiträume untersucht werden können so beispielsweise ge- sellschaftliche Veränderungen im Lernförderverhalten von Eltern wie auch die Relevanz und die Möglichkeit des Erwerbs neuer soziokultureller Kapitalformen wie Anerkennung, Prestige, Adaptivität oder Leistungsfähigkeit. Die Experimen- te eröffnen auf der Metaebene zugleich eine Reflexion darüber, inwiefern Serious Gaming die beständige (Selbst-)Kontrolle und Überwachung und die (Selbst-)Be- obachtung der Spieler*innen und ihrer Umgebungen bedingt oder überhaupt erst ermöglicht. Welche Beziehungen bestehen zwischen den verschiedenen verhal- tens- und spielabhängigen Akteur*innen, welche Rolle spielen Persönlichkeits- merkmale, Spielverhalten oder -weisen oder die Transformation von Spielum- gebungen im Kontext des differenziellen Lernerfolgs? Die oben beschriebenen Arrangements zwischen Eltern und Kindern, zwischen denjenigen, die alternative Zugänge ermöglichen, und denjenigen, die sie benötigen, zwischen Personen, die lehren, und solchen, die lernen, wie auch zwischen Forscher*innen und zu befor- schenden Personen sind von asymmetrischen (Macht-)Beziehungen durchzogen. Fragen nach Erhebung, Auswertung und Verwendung der Daten wie auch nach In- und Exklusionsprozessen spielen somit eine wesentliche Rolle im Untersu- chungskontext. Mit der Frage nach dem Erfolg, der Produktivitätssteigerung und Verwertbarkeit von Spielpraktiken schließt die Modalität des ‹Mitspielens› an den bereits erwähnten Digitalkapitalismus und damit an Prozesse des ‹Ausspie- lens› an, die im folgenden Abschnitt im Fokus stehen. ‹Ausspielen› Die Ambiguität der Modalität des ‹Ausspielens› als ein Zu-Ende-Spielen, je- manden oder eine Karte ausspielen oder verschiedene Ausspielwege nutzen, wirft grundsätzliche Fragen nach dem Anfang und dem Ende des Spielens so- wie danach auf, wo das Spielen aufhört und das Arbeiten anfängt. Gibt es ein EXTRA 133 BEATE OCHSNER / JUDITH WILLKOMM / HARALD WALDRICH / MARKUS SPÖHRER definitives Ende, oder kann – aus unterschiedlichen Gründen – dafür gesorgt werden, dass das Spielen nie aufhört, dass immer weitergespielt werden kann oder gar muss? Für die Spieleindustrie ist das Weiterspielen freilich ein ange- strebtes Ziel, das sie u. a. mit der Durchsetzung neuer und verstärkt service- anstatt produktorientierter Geschäftsmodelle wie z. B. den Games as a Service (GaaS) gezielt beeinflussen will. Hier werden Anreize geschaffen, die neue Pro- duktionsweisen etablieren, in denen es im Rahmen kapitalistischer Produkti- vität kaum noch Momente gibt, in denen das Spiel (im Sinne von ausgespielt) tatsächlich ‹aus› ist. Ob und wenn ja wann ‹Einspielen› oder ‹Mitspielen› in ein ‹Ausspielen› oder ‹Ausgespielt-Werden› umschlagen kann (oder soll), wird in Relation zur wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Kapitalisier- und Verwertbar- keit von Spiel- und Arbeitsprozessen z. B. an der Börse, in der Spieleindustrie oder auch in Praktiken ko-kreativer Spielentwicklung deutlich. Begreift man das Ausspielen im Sinne eines Verwirkens von Spielzügen, dann kann auch in konkreten Spiel- und Arbeitssituationen Handlungspotenzial verwirkt wer- den (in Fortnite z. B. durch einen verpassten Kill). Mit der Konzipierung eines Ausspielens als ge- und verhandeltes Verwirken von Handlungsoptionen für, mit oder gegen Mitspieler*innen (im menschlichen wie nicht-menschlichen Sinne) lassen sich auch Fragen nach Spiel- und Arbeitsstrategien, nach Zu- gänglichkeits- und Anpassungspotenzialen sowie nach Möglichkeiten zur Produktivitätssteigerung verknüpfen. Ausgelöst einerseits von der intrin- sischen Motivation zum (Weiter-)Spielen sowie anderseits dem Umstand, dass auf den gleichen digitalen (mobilen) Geräten gespielt, trainiert, gelernt, 50 Vgl. dazu u. a.: Michael Mayer: therapiert oder auch gearbeitet wird, kommt es zu einer kontinuierlichen Homo Oeconomicus Ludens. Begriff Produktivitätssteigerung in einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft.50 (Kapital als Medium III.1), in: Spöhrer, u. a. (Hg.): Einspielungen, Eine wichtige Grundlage dieser Entwicklungen bildet u. a. die von John von 207 – 226; Fritz Böhle, G. Günter Neumann und Oskar Morgenstern 1944 publizierte Studie Theory of Games Voss, Günther Wachtler (Hg.): Handbuch Arbeitssoziologie, Bd. 1: and Economic Behavior, in der das strategische Verhalten in Wirtschaft und Ge- Arbeit, Strukturen und Prozesse, sellschaft spieltheoretisch analysiert wird.51 Weitere, hier nicht detailliert aus- 2. Aufl., Wiesbaden 2018; Reinhard Margreiter: Wissenskonstitution zuführende Entwicklungen in den Bereichen der algorithmischen Spieltheo- im Spannungsfeld von Arbeit, Spiel rie, der Statistik und des Machine Learning ermöglichen die Diskretisierung und Medien, in: Theo Hug, Josef Perger (Hg.): Instantwissen, Bricolage, und Partitionierung kontinuierlicher Informationen.52 Dies erlaubt die all- Tacit Knowledge: Ein Studienbuch über gemeine Berechenbarkeit, statistische Bearbeitung und Verwertung stetiger Wissensformen in der westlichen Medien- kultur, Innsbruck 2003, 84 – 100. Spiel- wie auch Arbeits- oder Organisationsprozesse, die somit vergleichbar 51 Vgl. John von Neumann, und in- oder miteinander verrechenbar werden. Auf diese Weise verschwim- Oskar Morgenstern: Theory of Games and Economic Behavior, Princeton men die Grenzen zwischen Spielen und Arbeiten, und Spielen wird potenziell 2007 [1944]. zu einem ‹konsumfähigen Produkt› im Verwertungszusammenhang der Leis- 52 Vgl. Noam Nisan u. a. (Hg.): Algorithmic game theory, Cambridge tungsgesellschaft. Die von den Spieler*innen in diesem Kontext geleistete (UK) 2011; vgl. Sotiris Kotsiantis, Arbeit ist dabei hochgradig prekär und muss im Sinne der Erwerbslogik neu Dimitris Kanellopoulos: Discretiza- tion Techniques: A recent survey, definiert werden. in: GESTS International Transactions In genealogischer Perspektivierung zeigen sich die Folgen der Überschnei- on Computer Science and Engineering, Jg. 32, Nr. 1, 2006, 47 – 58. dungen ludischer, sozialer und ökonomischer Praktiken und die Entstehung 134 ZfM 28, 1/2023 «SERIOUS GAMING» – ODER SPIELEN ERNST NEHMEN neuer Kapitalformen, wenn z. B. die Spielkarte über ihre Funktion als trans- historisches Spielobjekt hinaus als Medium soziokultureller Aushandlungs- prozesse begriffen wird und auf diese Weise symbolische Ordnungen und Strukturen verfestigt. Mit dem Zugriff auf Praktiken des ‹Ausspielens› wird der Blick auf Formen eines zunehmenden Verwertungsdenkens gelenkt, wie es sich aktuell nicht nur in spekulativen Börsenpraktiken oder komple- xen Plattformökonomien zeigt. Auch im Kontext einer Verflechtung von C omputerspielen und Profisport zeigen sich neue und gemeinsame Verwer- tungsmöglichkeiten, die Spielen mit arbeitswissenschaftlichen Optimierungs- und Wachstumsideologien verbindet. Das Ranking und Ligensystem des m odernen Wettkampfsports mit seiner Affinität zu Zahlen und Prognosen hat wesentlich zur Popularisierung von Big Data beigetragen.53 Die damit ein- hergehende Verwissenschaftlichung des Sports durch hochkomplexe daten- basierte Spielanalysen verändert nicht nur den Leistungssport. Die Spielsta- tistiken, Leistungsbilanzen und Körperdaten von Sportler*innen fließen auch in Computerspiele mit ein und führen zu einer wechselseitigen Beeinflussung sich überlappender Zielgruppen. Es wird nicht nur ‹ohne Ende› (und um j eden Preis) gespielt, sondern auch gestreamt und zugeschaut. Fazit Dass die Fortnite Rift Tour mit Ariana Grande in dieser Form stattfinden konnte, ist Effekt verschiedener Einspielungsprozesse, in deren Rahmen die Akteur*innen der Spiel- und Musikwelt synchronisiert und miteinander ver- schaltet wurden. Dabei wurden z. B. das Design der Skins, die tourspezifischen Quests wie auch die Auswahl und Platzierung der Songs bereits im Vorfeld und basierend auf den Erfahrungen älterer Touren mit dem Ziel ausgesucht und gestaltet, Austausch und auf diese Weise ein erfolgreiches Mit(einander) spielen zu ermöglichen. Dieser Prozess der Aushandlung geht in ein Mitspie- len und damit in Prozesse des Austarierens und Stabilisierens über, die als Ef- fekt des Einspielens zugleich die Voraussetzung für erneutes Ein- oder finales Ausspielen bilden. Ohne den erfolgreichen Vollzug des Miteinander-Spielens der verschiedenen Akteur*innen – hier die Kombination und Zusammenarbeit von Grande-F ans und Fortnite-Spieler*innen – wird das Interesse am Spie- len sowie am Erwerb spezifischer Ariana-Grande-Skins oder weiterer in den Quests zu erstehender Sammelobjekte erlahmen und mithin die Ausspielung des sozial und kulturell relevanten Kapitals nicht oder nur ungenügend funkti- onieren. Ist es erfolgreich, ermöglicht das Mit(einander)spielen die Eröffnung neuer Ausspielungswege, wie z. B. im Falle des Grande-Konzerts, das u. a. auf der Plattform YouTube wie auch – in Ausschnitten – auf anderen Social-Media- 53 Vgl. Markus Stauff: A Culture Plattformen angeschaut werden kann. So werden neue Öffentlichkeiten und of Competition: Sport’s Historical Communitys eingebunden (‹eingespielt›) und zugleich weitere Möglichkeiten Contribution to Datafication, in: TMG Journal for Media History, Jg. 21, der Monetarisierung mobilisiert. Nr. 2, 2018, 30 – 51. EXTRA 135 BEATE OCHSNER / JUDITH WILLKOMM / HARALD WALDRICH / MARKUS SPÖHRER Mit dem Konzept des Serious Gaming wird demnach die immer wieder aufs Neue einzuziehende Differenz zwischen Spielen und Arbeiten beschreibbar, die die beständige Grenzverschiebung und -herstellung zwischen einem kon- trollierbaren, zweckorientierten Arbeiten und einem nicht-kontrollierbaren, kreativen Bereich des Spielens als Produktivitätssteigerung begreift.54 Serious Gaming ist dabei nicht einfach mit Serious Games, d. h. mit Spielen mit nicht- spielimmanenter, externer Zielsetzung, gleichzusetzen. Das Konzept des S erious 54 Vgl. Stefan Meißner: Arbeit und Gaming verschiebt den Fokus vielmehr weg vom Erfolg (oder Misserfolg) der Spiel – mit Technik neu bestimmt, Realisierung spielexterner Zwecke und konzentriert sich auf die immer wieder in: Alexander Friedrich u. a. (Hg.): Arbeit und Spiel. Jahrbuch Technikphilo- neu hervorgebrachte Differenz zwischen Spielen und Arbeiten, wie sie durch sophie, Baden-Baden 2018, 19 – 33. Prozesse von Gamification und Workification operationalisiert und damit be- 55 Vgl. Christian Moser: Auto- ethnographische Spiele. Ludische obacht- und beschreibbar wird.55 Mit Serious Gaming wird mithin erstmals die Subjektivierung im anthropo- gleichermaßen spannende wie auch riskante Produktivität der sozialen, inter- logischen Diskurs der Moderne (Huizinga, Malinowski, Lévi-Strauss, und transkulturellen, körperlichen, ökonomischen und epistemischen Verschie- Geertz), in: Christian Moser, Regine bungen und Verwerfungen zwischen ‹Spielen› und ‹Arbeiten› in den Blick ge- Strätling (Hg.): Sich selbst aufs Spiel setzen, München 2016, 199 – 215. nommen: «We’re in the middle of what could be a very serious ending, the end 56 Anand Pandian: A Possible An- of what we know as human existence. If there’s ever been a time for us to play, thropology. Methods for Uneasy Times, Durham, London 2019, 3. to be fearless, it’s now.»56 — 136 ZfM 28, 1/2023 — DEBATTE Medienwissenschaft und Bildung — Als Bezugsdisziplin für das Themenfeld Medien und Bildung ist Medienwissen- schaft kaum wahrnehmbar. Dies obwohl medienwissenschaftliche Theoriebil- dung, medienhistorische Perspektive und Analyse vielfältige Zusammenhänge und Herangehensweisen in Reflexion und Gestaltung sichtbar machen könnten, die im bisherigen Diskurs fehlen. Mit der weitgehenden Enthaltung in diesem T hemenfeld bringt sich das Fach neben der Möglichkeit, auf gesellschaftliche Per- spektiven zu Medien einzuwirken, einerseits um eine Reihe potentieller Drittmit- telförderungen, andererseits ihre Absolventinnen und Absolventen um berufliche Tätigkeitsfelder. Ziel der Debatte «Medienwissenschaft und Bildung» ist es nun zu eruieren, was die Medienwissenschaft zum Thema Medien und Bildung in Zukunft beitragen kann und möchte. — 138 ZfM 28, 1/2023 — BILDUNGSAUFTRAG Was Medienwissenschaft im Kontext von Medien und Bildung tut, tun könnte und tun sollte von ANDREAS WEICH und ADRIANNA HLUKHOVYCH Warum eine solche Debatte? wahrgenommen.1 Medienwissenschaft, so die Der Konnex von Medien und Bildung ist konti- These, ist in der Lage, die Reflexion, die Theo- nuierlich Teil wissenschaftlicher und gesellschaft- retisierung, gegenwarts- und geschichtsbezogene licher Debatten, selbige scheinen jedoch gewissen Analyse sowie die Gestaltung der Relationen Konjunkturen zu unterliegen. In den letzten von Medien und Bildung zu bereichern, setzt ihr Dekaden war dies Ende der 1990er und Ende der Potenzial aber nicht in allen Facetten um Nullerjahre der Fall, nun wieder im diskursiven und überlässt das Feld anderen Akteur*innen. Fahrwasser der ‹Digitalisierung› und verstärkt seit Was die Auseinandersetzung mit bildungs- Beginn der Covid-19-Pandemie. Aktuell wer- wissenschaftlichen und -politischen Diskursen den Begriffe wie ‹digitale Bildung› und ‹digitale betrifft, ist offensichtlich, dass medienwissen- Kompetenzen› oder Schulfächer wie ‹Digitalisie- schaftliche Referenzen in medienbezogenen rung› diskutiert. Dabei werden Entscheidungen Papieren – wie jenen der Kultusministerkon- getroffen, die die Zukunft der Bildung über, mit ferenz (KMK), ihrer Ständigen Wissenschaftli- und durch Medien grundlegend prägen (wer- chen Kommission (SWK) oder dem Stifterver- den). Diese Zukunft braucht aus unserer Sicht band – fehlen und Medienwissenschaftler*innen kritische medienwissenschaftliche Perspektiven. weder Teil der Autor*innenteams sind noch als Hierfür müssten sich medienwissenschaftliche Expert*innen in Erscheinung treten. Hier sind Akteur*innen stärker mit den Zusammenhängen in erster Linie Vertreter*innen der Erziehungs- von Medien und Bildung auseinandersetzen und wissenschaft, der Pädagogischen Psychologie, sich vehementer in wissenschaftliche, politische der Fachdidaktiken und der Informatik(-didaktik) und gesellschaftliche Diskurse einbringen als bis- aktiv. In bildungswissenschaftlichen und med ien- her. Allein die Tatsache, dass der Medienbegriff pädagogischen Journals wie MedienPädagogik, zugunsten des Digitalitätsbegriffs in bildungs- Medienimpulse, merz oder merzWissenschaft sind bezogenen Diskursen immer randständiger wird, medienwissenschaftliche Beiträge höchst selten ist alarmierend, denn wenn der Kernbegriff (nach Durchsicht der Archive geschätzt < 1 %), der Medienwissenschaft nicht mehr gebräuchlich und die G ruppe der medienwissenschaftlichen ist, werden mutmaßlich auch medienwissen- Autor*innen speist sich aus einem sehr kleinen schaftliche Perspektiven seltener ein- und Kreis (ca. 10 bis 20 Personen). DEBATTE 139 ANDREAS WEICH / ADRIANNA HLUKHOVYCH Schaut man sich die Auseinandersetzung Hierzu konturieren wir zunächst einige Felder mit bildungsbezogenen Gegenständen in der und Optionen einer medienwissenschaftlichen Zeitschrift für Medienwissenschaft an, so bringt Auseinandersetzung mit Medien und Bildung. eine Suchanfrage zu ‹Bildung› im Heftarchiv Als Nächstes entfalten wir gesellschafts- und bei insgesamt 634 Artikeln in der Datenbank fachpolitische Argumente für ein zukünftig ge- zunächst 94 Treffer hervor, von denen sich steigertes Engagement medienwissenschaftlicher nach inhaltlicher Durchsicht nur eine Handvoll Akteur*innen in Forschung, (fach-)politischer tatsächlich mit Bildung beschäftigen. Gibt man und praxisbezogener Arbeit zu Medien und als Suchbegriff ‹Medienkompetenz› ein, erhält Bildung. Die Frage ist hier, inwiefern Medien- man fünf Treffer, bei ‹Medienbildung› sind es wissenschaft ihre Rolle innerhalb des Wissen- drei. In der Kanonkritischen Literatursammlung schafts- und Bildungssystems reflektieren und M edienwissenschaft (KLM) finden sich keine ggf. ihren eigenen ‹Bildungsauftrag› artikulieren, T reffer zu ‹Medienkompetenz›, ‹Medienbildung› oder auch überdenken, will oder sollte. oder ‹education› und zu ‹Bildung› lediglich drei, zu ‹pedagogy› / ‹pedagogies› zwei Treffer, die jedoch mehrheitlich von Autor*innen mit Medien und Bildung – einige zentrale eher erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Felder und Akteur*innen sowie fachdidaktischen Hintergründen Die vielfältigen Zusammenhänge zwischen verfasst wurden. Medien und Bildung können auf v erschiedene Derartige Abfrageergebnisse bieten gewiss Arten kategorisiert werden. Insbesondere in nur sehr begrenzte Einsichten in die Problematik; (erziehungs-)wissenschaftlichen, bildungs- z udem sind sie selbst durch mediale Vorausset- politischen und praxisbezogenen Diskursen zungen der Verschlagwortung, Suche etc. geprägt. ist oftmals von Bildung über und mit sowie Zugestanden sei zudem, dass die Frage, was als bisweilen durch Medien die Rede. Wir greifen medienwissenschaftlich gilt und was nicht – ge- diese Trias als heuristisches Raster auf, um rade angesichts des heterogenen und inklusiven im Folgenden einige zentrale Themen und Charakters der Medienwissenschaft –, sehr unter- Akteur*innen im Bereich Medien und Bildung schiedlich zu beantworten ist. Doch auch bei sowie bisherige und mögliche medienwissen- einem relativ weiten Verständnis ergibt sich ein schaftliche Beiträge zu umreißen. Bild, in dem die Medienwissenschaft sowohl Bildung über Medien meint in der Regel den inhaltlich sehr wenig theoretischen und analyti- Prozess und / oder das Ergebnis der Erlangung schen Output zu bildungsbezogenen Fragen und von medienbezogenen Wissensbeständen und Gegenständen generiert als auch in wissenschaft- Kompetenzen. Klassische Konzepte, wie das lichen, politischen und praxisbezogenen Diskursen Medienkompetenzmodell nach Dieter Baacke,2 zu Medien und Bildung wenig sichtbar ist. sind dabei im Schnittfeld zwischen Kommuni- Übergeordnetes Ziel der Eröffnung e iner kations- und Erziehungswissenschaft entstanden. Debatte zu Medien und Bildung in der Zeitschrift Später sind sie in vorrangig erziehungswissen- für Medienwissenschaft ist daher, die medien- schaftlichen Debatten zu Medienkompetenz und wissenschaftliche Community mit dieser Medienbildung diskutiert und weiterentwickelt Einschätzung zu konfrontieren und die Frage worden.3 Neben der ‹kompetenten› Medien- aufzuwerfen, was Medienwissenschaft in den nutzung und -gestaltung spielt Medienkritik verschiedenen Schnittfeldern von Medien und in der Diskussion oftmals eine zentrale Rolle.4 Bildung tut, tun könnte und ggf. tun sollte. Angesichts digitaler Medien gewinnt zudem 140 ZfM 28, 1/2023 BILDUNGSAUFTRAG die informatische Bildung zunehmend an Be- Medientechniken, -inhalten und -praktiken deutung. In erster Linie vermittelt sie technolo- immer schon Bildung(-smaterial) über M edien. gische Konzepte und Funktionsweisen, bezieht Ein Fundus an Medientheorien, -analysen aber – wenn auch aus medienwissenschaftlicher und -geschichten steht bereit, auf dem a ndere Sicht oft nicht hinreichend – soziokulturelle und Diszi plinen (z. B. die Deutschdidaktik oder nutzungsbezogene Ebenen mit ein.5 Weitere an- die Medienp ädagogik), aufbauen (können), grenzende Disziplinen, wie die kulturelle / ästhe- um eigene Bildungskonzepte und -angebote tische und die politische Bildung, erweitern das über die analysierten Medien zu erarbeiten Feld.6 Hinzu kommen Ansätze aus verschiedenen und die ansonsten medienwissenschaftlichen Fachdidaktiken, die Medien zum Unterrichtsthe- Wissenschaftler*innen und Studierenden vor- ma machen. Mitunter basieren sie auf medien- behaltenen Bildungspotenziale zu ‹übersetzen›. wissenschaftlichen Theorien und Analysen, z. B. Dementsprechend sollten medienwissen- im Fall der Deutschdidaktik.7 schaftliche Akteur*innen ihre theoretischen Wenn Medien zum Gegenstand von Bil- Perspektiven und Forschungsergebnisse über dungsangeboten gemacht werden, liegen dem Medien (und Bildung) systematisch und aktiv in immer implizit oder explizit Medienkonzep- andere (wissenschaftliche) Felder sowie in die te zugrunde. Am häufigsten werden Medien Bildungspolitik und -praxis einbringen. Bei- dabei als technische (in erster Linie ‹digitale›) spiele eines solchen Transfers existieren bereits: Objekte, Werkzeuge oder ‹Massenmedien› ver- u. a. das Frankfurt-Dreieck als interdisziplinä- anschlagt, und es wird von einer zunehmenden res Modell, das gemeinsam mit Akteur*innen ‹Digitalisierung› und / oder «Mediatisierung»8 der Medienpädagogik und der Informatik(- ausgegangen. Aus medienwissenschaftlicher didaktik) erarbeitet wurde,11 Stellungnahmen Sicht sind Medien jedoch mehr als Werkzeuge zu (bildungs-)politischen Papieren wie der Data oder Kommunikationsmittel: Sie sind Sym- Literacy Charta oder der KMK-Strategie zur bole und Codes, Gegenstände, Funktionen und Bildung in der digital vernetzten Welt 12, Positions- Prozesse, sie sind autonom und allgegenwärtig, papiere 13 oder Projekte und Materialien zur transparent und opak, sie stellen Reflexions- Thematisierung von Medien in Bildungsange- und Affektionsi nstanzen dar, schließlich schaf- boten wie D ataLiteracySkills@OWL,14 Teaching fen sie (neue) Wirklichkeiten.9 Media 15 oder Neue Medien in der Grundschu- Vor diesem Hintergrund erscheinen aktuelle le / Sekundarstufe.16 Medienwissenschaftliche und historische Diskurse rund um Medienbil- Akteur*innen bringen ihre Expertise zudem dung, Medienkompetenz, digitale Bildung usw. an einigen Standorten in die Aus- und Weiter- als dringliche Gegenstände für medienwissen- bildung von Lehrkräften sowie den F achkräften schaftliche Analysen, die jedoch nur punktuell zur frühkindlichen und außerschulischen in den Blick genommen werden.10 Die darin Bildung ein.17 Diese Aktivitäten sind begrüßens- vorhandenen Konzeptualisierungen von Medien wert, doch bleiben sie randständig. (und ihren ‹Chancen und Risiken›) sowie (un-) Durch gesteigertes Engagement könnte erwünschten Medienpraktiken könnten dabei als Medienwissenschaft mitbestimmen, welche Voraussetzungen zur Hervorbringung von Sub- Medien wie in Bildungsangeboten konzep- jekten gegenwärtiger und vergangener Medien- tualisiert werden und welche didaktischen kulturen analysiert werden. Ziele dabei verfolgt werden, welche ‹Medien- Zudem bieten medienwissenschaftliche kompetenzen› also letztlich ‹geschult› wer- Analysen von gegenwärtigen und vergangenen den. Sie könnte die üblichen Themen wie DEBATTE 141 ANDREAS WEICH / ADRIANNA HLUKHOVYCH Informations- und Präsentationskompetenzen, und -historischen Perspektiven und Ergebnissen das Erkennen von Fake News, Umgang mit speist. Hierbei ginge es dann nicht um Lern- Cybermobbing, Suchtfragen u. a. m., um eine förderlichkeit, sondern um eine Reflexion der theoretisch und historisch fundierte kritische medialen Voraussetzungen und Konsequenzen Reflexion und kreative Gestaltung von me- von didaktischen Szenarien. dienbezogenen Praktiken, Medientechnologien Wenn Bildungsmedien wie (Lehr-)Filme, und -inhalten, Subjektpositionierungen, Ein- YouTube, Wikipedia, adaptive Lernsysteme, und Ausschlüssen, (Medien-)Ökologien etc. Learning Analytics, VR oder Serious Games erweitern und ausdifferenzieren. Gleichzeitig medienwissenschaftlich analysiert werden,23 könnten sich Medienwissenschaftler*innen in kommen im Gegensatz zu Fragen nach dem die Bildungspolitikberatung einbringen, um Erreichen fachlicher Lernziele solche nach Entscheidungsträger*innen neue Perspekt iven medienkulturellen Praktiken, Subjektpositionie- auf ihre Felder zu gewähren. Die Medien- rungen, Mediengenealogien etc. in den Blick. wissenschaft erschlösse sich so einen gesell- Ebenso die Frage, inwiefern die gegenwärtigen schaftsp olitischen Handlungsspielraum. und historischen medialen Bedingungen die Bildung mit Medien meint meist die ge- Bildungsinstitutionen wie Schulen und Hoch- zielte Nutzung von Medien zur Umsetzung von schulen prägen. Denn Bildungsgeschichte ist Bildungs- und Lernprozessen. Hier sind insbe- immer auch Mediengeschichte, und Bildung sondere die erziehungswissenschaftliche Medien- formt als spezifischer Kontext die Medien- didaktik,18 Fachdidaktiken und die Pädagogische techniken, -inhalte und -praktiken. Vor diesem Psychologie relevant. Zumeist geht es in diesen Hintergrund sind Bildungsinstitutionen immer Disziplinen um die Lernförderlichkeit des Ein- auch Institutionen der Mediensozialisation satzes verschiedener Medien. Medienpädagogik, und -enkulturation, und sie sind als zentraler kulturwissenschaftlich orientierte Erziehungs- Bestandteil von Medienkulturen in den Blick wissenschaft und die interdisziplinären Critical zu nehmen. Denn die Hervorbringung und Studies of EdTech 19 untersuchen darüber hinaus Legitimierung von Subjektivierungsweisen und die medialen Grundlagen von Bildungsinstitu- Medienpraktiken dieser Institutionen ‹schlagen› tionen 20 und widmen sich kritisch Themen wie auf die Gesellschaft insgesamt ‹durch›. Das Datafizierung, Algorithmisierung, KI sowie der kann sowohl Datafizierung und Überwachung, Rolle der IT-Wirtschaft und des Datenkapitalis- (Daten-)Kapitalismus, soziale Ungleichheiten mus in Bildungskontexten.21 und Ungerechtigkeiten, Ein- und Ausschlüsse Auch Mediendidaktik basiert analog zu Me- (aufgrund von Rassismus, Genderismus, Klassis- dienkompetenz und Medienbildung auf impliziten mus, Dis / Ableismus), mangelnde Nachhaltigkeit oder expliziten Medienkonzepten. Hier liegen etc. betreffen. teils (medien-)theoretisch elaborierte Ansätze Vor diesem Hintergrund könnten medien- vor, doch werden Medien letztlich fast immer wissenschaftliche Akteur*innen auch im auf didaktisch-methodische Werkzeuge verkürzt. Feld ‹Bildung mit Medien› ihre Theorien zu Medienwissenschaft könnte demgegenüber die und Analysen von Bildungsmedien und -in- Rolle der Medien als wirkmächtige (materielle) stitutionen in die Aus- und Weiterbildung von Akteure noch mehr in den Vordergrund me- Lehrkräften, Dozent*innen an Hochschulen, diendidaktischer Forschung, Lehre und Praxis Erzieher*innen und außerschulisch agierenden rücken 22 und eine Mediendidaktik konturieren, Medienpädagog*innen integrieren, um ihre die sich aus medientheoretischen, -analytischen Perspektiven in die Bildungspraxis und damit 142 ZfM 28, 1/2023 BILDUNGSAUFTRAG in die Gesellschaft zu tragen. Dabei geht es nehmen.26 Hier werden medientheoretische Per- nicht darum, dass Medienwissenschaftler*innen spektiven aufgegriffen und eingefordert,27 doch pädagogische Fragen bearbeiten, sondern medienwissenschaftliche Interventionen finden da rum, dass sie genuin medienwissenschaft- sich bisher nur punktuell.28 Speziell in diesem liche Positionen, Fragen und Gegenstände, Kontext kann die Medienwissenschaft jedoch die nicht im Fokus der Erziehungswissenschaft einen maßgeblichen Beitrag leisten und von dort stehen, in pädagogische Studiengänge und aus auch Diskurse zur Bildung über und mit Praxisfelder curricular integrieren.24 Auch Medien neu fokussieren, insofern sie Kompetenz hier wäre es aus unserer Sicht wünschenswert, und Kritik in einem umfassenderen Verständnis dass sich die Medien wissenschaft für eine der medialen Voraussetzungen unserer Wirk- Bildung mit Medien beratend engagiert, z. B. lichkeiten begründet. Denn Medientheorie zielt bei Schul- und Kitaleitungen, aber auch bei in vielerlei Hinsicht auf die Frage, wie Medien Entscheidungsträger*innen in der Bildungs- Zugänge zur Welt schaffen, wie sie sich in In- politik. In bildungspolitischen Diskursen gibt halte und Praktiken einschreiben sowie Subjekte es zwar vereinzelt medienwissenschaftliche hervorbringen bzw. positionieren.29 Medien- Positions- und Diskussionspapiere,25 doch wissenschaft fragt danach, wie Medien unsere verhält sich die Medienwissenschaft hier eher Selbst- und Weltverhältnisse bestimmen und wie reaktiv als proaktiv. Durch gesteigerte Transfer- letztlich jedwedes Wissen und jedwede kulturelle aktivitäten könnten zentrale Akteur*innen, die Praxis von Medien durchwirkt bzw. durch sie massiven Einfluss auf die Gestaltung von Bil- (mit-)konstituiert wird. Damit sind schließlich dung und Bildungsmedien haben, dabei unter- auch Kernfragen der Bildungstheorie hinsicht- stützt werden, medientheoretisch und -historisch lich der Hervorbringung und Transformation fundierte Reflexion zu betreiben. Aus unserer von Selbst- und Weltverhältnissen berührt.30 Sicht sollte Medienwissenschaft systematisch Medienwissenschaft kann Bildung durch Medien und sichtbar in denjenigen Kommissionen und auf spezifische Weise konturieren, beispielsweise Gremien vertreten sein, die politisch wirksame als das Durchlaufen verschiedener Medienkon- Papiere verfassen und Entscheidungen treffen. stellationen.31 Vor dem Hintergrund der zuneh- Und dies könnte – über den wissenschaftlichen menden Diskussion und Reflexion methodischer Austausch mit den Critical Studies of EdTech, Herangehensweisen in der Medienwissenschaft 32 der Medienpädagogik, der Mediendidaktik geht es auch darum, inwiefern diese das Nach- und den Fachwissenschaften und Fachdidaktiken denken über die Zusammenhänge zwischen hinaus – noch weiter gehen bis zum Dialog Medien und Bildung strukturieren und bereichern mit Bildungsmedienproduzent*innen wie Ver- könnten. Diese Reflexion berührt im Übrigen lagen oder EdTech-Unternehmen, der im die epistemologischen Grundlegungen der besten Fall die Gestaltung von Bildungsmedien Medienwissenschaft als geisteswissenschaftlicher kritisch beeinflusst. Disziplin und somit ihr basales (Spannungs-) Bildung durch Medien meint zumeist die Verhältnis zu sozial- und bildungswissenschaft- Konstitution und Transformation von Selbst- lichen (ferner natur- und ingenieurwissenschaft- und Weltverhältnissen durch Medien. Insbeson- lichen) Disziplinen, die sich (ebenfalls und aus dere aus erziehungswissenschaftlichen Debatten ihren Perspektiven) mit Medien und Bildung um Medienbildung sind Ansätze hervorgegan- befassen. Hier bietet sich ein interdisziplinärer gen, die die medialen Voraussetzungen und Austausch mit Akteur*innen der Bildungs- und Potenziale für Bildungsprozesse in den Blick Medienbildungstheorie an. Die Bereitschaft DEBATTE 143 ANDREAS WEICH / ADRIANNA HLUKHOVYCH innerhalb der Erziehungswissenschaft ist Folglich muss das Fehlen medienwissenschaft- hierfür seit Jahren groß (s. o.). Während einige licher Perspektiven und Positionen in den Autor*innen aus der Erziehungswissenschaft relevanten politischen Papieren in Kauf genom- medienwissenschaftliche Theorien explizit men werden. So werden im Gutachten der SWK a ufgreifen,33 sind umgekehrte Bezugnahmen zu «Digitalisierung im Bildungssystem» unter eher selten. dem Punkt zur Notwendigkeit der Einbindung von Fachgesellschaften in die Lehrkräftebil- dung neben der ohnehin gesetzten Informatik Plädoyer für ein stärkeres Engagement «digitalisierungsbezogene Fachdidaktik, Medien- medienwissenschaftlicher Akteur*innen pädagogik, Medienpsychologie, Medienethik, Hiermit möchten wir zur Debatte stellen, in- Mediensoziologie»34 genannt – die Medien- wieweit ein Interesse der Medienwissenschaft an wissenschaft, und damit auch ihre spezifischen Bildungsfragen sowie die Systematisierung und epistemologischen und (bildungs-)politischen Steigerung der Bearbeitung relevanter fachlicher Zugänge, kommen hier nicht vor.35 Und das liegt sowie gesellschafts- und fachpolitischer Frage- nicht nur daran, dass medienwissenschaftliche stellungen wünschenswert ist und in welche Perspektiven ggf. zu abstrakt und zu kritisch Richtung dies ggf. weisen könnte. Wir möchten sind, sondern auch daran, dass die Medienwissen- einige Argumente für ein dauerhaftes und nach- schaft sich der entsprechenden Gegenstände haltiges Engagement der Medienwissenschaft im und Fragen häufig nicht annimmt. Dabei wird Bereich Medien und Bildung benennen und der Bedarf an medientheoretisch fundierten die Reflexion ihres ‹Bildungsauftrags› anstoßen. Beiträgen z. B. vonseiten der Medienpädagogik Die Medienwissenschaft hat aus unserer Sicht (s. o.) regelmäßig formuliert. In einigen Aus- viel zu Medien und Bildung zu sagen, tut es schreibungen zu Bildungsthemen, etwa durch aber nicht oft genug, nicht laut genug und nicht das BMBF, wird die Medienwissenschaft explizit durch hinreichend viele Personen. Das führt adressiert. Medienwissenschaftliche Einreichun- dazu, dass Bildung über, mit und durch Medien gen bzw. solche mit medienwissenschaftlicher weniger befriedigend erforscht und gestaltet Beteiligung gibt es jedoch nur wenige. Zum wird, als es nach dem Stand medienwissenschaft- einen bräuchte es deutlich mehr Projekte, in de- licher Forschung der Fall sein könnte. Dies ist nen sowohl arrivierte Wissenschaftler*innen als nicht nur ein Verlust auf der Ebene wissenschaft- auch Promovierende inhaltliche Arbeit leisten licher Erkenntnis, sondern hat mit Blick auf die und dadurch aufzeigen können, was medienwis- Bildungspraxis ganz konkrete gesellschaftliche senschaftliche Perspektiven in den oben skiz- und kulturpolitische Auswirkungen, da das zierten Feldern zu leisten imstande sind. Zum formale Bildungssystem meist ohne medienwis- anderen ist die institutionelle Verankerung von senschaftlich fundierte Perspektiven auf Medien solchen Projekten ins Visier zu nehmen. Denn durchlaufen wird. Da das Thema Bildung in den auch wenn sich erfolgreiche Projekte mit me- letzten Dekaden wenig medienwissenschaftliche dienwissenschaftlicher Beteiligung mehren, sind Aufmerksamkeit genossen hat und bereits seit die wenigsten davon an medienwissenschaftli- Jahren, teils Jahrzehnten, andere Akteur*innen chen Instituten angesiedelt. Zwar ist es der inter- substanziell dazu arbeiten und hier ihre Stimme disziplinären Kooperation und ‹Durchlässig keit› erheben, wird diesen auch auf politischer und sowie dem Hineintragen medienwissenschaft- gesellschaftlicher Ebene deutlich mehr Gehör licher Perspektiven in andere Diszi plinen geschenkt als Medienwissenschaftler*innen. zuträglich. Es führt aber auch zu dem (wenn 144 ZfM 28, 1/2023 BILDUNGSAUFTRAG auch die Selbstreflexion fördernden, so doch Qualifizierungsarbeiten, Professuren mit zuweilen befremdlichen) Begründungsdruck bildungsbezogenen Denominationen) zu leisten für Forscher*innen in Bezug auf medienwis- sowie durch die Intensivierung des Engage- senschaftliche Herangehensweisen und kommt ments im interdisziplinären Austausch (gemein- letztlich weder dem Selbstverständnis und der same Tagungen, Publikationen und Projekte), Außenwahrnehmung der Forschenden noch der durch bildungspolitische Mündigkeit (Stellung- Auseinandersetzung mit Medien und Bildung als nahmen, Bildungspolitikberatung, (Mit-) genuin medienwissenschaftlicher Arbeit zugute. Verf assen von bildungspolitischen Papieren) Spätestens in diesem Zusammenhang wird die oder die (Mit-)Arbeit in der Bildungspraxis fachpolitische Ebene finanziell tangiert, da hier (Unterrichtsm aterialien, Aus-, Fort- und Wei- eine signifikante Menge an Forschungsgeldern terbildung der Lehrkräfte). anderen Disziplinen überlassen wird. Nicht viel Wie unser Beitrag verdeutlicht, muss die anders verhält es sich mit neu zu besetzenden Medienwissenschaft hier nicht bei null anfan- Professuren und / oder neu eingerichteten Lehr- gen. Mit der Arbeit der AG Medienkultur und stühlen im Themenfeld Medien und Bildung. Bildung sowie der Foren Bildung und Digi- Sie sind nicht an medienwissenschaftlichen In- talisierung sind darüber hinaus grundlegende stituten angesiedelt, sondern werden von anderen Strukturen vorhanden, die weitere Vorhaben und Disziplinen beherbergt. Gelingt es, innerhalb Initiativen im Bereich Medien und Bildung vo ran- der Medienwissenschaft die Antragsarbeit zu treiben. Sie werden ergänzt durch Fachkonfe- intensivieren, könnten die Chancen auf neue renzen, Projekte, Kooperationen, die Beteiligung Professuren im Bereich Medien und Bildung an an der Initiative ‹Keine Bildung ohne Medien!› medienwissenschaftlichen Instituten viel besser sowie den Roundtable ‹Medienbildung / Digitale stehen. Eine Hinwendung zu bildungsbezogenen Bildung› des Vorstandes der Gesellschaft für Themen in der medienwissenschaftlichen Lehre Medienwissenschaft, der einen fachpolitischen sowie die Konzipierung und Öffnung der me- Willen zu Transformation und Transfer signali- dienwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen für siert und neue Akteur*innen zusammengeführt Student*innen in bildungsbezogenen Kontexten, hat. Was noch aussteht, ist eine breite Resonanz z. B. für Lehramtsstudent*innen, könnten zu in Bezug auf dieses Tätigkeitsfeld innerhalb weiteren medienwissenschaftlichen Auseinander- der Fachgemeinschaft. setzungen mit dem Themenkomplex Medien Warum blieb diese Resonanz bislang aus? und Bildung beitragen. Nicht zuletzt könnte Liegt das Zögern bei der Auseinandersetzung sie den – trotz eines anhaltenden medientech- mit Medien und Bildung am (freilich immer nischen und -kulturellen Wandels – an vielen schon höchst heterogenen) Selbstverständnis Standorten rückläufigen Studierendenzahlen der Disziplin Medienwissenschaft bzw. ihres in medienwissenschaftlichen Studiengängen impliziten ‹Bildungsauftrags›? Oder liegt die entgegenwirken. begrenzte Resonanz des Themas im Fach an Dementsprechend zielt unser Plädoyer auf der Annahme einer funktionalen Arbeitsteilung eine stärkere Mitgestaltung der Diskurse um mit der Medienpädagogik und Mediendidaktik, Bildung über, mit und durch Medien – theoretisch in der sich Medienwissenschaft aus bildungs- wie praktisch. Eine entsprechende Haltung bezogenen Angelegenheiten heraushalten kann und Motivation innerhalb der Fachgesellschaft oder sogar sollte, weil die Kolleg*innen aus vorausgesetzt, wäre dies durch einen vermehr- der Erziehungswissenschaft sich hinreichend ten inhaltlichen Output (Forschungsprojekte, darum kümmern? Liegt es am Fehlen eines DEBATTE 145 ANDREAS WEICH / ADRIANNA HLUKHOVYCH Schulfachs ‹Medien› und einer medienwissen- schaftlichen Fachdidaktik, dass man es weitest- gehend den bestehenden Fachdidaktiken und der Medienpädagogik überlässt, sich der Bildung über Medien in der Schule anzunehmen? Ist es die Frage des (mangelnden) Prestiges bzw. des symbolischen Kapitals bestimmter Forschungs- felder oder Disziplinen, die maßgeblich dafür ist, ob sich Medienwissenschaftler*innen an einer Bildungsdebatte beteiligen oder nicht? Gehört es zu einem medienwissenschaftlichen Habitus, sich von der Auseinandersetzung mit Bildung abzu- grenzen, um den genannten Disziplinen nicht zu nah zu kommen, um sich nicht aus dem ‹Kern- geschäft› der Medienwissenschaft zu entfernen? Geht es um das Vermeiden (oder geradezu die Intensivierung) diskursiver, bildungs- und wissenschaftspolitischer Konkurrenz, um eine bereitwillige Akzeptanz (oder auch Zuspitzung) von Machtverhältnissen zwischen Disziplinen und von Expertisenführung? Oder liegt das Problem in der Motivation und an den Bedarfen der Praktiker*innen, die oftmals die Komplexität medienwissenschaftlicher Fragestellungen und Theorien auf einige praxisbezogene Kernfragen oder Zugangsweisen verkürzen? Gibt es (ganz) andere (strukturelle) Hindernisse? Geht die hier dargelegte Einschätzung der Lage womöglich sogar fehl, da es viel mehr medienwissenschaft- liches Engagement in den konturierten Feldern gibt, als (zumindest für uns) gemeinhin sichtbar ist? Dann würden die ohnehin im Sinne der hier angestoßenen Debatte wünschenswerte Vernetzung und der Austausch zu inhaltlichen und (fach-)strategischen Fragen in den Vor- dergrund rücken. In diesem Sinne laden wir alle Kolleg*innen ein, sich an der hier initiierten Debatte zu beteiligen! — 146 ZfM 28, 1/2023 BILDUNGSAUFTRAG 1 Dies betrifft nicht nur die 8 Kritisch dazu: Theo Hug, 13 Strategiekommission und D iskurse um Bildung, sondern Rainer Leschke: On the Medializa- AG Medienkultur & Bildung der stellt auch für die Medienwissen- tion of the World and the Media- GfM 2013: Medienkultur und schaft insgesamt ein Problem tization of Discourse: Explorations Bildung. Positionspapier der GfM, dar. Vgl. Claus Pias: Medienwis- between the Poles of Conceptual 2013, gfmedienwissenschaft.de/sites/ senschaft ohne Medien?, in: ZMK Politics in Medial Infrastructures default/files/pdf/2018-02/3961dd_ Zeitschrift für Medien- und Kulturfor- and Concept-analytical Differen- d3f6c0806fdb4fab96150ce6959de schung, Bd. 11, Nr. 1, 2020, 59 – 67, tiations, in: Media Theory, Bd. 5, 750.pdf (17.1.2023). doi.org/10.25969/mediarep/18751. Nr. 1, 2021, 59 – 88. 14 Vgl. Website des hochschul- 2 Dieter Baacke: Medienpädago- 9 Exemplarisch: Sven Grampp: übergreifenden Verbundprojekts gik, Tübingen 1997. Medienwissenschaft, Konstanz, DataLiteracySkills@OWL: campus- 3 Vgl. Beiträge in der Zeitschrift München 2016. owl.eu/projekte/dalis (17.1.2023). merz und insbesondere in Heinz 10 Exemplarisch: Petra Misso- 15 Elisabeth Kampmann, Moser u. a. (Hg.): Medienbildung melius: Bildung – Medien – Mensch. Gregor Schwering: Teaching Media. und Medienkompetenz. Beiträge zu Mündigkeit im Digitalen, Göttingen Medientheorie für die Schulpraxis, Schlüsselbegriffen der Medienpädago- 2022; Andreas Weich, Julius Bielefeld 2017. gik, München 2011. Othmer: Medienbildung und 16 Katja Grashöfer u. a.: Neue 4 Exemplarisch: Horst Niesyto, Medientheorie – Versuch Medien in der Sekundarstufe (5. bis Heinz Moser (Hg.): Medienkritik im eines medienwissenschaftlichen 10. Klasse), Hamburg 2015; dies.: digitalen Zeitalter, München 2018; Beitrags, in: Dichtung Digital. Neue Medien in der Grundschule Sonja Ganguin, Uwe Sander: Zur Journal für Kunst und Kultur digitaler (1. bis 4. Klasse), Hamburg 2015. Entwicklung von Medienkritik, in: Medien, Jg. 16, Nr. 43, 2014, 1 – 25, 17 Exemplarisch und punktuell Friederike von Gross u. a. (Hg.): doi.org/10.25969/mediarep/17767; das Zentrum für Lehrkräftebildung Medienpädagogik – ein Überblick, Andreas Weich, Katja Koch, Julius an der Universität Marburg (uni- Weinheim, Basel 2015, 229 – 246. Othmer: Medienreflexion als marburg.de/de/zfl/aktuelles/termine). 5 Torsten Brinda u. a.: Dagstuhl- Teil «digitaler Kompetenzen» von 18 Michael Kerres: Medien- Erklärung. Bildung in der digital Lehrkräften? Eine interdiszipli- didaktik. Konzeption und Entwicklung vernetzten Welt, 23.3.2016, gi.de/ näre Analyse des TPACK und des digitaler Lernangebote, Berlin, fileadmin/GI/Hauptseite/Themen/ DigCompEdu-Modells, in: k:ON, Boston 2018. Dagstuhl-Erkla__rung_2016-03-23. Bd. 1, Nr. 1, 2020, 43 – 64, doi. 19 Felicitas Macgilchrist: What pdf (17.1.2023); vgl. auch das org/10.18716/ojs/kON/2020.1.3; vgl. is ‹critical› in critical studies of DPACK-Modell bei Beat Döbeli auch den Workshop «Was ist edtech? Three responses, in: Learn- Honegger: Covid-19 und die digita- Medienkompetenz?» (Harun Maye, ing, Media & Technology, Bd. 46, le Transformation in der Schweizer Universität Basel), medienwissen Nr. 3, 2021, 243 – 249, doi.org/10.10 Lehrerinnen- und Lehrerbildung, schaft.philhist.unibas.ch/de/news/ 80/17439884.2021.1958843. in: Beiträge zur Lehrerinnen- und details/workshop-medienkompetenz-1 20 Jeanette Böhme: Schule Lehrerbildung, Jg. 39, Nr. 3, 2021, (17.1.2023). am Ende der Buchkultur. Medienthe- 411 – 422, doi.org/10.25656/01:23693. 11 Thorsten Brinda u. a.: oretische Begründungen schulischer 6 Exemplarisch: Benjamin Frankfurt-Dreieck zur Bildung Bildungsarchitekturen, Bad Heil- Jörissen u. a. (Hg.): Jahrbuch in der digital vernetzten Welt. brunn 2006. Medienpädagogik 18: Ästhetik – Ein interdisziplinäres Modell, in: 21 Felicitas Macgilchrist, Digitalität – Macht, Zürich 2022, Thomas Knaus, Olga Merz (Hg.): Sigrid Hartong, Sieglinde Jornitz: doi.org/10.21240/mpaed/jb18.X; Schnittstellen und Interfaces. Digitaler Algorithmische Datafizierung und Harald Gapski u. a. (Hg.): Wandel in Bildungseinrichtungen, Schule: Kritische Ansätze in einem Medienkompetenz. Herausforde- München 2020, 157 – 168. wachsenden Forschungsfeld, rung für Politik, politische Bildung 12 Markus Burkhardt u. a.: in: Katharina Schreiter, Ingrid und Medienbildung, Bonn 2017; Welche Daten? Welche Literacy? Gogolin (Hg.): Edition ZfE (Zeit- Maisha-Maureen Auma: Kulturelle Ein Kommentar zur Data-Literacy- schrift für Erziehungswissenschaft), Bildung in pluralen Gesellschaf- Charta des Stifterverbandes, Wiesbaden 2023 / im Erscheinen; ten: Diversität von Anfang an! in: ZfM Open-Media-Studies-Blog, Horst Niesyto: ‹Digitale Bildung› Diskriminierungskritik von Anfang 13.12.2021, zfmedienwissenschaft. wird zu einer Einflugschneise für an!, in: Kulturelle Bildung online, de/online/open-media-studies-blog/ die IT-Wirtschaft, in: medien + erzie- 2018, doi.org/10.25529/92552.29 welche-daten-welche-literacy. hung, Nr. 1, 2021, 23 – 28. (15.1.2022); Judith Ackermann, (17.1.2023); AG Medienkultur und 22 Tristan Thielmann, Erhard Benjamin Egger (Hg.): Transdiszi- Bildung: Stellungnahme der Ar- Schüttpelz: Akteur-Medien-Theorie, plinäre Begegnungen zwischen post- beitsgemeinschaft ‹Medienkultur Bielefeld 2013; Kerres: Medien- digitaler Kunst und Kultureller Bildung. und Bildung› der Gesellschaft für didaktik (Kerres befasst sich mit Perspektiven aus Wissenschaft, Kunst Medienwissenschaft (GfM) zum der Akteur-Netzwerk-Theorie, und Vermittlung, Wiesbaden 2021. Entwurf der Strategie der Kultus- bezieht sie jedoch in seine praxis- 7 Exemplarisch: Michael Staiger: ministerkonferenz «Bildung in der bezogenen Überlegungen nicht Medienbegriffe – Mediendiskur- digitalen Welt», gfmedienwissen- konsequent ein). se – Medienkonzepte. Bausteine einer schaft.de/sites/default/files/pdf/2018- 23 Nicola Przybylka: Medien- Deutschdidaktik als Medienkultur- 02/3961dd_70454349ca384bb5adcf kulturwissenschaftliche didaktik, Baltmannsweiler 2007. 80d784d3b5ed.pdf (17.1.2023). Perspektiven auf Augmented DEBATTE 147 ANDREAS WEICH / ADRIANNA HLUKHOVYCH und Virtual Reality in forma- 30 Winfried Marotzki: Entwurf len Bildungskontexten, in: einer strukturalen Bildungstheorie, Medien Pädagogik, Nr. 47, 2022, Weinheim 1990; Hans-Christoph 331 – 354, doi.org/10.21240/ Koller: Bildung anders denken. mpaed/47/2022.04.16.X; Rolf F. Einführung in die Theorie transfor- Nohr: Instructional Devices. matorischer Bildungsprozesse, Teaching Machines, Serious Stuttgart 2018. Games and Subject Technologies, 31 Exemplarisch erneut: in: Digital Culture and Society, Missomelius: Bildung – Medien Bd. 7, Nr. 1, 2022, 29 – 52; A ndreas – Mensch, sowie Andreas Weich: Weich u. a.: Adaptive Lernsys- Bildungsbezogene Medienkon- teme zwischen Optimierung stellationsanalyse. Konturen einer und Kritik, in: MedienPädagogik, vermittelnden Herangehensweise Nr. 44, 22 – 51, 2021: Datenge- angesichts der Grenze zwischen triebene Schule, doi.org/10.21240/ Subjekt und Medien, in: Viertel- mpaed/44/2021.10.27.X. jahresschrift für wissenschaftliche 24 Exemplarisch erneut Uni- Pädagogik, Bd. 4, Nr. 98, 2022, versität Marburg oder das nieder- 461 – 477. sächsische Verbundprojekt 32 Vgl. hierzu die Debatten- B asiskompetenzen Digitalisierung ( / ). Reihe «Methoden der Medien- 25 S. o. zur KMK-Strategie; wissenschaft» in der ZfM, Björn Bohnenkamp u. a.: zfmedienwissenschaft.de/online/ Online-Lehre 2020 – Eine medien- debatte/methoden-der-medienwissen- wissenschaftliche Perspektive. schaft (17.1.2023). Ein Diskussionspapier der Foren 33 So etwa Bettinger: Praxeo- Bildung und Digitalisierung der logische Medienbildung; Valentin Gesellschaft für Medienwissen- Dander: Medienpädagogik im schaft zum universitären Betrieb Lichte | im Schatten digitaler unter C ovid-19-Bedingungen, Daten. Kumulative Dissertation, Diskussionsp apier Nr. 10. in: MedienPädagogik, März 2018, Berlin 2020, d oi.org/10.5281/ 1 – 134, doi.org/10.21240/mpaed/diss. zenodo.4058609. vd.01.X; Nina Grünberger: Kontem- 26 Benjamin Jörissen, Winfried poräre Bildung. Zu einem zeitgemäßen Marotzki: Medienbildung – Eine Verständnis von Bildung und Medien, Einführung, Bad Heilbrunn 2009; Innsbruck 2017. Patrick Bettinger: Praxeologische 34 Digitalisierung im Bildungs- Medienbildung, Wiesbaden 2018. system: Handlungsempfehlungen 27 Jörissen fordert z. B., sich von der Kita bis zur Hochschule. dem «medientheoretischen Kern» Gutachten der Ständigen Wissen- von (Medien-)Bildung zu widmen. schaftlichen Kommission der Benjamin Jörissen: Medienbil- Kultusministerkonferenz (SWK), dung – Begriffsverständnisse und 19.9.2022, Bonn 2022, 127, kmk. -reichweiten, in: Moser u. a. (Hg.): org/fileadmin/Dateien/pdf/KMK/ Medienbildung und Medienkom- SWK/2022/SWK-2022-Gutachten_ petenz, 211 – 235, hier 222. Digitalisierung.pdf (17.1.2023). 28 Exemplarisch erneut Misso- 35 Auch wenn sich die im melius: Bildung – Medien – Mensch; Gutachten genannten Disziplinen Weich, Othmer: Medienbildung selbstverständlich wissenschaft- und Medientheorie; Julius lich mit Medien auseinander- Othmer, Andreas Weich: Und setzen, so tun sie es doch vor dem noch ein paar Sätze mehr … Hintergrund anderer Basistheo- Anmerkungen zu «Medienbildung rien, mit anderen Methoden und in fünf Sätzen», in: Theo Hug u. a. anderen Fragestellungen. (Hg.): Medien – Wissen – Bildung. Medienbildung wozu?, Innsbruck 2016, 95 – 104. 29 Exemplarisch: Hartmut Winkler: Basiswissen Medien, Frank- furt / M. 2008; Sybille Krämer: Das Medium als Spur und Apparat, in: dies. (Hg.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt / M. 1998, 73 – 94. 148 ZfM 28, 1/2023 — WERKZEUGE — PERFORMANZ/FAME Über Wissenschaftskommunikation von THOMAS WAITZ Fast jede Person, die medienwissenschaftlich tätig ist, kommt früher oder später in die Verlegenheit – oder in die Versuchung –, Journalist*innen Auskunft zu geben: über die eigene Arbeit, oder zumindest über Gegenstände, von denen Redaktionen annehmen, dass sie zur fachlichen Expertise gehören. Zwar findet Wissenschaftskommunikation auf vielen Feldern statt, vom Science Slam bis hin zu Social Networking Sites. Doch spielt die Erzeugung journalistischer Auf- merksamkeit nach wie vor eine zentrale Rolle. Das gilt selbst dort, wo dies, wie im Falle der Medienwissenschaft, eher auf Sendeplätzen und in Formaten des Kulturjournalismus geschieht und nicht in den zahlreichen wissenschaftsjour- nalistischen Programmen, die Psychologie, Medizin oder Naturwissenschaften vorbehalten bleiben. Dass viele medienwissenschaftliche Gegenstände aus dem Alltag vertraut scheinen, erweist sich dabei als Glücksfall und Problem zugleich. Als Glücks- fall, weil es oft nicht schwerfällt, die Relevanz der eigenen Forschung zu ver- mitteln – vor allem wenn sich diese auf Filme, Fernsehserien oder aktuelle Internetphänomene bezieht. Als Problem, weil die journalistische Herange- hensweise, Gegenstände zu suchen, die im Alltag oder in öffentlichen D ebatten präsent sind, und zu fragen, was wohl ‹die Wissenschaft› dazu sagt, aus min- destens drei Gründen heikel ist. Erstens bilden Journalist*innen – das eint sie mit Medienwissenschaftler*innen – eine sozioökonomisch recht homogene Gruppe,1 deren professionelle Aufmerksamkeit mit selten reflektierten Wert- 1 Vgl. Viel Wille, kein Weg. urteilen der eigenen Bezugsgruppe korrespondiert. Zweitens ist diese Aufmerk- D iversity im deutschen Journalismus. samkeit an aktuelle Konjunkturen gebunden, was dazu führt, dass grundle- Ein Projekt der Neuen deutschen Medienmacher*innen, Berlin 2020, gende Themen journalistisch kaum Niederschlag finden. Und drittens erweist neuemedienmacher.de/fileadmin/up sich die Idee, Gegenstände aus der Empirie zu entnehmen und dann nach ih- loads/2020/05/20200509_NdM_ Bericht_Diversity_im_Journalismus.pdf rer ‹wissenschaftlichen Einordung› zu fragen, als inkompatibel zu dem in der (22.12.2022). 150 ZfM 28, 1/2023 Medienwissenschaft dominanten epistemologischen Modell, das Theorie und Gegenstände auf einer Ebene verortet und die scheinbar ‹selbstverständliche›, ‹gegebene›, ‹natürliche› Vorgängigkeit von Welt verneint. — Daraus resultiert ein Grundkonflikt, der zwischen Journalist*innen und Medienwissenschaftler*innen notwendig zu Enttäuschungen und Missver- PERFORMANZ/FAME ständnissen führt. Denn dort, wo für viele Wissenschaftler*innen Nachdenken und wissenschaftliches Fragen erst beginnen, erhoffen sich Journalist*innen Über Wissenschaftskommunikation bereits Antworten – und zwar bevorzugt solche, die nicht gleich sämtliche von THOMAS WAITZ Prämissen des eigenen Denkens für obsolet erklären. Gerade in der Medien- wissenschaft gehört jedoch zum sorgsam gepflegten Selbstbild, die eigene Auf- gabe weniger im Formulieren von Antworten denn im Stellen von Fragen zu sehen und sich einem hypoleptischen Diskurs zu verpflichten. Dieser verhält sich suchend, tastend und fragend gegenüber einer ‹Welt›, die in ihrer vorwis- senschaftlichen Erscheinung als durch und durch problematisierungsbedürf- tig gedacht oder gar, wie von Joseph Vogl, als «antwortförmig»2 und damit falsch verworfen wird. Das journalistische Bedürfnis nach Auskunft kommt angesichts einer solchen zum Habitus geronnenen Fachkultur denkbar unge- legen – auch wenn selbst wohlwollende Beobachter*innen werden einräumen müssen, dass Vogl selbst selten davor zurückschreckt, bereitwillig Antwort zu geben, allerdings abseits eines von Zeitdruck und engen Produktionsbedin- gungen bestimmten journalistischen Arbeitsalltags. Dieser Arbeitsalltag – auch das eint die journalistische mit der wissenschaftlichen Sphäre – stellt sich als hochgradig prekär dar.3 Das wird etwa dann deutlich, wenn frei beschäftigte Journalist*innen in In- 2 Joseph Vogl: «Das Zaudern ist ein Suchlauf in der antwortför- terviews sorgsam darauf bedacht sind, ‹passende› O-Töne für Beiträge, die sie migen Welt». Ein Gespräch über im Kopf längst mühsam gebaut, geschnitten und an eine Redaktion verkauft ökonomisches Wissen, Askese als Subjekt therapie und das Lachen haben, herauszukitzeln. Wer in einer solchen Situation das Interview mit ei- Franz Kafkas, in: Barbara Gronau, ner offenen Gesprächssituation verwechselt und sich aufschwingt, getreu der Alice Lagaay (Hg.): Ökonomien der Zurückhaltung. Kulturelles Handeln zwi- disziplinären Tradition erst einmal mit großer Geste die problematischen Prä- schen Askese und Restriktion, Bielefeld missen der Fragenden in Zweifel zu ziehen, darf sich zwar als Sand im Getriebe 2010, 235 – 248, hier 237. 3 Vgl. Thomas Hanitzsch, Jana geistiger Bequemlichkeit fühlen. Ein Beitrag wird so aber nicht daraus, wie Rick: Prekarisierung im Journalis- ich selber erfahren durfte, nachdem ich in einem Interview für ein öffentlich- mus. Erster Ergebnisbericht März 2021, Institut für Kommunika- rechtliches Kulturmagazin die Frage, wie ich denn den Widerspruch erklären tions- und Medienforschung der könne, dass ein großes, gewinnorientiertes Unternehmen wie Netflix eine ka- Ludwig-Maximilians-Universität, München 2021, ifkw.uni-muenchen. pitalismuskritische Fernsehserie wie Squid Game produziere, mit dem Hinweis de/lehrbereiche/hanitzsch/projekte/ beschied, Squid Game sei überhaupt keine Kapitalismuskritik, und das dann in prekarisierung.pdf (28.12.2022); Burkhard Schmidt u. a.: Arbeits- einem länglichen Referat begründete. Nach einer Stunde endete das Interview, druck – Anpassung – Ausstieg. Wie und ich verließ es, wie ich überheblich dachte, als intellektueller Sieger. Vom Journalist*innen die Transformation der Medien erleben, OBS-Arbeits- Journalisten oder dem fertigen Beitrag hörte ich jedoch nie wieder etwas. Das papier 55, Otto-Brenner-Stiftung, schmerzte, denn ich hatte einiges an Zeit für die Vorbereitung des Termins auf- Frankfurt / M. 2022, otto-brenner- stiftung.de/fileadmin/user_data/ gewendet. Einige Wochen später fand ich mich in einer Weiterbildungsreihe stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_ zur Wissenschaftskommunikation wieder und lernte: Je länger ein Interview Publikationen/AP55_Medienmacher_ innen.pdf (22.12.2022). dauere, desto schlechter sei das. WERKZEUGE 151 THOMAS WAITZ Die Weiterbildungsreihe bestand aus einem kommunikationsw issenschaft- lichen Einführungskurs mit disziplintypischen Theorieanteilen, über die groß- zügig hinwegzusehen ich mich sehr bemühte, einem Social-Media-Crashkurs, einem Training für Fernsehinterviews, das bei einem kommerziellen Anbieter durchgeführt wurde, der sich rühmte, üblicherweise Finanzinstitute, Pharma- unternehmen und Politiker*innen zu schulen, und einem Kurs zum Thema ‹ Storytelling›. Denn, so erfuhr ich, alle wissenschaftsjournalistisch ‹brauchbaren› Themen müssten «wie eine spannende Geschichte» vermittelt werden: «ver- ständlich», «kurzweilig», «durchaus unkonventionell präsentiert» und gleichzei- tig «seriös und wissenschaftlich korrekt», so der Ankündigungstext. Zwei Dinge konnte ich beobachten. Erstens: Meine frustrierende Erfahrung mit Journalist*innen war kein Einzelfall, sondern wurde breit geteilt. Die Kurs- tage gestalteten sich zu guten Teilen wie Treffen einer Selbsthilfegruppe. Alle Kolleg*innen, egal welcher Disziplin, wussten Negatives über Journalist*innen zu berichten – die eine stand vor dem Problem, dass ihre Aussagen regel- mäßig verkürzt und entstellt wurden; ein anderer schilderte, dass es seinen Gesprächspartner*innen so sehr an Allgemeinbildung mangele, dass er nie über die Erläuterung von Banalitäten hinauskäme; eine Dritte verzweifelte, weil sie immer wieder dasselbe gefragt wurde. Das gemeinsame Klagen stiftete eine wohlige Atmosphäre, v. a. aber die Geschäftsgrundlage der als Trainer*innen geladenen Journalist*innen. Weit entfernt davon, die beklagten Gepflogen- heiten oder die problematischen Arbeitsbedingungen ihres Metiers in Abrede zu stellen, dienten sie sich als patente und nie um einen Ratschlag verlege- ne Praktiker*innen an, die zu den Problemen, die ihr eigenes Tun generiert, schnell die passenden Workarounds zur Hand hatten. So lautete das Lernziel: «Sie kennen taktische Maßnahmen, um Ihre Botschaft zu platzieren, da selbst im ‹kooperativen› Klärungs- und Erörterungsinterview nicht immer die richti- gen Fragen gestellt werden». Das Bild, das dabei entstand – und dies war die zweite Beobachtung, die ich machte –, ist das einer prinzipiellen Asymmetrie, in der Journalist*innen – im kommunikationswissenschaftlichen Jargon: ‹Gatekeeper› – als diejenigen er- scheinen, welche die ‹Öffentlichkeit› über ‹Erkenntnisse der Wissenschaft› unterrichten, diese ‹einordnen› und ‹erklären›. Ihnen stehen wissenschaftliche Communitys gegenüber, die ihre Erkenntnisse nicht begreiflich zu machen in der Lage sind. Was umso schwerer wiegt, wenn den Theoriemodellen von Me- dien- und Kulturwissenschaft eine den Naturwissenschaften äquivalente Kom- plexität oder ein entsprechender Bruch mit Alltagskonzepten gar nicht erst zu- getraut wird. Wissenschaftler*innen erscheinen so als der Beratung bedürftige Mängelwesen: Weder kennen sie ihre «Kernbotschaft» noch ihre «Ziel- und Dialoggruppen», geschweige denn die geeigneten «Kanäle», um das «Ziel der Kommunikation zu erreichen» – eine Diagnose, die angesichts der Social- Media-Aktivitäten vieler Wissenschaftler*innen, die zumeist ganz gut ohne Journalist*innen auskommen, etwas verblüfft. 152 ZfM 28, 1/2023 PERFORMANZ / FAME Das alles ließe sich im wissenschaftlichen Arbeiten getrost ignorieren. Al- lerdings sehen Hochschulleitungen – anders als noch vor ein paar Jahren – in öffentlicher Vermittlung nicht mehr nur eine fakultative Zusatzaufgabe von Wissenschaftler*innen, sondern fassen sie als Teil notwendiger «Third Mission»- Maßnahmen auf,4 zu denen sie die Politik verpflichtet hat. Tatsächlich waren es weniger utilitaristisches Lernbedürfnis, Frust über den Status quo oder gar eitler Mitteilungsdrang, die meine Kolleg*innen in die Weiterbildungsreihe geführt hatten. Vielmehr teilten wir den Eindruck, durchaus unter Druck zu stehen, un- sere Forschung öffentlichkeitswirksam zu vermitteln – mal in der Hoffnung, der Drittmittelgeberin gesellschaftliche Relevanz zu vermitteln, mal, weil die Quali- fikationsvereinbarung dies schlicht einfordert. Wie aber verhält sich eine solche Erwartung zur habituellen Skepsis gegenüber massenmedialer Präsenz, welche in der Wissenschaft tätige Personen fast immer kennzeichnet? Selbst der in der Corona-Krise omnipräsente Virologe Christian Drosten hat zuletzt in seinen mittlerweile selten gewordenen Interviews Wert auf die Feststellung gelegt, dass er «keinerlei Nutzen» aus seinem gesellschaftlichen Engagement gezogen und sich wissenschaftlich eher geschadet habe.5 Diese Spannung auszuhalten, so scheint mir, ist das eigentliche Thema all der Weiterbildungen, die ich besuch- 4 Tim Vorley, Jen Nelles: (Re-) te. Anders als die praktischen Ratschläge, die vorgeblich den Inhalt der Kurse Conceptualising the Academy. Institutional Development of and bildeten (und sich zumeist eher als Binsen erwiesen), bildete der Austausch über beyond Third Mission, in: OECD die feinen Unterschiede dieser performativen Herausforderung nicht nur einen Higher Education Management and Policy, Bd. 20, Nr. 3, 2008, 119 – 133, Subtext, sondern den wiederkehrenden Inhalt aller Gespräche, die ich beob- doi.org/10.1787/hemp-v20-art25-en. achtete und an denen ich mich beteiligte. Der Historiker Thomas Etzemüller 5 Birgit Herden, Sascha Karberg: Christian Drosten zu Überlastung. beschreibt einen Grundkonflikt, mit dem wissenschaftlich Sprechende konfron- «Die Notsituation in den Kliniken tiert seien: 6 Jeder Auftritt – nicht nur in den Massenmedien – produziere wis- wird quälend lange dauern» (Interview), in: Der Tagesspiegel, senschaftliche Wahrheit, müsse aber zugleich in einer spezifischen Weise unbe- 27.12.2022, tagesspiegel.de/wissen/ merkt bleiben, damit die Operation gelinge. So, wie in vielen Texten das ‹Ich› christian-drosten-im-interview-die-not situation-in-den-kliniken-wird-qualend- fehle,7 sei eine bestimmte, ganz genau zu treffende Form der Depersonalisierung lange-dauern-weil-so-viele-erreger- in «schwebenden Zuständen» vermeintlicher Ausdruck und zugleich Effekt wis- zirkulieren-9071788.html (12.1.2023). 6 Thomas Etzemüller: ‹It’s the senschaftlicher Redlichkeit.8 Denn es sei paradoxerweiser gerade eine bestimmte performance, stupid›. Performanz Form der Abwesenheit der Wissenschaftler*in als Person, eine spezifische Per- → Evidenz: Der Auftritt in der Wissenschaft, in: ders (Hg.): Der formanz, die der Beglaubigung des Wissens vorausliege, so Etzemüller. Diese Auftritt. Performanz in der Wissenschaft, Performanz, so ließe sich ergänzen, verträgt sich aber kaum mit journalistischen Bielefeld 2019, 9 – 46. 7 Hier ließe sich einwenden, dass Personalisierungsstrategien; sie steht ihr, im Gegenteil, sogar entgegen. – «Wie diese Performanz im Falle eines hältst du’s eigentlich mit dem Fame?», fragte mich in einer gelösten Situation situierten Schreibens grundsätzlich anders verliefe; Etzemüller nimmt neulich eine Kollegin. Wir versicherten uns gegenseitig, dass wir darauf keinen diese nicht in den Blick. sonderlichen Wert legen würden – um uns im Anschluss über unsere misslunge- 8 Etzemüller: ‹It’s the perfor- mance, stupid›, 17. nen Fernsehauftritte auszutauschen. — WERKZEUGE 153 — AUTOR*INNEN Wendy Hui Kyong Chun ist Inhaberin des Canada-150- Maren Haffke ist Juniorprofessorin für Sound Studies an Forschungslehrstuhls für New Media an der School of der Leuphana Universität Lüneburg. Gegenwärtige For- Communication der Simon Fraser University und leitet schungsschwerpunkte sind die Mediengeschichte akus- das Digital Democracies Institute in Vancouver, Kanada. tischer Ökologien, die Epistemologie materialistischer Sie hat sowohl Systems Design Engineering als auch Eng- Medientheorien, die Geschichte digitaler Medien und lische Literatur studiert und kombiniert und verändert Medien der Sorge. Maren Haffke ist Mitglied der Redak- diese beiden Perspektiven in ihrer aktuellen Arbeit über tion der Zeitschrift für Medienwissenschaft, Beisitzerin im neue Medien. Sie ist die Autorin mehrerer Werke, darun- Vorstand der Gesellschaft für Medienwissenschaft und ter Control and Freedom: Power and Paranoia in the Age of Fiber Mitglied des Forum Antirassismus Medienwissenschaft. Optics, Cambridge (MA) u. a. (MIT Press) 2006, Programmed Visions: Software and Memory, Cambridge (MA) u. a. (MIT Jan Harms promoviert an der Heinrich-Heine-Universität Press) 2011, Updating to Remain the Same: Habitual New Düsseldorf zu seriellen True-Crime-Formaten mit Blick Media, Cambridge (MA) u. a. (MIT Press) 2016 und auf Evidenzdiskurse und ihre digitale Rezeption. Er hat D iscriminating Data, Cambridge (MA) u. a. (MIT Press) 2021. in Köln Medienkulturwissenschaft und Kunstgeschichte studiert und ist assoziiertes Mitglied am Graduiertenkol- Martin Degeling hat zu Datenschutz und Profiling pro- leg «Das Dokumentarische. Exzess und Entzug» an der moviert und zuletzt an der Ruhr-Universität Bochum im Ruhr-Universität Bochum. Bereich usable privacy zum Einfluss der DSGVO auf Web- seiten geforscht. Zurzeit arbeitet er bei der Stiftung Neue Adrianna Hlukhovych, Dr. phil., ist als wissenschaftli- Verantwortung zur Regulierung von Empfehlungsalgo- che Koordinatorin am Referat «Kultur und Bildung» des rithmen. Homepage: martin.degeling.com Zentrums für Lehrerinnen- und Lehrerbildung Bamberg sowie als Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Literatur Alexander R. Galloway ist Autor und Programmierer, und Medien an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg der zu Themen der Philosophie, Technologie und Me- tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a.: Medien- dientheorie arbeitet. Er ist Professor für Media, C ulture, kulturelle Bildung, Diversität, Wissen und Ästhetik. Zu and Communication an der New York University und ihren Publikationen zählen die Sammelbände Kultur Autor mehrerer Bücher zu digitalen Medien und Kri- und kulturelle Bildung (2018), Sprache und kulturelle Bildung tischer Theorie, u. a. Uncomputable: Play and Politics in (2019) und Erinnerung und kulturelle Bildung (2022), je- the Long Digital Age, London, New York (Verso) 2021 weils hg. zus. m. Katharina Beuter, Konstantin Lindner, und The Interface Effect, Cambridge (UK), Malden (MA) Benjamin Reiter u. Sabine Vogt, Bamberg (UTB), (Polity Press) 2012. Er hat mehrere Jahre zusammen mit www.uni-bamberg.de/zlb/k-r/kultur-und-bildung/dr-adrianna- r-s-g.org an Software-Projekten wie Carnivore und Krieg- hlukhovych-1. spiel mitgearbeitet. 154 ZfM 28, 1/2023 Philipp Hohmann ist Kollegiat am DFG-Graduiertenkolleg Jana Mangold arbeitet als wissenschaftliche Koordi- «Das Dokumentarische. Exzess und Entzug» an der Ruhr- natorin der Forschungsgruppe «Kulturtechniken des Universität Bochum. Er arbeitet an einer Promotion zu Sammelns» an der Universität Erfurt. Sie ist Mitglied der Queerer Kunst und Kollektivität, Fragen der Selbstdoku- Redaktion der ZfM. Sie forscht zu Materialität und Forma- mentation und ihrer Medialisierung in Score, Film(-Instal- ten der Popkultur, Geschichte und Theorie der Rhetorik lation) und Performance. Veröffentlichungen: Ander(e)s sowie Ethnologie. Zuletzt gab sie gemeinsam mit Ulrike bilden. N.O.Body als queere kuratorische Intervention in Hanstein und Manuela Klaut den Schwerpunkt Reparatur- Magnus Hirschfelds Bilderteil, in: Medienkomparatistik, wissen: DDR der ZfM 27 (2/2022) heraus. 3. Jg. 2022 (hg. v. Lisa Gotto u. Annette Simonis), 165 – 181; zus. m. Lilian Haberer, Anna Polze, Julia Reich, Jolanda Laura Niebling ist wissenschaftliche Mitarbeite- Wessel (Hg.): Text\Werk. Lektüren zu Hito Steyerl, Berlin rin und Habilitandin am Lehrstuhl für Medienwis- (Hatje + Cantz) 2022. senschaft der Universität Regensburg. Sie lehrt und forscht zu digitaler Medizin, Netzkulturen und Materi- Soheil Human ist Direktor des Sustainable Computing alität sowie zu den Methodendebatten in der Medien- Lab (sustainablecomputing.eu) an der Wirtschaftsuniversität wissenschaft. Zuletzt erschienen: zus. m. Benjamin Wien. Sein wissenschaftlicher Hintergrund ist stark inter- Burkhart, Alan van Keeken, Christofer Jost, Martin disziplinär geprägt und erstreckt sich über Informatik, P fleiderer (Hg.): Audiowelten, M ünster (Waxmann) Künstliche Intelligenz, Kognitionswissenschaften, Wis- 2021, zus. m. David Freis, Tobias K ussel (Hg.): Compu- senschafts- und Techniksoziologie und Digital Economics. ter und Medizin (Schwerpunktheft Curare. Zeitschrift für Zu seinen Forschungsfeldern zählen menschenzentrierte Medizinethnologie, Bd. 45; Nr. 1+2, 2022); und zus. m. nachhaltige digitale Systeme, digitale Transformation Josephine Diecke, Bregt Lameris (Hg.): #Materiality sowie die Einbeziehung von menschlichen Bedürfnissen (Schwerpunktheft NECSUS, Nr. 2, 2022). In Arbeit: zus. und Werte in digitale Systeme. Soheil Human leitete be- m. Sven Stollfuß, Felix Raczkowski (Hg.): Handbuch reits mehrere Projekte zum Thema Datenschutz und men- Digitale Medien und Methoden, Wiesbaden (Springer VS), schenbewusste, rechenschaftspflichtige, ethische und im Erscheinen. rechtmäßige soziotechnische digitale Systeme. Beate Ochsner ist seit 2008 Professorin für Medienwis- Anja Kaiser ist Grafikdesignerin und vertritt bis März senschaft an der Universität Konstanz. Von 2015 bis 2022 2023 die Professur für Typografie an der Hochschule für war sie Sprecherin der DFG-Forschungsgruppe «Mediale Grafik und Buchkunst Leipzig. In Zusammenarbeit mit Teilhabe. Partizipation zwischen Anspruch und Inan- subkulturellen Szenen und feministischen Gruppen hat spruchnahme» (www.mediaandparticipation.com). Seit 2022 sie an Projekten und deren grafischer Übersetzung mit- ist sie stellvertretende Direktorin des Centre for Human gewirkt. In selbstinitiierten Projekten verhandelt sie femi- Data Society an der Universität Konstanz. Forschungs- nistische Themen, forscht zu undisziplinierten Erzählun- schwerpunkte: Mediale Teilhabe / Partizipationsforschung, gen und Werkzeugen im Grafikdesign. Dabei untersucht Dis / Ability und Medienwissenschaften, Praktiken des sie die Übergänge zwischen Grafik, Design, Kunst, Hörens und Sehens; Assistive Technologien; Serious Musik und Formen der digitalen Selbstermächtigung. Gaming / Serious Games. www.instagram.com/aeni.kaiser. Mary Shnayien ist Akademische Rätin am Institut für Oliver Leistert (Dr. phil.) untersucht an der Leuphana Medienwissenschaften der Universität Paderborn. Universität Lüneburg die Rhetoriken und Politiken Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen politische von Blockchains. Zuletzt erschienen: zus. m. Isabella Affekte, Mathematikphilosophie sowie die Intersek- K ohlhuber (Hg.): Hamburg Maschine_revisited: Artistic and tion von Gender, digitalen Medien und Queer Theory. Critical Investigations into Our Digital Condition, Hamburg Letzte Veröffentlichung: Die unsicheren Kanäle. Negative (adocs) 2022, und zus. m. Gerd Beuster und Theo R öhle und queere S icherheit in Kryptologie und Informatik, Biele- (Hg.): Protocol (Schwerpunktheft Internet Policy Review, feld (transcript) 2022, Open Access unter www.transcript- Bd. 11, Nr. 1, 2022), doi.org/10.14763/2022.1.1651. verlag.de/978-3-8376-6306-8/. AUTOR*INNEN 155 Markus Spöhrer studierte Amerikanistik, Anglistik und Andreas Weich, Dr. phil., leitet eine Nachwuchsfor- Germanistik an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. schungsgruppe und ab Juli 2023 die Abteilung «Mediale Er promovierte in der Medienwissenschaft an der Univer- Transformationen» am Leibniz-Institut für Bildungsme- sität Konstanz. Dort arbeitet er gegenwärtig als Postdok- dien, Georg-Eckert-Institut in Braunschweig. Er forscht torand mit Lehr- und Forschungsschwerpunkten in den zu Medienkonstellationen, Medien und Bildung sowie Bereichen digitales Spielen und Dis / Ability, Film- und datenbasierten Medien. Publikationen: Medienkonstel- Medientheorie sowie Science and Technology Studies lationsanalyse, in: Sven Stollfuß, Laura Niebling u. Felix (mit Bezug zu digitalen Medien). Zuletzt erschien der von Raczkowski (Hg.): Handbuch Digitale Medien und Methoden, ihm und Harald Waldrich herausgegebene Sammelband Wiesbaden (Springer VS), im Erscheinen; zus. m. Philipp Einspielungen: Situationen und Prozesse digitalen Spielens, Deny, Marvin Priedigkeit u. Jasmin Troeger: Adaptive Wiesbaden (Springer VS), 2020. Lernsysteme zwischen Optimierung und Kritik, in: Medien Pädagogik, Nr. 44, 2021, 22 – 51; andreas-weich.de. Tobias Stadler promoviert an der Universität Olden- burg zun alternativen sozialen Netzwerken. Zu seinen Judith Willkomm forscht und lehrt an der Universität Forschungsschwerpunkten gehören Critical Code Konstanz. Sie kombiniert ethnografische Methoden mit Studies, digitale Infrastrukturen und Theorien des Digi- medientheoretischen Perspektiven und macht dadurch talen Kapitalismus. die alltägliche Dimension von Medienpraktiken und das Wechselspiel zwischen menschlichen Sinnen und techni- Thomas Waitz arbeitet am Institut für Theater-, Film- schen Medien beschreibbar. 2022 ist ihre Dissertation im und Medienwissenschaft der Universität Wien und ist J.B.-Metzler-Verlag mit dem Titel T iere – Medien – Sinne: Redaktionsmitglied der ZfM. Forschungsschwerpunkte: Eine Ethnographie bioakustischer F eldforschung erschienen. Ästhetik, Theorie und Politik der Medien; Kapitalismus In ihrem Habilitationsprojekt beschäftigt sie sich u. a. mit und Klassengesellschaft; Theorie und Analyse medialer der Verknüpfung von (Profi-)Sport und Computerspielen. Verfahren. Harald Waldrich ist Doktorand an der Universität K onstanz im Fachbereich Medienwissenschaft. Seine Dissertation verfasste er zum Thema Service Games und digitale Plattformen. Die Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Service Games, Online Gaming, Arbeit vs. Spiel, Digitale Kulturen und Plattformökonomie. 156 ZfM 28, 1/2023 — BILDNACHWEISE S. 9 Cover der Zeitschrift Protokolle. Wiener Jahreszeitschrift für Literatur, S. 87 Screenshot: Amber Jamieson: Jeb Bush’s glasses conundrum: bildende Kunst und Musik, hg. v. Gerhard Fritsch, Otto Breicha, Nr. 1, some unsolicited fashion advice, Guardian, 20.2.2016, theguardian.com/ Wien 1966. © Westermann Jugend & Volk GmbH; Scan zur Verfügung us-news/2016/feb/20/jeb-bush-no-glasses-fashion-advice (24.1.2023) gestellt durch Mag. Florian Bernd, ANTIQUARIAT.WIEN S. 92 Foto von Brian Wangenheim auf Unsplash, unsplash.com/de/fotos/- S. 11 Screenshot: Elon Musk @elonmusk: «the bird is freed», Twitter, yWw3HlVVnQ (31.1.2023) 28.10.2022, twitter.com/elonmusk/status/1585841080431321088 (24.1.2023) S. 93 links Grafik entworfen nach Fig. 2 aus: Stephanie Russo Carroll S. 12 Grafik: Zeitstrahl der Entwicklung von TCP- und IP-Protokollen, u. a.: The CARE Principles for Indigenous Data Governance, in: Data entwickelt von Michel Bakni im Zuge seiner Doktorarbeit Le protocole Science Journal, Bd. 19, Nr. 43, 2020, 1 – 12, hier 5 (CC BY-NC-SA 4.0). Internet: IPv4 et IPv6, Orthez (ICN Press) 2022, hier 45 (auf Arabisch). rechts Screenshot der Website Indigenous AI, indigenous-ai.net Englische Version auf Wikimedia Commons gestellt am 23.10.2022, (24.1.2023) commons.wikimedia.org/wiki/File:TCP_and_IP_protocols_development_ S. 97 – 100 Abbildungen aus Die Hörposaune – Live-Performance, timeline-en.svg (31.1.2023), CC BY-NC-SA 4.0 Konzept/Partituren/Regie: Antonia Baehr, Jule Flierl; Fotos: Anja S. 16 Diagramm «Protocol Relationships», aus: Jon Postel (Hg.): Weber; Performance: Jule Flierl, Werner Hirsch; Visuelle Installation: Transmission Control Protocol, Request for Comments (RFC) 793, Nadia Lauro; Licht: Gretchen Blegen; Art Work: Laura Burns; September 1981, 1 – 85, hier 9, rfc-editor.org/info/rfc793 (3.1.2023) mit freundlicher Genehmigung der Künstler*innen S. 19 Fotografie: Prototyp eines Bildgebungsverfahrens, 1977. Bild online S. 101 – 104 Abbildungen aus Die Hörposaune – Film, Regie: Isabell Spengler, gestellt von Nutzer*in EmeritusProf, 28.12.2021, commons.wikimedia.org/ Antonia Baehr, Jule Flierl; Stills, Konzept- und Storyboard-Zeichnungen: wiki/File:1977_Version_of_Imaging_System_Prototype.jpg (12.12.2022), Isabell Spengler; Kinematografie: Bernadette Paassen; Licht: Gretchen CC BY-NC-SA 4.0 Blegen; mit freundlicher Genehmigung der Künstler*innen S. 21 Diagramm einer PACS-Infrastruktur, aus: Osman Ratib u. a.: S. 106 Foto der Ausstellung Undisciplined Toolkit © Marc Domage, PACS for Bhutan: a cost effective open source architecture for mit freundlicher Genehmigung e merging countries, in: Insights into Imaging, Nr. 7, 2016, 747 – 753, S. 111 Fotocollage der Buchübersicht Glossary of Undisciplined Design hier 749. Bild online gestellt von Nutzer*in Balkanique, 28.7.2016, © Anja Kaiser, Rebecca Stephany commons.wikimedia.org/wiki/File:PACS_server_in_a_radiology_department.png (12.12.2022), CC BY-NC-SA 4.0 S. 114 Fotocollage der digitalen Anzeigenkampagne Whose Agency © Anja Kaiser S. 22 Foto: Tragbares Ultraschallgerät GE Vivid i, gelauncht 2004, inzwischen auf diversen Resell-Plattformen verfügbar: primatechmedical. S. 119 Foto der Ausstellung Whose Agency © Alexandra Invanciu, com/product/ge-vivid-i-portable-ultrasound (6.2.2023) mit freundlicher Genehmigung S. 35, 38 Eigene Abbildung des Autors S. 122 Werbe-Teaser (Orig. in Farbe), aus: Das Fortnite-Team: Fortnite präsentiert … die Rift Tour mit Ariana Grande, Fortnite.com, 9.8.2021, S. 45 Screenshot «Maps, Documents, etc.» von Website des Podcasts fortnite.com/news/fortnite-presents-the-rift-tour-featuring-ariana-grande Serial, serialpodcast.org/season-one/maps (11.1.2023) (24.1.2023) © Epic Games S. 46 Screenshot «Episode 3 – Jay’s Day. Episode Documents» von S. 128 Foto vom Büro des GameLabs der Universität Konstanz, Website des Podcasts Undisclosed, undisclosed-podcast.com/episodes/ a ufgenommen von Benjamin Schäfer am 19.1.2023 (Orig. in Farbe) season-1/episode-3-jays-day.html (11.1.2023) S. 132 Werbe-Foto des adaptiven Controllers von Microsoft (Orig. in S. 49 Screenshot von Kartenmaterial «The Detectives’ Maps», PDF, Farbe), aus: Xbox Adaptive Controller. Spiele auf deine Art, X box.com, auf Website des Podcasts Undisclosed, undisclosed-podcast.com/docs/3/ ohne Datum, xbox.com/de-DE/accessories/controllers/xbox-adaptive-controller The%20Detectives’%20Maps.pdf (11.1.2023) (24.1.2023) © Microsoft 2023 S. 50 Screenshot von Transkript «UNDISCLOSED: The State v. Adnan Syed. S. 138 Illustration der Nervenzellen im Riechkolben eines Hundes, Episode 3: Jay’s Day», PDF, auf Website des Podcasts Undisclosed, undis aus: Camillo Golgi: Sulla fina struttura dei bulbi olfattorii, in: Rivista closedpodcast.com/docs/3/Episode%203%20-%20Transcript.pdf (11.1.2023) Sperimentale di Freniatria e di Medicina Legale, Bd. 1, Reggio-Emilia 1875, S. 54 © Soheil Hosseini, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers, 405 – 425, darin als Tavola VII tehranstudio.com/soheil-hosseini. S. 160 Fotografie: Protokollbuch zur Entnahme und Auswertung tierischer S. 75 Foto von Clark Van Der Beken auf Unsplash, unsplash.com/de/fotos/ Gewebeproben, Smithsonian National Museum of Natural History, 596baa0MpyM (31.1.2023) Washington D.C., si.edu/object/pteronura-brasiliensis:nmnhvz_7313308 (20.3.2023), CC0 S. 77 Diagramm aus: Niels ten Oever, Corinne Cath: Research into Human Rights Protocol Considerations, Request for Comments (RFC) 8280, Oktober 2017, 1 – 81, hier 19, rfc-editor.org/info/rfc8280 (2.8.2022) S. 78 Claude E. Shannon: Schematic diagram of a general communication Falls trotz intensiver Nachforschungen Rechteinhaber*innen nicht system, aus: ders.: The Mathematical Theory of Communication, berücksichtigt worden sind, bittet die Redaktion um eine Nachricht. in: Bell System Technical Journal, Bd. 27, Nr. 3, 1948, 379 – 423, hier 381 — 157 — IMPRESSUM Die Zeitschrift für Medienwissenschaft erscheint zweimal im Jahr. Die digitale Version ist ab Frühjahr 2023 als Open-Access- Version verfügbar. Weitere Infos (u. a. auch zum Abonnement) finden Sie unter: www.transcript-verlag.de/zeitschriften/zfm-zeitschrift-fuer-medien Herausgeberin Gesellschaft für Medienwissenschaft e. V. wissenschaft/ c /o Prof. Dr. Jiré Emine Gözen, University of Europe Mitglieder der Gesellschaft für Medienwissenschaft erhalten for Applied Sciences, Campus Hamburg, die Zeitschrift für Medienwissenschaft kostenlos. Museumstraße 39, 22765 Hamburg, info@gfmedienwissenschaft.de, www.gfmedienwissenschaft.de Verlag transcript Verlag, Hermannstraße 26, Redaktion Maja Figge (Mainz), Maren Haffke (Lüneburg), 33 602 Bielefeld, www.transcript-verlag.de Till A. Heilmann (Bochum), Katrin Köppert (Leipzig), Bestellung: vertrieb@transcript-verlag.de Florian Krautkrämer (Luzern), Elisa Linseisen (Hamburg), Telefon: +49 (521) 39 37 97 0 Jana Mangold (Erfurt), Gloria Meynen (Linz), Maja-Lisa Müller (Bielefeld), Birgit Schneider (Potsdam), Bibliografische Information der Deutschen National- Florian Sprenger (Bochum), Stephan Trinkaus (Wien), bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet Thomas Waitz (Wien) diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über Redaktionsanschrift: Zeitschrift für Medienwissenschaft http://dnb.d-nb.de abrufbar. c /o Prof. Dr. Birgit Schneider, Institut für Künste und Medien, Europäische Medienwissenschaft, Universität Die Open-Access-Veröffentlichung erfolgt unter der Potsdam, Am Neuen Palais 10, D-14469 Potsdam, Creative-Commons-Lizenz CC-BY-NC-ND 4.0 DE info@zfmedienwissenschaft.de, www.zfmedienwissenschaft.de ( Attribution, Non-Commercial, No Derivates). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber Schwerpunktredaktion Heft 28 keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung O liver Leistert, Mary Shnayien (Lizenztext: https://creativecommons.org/ Redaktionsassistenz licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de). Naomie Gramlich, Mirjam Kappes, Julius Lange, Alexander Schindler Veröffentlicht 2023 durch den transcript Verlag Lektorat © bei den Autor*innen Ulf Heidel Beirat Marie-Luise Angerer (Potsdam), Ulrike Bergermann Printed in the Federal Republic of Germany (Braunschweig), Cornelius Borck (Lübeck), Philippe Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Despoix (Montréal), Mary Ann Doane (B erkeley), Lorenz Engell ( Weimar), Vinzenz Hediger (Frankfurt / M.), Ute Holl (Basel), Gertrud Koch (Berlin), Petra Löffler (Oldenburg), ISSN 1869-1722 Kathrin Peters (Berlin), Antonio Somaini (Paris), Martin eISSN 2296-4126 Warnke (Lüneburg), Geoffrey Winthrop-Young (Vancouver) Print-ISBN 978-3-8376-6361-7 Grafische Konzeption PDF-ISBN 978-3-8394-6361-1 Lena Appenzeller, Stephan Fiedler EPUB-ISBN 978-3-7328-6361-7 Layout, Bildbearbeitung und Satz — Lena Appenzeller Druck und buchbinderische Weiterverarbeitung Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Handschriftliches Protokoll von Gewebeproben verschiedener Tiergattungen, Smithsonian National Museum of Natural History, Washington D.C.