Conrad Wiedemann (Hrsg.): Rom Paris London. Erfahrung und Selbst- erfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metro- polen. Ein Symposion.- Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhand- lung 1988 (Germanistische - Symposien - Berichtsbände 8), XV, 719 S., DM 128,- Die Gliederung des Buches in fünf größere Einheiten kommt durch die Orientierung an den vier Symposiumstagen und den vorgeschalteten Einleitungsteil zustande. Nach den präzisen und informativen Vorbe- merkungen des Herausgebers beschäftigt sich der zweite Teil mit dem Eigenen und dem Fremden und beleuchtet aus unterschiedlichen Blick- winkeln die hermeneutische und geschichtliche Problematik des Ge- genstandes. Die folgenden Partien behandeln je eine der drei Metro- polen Rom - Paris - London und schließen jeweils mit einem Diskus- sionsbericht. Ein Personenregister am Ende des Buches erleichtert die Handhabung des umfangreichen Bandes. Behandelt wird der Zeitraum von der Frühen Neuzeit über Klassik, Romantik, Dandyismus bis hin zum 20. Jahrhundert, wobei der Schwerpunkt auf die Zeit von der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis zum frühen 19. Jahrhundert fällt. Im Mittelpunkt der Darstellun- gen steht der deutsche Reisende, wobei auch die Diskussion um die deutsche Sonderstellung thematisiert wird. Dies und das offene, grenz- verletzende Thema, für das es (anders als bei den vorhergehenden Symposien-Berichtsbänden) keine etablierte, anschlußfähige For- schungstradition gibt, sowie die Fülle namhafter Teilnehmer mit ihren verschiedenen Herangehensweisen an das Thema machen das Buch zu einer Fundgrube für Interessierte unterschiedlichster Provenienz. Nicht nur speziell an der Gattung Reiseliteratur, dem Auftauchen des Großstadtmotivs in der modernen Literatur, dem Italienerlebnis Goethes oder dem Pariserlebnis der deutschen Revolutionsreisenden Interessierte kommen auf ihre Kosten. Es tun sich ebenso Blicke auf in die Dialektik von Provinzialität und Urbanität im deutschen Kul- turselbstverständnis, sowie in die Motiv- und Mentalitätsgeschichte deutscher Rom - Paris - London - Sehnsüchte. Besonders aufschluß- reich ist die Darstellung der Veränderung der Wahrnehmungs- und Ausdrucksmittel. So dienen etwa die peregrinatio academica und die Kavalierstour der Frühen Neuzeit mehr dem Standesansehen und dem beruflichen Fortkommen als die bürgerlich-idealistischen Reisen nach 1750. In dieser Zeit gibt es einen Kontinuitätsbruch in Reisegestus und Aus- drucksform. Während die früheren Reisen weniger den Städten als dem jeweiligen Hof und der Universität galten, wurde im 18. Jahrhundert (in der Nachfolge Winckelmanns) die Reise in die fremde, große Stadt zur Selbsterfahrungsdramaturgie und zum individuellen Prüfstein. Doch wird dabei deutlich, daß bei dem Reiseverhalten {nicht nur der deut- schen Schriftsteller} Herkunft und Bildung prägender sind als die Na- tionalität. Die Deutschen, die der europäischen Mode hinterherhinken und sich erst im Ausland zum Ideal des gebildeten Hofmannes er- ziehen müssen, suchen in der Großstadt eine Komplementärerfahrung zu ihrer eigenen Provinzialität. Das Leiden an der Provinz wie an der Stadt {die fremde, große Stadt erhebt und erdrückt den Besucher zu- gleich}, kommt zur Sprache, dabei zeigt sich, daß das Kulturmodell Stadt - Land ausgesprochen symmetrisch ist. Spannend zu beobachten, wie selektiv und beschränkt die Wahrnehmungen der Reisenden in vielen Fällen sind. Mehr als die lebendige Stadt wird häufig nur deren Mythos gesucht. Der Blick des Neuankömmlings in der fremden Metropole zeigt sich vorbelastet durch ein Wissen, das ihn wie ein Schutzschild von wirklichen Erfahrungen abschirmt. Mehr als eine Selbstentäußerung wird eine Bestätigungserfahrung inszeniert. Erst in und durch das Fremde kann wirklich der Versuch ernsthaft unter- nommen werden, Auskunft über sich selbst, über die eigene Identität zu erlangen. Unterlegt war die damalige Diskussion durch die Verbin- dung der überaus langlebigen, auf antike Vorstellungen zurückgehenden Lehre von den Körpersäften und der drei-Zonen-Theorie des Klimas. Diese dienten zur Begründung der verschiedenen Eigenschaften der Völker und zur Bestimmung der Nationalcharaktere. Gerade die Definition von Nationalcharakteren, die stets einen Zwischenzustand zwischen Fiktion und Realität umrissen, dürfte dazu beigetragen haben, Auto- und Heterostereotype hervorzubringen, die ein Rollen- verhalten der Völker untereinander begünstigten. Dabei ist zu beob- achten, wie sich die keineswegs konstanten Stereotype im Lauf der Zeit umbilden. Reisebeschreibungen lassen sich immer auch spiegelbildlich als kultu- relle Selbstdarstellung der Ausgangskultur lesen, auch wenn dies un- freiwillig geschehen sollte. Helmut Kaffenberger