Filmblatt 46/47 | 2011/12 105 Daniel Siemens Antifaschistisches Lehrstück oder „plumpe Hintertreppenkonstruktion“? Der DEFA-Spielfilm Der luDe (1984) über den Mord an Horst Wessel und die „Klassenjustiz“ der Weimarer Republik Wiederentdeckt 157, 7. Mai 2010 „Antifaschistische“ Filme, die das offizielle Geschichtsverständnis der SED ins Bild setzten, produzierte die DEFA seit ihrer Gründung im Jahre 1946. Sie soll- ten das „sozialistische Bewusstsein“ stärken und zugleich vom erfolgreichen Neuanfang, der Überwindung faschistischer Traditionsbestände durch die neue Gesellschaftsordnung, künden.1 Viele Produktionen dieses Genres stammen aus den 1950er Jahren, als die Zukunft Deutschlands vergleichsweise unbestimmt war und es noch so etwas wie eine gesamtdeutsche Öffentlichkeit gab, die Ost wie West für sich einzunehmen suchten.2 Spätestens mit dem Mauerbau verlor die Systemkonkurrenz jedoch an tagespolitischer Schärfe. An ihre Stelle trat in beiden deutschen Staaten eine Art Binnenkommunikation, die danach trach- tete, der eigenen Bevölkerung die Vorzüge des jeweiligen politischen Systems und der legitimen Herrschaft seiner Eliten nahe zu bringen. Die späten „anti- faschistischen“ Spielfilme der DDR sind vor diesem Hintergrund zu sehen: Sie waren einerseits eine Verstärkung und Beglaubigung der eigenen invented tra- dition, andererseits aber zunehmend problematisch, weil das Genre inhaltlich wie formal wenig weiterentwickelt wurde und es gerade jüngeren Zuschauern zunehmend anachronistisch erschien.3 1  Vgl. Sylvia Deltl: Vorwärts und nicht vergessen... Die Propagandafilme der DEFA. In: Filmarchiv  Austria, Bundesarchiv-Filmarchiv Berlin, DEFA-Stiftung Berlin (Hg.): Der geteilte Himmel. Höhe- punkte des DEFA-Kinos 1946 –1992. Band 2: Essays zur Geschichte der DEFA und Filmografien von 61 DEFA-RegisseurInnen. Red.: Raimund Fritz. Wien 2001, S. 133–148, hier S. 133. 2  Zentral für die Ideologie des Antifaschismus in der DDR war die Verklärung des ehemaligen  KPD-Führers  Ernst Thälmann,  dem die DEFA  in den 1950er  Jahren  gleich mit  zwei  Filmen  von Kurt Maetzig huldigte: ernSt thälmann – Sohn SeIner klaSSe (1954) und ernSt thäl- mann – führer SeIner klaSSe (1955). Zum Gesamtkomplex vgl. Anne Barnert: Die Antifaschis- mus-Thematik der DEFA. Eine kultur- und filmhistorische Analyse. Marburg 2008; Detlef Kannapin:  Antifaschismus im Film der DDR. DEFA-Spielfilme 1945–1955/56. Köln 1997; Christiane Mücken- berger: The Anti-Fascist Past in the DEFA-Films. In: Seán Allan, John Sanford (Hg.): DEFA. East  German Cinema, 1946 –1992. New York und Oxford 1999, S. 58–76. 3  Für eine Übersicht vgl. die Auflistung historischer DEFA-Antifaschismusfilme von Barnert: Die Antifaschismus-Thematik der DEFA, S. 381 ff. Filmblatt 46/47 | 2011/12106 Diese Problematik trifft auch auf den DEFA-Film der lude von Horst E. Brandt zu, der am 6. Dezember 1984 im Kino International in Ost-Berlin uraufgeführt wurde. Angelehnt an einen historischen Kriminalfall, den Überfall einer Grup- pe Rotfrontkämpfer auf den SA-Sturmführer Horst Wessel in Berlin-Friedrichs- hain im Januar 1930, setzt der Film die „Klassenjustiz“ der Weimarer Republik aus kommunistischer Sicht in Szene. Wessel war bei diesem Überfall durch ei- nen Schuss des Rotfrontkämpfers und Zuhälters Albrecht „Ali“ Höhler schwer verletzt worden; er starb wenige Wochen später an den Folgen. Die Staatsan- waltschaft ging von einem politisch motivierten Verbrechen aus und ermittelte wegen Mordes. Verurteilt wurden die Täter im September 1930 jedoch wegen Totschlags. Für die KPD handelte es sich dennoch um „brutale Zuchthausurtei- le“, eine Folge des „Diktats der bürgerlichen Klasse“. Mit Politik, so verbreitete die Rote Fahne unermüdlich, habe der ganze Überfall nichts zu tun gehabt.4 der lude basiert auf einem Drehbuch des Ehepaares Wera Küchenmeister (geb. Skupin, 18. Oktober 1929) und Claus Küchenmeister (geb. 7. September 1930), Regie führte Horst E. Brandt (17. Januar 1923 – 22. August 2009). Der Film war somit das Produkt einer Generation, die von Teilen der historischen Forschung als „Aufbau-Generation“ bezeichnet wird. Die Geburtsjahrgänge 1925 bis 1935 hatten den Nationalsozialismus und besonders das Umbruchsjahr 1945 noch be- wusst erlebt und waren dadurch für ihr Leben geprägt.5 Charakteristisch für das Politikverständnis dieser Generation war ein Denken in polaren Gegensätzen, in Freund-Feind-Kategorien, dessen erster Imperativ „Nie wieder!“ lautete und das folglich einen umfassenden „Antifaschismus“ als probates Gegenmittel gegen die Schrecken ihrer Kinder- und Jugendzeit propagierte. Retrospektiv konnten so die persönlichen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus sinnhaft gedeu- tet werden, für die Gegenwart erlaubte diese Denkfigur eine klare politische Positionsbestimmung, und mit Blick auf die Zukunft versprach sie, wenigstens diesmal auf der historisch „richtigen“ Seite zu stehen. Ganz im diesem Sinne schrieb Brandt in einem Regiekonzept zum Film: „Für uns selber und für unsere Generation wird die Zeit von 1929–1934 als besonders wichtig in der täglichen Klassenauseinandersetzung empfunden.“6 Geschichtspolitik und Staatssicherheit. Dass die DEFA sich allerdings zu Beginn der 1980er Jahre ausgerechnet an eine Verfilmung des Wessel-Stoffs 4 Für Einzelheiten vgl. Daniel Siemens: Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten. München 2009, S. 15–32, 116 –128. 5  Vgl. Thomas Abbe, Rainer Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte. Theo- retische und methodologische Überlegungen am Beispiel DDR. In: Annegret Schüle, Thomas  Abbe, Rainer Gries (Hg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur. Leipzig 2006, S. 475–571, v. a. S. 502–518. 6  Horst E. Brandt: Regiekonzeption zum Spielfilm „Elend und Glanz des Wilhelm Knaupe, ge- nannt Bello“ vom 23.4.1983 (Bundesarchiv Berlin, DR 117, 12109, unpaginiert). Filmblatt 46/47 | 2011/12 107 machte, muss erstaunen. Denn nachdem die politische Linke in den 1930er Jahren ziemlich erfolglos versucht hatte, dem nationalsozialistischen Mythos mit Verweis auf die angebliche Zuhälterei Wessels zu begegnen, war diese Ge- schichte in den folgenden Jahrzehnten weitgehend beschwiegen worden.7 In der DDR galt Horst Wessel, sofern er überhaupt eine Rolle spielte, genau wie in der frühen Bundesrepublik ausschließlich als tumber Schlägertyp und seine Verklärung als hervorragendes Beispiel nationalsozialistischer Propaganda, ge- wissermaßen als Joseph Goebbels’ Meisterstück.8 Ähnlich kompliziert war der postume Umgang mit Wessels Mörder, dem mehrfach vorbestraften Albrecht Höhler, der im Frühjahr 1930 verhaftet und am 26. September desselben Jah- res zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden war. Seine Haft hatte er zur Hälfte abgesessen, als ihn am 20. September 1933 hochrangige SA-Führer in einem Waldstück in der Nähe von Frankfurt an der Oder ermor- deten.9 Dieses „Opfer des Faschismus“, das Höhler im ursprünglichen Wortsinn zwei- felsohne war, wurde von seiner Partei bereits 1930 fallengelassen, nachdem er im Gefängnis umfassend „ausgepackt“ hatte. Nun hieß es, Höhler sei ein asoziales Element und ein Berufsverbrecher, der keinesfalls im Sinne der Partei gehandelt habe. Nach 1945 bedeckte man seine Person vollends mit Schwei- gen. In der Geschichte des Roten Frontkämpferbundes von Kurt Finker, 1981 in Ost-Berlin erschienen, fehlt jeder Hinweis zum Attentat auf Wessel und seine Hintergründe.10 Der nichtpublizierten „offiziellen“ Sichtweise kommt vermut- lich nahe, was Brandt in seinem 2003 erschienen Erinnerungsbuch Halbnah – nah – total schrieb: Höhler und seine Genossen seien „anarchische Kommunis- ten“ gewesen, die „sich in diesen Mord involvierten und damit geschichtliche Schuld auf sich geladen haben. Ihre Tat wurde zum Nazi-Symbol.“11 Trotz dieser Problematik wandten sich die beiden Schriftsteller und Dreh- buchautoren Wera und Claus Küchenmeister von den späten 1970er Jahren an just diesem Stoff zu. Für beide war der antifaschistische Film das „zentra- le Lebensthema“,12 verstärkt nicht zuletzt durch die persönliche Familienge- schichte: Claus Küchenmeisters Vater Walter war als Mitglied der Widerstands- 7 Vgl. Siemens: Horst Wessel, S. 200 –206. 8  Zum Kult um Horst Wessel vgl. ausführlich Heiko Luckey: Personifizierte Ideologie. Zur Kon- struktion, Funktion und Rezeption von Identifikationsfiguren im Nationalsozialismus und im Stali- nismus. Göttingen 2008, S. 57–71; Siemens: Horst Wessel, S. 131–149; Thomas Oertel: Horst Wessel. Untersuchung einer Legende. Köln 1988. 9 Vgl. Siemens: Horst Wessel, S. 122 f., 211–222. 10 Vgl. Kurt Finker : Geschichte des Roten Frontkämpferbundes. Berlin (Ost) 1981, S. 214–228. 11 Horst E. Brandt: Halbnah – nah – total. Erinnerungen. Berlin 2003, S. 209. 12 Stellungnahme der Gruppe „Berlin“ zur Studioabnahme des Films Der luDe vom 12.7.1984 (Bundesarchiv Berlin, DR 117/vorl. BA III 3088, Der luDe – Stoffakte, Schriftwechsel, unpagi- niert). Filmblatt 46/47 | 2011/12108 gruppen um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen („Rote Kapelle“) am 6. Februar 1943 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zum Tode verurteilt und am 13. Mai desselben Jahres in Berlin-Plötzensee hingerichtet worden.13 Sein Sohn hatte sich nach eigener Aussage entschlossen, dem neuen antifa- schistischen Staat mit ganzer Kraft zu dienen. Der Bundesrepublik, in der die Richter, die seinen Vater zum Tode verurteilt hatten, nach dem Krieg weiterhin ihrem erlernten Beruf nachgehen konnten, sprach und spricht er hingegen die politische Legitimation ab.14 Die Küchenmeisters kannten das proletarische Milieu zwischen Scheunen- viertel und Schlesischem Bahnhof, das so eng mit Wessels Aufstieg zum Führer des SA-Sturms 5 im Jahr 1929 und seiner Ermordung im Jahr darauf verknüpft war, aus eigener Anschauung. Wera Küchenmeister war hier, in der Landsber- ger Straße 37, als Wera Skupin aufgewachsen. Nicht weit davon, in der Kop- pen- und Palisadenstraße, hatte auch ihr späterer Ehemann die ersten Lebens- jahre verbracht. Die genaue Kenntnis von Orten und Mentalitäten bildete den Ausgangspunkt für ihre teils historische, teil fiktive Gestaltung der Wessel- Geschichte in der lude. Aus dem damaligen Zentralen Staatsarchiv der DDR in Potsdam erhielten die beiden Autoren Dokumente aus der Akte des Reichsjus- tizministeriums zum zweiten Wessel-Prozess von 1934. Dabei handelte es sich um einen Schauprozess, in dem – nachdem die Nationalsozialisten den Fall neu aufgerollt hatten – drei Randfiguren (oder gar Unbeteiligte) des Überfalls auf Wessel angeklagt wurden. Zwei von ihnen wurden zum Tode verurteilt und im Jahr darauf hingerichtet.15 Nur absolut regimetreue Staatsbürger wie die Küchenmeisters konnten sich an die Wessel-Sache wagen, ohne Argwohn zu erwecken. Von Jugend an kom- munistisch erzogen, waren beide von der Überlegenheit der DDR überzeugt – zumindest in moralischer Hinsicht. Seit 1964 arbeiten sie freiwillig als Inof- fizielle Mitarbeiter für das MfS unter den Tarnnamen „Kaminski I und II“. Zu ihren Aufgaben gehörte es, Informationen über westliche Botschaften und Kultureinrichtungen in der DDR sowie über Interna der DEFA und des Schrift- stellerverbands weiterzugeben.16 Diesen Aufgaben kamen beide gewissenhaft nach. Über Wera Küchenmeister, die das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) auch als „Sonja“ führte, schrieb ein Mitarbeiter der Hauptabteilung XX zuvor: „Die klassenbewußte und prinzipienfeste Haltung von Genossin Kü- chenmeister schließt jedes Versöhnlertum und jegliche ideologische Kompro- 13  Zur „Roten Kapelle“ vgl. etwa die Beiträge in Hans Coppi, Jürgen Danyel, Johannes Tuchel  (Hg.): Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Berlin 1994. 14  Gespräch des Verfassers mit Wera und Claus Küchenmeister am 10.11.2007 in Siethen bei  Berlin. 15 Vgl. Siemens: Horst Wessel, S. 226 –236. 16  Zur Überwachung der DEFA durch das MfS vgl. auch Dagmar Schittly: Zwischen Regie und Regime. Die Filmpolitik der SED im Spiegel der DEFA-Produktionen. Berlin 2002, S. 295–306. Filmblatt 46/47 | 2011/12110 mißbereitschaft aus.“17 Erst 1979 beendete die Staatssicherheit die reguläre Zusammenarbeit, angeblich, weil die Küchenmeisters über kompromittierende Informationen aus der Vergangenheit des Staatsratsvorsitzenden Erich Hone- cker verfügten. „Klassenjustiz“ im Kino. 1983 legten die Küchenmeisters ein erstes Skript für einen Kinospielfilm mit dem Titel Der Lude vor, das sich eng an die histori- sche Geschichte um Wessel und Höhler anlehnte. Brandt, der in Zusammenar- beit mit den Küchenmeisters bereits zuvor historische Themen verfilmt hatte,18 interessierte sich für den Stoff. Er verfasste am 23. April 1983 ein ausführli- ches Regiekonzept, in dem er Ziele und Inszenierungsabsichten des „politi- schen Kriminalfilms“ benannte, der besonders die junge Generation erreichen sollte. Mögliche politische Bedenken versuchte Brandt zu entkräften: „Es be- stand nie die Absicht, einen Film über diesen unbedeutenden Menschen, Horst Wessel, zu machen. Seine von den Nazis märtyrerhaft herausgestellte Figur ist nur soweit Gegenstand des Films, wie es notwendig für die Erzählstruktur einer politischen Intrige ist.“19 Diese Intrige ist der schon unmittelbar nach Wessels Tötung von Seiten der KPD erhobene Vorwurf der Klassenjustiz. An allen entscheidenden Stellen hält sich der Film damit an die kommunistische Version der Wessel-Geschichte: Der Friedrichshainer SA-Führer ist ein Zuhälter, der wegen einer Rivalität unter seinesgleichen stirbt. Polizei und Justiz, so zeigt der Film weiter, versuchen mit allen Mitteln, diese Wahrheit zu unterdrücken. Mithilfe von Spitzeldiens- ten, Erpressung und folterähnlicher Einzelhaft gelingt es den Ermittlungsbe- hörden schließlich, die Kommunisten als Täter hinzustellen, die sich jedoch untereinander solidarisch verhalten. Durch ihre heldenhafte Standhaftigkeit 17 Auskunftsbericht der Hauptabteilung XX des MfS über Wera Küchenmeister vom 5.8.1975 (BStU, Archiv der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Archiv des MfS 11293/79, Bl. 30 –34, hier Bl. 32). 18 Es handelt sich um die Filme: klk an PtX – DIe rote kaPelle (DDR 1971) und ZWISchen tag unD nacht (DDR 1975). Zumindest für erstgenannten Film ist eine enge Zu sammen- arbeit der Küchenmeisters mit dem Ministerium für Staatssicherheit belegt. Das MfS notierte: „Küchen meisters sind von sich aus interessiert, das Projekt nur gemeinsam mit dem MfS zu  bearbeiten und bis zur Fertigstellung alle anderen Personen und Einrichtungen von der Dis- kussion  und  auch  der  Kenntnis  auszuschalten. Das  gilt  ebenfalls  für  die DEFA.“  [sic!] Dem  Historiker  Johannes Tuchel  zufolge unterstützte das Ministerium die Arbeit  am Film bis  zur  Premiere  im März  1971. Vgl.  Johannes Tuchel: Das Ministerium  für  Staatssicherheit  und  die  Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ in den 1960er Jahren. In: ders. (Hg.): Der vergessene Wider- stand. Zu Realgeschichte und Wahrnehmung des Kampfes gegen die NS-Diktatur. Göttingen 2005, S. 232–270, hier S. 263 f., Anm. 16. 19  Horst E. Brandt: Regiekonzept zum Spielfilm „Elend und Glanz des Wilhelm Knaupe, genannt  Bello“ vom 23.4.1983 (Bundesarchiv Berlin, DR 117/12109, S. 1 f.). Filmblatt 46/47 | 2011/12 111 schaffen sie es sogar, die eigentlich unpolitische Hauptfigur des Films zu be- eindrucken. Dieser Charakter war eine Erfindung der Küchenmeisters: Wilhelm Knaupe, genannt Bello, ist ein Zuhälter, unpolitisch, aber mit dem Herzen auf dem lin- ken Fleck. Anders als viele andere Personen im Film (und auch im drei Jahre später im Militärverlag der Nationalen Volksarmee veröffentlichen Roman),20 die historisch belegt und auch mit ihrem richtigen Namen genannt werden, sei dieser Bello „erfunden, um möglichst frei und nicht historisierend mit die- sem Stoff fertig zu werden, der uns sehr erregte“, teilten die beiden Autoren in einem privaten Schreiben mit.21 Dass dieser Bello von der Zuhälterei lebt, machte ihn nach den Maßstäben, die in den 1920er Jahren in der Gegend zwischen Rosenthaler Platz und Frankfurter Tor galten, nicht von vornherein unsympathisch. Gleiches galt seinerzeit für Wessel: Auch er wurde zwar als Zuhälter angesehen, „aber das fand ich nicht weiter schlimm, weil ich Zuhäl- ter für einen Beruf hielt, was ja schließlich auch stimmt“, erinnerte sich etwa der Schriftsteller John Stave, der in den 1930er Jahren in Friedrichshain auf- wuchs.22 Ganz ähnlich schrieben dies auch die Küchenmeisters in einem Brief an den befreundeten Schriftsteller und Journalisten Heinz Knobloch: „Bei uns war dieser Wessel immer der Zuhälter, obwohl dieser Status nicht so viel Anrü- chiges hatte, wie in den besseren Vierteln Berlins. Er stand im Normalen, wie der ,Verbrecher‘, immer gegen die Obrigkeit, und somit wurde er häufig zum Verbündeten.“23 Aufschlussreich ist ein Vergleich von Der Lude mit dem thematisch verwand- ten Großstadtroman Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin aus dem Jahr 1930: Am Ende dieses Entwicklungsromans erkennt Franz Biberkopf, die Züge eines modernen Hiob tragende Hauptfigur, schließlich, dass er nicht etwa an den widrigen äußeren Umständen, sondern am eigenen Hochmut, an seiner „Hyper-Maskulinität“ gescheitert ist.24 Erst durch diese Einsicht setzt bei Bi- berkopf eine Art christliche Läuterung ein. Von vergleichbar selbstanklägeri- schen Gedanken ist die Figur des Bello in Der Lude frei. Aber auch er macht eine Entwicklung durch, einen politischen Reifeprozess, weshalb man Der Lude auch als politischen Entwicklungsroman bezeichnen kann: Bello bewährt sich 20  Wera und Claus Küchenmeister : Der Lude. Roman. Berlin (Ost) 1987. 21 Brief von Wera und Klaus Küchenmeister an Heinz Knobloch vom 28.9.1987 (Staatsbib- liothek zu Berlin, Handschriftenabteilung, Nachlass 353: Heinz Knobloch, Box „Der arme Ep- stein 1“, unpaginiert). 22  John Stave: Stube und Küche. Erlebtes und Erlesenes. Berlin (Ost) 1987, S. 46. 23 Brief von Wera und Klaus Küchenmeister an Heinz Knobloch vom 16.4.1993 (Staatsbiblio- thek zu Berlin, Handschriftenabteilung, Nachlass 353: Heinz Knobloch, Box „Der arme Epstein 3“, unpaginiert). Vgl. auch Alfred Apfel: Les dessous de la justice allemande. Paris 1934, S. 201 f. 24 Vgl. Roger Kingerlee: Psychological Models of Masculinity in Döblin, Musil, and Jahn. Männ liches, Allzumännliches. Lewiston, New York 2001, S. 63–132. Filmblatt 46/47 | 2011/12112 im Laufe der Handlung, er durchschaut die „Klassenjustiz“ und stirbt am Ende zwar als Opfer des Systems, aber als innerlich freier Mensch. In gewisser Weise steht Der Lude damit auch in der Tradition sozialistischer Lehrstücke, wie sie vor allem Bertolt Brecht, an dessen Berliner Ensemble die Küchenmeisters als junge Leute beschäftigt waren, nach dem Zweiten Welt- krieg in Ost-Berlin inszenierte. Allerdings lassen die nur schemenhaft erkenn- bare Entwicklung der Filmhandlung und die Eindimensionalität der Figuren- zeichnung an der Echtheit der auftretenden Personen und ihrer Motive Zweifel aufkommen. Eine grundlegende Analyse der damaligen politischen Dimension fehlt. Besonders deutlich wird dieser Mangel in der offiziellen Stellungnahme, mit der das verantwortliche Autorenkollektiv, die Gruppe Berlin, die Handlung des Films zusammenfasste. Sie hob bereits die triviale Mischung aus Liebes- geschichte und politischer Moral hervor, die den Film und seine Vermarktung durch die DEFA auszeichnete: „Bello ist ein junger Mann, der sein Mädchen Frieda liebt und mit ihr glücklich ist [...] Daß er ihr Zuhälter ist, macht ihn erpreßbar. Er soll als Spitzel für die politische Polizei arbeiten. Als einer seiner näheren Bekannten einen führenden Nazi aus Eifersucht erschießt, braucht man Bello als Kronzeugen. Er soll die Verbindung dieses Mannes zur Kommu- nistischen Partei und die Vorsätzlichkeit dieser Tat ,beweisen‘. Bello weiß, dass das eine Lüge ist. [...] Die an die Macht gekommenen Nazis rollen den Fall – großaufgezogen – wieder auf, weil es gilt, die Kommunisten zu verteufeln, weil ein Märtyrer gebraucht wird. Auch unter verstärktem Druck lehnt Bello ab, einen Unschuldigen zu belasten, den man gerne als Mörder oder wenigstens als Initiator sähe, weil er Kommunist ist. Das kostet Bello und Frieda nicht nur ihr Glück. Das kostet Bello das Leben.“25 Die „Infamie der juristischen Intrige“. Horst Wessel ist nur eine Nebenfigur des Films, genauso wie sein Mörder Albrecht Höhler. Der Film stellt diesen als eifersüchtigen und gewalttätigen Zuhälterkollegen von Bello dar. Höhler hängt sich an die Racheaktion der als gut organisiert und überlegt handelnd vorge- führten Kommunisten, die Wessel, den „Nazi-Studenten“, verprügeln wollen, um eine private Rechnung zu begleichen. Gemäß der von den Kommunisten bereits 1930 verbreiteten Version erzählt der Film, Wessel habe Höhler dessen Mädchen ausgespannt. Bevor Wessel erschossen wird, kommt es im Film noch zu einer Auseinandersetzung zwischen Bello und Höhler, wobei Bello versucht, den rachelüsternen Höhler von der Aktion der Kommunisten fernzuhalten.26 Deren Ablauf, so vermittelt der Film, war eine in ihren Mitteln begrenzte Ra- 25 Stellungnahme der Gruppe „Berlin“ zur Studioabnahme des Films Der luDe vom 12.7.1984 (Bundesarchiv Berlin, DR 117/vorl. BA III 3088, unpaginiert). 26  Vgl. den Dialog zwischen Bello und Höhler, abgedruckt  in: Schreiben Horst E. Brandts an  den Generaldirektor Mäde vom 21.5.1984 wegen Zusatzaufnahmen zum Kinofilm Der luDe (Bundesarchiv Berlin, DR 117 vorl. BA III 1475, unpaginiert). Filmblatt 46/47 | 2011/12 113 chetat für die Schüsse auf den Kommunisten Camillo Roß wenige Stunden zu- vor, die – im Gegensatz zum Handeln Höhlers – kontrolliert und nach der Logik des politischen Straßenkampfes legitim war.27 Den Filmemachern wie der DEFA war es sehr wichtig, den Schuss auf Wes- sel nicht als unmittelbare Folge der „proletarischen Abreibung“ (so 1930 die Angeklagten vor Gericht) darzustellen. Deshalb wurden, nachdem eine erste Fassung vorlag, noch einige neue Szenen gedreht, aus denen deutlich werden sollte, dass Höhler nicht Teil der kommunistischen Gruppe war. Die „Infamie der juristischen Intrige“ bei der später gezeigten Gerichtsverhandlung soll- te auf diese Weise für den Zuschauer noch stärker durchschaubar gemacht werden.28 Eine nachträglich eingefügte Szene, die im Treppenhaus des Tatorts spielt, hatte folgende Handlung: „Ali stellt sich in die Kellernische [...]. Im Off hört er: Schlägerei. Ein Körper fällt. Schritte auf den Treppen. Ali drückt sich tief in die Nische. Per Rücken kommen drei Männer die Treppe herunter. Wort- los gehen sie auf’s Haustor zu. Ali wartet noch einen Moment. Dann ist er mit ein paar Schritten auf dem Weg in die obere Etage. Dabei nimmt er die Pistole aus der Tasche und entsichert. Angeschlagen rappelt sich Wessel hoch. Die Woh- nungstür steht halb offen. Wessel wird auf Ali aufmerksam. Ali kommt ins Bild. Wessel: Was wollen Sie? Ali: ...’ne Rechnung begleichen ... Erna, die ängstlich im Nebenzimmer steht, blickt überrascht auf. Sie hat Ali an der Stimme er- kannt. In diesem Augenblick fällt ein Schuß.“29 Selbst die „proletarische Ab- reibung“ der Kommunisten, die zunächst noch ins Bild gesetzt werden sollte, wurde nachträglich gestrichen, um eine maximale Distanz zum gewaltsamen Vorgehen des private Interessen verfolgenden Höhler zu schaffen. Die zweite Hauptfigur des Films, neben Bello, ist ein Aushilfskellner, von den Küchenmeisters Sally Grünstein getauft. Schon diese Namensgebung zeigt an, dass den Autoren die historische Person Sally Epstein als Vorbild diente. Ep- stein, ein junger Jude, der sich 1929/30 im Dunstkreis der kommunistischen Sturmabteilung Berlin-Mitte bewegt hatte, aber mit dem Überfall auf Wessel wenig oder nichts zu tun hatte, war einer der drei Angeklagten im zweiten Horst-Wessel-Prozess von 1934 gewesen und dort zum Tode verurteilt worden. Am 10. April 1935 wurde er in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Brandt schrieb 1983: „Eine Figur aus dem Ensemble ist mir und den Autoren besonders ans Herz gewachsen. Sally Grünstein. Aushilfskellner im Lokal von Baer. Kommu- 27  Der 17 Jahre alte Kommunist Camillo Roß war in den frühen Abendstunden des 14.1.1930  an der Kreuzung von Linien- und Joachimstraße in Berlin-Mitte von SA-Männern durch Pisto- lenschüsse schwer verletzt worden. 28  Arbeitsbemerkungen zum Rohdrehbuch „Der Lude“.  (Bundesarchiv Berlin, DR 117 / vorl.  BA III 3088, unpaginiert). 29  Schreiben Horst E. Brandts an den Generaldirektor Mäde vom 21.5.1984 wegen Zusatzauf- nahmen zum Kinofilm Der luDe. (Bundesarchiv Berlin, DR 117 vorl. BA III, 1475, unpaginiert). Die kursiv gesetzten Wörter wurden im Typoskript später handschriftlich gestrichen. Filmblatt 46/47 | 2011/12114 nist. Ein Mensch, der für Bello mehr als Verständnis hat. Ein Genosse, der um eine Abgrenzung gegenüber den Zuhältern bemüht ist, und daraus kein Hehl macht. Eine wichtige dramaturgische Figur, weil nur aus ihr sich die histori- sche Wahrheit erklärt.“ Grünstein ist ein Kommunist, wie ihn sich die Partei nur wünschen konnte: moralisch integer, dabei prinzipienfest und menschlich immer sympathisch. Obwohl er zunächst nur eine Randfigur des Films zu sein scheint, entwickelt er sich im Laufe der Handlung zu einer zentralen Gestalt. Regisseur Brandt stellte die Bedeutung Grünsteins heraus: „Individuell, fein- nervig und umsichtig verteidigt Sally den Ruf seiner Partei, der KPD. Geschickt schottet er seine Genossen ab. Wie er dabei mit Bello umgeht, wie er ihn durchschaut, macht ihn ungeheuer sympathisch. Welche Ansatzpunkte auch immer für sein Misstrauen gegenüber Bello vorhanden sind, von ihm geht ein humanistischer Grundgestus aus, der ihn zu einem ungewöhnlichen Charakter werden lässt.“30 „Arbeiterklasse und Lumpenproletariat“. Für den 11. Juli 1984 lud Hans Dieter Mäde, seit 1976 der Generaldirektor der DEFA und zugleich Mitglied des ZK der SED, zur Studioabnahme. Das Protokoll der Sitzung dokumentiert eine Reihe von harschen Kritikpunkten. Gerügt wurde zunächst, dass die „Asozi- alität“ der Lebensweise der jungen Leute „nicht einmal angedeutet werde“. Arbeiterklasse und Lumpenproletariat gingen zu sehr ineinander über, der An- spruch eines spannenden historischen Kriminalfilms werde nicht eingelöst. Ein Kritiker stellte schließlich das ganze Projekt in Frage. Seiner Meinung nach sei der Film damit überfordert, einerseits eine Geschichte über den politischen Kampf zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten zu erzählen, wobei zu- gleich der Wessel-Mythos demaskiert werden solle, andererseits aber auch eine emotionale Geschichte über das Alltagsleben und die sozialen Probleme junger Leute in den 1920er Jahren auf die Leinwand zu bringen. „Ist ein solcher Stoff überhaupt machbar?“, fragte er grundsätzlich.31 Der DEFA gelang es nicht, ein Abgleiten des politisch brisanten Stoffes in die Trivialität zu verhindern. Dies zeigt eines der Werbeplakate für der lude: „Ber- lin 1930 –34. Eine authentische Geschichte um kleine Leute und große Gangs- ter“, lautete die Unterzeile unter dem Filmtitel. Darüber sind drei großforma- tige Porträtfotos der weiblichen Hauptfiguren montiert. Kaum verhüllt warb die DEFA mit Sex und Sinnlichkeit, verschwieg aber die politische Botschaft. „Große Gangster“ – wie angekündigt – zeigte der Film nicht. 30  Horst E. Brandt, Regiekonzept zum Spielfilm „Elend und Glanz des Wilhelm Knaupe, genannt  Bello“ vom 23.4.1983 (Bundesarchiv Berlin, DR 117/2101, S. 4 f.). 31 Stellungnahmen der Genossen Richter, Schreinert, Kratzert, Hartmann und Kann im Pro- tokoll der Studioabnahme des Films Der luDe vom 11.7.1984 (Bundesarchiv Berlin, DR 117/ vorl. BA III 3088, unpaginiert). Filmblatt 46/47 | 2011/12116 DEFA-Generaldirektor Mäde hatte Mühe, die Produktion zu rechtfertigen. Er hob hervor, dass im Vergleich zum Rohschnitt besonders an der „für den Dreh- punkt der Geschichte unentbehrlichen Stelle (Horst Wessel wurde nicht von Kommunisten getötet)“ intensiv gearbeitet worden sei. Zudem lobte er die scheinbare Uneindeutigkeit des Films: „Filme, die offen in den politischen Verlauf eingreifen, haben wir nicht so zahlreich, als dass man diesen Beitrag nicht als bemerkenswert gerade auch in seinem Ansatz, neue, andere Kanäle zum Zuschauer zu bahnen, hervorheben sollte.“32 Kein Erfolg bei Kritik und Publikum. Als der Film am 8. Dezember 1984 in den Kinos der DDR anlief, zeigte sich schnell, dass die bereits bei der Studio- abnahme geäußerten Kritikpunkte auch von Publikum und Fachkritik geteilt wurden. Günter Agde, seinerzeit Rezensent der DDR-Kinozeitschrift Filmspie- gel, schrieb, dass die „wünschenswerte Erweiterung der Faschismus-Analyse auf eine schmale soziale Komponente beschränkt“ bleibe. Er rügte einen „kal- kulierten Blick durchs Schlüsselloch“ und Langeweile erzeugende Figuren- schematisierungen. Eine „harte, scharfe szenische Dokumentation [...] mit geschliffener dialektischer Argumentation“ hätte seiner Meinung nach eine größere Wirkung erzielen können.33 Ähnlich urteilten auch die Kritiker der Ta- geszeitungen. Fast alle bemängelten neben der letztlich unklaren Filmaussage einen Mangel an historischer Genauigkeit und Analyse. „Versandet im Milieu“ titelten die Mitteldeutschen Neuesten Nachrichten. Der Rezensent nannte den Film ein „bläßliches Provinzstück“, das „plumpe Hintertreppenkonstruktion“ bleibe.34 Die Sächsische Zeitung fand den ganzen Film „einfach primitiv!“: „Es tut einem schon selber weh, wenn man über einen DEFA-Film zu schreiben hat und nur wenig Gutes über ihn sagen kann.“35 Zum Kassenschlager taugte der lude nicht. Schon eine Woche nach der Premiere waren die Kinos nur halb gefüllt.36 Ein rundum misslungener Film? Wera und Claus Küchenmeister distanzier- ten sich Ende der 1990er Jahre vorsichtig von ihrem Film. Im Interview mit dem Filmemacher Ernst-Michael Brandt, dessen Dokumentarfilm über Horst Wessel mit dem Titel verklärt, verhaSSt, vergeSSen (D 1997) der Mitteldeutsche 32 Stellungnahme des Genossen Mäde, Protokoll der Studioabnahme des Films Der luDe vom 11.7.1984. Hervorhebung des Verfassers. (Bundesarchiv Berlin, DR 117/vorl. BA III 3088, unpaginiert). 33  Günter Agde: Versuch, eine Legende zu entschleiern. [Filmkritik zu Der luDe]. In: Filmspiegel, Nr. 1, 1985, S. 14. 34 N. W.: Versandet im Milieu. In: Mitteldeutsche Neueste Nachrichten (Leipzig), 8.12.1984 (Bun- desarchiv-Filmarchiv, Mappe 31334 zu Der luDe). 35 Filmblatt: Der luDe. In: Sächsische Zeitung (Dresden), 14.12.1984. 36 Rainer Rogge: Der luDe (Leser-Rezension des Monats). In: Filmspiegel, Nr. 4, 1985, S. 3. Filmblatt 46/47 | 2011/12 117 Rundfunk im Jahr 1997 ausstrahlte, räumten sie ein, die ganze Geschichte „etwas vereinfacht“ zu haben. Den politischen Anforderungen der damaligen Zeit willig folgend hätten sie „geschönt und geglättet“. Vielleicht, so sagten sie damals weiter, würden sie sich bei einem nochmaligen Anschauen selbst ein wenig erschrecken. Heute erschreckt der Film vermutlich niemanden mehr. Er ist aber aus min- destens drei Gründen ein interessantes Zeitdokument: als gescheiterter Ver- such, den Antifaschismus-Mythos der DDR-Gründungsjahre für die 1970er und 1980er Jahre zu „modernisieren“, in der merkwürdigen Trennung, die der Film zwischen den sogenannten „kleinen Leuten“ und den stets rational handeln- den Kommunisten aufbaut, sowie als zumindest in Teilen gelungene Milieu- studie, die die Enge und Schäbigkeit der Hinterhöfe in den Berliner Arbeiter- quartieren des frühen 20. Jahrhunderts nachdrücklich vor Augen führt. Der Film, der 1984 zu einem erheblichen Teil in den Straßen Ost-Berlins gedreht wurde, dokumentiert schließlich auch, wie wenig sich die Gebäude bestimmter Straßenzüge zwischen 1930 und 1980 verändert hatten – und wie schnell sich wenige Jahre später die Umbau- und Sanierungsmaßnahmen im wiederverei- nigten Berlin vollzogen. Der Lude (DDR 1984) Produktion: Produktionsfirma: DEFA-Studio für Spielfilme, Gruppe „Berlin“ / Verleih: Pro- gress / Produzent: Uwe Klimek / Drehbuch und Regie: Horst E. Brandt / Szenarium: Wera und Claus Küchenmeister / Kamera: Hans-Jürgen Kruse / Musik: Walter Kubiczek Darsteller: Peer-Uwe Teska (Wilhelm Knaupe/Bello), Michele Marian (Frieda), Franziska Troegner (Klara), Michael Pan (Sally Epstein), Dieter Montag (Eberhard Tann), Manfred Gorr (Ali Höhler), Martin Trettau (Kommissar), Erwin Berner (Horst Wessel), Walter Jäckel ( Goebbels) u. a. mfk: 3.8.1984, Nr. 270/84, 35mm, Farbe (Orwocolor), Breitwand, 2.513 m, ab 14; Zulassung verlängert bis 31.12.1991 Uraufführung: 6.12.1984, Berlin (International) / Anlaufdatum: 7.12.1984 / Erstsendung: 15.7.1986, DFF 237 Kopie: Bundesarchiv-Filmarchiv, 35 mm, Farbe, 2.529 m (= ca. 92’) 37 Ausführliche Stabangaben in: Hochschule für Film und Fernsehen der DDR „Konrad Wolf“ (Hg.): Filmo-bibliografischer Jahresbericht 1984. Berlin 1987, S. 20 f.