— «linie-werden», «welt-werden», «Fliehen» aktuelles und Virtuelles zum dividuellen von JULiA BEE Gerald Raunig: dividuum. Maschinischer Kapita- Die Begriffe «Dividuationen» und «dividuum» knüpfen lismus und molekulare Revolution Band 1, Wien u. a. an Konzepte wie das des Gefüges (assemblage / agencement) (transversal texts) 2015 an, in dessen Denktradition sie u. a. zu verorten sind: Es sind Verkettungen, die das zugleich kon­ und disjunktive Michaela ott: Dividuationen. Theorien der Teilhabe, Zusammenwirken von heterogenen Ensembles beschrei­ Berlin (b_books) 2015 ben, wie sie von Deleuze und Guattari in Anti-Ödipus (1977) — entwickelt und in Tausend Plateaus (1992) vermannigfacht Gerald Raunigs dividuum 1 und Michaela Otts Dividuationen wurden. Es sind Linien, die Heterogenitäten prozessual eröffnen in ihren Durchquerungen von Disziplinen diesseits verketten, ohne sie zu synthetisieren, und die Innen und und jenseits der Medienwissenschaft das produktive, be­ Außen permanent neu verteilen. unruhigende, «ungefügige» Problemfeld des D ividuellen. Die beiden Bücher Dividuationen und dividuum ver­ Die Bücher beschreiben damit jene «ungewisse[n] knüpfen Konzepte der Teilung, Teilhabe und Streuung. D oubles»,2 mit denen Gilles Deleuze einmal den Bereich Sie ziehen transversale Linien der Analyse zwischen Psy­ der Emergenz zwischen Virtuellem und Aktuellem charak­ chischem, Sozialem und Ökologischem.3 Ihre Figuren des terisiert hat. Beide AutorInnen setzen bei Deleuzes Konzept «dividuums» und der «Dividuationen» nehmen Teilungen des «Dividuellen» der «Kontrollgesellschaften» an, um von vor und sie nehmen teil: Die Konzepte adressieren aber dort aus eine Revision zeitgenössischer Machtformat ionen nicht nur eine kollektive oder individuelle Ebene – die Kon­ vorzunehmen. In der Entfaltung der Vielschichtigkeit der zepte operieren unterhalb und diesseits des Individuums Teilungen des Individuums in und durch Datenmengen und der Gemeinschaft. «Dividuationen» und «dividuum» stellen sie zudem die Frage nach darauf bezogenen Modi sind also nicht kommunitär oder singulär bzw. partikulär, des Schreibens, des Forschens und der Kritik selbst. Kritik sondern under-common: 4 Verkettungen von S ingularitäten basiert zumeist auf einer distanzierten Position, die ihren (Raunig) und Partikularitäten (Ott), die kein Ganzes Gegenstand von außen betrachtet, um ihn zu hinterfragen. bilden, sondern der Wahrnehmung / Wahrnehmbarkeit Diese Position kann jedoch nur das klar abgegrenzte in­ dividuelle, nicht aber das «dividuelle Schreiben» (Raunig) einnehmen. Die folgenden Ausführungen sind somit auch der Versuch, sich dem Verflochtenen, dem Dividuellen auf dividuelle Weise, aus der Mitte heraus zu nähern und sich auf die Schreib­ und Denkbewegung der beiden Bücher einzulassen, um mit ihnen zu spekulieren. BESPRECHUNGEN 143 JULiA BEE entfliehen und (sich) teilen, bis sie im «Weltwerden» (Ott) und für alle Zeiten gleich aus, sie müssen immer wieder verschwinden, weil sie in dieses eingehen. Dabei sind «Di­ anders und neu ausgedrückt, (gegen­)verwirklicht wer­ viduationen» und ist «dividuum» nicht als undifferenziert, den.6 Dies gilt auch und gerade für die Kontrollgesell­ sondern im Sinne eines multidifferenzierten Teilhabe­ schaften: In einer Zeit, die von der assembly line zur line of ensembles zu verstehen. Für Michaela Ott und Gerald assembly, wie Raunig schreibt (S. 171), also vom Produkt R aunig bezeichnet das Verhältnisse zur Welt eine T eilhabe zum Prozess als Wertschöpfungszentrum / ­linie übergeht, (Ott), die durchaus mit (Teilhabe­)«Zumutungen», mit gilt es mit dividuum und Dividuationen nicht nur den Prozess Gefährdung und Verletzbarkeit behaftet ist. Teilung ist für unter der Perspektive der Macht, sondern Macht in einer beide AutorInnen aber nicht nur Abgabe, Minus und Man­ prozessualen Perspektive zu denken. gel: Teilung ist Differenzierung des Werdens. Auch Begrif­ «Das Ich, das hier spricht, will eine Linie sein», schreibt fe teilen und sind geteilt – sie sind dividuell. Raunig (S. 25) und verknüpft – nicht nur in seinem Kapitel Beide Bücher nehmen diesen bei Gilles Deleuze ver­ zur Selbstzerteilung als Begehren – implizit Individuation 7 schiedentlich aufblitzenden Begriff zum Ausgangspunkt: und Wunschmaschine (ein anderer Begriff für Gefüge). Das Zwischen dem «Postskriptum über die Kontrollgesell­ Buch dividuum steigt so mit einem komplexen Szenario ein, schaften» und Das Bewegungs-Bild wird der Begriff des in welchem es die Zeit gleichsam im Schreiben auf sich zu­ «dividuums» in der Doppelheit / Geteiltheit – in seiner Divi­ rückwendet und eine Bewegung konstruiert, die sich mit dualität – zwischen Fluchtmöglichkeit und Segmentierung einer immanent operierenden Kritik befasst und mit der Re­ aufgenommen.5 Der Begriff bezeichnet sowohl die Modu­ alität, die dieses Verfahren mitkonstruiert. Ein Ereignis dif­ larisierung von Individuen durch Kontrollmechanismen ferenziert sich in der Zeit und erfährt Kritik auf zwei Weisen: als auch eine Ästhetik des Relationalen, deren Kraft in Dies geschieht bei Raunig in der Rückschau auf eine TV­Epi­ einer präindividuellen Affiziertheit, einer nicht­personali­ sode, in der der Lebenspartner und Berater einer bekannten sierten affektiven Qualität liegt – dem «Affektbild». Nicht Politikerin nach einem Wahlsieg ihre Worte vor dem Land­ also nur im Übergang von analogen zu digitalen Medien, tag wie ein «menschlicher Teleprompter» mitspricht und so wie es Deleuzes Kontrollgesellschaften­Essay nahelegt, der Öffentlichkeit als ‹Ursprung› ihres politischen Erfolgs emergiert das Dividuelle. «Dividuationen» / «dividuum» erscheint. Raunig beschreibt, wie er das Ereignis über die bezeichnen Teilungen und Teilhaben im sozialen, künst­ Zeit hinweg verändert erlebt: zunächst als vorgegebene lerischen und biologischen Bereich: Geteilte Umwelten, Rede, später als maschinisches Gefüge. Damit ruft die un­ Lebensräume, Teilungen von Gütern, Teilungen von Per­ terschiedliche Betrachtung die Fragen hervor, wie Forschen sonen und Migrationsregime zugleich. und Schreiben selbst in diesem Spannungsfeld agieren, es Doch warum eignen sich die Begriffe des «Dividuel­ intensivieren und (affirmativ) kritisieren könnten. Welche len» / «dividuums», um derart viele Phänomene – Globa­ Begriffe reproduzieren die Ereignisse und welche Verschie­ lisierung, (nichtwestliche) Rechtsphilosophie, Politik, bungen werden dadurch möglich? Wann bringt die erneute Medien, Biologie – im Schreiben zu durchqueren, ohne Rückbesinnung ein neues Vokabular hervor, welches Kon­ sie unter einem großen Paradigma zu subsumieren? trolle ausübt oder verschiebt? Welche Zeitlichkeit / Histori­ Dividuelle Teilungen drücken sich nie nur auf eine Weise zität hat dieser Übergang der Kontrollgesellschaften und welche Brüche im Denken und Schreiben des Dividuellen, wel­ che Techniken «dividuelle[n] Schreiben[s]» lassen sich nut­ zen, um (sich) «davonzusteh­ len»? (S. 22) Insofern ist es kei­ ne Episode aus der ‹Biografie› des «dividuums», in der ein Ereignis in zwei Perspektiven gesetzt oder erneut reflektiert wird – es finden Ereignisse statt, die eine reale Umwertung 144 ZfM 13, 2/2015 «liniE-wErdEn», «wElt-wErdEn», «fliEhEn» in Gang gesetzt haben. Denn die Autorperson erklärt jene Episode zum Problemfeld, welche einen Umbruch in der Betrachtung nicht nur wirksam und notwendig, sondern auch begehrenswert und richtig (d. h. wahr) hat erscheinen lassen. Es ist das Zwischen, der Prozess der Faltung selbst, der diese Konstellation «dividuell» werden lässt. Auch Michaela Ott, die den Bezug zu Deleuzes Zeit­ philosophie aus Differenz und Wiederholung zum Ausgangs­ punkt ihrer Differenzierungen in den Bereichen der Sozio­ logie, Globalisierung, Biologie und Kunsttheorie stärker als Raunig expliziert, bezieht sich auf den Anfang und die Un­ / Geteiltheit als spannungsreiches «problematische[s] System».8 Ott sucht ebenfalls nach den Anfängen des Divid uellen. Sie spannt die «Dividuationen» zwischen zwei Plateaus im Denken von Deleuze auf: Zwischen dem «Postskriptum über die Kontrollgesellschaften» und Das Bewegungs-Bild erstreckt sich eine Mannigfaltigkeit an Spannungen und «Problemen», die das Denken zu Indi­ viduationen anstiftet, wie Deleuze in Differenz und Wieder- holung schreibt. Ott nimmt dies als Zeit des dividuellen Denkens auf. Es ist die Kamera, die zu Beginn von Robert Altmans Film A Prairie Home Companion 9 auf der verzeit­ lichten Suche nach einem point of view ist, zu dem sie zwar tendiert, den sie jedoch nie behalten wird – wir sind ein solcher Film und vergleichbar mit der filmischen und ästhetischen Operation einer ständigen Modulation und Bewegung wird zum Milieu und zum Ziel der Macht.11 Ur­ Neu­Relationierung (S. 179). Damit deutet Ott in eine sehr sache und Wirkung der Macht zirkulieren in diesem Milieu, produktive Richtung, Film­ und Bild­Ästhetiken mit (nicht) so Foucault über das (Einschließungs­)Milieu der Macht.12 sinnlichen Wahrnehmungen analytisch zu verbinden und Die Räume der Kontrollgesellschaft sind jedoch noch frak­ im Sinne abstrakter Austauschverhältnisse zu verstehen. taler, denkt Deleuze Foucault weiter. Sie bestehen nicht in «Dividuationen» und «dividuum» unterscheiden sich containerartigen, abgeschlossenen Institutionen, durch sowohl von ihren Konzepten einer zersplitterten Identität die das Individuum geschleust wird – sie sind in Bewegung, als auch von jenen der Subjektivierung. Sie sind Operati­ in permanenter Rückkopplung, «Modulierung» und «Mo­ onsformen und Ziel einer Machtform, die nicht mehr allein dularisierung» des Dividuellen (Raunig, S. 186). Auch wenn und ausschließlich auf die Produktion von Subjekten ab­ Medien in den beiden hier besprochenen Büchern nicht das zielt oder von einer zuerst bestehenden Identität ausgeht, alleinige Untersuchungsfeld bilden, sind sie doch zentral die dann zersplittert wird. Die Chiffren der Kontrollgesell­ für die Überlegungen zum Dividuellen. Medien sind nicht schaften funktionieren situationaler und kontextgebun­ mehr Instrument, sondern Milieu der Macht, könnte man dener: Sie lassen passieren, an einem bestimmten Tag, zu in Fortführung von Foucault und Deleuze sagen. Kontroll­ einer bestimmten Gegebenheit. Sie ermöglichen Bewe­ gesellschaften funktionieren nicht nur über eine überge­ gung, produzieren Modulationen wie Modulierungen: ordnete Auswertung von Daten durch Statistiken, sondern als zirkulierende, prozessuale Milieus, in denen die Daten Mit einer Autobahn schließt man die Leute nicht ein, im Feedbackloop produktiv gemacht werden und somit im­ aber mit dem Bau der Autobahn vervielfacht man die manent agieren,13 d. h. sie beziehen sich auf virtuelle Verän­ Kontrollmittel […], die Menschen können zwar endlos derungen und mögliche Abweichungen, die sie abschöpfen. und frei herumfahren, ohne eingeschlossen zu sein, Der Begriff der «Dividuationen» und jener des «divi­ und dennoch vollkommen kontrolliert werden.10 duums» ermöglichen es, nicht nur menschliche, sondern BESPRECHUNGEN 145 JULiA BEE vielleicht geht es im Begriff «Teilhabe» (den Ott dem der «Dividuationen» im Titel zur Seite stellt) eben gerade da­ rum, nicht mehr das Verhältnis des Menschen zu dessen Umwelt zu beschreiben, sondern vielmehr die vielfältigen Auf­ / Teilungen zentrumslos zu betrachten und zugleich die Teilung als produktive, nicht negativistische Differen­ zierung zu sehen. In beiden Büchern wird nicht das Vor­ handene und das Bestehende als geteilt gedacht; vielmehr beginnt virtuelle Teilung mit der Mitte, wie es z. B. in Rau­ nigs Kapitel «Drei Weisen der Teilung» anklingt. Dividu­ ation beginnt mit dem Milieu als Mitte und Problemfeld, das von larvenhaften Subjektivitäten bevölkert ist (so Ott mit Deleuze). Dies ist ein Denken der Ökologien und der Macht zugleich. Es sind diese «Ökologien der Macht»,14 die Prozess(­philosophie) und Machttheorie mit Foucault und Deleuze nicht gegeneinander ausspielen. Auch Ott und Raunig umkreisen diesen Punkt, oder die Linie, die sich im Milieu der Macht entwickelt.15 Dividuationen und dividuum produzieren ein transver­ sales Denken aller möglichen zusammenwirkenden Kon­ auch maschinische Machtformationen an ihrer Schwelle stellationen von Biologie, Finanzkapitalismus, Film und zwischen Produktivität und Destruktivität, Entstehung Mediennetzwerken, in denen «Dividuationen» aktualisiert und Zersetzung («Undulation» nennt Raunig dies im werden. Ein solches transversales Denken folgt ereig­ gleichnamigen Kapitel) zu beschreiben: als algorithmi­ nishaften Konstellationen, die krisenhafte metastabile sche, anhaltende Neuberechnung und Feedbackloop der Formationen in ständiger Umwälzung bilden. Dies hängt Veränderungen. Hier kann ein Machtbegriff ansetzen, der wiederum damit zusammen, dass es in beiden Büchern nicht nur das Milieu der Macht, ihre Ökologie, fraktal und weniger um Einzelmedienanalysen geht, auch nicht um transversal sowie virtuell denkt, sondern das De­ / Phasie­ Mediennetzwerke, sondern auf je eigene Weise um die ren des Dividuellen mit Machtformen verschaltet, ohne Medialität des Milieus des Dividuellen: um Teilen als «Mit­Tei­ den Begriff der Prozesshaftigkeit generalisierend als len» (Raunig, S. 149). Die Medialität ist im Diagramm die­ neoliberale Phantasie und Herrschaftsform zu verwerfen. ser Machtform nicht auf mediale Kontrolle oder M edien Denn dies könnte zu dem Generalverdacht führen, dass der Kontrolle zu reduzieren. die Ablösung des Subjektbegriffs in Form von Figuren Anschlussfähig an Betrachtungen verteilter und ge­ des Dividuellen konzeptuell einem neoliberalen Regime streuter Medien sowie Medienapparaturen sind die phi­ zuarbeite. Es stimmt – und dies ist Teil der unheimlichen losophischen, soziologischen, poetischen und relatio­ Doppelheit von Flucht und Macht –, dass zeitgenössische nalen Analysen beider AutorInnen allemal: Dividuationen Machtformen nicht mehr an Subjekten allein interessiert und dividuum skizzieren neben sozialen, medialen und sind: Drohnen und Big Data interessieren sich nicht für ästhetischen Überblicken und Diskursfeldanalysen des den Menschen als Subjekt, wie Raunig ausführt, son­ historischen Besitzindividualismus mögliche Felder und dern für ihre / seine Bewegung und für die Abweichung Wege der weiteren Analyse, die in neue Richtungen des im Bewegungsmuster. Die systemischen Intraaktionen ‹Zusammen­Differenzierens› geführt werden können. Divi- von Machtformen produzieren allerdings gleichzeitig di­ duationen und dividuum bieten kein einfach anwendbares viduelle Linien sowie Subjekte. Vielleicht ist diese Gleich­ Paradigma, sondern eher ein bewegliches Diagramm in zeitigkeit unterschiedlicher Anrufungen ein Modus des Foucaults und Deleuzes Sinn, in welchem sich die Funk­ Dividuellen selbst: Es zieht sich durch dieses Spannungs­ tions­ und Operationsweise der Macht verdichtet. Zu­ feld in der Verlaufsform einer Kurve, die immer wieder in gleich vermisst das Diagramm Fluchten: Als Kartografie Abschöpfungen und Segmentierungen kulminiert. Und der Machtverhältnisse konzeptualisiert es Weisen der 146 ZfM 13, 2/2015 «liniE-wErdEn», «wElt-wErdEn», «fliEhEn» Teilung und Faltung, aber auch Begehrensformen, wie je­ Modus der Kontrollgesellschaft zu entfliehen. Kontrolle nes Mit­Teilen bei Facebook, das Raunig als Bekenntnis­ ist aber in ihrer unheimlichen Doppelheit selbst dividuell: und Beichtzwang versteht – ein (gouvernementaler) para­ Sie ist verteilt / geteilt, was sie nicht weniger effizient, aber doxer Mit­Teilungs­Zwang –, der zugleich individuiert und eben nicht monolithisch erscheinen lässt. dividuiert, wie er in seiner Lesart des nietzscheanischen Beide AutorInnen sind an jener Doppelheit von Begriffs des «moralischen dividuums» in seinem Bezug Diskurs und Episteme des un / geteilten Selbstbezugs sowohl zu Foucaults Disziplinarregime als auch Deleuzes i nteressiert («Wissensdividuationen» mit Ott). Ott zeigt Kontrollgesellschaften zeigt. expliziter, was Raunig teils impliziert und in einer po­ Dividuationen ist von der Teilhabe her gedacht und etischen, anspielungsreichen Sprache gleichsam im nicht von der Abgeschlossenheit, wie Ott auf vielen Ebe­ Fliehen schreibt: Die Methode einer historischen Arbeit nen und mit einer Mannigfaltigkeit an Konzepten und dieses B egriffs ist jene der Aktualisierung, die nicht ein­ Philosophien (etwa der Soziologie und Biologie) darstellt. fach zu den Anfängen des Dividuellen zurückkehrt, die Ott umfasst mit ihrem Begriff der Teilhabe eine Relationa­ gegeben sind und die jenen des Individuums folgen. Die lität, die in Diskursen von New Materialisms, New Ontologies G eschichte des «dividuums» ist keine lineare Linie oder und deleuzianischen Ansätzen virulent ist, und entwirft Teleologie. Ohne eine Geschichte des «dividuums» / der mit Dividuationen eine Perspektive, die sich quer zu die­ «Dividuationen» zu schreiben, ist es die diffraktive – die sen Diskursen entfaltet, aktualisiert mit ihnen ein Denken durch die Position des Hier und Jetzt retrospektiv geteil­ der Öffnung und der nicht menschlichen Performanz des te – Geschichte, eine Aktualisierungsform des Dividellen, «Weltwerdens». Wie Ott denkt auch Judith Butler von der eben eine dividuelle Geschichte. Geöffnetheit; ihre Überlegungen zu einer Sozialontologie Beide TheoretikerInnen betrachten den Punkt, an dem der Relation und der Verletzbarkeit nehmen beide Auto­ Teilhaben, Öffentlichkeit und Modulation / Modulierung rInnen auf und erweitern sie von einer grundlegenden zum Zwang werden. Auch wenn Deleuze im «Postskriptum Ausgesetztheit in Richtung einer postanthropozentrischen über die Kontrollgesellschaften» die permanente Weiter­ Intervention.16 Raunig knüpft zudem an das relationale entwicklung und Teilung als Machtform konzipiert, steht Denken der Anthropologin Marylin Strathern an und ver­ nicht Stillstand Bewegung gegenüber. Die Teilung ist bindet so zeitgenössische Diskurse der Ontologie in der Grundlage einer Berechnung, die Feedbackschleifen er­ Anthropologie 17 mit dem «dividuum». Mit einem neu ge­ möglicht. Die Bewegung ist hier eine andere Flucht, bzw. lesenen Klassiker der feministischen Anthropologie und es gilt, im Fliehen «neue Waffen zu suchen»,19 wie Deleuze einer Intervention in ein hylomorphes Denken der Teilung an gleicher Stelle schreibt. Der Blick sollte also mehr statt bringt er so feministische Impulse in den Diskurs des Divi­ weniger auf die Flucht gelenkt werden, selbst und gerade duellen ein, indem er entfaltet, was Deleuze und Guattari wenn das Kapital in Bewegung ist, wie Raunig mit Bezug schon mit dem Begriff des antiödipalen Gefüges für die fe­ auf Harneys und Motens Begriff des «fugitive planning» ministische Medienwissenschaft angelegt haben.18 und der «logisticality» argumentiert (S. 170). Die Teilung des Subjekts ist für beide AutorInnen also kein Mangelszenario, auch wenn ein Anschluss an Deleu­ zes «Postskriptum zu den Kon­ trollgesellschaften» gerade durch die Vielheit der Bezüge und die Heterogenität der Ge­ genstände oft als eine allum­ fassende Dystopie erscheint. Eine Fortführung führt dann häufig einen Negativismus mit sich, weil es kaum mög­ lich scheint, dem ubiquitären BESPRECHUNGEN 147 JULiA BEE Folgt man diesen dividuellen Überlegungen, dann be­ 11 Harney, Moten: Under- 16 Vgl. für den Begriff der ginnt die Teilung («Dividuation» / «dividuum») bereits in commons, vgl. vor allem Verletzbarkeit bei Judith Butler: das Kapitel «Phantasy in the Gefährdetes Leben. Politische Essays, der Emergenz und ereignet sich an der Schwelle zwischen Hold», 84 – 99. Frankfurt / M. 2005; dies.: Raster Virtuellem und Aktuellem. Kontrolle operiert demzufolge 12 Michel Foucault: Sicherheit, des Krieges. Warum wir nicht jedes Territorium, Bevölkerung. Geschichte Leid beklagen, Berlin 2010 [2009]. mit dem Potenzial und ist nicht mehr nur auf das Aktuelle der Gouvernementalität 1, Frank­ 17 Wie sie aktuell etwa auch bezogen.20 Es ist dann das Potenzial der Neuerung, dessen furt / M. 2006, 40. Eduardo Viveiros de Castro mit Mehrwert abgeschöpft wird: Macht steuert so Emergenz 13 Zugleich sind die diszipli­ seinem Multinaturalism oder narischen Machtformen nicht Barbara Glowczewski mit ihren und erzeugt – innerhalb von Ökologien eines hyperdiffe­ vergangen, mit den Begriffen Totemic Becomings führen. Eduardo renzierten Natur­Kultur­Kontinuums – Kontrollmilieus.21 «dividuum» bzw. «Dividuationen», Viveiros de Castro: Cannibal Ein zentraler Gewinn in der Lektüre beider Beiträge zum die ja explizit aus Deleuzes Kon­ Metaphysics. For a Post-Structural trollgesellschaften­Essay entlehnt Anthropology, Minneapolis 2014; Dividuellen erscheint so als grundlegend: Was sich durch sind, ist keine lineare Geschichte Barbara Glowczewski: Totemic beide Bücher denken und weiter ausdifferenzieren lässt, der Macht zu be schreiben. So Becomings. Cosmopolitics of the Drea- sind die Weisen, wie Macht und Medialität an der Schwelle entwirft dividuum eine verdichtete ming, Helsinki, São Paulo 2015. Form der Gefüge, die immer da­ 18 Bereits Deleuze / Guattari der Aktualisierung, deren nicht linearen Emergenz­, von bedroht sind, allzu «gefügig» haben Kontinuität und Dis­ Wahrnehmungs­ und Affekttransmissionen zentral durch (Raunig) zu werden. kontinuität, Materie und Form Mediendividuationen moduliert / modularisiert werden. 14 Brian Massumi: National nicht gegeneinander gestellt, Enterprise Emergency. um das Begehren als soziale und — Steps Toward an Ecology of nicht­ / menschliche Verket­ P owers, in: Theory, Culture & tung von Energie und Form zu Society, Vol. 26, Nr. 6, November beschreiben. 1 Raunig legt die Wort­ und fragt sich daher, warum S imondon 2009, 153 – 185. 19 Deleuze: Postskriptum, 256. Begriffsgeschichte von «divi­ nicht von Dividuationen schrei­ 15 Es handelt sich um eine 20 Vgl. Massumi: Ecologies, duum» dar, bevor Deleuze den bt – seine Theorie impliziere dies nicht lineare Linie, die Raunig 167 ff. Begriff «dividuell» einbringt (vgl. geradezu (S. 171). Um Dividuation in seiner Lesart des patriarcha­ 21 Ott bezieht sich auf diese S. 157). Er schreibt den Begriff und Individuation einander nicht len Teilens und Aufteilens, der Abschöpfung des Lebens und des seiner lateinischen Verwendung entgegenzusetzen, könnte man Objektifizierung durch Teilung Teilungsvermögens des Dividuellen, folgend klein und markiert ihn an dieser Stelle Simondons Begriff von Frauen und SklavInnen von hält sich dabei aber an die eher durch Kursivsetzung. Ich folge des Dephasierens einbringen, eine der Antike bis zur Neuzeit zeichnet aktuelle Seite des Machtbegriffs hier Raunigs Schreibweise, indem ständige Bewegung des Werden­ (im Kapitel «Dividuom face! der Bio­Macht, obwohl sie das ich den Begriff in Anführungs­ Vergehens, der noch stärker Simon­ Sexuelle Gewalt und Herrschaft Virtuelle als Ausgangspunkt ihrer striche setze und klein schreibe. dons Anliegen erklärt, das Indivi­ durch Teilung»). Überlegungen versteht. «dividuum» ist so nicht mit einem duum als Metastabilität zu denken. Subjekt zu verwechseln. Gilbert Simondon: Das Individuum 2 Gilles Deleuze: Foucault, und seine Genese. Einleitung, in: Frankfurt / M. 1997 [1986], 171. Claudia Blümle, Armin Schäfer 3 Vgl. Félix Guattari: Die drei (Hg.): Struktur, Figur, Kontur. Abstrak- Ökologien, Wien 2012. tion in Kunst und Lebenswissenschaf- 4 Vgl. Stefano Harney, Fred ten, Zürich 2007, 29 – 45, hier 31. Moten: The Undercommons. Fugitive 8 In den beiden Monogra­ Planning and Black Study, Wivenhoe fien zeigt sich, was Deleuze in u. a. 2013. einer Rezension über Simondon 5 Gilles Deleuze: Das Bewe- schreibt; dieser würde das gungs-Bild. Kino 1, Frankfurt / M. Problem positiv definieren, wobei: 1997, 129, 138; Gilles Deleuze: «Das Problematische das Negative Postskriptum über die Kontrollge­ [ersetzt]». Gilles Deleuze: Gilbert sellschaften, in: ders.: Unterhand- Simondon, das Individuum und lungen 1972 – 1990, Frankfurt / M. seine physikobiologische Genese, 1993 (1990), 254 – 262, hier 258. in: ders: Die einsame Insel. Texte 6 Vgl. Brian Massumi, Jason und Gespräche 1953 – 1974, Frank­ Nguyen, Mark Davis: Interview furt / M. 2003, 127 – 132, hier 129. with Brian Massumi, in: Manifold, 9 Deutscher Titel: Robert Forms of Time, Nr. 2, 2008, 17 – 30, Altman’s Last Radio Show, Regie: hier 21. Robert Altman, USA 2006. 7 Michaela Ott bringt Dividua­ 10 Gilles Deleuze: Was ist tionen und Gilbert Simondons Be­ der Schöpfungsakt?, in: ders.: griff der Individuation zusammen. Schizophrenie und Gesellschaft, Ihr ist der Begriff der Individuation Texte und Gespräche 1975 – 1995, jedoch noch zu stark der Teleologie Frankfurt / M. 2005 [1. Auflage], des Individuums verhaftet und sie 298 – 308, hier 307. 148 ZfM 13, 2/2015