1/2019 gesellschaft für medienwissenschaft (hg.) zeitschrift für medienwissenschaft WAS UNS ANGEHT ZWANZIG 1/2019 — EDITORIAL Medienwissenschaft zu betreiben bedeutet immer auch, sich zu fragen, was die Voraussetzungen und Bedingungen der eigenen Forschung sind. Die Medialität von Dingen und Ereignissen wird häufig erst in der Beschäftigung mit ihrer Theorie und Geschichte, ihrer Technik und Ästhetik freigelegt. In diesem Sinne betreibt die ZfM eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epis- temischen Konstellationen zu fragen. Unter dieser Prämisse sind Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso wichtig wie die Präsenz von Wissenschaftler_innen verschiedener disziplinärer Herkunft. Die ZfM bringt zudem verschiedene Schreibweisen und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben. Jedes Heft eröffnet mit einem SCHWERPUNKTTHEMA , das von einer Gastredaktion k onzipiert wird; als Jubiläumsausgabe macht Nr. 20 hier eine Ausnahme. Unter EXTRA erscheinen aktuelle Aufsätze, die nicht auf das Schwerpunktthema bezogen sind. DEBATTE bietet Platz für theoretische und / oder (wissenschafts-)politische Stellungnahmen. Die Kolumne WERKZEUGE reflektiert die Soft- und Hardware, die Tools und Apps, die an unserem Forschen und Lehren mitarbeiten. In den BESPRECHUNGEN werden aktuelle Veröffentlichungen thematisch in Sammelrezensionen disku- tiert. Die LABORGESPRÄCHE setzen sich mit wissenschaftlichen oder künstlerischen Forschungs- laboratorien und Praxisfeldern auseinander. Von Gebrauch, Ort und Struktur visueller Archive handelt die BILDSTRECKE. Aus gegebenen Anlässen konzipiert die Redaktion ein INSERT. Getragen wird die ZfM von den Mitgliedern der Gesellschaft für Medienwissenschaft, aus der sich auch die Redaktion (immer wieder neu) zusammensetzt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich an der ZfM zu beteiligen: (1) die Entwicklung und redaktionelle Betreuung eines Schwerpunktthemas, (2) die Einreichung von Aufsätzen und Reviewessays für das Heft und (3) von Buchrezensionen und Tagungsberichten für die Website. Die Veröffentlichung der Aufsätze erfolgt nach e inem Peer- Review-Verfahren. Alle Beiträge sind im Open Access verfügbar. Auf w ww. zfmedienwissenschaft.de befinden sich das Heftarchiv, aktuelle Besprechungen und Beiträge in den Web-Extras, der Gender- und der Open-Media-Studies-Blog sowie genauere Hinweise zu Einreichungen. — ULRIKE BERGERMANN, DANIEL ESCHKÖTTER, MAJA FIGGE, PETRA LÖFFLER, K ATHRIN PETERS, FLORIAN SPRENGER, STEPHAN TRINKAUS, THOMAS WAITZ, BRIGITTE WEINGART — INHALT Editorial WAS UNS ANGEHT 10 Z F M - R E DA K T I O N WAS UNS ANGEHT Zur Einleitung 15 T H O M A S WA I T Z Nach der Maschine Über «Uni-Angst und Uni-Bluff» 25 U L R I K E B E R G E R M A N N / N A N N A H E I D E N R E I C H «Intimacy expectations» Wissenslust, sexuelle Gewalt, universitäre Lehre 38 N AO M I E G R A M L I C H / A N N I K A H A A S Situiertes Schreiben mit Haraway, Cixous und grauen Quellen 53 LENA APPENZELLER / PAOLO CAFFONI und JANINE SACK im Gespräch mit P E T R A L Ö F F L E R und K AT H R I N P E T E R S Hefte machen Ein Round Table über Grafikdesign, E-Publishing und die ZfM-Produktion 66 S T E P H A N T R I N K AU S Mit-Schreiben Versuche einer kleinen medienwissenschaftlichen Empirie 78 R O S A L I N D C . M O R R I S im Gespräch mit DANIEL ESCHKÖTTER Versuchszonen des Späti ndustrialismus Goldabbau in Südafrika 96 B R I G I T TA K U S T E R und B R I T TA L A N G E im Gespräch mit PETRA LÖFFLER Archive der Zukunft? Ein Gespräch über Sammlungspolitiken, koloniale A rchive und die Dekolonisierung des Wissens 112 B R I G I T T E W E I N G A RT «Dear White People»? Notizen zu Arthur Jafas Black Cinema und Fragen der Adressierung BILDSTRECKE 120 B L AC K AT H E N A C O L L E C T I V E From what distance are things clear? EXTRA 130 D E N N I S G Ö T T E L Historiografie der Filmarbeit Making of, up & out («Cruising») 142 D R E H L I R O B N I K Reines Warten und im Kino bleiben Maintenances von Momenten von Demokratie DEBATTEN Methoden der Medienwissenschaft 150 C H R I S TO P H E N G E M A N N / T I L L A . H E I L M A N N / F L O R I A N S P R E N G E R Wege und Ziele. Die unstete Methodik der Medienwissenschaft «Free speech» und rechter Populismus 162 J E A N N E C O RT I E L / C H R I S T I N E H A N K E Universität und Neue Rechte. Geisteswissenschaftliche Positionierungen BESPRECHUNGEN 176 N A N N A H E I D E N R E I C H Medialisierungen des Meeres. Aquariengeschichten 182 S T E P H A N T R I N K AU S Prekäre Ökologien 188 AU TO R _ I N N E N 191 B I L D N AC H W E I S E 192 I M P R E S S U M — WAS UNS ANGEHT Korrekturfahnen der 2. Ausgabe der Zeitschrift für Medienwissenschaft, 2010 WAS UNS ANGEHT — Zur Einleitung «Was uns angeht», «was uns angeht», «was uns angeht» – der Titel des 20. Hefts der Zeitschrift für Medienwissenschaft lässt sich auf (mindestens) drei Weisen lesen. Mit dieser Jubiläumsausgabe beziehen wir Positionen zu Wissenschaft und Wissenschaftspolitik, diskutieren Fragen der Verantwortung und der Sorge, reflektieren das eigene Tun als Forscher_innen, als Schreiber_innen, Gestalter_innen – eben als Redakteur_innen einer medienwissenschaftlichen Zeitschrift, die nicht nur Redakteur_innen einer medienwissenschaftlichen Zeitschrift sind. Die ZfM ist das, was uns verbindet, das, was uns gemeinsam angeht, immer wieder, Jahr für Jahr. Uns hat sich in der Routine, mit der die Produktion jedes Heftes einhergeht, die Frage gestellt, worum es uns dabei geht. Eine Frage, die wir nicht so einfach beantworten wollten und konnten: Denn es geht nicht um einen bestimmten Inhalt, nicht um eine spezifische Be- deutung von Medienwissenschaft und erst recht nicht um eine Botschaft, son- dern natürlich um eine mediale Konstellation, ein Gefüge: «Was uns angeht». Mit diesem Schwerpunkt versuchen wir eine Öffnung der ZfM auf diesen sie selbst und das Fach konstituierenden Prozess – kurz: Wir versuchen, die Zeit- schrift selbst zu einem Ort zu machen, an dem sich dieses «was uns angeht» auf mehrfache Weise artikulieren kann. I. «Was uns angeht» – die erste Lesart betont das Angehen, sie klingt nach Din- gen von Belang. Mit der Wendung matters of concern hat sich Bruno Latour von seiner Beschäftigung mit matters of facts abgewandt. Nachdem er seine jahrzehntelange Kritik an Positivismus und Faktenherrschaft von Leuten auf- gegriffen sah, die ganz andere politische Ziele verfolgen – lässt sich mit dem 10 ZfM 20, 1/2019 Hinweis auf die Konstruiertheit wissenschaftlicher Fakten die Erderhitzung bagatellisieren? –, sah er die Notwendigkeit, den Fakten die Belange, die Sor- ge und die Verantwortung zur Seite zu stellen.1 Dass Latour in Elend der Kri- tik auf Donna J. Haraways Wissenschaftsverständnis zurückgreift, muss zwi- schen den Zeilen gelesen werden. Aber der Bezug ist aufschlussreich, denn Haraway erweist sich hier einmal mehr als die kühnere Kritikerin. Für sie ist die Unter scheidung von Fakten und Belangen selbst nicht von Belang: So geht es ihr gerade nicht um die Verwerfung von Objektivität – das wäre eine relativistische Position –, sondern um eine im Begriff «situated knowledges» an- geschriebene Pluralisierung und Vervielfältigung von Objektivität, die i mmer c oncerned ist – selbst dann, wenn ihre Verfechter_innen es gar nicht wissen und ihre eigene Dominanz für Neutralität halten. Denn soziale Kontexte, Sprech- Positionen und Forschungsagenden sind stets Teil von Wissensordnungen.2 Daran, dass Haraways programmatischer Aufschlag nun 30 Jahre her ist, erin- nern NAOMIE GRAMLICH und ANNIKA HAAS in ihrem Beitrag und fragen sich, wann es denn nun endlich losgeht mit der Situiertheit und der Vermeh- rung der Positionen bzw. Perspektiven. Die beiden Medienwissenschaftle- rinnen, die alle paar Monate die Redaktionsassistenz der ZfM übernehmen, schreiben hier über das eigene Schreiben, das, wie wir zwar alle wissen, aber selten thematisieren, die vorwiegende Arbeit der (Geistes-)Wissenschaften ist. Mit Haraway und Hélène Cixous schlagen beide einen Problemkatalog vor, der von feministischen Genealogien und dem Lachen handelt – und der weiterzuschreiben ist. Schreiben ist eine Praxis wie andere auch, eingebunden in Gefüge, verknüpft mit anderen, dialogisch, (un-)bestimmt – eben situiert. Und dennoch produziert die veröffentlichte Schrift den Anschein einer F inalität, eines Zustands, eines Texts, der gelesen werden, auf den zurückgekommen werden kann. Eine Idee dieses Schwerpunkts ist es, diese Kollektivität des Schreibens zu mobilisieren und sichtbar zu machen, in die wir beim Redigieren der Texte und der Gestal- tung des Hefts immer wieder eintauchen. So probiert STEPHAN T RINKAUS in seinem Beitrag, der Teil eines empirischen Projekts ist, Schreibweisen aus, die den Prozess des Forschens offenhalten sollen für andere Verbindungen, die andere Kollektive möglich machen als die der Herstellung wissenschaftlicher Autorität. Schreiben ist eine wissenschaftliche Praxis, eine Empirie – und viel- leicht auch eine Methode. Als hochschulpolitische Instrumente oder als Forderung von Drittmittel- gebern wirkt die Forderung nach Methoden disziplinierend, während sich die Medienwissenschaft im Hinblick auf digitale Kulturen gleichzeitig mit 1 Vgl. Bruno Latour: Elend der Gegenständen konfrontiert sieht, durch die Medien selbst zu Methoden Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen ihrer Erforschung werden. Der Beitrag von CHRISTOPH ENGEMANN, von Belang, Zürich 2007. 2 Vgl. Donna J. Haraway: Situated TILL HEILMANN und FLORIAN SPRENGER eröffnet in dieser Hinsicht Knowledges. The Science Question eine Debatte über den methodischen wie wissenschaftspolitischen Ort der in Feminism and the Privilege of P artial Perspective, in: Feminist Stu- Medienwissenschaft. dies, Vol. 14, Nr. 3, 1988, 575 – 599. WAS UNS ANGEHT 11 ZFM-REDAKTION «Was uns angeht» lässt sich aber auch als Angegangenwerden verstehen. Das geht uns an, macht Vorwürfe oder Vorhaltungen, das bedrängt uns, kommt uns zu nah, grabscht. ULRIKE BERGERMANN und NANNA HEIDENREICH spielen in ihrem Beitrag das Verhältnis von Wissenslust, sexueller Gewalt und universitärer Lehre durch, das dringend angegangen werden muss – hochschulpolitisch, theoriepolitisch und ganz persönlich. Denn Universitäten sind Orte von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen, deren Sexualisierung eine lange Geschichte hat und unter Gendervorzeichen steht, die sich verändern. Auch Bergermann und Heidenreich plädieren für Verantwortung und Sorge, die wir zu übernehmen haben für die Strukturen, in denen wir arbeiten. Was zählt – matters im Sinne Judith Butlers –, sind schließlich die Körper, mit den in ihnen sich materialisierenden Bedeutungen und Konventionen, die uns allererst zu Subjekten machen, unterworfenen und ermächtigten zugleich. II. «Was uns angeht» – mit «uns» meinen wir im engeren Sinn die Redaktion. Jedes Wir, mit dem gesprochen und geschrieben wird, operiert mit impli- ziten Ein- und Ausschlüssen, schafft sich einen unsichtbaren Chor der Un- terstützenden. Das ist bei uns nicht anders, nur dass wir es hier und jetzt ex- plizit machen. Im nunmehr 20. Heft verfassen die Personen, die alle sechs Monate eine Ausgabe der ZfM herausbringen, selbst Beiträge, allein, in Ko- Autorschaft oder in Gesprächen mit Wissenschaftler_innen, Expert_innen und Aktivist_innen. PETRA LÖFFLER und KATHRIN PETERS sprechen mit der Grafikerin der ZfM, LENA APPENZELLER, die seit sechs Jahren die Hefte layoutet, Texte setzt, mit Lektorat, Verlag und Druckerei kommu- niziert, bis aus Word-Dokumenten ein Heft entstanden ist. Mit dabei sind JANINE SACK, Künstlerin, Grafikerin, außerdem E-Book-Verlegerin und durchaus auch Aktivistin, nämlich für unabhängige Verlage, und PAOLO CAFFONI vom – außer akademischen – Veranstaltungsort und Verlag Archive Books. Im Gespräch geht es um Produktionsabläufe, Print- und Onlinepu- blikationen und die Besonderheiten der Gestaltung wissenschaftlicher Zeit- schriften. Eine Erkundung des eigenen Schreibtischs, Arbeitsplatzes und politischen Einsatzes, mit dem sich kleine Verlage und Kollektive mit gestal- terischen Konzepten und künstlerischen Kollaborationen mehr als bloß eine Nische geschaffen haben. THOMAS WAITZ schreibt vom Einstieg in das Akademische als e inem gleichermaßen sozialen wie politischen Raum, in den niemand mit Ausgabe des Studierendenausweises eingemeindet ist, sondern der über lange Zeit oder, besser gesagt, strukturell mit Ausschlüssen arbeitet, sodass auch die, die drinnen sind, sich ständig vom Ausgeschlossen-Werden bedroht füh- len – zeitvertragsbedingt oder weil auffliegt, das man nichts weiß, was auch 12 ZfM 20, 1/2019 ZUR EINLEITUNG für fortgeschrittene Karrieren konstitutiv sein kann. Uni-Angst und Uni-Bluff heißt das Buch, das Waitz 1993 beschäftigte, das er heute noch einmal liest und dessen wechselhafte Editionsgeschichte Ausdruck einer sich verändernden Hochschullandschaft ist. III. «Was uns angeht» – mit der Betonung auf dem Was geht es um das, wofür Sorge getragen und Verantwortung übernommen wird. In Archiven, Samm- lungen, Bibliotheken und Museen versammelte Dinge gelten besonders in der westlichen Welt als kulturell wertvolle Güter, um die sich diese Institu- tionen und ihre Mitarbeiter_innen ebenso wie Vertreter_innen von Wissen- schaft und Kulturpolitik sorgen. Gleichfalls geht uns ihre Herkunft und oft koloniale Vergangenheit an – eine Vergangenheit, die viel zu lang kategorisch übersehen und geleugnet wurde. Mit den vielfach vorgetragenen Forderun- gen nach der Restitution kolonial angeeigneter Kulturgüter wird nicht nur die Möglichkeit eröffnet, anders über Besitzansprüche und eine Neuordnung von Archiven, Sammlungen und Museen nachzudenken, sondern auch Kul- tur- und Wissenschaftspolitik auf ein ethisches Fundament zu stellen, das die Interessen und Werte einer jeden Kultur gleichberechtigt be- und verhandelt. BRIGITTA KUSTER, BRITTA LANGE und PETRA LÖFFLER sprechen über Perspektiven einer neuen Archivpolitik, über die Digitalisierung von Samm- lungen und die Herausforderungen, die daraus für die Formation von Wissen erwachsen, und – nicht zuletzt – über Fragen der Verantwortung und der Plu- ralisierung von Erzählungen und Wissensformen im Sinne Donna J. Haraways und I sabelle Stengers’. Das Was des Erbes und der Gegenwart kolonialer, rassistischer und segre- gistischer Gewaltgeschichte und Ausbeutungspraktiken ist auch Hintergrund und Horizont des Gesprächs, das DANIEL ESCHKÖTTER mit der Anthro- pologin und Kulturtheoretikerin ROSALIND MORRIS über ihre Forschung im Umfeld zuerst industrieller, später dann stillgelegter und von illegalisierten Migrant_innen wieder geöffneter und illegal ‹bewirtschafteter› Goldminen in Südafrika geführt hat. An der Ökologie der spätindustriellen Minenmilieus entzünden sich Fragen, die von dieser nur scheinbaren geografischen und ökonomischen Peripherie ins Zentrum gegenwärtiger D iskussionen über ex- traktivistische und postextraktivistische Ökonomien und (Medien-) Ökologien führen. Die Goldmine in Südafrika war und ist ein e mblematischer Schau- platz für ein gefährdetes Leben, für Existenzen – aber mit ihnen n atürlich auch Fragen und Forschen – auf ‹unsicherem Grund›. Gold, Mine, Bergbau: Sie sind auch immer verführerische Chiffren für tektonische Verschiebun- gen, deren Effekte nicht nur in musealisierbaren p ostindustriellen Ruinen- spektakeln zur Aufführung kommen, sondern die auch schwerer greifbare, dynamischere mediale, politische, soziale, ökonomische Szenen produzieren, WAS UNS ANGEHT 13 ZFM-REDAKTION die Morris bei den marginalisierten informellen Berg- und Wanderarbeiter_ innen der Zama Zama auf- und in ihren Arbeiten in Bild, Text und Ton zu setzen versucht. Den Schwierigkeiten, an der Grenze des Was, wenn nicht medienwissen- schaftlicher, so doch vielleicht der eigenen Zuständigkeit zu operieren, sind schließlich die Notizen gewidmet, die sich BRIGITTE WEINGART beim Nachdenken darüber gemacht hat, inwiefern sie die Arbeiten des afroameri- kanischen Medienkünstlers Arthur Jafa eigentlich etwas angehen – ist doch die Faszination, in ihrer unhintergehbaren Eingebundenheit in koloniale Blick- regime, hier eher Teil des Problems als eine mögliche Legitimationsgrundlage. Wie für diesen Beitrag gilt auch für alle anderen in diesem Heft, dass sie einen Austausch anregen, Debatten anzetteln möchten: Reaktionen – von Leser_ innenbriefen über Respondenzen bis zu Vorschlägen für künftige S chwerpunkte der Zeitschrift – sind sehr willkommen. — U L R I K E B E R G E R M A N N , DA N I E L E S C H K Ö T T E R , M A JA F I G G E , P E T R A L Ö F F L E R , K AT H R I N P E T E R S , F L O R I A N S P R E N G E R , STEPHAN TRINKAUS, THOMAS WAITZ, BRIGITTE WEINGART 14 ZfM 20, 1/2019 T H O M A S WA I T Z NACH DER MASCHINE — Über «Uni-Angst und Uni-Bluff» 1993 Im April 1993, an einem frühen Vormittag, stehe ich auf dem grauen, fenster- losen Gang der Universität. Mit mir, sich an ihren Umhängetaschen festhal- tend, auf den Boden blickend, warten vielleicht 40 andere. Einige lehnen an der Wand, schauen unbeteiligt, manche rauchen, jede und jeder für sich allein, niemand spricht, es ist seltsam still. Wir blicken durch die geöffneten Türen in einen leeren Seminarraum hinein, doch niemand wagt, ihn zu betreten. Dann kommt die Dozentin, passiert wort- und grußlos die Wartenden, betritt den Raum und legt ihre Tasche auf dem Pult ab. Langsam, immer noch stumm, fol- gen ihr die Studierenden. Und so setze schließlich auch ich mich in Bewegung, um wie die anderen einen Platz einzunehmen. Von da an verlässt mich meine Erinnerung. Doch was ich genau weiß, ist, wie das nahezu alles überwältigende Gefühl einer erdrückenden Einsamkeit mich viele Jahre begleitet hat. Zugleich war dieses Gefühl mit einem zweiten Empfinden verbunden: einer freudigen Erwartung, die später immer mehr zu einer Gewissheit wurde, ohne sie ganz zu erreichen, nämlich, ein Teil dieser Institution Universität zu sein, teilzuhaben an einem ungeheuren Bildungserlebnis. Die unvermittelte Gleichzeitigkeit dieser beiden Gefühle war mir kaum be- greiflich, jedenfalls so lange, bis ich nach einigen Wochen auf ein Buch stieß, das meiner Erfahrung Ausdruck verlieh; ein Buch, das meine Empfindungen nicht nur in Worte zu fassen schien, sondern auch eine ganze Reihe mal beruhigender, mal empörender Erklärungen für meine Situation anbot. Ich erfuhr, dass ich in meiner Erfahrung nicht allein war, dass der Autor seine eigenen Anfänge an der Universität in ganz ähnlicher Weise erlebt hatte: «Ich fühlte mich elend und er- haben zugleich. Elend, weil einsam und irgendwie ungenügend. Erhaben, weil ich jetzt einer von jenen war, zu denen ich all die Jahre aufgeschaut hatte.»1 Es fanden 1 Wolf Wagner: Uni-Angst und sich darin aber auch Sätze wie folgender, eine Seite weiter, in dem ich mein ei- Uni-Bluff heute. Wie studieren und sich nicht verlieren, vollständig überarbei­ genes Begehren wiederzuerkennen vermochte: «Ich wollte die Theorienetze, in te Neuauflage, Berlin 1992, 7. WAS UNS ANGEHT 15 THOMAS WAITZ denen sich – so schien mir – die bedrohlich unverstandene Wirklichkeit fangen und bannen ließ, verstehen und solche Sätze selbst flechten können».2 Dieses Buch ging mich an. Mit diesem Buch, das war mir sofort klar, war ich gemeint. Sein Titel: Uni-Angst und Uni-Bluff. Wie studieren und sich nicht verlieren.3 Geschrieben hatte es Wolf Wagner, ein Autor, in dessen Biografie sich die Lebenswege einer ganzen Generation abbilden: anti-autoritärer Spon- ti, p olitischer Aktivist, Mitglied einer sozialistischen Assistenten-Zelle am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und, nach einigen Um- und Irrwegen und dem Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten, Professor und Rektor e iner ostdeutschen Fachhochschule.4 Den Hinweis auf Uni-Angst und Uni-Bluff fand ich in einer fotokopierten Broschüre der Fachschaftsvertretung Germanistik. Auf den Büchertischen im Mensafoyer, wo es einen selbstverwalteten Buchladen gab, der dort bis zu je- nem Zeitpunkt existieren sollte, an dem die Mensa im Stile einer Firmenzen- trale umgestaltet und sämtliche Reminiszenzen an studentischen Aktivismus getilgt wurden, lag dieses Buch griffbereit auf einem kleinen Stapel, daneben Bühnenprogramme von Matthias Beltz und preisreduzierte Mängelexemplare von Haffmans und Wagenbach. Auf dem rot-grünen Einband findet sich eine Zeichnung von Gerhard S eyfried. «Welcome to the Machine» – so ist eine schematische Darstellung überschrieben, welche die Universität als Fabrik zeigt. Ein männlicher Studi- enanfänger ist vielfältigen Bearbeitungsprozessen, die sich als fordistische Dis- ziplinierung beschreiben ließen, ausgesetzt. Am Ende dieser Zurichtung verlässt er, sofern er nicht durch einen mit «Berufsverbot» beschrifteten Greifarm vom Fließband aussortiert wurde, die Universität als biederer Angestellter mit Hut. Anfang der neunziger Jahre erschien mir diese Zeichnung wenig treffend. Ich war sehr gerne an die Universität gegangen, und so naiv, wie mir der Studienan- fänger in der satirischen Darstellung schien, war ich ja wohl kaum – zumindest bildete ich mir das ein. Ich verbuchte die Zeichnung als Teil einer linken Nostal- gie, die mich überall umgab, die mir nahe war, deren theoretische Sinnstiftungs- angebote mir für mein eigenes Leben jedoch kaum mehr zutreffend schienen.5 2 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff In einer späteren Ausgabe des Buches war die Zeichnung dann vom Cover ver- [1992], 8. 3 Vgl. ebd. schwunden. Doch was ich im Inneren las – das fesselte nicht nur mich. 4 Wagner hat seiner eigenen Uni-Angst und Uni-Bluff war in den achtziger und neunziger Jahren ein Best- Biografie den etwas koketten Titel Ein Leben voller Irrtümer gegeben. seller – zumindest in linken, studentischen Kreisen. Der Rotbuch Verlag hat Vgl. ders.: Ein Leben voller Irrtümer. über 200.000 Exemplare verkauft. Heute hingegen scheint das Buch fast ver- Autobiografie eines prototypischen Westdeutschen, Tübingen 2017. gessen. In den Buchgeschäften, die sich an der Peripherie der Universität über 5 Ausführlich zu dieser Zeichnung Wasser halten, ist das einstige Standardwerk nicht mehr vorrätig. Bei Amazon vgl. Gerald Raunig: Fabriken des Wissens. Streifen und Glätten I, Zürich finden sich im Segment «Allgemeine Studienratgeber» unzählige Bücher, die 2012, 42 ff.; dazu wiederum kritisch: handfeste Lebenshilfe bieten und konkrete Bewältigungsstrategien in Aussicht Susan Kelly: Is the University a Factory?, in: Mute, Oktober 2013, stellen – so etwa die vielen Bände aus dem Studienscheiss Verlag, der sich mit www.metamute.org/editorial/reviews/ Büchern wie Bachelor of Time: Zeitmanagement im Studium oder dem Arschtritt- university-factory, gesehen am 22.2.2015. Buch: Selbstmotivation im Studium nassforsch an Studierende herankumpelt. Vom 16 ZfM 20, 1/2019 NACH DER MASCHINE vorlauten Bescheidwissen und patenter Anwendungsorien- tierung war Uni-Angst und Uni-Bluff weit entfernt. Jene Fas- sung, die ich 1993 im Mensafoyer kaufte und die mir wie ein Wegweiser schien, hat eine längere Geschichte. Ihr Ur- sprung liegt in einem Aufsatz, den Wagner 20 Jahre zuvor unter dem Titel «Der Bluff» in Prokla veröffentlicht hatte. 1973 In der Artikel «Der Bluff» fragt Wagner danach, wie Uni- versitäten zum «Lernzusammenhang solidarisch agierender Studentengruppen werden können»,6 und analysiert, wie sich das Miteinander demgegenüber tatsächlich gestalte. Die Absicht, so heißt es etwas angestrengt in den ersten Absät- zen, liege darin, zu zeigen, «daß sich die besonderen uni- versitären Verkehrsformen mit Notwendigkeit aus der Rolle ergeben, die der Universität im Reproduktionsprozeß der kapitalistischen Gesellschaft zufällt» – ein Prozess, den es im Sinne des «objektiven Interesse[s] des Proletariats an der Aufhebung dieser bürgerlichen Gesellschaft»7 zu beenden gelte. Wenn der Aufsatz in Folge analysiert, «[w]elche Einstellungen und Ver- haltensdispositionen […] die Wahrscheinlichkeit von Erfolg im universitären Bereich» erhöhen, dann nicht als Handreichung zum beruflichen Erfolg. Dem Aufsatz geht es vielmehr darum, die Prozesse, über die sich Herrschaft repro- duziert, am Beispiel der Universität zu verstehen und zu unterbrechen. In «Der Bluff» entwickelt Wagner erstmals jene These, die auch für Uni- Angst und Uni-Bluff zentral sein wird, nämlich, dass für den Erfolg im akade- mischen Betrieb gerade nicht formale Kriterien (etwa bestandene Prüfungen, erreichte Qualifikationsstufen oder Forschungsleistungen) bestimmend seien, sondern die Fähigkeit, eine ganz bestimmte Umgangsweise mit den eigenen «unbewußten und unkontrollierten Bedürfnisse[n] und Ängste[n]»8 zu erler- nen, zu perfektionieren und als Selbstverhältnis zu verinnerlichen – der titel- gebende «Bluff», der im Laufe der Zeit immer mehr die Form eines Selbst- betrugs annehme. Nur jene, die «die Blufftechniken bis zur Perfektion erlernt und geübt»9 haben, seien in der gegenwärtigen Universität erfolgreich. Doch der von allen reproduzierte Bluff habe, so Wagner, weitreichende Folgen: Er reproduziere nicht nur eine «allgemeine Konkurrenzsituation, die sich allein 6 Wolf Wagner: Der Bluff. Die schon aus der Hierarchie des Wissens ergibt, [sondern auch] die ständige Angst I nstitution Universität in ihrer Wirkung auf die Arbeitsweise und vor dem anderen, der den Bluff durchschauen k önnte».10 das Bewußtsein ihrer Mitglieder, Als ich auf diesen Gedanken in Uni-Angst und Uni-Bluff stoßen sollte, wür- in: Prokla, Nr. 7, Mai 1973, 43 – 81, hier 43. de er mir unverständlich bleiben. Es brauchte viele Semester, um zu verstehen, 7 Ebd., 57. was damit gemeint war. Und erst Jahre später – ich war mittlerweile selbst 8 Ebd., 59. 9 Ebd., 75. Lehrender – würde ich beobachten und am eigenen Körper spüren können, 10 Ebd., 61. WAS UNS ANGEHT 17 THOMAS WAITZ dass die größte Angst in vielen mündlichen Prüfungen nicht die Studierenden, sondern die Prüfer_innen haben – vor dem Urteil der Kolleg_innen, vor dem abschätzigen Blick, mit dem die mehr oder weniger unzureichenden Leistungen des ‹Prüflings› und die betreuende Person in eins gesetzt werden. Der Bluff, so Wagner, sei eine Strategie der Ang- stabwehr, von allen geteilt und reproduziert – und mit weit- reichenden negativen Folgen, wie er am Beispiel von Dis- kussionen nach F achvorträgen verdeutlicht. Die Angst der Diskutierenden, so schreibt Wagner 1973, verschwinde erst, wenn klar ist, daß der andere zu wenig weiß, um gefährlich zu wer- den. Da der andere aber eben dies fürchten muß, muß er die Kom- munikation in Bahnen halten, in denen es auf gar keinen Fall zu einer solchen Entlarvung kommen kann. Ein Gespräch kann sich also nur als beinahe ritualisiertes, ganz vorsichtiges Abtasten entwi- ckeln. Das Resultat ist gegenseitige Isolierung, die äußerlich meist als Arroganz erscheint.11 In der Folge erweitert Wagner die Thesen und Beobach- tungen aus «Der Der Bluff» zum Buch. 1977 erscheint die erste Auflage; viele weitere folgen in kurzer Zeit. Über den Verlauf von 30 Jahren überarbeitet Wagner Uni-Angst und Uni-Bluff zwei Mal so gründlich und umfassend, dass die 1992 und 2007 erschienenen Ausgaben getrost als Neufassungen durchgehen können. Über seine Editionsgeschichte hinweg lässt sich das Buch als Ausdruck einer sich wandelnden Struktur von Universität und den sich gleichermaßen verändernden Selbstverhältnissen ihrer Angehörigen lesen. Und bis in die Gegenw art verwebt sich diese Geschichte mit meinem eigenen Leben in der Institution. 1977 / 1992 Anfang der neunziger Jahre zog mich vor allem eines an die Universität: Die Aussicht auf eine besondere Art zu leben, eine intellektuelle, auf Gemein- schaft beruhende Form des Miteinanders, die ich aus campus novels kannte, die ich begeistert las. Der Kontrast zur Universität im Ruhrgebiet, die ich besuchte, stolzes Ergebnis sozialdemokratischer Bildungspolitik der sechziger Jahre, hätte nicht größer sein können. Wie die Autofabrik, deren Gelände kurz hinter den Wohnheimen der Studierenden anfing, lag sie an der Peri- pherie der Stadt. Das Campusleben, das ich mir ausgemalt hatte, gab es nicht. Die Stadt war damals vieles, aber sicher keine Universitätsstadt. Am Abend fuhren alle, Studierende und Lehrende, zurück in die Vororte, in denen sie wohnten – so auch ich. Mit der Erfahrung von Vereinzelung und Einsamkeit beginnt Uni-Angst 11 Wagner: Der Bluff, 6. und Uni-Bluff, und vielleicht fand das Buch in mir auch deshalb einen 18 ZfM 20, 1/2019 NACH DER MASCHINE aufmerksamen Leser, weil ich bei allen Unterschieden zur Biografie des Au- tors in seinen Überlegungen meine eigenen Fragen wiedererkannte: Was war das für ein seltsames System, in das ich da hineingeraten war? Was machte es mit mir und den anderen? Und was hieß es für das Vorhaben eines ‹ eigenen› Studiums? Wagner trifft zwei grundlegende Unterscheidungen. Auf der Ebene des wissenschaftlichen Arbeitens stellt er dem «Entstehungs-» e inen «Rechtfertigungsprozess»12 gegenüber; mit Blick auf die gesellschaftliche Aufgabe der Institution unterscheidet er «Aufstiegs»- und «Problemlösungs- funktion» von Universität. Diese Gegenüberstellungen ermöglichen es Wag- ner, jene Probleme zu bestimmen, die erklärten, warum es den «Bluff» gebe. Und sie erlauben ihm, potenzielle Auswege aus der jeweils gegenwärtigen Universität zu skizzieren. Das Problem, so Wagner, sei, dass Studierende einerseits zu selten vom un- ordentlichen, offenen, unklaren und von Zufällen abhängigen Entstehungs- prozess von Wissenschaft erführen. Denn hinter der Sprache der Wissen- schaft – elaborierte Texte, deren Sound ich in meinen ersten Seminararbeiten zu imitieren versuchte – stecke die absichtsvolle Strategie, all dies zu verde- cken. Und zweitens führten der Wettbewerb und Konkurrenzdruck im wissen- schaftlichen Betrieb zur Ausbildung eines Habitus, der auf Selbst- und Fremd- betrug beruhe und der letztlich jegliche Freude am Entdecken und Forschen zu zerstören drohe. Die «Problemlösungsfunktion», so Wagner, trete mit dem Einfinden in das akademische Miteinander und der eigenen Karriere immer stärker hinter die «Aufstiegsfunktion» von Wissenschaft zurück. Wettbewerb, ‹Leistung›, der Erwerb von Reputation: Wissenschaft werde zum bloßen Mit- tel des Aufstiegs. Und diese «Aufstiegsfunktion» sei es, die neben der Wissen- schaftssprache den Bluff provoziere, denn «will man aufsteigen, dann darf man sich nicht so mängelbehaftet darstellen, wie man als Mensch nun einmal un- vermeidlich ist».13 Der Bluff «zementiere» die Angst, und raube so die Freude am Nachdenken oder am Sichvertiefen in Probleme. Darin bestünde zwar der «offizielle Zweck» der Universität.14 Doch weil der Wunsch nach Aufstieg und Exklusivität die Kommunikation in Lehre und Forschung beherrsche, entstehe «der heimliche Lehrplan ‹Überlegenheit›» – der Akademikerhabitus. Dieser «‹heimliche Lehrplan›», so Wagner, sei «viel wichtiger als die Ergebnisse des inhaltlichen Studiums».15 Ich war fasziniert – von Wagners Thesen und Erklärungen, und von meiner eigenen Aufgeklärtheit, die ich Wagner zu verdanken hatte. Aber vielleicht war ich auch ein bisschen zu sehr fasziniert. Denn dass gesellschaftlicher Aufstieg ein doch ziemlich legitimes Bedürfnis darstellt, kam mir nicht in den Sinn. Ich 12 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff [1992], 77 f. richtete mich in einer Haltung ein, in der ich in vermeintlicher Abgeklärtheit 13 Wolf Wagner: Uni-Angst und auf die Universität blickte. Und, ohne es zu bemerken, reproduzierte ich auf Uni-Bluff heute. Wie studieren und sich nicht verlieren, aktualisierte und diese Weise genau jenes Selbstverhältnis, das sich die Angehörigen des akade- v ollständig überarbeite Neuaus­ mischen Betriebs abfordern. In gewisser Weise bluffte ich selbst, trotz oder ge- gabe, Berlin 2007, 58. 14 Ebd., 63. rade wegen der Lektüre. 15 Ebd. WAS UNS ANGEHT 19 THOMAS WAITZ In späteren Textfassungen hat Wagner versucht, deutlicher zu machen, was er mit dem Begriff des «Bluffs» beschreiben wollte. Während der Prok la- Aufsatz noch nahezulegen scheint, dass der Bluff eine ‹Täuschung› oder ‹Vorspiegelung› ist, die jeglicher Substanz entbehrt, stellt Wagner in Uni-Angst und Uni-Bluff klar, dass es um etwas anderes gehe.16 Tatsächlich funktioniere der Bluff wie ein Pokerspiel: Gute Spieler_innen blufften eben nicht, wenn sie ausschließlich schlechte Karten hätten – «das wäre viel zu riskant». Wagner führt eine Spielsituation an, in der die Spielenden ungefähr gleich gute Karten haben; eine Situation, in der geringe Unterschiede den Gewinn bedeuten kön- nen und bereits ein überzeugendes Lächeln möglicherweise vermag, die ande- ren zum Aufgeben zu bewegen. Es sei diese «subtile Form» des Bluffs, um die es beim «Uni-Bluff» gehe.17 Dieser Bluff – Wissenschaftler_innen geben sich ein wenig besser, klüger, belesener, kundiger, als sie tatsächlich sind – geschehe «aus einem tausende Male eingeübten Reflex zur Absicherung und Aufwertung der eigenen Darstellung […]. Es geht also normalerweise um gewohnheitsmä- ßiges Imponiergehabe, selten um Hochstapelei».18 Allerdings, so Wagner weiter, bedürfe es einer besonderen Einübung in die- sen Bluff, damit er nicht nur akzeptiert, sondern als gleichsam ‹natürliche› Er- scheinung einer akademisch gebildeten Person, als deren begründetes und wohl- gewähltes Ausdrucksmittel, als gelungene Einpassungsleistung wahrgenommen werde: «das richtige Auftreten, die souveräne Lässigkeit, die den Akademiker- habitus prägt».19 Die Universität als Fabrik und «Maschine» – sie war offenbar niemals zu denken ohne die Selbstzurichtung der sie bewohnenden Subjekte. Wagner beschreibt, wie sich die Universität als Ort erweist, an welchem am besten diejenigen zurechtkommen und als Professoren Karriere machen,20 die in der Lage seien, «Antennen für die unausgesprochenen Verhaltensanforderun- gen ihrer Umwelt zu entwickeln», etwa Menschen mit einer «nie g esättigten Sucht nach Selbstbestätigung» oder «narzißtisch Gestörte».21 Und gerade dies erkläre, weshalb diese Menschen die dreifache Entfremdung – «vom Stoff, von den anderen und von sich selbst» –, die «an der Universität immer wieder neu hergestellt»22 werde, so klaglos ertrügen: «Alle Inhalte und B eziehungen sind ihnen sowieso nur Mittel, um im wertenden Vergleich das in Frage gestellte ‹Selbstwertgefühl› immer wieder zu sichern».23 Rückblickend kann ich die Folgen des Bluffs nicht nur an meinen ersten 16 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff eigenen Seminararbeiten ablesen, die mir heute wie unfreiwillige Parodien [2007], 54. auf den «überschüssige[n] Argumentationsaufwand, die Umständlichkeit und 17 Ebd., 55. 18 Ebd. Gespreiztheit […] und das großspurige akademische Gehabe»24 der allermeis- 19 Ebd., 63. ten Texte erscheinen, die ich im Studium las. Formen der «überschüssigen 20 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff [1992], 50. Selbstdarstellung, die verschleiernde, imponieren wollende Wissenschafts- 21 Ebd., 41 f. sprache»25 begleiten mich als Leser und Verfasser wissenschaftlicher Texte bis 22 Ebd., 21. 23 Ebd., 42. in die Gegenwart. 24 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff Die Konsequenzen des allgegenwärtigen Bluffs gehen tief, so Wagner, und [2007], 55. 25 Ebd. sie berühren mehr als Fragen des Stils. 20 ZfM 20, 1/2019 NACH DER MASCHINE Das Problem beim Uni-Bluff ist, dass man ständig aufgeplustert bleibt, den Akademikerhabitus zur zweiten Natur werden lässt. Dann steht man sich selbst im Weg, kann seine normale inhaltliche problemlösende Arbeit nicht erledigen und jagt anderen Menschen Angst ein oder sendet Wettkampfsignale, auch in Situationen, in d enen man das gar nicht will und es völlig unangebracht ist, etwa beim Flirten oder Feiern.26 Wer Pausengespräche auf Tagungen kennt, weiß, wovon die Rede ist. Ich habe solchen Performances nicht nur beiwohnen dürfen, sondern ganz sicher, in der ein oder anderen Weise, an ihnen mitgewirkt. Allerdings griffe es gleichfalls zu kurz, Wagners Argumen- tation darauf zu reduzieren, problematische Umgangsweisen der Angehörigen der Universität benennen zu wollen. Uni- Angst und Uni-Bluff kennzeichnet ein egalitäres Anliegen, das sich gegen die akademische Elite (respektive jene, die sich darunter verstehen) richtet. Dass das Buch ein «Manifest auf das Recht auf Durchschnittlichkeit»27 gewesen sei, wird W agner in seiner Autobiografie später schreiben und beto- nen, dass dahinter keineswegs intellektueller Kleinmut ge- steckt habe. Ihm sei es zuallererst darum gegangen, so Wagner, «Menschen wie mir ein Recht auf gleichberechtigtes Lernen und Leben an der Uni [zu] ermöglichen: Wenn man etwas nicht verstand, dann sollte man sich nicht die Schuld d aran geben müssen». Für viele im akademischen Betrieb, so Wagner weiter, sei diese Proklamation des «Rechts auf Durchschnittlichkeit» ein Skan- dal gewesen: «Sie empfanden sie als Angriff auf ihre Intellektualität und als Versuch, die traditionelle deutsche Universität der Eliten zu zerstören. Und sie hatten recht damit».28 Wie sehr die Universität und ich selbst in diesen Klassenkampf – «kein Kampf zwischen links und rechts, sondern zwischen den seit Generationen aka- demisch Gebildeten und denen, die ebenfalls teilhaben wollen an der höheren Bildung»29 – verwickelt waren und sind, habe ich zunächst nicht begriffen. Aber ich hätte es bemerken können, denn gerade an der einstigen ‹Arbeiteruniversi- tät› im Ruhrgebiet bildete sich dieser Kampf in prototypischer Weise ab. In den nuller Jahren – ich studierte immer noch vor mich hin und arbeitete nebenher (oder umgekehrt) – war es auch offiziell mit dem sozialdemokrati- schen Versprechen der ‹Bildung für alle› vorbei. Nach Studiengebühren, die ich als Langzeitstudierender zu entrichten hatte, kam die sogenannte Exzel- lenzinitiative. Die Universität plante, sich zu bewerben. Dem NDR-Satire- magazin extra 3 war das einen Beitrag wert, der sich unverblümt befleißigte, 26 Ebd., 115. diese Absicht als idiotisch und die Universität als tristen Sanierungsfall dar- 27 Wagner: Ein Leben voller zustellen. Zwar war mir die ganze Idee der ‹Exzellenz› zuwider (und hier traf Irrtümer, 140. 28 Ebd. die K ritik, die der Fernsehbeitrag formulierte, ins Schwarze). Zugleich wurde 29 Ebd., 167. WAS UNS ANGEHT 21 THOMAS WAITZ jedoch victim blaming betrieben und dadurch, im Umkehrschluss, die Idee der ‹Exzellenz› bestätigt. Ein paar Jahre später war die Ruhrgebietsuniversität dann tatsächlich ‹exzellent›. Für die Begehung waren jene Teile des Sichtbe- tons, die den Gutachter_innen ins Auge stechen mussten, gesäubert worden, während der nicht sichtbare Rest verschmutzt blieb. So lernte ich, auch wenn mir die theoretischen Begriffe oft fehlten und meine politische Einordung bruchstückhaft bleiben musste, viel über den Klassenkampf von oben, über ‹Exzellenz› und über den klassistischen Kern eines elitären, romantischen Bil- dungsbegriffs, dessen Apologeten bis heute daran zu erkennen sind, dass sie über Studierende schimpfen, die immer blöder würden. «Das waren die Klas- senkämpfe der folgenden vierzig Jahre und sind es heute noch»,30 wird Wagner später resümieren. Zwischenzeitlich warf ich mein Exemplar von Uni-Angst und Uni-Bluff aller- dings fort. Mein Buchregal war zu klein geworden; die ganzen Bücher, die ich gekauft hatte, um sie nicht zu lesen, nahmen zu viel Platz weg. Und vermutlich dachte ich auch, dass ich bereits alles verstanden hätte und das Buch inzwischen irrelevant wäre. Als ich Uni-Angst und Uni-Bluff in einer Art Spurensuche in eigener Sache erneut lesen wollte, musste ich mir die Neuausgabe kaufen – um festzustellen, dass ich ein anderes Buch vor mir liegen hatte. 2007 In seiner Autobiografie beschreibt Wolf Wagner eine Reihe jener Gründe, die ihn in den achtziger Jahren dazu bringen, die Universität zu verlassen. Frustriert vom akademischen Betrieb und, so seine damalige Einschätzung, ohne Zukunftsperspektive in der Wissenschaft, flieht er zunächst auf eine griechische Insel, um wenig später, ernüchtert von der dörflichen Enge, nach Deutschland zurückzukehren. Dort wendet er sich Esoterik, Psychotech- niken und New Age zu – bis hin zu einer Ausbildung als Körpertherapeut und Heilpraktiker. Doch die deutsche Einheit ändert noch einmal alles, und vom «Irrtum» seiner «Rundreise durch die Psychowelt»31 geläutert, wird Wagner Professor für Soziale Arbeit an einer ostdeutschen Fachhochschule. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere wird er schließlich zum Rektor gewählt. Doch auch in dieser Position, so schreibt Wagner, «überfielen mich wieder die gleichen Redeängste, wenn ich im Plenum der Hochschulrektorenkon- ferenz vor den anderen Rektorinnen und Rektoren etwas sagen sollte. Die Uni-Angst hörte nie auf und hielt so auch die Angstabwehr, den Uni-Bluff, lebendig».32 2007, 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung, erscheint eine völlig verän- derte Neuausgabe von Uni-Angst und Uni-Bluff. Mit dem ursprünglichen Buch 30 Wagner: Ein Leben voller Irrtümer, 140. hat sie nicht mehr viel gemeinsam. Zwar bleibt Wagner bei seiner grundlegen- 31 Ebd., 174. den These eines alles durchziehenden Bluffs. Zugleich revidiert er seine Argu- 32 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff [2007], 49. mentation jedoch an einer entscheidenden Stelle. In allen früheren Fassungen 22 ZfM 20, 1/2019 NACH DER MASCHINE endete das Buch stets mit einer Ermunterung – es gehe darum, das Bluffen zu unterlassen, sich den eigenen Ängsten zu stellen, sie zu offenbaren und so ein solidarisches Miteinander zu ermöglichen, das einem gemeinsamen Lernen vo- rausliegt. Aber während Wagner im Prokla-Aufsatz noch davon spricht, dass der Bluff eine eben nur «beinahe allgemeine Notwendigkeit»33 sei, um in der Folge über eine andere Universität und ein anderes Studieren, «ohne sich zu verlie- ren», nachzudenken, zieht er in der Neufassung von Uni-Angst und Uni-Bluff den gegenteiligen Schluss. 30 Jahre und eine Hochschulkarriere später resü- miert er: «In der Urfassung war ich noch der Auffassung, es gehe auch ohne Bluff. Jetzt denke ich, es geht gar nicht ohne und versuche Wege aufzuzeigen: Wie bluffen, ohne sich selbst zu bluffen.»34 Und so ist das Buch in seinen drei Fassungen nicht nur eine Reflexion von Wagners eigener Laufbahn im Wissen- schaftsbetrieb. Die Editionsgeschichte bildet auch einen weitreichenden Wan- del von Universität selbst ab. Nicht nur fällt auf, dass die späteren Fassungen von Uni-Angst und Uni-Bluff viel stärker auf Fragen bildungspolitischer Entwicklungen abheben. Ausführ- lich widmet sich Wagner in der Neuausgabe von 2007 der Hochschulpolitik: Bologna-Reform, Exzellenzinitiative, die argwöhnische Konkurrenz von Uni- versitäten und Fachhochschulen in einem System, das immer mehr Menschen postsekundäre Abschlüsse ermöglichen soll, aber von elitären Bildungskonzep- ten nicht lassen mag. Auch die Frage nach Klassenverhältnissen gelangt (im Gegensatz zur Genderdimension, die von Anfang an thematisiert wird) erst in der neuesten Ausgabe vollständig in den Blick. Und während in den ers- ten beiden Fassungen des Buches – und insbesondere im Prokla-Aufsatz – die Rede von einer grundlegenden «Entfremdung» ist, die alle Angehörigen der Universität erfasse,35 verschwindet dieser Begriff in der dritten Ausgabe völlig. Ganz ohne Serviceorientierung für eine neue Generation von Studierenden geht es auch nicht: Das ursprüngliche Kapitel «Gegenstrategien» trägt nun den Titel «Wie genussvoll und effektiv studieren».36 Die wichtigste Veränderung schließlich betrifft jedoch die Bewertung der «Aufstiegsfunktion» von Universität. Während Wagner noch in der zweiten Fassung des Buches die Auffassung vertritt, es sei ein Fehler, anzunehmen, 33 Wagner: Der Bluff, 60. 34 Wolf Wagner: Uni-Angst und dass alle Menschen nach Aufstieg strebten und ihren Selbstwert an ihrer Stel- Uni-Bluff. Wie studieren und sich nicht lung in der Hierarchie messen würden,37 schlussfolgert er in der Neuausgabe, verlieren. Text der Erstausgabe von 1977, online unter www.fh-erfurt.de/ zwar möge es viele Studierende und Lehrende geben, die nur um der Sache soz/fileadmin/SO/Dokumente/Lehrende/ willen studierten, forschten und lehrten und nicht, weil sie sich einen sozialen Wagner_Wolf_Prof_Dr/Publikationen/ unibluffurfassung.pdf, gesehen am Aufstieg oder Reputationsgewinn von dieser Tätigkeit erhofften – er, Wagner, 4.12.2018. habe «so jemanden allerdings an der Hochschule nie getroffen».38 Am Ende 35 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff [1992], 21. der dritten und vermutlich letzten Fassung von Uni-Angst und Uni-Bluff stehen 36 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff daher eine Vielzahl von Tipps zum sozialen Aufstieg in der Institution. Heute [2007], 115 – 146. 37 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff gehe es nicht mehr darum, dem Bluff abzuschwören, sondern ihn strategisch [1992], 30. einzusetzen – etwa dort, wo sich die didaktische Hilflosigkeit vieler Lehrender 38 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff [2007], 58. für das eigene Fortkommen nutzen ließe.39 39 Vgl. ebd., 147 f. WAS UNS ANGEHT 23 THOMAS WAITZ 2019 Nicht nur als Illustration auf dem Einband von Uni-Angst und Uni-Bluff ist die Fabrik verschwunden. Auch die Autofabrik, deren helle Lichter nachts bis zu den Türmen der Wohnheime hinüberschien, ist geschlossen und demontiert worden. Wie die Gründung der Universität war sie Ausdruck der Hoffnung auf einen Strukturwandel in einer Stadt, die nach dem Ende der Montanindustrie eine Zukunft suchte und immer noch sucht. Nie habe ich meinen eigenen Eingang in die Universität vergessen – jenen Moment, in dem ich mit den anderen vor der offenen Tür des Seminarraums wartete. Dass mir dieses welcome to the machine heute noch so präsent ist – auch wenn diese Maschine schon damals wohl weniger in den Begriffen von Marx und Ford zu bestimmen gewesen wäre als mithilfe derer von Deleuze und Gu- attari –, hat einen einfachen Grund. Ich hatte mir vorgenommen, ihn nicht vergessen zu wollen. Zu Beginn des Semesters gehe ich an den Wartenden vorbei und betrete den Seminarraum. Die Studienanfänger_innen sind vor der Tür stehen geblie- ben, wartend, mit ihren Smartphones beschäftigt, über Social-Networking- Sites jederzeit integriert in einen unablässigen Strom von Konversationen, der, einer Rettungsleine gleich, eher aus der Universität hinaus- als hineinzuführen scheint. Was hätte Uni-Angst und Uni-Bluff ihnen heute zu sagen? Was habe ich ihnen zu sagen? 1992 schließt Wagner sein Buch mit dem Hinweis, es sei für das Vorha- ben, zu studieren und sich nicht zu verlieren, «möglicherweise recht nützlich […], bei allem Bemühen um ein sinnvolles Studium den Sinn des Lebens doch außerhalb der Universität zu suchen».40 15 Jahre später ist der Hinweis ver- schwunden. Die Vorstellung einer «Wissenschaft als Lebensform»41 dürfte den allermeisten der gegenwärtigen Studierenden eher seltsam anmuten. Sie sehen ihr Studium als notwendige Übergangsphase zwischen Schule und Beruf.42 Ich bin mir nicht sicher, ob das unbedingt eine schlechte Entwicklung ist. Wenn ich den Raum betrete, um die Studienanfänger_innen zu begrüßen, klappe ich meinen Laptop auf, schließe die Tonanlage an und spiele Musik. Es 40 Wagner, Uni-Angst und Uni-Bluff [1992], 117. ist noch etwas Zeit, bis es losgeht – zwei, drei Stücke, die, so würde ich mir wün- 41 Vgl. Jürgen Mittelstraß: Wissen- schen, für einen Moment eine angenehme Atmosphäre schaffen, die es denen, schaft als Lebensform. Reden über philo- sophische Orientierungen in Wissenschaft die gekommen sind, etwas leichter macht, das Schweigen zu brechen. Auf dem und Universität, Frankfurt / M. 1982. Brachland der einstigen Autofabrik stehen jetzt große Tafeln. Sie künden von ei- 42 Vgl. Raunig: Fabriken des Wissens, 45. ner Zukunft, die es noch nicht gibt und von der unklar ist, wie sie aussehen wird. — 24 ZfM 20, 1/2019 U L R I K E B E R G E R M A N N / N A N N A H E I D E N R E I C H «INTIMACY EXPECTATIONS» — Wissenslust, sexuelle Gewalt, universitäre Lehre Seit 2017 haben uns #MeToo und die Frage nach sexueller Belästigung in der Uni­ versität umgetrieben,1 was schon mit der Frage anfing, wie man eigentlich nennen soll, worum es geht. Dass sexualisierte Gewalt in der Akademie wie überall zu be­ kämpfen ist (drei Viertel aller Professor_innen sind männlich, d. h., die Positionen, aus denen aufgrund des Machtgefälles besonders leicht die Möglichkeit erwächst, 1 2017 markiert den Beginn des sich sexuelle Vorteile zu verschaffen, sind mehrheitlich mit den üblichen Verdäch­ Einsatzes des Hashtags. Generell wird die Einführung des Begriffs tigen besetzt), versteht sich, aber damit erübrigt sich das Thema nicht. #MeToo jedoch bereits eine Dekade früher war und ist deswegen so brisant, weil sich hier die verschiedensten Geschichten der Schwarzen US­amerikanischen Bürgerrechtlerin Tarana Burke zusammenfanden, ohne Rücksicht auf den Grad der Gewalt, von der Vergewalti­ zugeschrieben. Die Frage nach den gung über die Anmache bis zu einem diffusen sexistischen Klima, oder besser: mit Schnittstellen von Sexismus und Rassismus wird in Deutschland maximaler Rücksicht auf den Grad der Gewalt, nämlich als Beginn einer Reflexion auch durch den 2018 von Ali Can ins über die Facetten von rape culture. Wie fragt man danach in der Universität? Leben gerufenen Hashtag #MeTwo offensichtlich, der damit zum Sam­ — meln und Teilen von Rassismuser­ fahrungen aufrief. 2 Antidiskriminierungsstelle des Wir beginnen unsere Überlegungen zunächst mit der Frage nach den Voraus- Bundes (Hg.): Leitfaden Diskrimi- setzungen: Wie ist die gegenwärtige Rechtslage in Deutschland? Welche Stellen, nierungsschutz an Hochschulen. Ein Praxisleitfaden für Mitarbeitende im welche Regularien, welche Interventionsmöglichkeiten sind im deutschen Hoch- Hochschulbereich, Berlin 2018, 17. schulsystem für Fälle von Diskriminierung, sexueller Belästigung und Macht- Auch zu Erfahrungen mit Promoti­ onsbetreuungsverhältnissen gibt es missbrauch vorgesehen? Die von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes keine Studien. Dem «Kodex für gute (ADS) 2015 in Auftrag gegebene Studie zu sexueller Belästigung im Hochschul- Arbeit in der Medienwissenschaft» ging daher auch eine Umfrage u. a. kontext thematisiert die «Schutzlücke», nach der das Allgemeine Gleichbehand- zum Betreuungsverhältnis voraus, lungsgesetz (AGG), besser bekannt als Antidiskriminierungsgesetz, für Studieren- die die Kommission für gute Arbeit in der Wissenschaft durchgeführt de keine Geltung hat. Im 2018 publizierten «Leitfaden: Diskriminierungsschutz hat, siehe GfM (Hg.): «Eigentlich an Hochschulen» der ADS wird zudem festgehalten, dass «[b]islang […] keine ist es schon ziemlich verrückt, ein perspektivisch so unsicheres Leben systematischen Daten über Diskriminierungserfahrungen von Studierenden an anzustreben ...». Doktorand*innen­ deutschen Hochschulen vor[liegen]».2 Für Hochschulen gelten die Bestimmun- Umfrage der Kommission Gute Arbeit in der Medienwissenschaft, gen des AGG nur, insofern ihre Funktion als Arbeitgeberin betroffen ist. Danach 2017, https://gfmedienwissenschaft.de/ müssen sie erforderliche Maßnahmen zum Schutz vor Benachteiligung ergrei- sites/gfm/files/2018-05/GfMDoks_ Ergebnisse_GfM2017_FINAL.pdf, fen und eine Beschwerdestelle sowie ein Beschwerdeverfahren einrichten. Bei gesehen am 7.2.2019. WAS UNS ANGEHT 25 ULRIKE BERGERMANN / NANNA HEIDENREICH Benachteiligung von Studierenden findet das AGG zwar Anwendung, bleibt aber ohne Rechtsfolgen (anders bei privaten Hochschulen, die zivilrechtliche Verträge mit den Studierenden abschließen). Auf Ebene der Länder existieren vereinzelt Regelungen in Landeshochschulgesetzen sowie die Landesgleichstellungsgeset- 3 Jennifer Doyle: Campus Sex, ze, die den Hochschulen bestimmte Maßnahmen auferlegen. Möglich sind auch Campus Security, South Pasadena Zielvereinbarungen einzelner Hochschulen mit Landesbehörden. Anlauf- und 2015, 23. 4 Ebd., 34. Equity und justice Beratungsstellen sind ebenfalls je nach Hochschule unterschiedlich aufgestellt: können im Deutschen beide mit von der Allgemeinen Studierendenberatung, den Vertrauensdozent_innen und Gerechtigkeit übersetzt werden, equity steht jedoch für die Schaffung von der Konfliktberatung über Ombudsleute und den Personalrat bis zur Studieren- Gleichheit von Ausgangsbedin­ denvertretung und den Gleichstellungs- und Schwerbehindertenbeauftragten. gungen, für das Recht auf justice. Diese Unterscheidung ist insofern Kurz: Es gibt keine einheitliche Regelung an deutschen Hochschulen, die ihre relevant, als, wie wir im Folgenden Mitarbeiter_innen, Lehrenden, Angestellten sowie die Studierenden vor Dis- anhand der Kritik u. a. von Doyle zeigen werden, Title IX­Verfahren kriminierung und damit auch vor sexueller Belästigung und Machtmissbrauch häufig vor allem dazu dienen, dass schützt. Anders in den USA: Dort gilt Title IX, der Paragraph 9 des United S tates Universitäten und andere Hoch­ schulen sich absichern, und diese Education Amendments von 1972; dieser betrifft alle Bildungseinrichtungen, die Verfahren sich nicht oder kaum finanziell von der US-Regierung unterstützt werden, was auf fast das gesamte dazu eignen, soziale Gerechtigkeit durchzusetzen. – Title IX­Verfahren (Hoch-)Schulsystem zutrifft. Nach Title IX darf keine Person in den USA auf- werden grundsätzlich universitäts­ grund ihres Geschlechts von der Teilnahme an Bildungsprogrammen ausge- intern verhandelt. 5 «Not only all knowledge but all schlossen bzw. dürfen ihr die Vorteile solcher Programme nicht vorenthalten teaching is local, and any anecdotal werden – ein «civil antidiscrimination law designed to bar sex/gender discrimina- evidence I might have will always derive both from particular institu­ tion in education».3 Seit den 1990er Jahren wurde der Geltungsrahmen des Ge- tional cultures.» Laurent Berlant: setzes weiter ausdifferenziert und beinhaltet nun auch dezidiert, dass Hochschu- Feminism and the Institutions of Intimacy, in: E. Ann Kaplan, George len und Schulen im Falle von Beschwerden angemessene Maßnahmen ergreifen Levine (Hg.): The Politics of Research, müssen. Dabei wird in Title IX-Verfahren an Universitäten nicht gefragt, ob ein New Brunswick 1997, 143 – 161, hier 148. Dabei geht es immer auch um Verbrechen begangen wurde (beispielsweise eine Vergewaltigung), vielmehr soll eine kritische Auseinandersetzung mit ihnen festgestellt werden, ob jemand in ihren_seinen Rechten eingeschränkt mit dem «Wir»: «The word ‹our› deserves some special preliminary wurde: Title IX «is not concerned with justice; it is concerned with equity. Have attention», ebd. you been violated? Or was it your rights?»4 6 Wir folgen mit der Rede von ‹Männern› und ‹Frauen› den Dass jedes Lehren und das Wissen darüber ‹lokal› ist, wie Laurent Berlant in Setzungen heteronormativer Verge­ «Feminism and the Institutions of Intimacy» schreibt, gilt ebenso für uns.5 Auch schlechtlichung. 7 Vgl. Naomie Gramlich, Annika in der deutschen Medienwissenschaft haben wir Geschichten von Männern und Haas: Situiertes Schreiben mit Frauen,6 Betroffenen und Akteuren, über soziale Räume gehört, in denen Frau- Haraway, Cixous und grauen Quel­ len, in diesem Heft, 38 – 52. en als fuckable or not klassifiziert werden. Als Lesben sind wir nur eingeschränkt 8 #MeTwo hatte auch deshalb fuckable – und dieses Sprechen ‹als› ist hier genauso aufgeladen wie das Spre- eine so große Resonanz: Rassis­ muserfahrungen werden den Betrof­ chen als Frau oder als Professorin, weil wir ja nicht einfach ‹wir› sind 7 – was fenen regelmäßig abgesprochen, uns aber nicht davor bewahrt hat, die eine oder andere männliche Hand an wie nicht zuletzt der NSU­Komplex in aller Gewalt deutlich gemacht Knie oder Hüfte vorzufinden und allgemeiner in männlich-normativen Ge- hat. Dazu kommt die Tendenz, Ras­ sprächskulturen unterwegs zu sein. Es gibt viele Ebenen der Dominanzkultur; sismus als besorgte Betroffenheit rassistischer Bürger_innen medial über Rassismus wird sowieso eher geschwiegen als gesprochen;8 Bildung funk- zu verhandeln, Rassismus nur als tioniert weiterhin und weiter zunehmend nach Klassenherkünften sortiert, und individuelles Problem von Haltun­ gen maximal sozialpsychologisch zu die Realität von class im class room wird konsequent ausgeblendet. Fachspezifisch thematisieren, aber als strukturelles könnte man auch das Verfahren gegen die New Yorker Professorin Avital Ronell und institutionalisiertes Problem auszusparen. l esen, das 2018 hohe Wellen schlug. Denn Ronell spielt auch in der deutschen 26 ZfM 20, 1/2019 «INTIMACY EXPECTATIONS» Medienwissenschaft eine wichtige Rolle – nicht nur durch ihre Schriften; sie war Beiratsmitglied der ZfM, hielt bei Friedrich Kittlers Beerdigung eine Rede und argumentierte als Entgegnung auf die Anklage unter Title IX, ihre sprachlichen Äußerungen und ihr Verhalten dem Kläger gegenüber seien nur in Verbindung mit ihrer Forschung angemessen einzuordnen.9 Lisa Duggans Blogbeitrag «The Full Catastrophe» zum ‹Fall Ronell› ist nicht zuletzt wegen ihrer Reflexion der Bezüge auf das Medium der Sprache lesenswert: Reitman [so der Name des Klägers, d. Verf.] wants us to take [Ronell’s] email lite- rally, as evidence of sexual desire and conduct. Ronell understands it as coded, not literally about sex. But why is sex the central factor anyway? The central issue is whether there were boundary violations that could be considered harmful. Advisor intrusions do not need to be sexual to be a problem.10 Ronell selbst bezeichnete den Stil ihrer Kommunikation mit dem Kläger als «flamboyant», als sprachlich von beiden gleichermaßen als Inszenierung begrif- fene, für die queere Szene nicht unübliche, mit Lust am Theatralischen betriebe- ne Ausdrucksform. In einer solchen, möglicherweise gemeinsamen rhetorischen Inszenierung zwischen Doktorand und Betreuerin lassen sich die gegebenen Hierarchien dennoch nicht ausblenden – hier muss die hierarchisch machtvoller platzierte Person einfach auf den möglichen Spaß verzichten.11 Denn: Es gibt kei- 9 Vgl. ausführlicher: Ulrike Bergermann: Kinky Terror, der ‹Fall ne Subjektivierung außerhalb der Sprache. Das Subjekt, das sich in theoretische Ronell› und die Körper akademi­ Texte wie die von Ronell einschreibt, bringt sich im Schreiben auch selbst hervor. scher Zeichenträger, in: ZfM Gender- blog, dort datiert 12.9.2018, www. Es setzt sich in Bezug zu anderen, zu den gelesenen Texten, zum Dekonstru- zfmedienwissenschaft.de/online/blog/ ierten, zu möglichen lesenden Adressat_innen. Dass es kein Ich vor der Spra- kinky-terror-fall-ronell, gesehen am 3.1.2019. Ein Absatz des Blogeintrags che gibt, das Ich hier dennoch fortwährend genau davon spricht, ist Gegenstand findet sich auch hier im Text. der Forschung, der Lehre und des Betreuungsverhältnisses; zur Debatte stehen 10 Duggan verweist u. a. auf die Möglichkeit, dass es konsensuelle sprachliche Formen von Performativität und Möglichkeitsräume von Ironie. Intimitäten gebe, deren Sprache in Martin Jay schrieb 2011 in Artforum über Ronells kleines Buch Fighting Theory der heterosexuellen Welt anderes bedeute als in der queeren, und und Astra Taylors Film über sie (Examined Life, USA 2008) und thematisierte da- lässt den Status dieser Aussage in rin auch die Selbstinszenierung und eine Lehre, die mit «Ansteckung» operiert: der Schwebe. Lisa Duggan: The Full Catastrophe, in: Bullybloggers, dort datiert 18.8.2018, bullybloggers. In the classroom, AR practices what she calls the «pedagogy of anacoluthon, of syn- wordpress.com/2018/08/18/the-full- tactical disturbance,» arriving «on the scene often dressed in a bizarre, postpunk catastrophe/, gesehen am 24.1.2019. 11 Vgl. Angela Koch: Macht­ manner, that is, a little outrageous, theatrical.» «Often [making] a point of scanda- missbrauch eindämmen! Zum ‹Fall lizing [her] students,» she proclaims herself a devotee of «institutional contamina- Ronell›, in: ZfM Genderblog, dort tion,» «a renegade, in a way, whose research and publications are sometimes seen datiert 1.10.2018, www.zfmedienwis as subversive.» Anacoluthonic pedagogy, for those who were not rhetoric majors, senschaft.de/online/blog/machtmiss brauch-eindämmen-zum-‹fall-ronell›, means to mimic in one’s teaching a grammatical structure that denies sequentiality gesehen am 3.1.2019. and often introduces several different voices in the same passage, defeating the im- 12 Im Folgenden thematisiert pression that there is a single controlling presence behind the text. In other words, Ronell sich selbst als Schülerin, ihre it is the art of the non sequitur, which deliberately tries to thwart coherent meaning Mimikry im Lernen, ihre Unterord­ nung … Martin Jay: Avital Ronell’s and detranscendentalize the subject.12 Fighting Theory, in: Artforum, Vol. 49, Nr. 9, Mai 2011, online unter www. Gleichzeitig eine Ästhetik der Unterbrechung und eine zentrale Stellung in de- artforum.com/print/201105/avital- ronell-s-fighting-theory-28050, gese­ ren Lehre einzufordern, lässt sich nur als extreme und extrem widersprüchliche hen am 15.1.2019. WAS UNS ANGEHT 27 ULRIKE BERGERMANN / NANNA HEIDENREICH Anmaßung der selbst proklamierten Gegensätze sehen. D iese/s Fighting Theory – die Theorie, die kämpft, und das Bekämpfen der Theorie – schöpft ihr Selbst- verständnis aus ‹der Dekonstruktion› mit all dem, was in den 1980er Jahren von mehr als einer Generation feministischer und linker Akademiker_innen aufge- griffen wurde: dem französischen Poststrukturalismus, Roland Barthes’ Lust am Text, dem Begehren und der Sprache bei Kristeva oder Irigaray, der Bedeutung von Lacans nom/non du père, den Effekten medialer Praktiken wie der Beichte und anderer diskursiver Regelungen für das sexualisierte Subjekt bei Foucault, der Dekonstruktion Derridas (den Ronell als engen Mentor und Freund bezeich- net). Lust und Begehren leben von und als Bezug zwischen Text- und anderen Körpern. Die Körper sind aber nicht mehr, was sie vor ein bis zwei akademischen Generationen waren, sie stehen neu zur Disposition – in digital vernetzten und echokammerfähigen Medien, in neuen Möglichkeiten des gender transitionings und in Machtkämpfen zwischen weißen Männern, die ihre ‹Rasse› bedroht se- hen, und minoritär markierten Personen, die im Zeitlupentempo, aber dennoch merklich, in Positionen aufgestiegen sind. Was nun folgt, ist eine Auseinandersetzung, die selbst mit Lesen beginnt. Die Lektüre beinhaltet Auseinandersetzungen mit Fällen, in denen es um q ueere und feministische Positionen geht, und die Texte, die wir lesen, sind größtenteils auf die USA bezogen. Wenn wir hier nach dem Ort des Schreibens fragen und 13 Vgl. Corey Robin: The Erotic Professor. Money and the murky immer wieder das ‹Wir› zur Verhandlung stellen, dann schwingt mit: Welchen boundary of teaching and sex, in: Unterschied macht der nationalstaatliche Container, also die jeweilige Rechts- The Chronicle of Higher Education, dort datiert 13.5.2018, www.chronicle.com/ lage, dafür, wie wir diese Fragen verhandeln? Welche Unterschiede (oder Ge- article/The-Erotic-Professor/243401, meinsamkeiten) gibt es auf Wissenskulturen bezogen? gesehen am 3.12.2018; ders.: Der sinnliche Professor, in: Merkur, Jg. 72, Nr. 832, 2018, 87 – 93, übers. v. Hanna Engelmeier. Robin schreibt einige Monate später ein zweites Mal Class und Klassenräume im Chronicle zum ‹Fall Ronell›. Nach Die zahlreichen Artikel, die in den USA im Rahmen der Debatte erschienen, der Lektüre der Anklageschrift von Nimrod Reitman geht es ihm vor al­ wurden in Deutschland nur stark gefiltert wahrgenommen und nicht übersetzt. len Dingen um das Missverständnis, Eine Ausnahme bildet ein Text von Corey Robin, Professor der politischen The- Sex stehe im Zentrum, wo es eigent­ lich doch um Macht gehe. Vgl. ders.: orie und Autor in New York, der im Merkur veröffentlicht wurde. Dieser Beitrag The Unsexy Truth, in: The Chronicle ist sehr instruktiv, und wir teilen viele seiner Prämissen; dennoch erscheint es uns of Higher Education, dort datiert 20.8.2018, www.chronicle.com/article/ nicht zufällig, dass im deutschen akademischen Feuilleton ausgerechnet der Text The-Unsexy-Truth-About-the/244314, eines männlichen Autors erscheint, der der Debatte kritisch gegenübersteht und gesehen am 3.1.2019. 14 Ein Beispiel: «Intellectual selbst jede Berührung mit Grauzonen weit von sich weist. Robin kommentierte magnetism often shades into erotic 2018 im Chronicle of Higher Education das Phänomen, das er den «sinnlichen Pro- attraction. Such attachments are not reducible to predatory behavior fessor» nennt und das er als ein spezifisches Phänomen der Geisteswissenschaf- and, at their best, bring out our best ten begreift.13 Der ironische Tonfall markiert eine grundsätzliche Genervtheit selves.» Marta Figlerowicz, Ayesha Ramachandran: The Erotics of Men­ von der Idee, es gebe eine im Grunde schwammige Grenze zwischen universi- torship, in: The Boston Review, dort tärer Lehre und Sex. Die US-amerikanischen Campusfraktionen skizziert er als datiert 23.4.2018, http://bostonreview. net/education-opportunity-gender- vernebelnd mythisierende Vertreter_innen eines Eros der Wissenschaft, als eine sexuality/marta-figlerowicz-ayesha- aufgeladene Seelenverwandtschaft, der eine als ignorant-verknöchert dargestellte ramachandran-erotics-mentorship, gesehen am 3.1.2019. Verbotsfraktion gegenüberstehe.14 Sich selbst situiert Robin als Teil der Gruppe, 28 ZfM 20, 1/2019 «INTIMACY EXPECTATIONS» die gegen sexuelle Verhältnisse zwischen Lehrenden und Lernenden argumen- tiert; er problematisiert eine ‹komplexe Grauzone›, in der «die züchtigste Päda- gogik solche Funken schlagen kann, dass sie nicht nur an Erotik erinnert und sich so anfühlt – sondern vielleicht sogar dasselbe ist».15 Robin geht es hierbei nicht um eine Verteidigung von safe spaces für Frauen – sein Blick ist weniger g ender- als class-geleitet. So liest er den Beitrag der Yale-Literaturwissenschaftlerinnen Marta Figlerowicz und Ayesha Ramachandran über die «Vermischung von Arbeit und Romantik» im Boston Review als Selbstverliebtheit in den Status des Akade- miker_innenseins. Die Autorinnen gingen davon aus, dass der Lehrendenstatus sexy mache. Robin dagegen meint, Charisma plus Ideen gebe es nur an den Uni- versitäten, wo Professoren mit Ausstrahlung den Studentinnen ein Kribbeln im Bauch machten – «im schummrigen Hinterzimmer des sinnlichen Professors [geht es] nicht um Sex, sondern um Klasse».16 Dagegen beschreibt er den herun- tergekommenen Campus des Brooklyn College, an dem er unterrichtet, die Ver- nachlässigung, die kaputten Stühle und Fenster, die alles andere als eine erotisch aufladbare Umgebung bilden. Die Schilderungen von ‹aufgeladenen Begegnun- gen› zwischen Professor_innen und Studierenden nennt er schockierend, weil sie von viel Zeit für gemeinsame Kneipenbesuche und Gespräche zeugten, während die Lehrenden an Nichteliteuniversitäten eine so hohe Lehrbelastung (Zwölf- stundentage auf dem Campus) und einen so hohen Betreuungsschlüssel (100 bis 200 Studierende in einem term) hätten, dass sie keinerlei intensive Einzelbetreu- ungen leisten könnten; die Studierenden dieser Universitäten hätten ebenfalls kaum Zeit, da die Mehrheit von ihnen arbeite, die meisten mehr als 20 Stunden pro Woche – sie bringen nicht das kulturelle Kapital der Elitestudierenden mit, das den Einstieg in eine Bekanntschaft mit einem_einer Lehrenden anders prägt als den von nichtprivilegierten Kindern. Und Robin fragt weiter: Warum sollten solche ‹Aufladungsverhältnisse› eigentlich nur in einer Zweierkonstellation wirk- sam sein? Is the bond always a dyad? Gibt es keine Begeisterung mit Funkenflug in Gruppen? Ohne eine Aufladung von hierarchischen Verhältnissen? Im Fokus stehen aber nur individualisierte Affektübertragungen. Lauren Berlant schrieb bereits 1997 über Elite und Sentimentalität als zwei zentralen Schauplätzen der Pädagogik und fokussierte dabei vor allem das ‹Mythem der Intersubjektivität›. Dass dieses so zentral ist, habe mit der Figur des «charismati- schen Lehrenden» zu tun, sowohl in ihrer elitären als auch in ihrer sentimenta- len Ausprägung. Diese Figur hilft dabei, Strukturen auszublenden: «[W]hen the concept of pedagogy is dominated by the tableau of charismatic teacher/desiring student, it relies on euphemizing or denying altogether the routinized aspects of its institutional situation.»17 Vielleicht fokussiert der «sinnliche Professor» oder die «sinnliche Professorin», die wie Jane Gallop auf das begehrende Lernen und Lehren besteht, deshalb stets auf das Zweierverhältnis und fragt nicht nach 15 Robin: Der sinnliche Professor, 87. dem, was in der Gruppe an Erregung passieren kann. Berlant forderte schon vor 16 Ebd., 88. 20 Jahren ‹Intensität für alle› und einen entsprechenden Betreuungsschlüssel, 17 Berlant: Feminism and the Institutions of Intimacy [1997], 149, der Ressourcenumschichtungen von reichen an arme Universitäten und Schulen Herv. i. Orig. WAS UNS ANGEHT 29 ULRIKE BERGERMANN / NANNA HEIDENREICH voraussetzt. Robins Fazit lautet: So «gehen die gebildete und die herrschende Klasse eine Verbindung ein, die mehr mit einer Hochzeit von Geist und Geld zu tun hat als mit einer von schönen Seelen.»18 Ist damit schon alles gesagt? Muss man nur die ökonomischen Verhältnisse betrachten, um die Rede vom erotisiertem Wissenserwerb auf seine Plätze zu verweisen? Wenn man die Frage ernst nehmen will, muss man sich zunächst die Proble- matik der Benennung vor Augen halten. «Erotik» klingt im Deutschen nach B eate Uhse, nach den verklemmten 1950er oder den krampfhaft befreiten 1970er Jahren, nach Weichzeichner-Bilitis oder schmierigem Pornokinoeuphemismus. «Sex» trifft es auch nicht ganz, da es zwar um Geschlechtsverkehr gehen mag, aber eben auch um eine ganze Kultur der sexualisierten Ansteckung, Gefolg- schaft, Schwärmerei, Begeisterung; das Ganze spielt auf dem Terrain der Hu- manities, der Geistes- und Kulturwissenschaften, auch der Sozialwissenschaften, während die Naturwissenschafts- und Technikfächer es vielleicht mit klassischen machtdurchzogenen Affären zu tun haben, diese aber nicht in eine G emengelage mit den Lehrinhalten setzen. Andererseits: Wer der Behauptung folgt, Sinnlich- keit und Aufregung habe grundlegend zu tun mit den Lehrinhalten, mit dem Wissen der Humanities, fragt in aller Regel eben nicht nach der sexyness von class, Macht und Geld – aber diese bietet einen durchaus überzeugenden Analyse- schlüssel zur Beschreibung der Lage. Wie wäre das Thema also zu nennen? Irgendwie geht es in der Debatte um Intensitäten. Jane Gallop schrieb, so Robin, ihr seien Studierende am wichtigsten, die eine Intellektuelle/Professorin sein wollen wie sie. Robin kommentiert: «Das mag der Grund dafür sein, dass sich die Gedanken der sinnlichen Professorin so oft um Sex drehen: Sie sieht in ihren Studierenden eine Reproduktionsgelegenheit, nicht in b iologischer, aber in beruflicher Hinsicht.»19 Aber Gallop hatte mit selbstkritischem Blick auf psy- choanalytisch angeregte Übertragungsmodelle ihre eigenen «Präferenzen» dar- gestellt; 20 bei Robin bleibt die Frage ausgeblendet, ob solche Spiegelungsverhält- nisse nicht auch dort wirken, wo es keinen Anlass gibt, über die Beschäftigung mit sex und gender nachzudenken. (Bevorzugen auch wir nicht jene Studieren- den, die sich für das interessieren, was wir u nterrichten, oder in deren Haltung zur Institution wir uns wiedererkennen können?) Robin unterstellt Gallop eine Verwechslung von biologischem Sex und geistiger Vereinigung – in der Meta- pher der Reproduktion, die er selbst stiftet –, womit er ungewollt im Fahrwasser derjenigen schwimmt, die sich über Frigidität oder zu wenig Sex oder abgelaufe- ne biologische Uhren von Akademikerinnen lustig machen (auch wir haben sol- che Witze aus dem Mund deutscher männlicher Medienwissenschaftler gehört, ganz abgesehen von manifesten verbalen und handgreiflichen Belästigungen von 18 Robin: Der sinnliche Professor, Studentinnen). Auch wenn man Robin für seine scharfe Rhetorik bewundert, 89. 19 Ebd., 91. auch wenn man seiner klassenbezogenen Analyse folgt, so bedeutet das nicht, 20 Vgl. Jane Gallop: Feminist dass sich damit ein spezifisches Set an Fragen erübrigt hätte, das der « sinnliche Accused of Sexual Harassment, Durham 1997, 88 f. et passim. Professor» aufwirft. Vielleicht hatte Robin selbst keine Zeit, sexualisierte 30 ZfM 20, 1/2019 «INTIMACY EXPECTATIONS» Intensitäten auf einzelne Studentinnen zu projizieren, die sich für sein Wissen und für ihn als dessen Verkörperung begeisterten. «Keine Zeit» ist allerdings kein ausreichendes Kriterium für eine Selbstbefragung. Als Professor schlägt er s chließlich auch nicht vor, das hierarchisch organisierte Lernen abzuschaffen. Er möchte einfach weniger Studierende betreuen – wir auch. Robins Verweis auf spannende Lerngemeinschaften und politische Gemeinschaften überzeugt, aber was ist mit dem Professor, den es ja weiterhin gibt? Auch wer aus einer nichtpri- vilegierten Klasse kommt, ist damit noch nicht aus dem Schneider. Berlant meint, dass es sehr unterschiedliche Erwartungen von Studierenden an Bindungen – attachments – gebe, die nicht so einfach als Klassenfragen aufzu- schlüsseln sind, wie Robin nahelege: «Some students want to be known as bio- graphical persons; some want close intellectual work not to include information about their lifeworld; some want intellectual work to be less close and more casu- al, and so on.»21 Sie betont andererseits, dass die Verhandlung der Thematik im Grunde aus der Perspektive der Lehrenden – der Professor_innen zumal – statt- findet. Während Robin sich sicher ist, alle möglichen Verwirrungen aus dem classroom heraushalten zu können, macht Berlant deutlich, dass es gerade der eli- täre Bildungstraum des one-on-one, des Lehrer_in-Schüler_in-Verhältnisses ist, der direkt aus dem Jungsclub ‹der toten Dichter› heraus auch feministische Idea- le transformativer Pädagogik informiert. Der geringe Betreuungsschlüssel gehört somit auch zur Szene der idealisierten intellektuellen Weitergabe, eines durch und durch genealogischen Konzepts; ein Konzept, das bei Berlant auch im von ihr kritisierten Mythem der Intersubjektivität durchscheint, in dem Reproduk- tion nicht notwendigerweise Sex beinhaltet,22 aber eben doch die Voraussetzung 21 Lauren Berlant: Feminism and the Institutions of Intimacy, jeder Produktionsarbeit ist. Eben jenes Konzept treibt die Überidentifikation mit in: Supervalent Thought, dort datiert «individualist standards of professional value»23 weiter, die Robin doch gerade 15.5.2018, supervalentthought. com/2018/05/15/feminism-and-the- durch den Funkenflug in der Gruppe zu ersetzen hofft. institutions-of-intimacy/, gesehen Berlant deutet auf ihrem Blog kurz an, dass sie ihren 20 Jahre alten Text heu- am 10.1.2019. 22 Robin fasst Nimrod Reitmans te wahrscheinlich anders schreiben würde.24 Ihr Text ist nichtsdestotrotz noch Anklage so zusammen: «It’s almost immer hilfreich, weil sie zumindest nach der sexuellen Differenz fragt, ohne ei- as if Reitman could have no life apart from her»; «Ronell’s largest claims nem «queer sex literalism» zu verfallen, wonach queeres Unterrichten (ein spe- were on his time, on his life, on his zifisches) sexuelles Begehren beinhalte.25 Sie richtet ihre Aufmerksamkeit auf attention and energy.» Es geht nicht um Sex, sondern um ‹das Leben›. das queere und feministische Projekt eines anderen Lehrens (und Lernens) und Robin: The Unsexy Truth. deren systematische und zugleich notwendige und utopische Überforderungen. 23 Berlant: Feminism and the Institutions of Intimacy [1997], 149. Jene Lehre kann, wie Jennifer Doyles Fall einer stalkenden Studentin zeigt, un- 24 Vgl. Berlant, Feminism and the ter Title IX auch zum Anklagegrund gemacht werden – die heteros existische Institutions of Intimacy [2018]. 25 Berlant, Feminism and the Variante des queer sex literalism: 26 Wer queere Texte unterrichtet, s exualisiere Institutions of Intimacy [1997], 149. die Lehre und sei daher (selbst) schuld (wir kommen gleich noch darauf zu- 26 Bei Berlant: «[S]ame­sex p edagogy always involves specif­ rück). An dieser Stelle wird erneut deutlich, dass die Frage, worüber wir spre- ically sexual and sexually specific chen, auch beinhaltet, von wo wir sprechen. In den USA, so Lisa Duggan auf desire», ebd. 27 Lisa Duggan: The Full Bullybloggers,27 sind Queers – und Feministinnen – bevorzugt Ziel sexueller An- C atastrophe, in: Bullybloggers, dort schuldigungen, auch unter Title IX, was die folgenden Lektüren deutlich ma- datiert 18.8.2018, bullybloggers. wordpress.com/tag/lisa-duggan/, ge­ chen und weiter verkomplizieren. sehen am 3.1.2019. WAS UNS ANGEHT 31 ULRIKE BERGERMANN / NANNA HEIDENREICH Sex Panic Im Jahr 2017 erschien mit Unwanted Advances. Sexual Paranoia comes to Campus ein Buch von Laura Kipnis, in dem sie – als Feministin – die Verfahren wegen sexu- eller Belästigung und anderen Title IX-Prozessen in den USA ironisch k ritisiert.28 Kipnis situiert sich als Frau einer bestimmten Generation, die zwar selbst se- xuelle Gewalt erlebt hat und sich für die Verfolgung von Straftäter_innen aus- spricht, sich aber noch mehr darum sorgt, dass Frauen in erster Linie als poten- zielle Opfer adressiert werden (und Männer als potenzielle Vergewaltiger), was die Selbstwahrnehmung der Betroffenen, die Kultur der Angst, das Ignorieren weiblicher agency zur Folge hat – und weniger sexuelle Erfahrungen, auch solche von schlechtem Sex, aber die Möglichkeit eigener sexueller Handlungsmacht zu- nehmend verhindert. Dem ging voraus, dass Kipnis 2015 im Chronicle of Higher Education kritisch über das Verbot jeglicher Beziehungen zwischen Lehrenden und Studierenden in ihrer Universität geschrieben hat – dieses sei ein Zeichen für «sexual paranoia in academe», woraufhin sie von zwei Studierenden der North- western University in Evanston angezeigt wurde: Sie verbreite mit ihrer Kritik ein «chilling environment on campus»; es wurde ein Title IX-Verfahren gegen sie eröffnet. Dieses (später eingestellte) Verfahren, umfangreiche Korrespondenzen und eigene Recherchen sowie weitere Veröffentlichungen brachten Kipnis dazu, der von ihr diagnostizierten «Kultur der sexuellen Paranoia» in US-amerikani- schen Campusuniversitäten weiter nachzugehen. Was man zuallererst von einer selbsterklärten Feministin erwarten mag, nämlich die Kritik an sexuellen Über- griffen und Vergewaltigungen sowie einer Kultur, die diese bagatellisiert, wird erst gegen Ende des Buches ausführlicher dargestellt, in einem erhellenden Kapi- tel über grey rape, also Vergewaltigungen, in denen der Vergewaltiger ein Freund ist, der Begleiter des Abends, der sich weigert zu gehen oder der eine Situation ausnutzt etc. Kipnis will den Begriff der rape culture nicht verwenden, da sie ihn für ein Element in einer «Fabrik der Anklagen», ihrer Alarmrhetorik und der folgenden Angstkultur hält. Wie übertragbar ist diese Einschätzung auf die Si- tuation an deutschen Universitäten? Während Doyle die statistisch unterfütterte Charakterisierung des Campus als besonders gefährlichen Ort einer fundierten Kritik unterzieht,29 liegen für deutsche Universitäten gar keine Zahlen vor. Die Liste der Kriterien, die gegen eine Übertragbarkeit sprechen, ist durch- aus lang: Die hiesige universitäre Gewaltprävention steckt noch derartig in den 28 Vgl. Laura Kipnis: Unwanted Anfängen, dass von einer Überregulierung überhaupt nicht die Rede sein kann; Advances. Sexual Paranoia comes to Campus, New York, London 2017. hier gibt es im Gegenteil – siehe die eingangs erwähnten Studien und Expertisen 29 Vgl. Doyle: Campus Sex, der ADS – noch enormen Handlungsbedarf. Deutsche Betreuungsverhältnisse Campus Security, 43 f. 30 Vgl. [gri/kas]: Ein Professor unterscheiden sich von solchen an US-Eliteuniversitäten extrem im Betreu- für 66 Studierende, in: Forschung & ungsschlüssel und der Ansprechbarkeit (egal wie viele Professuren auch ge- Lehre, hg. v. Deutscher Hochschul­ verband, dort datiert 2.1.2019, schaffen werden, der deutsche Kapazitätsschlüssel gibt vor, dass pro Kopf rund www.forschung-und-lehre.de/lehre/ein- 66,9 Studierende angenommen werden müssen,30 die in rund neun Semester- professor-fuer-66-studierende-1345/, gesehen am 17.1.2019. wochenstunden unterrichtet werden, wobei Kurse von 30 – 50 Teilnehmer_innen 32 ZfM 20, 1/2019 «INTIMACY EXPECTATIONS» Durchschnitt sein dürften, während US-Eliteprofessuren einen Bruchteil von Studierenden betreuen, die dann allerdings auch intensive Betreuung einfor- dern). In Deutschland ist ein intensives gemeinsames Campusleben selten, und da die Universitäten staatlich finanziert sind und nicht von Sponsoren, Alumni und ‹gutem Leumund› finanziell abhängen, sind sie nicht so leicht durch schlechte PR erpressbar. Die Vielzahl von überzeugend dargestellten Fällen, in denen Title IX-Verfahren problematisch bis absurd erscheinen, ist in Deutsch- land nicht in Sicht.31 Vielleicht ist es also verfrüht, im Jahr 2019 mit Kipnis zu argumentieren. Was wir im Moment daraus mitnehmen, ist zweierlei: Obwohl wir definitiv flächendeckend universitäre Maßnahmen (Regelwerke, institutio- nelle Einrichtungen, Verfahrens- und Sanktionsmöglichkeiten) gegen sexuelle Gewalt benötigen, sollten wir darauf achten, die Handlungsmacht insbesondere von Frauen und minorisierten Gruppen nicht zu beschränken, andere Formen struktureller geschlechtsspezifischer Gewalt nicht zu vernachlässigen (Rassismus und seine Verstrickungen mit Sexismus; warum haben Mütter sich um die Kin- 31 Für die These beispielsweise, der zu kümmern,32 warum zahlen so viele Väter keinen Unterhalt etc.) und die dass Title IX­Verfahren überpro­ portional häufig queere Lehrende Überlagerungen mit rassifizierten und klassenbezogenen Diskriminierungen zu treffen, gibt es keine belegbaren sehen. Wie die Fälle von Mobbing und Machtmissbrauch an Instituten der Max- Zahlen, aber einige Hinweise, vgl. Kipnis: Unwanted Advances, 24. Auch Planck-Gesellschaft (MPG) zeigen,33 haben die in Deutschland vorgesehenen Duggan kritisiert das Konzept der Einrichtungen wie (institutsinterne) O mbudsleute oder Gleichstellungsbeauf- Vertraulichkeit in Title IX­Verfahren nachdrücklich, da es nur dem Schutz tragte das gleiche Problem wie T itle IX-Verfahren: Sie sind Teil der Institution, der Institution diene, nicht dem gegen die sie gegebenenfalls vorgehen müssen. der Beteiligten: «My hypothesis is that queers are disproportionately Es mag seltsam wirken, dass Beziehungen und Ehen zwischen Professoren charged, often by homophobic und Studentinnen so häufig vorkommen, und man kann darin eine E rotisierung or sexually confused students, sometimes by queer students whose eines allzu klassischen Machtverhältnisses sehen, aber das kann nicht Gegen- demands for ‹special› treatment stand einer offiziellen Gesetzgebung oder eines Verbots sein. Vielleicht sind sie are disappointed.» Duggan: The Full Catastrophe. das Äquivalent zu schlechten Filmen (oder auch guten), aber jede_r darf sich in 32 Vgl. Kipnis: Unwanted Advances, sein_ihr eigenes Skript einschreiben und idealerweise irgendwann ein Dreh- 15. 33 Siehe z. B. die Recherchen buch mitverfassen. Es ist das Recht jeder Studentin, sich in solchen Beziehun- von Pascale Müller: Eine Star­ gen auszuprobieren.34 Wie für jede andere Befangenheitsbeziehung besteht für Wissenschaftlerin der Max­Planck­ Gesellschaft soll über Jahre ihre diese ebenso ein Ausschlussprinzip bei Prüfungen etc. (universitäre, professionel- Mitarbeiter schikaniert haben, in: le Betreuungsverhältnisse sollen also beendet werden, wenn Verhältnisse intim BuzzFeed, dort datiert 27.6.2018, www.buzzfeed.com/de/pascalemueller/ werden). Gleichzeitig muss es möglich sein, das Ausnutzen von hierarchischen star-wissenschaftlerin-max-planck- Positionen durch Professor_innen zu benennen und anzuklagen. Dass Macht- gesellschaft-mobbing, gesehen am 15.1.2018. positionen in unserer Gesellschaft überwiegend von Männern eingenommen 34 Die weibliche Form verweist werden, ist auf jeder Ebene zu adressieren und nicht nur hier. Die größtmögli- auf die Statistik: Über 75 % aller Professuren in Deutschland sind chen Handlungsspielräume für diejenigen ohne institutionelle Macht zu sichern, mit männlichen Personen besetzt; Fairness und Transparenz des Verfahrens gegen die Angeklagten zu gewährleis- die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei entsprechenden Beziehungen ten, Verletzbarkeit von Männern* nicht zu vergessen, muss damit einhergehen, um einen weißen heterosexuellen an die Verantwortung und die risikobehaftete Lernfähigkeit aller Beteiligten zu älteren Cis­Mann und eine weiße heterosexuelle jüngere Cis­Frau glauben, die Unklarheiten im eigenen Begehren anzuerkennen und den Umgang handelt, ist extrem hoch. Ob jenseits mit der Unklarheit in sexuellen Situationen zu üben. Das wäre adult feminism, so der Statistik auch von gegenderten Strukturen zu reden wäre, verfolgen Kipnis. Und weiter: Schlechter Sex sei immerhin eine gute Übung; man müsse wir hier nicht weiter. WAS UNS ANGEHT 33 ULRIKE BERGERMANN / NANNA HEIDENREICH die Freiheit haben, Fehler machen zu können, und eine Art ‹sexueller Risiko- bereitschaft› könne auch einhergehen mit ‹intellektueller Risikobereitschaft›.35 Die Betonung der Individualität könne zur Abwehr von verunsichernden Ideen führen, auch wenn das oft die besten Ideen seien.36 Es sei eine Ironie, dass die Ad- ressierung von Studentinnen als potenziellen Angriffszielen die Rechtfertigung für wachsendes patriarchales policing darstellt 37 – «I can think of no better way to subjugate women than to convince us that assault is around every corner».38 Es ist nur so: Die Studentinnen, denen es schon immer egal war, was die Autoritäten zu ihrem Sexualverhalten sagten, werden auch bei weiteren univer- sitären Regularien entsprechend agieren. Sie brauchen Kipnis’ Kampf für die ‹Freiheit› nicht. Allen anderen, deren Verhaltensspielraum diskursiv durch die Einschränkungen im Angstdiskurs behindert werden, muss diskursiv geholfen werden. Und: In erster Linie sind die Täter_innen in den Blick zu nehmen, was auch heißt: die Strukturen. Die (Un-)Sicherheit der Institution Doyles Buch Campus Sex, Campus Security markiert eine Position zwischen einer linken, klassenbezogenen Analyse akademischer (diskursiver und administrati- ver) Politiken von sexualisierter Gewalt und Gender Studies auf der einen (vgl. Robin) und dem Kampf gegen sexuelle Belästigung und für sexuelle Freiheit auf 35 Vgl. Kipnis: Unwanted Advances, der anderen Seite (vgl. Kipnis). Nachdem Doyle eine Studentin, die sie massiv 13, Übers. d. Verf. 36 Vgl. ebd., 26f. gestalkt hatte, der Universitätsleitung gemeldet, aber deren Vorschläge wie die 37 Vgl. ebd., 27. Bewachung ihres Hauses etc. abgelehnt hatte, wurde sie selbst einer Untersu- 38 Ebd., 12. 39 Doyle: «All I ever wanted from chung durch eine Kommission unterzogen, die ihre queere und feministische the campus in the wake of that Lehre als unangemessen/ungehörig (improper) beurteilte und nach der Behaup- disaster was a chance to have a conversation with that committee tung der stalkenden Studentin, Doyle «sexualisiere den Unterricht» («sexualized about what they did – which was the classroom»), schloss, sie sei nicht belästigt worden. Ihr Versuch, sich gegen to pathologize me, as a person, through a sexist and homophobic die falsche Beurteilung von anonym bleibenden Kolleg_innen zur Wehr zu set- reading of my scholarship. This has zen 39 und das gesamte Verfahren zu verstehen und zu deuten, führte zu einer been denied me; the university has gone to great lengths to make sure umfassenden Betrachtung – nicht nur der verschiedenen Ebenen von Sexualpo- I never even know the names of litiken in der Universität, sondern auch weiterer Ebenen von politischen Ausei- the colleagues who did that. […] I don’t want that: but I can’t heal my nandersetzungen: Ihr rund 100-seitiger Essay handelt auch von «the administra- relationship to the campus alone.» tion of harassment complaints, and the practice of administration as itself a form Five Minutes with Jennifer Doyle, in: MIT Press Blog, dort datiert 3.11.2015, of harrassment»;40 er schildert Title IX-Verfahren ebenso wie die Militarisierung mitpress.mit.edu/blog/five-minutes- von Auseinandersetzungen auf dem Campus, den massiven Einsatz von Pfeffer- jennifer-doyle, gesehen am 28.12.2018. spray und prügelnde Polizist_innen bei Demonstrationen rund um Occupy, bei 40 Doyle: Campus Sex, Campus Sitzblockaden gegen die Anhebung von Studiengebühren etc.41 Security, 11. 41 Vor allem 2011 und 2012, Doyle wechselt ihre Reflexionen des policing sexueller Gewalt ab mit langen in Augenzeuginnenberichten vom Schilderungen von brutalen, rassistischen Polizeieinsätzen gegen eine Schwarze Campus der UC David sowie aus Berichten anderer Universitäten. Professorin, die auf einem Unicampus bei Rot über die Straße gegangen war,42 42 Vgl. Doyle: Campus Sex, Campus vom Tasereinsatz gegen studentische Demonstrant_innen,43 von Burschen- Security, 99. 43 Vgl. ebd., 106. schaften und minstrel shows; sie führt die Erhöhung der Studiengebühren an 34 ZfM 20, 1/2019 «INTIMACY EXPECTATIONS» und versucht vor Augen zu führen, was es bedeutet, wenn man im Alter von 25 Jahren bereits einen Schuldenberg von 120.000 Dollar angehäuft hat;44 sie vermengt also sehr verschiedene Ebenen von Gewalt, struktureller Gewalt, kör- perlicher Gewalt, sexualisierter, rassifizierter, klassifizierter Gewalt, ohne das weiter zu problematisieren oder zu differenzieren. Die Zusammenstellung soll für sich sprechen – und tatsächlich ist es dadurch nicht mehr möglich, über se- xuelle Gewalt ohne diese anderen Formen von Gewalt nachzudenken. Sexismus und Machtmissbrauch müssen demnach zusammen gesehen wer- den: Alle diese Ereignisse und Entwicklungen haben mit einer wachsenden pho- bischen Struktur zu tun. Eine «security culture», schreibt Doyle, die rund um die Figur der hilflosen Studentin die Angst vor äußeren Eindringlingen schüre, zeuge von einer «institutional insecurity»;45 die «affektive Ökonomie» von Title IX mache den Campus zu einer imaginierten Szene der Verletzung. Während die Prozesse den Opfern nicht helfen, werde eine Retraumatisierung zum Be- standteil der Verfahren und die Unikultur insgesamt paranoid.46 Im herrschen- den rape discourse könne eine Frau (und es geht hier wirklich um ‹Frauen› im engeren Sinn; Gewalt gegen transgender und gender nonconforming people sowie gegen Männer wird laut Doyle kaum sichtbar 47) nicht gleichzeitig ein sexuel- les Subjekt und unschuldig sein 48 – und letztlich ist es dieser Effekt, gegen den Doyle anschreibt: eine Kultur der Angst, in der alles Sexuelle unter General- verdacht steht, gegen Konformitätsdruck, die Viktimisierung von bestimmten (weiblichen) Studierenden und die zunehmende Unmöglichkeit, dass eine Frau oder ein anderes viktimisiertes Subjekt auch in Gewaltsituationen als selbständi- ges, als sexuell aktives Wesen sichtbar bleiben kann. Und wenn die Bedrohung durch und die Angst vor Vergewaltigung ein Mittel wären, das die Machtstruk- tur aufrechterhält? Was bedeutet es, fragt Doyle provozierend, keine Angst vor Vergewaltigung zu haben, sondern stattdessen vor einer Kultur sexueller Kom- plizenschaft, von der Vergewaltigung nur ein Teil ist? 49 Ohne den Begriff rape 44 Vgl. ebd., 94. culture verwässern zu wollen, sieht Doyle ein breites Spektrum von Verhaltens- 45 Ebd., 26, 29. maßregeln als Teil dieser Kultur: Wer nachts herumläuft, sei selber schuld; Män- 46 Vgl. ebd., 31, 36, 40. 47 Vgl. ebd., 47. nern wird eher erzählt, sie sollten keine Vergewaltiger sein, aber sie scheinen 48 Vgl. ebd., 42. nicht zu lernen, wie man für Empfängnisverhütung verantwortlich ist (eine spe- 49 Vgl. ebd., 63. «What if the threat and fear of rape were exactly zielle default position). Gerade für junge Leute sollte Sex nicht zuerst – materiell what kept that power structure in wie diskursiv – mit Gewalt verknüpft sein, und gerade junge Frauen sollten Sex place? What does it mean to be not afraid of rape? What does it nicht mit Opfersein, Unschuld und Passivität verbinden. Die sexuelle Intelligenz mean to fear, instead, a culture of («sexual wisdom») von Promiskuität werde zu wenig erfahren, Netzwerke aus sexual complicity (of which rape is a part...)? The critic of heterosexual unvoreingenommenen Freundschaften um sexuelle Erfahrungen herum würden structures will position rape on a schlechtgeredet.50 Was ist aus der (US-amerikanischen) Universität geworden? continuum of these other coercive structures.» Ebd., 64 f. Ein Ort, wo Studierende zu viel trinken, sich verschulden, alle Männer poten- 50 Ebd., 52. zielle Täter, alle Frauen potenzielle Opfer sind, laut Stefano Harney und Fred 51 Ebd., 113, mit Verweis auf Ste­ fano Harney, Fred Moton: The Under- Moten der Raum eines Managements, das nur noch formal unschuldig bleiben commons. Fugitive Planning and Black will, sich für mehrere Millionen Dollar in «Operational Excellence» schulen Study, New York 2013, 54, und den Dokumentarfilm At Berkeley, R egie: lässt und möglichst viele Verwaltungsakte outsourct? 51 Frederick Wiseman, USA 2013. WAS UNS ANGEHT 35 ULRIKE BERGERMANN / NANNA HEIDENREICH Ungewöhnlicherweise spricht Doyle auch über die ökonomische Situation der Lehrenden an vielen US-amerikanischen Universitäten: «Our classes are too large to address the social intimacy of thought and expression with any re- sponsibility.» Wo eigene Privilegien geleugnet würden, bliebe Platz für eine umfassende Paranoia, in der alle Studierenden unter Generalverdacht stün- den: «[T]he university’s collective betrayal of the work of teaching is humilia- tion – and so we have the culture of the bully: the stupid aggression provoked uniquely by a certain kind of shame».52 Nur Eliteuniversitäten wie Stanford oder Princeton stellten ihre Studierenden nicht unter Generalverdacht. Wie soll man hier über Freiheit, über Risikomanagement, über Autonomie und Selbstbestimmung nachdenken können? 52 Doyle: Campus Sex, Campus Resistenzen, Renitenzen Security, 116. 53 Vgl. Hochschulrektorenkonfe­ Auch in Deutschland ist ein Risikomanagement in Arbeit und begibt sich in renz (Hg.): HRK­Empfehlung: Gegen die Paradoxie eines Kampfes um Freiheit (Freiheit gleicher, diskriminierungs- sexualisierte Diskriminierung und sexuellen Missbrauch an Hochschu­ freier Zugangschancen) und Regelungssysteme. Im April 2018 veröffentlich- len, Pressemitteilung, dort datiert te die HRK eine kurze «Empfehlung»,53 mit der sie sich «gegen sexualisierte 24.4.2018, www.hrk.de/news-details/ meldung/hrk-empfehlung-gegen- Diskriminierung und sexuellen Missbrauch an Hochschulen» ausspricht. HRK- sexualisierte-diskriminierung-und- Präsident Horst Hippler äußert, dass es die große Zahl der Betreuungs- und sexuellen-missbrauch-an-hochschulen- 4352/, gesehen am 15.1.2018. Abhängigkeitsverhältnisse sei, die Aufmerksamkeit und Vorsorgemaßnahmen 54 Rieger verwendet das Präter­ erforderlich mache. Die zuständige Vizepräsidentin Ulrike Beisiegel spricht itum, «war», wobei nicht ganz klar ist, ob er den von ihm analysierten von konkreten Anregungen zur Prävention: Coachings, Führungskräftetrai- «beruflich habitualisierten Typus» ning, Mentoring-Angeboten – Formen der ‹Beratung›. als der Vergangenheit angehörig oder als Vergangenheitsrelikt Stefan Rieger hat vor kurzem über den beratungsresistenten Professor nach- ansieht oder ihn mit seinem Beitrag gedacht, «der in der Grundausstattung männlich und in ausgewiesenen Sparten selbst der Vergangenheit über­ antworten möchte. Stefan Rieger: der Geisteswissenschaften situiert» sei.54 Dessen Resistenz wird, so Rieger, als Prof. Über Beratungsresistenz, in: Ausdruck von Renitenz verstanden: Es handle sich um «deviantes Personal», das ZfM, Nr. 18, 2018, 193 – 196, hier 193. 55 Ebd., 194. sich in der Besonderheit des eigenen Ausdrucks und des Stils legitimiert sehe, 56 Vgl. GfM (Hg.): «Eigentlich ist «den unsere Kultur habituell mit der Genialität des vornehmlich männlichen es schon ziemlich verrückt», 13. 57 Der herausragende, außerge­ Künstlersubjekts assoziiert»55 – vornehmlich, aber nicht ausschließlich, wie der wöhnliche Forscher soll sich nach Fall Ronell zeigt oder auch die bereits dokumentierten Fälle von Mobbing und dem Vorbild des ersten Präsidenten der Kaiser­Wilhelm­Gesellschaft, der Machtmissbrauch durch Institutsleiter_innen der MPG. Die professorale Per- Vorgängerorganisation des MPG, sonalunion von Promotionsbetreuer_in und Arbeitgeber_in, die auch von der frei entfalten, seiner Intuition folgen und nach dem «beste­Köpfe»­Prin­ GfM-Kommission für gute Arbeit in der Wissenschaft in der Umfrage zu Be- zip seinen Bereich leiten. Vgl. MPG treuungs- und Arbeitsverhältnissen als zentraler Dreh- und Angelpunkt benannt (Hg.): Der Ansatz «Max Planck», dort datiert 18.10.2011, www.mpg. wird,56 ist ja nur ein Teil eines spezifischen Autonomiekonzepts, zu dem gerade de/101251/MPG_Einfuehrung, gesehen auch der ‹Lehrstuhl› gehört, der im Fall der MPG-Institute mit dem für die Ge- am 2.2.2019. Die Germanistin und Journalistin Anna­Lena Scholz sellschaft wesentlichen «Harnack-Prinzip», das den wissenschaftlichen Direk- kommentiert das kritisch mit «Der tor_innen große Freiheit gewährt,57 seinen vielleicht prägnantesten Ausdruck Geniekult hat ausgedient», in: Die Zeit, Nr. 35, 23.8.2018, online unter gefunden hat. Beratungsresistenz ließe sich nun auch als Kritik an der Neolibe- www.zeit.de/2018/35/forschung-wissen ralisierung der Hochschule verstehen, auch wenn Rieger sich dafür nicht inter- schaft-erfolg-genie-fleiss, gesehen am 15.1.2018. essiert. Wie Duggan jedoch deutlich macht, ist die Verschiebung von social justice 36 ZfM 20, 1/2019 «INTIMACY EXPECTATIONS» zum «schlechten Individuum» und damit das Ausblenden von Institution und Struktur gerade Teil neoliberaler Logik.58 Diese Ausblendung im Schreiben über den ‹Prof.› kennzeichnet auch die professoralen Widerstände gegen die Einfüh- rung von Regulierungen, die vor Machtmissbrauch, Diskriminierung und vor sexueller Gewalt schützen sollen. Selbst nicht rechtlich bindende Verhaltens- vorgaben wie der «Kodex für gute Arbeit in der Medienwissenschaft» werden mit solchen ‹renitenten› Argumenten abgewehrt. Aber der Ruf nach Autonomie verhindert die Umstrukturierung nicht von selbst. Keine ‹unsichtbare Hand des (akademischen) Marktes› sorgt für kollektive Schutzmechanismen, automatisch, als liege die Lösung in Einzelautonomien: The pursuit of individual happiness does not sum up to the happiness of all, um Adam Smith zu adaptieren. Die von Doyle beschriebene Kultur der Komplizenschaft ist vorwiegend eine der Männerbünde, besonders in der deutschen Hochschullandschaft, er- möglicht aber auch, Machtmissbrauch nicht sauber nach Geschlechtern zu trennen. Frauen können Teil dieser Kultur sein und sind dies ja auch, vergleich- bar vielleicht der ‹differentiellen Inklusion›, wie Sandro Mezzadra und Brett Neilson das für den Nationalstaat und die Migration beschrieben haben: eine Form der Teilhabe, die die Strukturen fundierende Gewalt aufrechterhält und 58 #MeToo «is one part feminist social justice movement – calling den Ausschluss als Organisationsprinzip fortsetzt.59 So gibt es die Tendenz zu the powerful (overwhelmingly Konzepten wie dem diversity-Management, die die Strukturen ‹modernisieren› men) to account for using sex as a tactic of dominion. And it is one sollen. Der Widerstand dagegen, die Verhältnisse selbst zur Verhandlung zu part neoliberal publicity stunt. stellen, sieht auf den ersten Blick irgendwie ‹richtig› aus. «Richtig» im S inne Why call it neoliberal? Because the accusations are focused through the von «etwas richten» erfordert aber noch andere Maßnahmen – ein righting press primarily on bad individuals, wrong bedeutet eben auch Verrechtlichung, wie Gayatri Spivak ausführt.60 Sie rather than structures of power, and because the mode of accountability etabliert für die Lehre in den Humanities das Ideal eines «uncoercive rearran- is primarily corporate investigation gement of desires»,61 also den Versuch, diese möglichst zwangfreie Neuord- and firing, and banning from the means of publicity.» Duggan: The nung von Begehren als Lehr- und Lernpraxis zu instituieren: Full Catastrophe. 59 Vgl. Sandro Mezzadra, Brett Neilson: Frontières et inclusion diffé­ A desire to redistribute is not the unproblematic consequence of a well-fed society. rentielle, in: Rue Descartes, Nr. 67, In order to get that desire moving by the cultural imperative of education, you have 2010, 102 – 108. to fix the possibility of putting not just wrong over against right, with all the genea- 60 Vgl. Gayatri Spivak: Righting Wrongs, in: The South Atlantic Quarter- logical lines compressed within it, but also to suggest that another antonym of right ly, Vol. 103, Nr. 2 / 3, Spring / Summer is responsibility, and further, that the possibility of such responsibility is underived 2004, 523 – 581. Den Hinweis auf from rights.62 Spivaks «zwangsfreie Neuordnung des Begehrens» verdanken wir Jan Niggemann sowie María do Mar Rechte und Verantwortung sind nicht zu trennen – was am Ende die Com- Castro Varela: Strategisches Lernen, munity wie auch die_den Einzelnen in Haftung nimmt: in die Verantwortung, in: Luxemburg, 7. Jg., Nr. 2, Juli 2015, 16 – 23, online unter www.zeitschrift- die Strukturen nicht nur zu kritisieren, sondern auch zu verändern – und da- luxemburg.de/strategisches-lernen/, mit gegebenenfalls auch das eigene Begehren in der Lehre einer Neuordnung gesehen am 19.1.2019. 61 Spivak: Righting Wrongs, 529. zu unterziehen. 62 Ebd., 534. — WAS UNS ANGEHT 37 Archivfunde aus dem Frauenforschungs-, - bildungs- und -informationszentrum (FFBIZ) Berlin (siehe auch S. 46 und 51) 38 ZfM 20, 1/2019 N A O M I E G R A M L I C H / A N N I K A H A A S SITUIERTES SCHREIBEN MIT HARAWAY, CIXOUS UND GRAUEN QUELLEN — Zu schreiben und Texte zu publizieren sind die zentralen Praktiken der Wissens­ produktion und ­dissemination in der Medienwissenschaft. Sie unterscheidet sich darin nicht sonderlich von anderen Disziplinen, in denen Text ebenfalls die härteste Währung ist. Aus medientheoretischer Sicht liegt es auf der Hand, dass kein Schrei­ ben ‹neutral› ist.1 Texte zu schreiben ist Teil wissenschaftlicher Praxis und verbun­ den mit unterschiedlichen Techniken des Selbst und der Organisation von Wissen, Arbeitsabläufen und Werkzeugen.2 Sie geschieht in Zusammenarbeit mit anderen, unter wechselnden ökonomischen Bedingungen und in sich ändernden sozialen Gefügen. Trotz der vielfältigen, teilweise dekonstruktivistischen Reflexionen der Medialität des Schreibens unterliegt gerade das wissenschaftliche Schreiben formalistischen Prinzipien, die teilweise sein Gemachtsein, seine Partikularität, seine Situiertheit und eben auch seine zahlreichen unumgänglichen Ausschlüsse 1 Dass beispielsweise ein medien­ t eilweise verdecken. Für uns sind daher im Folgenden feministische, partikular­ reflexives Schreiben auch zu einem gegenhegemoniale Schreibweisen interessant, die problematisieren, wer für wen anderen Reflektieren führt, hat Katerina Kritlova bei Vilém Flusser und aus welchen Beweggründen schreibt. Wir suchen nach Formen des situierten gezeigt. Vgl. dies.: Medienreflexiv. Schreibens und stellen uns die alte neue Frage: Wie sich (ein)schreiben? Zur Genese eines Verfahrens zwi­ schen Martin Heidegger und Vilém — Flusser, in: Jahrbuch für Medienphilo- sophie, Bd. 1, 2015, 95 – 118. 2 Siehe dazu Odyssee und Nah- Wir stellen uns diese Frage auch anlässlich eines stillen Jubiläums. 2018 lag verkehr, Regie: Martin Schlesinger, es 30 Jahre zurück, dass Donna J. Haraway das Konzept des Situierten Wissens Marius Böttcher, D 2012, online unter vimeo.com/mariusboettcher/ (situated knowledges) 3 vorgeschlagen hat. Während wir zur Vorbereitung dieses odyssee, gesehen am 21.1.2019. Wir Essays Haraways Text besprachen, fragten wir uns ungeduldig: Wann kommt danken Florian Sprenger für diesen und weitere Hinweise zum Text. diese Situiertheit, von der sie so eindringlich spricht? Wann wird die Einsicht 3 Der entscheidende Plural von kommen, dass Objektivität keinen neutralen Standpunkt, sondern Partialität situated knowledges wird beinah unmerklich vom deutschen Singu­ und damit Parteilichkeit (partiality) bedeutet, dass keine einzelne Position die laretantum «Wissen» verschluckt. Vielzahl an anderen übertrumpfen kann? Haraways für Wissenschaftskritik, Bis wir einen passenden Begriff für die Pluralität von Wissen haben, Medienwissenschaft und ästhetische Forschung einschlägiger Text fordert verwenden wir in diesem Essay den eine feministische Reformulierung von Objektivität als Vielzahl von englischen Begriff situated know- ledges. Stephan Trinkhaus hat uns Partikularitäten – und holt in seinem Schreiben diese Forderung selbst ein. dankenswerterweise daran erinnert. WAS UNS ANGEHT 39 NAOMIE GRAMLICH / ANNIKA HAAS Seine Lektüre bringt die Frage auf, wie viele situated knowledges eigentlich im geisteswissenschaftlichen Schreiben stecken und wozu Haraway praktisch auf- ruft.4 Die m ethodologischen Verknüpfungen zwischen akademischem Arbeiten (Schreiben, Publizieren etc.) und Situiertheit aus einer kritisch-feministischen, anti-eurozentristischen Perspektive sind keineswegs neu, und nichtsdestotrotz aktueller denn je.5 Produktiv erscheint es uns, situiertes Schreiben nicht als Kriterium, son- dern als Form feministisch-kritischer Wissenschaftspraxis zu betrachten, die über eine Genealogie vielfältiger Toolboxen verfügt. Wir sind dafür vom Schreibtisch aufgestanden und haben uns ins FFBIZ-Archiv begeben, dem Berliner D okumentations- und Informationszentrum zur Frauenbewegung ab den 1970er Jahren. In Kisten von Briefen, Zeitungsartikeln, Notizzetteln, Berichten, Manifesten, Flyern und alten Zeitschriften fanden wir Archivalien, die, um es in Haraways Worten zu sagen, der realen Welt die Treue halten.6 Einige dieser Bild- und Textfragmente begleiten unseren Essay und erinnern uns daran, wie Schreiben und Publizieren oder eben Nichtschreiben, Nicht- publizieren und Nichtarchivieren mit historisch gewachsenen Machtstrukturen verbunden sind, wie es u. a. Saidiya Hartman, Alice Walker, Audre Lorde oder Virginia Woolf in ihren je unterschiedlichen Weisen untersucht haben.7 Auch Hélène Cixous gehört in diese Reihe. Aus unserer Zusammenarbeit hat sich ein Dialog zwischen ihr und Haraway ergeben, der exemplarisch zeigen soll, wie Situiertheit sich mit weiteren Autor_innen artikulieren kann, sind wir uns doch der Partikularität unserer Perspektive sowie der Tatsache bewusst, dass wir an dieser Stelle den drängenden Fragen nach der Hegemonie von Wissens- produktionen nur begrenzt nachkommen können. Die Form, die wir hierfür gewählt haben, folgt keiner linearen Argumentation, sondern versucht in meh- 4 Vgl. auch den Workshop «Die Cyborg als Methode» mit Karin reren Anläufen und auf den verschiedenen Ebenen der Theoriebausteine und Harrasser bei diffrakt | zentrum für der Pragmatik feministischer Werkzeugkisten, die Situierung im Schreiben zu theoretische peripherie (Berlin) im November 2018. umkreisen und zu problematisieren. 5 Vgl. z. B. Kathrin Busch, Chris­ tina Dörfling, Kathrin Peters, Ildikó Szántó (Hg.): Wessen Wissen? Mate- rialität und Situiertheit in den Künsten, Text-Arbeit Paderborn 2018; AK Feministische Sprachpraxis (Hg.): Feminismus schrei- In enger Verbindung damit steht für uns, die eigene Situiertheit im akademi- ben lernen, Frankfurt / M. 2011. schen Betrieb zu artikulieren. Ausgehend vom Motto dieses Hefts «Was uns 6 Vgl. Donna J. Haraway: Situier­ tes Wissen. Die Wissenschaftsfrage angeht» wurde uns bewusst, wie schwer wir uns damit tun, diese zu benennen. im Feminismus und das Privileg Denn Schreiben beschäftigt uns. Wissenschaft basiert auf Text-Arbeit, Textar- einer partialen Perspektive, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, beit ist Text(en)-als-Arbeit. Bei unseren Treffen zur Vorbereitung dieses Texts Cyborgs und Frauen, Frankfurt / M., haben wir uns unsere Erfahrungen im akademischen Betrieb geschildert und das, New York 1995, 73 – 98, hier 78. 7 Vgl. Saidiya Hartman: Lose your was sich alles geändert hat, seitdem wir Angestellte im öffentlichen Dienst sind. mother, New York 2007; Alice Walker: Wir haben uns erzählt, in welchem sozialen Umfeld wir aufgewachsen sind. Es Auf der Suche nach den Gärten unserer Mütter, München 1987; Audre Lorde: ging um die Arbeitsmoral unserer Elternhäuser und wie sehr sie uns prägt und Sister outsider. Essays and speeches, irritiert, seitdem wir im universitären Betrieb anderen Einstellungen zur Arbeit Berkeley 2007; Virginia Woolf: A Room of One’s Own, Oxford 2000. begegnet sind. Andere Wissenschaftler_innen unterscheiden beispielsweise nach 40 ZfM 20, 1/2019 SITUIERTES SCHREIBEN MIT HARAWAY, CIXOUS UND GRAUEN QUELLEN anderen Kriterien, was Arbeit und was intellektuelles Vergnügen ist, und damit auch, was Priorität hat: das Sitzungsprotokoll oder der eigene Text. Auch die Finanzierung vieler Promotionsstellen basiert auf der Aushandlung jenes Kon- flikts, welche Arbeit doch getan werden müsste – für Publikationsprojekte, Lehr- veranstaltungen, Anträge, Workshops, akademische Selbstverwaltung – und welche genauso wichtig ist, aber oft sarkastisch als ‹Privatvergnügen› bezeichnet wird. Das Privileg, finanziert forschen zu dürfen, wird nicht als Arbeit, sondern als Geschenk, als Selbstverwirklichung gekennzeichnet. Gleichzeitig wird auch ermahnt, mit dieser Zeit verantwortungsvoll umzugehen, die sichtbare Pflicht- arbeit so zu organisieren, dass die Promotion im Unialltag nicht zu kurz kommt, und dann doch oft hinten ansteht. Weil uns die Freiheit fehlt, diese zu priori- sieren? – Weil wir uns die Ansicht selbst erst erstreiten mussten, dass es Arbeit und Existenzweise zugleich sein kann, sich mit Kunst, Kultur und Theorie zu beschäftigen, und dass das von Wert ist, während es für manche keine sichtbare maintenance-Arbeit braucht,8 um das Gefühl zu haben, zu arbeiten. Und das geht nicht nur uns, sondern vielen so. Und trotz oder gerade wegen dieses Umstands, Forschen, Schreiben, Spre- chen, Zuhören, Lehren, Lesen und Diskutieren als legitime Weisen des Arbeitens zu begreifen, beschäftigt uns insbesondere die Frage nach den Arten des akade- mischen Schreibens. Denn einerseits vollzieht sich unser Klassenwechsel auch durch das Nachahmen eines akademisch-bürgerlichen Denk- und Schreibhabi- tus mit seinen stark institutionalisierten Regeln und seiner normalisierten Spra- che. Die Reflexion dieses ‹Lernprozesses› zeigt jedoch, dass damit die Tendenz einhergeht, einen wissenschaftlichen Standpunkt, meist unter Auslassung von Personalpronomen, zu generieren. Vor diesem Hintergrund und in Verschrän- kung mit der Harawaylektüre sind wir auf das Problem gestoßen, was es hie- ße, sich herauszustreichen, wollen jedoch auch nicht einfach unproblematisiert ‹von uns› schreiben. Zwei (Um-)Wege zur Situierung Um uns diesem Problem anzunähern, kehren wir zu den Texten zurück, die uns bis hierher begleitet und uns auf einen Pfad des situierten Schreibens auf- merksam gemacht haben, der immer noch nicht besonders ausgetreten ist, wie kürzlich Sara Ahmed geschrieben hat.9 Haraways Essay «Situated Knowledges» 8 Fragen, die die Einstellung wird im Jahr 1988 veröffentlicht, zu einem Zeitpunkt, als lebhaft über feminis- zur Arbeit betreffen, müssen aus einer intersektionalen Perspektive tische Epistemologie und feministische Objektivitätskritik diskutiert wird. Für angegangen werden. Vgl. hierzu die Protagonist_innen dieser Debatte stehen die nicht einfach zu beantworten- das aktuelle Beispiel des Frauen­ streiks: frauenstreik.org, gesehen den Fragen im Zentrum, ob und wie Frauen – und besonders indigene oder am 29.1.2019. Schwarze Frauen – als marginalisierte Subjekte im Unterschied zu (weißen) 9 Vgl. Sara Ahmed: Feministisch leben! Manifest für Spaßverderberinnen, Männern eine erkenntnisreichere Perspektive einnehmen können. In diese De- Münster 2017, 31. batte um die «‹outsiders within›»10 schaltet sich Haraway ein und schlägt unter 10 Vgl. Sandra Harding: Whose S cience? Whose Knowledge? Thinking Zuhilfenahme von Afrofeministinnen, Chicana- und indigenen Feministinnen from Women’s Lives, Ithaca 1991, 131. WAS UNS ANGEHT 41 NAOMIE GRAMLICH / ANNIKA HAAS vor, dass nicht die partiale Perspektive z. B. der Schwarzen Frau als wahres Wissen zu verabsolutieren, sondern umgekehrt das scheinbar unmarkierte For- schersubjekt als historisch lokalisiert und kulturell-verkörpert zu partialisieren sei. Bekanntermaßen lautet die Schlussfolgerung, dass nur partiale Perspekti- ven, verstanden als eine Vielzahl an verortbaren Stimmen, dem Versprechen nach objektiven knowledges nachkommen. Nur diese polyvokale Objektivität schafft die Möglichkeit für Netzwerke, «die in der Politik Solidarität und in der Epistemologie Diskussionszusammenhänge genannt werden.»11 Hélène Cixous’ Essay «Das Lachen der Medusa»12 macht 1975 ebenfalls auf ein epistemologisches Problem aufmerksam, das schreibend angegangen wird: die Frage nach der Geschlechterdifferenz und welche Rolle sie für die Produktion von Diskurs, also auch Geschichte und Macht, spielt. Cixous af- firmiert ein weibliches Schreiben (écriture féminine), dessen erster Impuls es ist, Frauen zum Schreiben und zur Artikulation ihrer Körper und ihrer Zugän- ge zur Welt zu bringen. Dieser oft als essenzialistisch missverstandene Aufruf beschäftigt sich vor allem mit der Frage, wie Differenz geschrieben werden kann, und macht damit, ausgehend von der Problematisierung von Geschlecht und Diskurs, nicht nur ein Prinzip der Dekonstruktion auf verschiedene W eise wirksam. In Gang gesetzt wird damit ein Schreiben, das einer anderen L ogik als der «männlichen» folgt bzw. den Körper und sein Begehren jenseits des «männlich» attribuierten Zwangs zur «Kontrollnahme» schreiben will.13 Dem unterliegt schließlich eine Kritik an Sigmund Freud, der dem Mann mit Libido im Gegensatz zur Frau als Mangelwesen kulturelles Vermögen und da- mit auch die Fähigkeit zur Sprache zuschreibt.14 Mit Jacques Lacan analysiert Cixous die unterdrückte, verstummte Position der Frau in der symbolischen 11 Haraway: Situiertes Wissen, 82. Ordnung, um, sich davon absetzend, «eine andere Situierung der Frau in Sicht 12 Hélène Cixous: Das Lachen der Medusa, in: Esther Hutfless, Ger­ zu bringen.»15 trude Postl, Elisabeth Schäfer (Hg.): Die folgende, partikulare Retroperspektive auf Cixous’ Text wird hier hin- Hélène Cixous: das Lachen der Medusa: zusammen mit aktuellen Beiträgen, sichtlich eines Dialogs mit Haraways Essay eingenommen, dessen Lektüre übers. v. Claudia Simma, dt. Erst­ ebenfalls unserem spezifischen Interesse an deren Schreibweisen folgt. C ixous ausgabe, Wien 2013, 39 – 61. Zuerst erschienen in: L’Arc, Nr. 61, 1975, und Haraway verbindet, dass sie sich selbst nicht herausschreiben, wenn sie 39 – 54. Frz. Neuauflage: Le rire de la über etwas schreiben. Ihre Schreibweisen artikulieren Partikularität und zei- méduse et autres ironies, Paris 2010. 13 Cixous: Das Lachen der gen, dass ein solches Schreiben, das Sprache nicht einfach als Instrument Medusa, 45. verwendet oder in der zirkulären Spirale von Wortspielen belässt, experimen- 14 Vgl. Eva Waniek: Hélène Cixous. Entlang einer Theorie der Schrift, Wien tell und eigenwillig ist. Ohne dass wir in diesem Essay einen systematischen 1993, 39 – 46. Vergleich zwischen Haraways und Cixous’ Schreibweisen anstreben oder ei- 15 Herta Nagl­Docekal: Femini- stische Philosophie: Ergebnisse, nen Anspruch auf Originalität und Vollständigkeit erheben, folgen wir doch Probleme, Perspektiven, Frankfurt / M. A lyosxa Tudor in der Feststellung: «Nichts mehr auszuprobieren und sich da- 2016, 93, die, wie Waniek, diskutiert inwiefern das ‹gelingt›. mit scheinbar nicht mehr angreifbar zu machen, kann jedoch keine feministi- 16 Alyosxa Tudor: feminismus sche Intervention sein.»16 w_orten lernen. Praktiken kritischer Ver_Ortung in feministischen Wis­ Dabei wird auch deutlich, dass Situiertheit im Sinne von Parteilichkeit, sensproduktionen, in: AK Feministi­ Verkörperung und Ortsgebundenheit nur scheinbar einfach zu praktizie- sche Sprachpraxis (Hg.): Feminismus schreiben lernen, 57 – 100, hier 59. ren ist. Die Forderung nach einer radikalen Situierung von Wissen ist – das 42 ZfM 20, 1/2019 SITUIERTES SCHREIBEN MIT HARAWAY, CIXOUS UND GRAUEN QUELLEN betonen auch die Standpunkttheoretikerinnen Nancy Hartsock und Patricia Hill C ollins – nicht einfach umzusetzen. Und Haraways Anliegen, der «wirkli- chen Welt die Treue [zu] halten» und auf einer zuverlässigeren «besseren Dar- stellung der Welt»17 zu beharren, erklärt sich keineswegs von selbst. Wir führen den Dialog von Cixous und Haraway vor diesem Hintergrund entlang von zwei Fragen, die diskutieren, was situiertes Schreiben konkret heißen kann. Kann unmarkierte Objektivität, z. B. ausgedrückt im Pronomen «man», nicht auch vulnerable Subjektpositionen schützen? Oder wäre der einzig legitime Weg, immer «ich» zu schreiben? Diese Frage zielt auf das epistemologische Problem ab, auf das Haraway auf- merksam macht. Das Privileg, nicht zu benennen, welche Perspektive beim Sprechen, Schreiben, Arbeiten eingenommen wird – und dementsprechend als Objektivität missverstanden werden kann – bezeichnet sie bekannterweise als god trick. Und auch 30 Jahre nach Veröffentlichung ihres Essays scheint das unmarkierte ‹man› immer noch from nowhere herabzuschauen und die Strippen aus sicherer Distanz zu ziehen. Dieser Eindruck stellt sich ein, wenn wir bei- spielsweise den ungewissen Gegenstand der Zukunft in einer mit F uturologien18 allgemeingültig betitelten Anthologie aus weißer, mehrheitlich männlicher Perspektive thematisiert vorfinden, die die universelle Sprache der unmarkier- ten «Futurologien» zu sprechen meint, ohne dies zu problematisieren, und sich ihre Reflexionen über das Zukunftswissen ohne feministische und post- rassistische Perspektiven erschließen. Im Unterschied dazu versammeln sich die situated knowledges zum Afrofuturismus, Schanghaifuturismus und Sino- futurismus unter dem Titel Ethnofuturismen, «einer ketzerischen Neuschöp- fung», wie es auf dem Buchrücken heißt.19 Jedes wissenschaftliche Projekt 17 Haraway: Situiertes Wissen, 78. 18 Vgl. Benjamin Bühler, Stefan hat artikulierte und unsichtbare Grenzen. Haraway zeigt, dass es genau jene Willer (Hg.): Futurologien. Ordnungen blinden Flecken sind, die wir nicht benennen, die auf die eigene Situierung des Zukunftswissens, Paderborn 2016. 19 Vgl. Armen Avanessian, Mahan hinweisen. Ein weiteres, hier ebenfalls nur anskizziertes Beispiel zeigt, dass es Moalemi (Hg.): Ethnofuturismen, im Hinblick auf die Konsequenzen von Wissensproduktion vielmehr darum Berlin 2018. 20 Das veranschaulichen z. B. die geht, Fragestellungen, Phänomene und nicht zuletzt Herausforderungen der künstlerischen Arbeiten von Trevor angewandten Wissenschaft tatsächlich auch mit anderen Perspektiven zu be- Paglen. Vgl. das Panel mit Lisa Parks und Trevor Paglen auf dem Sympo­ trachten. So programmiert das unmarkierte ‹man› immer noch T echnologien, sium «Being material. Invisible», deren Algorithmen Schwarze Menschen als Affen und kurzhaarige Frauen 2017, online unter www.youtube.com/ watch?v=SmHeSEE24sk, gesehen am als Männer (v)erkennen.20 Nicht nur das Silicon Valley bleibt weitgehend der 10.1.2019. Playground der Logik des god trick, «A Total Jizzfest», wie die Künstlerin 21 Vgl. Jennifer Chan: A Total Jizzfest, dort datiert 5.4.2012, Jennifer Chan es nennt.21 vimeo.com/39838174, gesehen am Zurück zum akademischen Diskurs, wo weiterhin Unsicherheit im Umgang 10.1.2019. 22 Notizen der Verf. zum Vortrag mit Partialität und Universalität herrscht: Zu Beginn eines Vortrags im vergan- «Gegenwartskunst, Epistemologie, genen Jahr sprach Tom Holert offen an, wie eine partikulare Selbstpositionie- Wissenspolitik» auf der Konferenz «How To Relate: Appropriation, rung eines weißen Mannes als selbstreflexive, «unselbstverständliche» Geste an- Mediation, Figuration», Universität mutet und nicht nur auf konventionelle Probleme aufmerksam macht, «kritisch der Künste 2018. Vgl. auch Luca Di Blasi: Der weiße Mann. Ein Anti- mit Privilegien umzugehen».22 Und auch wenn Anna L. Tsing in einem Vortrag Manifest, Bielefeld 2013. WAS UNS ANGEHT 43 NAOMIE GRAMLICH / ANNIKA HAAS zum Anthropozän Universalismus und singuläre Zeitlichkeit in Verbindung mit «Man, with capital M, the enlightenment figure», bringt, stößt sie auf Verun- sicherung. Als sie nachschiebt: «[A]nd every time, I use the word ‹Man› just listen for that specifying capital M»,23 ertönt im Publikum ein Lachen: Erleich- terung? Wissendes Wohlwollen? Diese exemplarischen Einblicke aus dem aka- demischen Konferenz- und Publikationsalltag zeigen, dass wir mit Praktiken des Situierens immer noch am Anfang stehen. Dabei trägt genau ein solches Problematisieren zu jener Differenzierung bei, die Cixous 1975 in «Das Lachen der Medusa» im Sinn hat. Es geht darin um ein Schreiben, das «über den, vom phallozentrischen System bestimmten Diskurs»24 hinausführt. Die diskurspolitische Erweiterung des Kanons steht dabei aber nicht an erster Stelle. Weibliches Schreiben wird, so affirmiert sie, an den Grenzen des Diskurses entlangeilend, Effekte z. B. der Pluralisierung zeitigen.25 Eine «mehrdeutige Vielstimme» (équivoix) 26 ist sowohl Beweggrund als auch Effekt dieses Schreibens. Es ist ein Schreiben, das nicht von mir aus- geht, sondern von der Kraft, die «die Andere hervorbringt und von Anderen hervorgebracht wird».27 Aus einem solidarischen Geflecht von Stimmen, das «mich» zum Schreiben bringt, entstehen Texte, die «ich» schreiben, um sich in einem ersten Schritt gegen die Fremdbestimmung durch den Diskurs zu behaupten. Mit Elisabeth Schäfer kann dieses Vorgehen im Sinne einer post- strukturalistischen, dezentrierenden Auffassung des Subjekts betrachtet wer- den, wonach dieses nie völlig transparent ist und folglich nicht «ungebrochen von sich sprechen und nicht restlos zu sich zurückkehren» kann.28 Es (ent)steht immer in Differenz, die ‹in› uns und zwischen uns verläuft. Cixous spricht an anderer Stelle auch von einem «non-closed mix of self / s and others».29 Dass wir uns(erer selbst) nicht sicher sein können, hat auch Konsequenzen dafür, 23 Anna Lowenhaupt Tsing: A Feminist Approach to the Anthro­ was wir wissen können: «I is the open set of the trances of an I by definition pocene. Earth Stalked by Man, changing, mobile, because living-speaking-thinking-dreaming. This truth dort datiert 10.11.2015, www.youtube. com/watch?v=ps8J6a7g_BA, gesehen should moreover make us prudent and modest in our judgements and our defi- am 10.1.2019. nitions.»30 Ihre und Jacques Derridas Konsequenz daraus ist, eine Haltung der 24 Cixous: Das Lachen der Medusa, 47. Demut gegenüber dem Schreiben zu entwickeln: «[L]et us not be the dupe 25 Ebd., 47 f. of logocentric authority».31 Ein jedes Sprechen und Schreiben mit einem mea 26 Ebd., 46. 27 Ebd. culpa zu begleiten, würde diesem Aufruf jedoch nicht gerecht werden. Im 28 Elisabeth Schäfer: Hélène Gegenteil, denn das würde suggerieren, dass ich mir nicht nur meiner selbst Cixous’ Life Writings – Writing a Life. Oder: Das Auto­ / Biogra­ vollständig ‹bewusst› werden könnte, sondern sogar meines Nichtwissens bzw. phische ist nicht privat, in: Jahrbuch der ausstehenden Schuldigkeit meines ‹versicherten› Wissens. In «Das Lachen für Medienphilosophie, Bd. 3, 2017, 81 – 98, hier 84. der Medusa» kommen Differenz und Selbstfremdheit eines nichtautoritären 29 Hélène Cixous: Preface, in: Schreibens und Wissens folglich darin zum Ausdruck, dass es nicht etwa heißt: Susan Sellers (Hg.): The Hélène Cixous Reader, London 1994, xv­xxiii, «Schreibe: ‹ich›!», sondern «Schreib Dich».32 Eine von Körper, Begehren und hier xvii. Unbewußtem gebrochene Reflexivität des Sichschreibens führt in unabge- 30 Ebd. 31 Ebd. schlossene Kreise, die nie bei einem substanziellen Ich ankommen. «Das La- 32 Vgl. z. B. Cixous: Das Lachen chen der Medusa» fordert zunächst nichts weiter, als das zuzulassen und das der Medusa, 44. 33 Ebd. Schreiben des Körpers nicht durch eine zensurierende «Überichstruktur»33 an 44 ZfM 20, 1/2019 SITUIERTES SCHREIBEN MIT HARAWAY, CIXOUS UND GRAUEN QUELLEN den logozentrischen Diskurs anzugleichen, für den das ‹man› stünde. Diese auch stilistischen Differenzen, die besonders mit dem Abstand von über 40 Jahren teilweise dissonant klingen, gilt es auch im eigenen Schreiben, unse- rer «Forschungs- Analyse- und Erleuchtungsarbeit»,34 auszuhalten. Und diese Arbeit gilt umgekehrt auch für die Lektüre und setzt mit dieser ein. In Cixous’ Texten entsteht das Geflecht aus gleichberechtigt auftretenden literarischen, psychoanalytischen und philosophischen Referenzen und Schilderungen an den Schwellen zwischen Traum, Projektion und Wirklichkeit. Das Gefühl, lesen zu können, ‹was da steht›, wird durch die Dehierarchisierung verschie- dener Wissensformen kontinuierlich verunsichert. Eine andere Herangehens- weise an die Texte wird notwendig, z. B. in Form einer poetischen, schreiben- den Annäherung, die geradezu erzwingt, bereits die eigene Lektüre als eine situierte zu betrachten. So stößt mich doch ein Nichtverstehen viel eher auf die Frage, was mich angeht, als ein Text, von dem ich meine, ihn zumindest in Ansätzen ordnen und überblicken zu können. Die eigene Situierung anzuerkennen und zu problematisieren ist ohne Zwei- fel mit Anstrengungen verbunden. Bei Haraway zeigt sich diese weniger stark in der Annäherung an die Andere als im Versuch, Abstand zu nehmen von der unmarkierten Objektivität. Das heißt, in Distanz zu einem wissenschaftlichen System zu gehen, dessen Narrative und Metaphern der Bedeutungsprodukti- on so mächtig geworden sind, dass sie als Deutungsmuster von Wirklichkeit Geltung erlangen. Ein Sprechen, das seinen Standpunkt nicht mitsagt, imitiert und stärkt ein solches System, das sein Gemachtsein, seine Verortung, Partei- lichkeit und damit Verantwortung nicht ausweist. Das heißt jedoch nicht, dass das Bedürfnis nach Schutz im eigenen Schreiben etwas Verkehrtes ist. Situated knowledges lassen sich im Gegenteil als Aufforderung verstehen, Gültigkeit und Bedeutung gerade dadurch herzustellen, dass in der Argumentation benannt wird, bei wem ‹Schutz› gesucht wird. Objektivität durch Partikularität könnte die kontraintuitive Formel heißen. Haraways Texte führen vor, wie wichtig es ist, sich die Begleiter_innen sorgfältig auszusuchen. Ihre Textarchitektur baut nicht mit den soliden Ziegelsteinen der französischen Theoriebildung. Ihre Texte sind und bestehen aus einem unorthodoxen Refugium für fragile Ge- fährt_innen, wie afrofeministische Science-Fiction-Autor_innen, unveröffent- lichte Dissertationen ihrer Studierenden, formale Experimente wie Tabellen, 34 Ebd. Ausgelassene Kommata Listen sowie Anekdoten von Spaziergängen mit ihrer Hündin. «I’m not alone sind Teil von Cixous’ Schreibweise, and it turns out I’m not alone in some.»35 Dafür sind ihre Texte der lebendige die von Claudia Simma mitübersetzt wurde und sich in diesem Text auch Beweis. Wem die Verschwisterung mit mehr-als-textlichen Begleiter_innen zu in weiteren Zitaten findet. weit geht, die_der kann von dieser Praxis des Schreibens trotzdem etwas darü- 35 Joseph Schneider: Conversa­ tions with Donna Haraway, in: ders.: ber lernen, wer in unseren gegenwärtigen Diskurspolitiken eine zitierbare Au- Donna Haraway. Live Theory, New York torität ist: Weiße Cis-Theoretiker oder Hausarbeiten und / oder Gespräche von 2005, 114 – 157, hier 119. 36 Und auch wir haben diese und mit Freund_innen?36 für diesen Artikel geführt, z. B. mit Besonders für feministische Wissenschaftler_innen bedeutet, Referenzen an- Irmgard Schultz , Mitbegründerin des Instituts für sozial­ökologische zuführen, sich in einem Netz besonders fragiler Partikularitäten zu stabilisieren, Forschung in Frankfurt / M. WAS UNS ANGEHT 45 NAOMIE GRAMLICH / ANNIKA HAAS 46 ZfM 20, 1/2019 SITUIERTES SCHREIBEN MIT HARAWAY, CIXOUS UND GRAUEN QUELLEN um damit das Netz der Partikularitäten zu festigen und damit die Persistenz feministischer Theoriebildung aufzuzeigen. Denn: «Es muß nicht alles von vor- ne angefangen werden.»37 Weder ist das Pronomen «ich» allein 38 noch ist das «wir» nur eine undifferenzierte Verallgemeinerung. Im Schreiben gegen das mächtige Deutungssystem der Technoscience sagt Haraway: «I don’t think this is merely me speaking. I think that we have these dilemmas, and that this ‹we› is an invitation. […] It is a rhetorical form that is a gesture of … ‹we› as a kind of future tense of pronoun.»39 Haraways Texte lassen sich als anhaltende Forderung verstehen, «Methoden für die Analyse und Herstellung von Technologien [zu] finden, die zu einem Leben führen, wie wir es alle wollen, ohne Herrschaft vermittels Rasse, Ge- schlecht und Klasse».40 Ironie mischt sich in ihren methodischen Erzähltech- niken – «mit kleinem ‹m›»41 – mit Ernsthaftigkeit, Spekulation und Science Fiction mit natur- und sozialwissenschaftlichen knowledges, Vergangenes mit Zukünftigem und das Strukturelle mit biografischen Anekdoten. Wie könnte eine materialistisch gewendete Lesart vom situierten Schreiben bzw. feministisches Schreiben aussehen? Die Frage nach Körper, Natur und Materialismus ist bei Haraway immer an Sprache und Erzählweise gebunden. Wie die stoffliche Welt zu verschiede- nen Zeiten und an unterschiedlichen Orten z. B. narrativ oder visuell kon- zeptualisiert und technowissenschaftlich angeeignet wurde, führt wiederum 37 Haraway: Situiertes Wissen, 86. 38 Im Companion Species Manifesto zu Rückkopplungseffekten in der stofflichen Welt. Diese gegenseitige macht- (2003), in dem Haraway von der volle Kopplung von Welt und Sprache beschreibt Haraway als materiell- persönlichen Beziehung mit ihrer Hündin ausgehend eine Theorie der semiotisch.42 Im Materialkonvolut des FFBIZs fanden wir zu den Stichwörtern artenübergreifenden Verbundenheit «Frauenverlage» und «Frauenbuchladen» Materialien, die sich als Fortfüh- entwirft, sieht Karin Harrasser die Grenzen situierten Wissens: «Wenn rung des materiell-semiotischen Knotens, welcher feministisches Schreiben die grundsätzliche Haltung der Tier­ als weltliche Praxis versteht, denken lassen. Die seit Ende der 1970er gegrün- liebe nicht geteilt wird, erscheinen die Argumente und Geschichten deten Frauenverlage begreifen das situiert-feministische Moment als Arbeit, überzogen und lassen sich nur die nicht nur am Schreibtisch sitzend verrichtet wird. Wir möchten mit zwei begrenzt auf andere wissenschaft­ liche und gesellschaftliche Felder Zitaten veranschaulichen, welche Interventionen feministische Verlage und übertragen.» Dies.: Donna Haraway. Buchläden, beispielsweise der Berliner Amazonen-Verlag, unternommen Natur­Kulturen und die Faktizität der Figuration, in: Stephan Moebius haben, um die Trennung von Denken / Korrigieren, Schreiben / Publizieren (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart, und somit letztendlich Produzieren / Reproduzieren zu unterwandern. In ei- Wiesbaden 2011, 580 – 594, hier 582. 39 Schneider: Conversations with nem Statement zur internationalen Konferenz feministischer Verlage im Jahr Donna Haraway, 116 f. 1978 lesen wir: 40 Ingo Arend: Neuauflage von Donna Haraways Essays. Ein Kabel als Nabelschnur, in: taz, 2.9.2017, Feministische Verlage entstanden und entstehen aus der Frauenbewegung, sind Be- online unter www.taz.de/!5443834/, gesehen am 10.1.2019. standteil und ein Ausdruck dieser Bewegung […] Da wir Bestandteil der Frauen- 41 Astrid Deuber­Mankowsky: bewegung sind, publizieren wir nicht aus verlegerischem Interesse am Selbstzweck, Diffraktion statt Reflexion. Zu Donna was sich sowohl auf unsere Einstellung zu Büchern als auch auf unsere Arbeitsweise Haraways Konzept des situierten auswirkt […] Weil wir Autorinnen und Übersetzerinnen nicht unsere Ansichten auf- Wissens, in: Zeitschrift für Medienwis- senschaft, Nr. 4, 2011, 83 – 91, hier 88. zwingen wollen, erleben wir unsere Zusammenarbeit als Austausch von Ideen und 42 Siehe auch Harasser: Donna Erfahrungen und in diesem Sinn als ein Verlassen der alten Struktur: Hier die Idee, Haraway, 584. WAS UNS ANGEHT 47 NAOMIE GRAMLICH / ANNIKA HAAS dort die Materialisierung. Konkret: Änderungen im Manuskript erfolgen stets nur nach Absprache mit der Autorin […] Unser Interesse gilt dem Inhalt, der Aussage, der Erfahrung, die durch ein Buch in den gesamten Prozess der Kommunikation einfließen kann.43 43 Frauen lesen Frauen – Frauen Aus dem Jahr 1977, also ein Jahr vor diesem Statement, finden wir einen kurzen schreiben Frauen – Frauen publizie­ Artikel, der von einer Buchvorstellung im Amazonen-Verlag berichtet. Es heißt ren Frauen – Frauen lieben Frauen, Statement­Papier der Internati­ dort: «Es sieht aus, als kämen wir ganz schön voran: 2 Frauenverlage, 1 Frauen- onalen Konferenz feministischer vertrieb. Leider liegt das Drucken noch nicht ganz in unseren Händen, der Verlage, 14.–16. Oktober 1978 in München, aus: FFBIZ­Archiv. Viva-Frauendruck Berlin führt bisher nur die Repros aus, der Druck bleibt 44 Anlass des Berichts ist die noch Männern überlassen.»44 Die Vorstellung von «einer guten, großen Druck- Übersetzung von Jill Johnstons Lesbian Nation. The Feminist Solution. maschine», von «einer Frauendruckerei», wie es weiter heißt, ist in dieses Vgl. Zärtliche Amazonen. Über politische Projekt vom feministischen Schreiben der späten 1970er Jahre ein- den Abend des Amazonen­Verlags im Lesbenzentrum anläßlich gelassen. Hier heißt feministisches Schreiben auch feministisches Publizieren: der Buchmesse, 1977. Ohne Ort Feministische Ansichten begleiten als kritisch-methodische Denkweisen ge- und Nennung der Autorin, aus: FFBIZ­Archiv. nauso wie als kapitalismuskritische Arbeitsweisen jeden einzelnen Schritt der 45 Cixous: Das Lachen der Produktion feministischer Inhalte. Medusa, 41. 46 Haraway: Situiertes Wissen, 93. «Schreib, […] nichts soll dich aufhalten. Weder Mann, noch blöde kapita- 47 Die Medusa, halb Mythos, halb listische Maschinerie in der die Verlagshäuser listig und unterwürfig die Impe- Spinne, ist eine der Figuren, die Haraway kürzlich für ihr Konzept des rative einer Wirtschaft vertreten, die gegen uns und auf unsere Kosten funkti- Chthuluzän aufgerufen hat: «Bitten oniert, noch Du selbst,» schreibt Cixous und spricht im Anschluss davon, wie in a California redwood forest by spidery Pimoa chthulhu, I want to «Texte mit Frauengeschlechtern», getreu der Freud’schen Interpretation des propose snaky Medusa and the many Medusenmythos, den Vertretern dieses Systems Angst machen.45 Sie reagiert unfinished worldings of her antece­ dents, affiliates, and descendants. darauf auch institutionspolitisch. Als Schriftstellerin bereits etabliert (1969 hat Perhaps Medusa, the only mortal sie den Prix Médicis für ihren Roman Dedans bekommen), publiziert sie ab Gorgon, can bring us into the holobiomes of Terrapolis and 1975 ihre Monografien nur noch in der Éditions des femmes von Antoinette heighten our chances for dashing Fouque. 1974 gründet sie das erste europäische Doktoratsprogramm für Femi- the twenty­first­century ships of the Heroes on a living coral reef instead nistische Studien an der Reformuniversität Vincennes (heute Paris 8) und gibt of allowing them to suck the last damit Geschlecht als relevanter Denkkategorie einen Ort und Raum. drop of fossil flesh out of dead rock.» Donna J. Haraway: Staying with the Und im Text? Wenn Haraway schreibt: «Situiertes Wissen erfordert, daß das trouble. Making Kin in the Chthulucene, Wissensobjekt als Akteur und Agent vorgestellt wird und nicht als Leinwand Durham, London 2016, 52. 48 Ebd., 94. oder Grundlage oder Ressource»,46 so ist die Medusa eine jener Mythen, die 49 Vgl. Elisabeth Schäfer, Claudia beide als nützlich betrachten,47 um in «nicht-unschuldige Konversationen» mit Simma: Medusas ‹Changeance›. Ein Interview mit Hélène Cixous, in: der Welt als «aktives Subjekt»48 zu treten. Cixous’ Text beschäftigt sich folglich Hutfless u. a.: Hélène Cixous, 182 – 186. nicht in erster Linie mit dem Streit zwischen Gleichheits- und Differenzfemi- 50 Cixous: Das Lachen der Medusa, 48. nistinnen ihrer Zeit, sondern betrachtet Geschlecht als in changeance begriffen: 49 51 Haraway: Situiertes Wissen, 95. angesiedelt im Verhältnis, im «unablässigen Austausch des Einen zwischenmit 52 Cixous: Das Lachen der Medusa, 49. [sic] dem Anderen», in «tausend Begegnungen und Verwandlungen des Sel- 53 Ebd., 43. ben ins Andere und ins Zwischen, aus dem die Frau ihre Formen schöpft».50 54 Vgl. Schäfer: Hélène Cixous’ Life Writings, 91, oder auch Anne Auf diese Art und Weise de-konstituiert sich quasi das «Wissensobjekt» Ge- E. Berger, die von der Frau in «Das schlecht und entzieht sich durch die Materialität des Körpers als genuinem Lachen der Medusa» als einer Ankommenden spricht, dies.: Die Teil des Schreibens einer objektivierenden Bestimmung und Begrifflichkeit. Erfindung der écriture féminine, Das Schreiben des Körpers wird damit zur widerständigen Praxis – auch gegen übers. v. Esther von der Osten, unveröffentlicht. die weltlichen Mechanismen seiner Unterdrückung. Im Unterschied zu diesen 48 ZfM 20, 1/2019 SITUIERTES SCHREIBEN MIT HARAWAY, CIXOUS UND GRAUEN QUELLEN gesteht ein solches Schreiben ein zu begehren, sodass jede Aussage als «situierte A useinandersetzung»51 im Haraway’schen Sinne verstanden werden kann, indem 55 Den damit verbundenen sich der Körper als situierter artikuliert. Derart wird Geschlecht zum sich wan- affirmativen Gestus teilt auch Harun delnden Produkt von «Einschreibewirkungen des Begehrens, auf allen Teilen Farocki, der 1975 einige Punkte zur Gründung einer «Bilderbibliothek» meines und des anderen Körpers».52 Die «Möglichkeit selbst der Veränderung» auflistete, die dokumentarisches ist für Cixous die Schrift.53 Cixous’ Weg führt also nicht über die Produktion Material «zur Untersuchung der Ge­ genwart, zukünftig der Vergangen­ e igener grauer Literatur, sondern Medusa ermöglicht es, zu fiktionalisieren, da- heit», sammeln und «produzieren» mit männlich-objektiven Zuschreibungen zu entgehen und neue politische Sub- sollte, «was es noch nicht gibt.» Ders.: Was getan werden soll. Doku­ jekte zu entwerfen – und auf deren Zukünftigkeit zu spekulieren.54 ment, Kommentar, Material, hg. v. Harun Farocki Institut, Berlin 2017. 56 Vgl. Sara Ahmed: Queer P henomenology. Orientations, Objects, Was getan werden soll: einen Problemkatalog beginnen Others, Durham, London 2006, 3. Sie beschreibt anhand der Schreib­ Diese alles andere als vollständige Zusammenschau, die mögliche Wege von szene Edmund Husserls, welche situated knowledges zu situiertem Schreiben nachverfolgt hat, beenden wir an körperliche wie epistemologische Ausrichtung (orientation) der Philo­ dieser Stelle mit einem Problemkatalog, der in der Tradition feministischer sophie damit nahegelegt wird: Sie Toolboxen steht.55 Denn der Blick zurück zeigt auch, dass das Hinterfragen sitzt am Tisch und denkt über die Welt nach. nicht notwendigerweise zu einer anderen Epistemologie führt. Zudem müs- 57 Vgl. Ahmed: Feministisch Leben!, sen kritische Konsequenzen gezogen werden – und das immer wieder neu. 301 – 320. 58 Vgl. Audre Lorde: The Master’s Auch die Aufmerksamkeit dafür, wie sich die Situiertheit im Schreiben for- Tools will never dismantle the muliert bzw. wie Schreiben auf Situiertheit reagiert, kommt nicht erst bei Ha- Master’s House, in: dies.: Sister outsider. Essays and speeches, Berkeley raway auf. Wie Sara Ahmed mit Ann Bannfield beobachtet, ist die Philosophie 2007, 110 – 114. voller Schreibtische, von denen aus die «wirkliche Welt» betrachtet wird, 59 Siehe z. B. Toolbox für Gender und Diversity in der Lehre, online ohne all das mitzubedenken, was es ermöglicht, am Schreibtisch zu sitzen.56 unter www.genderdiversitylehre. Neben Sara Ahmed, die kürzlich ihre Idee der «Survival Box»57 vorstellte, ist fu-berlin.de/toolbox/index.html; Daniela Döring, Hannah Fitsch: Fragebogen Audre Lorde eine wichtige Erfinderin von Werkzeugen, wenn es darum geht, der Untersuchung GENDER TECH­ hegemoniale Denkgebäude und routinierte Methoden zu verunsichern.58 In NIK MUSEUM. Strategien für eine geschlechtergerechte Museumspra­ den letzten Jahren finden sich vermehrt ganz konkrete Umsetzungen der xis, in: dies. (Hg.): Gender; Technik; feministischen Tradition, Werkzeugkisten zu erstellen. Oft in Zusammenar- Museum: Strategien für eine geschlech- tergerechte Museumspraxis, Berlin beit mit universitärer Gleichstellungs- und Diversitätsarbeit entstanden z. B. 2016, 103 – 115, online unter www. Toolboxen für gender- und diversitätsbewusste Hochschullehre, geschlech- gendertechnikmuseum.de/downloads/01_ GTM_Einfuehrung-Doering-Fitsch.pdf, tersensibles Sprechen oder geschlechtergerechte Ausstellungspraxis.59 Im Un- alles gesehen am 10.1.2019. terschied zu diesen Werkzeugkisten ist unser «Problemkatalog» kein direkt 60 Vgl. Ahmed: Feministisch Leben!, 30. umsetzbarer Leitfaden, sondern als Anreiz zu einer erneuten feministischen 61 Dies wäre ein erster Schritt, Methodendiskussion zu verstehen. verbunden mit ihrer Digitalisierung, um sie im globalen OPAC auffind­ bar zu halten. Spezifische Datenban­ Feministische Genealogien (an)erkennen: ken sind z. B. das Digitale Deutsche Frauenarchiv: www.digitales- In Haraways Referenzen wimmelt es von verlorenen oder schwer zugängli- deutsches-frauenarchiv.de, der META­ chen Quellen, wenig zitierten Autor_innen, von Personen ohne Lehrstühle, Katalog der deutschsprachigen Frauen / Lesbenarchive, ­bibliotheken deren Dissertationen weder gedruckt noch digitalisiert wurden (Katie King, und ­dokumentationsstellen: www. Zoë Sofoulis etc.). Die undeutlich gewordenen Trampelpfade 60 feministischer meta-katalog.eu, das GenderArtNet, dokumentiert unter constantvzw.org/ Theoriebildung recherchierbar zu machen, ist zunächst an praktische Parame- site/-GenderArtNet-.html?lang=en, ter geknüpft: Zahlreiche Manuskripte, Flugschriften, Manifeste und Magazine oder das Gender­Repositorium: www.genderopen.de, alles gesehen am sind graue Literatur, das heißt, sie sind nicht mit einer ISBN o. Ä. registriert.61 29.11.2018. WAS UNS ANGEHT 49 NAOMIE GRAMLICH / ANNIKA HAAS Diese (Zer-)Streuung der Referenzen deutet auf eine Theoriebildung hin, die sich nicht in zentralen Institutionen, sondern an unterschiedlichen Orten und in verschiedenen Gruppen vollzogen hat.62 Diese nichtkanonisierten Genea- logien zeigen, dass sich der wissenschaftliche Anspruch auf Neuheit im femi- nistischen Diskurs anders stellt. Das ‹Alte› ist nicht als solches zu überkom- men, sondern schaltet sich in die Forderung ein, Teil der Zukunft zu sein. Wir sind Lenore Hoffmans Aufforderung gefolgt und haben eine exemplarische Recherche nach dem Prinzip «Recover and Regionality» im FFBIZ betrie- ben.63 Der Blick zurück zeigt, wie problematisch es ist, feministische Kämp- fe in sich ablösenden ‹Wellen› zu denken.64 Er zeigt gleichzeitig jedoch auch, dass in einem solchen generationenübergreifenden Projekt Schnittstellen und Anschlüsse erst wiederge- und erfunden werden müssen. Die von uns ausge- werteten Archivkisten des FFBIZs dokumentieren einen partikularen Feminis- mus: Er ist vor allem weiß, er spricht einfaches Schulenglisch, er ist lesbisch und nicht queer, er spricht nicht von Cis- und Trans*-Frauen, ihn beschäftigt die Frage nach den sozialen Herkünften seiner Mitstreiterinnen, er nutzt zur Fortbewegung keine Mensch-Technik-Verschaltungen, sondern Hexenbesen aus Buchenholz. Trotz dieser aus heutiger Sicht unübersehbaren, unzurei- chend thematisierten ‹blinden Flecken› ist er rebellisch, aufmüpfig, witzig und ungemein bestärkend. Gemeinsam lachen können, auch über sich selbst: Es ist für einige nur auf den zweiten Blick zu erkennen, aber das Lachen spielt für viele Feminist_innen eine nicht unwichtige Rolle. Humor kann als Privileg verstanden werden, über das nicht alle gleichermaßen verfügen. Was als ko- misch empfunden wird, ist ebenso eine Frage des Kontexts. Auch humorvoll zu schreiben heißt also, sich mit- und einzuschreiben. Auch wenn über jemanden zu lachen ein Ausdruck von Macht sein kann, gehört für Ahmed zur «feminis- 62 Vgl. Alex Martinis Roe: To Become Two. Propositions for Feminist tischen Killjoy» ihr Lachen – um dem hegemonialen Humor den Garaus zu Collective Practice, Berlin 2018. machen. Trotz oder gerade wegen der notwendigen Ernsthaftigkeit, Feminist_ 63 Vgl. Lenore Hoffman (Hg.): Teaching Women’s Literature from a in zu sein, lacht Ahmed, um zu bestätigen, dass die Absurditäten dieser Welt Regional Perspective, New York 1982. gemeinsam geteilt werden und dass auch andere dieselben Machtbeziehungen 64 Vgl. Clare Hemmings: Why Stories Matter. The Political Grammar of verstehen.65 Cixous’ Medusa lacht vor lauter Ungeheuerlichkeit dieser Zustän- Feminist Theory, Durham 2011. de und Freuds Zuschreibung zum Trotz, sie sei monströs und verstörend.66 Ihr 65 Vgl. Ahmed: Feministisch Leben!, 314. Lachen ist abgründig, erschütternd und bringt die Ordnung durcheinander. Es 66 Mit «Das Lächeln der Medusa» zieht sich als subversive Bewegung durch den Essay und wird zur ermutigenden wurde ein Heft mit ersten ins Deutsche übersetzten Auszügen Bewegung, sich über Bestehendes, auch Phallisches, hinwegzusetzen, es einfach geradezu sanft subversiv übertitelt. auch mal auszulachen. Für Haraway wiederum erfüllt Ironie die Aufgabe, Wi- Vgl. alternative, Nr. 19, H. 108 / 109: Das Lächeln der Medusa. Frauen­ dersprüche und Spannungen zwischen inkompatiblen Dingen aufrechtzuerhal- bewegung / Sprache / Psychoana lyse, ten und nicht einfach in zu simplen Lösungen verschwinden zu lassen. Um ihr 1976. 67 Donna J. Haraway, Thyrza Verständnis von Ironie als «humor and serious play»67 zum Ausdruck zu brin- Nichols Goodeve: How Like a Leaf. gen und um außerhalb der gesetzten Matrix mehr und anderes über die Tier- An Interview with Donna Haraway, New York 2000, 173. Mensch-Technik-Beziehungen zu erfahren, scheut sie nicht davor zurück, sich 50 ZfM 20, 1/2019 SITUIERTES SCHREIBEN MIT HARAWAY, CIXOUS UND GRAUEN QUELLEN WAS UNS ANGEHT 51 NAOMIE GRAMLICH / ANNIKA HAAS selbst in den Augen anderer zu blamieren. So wartet sie schon seit den 1980er Jahren mit ihren teilweise extrem körperinvolvierenden Praktiken der Situie- rung auf, die nur bedingt für jede_n in Frage kommen: Sie spricht frei heraus über die feuchten Küsse ihrer Hündin Cayenne Pepper und sitzt mit Gorilla- masken tragenden Menschen zusammen im bunt geschmückten Fernsehstudio des Paper Tigers,68 während sie wortwörtlich das Netz der bedeutungsvollen Herstellung von Natur entwirrt. . . . Unseren Essay beschließen wir mit dem Beginn einer unvollständigen L iste, die überdacht, ausge- oder verschnitten werden kann. Wir laden dazu ein, sie zu ergänzen, um- oder auszuformulieren und / oder mit uns in Kontakt zu treten. Uns ging und geht es darum, die Artikulation der eigenen Situiertheit im akademischen Schreiben und Sprechen als ein zentrales und offenes Aus- 68 Paper Tiger Television ist ein offener, gemeinnütziger, Non­Profit­ handlungsfeld von wissenschaftlichen knowledges zu benennen. Statt sich mit Videokanal. Vgl. Donna Haraway reads Antworten zufriedenzugeben, die eine Schließung dieses Feldes bedeuten wür- «The National Geographic» on Primates, 1987, online unter papertiger.org/ den, sollten aus unserer Sicht mögliche Lösungen auch einer Problematisie- donna-haraway-reads-the-national- rung unterzogen werden, um andere Perspektiven einnehmen oder zumindest geographic-on-primates/, gesehen am 10.1.2019. die blinden Flecken der eigenen anerkennen zu können. — 52 ZfM 20, 1/2019 L E N A A P P E N Z E L L E R / PA O L O C A F F O N I und J A N I N E S A C K im Gespräch mit P E T R A L Ö F F L E R und K AT H R I N P E T E R S HEFTE MACHEN — Ein Round Table über Grafikdesign, E-Publishing und die ZfM-Produktion Zeitschriften sind höchst materielle Angelegenheiten, die gestaltet, produziert und vertrieben werden. Welche digitalen und analogen Arbeitsprozesse sind da­ mit verbunden? Welche Medien der Gestaltung und Politiken des Publizierens verfolgen wir? Darüber unterhalten sich Petra Löffler und Kathrin Peters mit Lena Appenzeller, selbständige Grafikdesignerin mit Schwerpunkt Printmedien und Gestalterin der ZfM, Paolo Caffoni, der zusammen mit Chiara Figone mit Archive Books nicht nur einen Verlag, sondern auch eine kollaborative Plattform betreibt, und Janine Sack, Künstlerin und Grafikerin, die den digitalen Verlag EECLECTIC gegründet und als Editorial Designerin für den Freitag, die taz u. a. gearbeitet hat. Das Gespräch fand im Februar 2019, während der Produktions­ phase von Heft 20, in Berlin bei Lena Appenzeller und Janine Sack statt, die sich ein Büro teilen. — Kathrin Peters Das 20. Heft der ZfM ist eine besondere Ausgabe. Es ist ein Jubiläumsheft. Unser Thema heißt: «Was uns angeht», und das ist auch eine Form des Selbstgesprächs, welches die Zeitschrift führt, ein Gespräch mit sich und anderen. Eine Idee dabei war, den Produktionsprozess der Zeit- schrift in der Zeitschrift zu thematisieren, weil uns das etwas angeht im ganz praktischen Sinn: Wir realisieren zweimal im Jahr eine Ausgabe, und das ist keine unaufwändige Angelegenheit. Lena, du siehst das sicher ähnlich. Wie viele Ausgaben hast du bisher als Grafikerin betreut? Lena Appenzeller 13 Ausgaben, ich bin also seit über sechs Jahren dabei. K. P. Lena ist Teil unserer erweiterten Redaktion, denn wir arbeiten in der Produktionsphase sehr eng zusammen. Und wir haben dir eben gerade schon Fragen gestellt, die wir immer an dich haben: Wie viele Seiten hat das nächste Heft? Wann ist die allerletzte Deadline? Also, wenn man so eine WAS UNS ANGEHT 53 LENA APPENZELLER / PAOLO CAFFONI / JANINE SACK | PETRA LÖFFLER / KATHRIN PETERS Abb. 1 Korrekturfahnen der Zeitschrift herausgibt, verhandelt man ja dauernd Deadlines. Mit den Autor_ 2. Ausgabe der Zeitschrift für innen, innerhalb der Redaktion. Redaktionsassistentin und Grafikerin haben Medienwissenschaft, 2010 noch mal andere Deadlines … Abb. 2 Zeitschrift für Medien­ L. A. Willst du das wirklich verraten? wissenschaft Nr. 3 – 10 K. P. Wir verhandeln Deadlines miteinander und müssen uns auch ständig ge- genseitig irgendwelche Spielräume verschaffen. L. A. Naja, ich warte ja immer erst mal, bis ich die Texte bekomme, dann schaue ich mir die an und entdecke Fehlerquellen. Ich überprüfe die Bilder und dann fange ich an, die Texte zu setzen. Bei einer wissenschaftlichen Publikation gibt es natürlich sehr viel Detailarbeit, Frickelei mit Fußnoten und verschiedenen Auszeichnungen, was mir sehr viel Spaß macht. K. P. Wir sind als wissenschaftliche Publikation sehr daran interessiert, eine sorgfältige Gestaltung zu haben, also überhaupt ein Grafikdesign. Wissen- schaftliche Publikationen haben häufig nur Standardlayouts und es wird aus den Word-Dokumenten gedruckt, die die Autor_innen liefern. Das ist dann eine Gestaltung, die die Software vorgibt. Uns war es wichtig, dass wir das Medium Zeitschrift selbst auch thematisieren als gedrucktes Heft. Wir l egen daher Wert darauf, dass jedes Heft in sich funktioniert, mit Layouts für spe- zifische Textsorten, mit einem Ablauf und Übergängen zwischen den Rub- riken. Es geht dann oft um Sonderlösungen, die wir für Textformate oder Bild-Text-Kombinationen entwickeln. L. A. Genau, es gibt Standards und Sonderlösungen. Also die ZfM ist schon ein sehr inhaltlich getriebenes Heft. Es gibt die Lesetypografie, die eigentlich sehr zurückgenommen ist, und dann gibt es diese starke Typografie, die oben drauf kommt, die auszeichnet, mit der wir auch öfters spielen, genauso wie mit der Farbe oder in der Bildstrecke. Das funktioniert ein bisschen anders als bei einer üblichen wissenschaftlichen Publikation. Die Farbe des Covers trifft sich mit der Mitte des Hefts. Also im Schwarz-Weiß der gedruckten Texte taucht auf einmal die Bildstrecke auf, das Herzstück eigentlich. 54 ZfM 20, 1/2019 HEFTE MACHEN K. P. Aufgrund immer wieder auftretender Geldknappheit gab es schon den Vorschlag, die Bildstrecke zu streichen. Die Bildstre- cke präsentiert künstlerische oder gestalterische Beschäftigun- gen mit Bildsammlungen und -archiven. Die Seiten werden auf einem anderen Papier als der Rest der Zeitschrift und vierfarbig gedruckt, das kostet etwas. Aber wenn es darum geht, die Bild- strecke zu streichen, sagen immer alle nein. L. A. Nein! K. P. Die Redaktion sagt nein, der Vorstand der Gesellschaft für Medienwissenschaft, die das Heft zu großen Teilen finanziert, sagt, lieber nicht, du sagst sowieso nein. Die Bildstrecke ist unheimlich wichtig, weil sie das Heft erschließt. L. A. Sie strukturiert es in zwei Teile, den thematischen Teil am Anfang und den kleinteiligeren Rubrikenteil am Ende des Hefts. Petra Löffler Es gibt auch eine Kontinuität der Innencover, die wir ebenfalls als Bildteil betrachten. Wir hatten uns entschie- den, die Cover nur einfarbig zu gestalten, also da keine B ilder zu verwenden, Abb. 3 Korrekturfahne der aber im vorderen Innencover Illustrationen oder Abbildungen aus den ein- 3. Ausgabe der Zeitschrift für Medienwissenschaft, 2010 zelnen Texten noch mal zu e inem eigenen Bildteil anzuordnen. L. A. Ich fand das immer gut, um ins Heft reinzukommen. K. P. Das war ein Vorschlag von Stephan Fiedler, der 2008 die Grundgestal- tung gemacht hat. Wir haben uns damals tatsächlich gegen ein Bild auf dem Cover entschieden, weil wir befürchteten, uns jeweils nicht einigen zu kön- nen, welches Bild wir nehmen. Welches Motiv könnte schon für ein ganzes Heft einstehen? Ein typografisches Cover ist natürlich klassisch für wissen- schaftliche Zeitschriften. Der Grafiker hatte dann den Vorschlag, eine Bild- collage im Innencover zu machen. L. A. Am Anfang war das immer recht illustrativ, dann haben wir irgendwann ein Raster entwickelt, das die ganze Fläche bespielt. Mit Heft 18 habe ich wieder angefangen, ein bisschen freier mit der Montage der Bilder umzugehen. Oft sind die Abbildungen in den Texten kleinformatig, es sind ja eher Referenzbil- der. Manchmal merke ich aber, dass ich die schön kombinieren kann, weil gute Bilder dabei sind. Und daraus baue ich einzelne Bildseiten. P. L. Das gefällt mir auch nach wie vor sehr gut als eine visuelle Argumenta- tion, die sich durch das Heft zieht. Und wir haben auch für die Reviews eine gestalterische Lösung entwickelt. Dort gibt es Icons, Diagramme, also auch Bildelemente, die grafisch sind. Und du hast teilweise ja auch Sachen dafür entworfen wie z. B. für die Medienökologien-Ausgabe. L. A. Ja genau, ich habe auch ab und an selbst gezeichnet. In dem Fall Pseudo- diagramme. Wir hatten nichts Passendes für die Reviews gefunden. Ich habe die Diagramme dann durchgepaust, damit es nicht so technisch aussieht, son- dern tatsächlich einen Handmade-Charakter bekommt. WAS UNS ANGEHT 55 LENA APPENZELLER / PAOLO CAFFONI / JANINE SACK | PETRA LÖFFLER / KATHRIN PETERS K. P. Das war auch eine der Entscheidungen, die wir anfangs getroffen haben, dass wir die Buchbesprechungen eben nicht so illustrieren, wie das häufig gemacht wird, nämlich die Cover der besprochenen Bücher abzubilden. Wir haben ausprobiert, Strichzeichnungen zwischen die Reviews zu setzen, sie dadurch miteinander zu verbinden und die Textspalten zu strukturieren. Wir haben das dann beibehalten und damit auch noch einmal eine weitere Bildebene in jedem Heft. Jetzt, für das nächste Heft, in dem dieses Gespräch erscheint, hat Annika Haas, unsere Redaktionsassistentin, schöne Seetiere rausgesucht. L. A. Hauptsächlich Quallen, glaube ich. K. P. Ich würde gerne noch genauer wissen, Lena, wie du diese Unterschiede beim Gestalten einer wissenschaftlichen Zeitschrift siehst im Vergleich zu den anderen Zeitschriften, die du gemacht hast. Würdest Du bestimmte Un- terschiede hervorheben? L. A. Ja, es ist eher textliche Detailarbeit. Ich gucke mehr in den Text mit seinen Auszeichnungen, mit den Verweisen und Zitaten. K. P. Und das ist so ein typografisches Universum, das sich öffnet, das sonst in Zeitschriften eher weniger wichtig ist? L. A. Man zeichnet ja immer irgendwie aus. Aber in einer wissenschaftlichen Pu- blikation muss es schon so realisiert werden, wie es sich die Person, die den Text geschrieben hat, gedacht hat. Da die Zeitschrift so textgetrieben ist, ist es sehr wichtig, dass es einfach gut lesbar ist. P. L. Der Text hat immer Vorrang. Ich finde, da unterscheiden sich die ver- schiedenen Formate und gerade das journalistische Arbeiten extrem von je- der Art von Künstlerpublikation oder wissenschaftlicher Publikation, dass man mit Text anders umgeht. K. P. Es gibt auch bei uns immer mal wieder Situationen, in denen wir den Text etwas kürzen, einen Absatz streichen müssen wegen eines Seitenum- bruchs z. B. Oder Überschriften sind zu kürzen, schlicht aufgrund von Zei- lenlängen und Umbrüchen. Daran hängen dann inhaltliche Fragen und auch solche zum Selbstverständnis als Autor_in. L. A. Wir entscheiden das dann zusammen, wenn wir die Fahnen durchsehen. K. P. Oder es muss noch mal ein Gespräch mit dem Autor oder der Autorin geben. Aber der Text als Inhalt hat Vorrang, er ist mehr als eine Graustufe auf Papier, was er immer auch ist. Janine Sack Wobei ich bei einer Zeitung auch nicht sagen würde, dass Text bloß eine Graustufe auf dem Papier ist, aber das Leseverhalten, der Zweck ist ein anderer. Es gibt im Journalismus bestimmte Formate, damit verbundene Kon- ventionen von Textlängen und die Begrenzung der Seite. K. P. Das stimmt. Wir haben z. B. relativ flexible Zeichenzahlen. Das ist ja auch ein ständiges Problem. Wir hatten bei bestimmten Textsorten stärkere Vorgaben. Aber das hat nie so richtig geklappt. 56 ZfM 20, 1/2019 HEFTE MACHEN P. L. Weil diese Formatwechsel nicht so wirklich in der Wissenschaft etabliert Abb. 4 Berliner Hefte zu sind. In der Zeitung, im Journalismus ist das ganz klar, da gibt es diese Ras- G eschichte und Gegenwart der Stadt, Nr. 6: Zingster Straße 25, ter. Ein Text ist ein Aufmacher, der ist so und so lang, und eine Kolumne ist hg. v. Sonya Schönberger, so und so lang, und dann kann man sich als Autorin auch drauf einstellen, EECLECTIC, Berlin 2018 was man schreibt. Abb. 5 #PurpleNoise – F eminist J. S. Man sollte meinen, dass das selbstverständlich ist. Noisification of Social Media, hg. v. Cornelia Sollfrank, P. L. Idealerweise, ja. EECLECTIC, Berlin 2019 K. P. Wissenschaft ist sozusagen immer dieselbe Textsorte. Mal länger, mal kürzer. P. L. Aber wir haben natürlich auch Vorgaben, z. B. was die Länge der Fußno- ten angeht. Lena setzt Randnoten, da ist der Raum begrenzt. Hier wird oft der Rotstift angesetzt. K. P. Janine, du hast viel Erfahrung mit dem Entwerfen von verschiedenen Textsorten. Du hast in einem Kunstbuchverlag mitgearbeitet, The Green Box, und jetzt hast du selber einen Verlag gegründet, einen E-Book-Verlag, Eeclectic. J. S. Ich habe lange als Gestalterin im Editorial Design, aber auch als Künstlerin gearbeitet. Bis ich gemerkt habe, ich würde gerne mit Publikationen im Kunst- bereich arbeiten. Und da habe ich mich vor allem um E-Books gekümmert. Für mich war das ein Aha-Moment, weil zwei Sachen zusammengekommen sind. Nämlich ein Interesse an einer gewissen Art von Intermedialität, auch Be- wegtbild oder Ton einbauen zu können, aber eben auch ein Interesse an einem Bereich, der eigentlich noch dabei ist, seine Standards zu etablieren. So wie vor zehn Jahren vielleicht HTML. Das heißt, es ist ein sehr fluider und damit auch ein schwieriger Bereich. Was es als Standard gibt, ist das E-Pub-Format, in dem es keine Seiten mehr gibt, sondern eine Art fließendes Dokument. Das Spannende daran ist, wie man in diesem Format eben doch auch Gestaltung machen kann. Ich habe festgestellt, dass ihr ein E-Pub2-Format benutzt, das ist ein Format, in dem man noch keine Schriften einbetten kann. WAS UNS ANGEHT 57 LENA APPENZELLER / PAOLO CAFFONI / JANINE SACK | PETRA LÖFFLER / KATHRIN PETERS Abb. 6 Archive Journal Issue K. P. Das organisiert der Verlag. No 2: Discreet Violence: French J. S. E-Pub3 kann z. B. Audio einbinden oder Bilder und Videos. Das macht es Camps in Colonized Algeria, hg. v. Samia Henni, Berlin 2017 gestalterisch interessanter, weil ich jetzt anfangen kann, nicht nur die Parameter, die ich davor hatte – Abstände, Größen – relativ zu formulieren, jetzt kann ich Abb. 7 Sowing Somankidi Coura im Archive Kabinett (Installa- auch Schriften reinbringen. Gleichzeitig ist es so, dass wir z. B. bei Eeclectic nicht tionsansicht). Kuratiert von nur das E-Pub-Format machen, sondern alles, was es an digitalen Formaten gibt, Raphaël Grisey in Zusammen- arbeit mit Bouba Touré, auch PDFs oder fixed-ePub. Das ist derzeit ein Format, das sich mit InDesign re- Berlin 2017 lativ einfach generieren lässt, das aber auch nur in der iOS- und OS-World funkti- oniert. Was mich auch interessiert, sind Übertragungsfragen zwischen dem Ana- logen und dem Digitalen. Ich mache z. B. momentan die Gestaltung für ein Buch, das bei Archive Books als Print und bei Eeclectic als Digitalformat erscheint. Da kommen genau diese Fragen auf: Setzen wir die digitale Publikation genauso wie die analoge oder gehen wir jeweils anders mit dem Material um? K. P. Das heißt, für verschiedene Textsorten auch verschiedene Formate zu favorisieren. Oder die Texte jeweils unterschiedlich aufzubereiten. J. S. Ich würde es ein bisschen erweitern. Ich habe drei Bücher gemacht, die eigentlich aus einem Seminar entstanden sind, das ich gegeben habe, Crossme- dia-Publishing. Das sind E-Books, die mit Animationen, Interaktivität und Ton arbeiten. Im Seminar hatten wir sie sowohl analog als auch digital entwickelt, zum Teil sehr unterschiedlich in ihrer Umsetzung. Sie sind wiedererkennbar, aber doch in ihren Details und ihrem Leseerlebnis sehr verschieden. P. L. Paolo, bei Archive Books macht ihr vor allem Buchpublikationen. Was ist denn für euch das Besondere daran, Bücher zu machen im Zeitalter digitaler Medien und E-Publishing? Paolo Caffoni Wir mögen an Büchern die Form, den Raum, den sie einnehmen. Wir zielen bei unseren Ausstellungen auch immer auf die Verbindung von Buch- seiten und dem physischen Raum. Aber generell hängt die Tatsache, dass wir Bücher machen, mehr von den Umständen ab, in denen wir arbeiten. Und es gibt da keine Umstände, die wir von vornherein ablehnen würden. Wir kommen 58 ZfM 20, 1/2019 HEFTE MACHEN aus der Kunst und haben uns mehr und mehr in Richtung Printpublikationen bewegt. Wir machen aber auch Onlinepublikationen. E-Books sind nur ein klei- ner Teil und ähneln gedruckten Büchern am meisten. Wir betreiben außerdem eine Website, verschicken Newsletter und nutzen soziale Medien. Das alles ist Teil von E-Publishing. P. L. Eure Website sieht ziemlich ‹klassisch› aus, finde ich, da gibt es z. B. keine Interaktion. Klar, ihr kombiniert Texte und Bilder. Sie erinnert mich da eher an die gedruckte Seite einer Zeitung. P. C. Ja, das kann man so sehen. Eine Website zu betreiben ist zunächst eine technische Angelegenheit, aber vor allem eine Frage der Zeit. Man muss schnell sein, und die Seite braucht regelmäßige Updates. Die Wahrnehmung von Zeit ist überhaupt einer der größten Unterschiede zwischen Buch- und Onlinepublikationen ebenso wie die Umstände der Zugänglichkeit. Die Bezie- hung zwischen einem gedruckten Buch und seiner_m Leser_in ist grundsätzlich verschieden von der Beziehung zwischen einer Zeitung und ihren L eser_in- nen. Das Verhältnis zwischen Buchdruck und digitalen Medien ist durch un- terschiedliche Zeitlichkeiten geprägt, die auch spezifische soziale Beziehungen und Öffentlichkeiten implizieren. K. P. Die Verbindung zwischen Maschinen und Technologien – Druckma- schinen oder auch Grafiksoftware – und den Weisen, in denen wir s chreiben und lesen, ist natürlich für die Medienwissenschaft interessant. Wie kommt es zu der Entscheidung, heute gedruckte Bücher über Kunst und Theo- rie zu machen? Ist das nicht – provokativ gesagt – ein medienhistorischer A nachronismus? P. C. Ich glaube nicht, dass das anachronistisch ist. Für mich gibt es da keine li- neare Entwicklung. Manche Printformate ergeben immer noch Sinn, vor allem wenn sie bestimmte Konventionen und Kategorien wie z. B. die Kategorie des Zeitgenössischen in der Kunstwelt befragen. K. P. Das scheint mir entscheidend zu sein. Ist die Kunstwelt nicht dem Papier, den gedruckten Publikationen ziemlich stark verbunden? Kunstkata- loge müssen gewichtig sein, im Wortsinn. J. S. Absolut. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zunächst müssen wir zwi- schen Katalogen und Künstler_innenbüchern unterscheiden. Besonders Kunst- kataloge sind Artefakte, Objekte, die eine bestimmte symbolische Rolle in der vielfältigen Ökonomie der Kunst erfüllen. P. L. Mich fasziniert, dass ihr beide zur gleichen Zeit sehr einfache, billig pro- duzierte Sachen macht wie z. B. Archive Journal oder Paper News. Die lie- gen aus und die kann man mitnehmen. Auf gewisse Weise erweitern sie die konventionelle Bedeutung von Journalen – oder man könnte auch sagen, sie provozieren und testen die Art und Weise, wie wir Journale, also Zeitungen, Zeitschriften, betrachten und bewerten. Und mir scheint, eure künstlerische WAS UNS ANGEHT 59 LENA APPENZELLER / PAOLO CAFFONI / JANINE SACK | PETRA LÖFFLER / KATHRIN PETERS Herangehensweise besteht genau darin, aus diesen altmodischen, billigen und gewöhnlichen Printmedien etwas anderes zu machen. P. C. Für uns ist das eine spielerische Weise, mit Print umzugehen. Das Archive J ournal kann z. B. im Zusammenhang mit einer Ausstellung entstehen und steht dadurch mit dem physischen Ausstellungsraum in Verbindung. Es kann also einen Katalog oder eine Presseankündigung ersetzen. Kataloge sind ja sehr standardisierte Formate und oft ziemlich langweilig. Wir suchen nach anderen Wegen, um den Raum und die Zeitlichkeit der Ausstellungen in den Raum der Publikationen und die Zeitlichkeit des Lesens zu übersetzen. P. L. Das heißt, ihr entwerft Publikationen als eigene Raum-Zeit-Verhältnisse? P. C. Ja, wir experimentieren damit und hinterfragen zur gleichen Zeit den Wertek anon der Kunst. K. P. Es gibt ein gemeinsamen Publikationsprojekt von Archive Books und Eeclectic. Es handelt sich um ein künstlerisches Projekt und ihr entwickelt eine gedruckte und eine digitale Version. Wie habt ihr das konzipiert, wie sind die Abläufe? J. S. Zusammen mit Christine Lemke und Achim Lengerer, die das Buch als Print bei Archive Books herausgeben, arbeite ich am Design; die digitale Ver- sion kommt dann bei Eeclectic raus.1 So machen wir es auch bei den Berliner Heften.2 Seit einem Jahr produzieren wir E-Book-Formate und sind sozusagen der E-Book-Verlag der Berliner Hefte. Erst haben wir die Hefte, die schon ver- öffentlicht waren, digital umgesetzt. Beim letzten E-Book für den Kongress «Wiedersehen in Tunix», im Dezember im Hebbel am Ufer Berlin, haben wir zeitgleich Heft und E-Book veröffentlicht. Wir versuchen, das immer enger zu führen. Ich erstelle gerade eine Art Masterdokument, ein Template, mit dem die Grafiker_innen, die die Printversion der Berliner Hefte machen, arbeiten können; das schon Information enthält, die für das E-Book nötig sind. K. P. Das ist der sogenannte Goldene Weg, Print und Digital erscheinen gleichzeitig und im Open Access. Für Leser_innen ist das sehr vorteilhaft. Was ist als Verleger_innen eure Idee dazu? P. C. Wir haben in der Vergangenheit PDFs unserer Buchpublikationen verbrei- 1 Vgl. Christine Lemke, Achim tet, um ein größeres Publikum zu erreichen, und lehnen es auch nicht ab, wenn Lengerer: Man schenkt keinen Hund, PDFs unserer Publikationen von anderen zur Verfügung gestellt werden. Aber Berlin (erscheint 2019 bei Archive Books und EECLECTIC). Das Buch nicht alle Bücher, die wir machen, funktionieren als PDF. Manchmal ist es bes- setzt sich mit dem Integrations­ ser, zu Werbezwecken oder auf Wunsch der Kurator_innen und Autor_innen imperativ im Migrationsdiskurs auseinander. die Printversion zuerst herauszubringen. 2 Die Berliner Hefte zu Geschichte J. S. Ich würde immer versuchen, eine gleichzeitige Veröffentlichung zu re- und Gegenwart der Stadt sind eine f ortlaufende Reihe von essayisti­ alisieren. Als Verlegerin stelle ich fest, wie wichtig es ist, Aufmerksamkeit schen, künstlerischen und aktivisti­ zu erzeugen. Ein Buch oder Heft zu machen, ist das Eine, dass es gefunden schen Beiträgen zu stadtpolitischen Debatten Berlins, die seit 2016 wird, das Andere. Für digitale Publikationen gibt es derzeit noch fast kei- von einem sechsköpfigen Kollektiv ne Sichtbarkeit. Wir haben natürlich unsere Peergroups, die das rezipieren, herausgegeben wird, siehe www.berlinerhefte.de. unsere Netzwerke, aber ein größeres Publikum zu erreichen, ist schwierig. 60 ZfM 20, 1/2019 HEFTE MACHEN Deshalb glaube ich, man muss jeden Kanal nutzen. Also Veranstaltungen ma- chen, netzwerken im klassischen Sinn, Leute finden, die in einem ähnlichen Bereich arbeiten, sodass man sich gegenseitig bestärken kann. Dazu gehört auch, Räume zu kreieren, wo diese Sachen sichtbar werden. Deswegen ma- chen wir auch Paper News als gedrucktes Papier, die können wir in Buchläden und bei Veranstaltungen auslegen. Es gibt sie auch online, man kann sich alle PDFs herunterladen. P. L. Für mich stellt sich hier die Frage nach der Ökonomie des Publizierens, nach der Wertschöpfung. Ich verstehe, dass es wichtig ist, Inhalte über ver- schiedene Kanäle zu verbreiten, aber wie finanziert ihr eure Projekte? Und sind die Autor_innen denn immer damit einverstanden, dass ihre Texte als PDFs geteilt werden? J. S. Persönlich verstehe ich das Teilen von PDFs völlig, aber gleichzeitig verkaufe ich die digitalen Formate. Dabei habe ich keinen starken Kopier- schutz in den Büchern oder eigentlich gar keinen. Für mich ist es wichti- ger, dass die Sachen zirkulieren. Trotzdem werde ich weiter versuchen, eine Refinanzierung hinzubekommen. Aber im ganzen Kunstbereich gibt es sehr wenige Publikationen, die ökonomisch funktionieren. Es ist ein Bereich, in dem Cross-Finanzierung immer schon üblich war. Mit dem Digitalen lassen sich z. B. die Produktionskosten senken, weil Druck- und Vertriebskosten weg fallen. Dazu kommt, dass wir auch mit wenigen Ressourcen die Dinge schnell und einfach in die Welt bringen können. Dabei entstehen auch neue Publikationsformen. Mir geht es nicht darum, das gedruckte Buch abzuschaf- fen, sondern alle Möglichkeiten zu erforschen und damit zu spielen. Bei den Berliner Heften z. B. ist es einfach wichtig, dass sie zugänglich sind und sich möglichst weit verbreiten können. Es geht in den Heften um stadtpolitische Auseinandersetzungen. K. P. Die ZfM macht die PDFs der Beiträge des gedruckten Heftes auf der Verlagswebsite und dem neuen Repositorium für Medienwissenschaft, me- dia / rep /, verfügbar, und zwar zeitgleich mit dessen Erscheinen.3 Wir haben viel ausprobiert. Die Idee eines Repositoriums ist, Sichtbarkeit und Zu- gang – accessibility ist das Schlagwort – zu verbessern. Das Problem ist ja, dass Texte nicht immer gut auffindbar sind im Internet oder nur unzuverläs- sig. Es geht auch darum, Google Scholar und Academia.edu etwas entgegen- zusetzen, also andere, nichtkommerzielle Archivierung und Zugänge zu er- möglichen. Die ZfM bietet Open Access, das ist im Sinne von Open Science zentral. Und für die Wissenschaft gilt selbstverständlich auch, dass das al- les gegenfinanziert ist, in dem Bereich wird ja mit dem bloßen Verkauf von Publikationen eher wenig Geld verdient. Wir haben uns beim E -Publishing 3 Das Repositorium wird von der Zeitschriftenbeiträge aber dagegen gewehrt, bestimmte Zugeständnisse der Universität Marburg gehostet zu machen, also z. B. die PDFs mit Kurzbiografien und Angabe der Heimatu- (Malte Hagener und Dietmar Kammerer) und von der DFG geför­ niversität der Autor_innen zu versehen (was, wenn es die nicht gibt?). Daran dert, siehe: mediarep.org. WAS UNS ANGEHT 61 LENA APPENZELLER / PAOLO CAFFONI / JANINE SACK | PETRA LÖFFLER / KATHRIN PETERS haben wissenschaftliche Verlage Interesse, um die Formate zu vereinheit- lichen, die Zirkulation der Inhalte zu steigern, sie zu indizieren und nach Zitationshäufigkeit auswerten zu können. P. C. Wir sollten die Implikationen von Zugänglichkeit genauer untersuchen. Einerseits ist die Gleichsetzung von freiem Onlinezugang und ausgelagerter, unbezahlter Arbeit problematisch. Andererseits wird Zugänglichkeit oft mit einer Demokratisierung von Kultur gleichgesetzt, was letztlich westliche Werte universalisiert und deren Hegemonie festschreibt. Ich frage mich oft, ob Zu- gang zu Informationen wirklich emanzipatorisch ist oder eine Rhetorik, die alte und neue Machtbeziehungen reproduziert. Was bedeutet es z. B., die Rechte an einem online zugänglich gemachten Wissen zu besitzen? Und welche Bezie- hung wird zwischen diesem Material und Leser_innen gestiftet? Ich habe den Eindruck, dass hier die Frage nach der Öffentlichkeit und der Produktion von Subjektivität wichtig ist, besonders wenn der Zugang zu Wissen durch Restrik- tionen und Grenzen reglementiert wird. K. P. Ja, das ist kompliziert. Auch der digitale Zugang ist nicht universell, weil er vom Zugang zu Computern und Bandbreiten abhängt. Es geht auch um Bibliotheken, die Zeitschriften und Onlinejournale subskribiert haben müssen. Das sind Zugänge des globalen Nordens. J. S. Es ist ja auch nicht so, als würde Digitalisierung alle Probleme lösen, son- dern sie bringt neue mit sich ebenso wie Chancen. Digitalisierung ist mehr als ein Marketingwerkzeug, und es gibt nicht nur standardisierte digitale Artefakte wie bei Google Books. Deshalb ist es so wichtig, andere Wege mit digitalem Publishing zu versuchen. P. L. Und wir müssen zwischen Digitalisaten und ‹genuinen› digitalen Materi- alien unterscheiden. Das spielt bei Google Books eine große Rolle, die ganze Bibliotheken aufkaufen und digitalisieren. Für mich ist ein Hauptproblem, dass Zugänglichkeit dabei vom Besitz abhängig gemacht wird. K. P. Vielleicht können wir hier nochmal auf das independent publishing zu- rückkommen. Janine, du hast ja Drucken, Heften, Laden mitbegründet. Es gab 2015 eine Ausstellung in der nGbK 4 und daraus ist dann eine Initiative entstanden, die es bis heute gibt. J. S. Diese Ausstellung war ein Wühlen im Archiv der nGbK nach kleinen unabhängigen Publikationen. Die Berliner Hefte waren gerade dabei, sich zu formieren, und wollten sich mit der Frage auseinandersetzen, was das richtige Format für ihr Thema ist. Zum Workshop der Ausstellung waren auch Archive Books und The Green Box, wo ich damals arbeitete, eingeladen und daraus 4 Die Neue Gesellschaft für bildende Kunst besteht seit 1969 und entstand dann Drucken, Heften, Laden als ein Zusammenschluss von um die 20 ist ein basisdemokratischer Berliner Initiativen. Es sind auch Buchläden wie Pro qm oder Books People Places, Kunstverein auf Mitgliederbasis. Projektgruppen können Vorschläge Kunstfanzines und Verlage dabei. Wir haben mit Restgeldern aus diesem Pro- für Ausstellungen machen, die jekt die erste Ausgabe von Paper News gemacht. Paper News ist eigentlich ein von der Hauptversammlung ausge­ wählt werden. Newsletter. Wir haben damals lange überlegt, ob wir das als Blog machen, und 62 ZfM 20, 1/2019 HEFTE MACHEN haben uns dann entschieden, dass wir es auch in seinem gewissen Anachronis- mus schön fanden als Blatt. Das war am Anfang tatsächlich nur ein einziges Blatt, inzwischen sind es vier Seiten. Die liegen auf Kunstbuchmessen, Veran- staltungen und unseren Booklaunches aus. Am Anfang waren es hauptsächlich Ankündigungen und Buchbesprechungen, jetzt gibt es auch inhaltliche For- mate. Z. B. sammeln wir seit einiger Zeit Berichte von Publikationsprojekten aus der ganzen Welt in der Kolumne «Letter from …». Zuletzt war die erste Kunstbuchmesse in Teheran Thema. K. P. Mich interessiert an euren Initiativen, dass es eine große Aufmerksam- keit für Gestaltung gibt: Es handelt sich um ambitionierte, sorgfältige Buch- gestaltung, die aber eher unaufgeregt daherkommt. Mir scheint, als wäre hier ein neuer Bereich entstanden zwischen aufwändigen Katalogen und Künstler_innenbüchern einerseits und Theoriebüchern in der Tradition von Merve beispielsweise, die kaum gestaltet sind, andererseits. P. C. Merve finde ich eigentlich gut gemacht. Das Editorial Design ist sehr ein- drücklich und wiedererkennbar. Es ging sicher anfangs auch darum, Kosten zu reduzieren und sich auf das Büchermachen zu konzentrieren. K. P. Ja, Merve war ein Verlagskollektiv, alle Beteiligten haben alle A ufgaben in der Produktion übernommen, das war zumindest die Idee. Alle standen mal an der Druckmaschine, sollten mit Autor_innen kommunizieren, über das Programm diskutieren. Was die Gestaltung betrifft, ist die seit fast 50 Jahren gleich. Jochen Stankowski hat das Cover entworfen, das ja auch gut ist. Der Schriftsatz war durch Satztechnik und Druckverfahren b estimmt. Manchmal brechen die Bücher auseinander beim Lesen. Die A ufmerksamkeit, die ihr der grafischen Gestaltung und Produktion w idmet, ist doch eine ganz an- dere. Bei eurer Buchproduktion liegt viel mehr Gewicht auf der Form des Buches, auch jedes einzelnen in seiner Unterschiedlichkeit. J. S. Ich denke, eine Antwort ist, ohne generalisieren zu wollen, dass wir einen bestimmten Zugang zu Wissensproduktion haben. Z. B. die Berliner Hefte: Die sind textbasiert, aber arbeiten auch mit Bildern, und dieses Verhältnis zwischen Bildern und Texten ist wichtig. Es gibt verschiedene Zugänge zu Texten und das kann auch visualisiert werden. Und auch das Visuelle ist Information. K. P. Dem stimme ich völlig zu. Die Form des Buchs, seine Gestalt und Ge- staltung stehen im Verhältnis zu den verhandelten Theorien. So hat die neue Aufmerksamkeit für Gestaltung womöglich mit dem Therorie-Interesse an Ästhetik und Politik zu tun. P. C. Design erzeugt Bedeutung und gutes Grafikdesign prägt die Wahr- nehmung von Information. Wir werden oft gefragt, warum wir uns Archi- ve Books genannt haben. Wir sind keine Bibliothek und besitzen auch keine Sammlung im engeren Sinn. Archiv ist für uns ein Ort, an dem wir Verbin- dungen zwischen disparaten Bereichen jenseits der institutionellen Zumu- tungen der in linearen Kategorien denkenden Kunstgeschichte ausprobieren. WAS UNS ANGEHT 63 LENA APPENZELLER / PAOLO CAFFONI / JANINE SACK | PETRA LÖFFLER / KATHRIN PETERS Wir betrachten Archiv vielmehr als Infrastruktur, die wir gestalten, und Gra- fikdesign als ein Mittel, um Verbindungen zwischen Artefakten und Doku- menten, zwischen verschiedenen Zeiten und kulturellen Räumen herzustellen und zu interpretieren. K. P. Typografie kann ja eine intellektuelle Beschäftigung sein, weil sie Texte strukturiert, durch Texte führt, sie durchaus auch interpretiert. Aber es gibt nicht so viele Verlage, die für Theoriebücher jeweils spezifische Gestaltun- gen entworfen haben, Brinkmann und Bose wäre ein Beispiel. J. S. Es gibt eine Tendenz zu sagen, heute würde mehr Wert auf Buchdesign gelegt. Vielleicht wird aber auch an klassische Buchgestaltung mit ihrer hand- werklichen Kennerschaft angeknüpft. K. P. Ja, das gilt auch für Theoriebücher, die ja unser Fokus sind. Mein Ein- druck ist, dass sich ausgerechnet unter der Ägide des digital publishing etwas verändert bei den gedruckten Büchern und Heften. Und zwar eben nicht im bibliophilen Sinn, also im Sinne von wertvoll und gewichtig, sondern eher als manchmal experimentelle, aber insgesamt eher unaufwändige Gestaltung. Diese Tendenz scheint mir doch präsent zu sein. Es gibt Ausstellungen, Gruppen und auch Messen wie die Miss Read.5 Es geht meines Erachtens schon darum, Gestaltung als eine intellektuelle, konzeptuelle Arbeit zu be- greifen, auch an der Universität der Künste Berlin ist das so, wo ich unter- richte. Lena, du hast ja dort auch Visuelle Kommunikation studiert. L. A. Für mich ist Gestaltung immer mit Inhalt verknüpft. Die Herausforderung ist, Inhalt in Gestaltung zu transportieren, und je nach Medium, also Buch oder Zeitschrift, ist das wieder ein anderes Spiel, genauso wie für das Digitale. J. S. Mit den verschiedenen Produktionsmitteln, also Schreibmaschine, Kopier- gerät, Fotosatz, haben sich natürlich auch die Optiken geändert, und es gab eine Zeit, die 1960er und 70er Jahre, als Bücher tatsächlich nicht aufwändig und bibliophil aussehen sollten. K. P. Das produziert eine eigene Ästhetik und wir sind wieder bei Merve. J. S. Es ging bei Merve nur noch um Text und der hat mit Bildlichkeit nichts zu tun. Das war ja auch eine Emanzipation. P. L. Es wurde viel aus dem Französischen übersetzt. Da ging es auch um Theorietransfer. Billige Bücher, die man sich in die Hosentasche stecken konnte, die aber doch vom Grafikdesign her markant sind. Die Suhrkamp- Taschenbuchreihe Wissenschaft und die Edition Suhrkamp mit dem einfar- bigen Cover sind ja auch simpel. K. P. Janine hatte gerade eine medientheoretische These entwickelt. Die könnte so weitergehen, dass die Verfügbarkeit bestimmter publishing software 5 Miss Read. The Berlin Art Book eine bestimmte Gestaltung hervorgebracht hat. Fair wurde 2009 gegründet und findet im Haus der Kulturen der Welt J. S. Visuelle Benutzeroberflächen und deren intuitive Form wirken ja immer statt. Seit 2014 wird jährlich Friends zurück. Die ästhetische Gewöhnung an digitale Medien hat auch damit zu tun, with Books: Art Book Fair Berlin im Hamburger Bahnhof veranstaltet. wie wir Print wahrnehmen. Als wir die taz neu gestaltet haben, haben wir uns 64 ZfM 20, 1/2019 HEFTE MACHEN dessen bedient, weil es den schnelleren Lesegewohnheiten heute mehr ent- spricht. Dagegen kann das Filigrane und damit Aufwändige, das eine Zeit lang sehr wichtig war im Zeitungsdesign, heute weder von den Redakteur_innen ge- leistet werden, noch wird es gerne gelesen. K. P. Gleichzeitig entstehen spezifischere Publika, spezifischere Orte für P ublikationen … P. L. … ein Bereich jenseits des konventionellen Buchmarkts. J. S. Vielleicht hat das, worauf ich hinauswollte, damit zu tun, dass beim digita- len Produzieren die Form nicht vorgegeben ist. Es gibt keine logische Form, die sich sozusagen aus der Technik entwickelt. Schriften tragen eigentlich immer Spuren der Zeit in sich, in der sie entwickelt worden sind. Die letzten Schriften, die das haben, sind die ersten, die für Computer und die sehr geringe Auflösung von Bildschirmen entwickelt worden sind. Aber mit den hochauflösenden M onitoren gibt es kein technisches Hindernis mehr, das eine Form vorgibt. K. P. Und dann nimmt man stattdessen ein Blatt Papier in einem bestimmten Format mit all seinen Beschränkungen. J. S. Und alle atmen auf. — Das Gespräch wurde auf Deutsch und Englisch geführt. Aus dem Englischen von den Autorinnen und von Petra Löffler für Paolo Caffoni WAS UNS ANGEHT 65 S T E P H A N T R I N K A U S MIT-SCHREIBEN — Versuche einer kleinen medienwissenschaftlichen Empirie I. «Wann kommt denn dieser Scheißbus, Alter? – Das war eine rhetorische Fra- ge!» – «Ey, Jonas 1 filmt uns!» Eine Bushaltestelle, zwei Jugendliche sitzen auf einer Bank. Stimmen, Lachen, Bewegungen, Beine, Geräusche vorbeifahrender Autos. Dann taucht ein Handy auf. Rhythmischer Sprechgesang, die Körper der Jugendlichen beginnen sich im Takt zu wiegen. Die Lippen desjenigen, der das Handy hält, formen die Worte des Sprechgesangs, werden allmählich hörbar und stimmen in den Rap ein. Dann: Eine Hand greift nach dem Kamerablick, die Geräusche werden dumpf, wir sehen durch den Winkel von etwas, was eine Armbeuge sein könnte, in eine blendende Helle, die in das lichtdurchflutete Geäst eines Baumes übergeht. «Hey – du kennst mich auch nicht mehr», sagt die nichtlokalisierbare, anscheinend weibliche Stimme, die wir schon vorher gehört haben. Dann nur noch grauer Stoff: «Lass uns irgendwo hingehen, wir können nicht die ganze Zeit an der Haltestelle …» «Klar!» «Das soll langweilig sein.» «Ja war’s doch jetzt, Mann!» «Langweilig, da leg ich mich da hin und dann kannste mich ficken.» «Das wird doch wohl nicht langweilig.» Hämisches Kichern. «Ja, okay, lasst uns wieder in die Schule gehen.» «Ich will nicht in die Schule gehen, ich will irgendwas kaputtmachen …» Wieder Bäume, Pflaster, Beine, Licht, Pixel. «Hey, Marvin, die war die ganze Zeit an!» Damit muss die Kamera gemeint sein. Das dynamische Durcheinander der Bilder hört auf: Zwei Schüler_innen gehen voran durch eine Einfahrt, drehen sich um, teils verlegen, teils herausfordernd, wir sehen erst noch die Köpfe, dann verschwin- den sie am oberen Bildrand. «Oh, scheiße, Marvin, bleib mal hier, Marvin, das war pure Langeweile – Jocy, ich hab deinen Arsch gefilmt.» «Ja, schön, supi.» «Marvin, komm mal her, Pflegefall. Hey, du bist dran.» «Ich?» «Ja.» Neben Jocy geht jetzt ein anderer Schüler mit übergezogener Kapuze und beide laufen auf ein großes Portal zu, das offenkundig der Eingang zu einer Schule ist. Trep- 1 Alle Namen und Orte sind anonymisiert. penstufen, Stein, Pixel. «Schule ist unnötig.» 66 ZfM 20, 1/2019 Es handelt sich hier um eine Abfolge von Videofilmsequenzen, die einige Schüler_innen im Rahmen des Projekts Affekt, Alltag, Fernsehen aufgenommen haben, das wir mit der Medien AG einer Schule in B. und dem verantwortli- chen Lehrer im Frühjahr und Sommer 2014 über mehrere Monate durchge- führt haben.2 Wir hatten die Schüler_innen gebeten, Gruppen zu bilden und Langeweile zu filmen. Tim, Marvin und Jocelyn, eine der beiden Gruppen, ha- ben sich eine Bushaltestelle für diese Aufnahmen ausgesucht. Tim und Marvin haben sich auf die Haltestellenbank gesetzt und spielen das Warten auf einen Bus. Sie warten also nicht auf einen Bus, sondern filmen, dass sie auf einen Bus warten – in unserem Auftrag, im Auftrag der Schule gewissermaßen. Sie spielen Langeweile und sie spielen ein doppeltes Spiel, indem sie die Langeweile nut- zen, um sich von diesem Auftrag zu distanzieren, indem sie ihn erfüllen: Cool- ness ist ja nach Ulla Haselstein so etwas wie performte Langeweile, der Versuch einer affektkontrollierenden Distanzierung den Ansprüchen der hegemonialen Institutionen gegenüber.3 Es entsteht aber keine geschlossene Inszenierung, der Film besteht vielmehr aus Störungen, Unterbrechungen, Perspektivwechseln, die keine einheitliche und kontinuierliche Welt hervorbringen: aus dem Sto- cken des «Was machen wir jetzt?», dem Vergessen der scheinbar ausgeschal- teten Kamera, dem Auftauchen neuer Situationen, der Vergeschlechtlichung des Blicks. Die Ereignisse erscheinen disparat, unzusammenhängend, und doch 2 Das Projekt Affekt, Alltag, Fernsehen haben Jule Korte und ich entsteht eine Dynamik, ein Flow, der den Film bzw. die Videoschnipsel, aus gemeinsam mit Stefanie Reuter denen er besteht, trägt und dem man sich schwer entziehen kann. Zakirova, Marat Zakirov und Haiko Müller 2013 / 14 am Institut für Der Film endet aber nicht mit dem Erreichen der Schule. Die Kamera Medien­ und Kulturwissenschaft läuft weiter, fängt vorbeieilende und überrascht schauende Mitschüler_innen der Heinrich­Heine­Universität Düsseldorf in Kooperation mit ein («Jetzt seid ihr alle auf Video!») und immer wieder Jocelyns Körpermit- Schüler_innen einer Medien AG te (mit entsprechenden Kommentaren aus dem Off). Hier wird kein Ende und Mitgliedern eines Kinder­ und Jugendorchesters durchgeführt. Es gesucht, kein Abschluss, die in Gang gesetzte Dynamik des Films will nicht wurde finanziert vom Forschungs­ aufhören. Auf der Treppe treffen sie die andere Videogruppe, die ihre Kamera förderfonds der Heinrich­Heine­ Universität Düsseldorf. Erschienen wie selbstverständlich ausgeschaltet hat. Erst jetzt wird die Pausetaste gesucht sind zu diesem Projekt bisher nur und gefunden, doch bevor der Medienraum erreicht wird, ist die Kamera be- einige Passagen in: Julia Bee, Jule Korte, Stephan Trinkaus: Ökologien reits wieder an. Jocelyn geht erneut voran, eine Tür öffnet sich und der Lehrer medialer Erfahrung – Ansätze einer und zwei Projektmitarbeiter_innen werden sichtbar. «Ihr habt noch fünf, äh, relationalen Empirie, in: Miriam Drewes, Valerie Kiendl, Lars Robert ihr habt noch zehn Minuten», sagt der Lehrer. «Zehn Minuten habt ihr noch», Krautschick u. a. (Hg.): (Dis)Positio- sekundiert jemand aus dem Projekt. nen Fernsehen & Film – Tagungsbeiträge des 27. Film- und Fernsehwissenschaft- Die Aufgabe ist also zugleich beendet und nicht beendet. Es gibt ein Nach- lichen Kolloquiums, Marburg 2016, spiel, bei dem die Kamera weiterläuft, Teil des Spiels wird, ihr Spiel fortsetzt: 40 – 62. Demnächst erscheint eine ausführliche Monografie: Jule Korte: «Ich liebe es, wenn man ranzoomen kann!» «Habt ihr …?» «Doch, haben wir, Zwischen Script und Reality – Erfah- ich glaube, das Meiste ist irgendwas Komisches …» «Hey, Leute, Strafverset- rungsökologien des Fernsehens, Biele­ feld (im Erscheinen). zung, hey, Leute, ihr habt noch mal zehn Minuten!». Strafe, Zeit, «noch zehn 3 Vgl. Ulla Haselstein: The Cul­ Minuten», weiterspielen? Also weiterfilmen, in den Gängen der Schule, schlägt tural Career of Coolness, in: dies., Irmela Hijiya­Kirschnereit , Catrin der Lehrer vor. Diese ganze Konfrontation mit den Initiator_innen des Films, Gersdorf u. a. (Hg.): The Cultural könnte man mit Trinh T. Minh-Ha sagen, diese zufällige Inszenierung sei- Career of Coolness. Discourses and Practices of Affect Control in European ner Selbstreflexivität setzt etwas in Gang. Die Bedingungen des Films werden Antiquity, Lanham 1983, 47 – 64. WAS UNS ANGEHT 67 STEPHAN TRINKAUS beginnen sich aufzulösen. Die zehn Minuten werden zwar verfügt, sie sind aber mit keinem Auftrag verbunden, nur mit einer vagen Zeitangabe: «Ihr habt noch zehn Minuten», eine «Strafversetzung», die keine Strafe ist. In der Klassenraumszene kollabiert gewissermaßen das Außen des Films: Es gibt keine Aufgabe mehr, nichts, wovon man sich distanzieren könnte, es bleibt nichts als die situative Konstellation des Filmens selbst, «noch zehn Minuten». Die Ungerichtetheit der Situation wird nicht mehr gefilmt, sie scheint nun selbst zu filmen. Die Kamera wird nicht mehr abgesetzt, es gibt keine Schnip- sel, keine Sprünge mehr, sondern eine einzige lange Einstellung von beinahe acht Minuten: «Marvin, was machsten da?», dann Lachen, Bildrauschen und am Ende sitzt Marvin auf Jocelyns Schoß und isst Hanuta. Aufstehen, hin und her gehen, das knisternde Geräusch beim Kauen einer mit Nougatcreme ge- füllten Waffel. Ein Spiel beginnt, ein Verfolgungsspiel. Jocelyn läuft davon und Marvin hinterher. Sie flieht durch eine Tür, Marvin versucht sie zu öffnen, es gelingt ihm nicht, vielleicht will er auch nicht, dass es ihm gelingt. «Ey, M arvin, is’ Jocelyn stärker als du?» Eine Kraftprobe um das Öffnen der Glastür, dann läuft Jocelyn kichernd davon. Nach mehreren Runden wird sie von Marvin er- wischt und am Hals zurück zur Kamera geführt. Es ist etwas entstanden zwi- schen Marvin und Jocelyn, das vor diesem Spiel nicht da war. Jetzt will Tim die Kamera loswerden. Den Blick zu navigieren reicht ihm nicht mehr, er will ins Bild, zurück in die Sichtbarkeit des Spiels. Die Kamera ist an den Rand gedrängt, das von ihr initiierte Spiel hat sie überbordet, geht über sie hinaus, entzieht sich, flüchtet, rennt an ihr vorbei. Die Kamera zu halten und damit den Blick zu kontrollieren, verliert an Bedeutung, auch wenn die Welt dieses Spiels weiterhin von der Kamera abhängig ist. Es ergibt keinen Sinn, sie auszu- schalten und alles zum Verschwinden zu bringen. Jocelyn erscheint sitzend auf dem Boden, gelehnt an eine Wand, Marvin fordert dazu auf, die Kamera auszu- schalten, stattdessen erscheint Tim im Bild und Marvin kommt dazu. Alle drei sitzen nebeneinander auf dem Boden, gelehnt an die Flurwand, schauen in die Kamera, an ihr vorbei, zu Boden, Marvin isst eine Nougatwaffel, Tim gähnt de- monstrativ, Jocelyn kichert, schaut uns an, sehr ernst und verletzlich, dann wie- der zu Boden. Es entsteht etwas in diesen Blicken, diesen Bildern, das für mich nicht leicht auszuhalten ist. Tim jedenfalls, der die Blicke Jocelyns gar nicht sehen kann, scheint es nicht auszuhalten. Er steht auf, verschwindet aus dem Bild, und Jocelyn wird erneut herangezoomt: «Kannst du mal aufhören intime Bereiche von mir zu filmen?!», sagt sie. Marvin versucht, sie vor dem Zugriff des Kamerablicks zu schützen. Dann erscheint in Marvins Händen erneut das Handy: «Marvin, mach mal Mucke an!» Und die Musik der Haltestelle wird wieder hörbar. Während Marvin den Touchscreen seines Smartphones bear- beitet, gerät die Bewegung des Films ins Stocken, seine Richtungslosigkeit hört auf zu fließen, sie wird wahrnehmbar – die andere Gruppe unseres Projekts erscheint am Ende des Ganges, Kapuze über dem Kopf, Hände vor dem Ge- sicht: «Hey, das ist nicht langweilig». «LANGWEILIG» sagt Tim aus dem Off. 68 ZfM 20, 1/2019 MIT­SCHREIBEN Marvin und Jocelyn sitzen immer noch auf dem Boden, an die Wand gelehnt, das Handy in der Hand. «Mach mal lauter.» Der Rapper KC Rebell aus Essen hebt an, Marvin und Tim rappen mit und die Kamera zoomt sich zum zer- sprungenen Handybildschirm. Wir sehen KC Rebell, eine Weile sehen wir das Video « Kanax in Paris» (14.327.752 Aufrufe auf YouTube bis zum 22.1.2018). Was Gangster? Du Esel bist verliebt in Bücher Und spielst Cello wie der eine von Habibi Brüder Sie wollen kein Palaver, ich komme mit Albanern Die Dolche tragen wie Models von Gabana (KC Rebell) Die Kamera zoomt sich wieder heraus, wir sehen Marvin und Jocelyn, tref- fen Jocelyns Blick, sie sagt etwas, etwas, das an Tim gerichtet sein muss, der die Kamera anscheinend hält, vielleicht aber auch eher an die Kamera selbst: eine Bitte. Aber, indem sie sich der Kamera – ihrem eigenen Bild- oder Film- werden – zuwendet, trifft sie mich. Ich sehe sie, höre sie, kann sie aber nicht verstehen, merke nur, dass ich gemeint bin, dass meine Anwesenheit im Bild, meine Teilnahme an der Situation des Filmwerdens gemeint ist – und das Bild verschwindet. Die Welt, aus der diese Bitte stammt, verschwindet; erfüllt sie, indem sie verschwindet. Aber ich bleibe, und mit mir dieses Verschwinden und diese Bitte, dieser Blick, die diesem Verschwinden vorausgingen. Das Bild en- det nicht, indem es endet, der Film beginnt nicht, indem er beginnt. Das, was er fortsetzt, was er aufgreift und erneuert, zirkuliert in seinem Verschwinden, durch sein Verschwinden und darin, dass es bleibt. Wem oder was bin ich in diesen Blicken, diesen Bewegungen, diesem Spiel begegnet und was war das ‹Ich›, das ihnen begegnete, Kontakt aufnahm, sich verändert, angegangen, in eine Intimität gezogen fühlt, die nicht die eigene ist, die ihm nicht gehört? Der Film war Teil eines Forschungsprojekts, ging so- mit aus einer Aufgabe hervor, die den Schüler_innen gestellt wurde und die ich mitformuliert habe. Aus der Inszenierung der Langeweile und der Reme- diatisierung des Hip-Hop-Videos wird aber etwas anderes als das Erfüllen ei- nes Auftrags, als die Bewältigung einer Aufgabe: ein Spiel, in der die Kamera eine ganz eigene relationale Dynamik initiiert, aus dem sich ‹nichts› zu ergeben scheint und das dennoch eine Verletzbarkeit, ein Schweigen, ein Begehren und die Gewalt des Begehrens erscheinen lässt: Bilder, Szenen des Verbergens und des Findens, in denen im Taumel und in der Trauer des Spiels eine grundlegen- de relationale Einsamkeit Welt werden kann – und das die Kamera dokumen- tiert, indem sie es mithervorbringt. Donald W. Winnicott kommentiert in «Die Frage des Mitteilens und des Nichtmitteilens» eine Szene, die ihm eine Patientin berichtet hat und in der die Mutter die persönlichen Aufzeichnungen ihrer Tochter nicht nur gelesen, sondern das ihr gegenüber auch ausgesprochen hat: «Hier haben wir ein Bild eines Kindes, das ein privates Selbst ausbildet, das sich nicht mitteilt, und zur WAS UNS ANGEHT 69 STEPHAN TRINKAUS gleichen Zeit sich mitteilen und gefunden werden möchte. Es ist ein differenzier- tes Versteckspiel, in dem es eine Freude ist, verborgen zu sein, aber ein Unglück, wenn man nicht gefunden wird.»4 Das ist gewissermaßen die Szene der Subjektivität oder des wahren Selbst bei Winnicott, die genau auf der Schneide von Einsam- keit und Relation situiert ist, ja in der Einsamkeit und Relation zusammenfal- len. Für mich spielt der Film auf dieser Schneide, in Jocelyns Blick meine ich diesem Zusammenfallen zu begegnen: Diese Einsamkeit, diese Verletzlichkeit enteignet mich, desubjektiviert mich, findet meine Verborgenheit – und stellt diejenige von Jocelyn aus, präsentiert sie, gibt sie der Deutung preis und ent- zieht sich ihr. Die Deutung steht also nicht außerhalb dieser Konstellation, sie ist ein Teil von ihr, ein Moment ihrer Dynamik, die sie kippen lassen, ja zerstören kann. Deutung ist insofern eine Intervention, sie ist nicht ohne Gewalt zu haben. Diese Blicke, diese Bitte, dieses Spiel ist selbst schon eine komplexe Auffüh- rung und Verhandlung zentraler Themen unseres Forschungsprojekts, zumal Langeweile gar nicht von uns als Thema oder Aufgabenstellung in das Projekt getragen wurde, sondern von den Jugendlichen der Medien AG, die wir nach ihren Fernseherfahrungen befragt haben. Wir haben in den Diskussionen, Be- griffsassoziationen und Collagen, die im Rahmen unserer Gruppenwerkstätten angefertigt wurden, dieses Thema gestärkt, weil wir vermuteten, dass hier das Einfallstor für die nichtbestimmbare Relationalität des Affekts sein könnte, die uns interessiert hat. Wir haben also versucht teilzunehmen, aufzugreifen und zu manipulieren. Manipulation statt Deutung oder Analyse, könnte man sagen. Das würde aber so nicht stimmen, wir haben natürlich immer wieder gedeutet und analysiert, und der Film von Marvin, Tim und Jocelyn zeichnet sich ja ge- rade dadurch aus, dass er sich gewissermaßen ‹hinter unserem Rücken›, wenn auch glücklicherweise mit einer Kamera, ereignete. Wir haben ihn also nicht erwartet, aber wir haben ihn begrüßt, willkommen geheißen, uns gefreut, ihn vorgeführt, anderen gezeigt, darüber geschrieben, Vorträge gehalten. J ocelyn, Marvin und Tim haben diesen Film vielleicht vergessen. Wir leben immer noch mit ihm, antworten ihm, interferieren mit den Fluktuationen seines Spiels, schreiben mit ihm … Wie in dem Film von Jocelyn, Marvin und Tim Spiel, Langeweile, Alltag, Warten, Medialität aufgegriffen, ja wie die zu Beginn und gegen Ende präsen- tierten Hip-Hop-Videos selbst in den Einstellungen remediatisiert werden, geht jedenfalls über die Komplexität der Anlage unseres Projektes und die Möglichkeiten einer ‹Auswertung› hinaus. Er hat das Projekt nicht in eine an- dere Richtung getragen, er hat ihm gewissermaßen die Richtung genommen, 4 Donald Woods Winnicott: es weiter in die Richtungslosigkeit geführt, in die wir von Beginn an verstrickt Die Frage des Mitteilens und des waren. Bei diesem Film handelt es sich also um ein Spiel, ein Versteck-, ein Nichtmitteilens führt zu einer Unter­ suchung gewisser Gegensätze, Fort-Da-Spiel, das keine Abwesenheit kompensieren, keinen Entzug dramati- in: ders.: Reifungsprozesse und fördern- sieren soll. Das Projekt ist Teil der situativen Bedingungen dieses Spiels mit der de Umwelt, Gießen 2006, 234 – 253, hier 244, Herv. i. Orig. und vielleicht als Unbedingtheit. Denn das, worum es in diesem Spiel geht, ist 70 ZfM 20, 1/2019 MIT­SCHREIBEN nicht die Regelhaftigkeit, sind nicht seine Bedingungen, sondern dass im Spiel etwas möglich wird, was über jede Regel hinaus-, oder besser: ihr vorausgeht, sich ihr entzieht, seine eigenen Bedingungen aussetzt. Insofern ist das Spiel der Langeweile gerade nicht entgegengesetzt, eher so etwas wie sein Gegenüber, Unlust einer Richtungslosigkeit, die ihr Spiel nicht finden kann. Vielleicht sind das die Pole, zwischen denen dieser Film schwankt, oder eher: die er in seine eigene Ungerichtetheit zieht. Das Außen und die Bedingungen, die es setzt, haben im Spiel nicht aufgehört zu existieren. Nur macht die Beziehung zwi- schen den äußeren Setzungen und ihrer Aussetzung im Spiel es unmöglich, ge- rade dieses Außen der Setzung aufrechtzuerhalten. Sie sind dem Spiel, wenn es gelingt, immanent: Setzung und Aussetzung werden ununterscheidbar. In der Langeweile wird dieser Verlust des Außen einer geordneten Welt der Ver- sprechungen, der ich gegenüberstehe, die auf mich wartet und die ich betre- ten kann, erfahrbar. Coolness versucht gerade das zu nutzen: Ich brauche diese Welt nicht nur nicht, es gibt sie gar nicht. Das wäre eine plausible Taktik, die aktiv zu unterschlagen versucht, dass es im Gegenteil diese Welt zwar gibt, aber nicht dort draußen. «Ist Langeweile vielleicht nur die Trauer des Alltagslebens?», fragt der briti- sche Psychoanalytiker Adam Phillips.5 Langeweile ist nach Phillips so etwas wie die Antizipation von etwas, das eben noch nicht etwas, das aber nicht mehr nichts ist. In The Infinite Conversation hatte Maurice Blanchot diese Frage nach dem Zu- sammenhang von Langeweile und der Bedeutungs- und Richtungslosigkeit des Alltäglichen bereits in einem Kapitel zu «Everyday Speech» aufgegriffen: Thus the everyday always sends us back to that inapparent and nonetheless unconce- aled part of existence that is insignificant because it remains always to the hither side of what signifies it; silent, but with a silence that has already dissipated as soon as we keep still in order to hear it and that we hear better in idle chatter, in the unspeaking speech that is the soft human murmuring in and around us.6 Insofern wäre Langeweile vielleicht das Bewusstwerden eines Verlusts, der ständig stattfindet, der das Alltägliche ausmacht: Verlust der Gerichtetheit und Vorhersehbarkeit der Welt. «Trauern», schreibt Judith Butler, hat «damit zu tun […], eine Verwandlung zu akzeptieren, bei der man nicht vorhersehen kann, was an ihrem Ende steht.»7 Das lässt sich noch etwas weiter drehen: «Die Langeweile schützt, wie ich meine, das Individuum und läßt die unmögliche Erfahrung erträglich werden, auf etwas zu warten, ohne zu wissen, was es sein 5 Adam Phillips: Vom Küssen, könnte.»8 Und wenn die Langeweile selbst, die Langeweile als Trauer des All- Kitzeln und Gelangweiltsein, Göttingen tagslebens, in der Lage ist, Schutz zu bieten, oder besser: eine Erfahrung zu 1997, 109. 6 Maurice Blanchot: The Infinite ermöglichen, dann geht es hier auch darum, dass es – so wie Winnicotts facili- Conversation, Minneapolis 1993, tating oder holding environment – nicht nichts und nicht etwas ist das uns hält, 238 – 245, hier 242. 7 Judith Butler: Die Macht der sondern die Ungerichtetheit und Unbestimmtheit der Welt selbst. «In gewisser Geschlechternormen und die Grenzen des Hinsicht ist das gelangweilte Kind gerade dadurch absorbiert, daß es von nichts Menschlichen, Frankfurt / M. 2009, 36. 8 Phillips: Vom Küssen, 118. absorbiert ist», schreibt Phillips.9 9 Ebd., 110. WAS UNS ANGEHT 71 STEPHAN TRINKAUS II. «In der ethnographischen Begegnung, wo die Sache, um die es geht, die Er- kenntnis des anderen und seiner Realität ist, ist die Versuchung sehr groß, die ausgehandelte Realität dem Informanten zuzuschreiben.» Das schreibt Vincent Crapanzano im Vorwort zu Tuhami, seinem ‹Porträt› eines marokkani- schen Ziegelbrenners und Geistersehers, den er während seiner Feldstudien in Marokko ab 1968 über mehrere Jahre traf.10 Tuhami. Portait of a Morrocan ist, wie Crapanzano im Vorwort schreibt, ein «Experiment» einer anderen ethnologi- schen Feldforschung, einer anderen Empirie, die sich weder auf die Neutralität eines sogenannten Beobachters noch über die Reflexivität einer beobachtenden Teilnahme stützt, sondern von der Involviertheit der Forscher_in in eine Situa- tion ausgeht, die sie sich nicht aneignen kann, die sie überbordet und verändert. Crapanzano besteht darauf, dass sein Text nicht von ihm stammt, dass er aber auch nicht Tuhamis Realität darstellt, sondern dass er eine Begegnung zu sch- reiben versucht oder, wie er sagt, eine Übertragung, an der neben Tuhami und ihm noch Crapanzanos Assistent Lhacen und mitunter auch dessen dreijährige Nichte teilnahmen, die während der Interviews auf Tuhamis Schoß saß. «Sie betete Tuhami an, und er ging ungemein zartfühlend mit ihr um. Er brachte ihr Amulette und andere apotropäische Mittel gegen die gnun, die Dämonen, mit und gab Lhacen und seiner Frau Ratschläge, die das Kind betrafen.»11 Die Rea- lität, die sich in Crapanzanos Buch artikuliert, ist also nicht diejenige Tuhamis, sondern die dieser Begegnungen, ihrer Übertragungen, Konflikte und Aus- handlungen. Das ist sicher nicht überraschend, verweist aber darauf, wovon empirische Forschung handeln könnte: nicht von der Wiedergabe einer Welt oder ihrer Darstellung, nicht von ihrer Repräsentation oder Deutung, sondern von der Begegnung von Welten, ihrer Verschränkung und gegenseitigen Ver- änderung. Genau das wäre Diffraktion im Sinne von H araway und Barad: keine Spiegelung, keine Reproduktion von etwas, das bereits als gegeben vorausge- setzt wird, sondern Erfahrung der, wie Haraway mit Trinh T. Minh-ha sagt, 10 Vincent Crapanzano: Un / an / geeignetheit der Anderen.12 Mit William James ließe sich etwas vereinfacht Tuhami. Portait eines Marokkaners, sagen: Eine solche Empirie handelt nicht von der Erfahrung der Welt, sondern Stuttgart 1983. 11 Ebd., 31. von der Welt als Erfahrung.13 12 Donna Haraway: Monströse «Was passierte, als Sie in Rage gerieten?», fragt Crapanzano Tuhami: Versprechen. Eine Erneuerungspoli­ tik für un / an / geeignete Andere, in: dies: Monströse Versprechen. Mein Herz fing an zu klopfen. Der Kopf wurde mir schwer. Ich wollte von nie- Die Gender- und Technologie-Essays, mandem angesprochen werden. Tuhami verfiel in Schweigen. Er beobachtete mich Hamburg 1995, 11 – 80, hier 40. 13 Siehe dazu ausführlich mit ausweichenden Blicken. Ich hatte das Gefühl, der Gegenstand seiner Rage zu und gerade im Hinblick auf die sein […]. Damals fragte ich mich nicht, warum seine Rage sich gegen mich richtete. Bedeutung für eine medienwissen­ Heute denke ich, daß ich symbolisch einstand sowohl für den Mann – den stets na- schaftliche Empirie: Julia Bee: Gefüge menlosen Mann – als auch für den Europäer, der ihn zurückhielt, der ihn das Miß- des Zuschauens – Begehren, Macht und Differenz in Film- und Fernsehwahr- trauen gegen die Rituale lehrte, der aber nicht vermocht hatte, das Bedürfnis nach nehmung, Bielefeld 2018, 96 ff., sowie ihnen zu beseitigen. Tuhami verkündete, er wolle nach Fez fahren. Ich fragte warum. Korte: Zwischen Script und Reality. Er sagte zornig: «Einfach so!»14 14 Crapanzano: Tuhami, 127. 72 ZfM 20, 1/2019 MIT­SCHREIBEN Wem gehört diese Wut? Woher kommt sie? Wohin geht sie? (Crapanzano er- klärt in einer Fußnote, dass die Psychoanalytiker, die er danach fragte, sie als Angst deuteten.) Wenn sie einen Ort hat, dann ist es der der Begegnung. Ohne sie wäre es zu dieser Wut nicht gekommen. Aber sie weist über die Vorstellung hinaus, hier begegneten sich zwei (oder auch mehr) Individuen. Sie zirkuliert zwischen ihnen und zwischen den Welten, die sie zu verkörpern scheinen, in der kolonialen, asymmetrischen Struktur des ethnografischen / psychoanalytischen Interviews und der linearen Anordnung von Crapanzanos Text. Sie beginnt eine Zeit zu infizieren, die zugleich Zukunft der Begegnung und Vergangenheit des Textes ist. Insofern hat sie keinen bestimmbaren Ort, ist Diffraktion, nicht an- zueignen und nicht verfügbar. Nacheinander erscheinen der «stets namenlose Mann», «der Europäer», das «Misstrauen gegen die Rituale», die Inkompatibi- lität symbolischer Welten und am Ende dann die Ungerichtetheit und Nichtbe- stimmbarkeit der Wut selbst: «Ich fragte warum. Er sagte zornig: ‹Einfach so!›» Am Ende des Buches ist sie zu der Wut des Autors / Crapanzanos geworden, die sich auf «Tuhamis Passivität gegenüber dem Dämonischen» bezieht.15 Ich möchte hier von einer anderen Begegnung schreiben, einer anderen Wut, an der ‹ich› (‹der namenlose Mann›, ‹der Europäer›, ‹der Interviewer›?) teilge- nommen habe, die ich nicht hervorgebracht, aber geteilt habe. Gegen Ende un- seres Fernsehprojekts, kurz vor dem Ende des Schuljahres und dem Beginn der Sommerferien, haben wir neben den Videoeigenproduktionen, Gruppenwerk- stätten und den dérives, die wir zu diesem Zeitpunkt bereits hinter uns hatten, auch Einzelinterviews durchgeführt. Und da sich in der Schule selbst nicht ge- nügend Räume für alle Interviews fanden, versuchten Tim und ich es nach einem bereits gescheiterten Versuch im viel zu lauten Treppenhaus auf dem Schulhof erneut (ich zitiere hier direkt die im Projekt entstandenen Transkriptionen): Interviewer: action (2) also (.) ich fang einfach noch mal an Tim 30 minuten [hmh] äh frag erzähl einfach und wir wollten anfangen mit ich halt das noch mal in die luft ähm (.) was schaust du dir im fernsehen an? Tim: eigentlich gar nix mehr eigentlich bin ich mehr draußen als fernsehen zu gucken I: gar kein fernsehen mehr überhaupt nicht? T: hmhm I: auch nicht im internet oder T: ne eigentlich nicht mehr I: keine filme? T: hmhmh I: gar nix T: nein gar nix Im weiteren Gespräch stellt sich dann heraus, dass Tim durchaus fernsieht, mit den Eltern manchmal, mit Freund_innen und allein, und dass er sich nicht daran erinnern kann, keinen Fernseher gehabt zu haben. Allerdings ist er jetzt mehr draußen als früher, unterwegs halt. Die Anwesenheit des Fernsehers besteht, so muss man das wohl verstehen, in seinem Nichtvorhandensein. Es gibt ihn nicht, 15 Ebd., 175. WAS UNS ANGEHT 73 STEPHAN TRINKAUS man greift nicht bewusst darauf zurück, aber er war schon immer da. Er ist in gewisser Weise unwahrnehmbar geworden. Und wenn es zu einer Entscheidung im Zusammenhang des Fernsehens kommt, dann kann das nur eine Entschei- dung gegen das Fernsehen sein. Nur in der Ablehnung, der Zurückweisung wird das Unwahrnehmbare erfahrbar. Wir haben die meisten unserer Interviews mit der Medien AG einer Schule in B. gemacht, einer Hauptschule, was wir oft nicht dazu sagen, weil wir dann schon beteiligt sind an einer spezifischen Reproduktion sozialer Positionen. Dennoch ist es natürlich bedeutungsvoll für unser Projekt, dass es an einer Hauptschule, einer ziemlich guten Hauptschule, wie wir meinen, stattgefunden hat. Und bei Tim ist das ganz besonders bedeutungsvoll, da er das hat, was man ein ‹Schul- problem› nennt, er seinen Abschluss in jenem Jahr jedenfalls nicht mehr bekom- men wird, gleichzeitig aber aus der Schulpflicht fällt. Es geht also auch darum, ob er überhaupt noch einen Schulabschluss bekommt. Das Interview fand am Ende des Schuljahres statt, nachdem wir bereits ein ganzes Halbjahr lang im- mer wieder die Medien AG besucht haben. Tim ist relativ zuversichtlich, dass es im nächsten Jahr klappen könnte. Er scheint Vertrauen zu unserem Projekt zu haben, auch Vertrauen, dass das, was wir machen, irgendwie damit zu tun hat, dass es demnächst besser laufen könnte. Nachdem ich mit meiner Fernsehfrage im Off gelandet bin, bemühe ich mich jedenfalls, vielleicht etwas ranschmeiße- risch, eine gemeinsame Ebene herzustellen, übernehme abfällige Äußerungen über unangenehme Lehrer, stimme zu, frage nach der Kindheit, und allmäh- lich – auch wenn seine Antworten sehr knapp bleiben – dreht sich etwas im In- terview: Es wird teilweise zu einer Dokumentation des Vertrauens in die Institu- tionen Familie und Schule, in seinen künftigen Klassenlehrer, seinen Vater, aber auch einen Freund, von der ich am Ende wahrscheinlich mehr gerührt bin als Tim selbst. Ich komme dann, nachdem wir über seinen kranken Vater gespro- chen haben, auf das Fernsehen zurück: Interviewer: (4) ähm (5) ich meine wenn du jetzt äh darüber nachdenkst was wir jetzt so gemacht haben zum fernsehen oder so was fällt n dir noch ein vielleicht jetzt ähm was man noch anders hätte machen können was wichtig gewesen wäre was spannend gewesen wäre vielleicht noch in dem zusammenhang Tim: ja vielleicht noch so darüber reden wie die autoren auf so eine sendung kom- men [ja] also wie sie sich das ausdenken wie sie darauf kommen damit die jugend von heute auch weiß wieso sie sowas machen [ja] weil bei mir ist es so ich glaub die wollen uns etwas zeigen darum machen die das I: was meinst du? was die zeigen wollen? T: dass nicht jedes leben gut verlaufen kann dass jeder stress in seinem leben hat [ja] dass sie das zeigen wollen I: das wär ja ganz gut eigentlich auch oder? oder wie findste das? T: ja das wär eigentlich auch gut [ja] eher gesagt das is gut damit jeder weiß dass er nicht der einzige ist der probleme hat [ja] dass jeder auf der welt probleme hat damit die das wissen [ja] I: das ist ist das auch für dich wichtig gewesen beim fernsehen (.) zu sehen (.) andere haben probleme haben auch probleme oder 74 ZfM 20, 1/2019 MIT­SCHREIBEN T: ja es geht so (.) es geht so aber mich hats schon erfreut dass ich damals auch nicht der einzigste war der probleme hatte [ja] und ja und darum habe ich mir die sachen auch gerne angeguckt damit ich auch vielleicht nen weg finde wie ich die sachen lösen kann [ja] Ich will nicht behaupten, dass Tim hier zum ersten Mal auf diese Weise über das Fernsehen nachgedacht hat, aber es ist kaum ein anderer Raum vorstell- bar, in dem es zu der Aktualisierung dieses Gedankens hätte kommen können, als in diesem Interview, nicht in den Gruppendiskussionen, an denen Tim be- teiligt war, wohl auch nicht in einem Gespräch unter Freund_innen, mit dem Vater oder einer Lehrerin: Diese Aussage ist zustande gekommen unter den Bedingungen eines Projekts, dass dem Fernsehen und seinen Reality-Forma- ten – vorsichtig gesagt – sehr aufgeschlossen gegenüberstand. Unser Interesse an der affektiven Intensität dieser Formate war schließlich der Ausgangspunkt unseres Seminars gewesen. Es ist klar, dass diese Aussage nicht immer und un- ter allen Umständen wahr ist oder dass sie einfach unwahr ist: Sie hat eine – wie Bruno Latour sagen würde – relative Existenz,16 sicher sehr viel instabiler als Pasteurs Milchsäureferment: Sie ist in einem Maße singulär, dass sie sich wohl nicht wiederherstellen, nirgendwo reproduzieren lässt. Ich bin mir jedenfalls nicht sicher, ob Tim das irgendwann so noch einmal sagen würde. Das nächste Jahr ist für ihn nicht besonders gut gelaufen, auch wenn er inzwischen einen Schulabschluss hat. Und dennoch ist das nicht beliebig, was sich hier ereig- net zwischen Nichtfernsehen und ‹das-Fernsehen-will-mir-etwas-sagen›, es hat ‹eine Botschaft›, ja, es hat eine Botschaft für mich, eine Botschaft, die mir hilft. Ich frage Tim dann nach diesen Problemen: Interviewer: hast du geschlagen auch? Tim: ja aber ich konnt mich schon zurückhalten und habs (.) ich konnt mich zu- rückhalten [ja] dass das nicht so eskaliert [ja] und darüber bin ich froh ich bin froh dass ich mich geändert hab dass ich nicht mehr so bin [ja] I: das würdest du jetzt nicht mehr machen [nein] einfach also was heißt einfach ne also jemanden schlagen wenn du schlecht drauf bist oder? T: ja wenn ich hass habe dann schlag ich einfach gegen wände dann tut meine hand weh dann ist alles ok wieder [ja] I: hast du oft hass? T: eigentlich nicht mehr [ja] nicht mehr (.) aber wenn ichs hab dann kann ich (.) darauf achten dass es nicht passiert [ja] I: haste ne erklärung wo der hass hergekommen ist auch oder T: aus dem magen is der hass rausgekommen [ja] und aus dem kopf denn wenn ich zu oft daran gedacht hab [ja] dann is mir das zu weit gekommen da hatt ich immer puren hass und dann musste ich den rauslassen [ja] (5) I: der war einfach da dann [ja] der kam dann und T: der war einfach da und dann musste ich den auch raus lassen [ja] weil ich hab auch keine lust die ganze zeit mit hass rumzulaufen darum hab ich das einfach aufgegeben und hab damit aufgehört [ja] <> auch scheiße weil wenn ich mit meinen freunden unterwegs bin und ich dann die ganze zeit hass hab mach ich die auch irgendwann mal doof an und dann hab ich auch immer stress mit denen [ja] 16 Vgl. Bruno Latour: Die Hoffnung und da hab ich auch kein bock drauf [ja] der Pandora, Frankfurt / M. 2002, 380. WAS UNS ANGEHT 75 STEPHAN TRINKAUS Diese Probleme sind sicher stabiler als das Fernsehen, als die vermeintliche Bot- schaft des Fernsehens, aber sie stehen damit in Zusammenhang. Das Fernsehen hat etwas zu tun mit diesem Hass und es antwortet auf diesen Hass. Es antwortet nicht immer gleich, es ist mitunter nötig, sich vom Fernsehen zu distanzieren, also nicht fernzusehen, und es hilft manchmal mit dem, was man für seine Bot- schaft hält. Vielleicht ist es auch eine Wand, gegen die man schlagen kann. Es könnte sich aber auch mit dem Magen, aus dem der Hass aufsteigt, verbünden, ihn verstärken. Es operiert auf einer Ebene, in der nicht ausgemacht ist, was entsteht, es ist aber daran beteiligt. Es ist in einem bestimmten Sinne nicht egal, ob wir fernsehen oder nicht. Es macht einen Unterschied, aber wir können nicht mit Bestimmtheit sagen, welcher Unterschied das sein wird. Die britischen Fernsehforscherinnen Beverly Skeggs und Helen Wood haben in einer empirischen Studie zu Affekt und Reality-Fernsehen zeigen können, dass Fernsehen Klassenzugehörigkeit reproduziert, allerdings nicht in dem, was sie seine affektive Ambiguität nennen, sondern in der Art und Weise, wie diese erlebt, gewissermaßen habituell konstelliert wird.17 So legten die von ihnen befragten und beim Fernsehen begleiteten Mittelschichtsfrauen Wert auf eine kritische, refle- xive Distanzierung, die mögliche Manipulationen und schlechte Bezahlung der Darsteller_innen thematisierte, während es bei der Gruppe der working class-Frau- en eher um eine solidarisierende Teilnahme ging, die sich von der eigenen Verstri- ckung in die affektive Realität des Fernsehens gerade nicht distanziert. Vor allem aber – so Skeggs und Wood – lassen sich die Methoden ihrer Untersuchung nicht von diesen Konstellationen trennen: Sie bilden gewissermaßen selbst Konstellati- onen oder Ökologien der Teilnahme. Während das Einzelinterview die reflexive Distanzierung zu privilegieren, ja zu erfordern scheint, produzieren Gruppendis- kussionen und gerade die von Skeggs und Wood entwickelten Methoden des affec- tive / textual-encounter und text-in-action ganz andere affektive Dynamiken der Teil- nahme jenseits der selbstreflexiven Logik individueller Akteur_innen. Empirische Instrumente wie Gruppendiskussion und Einzelinterview, aber auch Reflexivität und Beobachtung, Distanzierung und Neutralität haben einen sozialen Ort, eine reproduktive Dynamik. Das war auch ein Grund, weshalb wir die Einzelinterviews ans Ende unseres Projekts verlegten: um nicht mit der Distanzierung der indivi- duellen Reflexion und damit der Reproduktion sozialer Hierarchien anzufangen, sondern erst einmal so etwas zu schaffen wie Vertrauen oder das, was Winnicott haltende Umwelt nennt, also eine Erfahrung der eigenen Agentialität innerhalb des Projekts zu ermöglichen. Es scheint erst einmal so, als ob uns das in diesem Interview gelungen ist, es ließe sich aber genauso gut sagen, dass das hier in eine besonders hinterhältige Form der Integration umschlägt: Das Interview mit Tim scheint ihm eine Institutionenbejahung aufzuzwingen, von der er sich in seiner kollektiven Collage in der Gruppenwerkstatt zu Beginn des Projekts (in deren 17 Vgl. Beverly Skeggs, Helen Zentrum das Akronym A.C.A.B. steht) ausdrücklich distanziert. Wood: Reacting to Reality Television. Insofern ist es sicher auch diese reflexive Form, von der Skeggs und Wood Performance, Audience and Value, London, New York 2012. sprechen, die in diesem Interview eine Botschaft des Fernsehens mithervorbringt, 76 ZfM 20, 1/2019 MIT­SCHREIBEN die sich auf die Erfahrung oder die Erinnerung eines Bezugs, eines Gehaltenseins durch das Fernsehen, bezieht. Das aber, was dann entsteht, die Möglichkeit eines guten Willens des Fernsehens bzw. derjenigen, die womöglich hinter dem Fern- sehen stehen und es mit einer Intention verbinden, das entsteht in den Konstel- lationen, den Apparaturen, den mehr oder weniger prekären Gefügen, die diese Aussagen erst ermöglichen und halten. In diesem Sinne sind Methoden Ökologi- en: haltende Umwelten zerbrechlicher Phänomene, die erst ermöglichen, was sie erfassen sollen. Es geht hier nicht um Projektion und nicht um Sozialkonstrukti- vismus – dieses Interview und seine Bedingungen, unser Projekt und Tim, mit all seiner Abwehr und den Niederlagen, dem Misstrauen und der Zuversicht, die in diesem Moment möglich ist, und ich als Interviewer, der sich für Tim und für das Fernsehen interessiert, aber auch das Fernsehen selbst, das Ende des Schuljahres und der sommerliche Schulhof, auf dem es stattfand, sind wirklich, sind relatio- nale Ereignisse, Phänomene. Empirisches Forschen handelt vom Teilnehmen an den Praktiken selbst, davon, Umwelt zu werden, zu halten und gehalten zu wer- den, gemeinsam an den Apparaten zu bauen, die neue agentiale Schnitte (Karen Barad) verantworten und neue Verschränkungen ermöglichen. Empirie handelt 18 «Wir glauben nur an eine nicht davon, etwas zu messen, das bereits da ist; nicht, weil die Messung einen au- Politik Kafkas, die weder imaginär noch symbolisch ist. Wir glauben ßerhalb des eigentlichen Prozesses stehenden Fremdkörper bildete, der den Pro- nur an eine oder mehrere Maschinen zess störte, oder weil die Dinge oder (Hyper-)Objekte in einem ihr unerreich- Kafkas, die weder Strukturen noch Phantasien sind. Wir glauben nur, baren Dunkel lägen, sondern weil sie selbst eine Beziehung ist, eine Relation, daß Kafka Experimente protokolliert, eine Teilnahme, eine Ökologie und insofern immer schon ein Anderswerden, daß er nur Erfahrungen berichtet, ohne sie zu deuten, ohne ihrer Bedeutung Diffraktion. Empirie ist enactment dieses relationalen ‹Zwischen›. Ist es möglich, nachzugehen […] ein Mensch, der und das scheint mir die Frage einer kleinen 18 medienw issenschaftlichen Empirie schreibt, ist niemals ‹nur ein Schrift­ steller›: Er ist ein politischer Mensch, zu sein, Methoden zu entwickeln, die nicht die Gegebenheit und Stabilität der und er ist ein experimentierender Welt reproduzieren, sondern ihre grundlegende Prekarität, unsere grundlegende Mensch (der aufhört Mensch zu sein, um versuchsweise Affe zu werden, Prekarität, unsere Nichtgegebenheit halten? oder Käfer, Hund, Maus, irgendein Tier, jedenfalls etwas Nichtmensch­ Tuhami bot mir (und die Folgen davon spüre ich noch jetzt, da ich an der Nieder- liches […]).» Gilles Deleuze, schrift sitze) die Möglichkeit zu manövrieren, zu beeinflussen und zu heilen, die Ge- Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt / M. 1976, 12 f., legenheit zu einer stellvertretenden Mitwirkung, die am Ende vielleicht gar nicht so Herv. i. Orig. stellvertretend war.19 19 Crapanzano: Tuhami, 176. — WAS UNS ANGEHT 77 Abb. 1 – 10 Stills aus dem Dokumentarfilm We Are Zama Zama, Regie: Rosalind Morris, Kamera: Ebrahim Hajee, Kameras unter Tage: Bhekani Mumpande, Darren Munenge und Prosper Ncube, 2019 78 ZfM 20, 1/2019 R O S A L I N D C . M O R R I S im Gespräch mit D A N I E L E S C H K Ö T T E R VERSUCHSZONEN DES SPÄTI NDUSTRIALISMUS — Goldabbau in Südafrika Was passiert, wenn die Minen schließen: Die an der New Yorker Columbia Uni­ versity lehrende Anthropologin und Kulturtheoretikerin Rosalind C. Morris forscht seit zwei Jahrzehnten in südafrikanischen Goldabbauregionen, in denen sie die Transformationen im und vom industriellen Bergbau zum spätindustriellen eigen­ ständigen Bewirtschaften der Minen, aber auch die Transformation der Townships und Gemeinschaften im Umfeld der Minen beobachtet und beschrieben hat. In den vergangenen Jahren hat sie dort vor allem Mitglieder der sogenannten Zama Zama begleitet, zumeist illegalisierte Migrant_innen, die in stillgelegten Gold­ minen in kleinen Gruppen Gold schürfen. Morris’ Forschung und Arbeit mit ih­ nen im Rahmen ihres «Zama Zama Project» schlägt sich unter anderem nieder in einer Mono grafie (Unstable Ground, in Vorbereitung), einem Dokumentarfilm, We Are Zama Zama, der 2019 herauskommen wird, und einer Videoinstallation, The Gamblers, die im Januar in Berlin gezeigt wurde. Rosalind Morris sprach mit Daniel Eschkötter über die Goldminen als Theater und als Versuchszonen der Apartheid in Südafrika, über Zama Zama als Typus und Singularität, über die Zeitlichkeit des Anzestralen und die residualen (Flieh­)Kräfte der Industrialisierung. — Daniel Eschkötter Wie und wann haben Sie angefangen, sich für extraktivisti- sche Ökonomien zu interessieren und zum Komplex von Goldminenarbeit, Deindustrialisierung und Migration in Südafrika zu forschen? Rosalind Morris Nach Südafrika bin ich zum ersten Mal 1996 gereist, auf Ein- ladung zu einer Tagung, die anlässlich der Einsetzung der Truth and Recon- ciliation Commission (TRC) in Kapstadt stattfand. Zu der Zeit hatte ich vor allem in Südostasien zu medientechnologischen und kulturpolitischen Fragen 1 Vgl. etwa Rosalind C. Morris: geforscht.1 Und diese Arbeit, überhaupt meine Beziehung zu dieser Welt, wa- In the Place of Origins: Modernity and Its Mediums in Northern Thailand, ren aus vielen Gründen an ein Ende gekommen; es gab keinen Ansatzpunkt Durham, London 2000. WAS UNS ANGEHT 79 ROSALIND C. MORRIS | DANIEL ESCHKÖTTER mehr für eine politische Identifikation, und wegen Thailands drakonischer Lèse-Majesté-Gesetzgebung (und einiger Texte, die ich geschrieben hatte) war noch dazu unklar, ob ich überhaupt hätte weiterarbeiten können. In Südafrika wollte ich gar nicht unbedingt zur TRC und dem Theater der Transition forschen. Es war eher die gesamte politische Lage, die mich inte- ressiert und auch beeindruckt hat: der Wille zur radikalen Veränderung und der unglaubliche Erfindungsgeist, die große Tapferkeit, aber die auch nicht unbeträchtliche Wut, die damit einhergingen. Die Kategorien des Politischen wurden da auf eine mir bis dato nicht bekannte Art mit Leben erfüllt. Ich habe viele persönliche Verflechtungen nach Südafrika und diese hatten mich vorher eher dazu veranlasst, dort nicht auch noch zu forschen. Aber letztlich ergab sich meine Arbeit – ich würde sagen: weniger über die Minen selbst als um sie herum oder in ihrem Schatten – sowohl aus meiner persönlichen Beziehung zum Bergbau (ich bin in einer Minengemeinde aufgewachsen) als auch aus den Erzähl- und Arbeitsformen, die in solchen Gemeinden und Gemeinschaften zu finden sind. In vielerlei Hinsicht waren die Minen Südafrikas die Versuchszonen der Apartheid, in denen die Form des südafrikanischen Staates überhaupt produziert worden war. In ihnen trat seine Geschichte, die Entstehung dieser Staatsform sedimentiert in Erscheinung: vom oszillierenden Migrationssystem über die ästhetische Logik der compounds, der Minenarbeiterhostels und -siedlungen bis hin zur Schaffung geradezu bizarrer Formen von Sozialität, in denen Stadt und Township in einem Verhältnis unglaublicher Asymmetrie – 20.000 zu 250.000 Anwohner_innen – standen. Man konnte den Fetisch des Goldes geradezu s ehen. Gleiches galt für den Fetisch der Mine, die einen riesigen Halbschatten warf, in dem alles irgendwie schillernd und zugleich unsichtbar war. In meiner Forschung sollte es ursprünglich um Unfälle in diesem Komplex gehen; der Unfall schien mir – fälschlicherweise – eine Art Konzeptmetapher oder konzeptueller Operator zu sein, der die Minenwelt auf mehrere interes- sante Weisen ausrichtete: zunächst natürlich als Horizont möglicher Erfahrung für die Arbeiter – im Wissen aber, dass die überwiegende Mehrheit der Men- schen, die in Bergbaustädten leben, nichts mit der direkten Minenarbeit zu tun haben. Ein Großteil des damaligen – eigentlich entpolitisierenden – Diskurses verschleierte das historische Problem als eines des Geburtsun- oder -zufalls: an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit geboren zu werden, so dass man unerbittlichen Arten von kontingenter und strukturell überdeterminier- ter Gewalt ausgesetzt ist – ohne einen Grund, der dem Subjekt zugeschrieben werden könnte. Es ging auch um die statistische Frage der Lebenserwartung mit Rückgriff auf den Begriff des Unfalls. «Unfall» schien mir also vielfältig relevant und anschlussfähig zu sein in Südafrika. Aber als Begriff war das ein- fach nicht hinreichend, um die Verhältnisse zu erfassen. Und klar, wenn man 20 Jahre lang zu einem Ort forscht, ändert sich die Arbeit mit dem Leben der Menschen … Die AIDS-Epidemie etwa war eine zentrale Lebenskoordinate 80 ZfM 20, 1/2019 VERSUCHSZONEN DES SPÄTI NDUSTRIALISMUS in dieser Welt; Politik, Alltag, Beziehungen, alles hat sich dadurch verändert. Auch etwa die Art und Weise, wie Minen mit der Frage nach ihrer Verantwor- tung gegenüber ihren Arbeitern umgegangen sind. Oder die TRC und wie sie die Vorstellungen vom Politischen veränderte. Lokale Kämpfe um die lokale Regierungsführung und Konflikte zwischen den Gewerkschaften in den Minen trugen ebenfalls dazu bei, die Zusammenhänge zu verändern – und auch, wie ich sie begrifflich zu fassen versuchte. Irgendwann erschien mir unstable ground eine gute Formel, ein Konzept zu sein, um die multiplen Erschütterungen, Instabilitäten (auch des Nachdenkens über Minen) und den langen Prozess der Selbsttransformation zu begreifen – und auch die (Un-)Möglichkeit der Gründung (eines neuen Regimes, eines neuen Staats) auf und nach dem, was vielleicht (k)eine Revolution zu sein versuchte … D. E. Der Bergbau hielt also eine politische Metapher, ein metaphorisches Er- schütterungspotenzial bereit, die es auch möglich machten, über die TRC mitnachzudenken? R. M. Ja, aber auch eine philosophische Frage: Was ist das Wesen dieser Grün- dung oder ihre Szene? Außerdem spielte in all dem natürlich die Kategorie des Untergrunds eine Rolle, als buchstäbliche, mythopoetische, aber auch als po- litische Referenz, denn gerade in der Welt, in der ich mich aufhielt, war die Kategorie und Praxis des politischen Untergrunds nach den Sowetoaufständen von zentraler Bedeutung. Unstable ground war also für mein Verständnis der Minenumwelt die viel offenere Konzeptmetapher, viel besser geeignet, um das theoretische Projekt mit der empirischen Lage zu verbinden. Darum geht es schließlich in der Anthropologie immer auch: um diese Nähe und Verbindung. Wenn man nur beim empirischen Material bleibt, dann kommt dabei lediglich eine Fallstudie heraus. D. E. Das rhetorische Register des Theatralen klingt nicht nur in Ihrer Skiz- zierung der politischen Übergangssituation und der ‹Bühne› der TRC an. Auch in Ihrer Beschreibung der Minen bin ich immer wieder auf Theater- metaphorik gestoßen. Inwiefern haben Sie da auch eine Bühne vorgefunden? Und geht damit das staging, die Aufführung und Performanz einer spezifi- schen Subjektivität einher, die sich irgendwie in der Minenarbeit – ob nun industriell oder postindustriell, formal oder informell – festmachen ließe? R. M. Ja, als diese industriellen Bergwerke noch in Betrieb waren, begegneten sie mir tatsächlich als theatrale Räume. Und zwar durchaus in dem Sinne von Theatralität, den man in Walter Benjamins Passagen-Arbeit findet. Die Mi- nen begreife ich aus mehreren Gründen geradezu als das negative Bild der Passagen – und das nicht nur, weil die Passagen zum Ziel dessen wurden oder werden, was in diesen Minen abgebaut wurde. Formal gesehen gibt es eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit zwischen den Architekturen der Passage und der Mine. Der Vergleich mag lächerlich anmuten: Wie kann das Theater WAS UNS ANGEHT 81 ROSALIND C. MORRIS | DANIEL ESCHKÖTTER des Lichts in irgendeiner Weise sein analoges oder negatives Bild unter der Erde haben? Aber was in diesen Theatern des industriel- len Bergbaus zu sehen war – und insbesondere in Südafrika, wo sich viele der tiefsten (Gold-)Minen der Welt befinden –, war erstens Tech- nologie. Und zweitens betrifft der Zusammenhang zu den Passagen die Vermittlung und Verbreitung, sowohl global als auch in einem sehr spezifischen nationalen Thea- ter: als die Szene, in der die ethni- sierte Arbeit ihre Funktion als Supplement der Maschine erlangte und in der sich diese Maschine in gewisser Weise durch die Aufrechterhaltung ethnischer Differenzen rechtfertigte. Als ich das erste Mal eine der extrem tiefen südafrikanischen Minen hinunterf uhr, hatte ich den Eindruck, aufgefordert zu werden, auf eine be- stimmte Art Zuschauerin zu sein. Aber die Frage nach dem Theater in diesem Raum, der nun eher die Ruine dieses ehemaligen Proszeniums ist, erscheint mir heute noch schwieriger: Nicht nur ist das Publikum jetzt radikal verscho- ben, entortet, sondern das gilt natürlich auch für die Subjekte, die diese Bühne bevölkern. Diese neuen Subjekte sind die illegalisierten Migrant_innen und ‹informellen› Bergarbeiter wie etwa die sogenannten Zama Zamas, mit de- nen ich arbeite. Sie suchen gleichzeitig Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit; sie wollen dokumentiert werden, im mehrfachen Sinn des Wortes; sie wollen in ein Sichtbarkeitsregime eintreten, das ihnen Anerkennung vom Staat, von an- deren, von den Nutzer_i nnen von Social Media usw. gewährt. Aber was mir an dieser Ruinenlogik am wichtigsten erscheint – und das habe ich tatsäch- lich mehr noch von Benjamin als vor Ort gelernt –, ist der Umstand, dass die frühere Theatralität erst im Moment der Zerstörung sichtbar wird. Was im Minenruinentheater zur Aufführung kommt, scheint mir nicht zuletzt die Er- fahrung der Gegenwart als Verlust der technologischen Modernität zu sein, oder die Narration dieser Erfahrung. Und das ist selbst eine seltsame Unter- brechung der generischen Erzählung von Deindustrialisierung oder postin- dustriellem Leben. D. E. Die Ruine der Mine wird in dieser Theatralität, aber auch in ihrer Be- ziehung zur Geschichte, wie sie Benjamin in seinem Allegorieverständnis begreift, fast so etwas wie eine absolute Metapher für die Epoche oder das Stadium der Postindustrialisierung. Wenn es dabei bliebe, wäre das eine viel- leicht etwas unbefriedigende Emblematisierung und Stillstellung ziemlich 82 ZfM 20, 1/2019 VERSUCHSZONEN DES SPÄTI NDUSTRIALISMUS dynamischer Prozesse. Aber an- dererseits scheint es Ihnen gera- de mit den neuen Subjekten der Zama Zamas doch auch um Zu- sammenhänge zu gehen, die sich in dieser Metaphorik nur bedingt fassen lassen. R. M. Ja, die Ruine sollte keinesfalls nur die Funktion einer Chiffre ha- ben. Aber Ihre Frage bezog sich ja ursprünglich auf die Aufführung, die Bühne von Subjektivität, und das ist in der Tat schwerer zu fassen. D. E. Ich komme noch einmal darauf zurück, weil sich in Ihrem Projekt man- ches auch an dem Namen für die heterogene Gruppe der illegalisierten Mi- grant_innen und informellen Minenarbeiter entzündet, zu oder mit der Sie arbeiten: Zama Zama, «die Spieler». Aus dieser Typologie und aus den singulä- ren Existenzen der Subjekte der Forschung ergibt sich ja auch eine Spannung. Aber vorher vielleicht etwas konkreter gefragt: Was waren die Eingangspor- tale in die Welt der Zama Zamas und in die filmische Arbeit dort? Gab es zum Beispiel «ambassadors», wie Jason Pine das in einem Laborgespräch vor drei Jahren mal genannt hat,2 Leute oder Orte mit Türöffnerfunktion? R. M. Es gab ein Haus in einer der ehemaligen Minentownships, die nun ein Zentrum für den ‹informellen› Goldabbau ist, das für mich als Ausgangspunkt diente. Das war eine Anlaufstelle für viele der jungen Männer nach ihrer An- kunft in Südafrika. Manche blieben länger oder kamen oft wieder, es war ein Treffpunkt, mit einem kleinen Laden, einer Küche, es wurde gespielt oder ein- fach abgehangen. Ich verbrachte viel Zeit dort, sprach viel mit dem Mann, der dort eigentlich lebte, auch über meine Idee, einen Film mit Zama Zamas zu machen. So verbreitete sich das, er hat die Leute wissen lassen, dass ich da und ansprechbar war, dass ich niemandem hinterherlaufen, niemanden zur Mitar- beit drängen würde. Und irgendwann waren da diese drei jungen Männer, drei Zama Zamas, die interessiert waren und an einem Film mitwirken wollten. Wir haben das einige Tage lang durchgesprochen; auch über meine Sorge, dass sie das zu stark exponieren könne, zumal wegen der physischen Präsenz der K amera. Ich hatte unterschiedliche Ideen, wie wir die von mir projizierten Risiken verringern könnten: wenig Tiefenschärfe, ihre Gesichter nicht zeigen und Ähnliches. Ein eher abstrakter, gestischer Film, das war die Idee. Aber die drei lehnten das völlig ab: Sie wollten vor der Kamera in Erscheinung treten, 2 Vgl. Jason Pine im Gespräch wollten selbst die Kameras nehmen, an der Konzeption der Aufnahmen unter mit Daniel Eschkötter: Eine totale Tage mitarbeiten. Auch sie leben schließlich in einer Welt der Massen- und Ökologie – Meth in Missouri, in: Z eitschrift für Medienwissenschaft, Sozialmedien. Wie wenig auch immer die Leute haben mögen, es gibt den Nr. 14, 2016, 106 – 119. WAS UNS ANGEHT 83 ROSALIND C. MORRIS | DANIEL ESCHKÖTTER Fernseher, Social Media usw. Die Kamera gab dem Projekt die Struktur des Begehrens; die drei haben sich, durchaus in einem sehr ernsten lacanianischen Sinn, dem Gesehenwerden überantwortet. Ihre Welt, die Welt der Zama Zamas, ist eine, in der das Spielen, der Aus- und Einbruch, kontingente Ereignisse, ob nun katastrophisch oder produk- tiv, ganz anders im Bewusstsein und im Unbewussten insistieren. Es gibt eine ganz andere Ausrichtung auf diese Möglichkeit oder Gefahr, die sich durch Risikoerwägungen überhaupt nicht fassen ließe. Für diese Welt der postin- dustriellen Extraktion, die eben auch einfach «Glücksspiel» oder «Spielen» genannt wird, existiert eine andere Werteordnung. Die alte (industrielle) Ordnung sucht sie auf verschiedene Weisen heim; in der neuen Ordnung schlägt sich auch das nieder, was, wie es zum Beispiel Bataille immer betont hat, der wirtschaftlichen Logik einer liberal(er)en Ordnung immer noch ver- steckt innewohnt. Ob das in den Ruinen sozusagen aufgeführt wird, um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, ist eine andere Sache. Zumindest unter- scheidet sich die Subjektivität, das individuelle Leben, das von einem mögli- chen Einbruch des Schicksals oder Ausbruch eines plötzlichen fantastischen Reichtums bestimmt wird, sicher von denen in einer scheinbar rationaleren Wirtschaftsordnung. Es gibt dann natürlich unterschiedliche Erklärungen für diese Ausgesetztheit und Möglichkeit des Einbruchs radikaler Kontin- genz, oft durch den Rückgriff auf die Idee einer alten Macht, die die Effekte menschlichen Handelns beeinflusst. Im Postrevolutionären im Allgemeinen – und man kann Südafrika heute s icher als ein Land beschreiben, das postrevolutionär formatiert ist – ist die Kategorie des Anzestralen immer zentral. Was man in dieser Welt lernt, ist, dass die Vorfahren genauso das sind, was aus der Zukunft kommt, und nicht nur eine Sache der Vergangenheit, die zu Parodie und Farce werden kann. Und dass diese beiden Dimensionen – die radikale Begegnung mit der Eruptions- möglichkeit, die einer postindustriellen und damit postrationalisierten Wirt- schaft innewohnt, und die Vorfahren als das, was aus der Zukunft kommt – mit- einander verbunden sind. D. E. Nicht nur in diesem Zusammenhang fällt auf, dass Ihre Arbeit, Ihr Den- ken oft von Denkfiguren und Tropen der Zeitlichkeit und ihrer Analyse geleitet wird. Sehr oft begegnet man Figuren der zukünftigen Vergangen- heit, der Nachträglichkeit und des Nachlebens, Zeitlichkeitsfiguren, die wir auch aus Diskursen über Heimsuchungen und andere Phänomene kennen, die, mit Derrida gesprochen, die «lebendige Gegenwart» teilen. Hier be- gegnet uns das ja auch schon in Ihrer Analyse des Postindustriellen – oder Spätindustriellen, wie Kim Fortun das nennt –, um genau so ein Nachleben der Materialien, Stoffe und Substanzen, aber auch kulturellen Techniken in der Landschaft, den Böden, den menschlichen Körpern und Köpfen zu betonen. Das «Post-» wird durch so einen Fokus auf die Überbleibsel und 84 ZfM 20, 1/2019 VERSUCHSZONEN DES SPÄTI NDUSTRIALISMUS das Nachleben ja in Zweifel gezogen. Diese Verbindung, die Sie auch eben aufgemacht haben, interessiert mich, diese unterschiedlichen Schichten des Anzestralen, von den Leben über die Diskursebene bis zu der spezifischen historischen Lage im Südafrika in der Zeit der TRC, also schematisch ge- sprochen, nach der Apartheid, aber auch vor der ja noch nicht abgeschlosse- nen Deindustrialisierung des Goldabbaus. R. M. Zunächst einmal: Wenn die Kritik an der Metaphysik der Präsenz heute relevant sein soll oder kann, dann nur, wenn sie – da mag die Anthropologin in mir sprechen – auch eine hinreichende Beschreibung bietet für gegenwär- tige Weltverhältnisse … D. E. … oder Existenzweisen. R. M. Genau. Es gibt natürlich viele Modi, viele Regime, viele Formen des Seins in und mit Abstraktion. Gerade aber im Hinblick auf die lange, kompli- zierte Geschichte der Abstraktion, die uns zum einen in der Sprache gegeben ist, die dann aber in bestimmten Ökonomien rationalisiert und in gewisser Weise totalisiert wird, erfordert die Analyse dieser Abstraktion eine Kritik an der Metaphysik der Präsenz als jener Struktur, in der die Abstraktion immer wieder verstellt wurde. Ich meine damit nicht, dass die Metaphysik der Prä- senz nur in die kapitalistische Ära gehört, obwohl ich durchaus denke, dass aus ihrer Kritik etwas für das Verständnis industriell kapitalisierter Welten abgeleitet werden kann. Bei Derrida konnten wir viel davon lernen, aber ge- rade bei Derrida sieht man auch die Falle: Die Frage des Kapitals ist bei ihm mindestens unbefriedigend gestellt – eben weil es ihm nicht um die Kategorie des Industriekapitals geht. Alles ist für ihn immer schon Finanzialisierung. Auf der anderen Seite gibt es eine besondere Transformation, die stattfindet, wenn Kapital investiert wird und Produktion in Produktivität umgewandelt wird. Um die Geschichte des Kapitalismus und auch gerade die des Extraktivismus zu verstehen, braucht man diesen doppelten Blick: zu erkennen, dass die Ab- straktion überall ist, aber auch, dass sie im industriellen Kontext eine spezifi- sche Form annimmt. Aber richtig, es geht auch immer darum festzuhalten, dass die Gegenwart nicht als vollkommen selbstpräsent oder selbstgenügsam angesehen werden kann und dass diese Perioden des postindustriellen, deindustriellen, spätin- dustriellen Lebens von allem Vorhergehenden radikal überdeterminiert sind. Und das gilt natürlich auch im materiellen Sinn. Die Oberflächen, die bei den Zama Zamas zum Schleifen der Steine verwendet werden – die dann zu Pulver zum Schmelzen verarbeitet werden und so die Gewinnung von Gold ermög- lichen –: Sie sind glatt, weil sie auf eine spezifische Weise hergestellt wurden. Sie sind auch das Ergebnis industrieller Technologien. Aber in Bezug auf die Logik des Kapitals gilt das genauso für die lange Geschichte der Migration, die Formen des Anzestralen, die Ängste mit Blick auf die ethnische Situation: eine Vielzahl von Strukturen, die sich gegenseitig stützen und überlagern, aber alle WAS UNS ANGEHT 85 ROSALIND C. MORRIS | DANIEL ESCHKÖTTER haben eine Bedeutung, die über ih- ren Ursprung und ihre anfängliche Funktion hinausgeht. Sie erzeugen spektrale Kräfte von relativer und unterschiedlicher Intensität zu un- terschiedlichen Zeiten. Das Spekt- rale, das Geisterhafte, das Anzest- rale, das sind alles Figuren für eine extra- oder nichtlineare Zeitlich- keit. Die Analyse solcher extrali- nearen Kräfte kann auch schnell formalistisch werden und an der Beschreibung und Analyse des Be- obachteten vorbeizielen, da muss man vorsichtig sein. Aber dass die Berufung auf das Anzestrale nicht einfach nur ein melancholisches Projekt ist, nicht einfach eine Rückwärtsbewegung; dass es um die Beschreibung einer komplexen Erfahrung des Anzestralen geht; auch deutlich zu machen, dass Rückkehrfantasmen und Herkunftsfantasien immer politisch saturiert sind; dass die Annahme, Deindustrialisierung bedeu- te eine Rückkehr des (Kunst-)Handwerklichen, geradezu ein Akt analytischer Gewalt und auch ein politisches Versagen, aber auch einfach empirisch falsch und eine völlig unzureichende Beschreibung der residuellen Kräfte wäre, die in den Leben der Menschen produktiv wirksam sind: All das festzuhalten, ist absolut zentraler Antrieb meiner Arbeit und wichtiger Teil des Projekts. D. E. Die residuellen Kräfte am Werk zu sehen – und das eben nicht nur diskursiv: Hat Sie das quasi zwangsläufig in die Grenzgebiete im Mehr- fachsinn (territorial, sozial, ökonomisch) geführt, sozusagen als neue Ex- perimental- oder Versuchszone, wie Sie das eben genannt haben, in der sich noch größere politische, aber auch epistemologische Verschiebungen beobachten lassen? Und konkreter gefragt: Welche Rolle spielen diese Anordnungen des Anzestralen bei den Zama Zamas bzw. haben die Zama Z amas ein anderes Nachdenken darüber, aber auch über die Kategorien der Gründung provoziert? R. M. Für mich waren diese Verschiebungen natürlich völlig real: Schon am An- fang meiner Forschung begann ich Leute zu fragen, was ihrer Meinung nach passieren würde, wenn die Minen schließen würden. Für viele war das zu- nächst undenkbar. Aber eigentlich allen Extraktionsindustrien ist diese Halb- wertszeit, diese Endlichkeit eingeschrieben. Wer das konzipiert, finanziert und investiert, weiß das. Und doch ist das subjektive Bewusstsein dieser Tatsache der Endlichkeit anders für diejenigen, die sich mit dieser Art von Sein und Selbst identifizieren, eben die Arbeiter_innen in extraktivistischen Industri- en. Einige der Minen in Südafrika haben inzwischen den Punkt erreicht, an 86 ZfM 20, 1/2019 VERSUCHSZONEN DES SPÄTI NDUSTRIALISMUS dem die Kosten der Förderung die Kapazitäten zur Gewinnerzielung übersteigen. Meine anfangs spe- kulative Frage fand also eine ma- terielle Antwort. Und weil ich das antizipiert hatte, konnte ich mir das live vor Ort ansehen. Die F rage nach den Vorfahren begegnete mir da schon, nicht erst mit den Zama Zama, und zwar in Bezug auf das Massaker von Marikana [bei dem im August 2012 34 streikende Bergleute bei der Auflösung eines Protests von Polizei und Sicher- heitskräften erschossen worden waren, Anm. D.E.]. Das war das größte kollek- tive Trauma nach dem Ende der Apartheid. Und ein Ereignis, für das die TRC eigentlich kein Aushandlungsmodell mehr zur Verfügung stellte. Stattdessen wurde Marikana zum Gegenstand von Untersuchungsausschüssen, wie sie in den alten Tagen des industriellen Bergbaus vor oder unter der Apartheid statt- gefunden hatten, Untersuchungen über Gewalt in dieser oder jener Mine. Meine ethnografische Feldforschung habe ich in den gesamten 20 Jahren in der Goldregion durchgeführt, in der Nähe vom Rustenburg platinum belt, wo die Ereignisse von Marikana sich zugetragen hatten. Aber es gab ohnehin einen Verkehr von Personen zwischen diesen Orten, so wie es da auch eine Bewegung von politischen Aktivisten gegeben hat, die Jahrzehnte zuvor gegen die Apartheid gekämpft hatten. Ich traf nach dem Massaker einige junge Ge- werkschaftsaktivisten, Leute im weltlichsten industriellen Teil der Welt. Für mich war es deshalb eine Überraschung zu hören, dass sie glaubten, sie hät- ten Marikana überlebt, weil ihre Stimmen von ihren Vorfahren gehört wor- den wären. Von den Vorfahren gehört worden zu sein, hätte ihren Stimmen Kraft verliehen und sie auch überzeugender gemacht; oder – das war schwer zu verstehen und zu entscheiden – ihre Stimmen hätten von ihren Vorfahren nur gehört werden können, gerade weil sie eine solche Kraft im politischen Bereich erworben hatten. Aber dieses Gefühl oder dieser Glaube war auch mit Wut gegen die Vorfahren verbunden. Ich fand das merkwürdig: Warum sollte dieses Gehörtwerden das Ergebnis dessen sein, was als das Versagen der Eltern, der Väter beschrieben wurde: nämlich nicht richtig gegen die Apartheid gekämpft zu haben? Die jungen Männer sagten: Wenn unsere Väter sich richtig erho- ben, wenn sie gegen die Demütigungen aufbegehrt hätten, müssten wir nicht streiken, müssten wir nicht den Tod oder Verbannung riskieren. Ich verstand das als eine Kombination aus einer Notwendigkeit der Anerkennung und einer Verleugnung der angestammten Ordnung, in der diese statthaben könnte. Aber zugleich auch als eine Unterwerfung unter dieselbe Tradition. Die Vorfahren WAS UNS ANGEHT 87 ROSALIND C. MORRIS | DANIEL ESCHKÖTTER rufen einen auch aus der Zukunft an: Eigentlich war das gewissermaßen die Urszene im Nachdenken über die Komplexität der Kategorie des Anzestralen. Dass es da keineswegs nur um eine Frage der Rückschau oder einer Verpflich- tung geht, die von der Vergangenheit ausgeht. D. E. Wie wichtig ist in dem ganzen Zusammenhang eigentlich die Unter- scheidung zwischen formalisierten und informellen Ökonomien oder Struk- turen? Oder anders gefragt: Gibt es auch jenseits solcher Unterscheidungen eine starke organisierende Kraft des gesamten Minenkomplexes zumindest im Imaginären, auch wenn der industrialisierte Bergbau verschwindet? Das mag eine sehr europäisch oder amerikanisch formatierte Frage sein. R. M. Obwohl ich meine Arbeit zu einer Zeit begonnen hatte, in der der indust- rielle Bergbau noch in voller Blüte stand, fand der Großteil meiner Forschung auch da schon an der Peripherie statt, in den Townships, wo alles informell und wo die überwiegende Mehrheit der Menschen eben nicht in den Minen be- schäftigt war. Das war ein Raum, in dem die Gewalt des Systems sich noch einmal ausdifferenziert hat und sowohl Widerstand gegen die als auch die Ver- doppelung der systemischen Gewalt hervorbringen konnte. So generierte die Architektur und Geografie der Apartheid, die etwa die Siedlung für die schwar- ze Arbeiter in fünf Kilometer Entfernung von der Mine platzierte und spezifi- sche Bewegungen von schwarzen und weißen Subjekten in dieser Landschaft erforderte, auch lokale Formen von Gewalt, indem zum Beispiel Frauen, die dieses Gelände durchqueren mussten, auch der Gewalt aufständischer Kräfte ausgesetzt sein konnten. Dabei konnte der Widerstand gegen die Apartheid letztlich oft patriarchalische Strukturen reproduzieren, die sowohl der Apart- heid wie auch den von ihr unterdrückten Gemeinschaften eigen waren. Was immer auch über Formalität und Informalität als Merkmale von Wirtschaft und Infrastruktur zu sagen wäre, so ist es zentral, dieses Fortbestehen oder Durch- dringen sozialer Logiken über verschiedene oder unterschiedlich formalisierte Bereiche hinweg zu beachten. Aber lassen Sie mich die Situation der «formal informellen» Gebiete in der Nähe der Minen genauer beschreiben: Mehr als die Hälfte der Menschen in vielen Gebieten ist arbeitslos; eine sehr große Anzahl davon hat nicht die südafrikanische Nationalität; sie leben in Hüttensiedlungen ohne Strom oder sanitäre Einrichtungen; viele verrichten sexuelle Dienste für das Lebensnotwendige. Die Menschen sind vom Reichtum der M inen angezo- gen, aber nicht unbedingt von den Minen an sich; sie leben an ihren Rändern, in ihrem Schatten. Das bedeutet, dass die informelle Welt nicht vollständig von der Fantasie und dem Imaginären der Mine bestimmt wird, auch wenn sie als Köder oder Fetisch funktioniert. Südafrikas besondere Form der biopolitischen Gouvernementalität und des Überwachungsstaates wurde in den Goldminen in vielerlei Hinsicht erfunden, einschließlich vieler Kontrolltechnologien, die von Magnetkarten bis hin zu biometrischen Verfahren reichen. Aber obwohl die Bergbauunternehmen selbst 88 ZfM 20, 1/2019 VERSUCHSZONEN DES SPÄTI NDUSTRIALISMUS als biopolitische und gouvernementale Regime agieren, die medizinische ‹Pfle- ge› oder ‹Service›, Unterkunft, Schuldenmanagement, demografische Überwa- chung usw. anbieten, ist die größere Sphäre der Ökonomie und Sozialität um die Minen eine Zone innerhalb und zugleich außerhalb der Formalität. Es gibt ganz sicher nichts Vergleichbares in Nordamerika und Europa. Diese Konstel- lation hat mich interessiert: Was ist das Bewusstsein der Menschen, die zwar ir- gendwie in einer Bergbaustadt leben, die aber zugleich so weit weg von Minen und Bergbau sind. Der konkrete Ort, an dem ich geforscht habe, war der Schauplatz eines extrem langwierigen Konflikts innerhalb des Afrikanischen Nationalkongresses, zwischen dem Nationalen Exekutivkomitee des ANC, der Gemeinschaft vor Ort und der von der ANC geführten Kommunalregierung. Das führte zur jahrelangen Schließung von Schulen, zur Zerstörung der gesam- ten Infrastruktur und zur Schaffung einer Zone in den Townships, die als un- regierbar galt, die aber ihrerseits durch formalisierte und informelle Bereiche gekennzeichnet war. Diese Ereignisse haben jedenfalls gezeigt, dass sich diese Welt auch zugleich innerhalb und außerhalb der Vorstellung der neuen Nation befand. Deshalb will ich keineswegs so verstanden werden, dass es bei diesem Ort und seiner Geschichte irgendwie um eine Bewegung von der Formalität zur Informalität gehen könnte. Zumal unter dem Deckmantel von Konzepten der (Re-)Formalisierung, die natürlich auf der Überzeugung aufruhen, dass es eine solche zunehmende Informalisierung gibt, heute ein übles internationales Polizeiregime operiert, das sich mit sehr zweifelhaften empirischen Behauptun- gen etabliert: nämlich dass durch die illegalisierte Bewirtschaftung der Minen der Volkswirtschaft heute Milliarden von Dollar entgingen. Genau das Gegen- teil ist aber meiner Meinung nach der Fall: Die zerstörten Minen und die dort entstehenden Ökonomien sind vielmehr als Umwandlungspunkte oder Öff- nungen in die formale Wirtschaft, in die Finanzsysteme zu verstehen. Klar, die großen Unternehmen haben die Minen verfallen lassen, und nun gehen einige Leute auf eigene Faust da runter und fördern unter größtem persönlichen Risiko Kleinstmengen an Gold. Aber wozu führt das, wo fließt das letztlich hin? Mieten, Konsumgüter, Lebensmittel usw.: Natürlich produziert das Anschlüsse an die legale Wirtschaft. D. E. Wenn wir bei dieser Kippfigur von formalisierter / informeller Wirtschaft und Existenzform bleiben: Sind die Zama Zamas im südafrikanischen Dis- kurs, auch mit dem schillernden Namen, selbst so etwas wie eine Konzept- metapher, oder steckt da vielleicht doch eher eine soziale Typologie und Zu- schreibung drin, eine Art neues Lumpenproletariat zum Beispiel? R. M. Ein Sozialtypus in dem Sinne, wie Simmel den Begriff benutzt? Irgend- wann ist so ein Typus ‹besetzt›, Objekt einer Kathexis im psychoanalytischen Sinn. Er funktioniert dann fast wie eine Identitätskategorie, aber eben nicht ganz – und in diesem Fall wahrscheinlich überhaupt nicht. Im Juli hatte ich eine interessante Begegnung, als ein Mann unter Tage getötet wurde und die Polizei WAS UNS ANGEHT 89 ROSALIND C. MORRIS | DANIEL ESCHKÖTTER seinen Kollegen nicht erlaubte, seinen Körper zu bergen. Als die Männer dann die Bergung gegen polizeiliche Anweisungen durch- führten, wurden sie verhaftet. Ich versuchte, sie davon zu überzeu- gen, die Männer einfach gehen zu lassen, sie wollten schließlich nur den Leichnam ihres Freundes ho- len. Als ich einen Polizisten fragte, was den Männern denn eigentlich vorgeworfen werde, sagte er, dass sie wie Zama Zamas aussähen. Die Antwort implizierte also, dass sie, weil sie so aussähen, Hausfriedensbruch begangen und Gold gestohlen haben müssten. In James T. Siegels großartigem Buch Fetish, Recognition, Revolution 3 über den Fetisch der Erscheinung im kolonialen Indonesien geht es um Inves- titurmomente, also wenn die Erscheinung Macht erlangt oder zugesprochen bekommt, zum Beispiel, indem Menschen sich die Kleidung der holländischen Kolonialmacht aneignen. Die äußere Erscheinung wird so zu einer Möglichkeit der grenzüberschreitenden Transformation oder illegitimen Mobilität. Das gilt aber natürlich auch negativ. Jedenfalls hörte ich Echos von Siegels interessan- tem Ansatz zur Politik der Anerkennung und des Auftretens in dieser Formel: «Er sieht aus wie ein Zama Zama und wird deshalb verhaftet.» Die Situation endete dann damit, dass ich versuchte, gegen die Verhaftung zu argumentieren, während der Polizist mir sagte, dass ich da nun wirklich keine moralische Au- torität hätte, weil in den USA Menschen schließlich ständig nur auf der Grund- lage von Indizienbeweisen ins Gefängnis gesteckt würden. Da konnte ich ihm natürlich nur zustimmen und an ihn appellieren, es doch anders zu machen. Später beim Filmen gab es dann einmal einen ähnlichen Moment, als wir einige Zama Zamas im Wagen hatten und die Polizei uns anhielt. Wir gingen davon aus, dass sie Bestechungsgelder wollten. Weil ich einen Kameramann und ei- nen Tontechniker dabei hatte, hielten die Polizisten uns für Journalisten und wollten schnell wieder verschwinden. Aber bei den Zama Zamas war ich mir nicht so sicher, ob sie sie nicht vielleicht verhaften wollten, eventuell um sie dann freikaufen zu lassen. Ich sagte also, ich hätte diese Typen nur angeheuert, um Zama Zamas zu spielen, und dass ich ihnen deshalb diese Kleidung gegeben hätte. Und das reichte. Es gibt also eine wiedererkennbare ästhetische Form des Zama Zama. Die Form hat einen stereotypen Charakter angenommen, der fix erscheint, aber eine andere Möglichkeitsform in sich birgt. Gleichzeitig eine Singularität und die Unmöglichkeit eines kohärenten Typus also. Auf mehreren Ebenen muss man sich auch immer bewusst halten, dass zama- 3 James T. Siegel: Fetish, Recogni- tion, Revolution, Princeton 1997. zama eigentlich ein Verb aus dem isiZulu ist, das «streben» oder «versuchen», 90 ZfM 20, 1/2019 VERSUCHSZONEN DES SPÄTI NDUSTRIALISMUS aber eben auch «spielen» bedeutet, auch wenn es dann substantiviert wird. Und dass diese Kategorie im südafrikanischen Diskurs abgren- zungsstrategisch funktioniert. Die Ausgestoßenen werden so benannt, die Form der räuberischen oder pa- rasitären Besiedlung der Goldmi- nenwelt, die am meisten verdammt wird und die trotz aller Anerken- nungsbemühungen nach Ansicht der südafrikanischen Regierung nie legitim sein wird. Zum Teil ge- schieht das aus praktischen Grün- den (eben weil die Orte, an denen die Zama Zamas arbeiten, nicht zu sichern und zu versichern sind) und zum Teil aus Xenophobie (weil die Zama Zamas hauptsächlich undokumentierte Migrant_innen sind). D. E. Steckt das irgendwie Ungreifbare, Dynamische, Unversicherbare schon darin, dass es sich eigentlich um ein Verb handelt? R. M. Zumindest denke ich, ist es ein Indiz dafür, dass es ein Missverständnis wäre, Zama Zama im Sinn eines Sozialtyps als Identitätskategorie zu begrei- fen. Es gibt ohnehin viele Arten von Zama Zamas, von selbstorganisierten, autonomen Agent_innen (die dann meist nur kurze Zeit unter Tage bleiben) bis hin zu hochgradig organisierten internationalen kriminellen Syndikaten, die oft Menschenhandel betreiben und in eindeutiger Komplizenschaft mit industriellen Minen stehen. Da können Menschen wochen- oder monatelang unter Tage sein. Das ist das wirklich Beängstigende: Die großen Syndikate ar- beiten offensichtlich in Koordination mit den noch operierenden Minenun- ternehmen oder Gewerkschaften. Ohne deren Logistik, ohne massive Liefer- ketten und Unterstützungssysteme könnten Menschen nie monatelang unter Tage sein. Ich habe Leute interviewt, die unter diesen Bedingungen gearbeitet haben, aber unmittelbaren Kontakt mit dieser Welt hatte ich nicht. Und dann gibt es natürlich die Menschen, die mehr über Tage arbeiten und die kommen und gehen. Sie kommen oft aus Mosambik. Und zuletzt natürlich Leute wie die, mit denen ich arbeite, die jeweils für einige Tage oder eine Woche unter Tage sind. Die kommen aus Lesotho, Simbabwe, auch aus Mosambik. Sie bil- den flüchtige Übergangsgemeinschaften. In jedem Gespräch ist immer eine Vielzahl von Dialekten und Sprachen zu hören. Alle sind ständig dabei her- auszufinden, woher jemand kommt und in welcher Sprache man sich nun ver- ständigen kann. Nächste Woche sieht die Gruppe schon wieder anders aus und übernächste auch, da kann sich keine Lingua franca etablieren. Linguae fran- cae erfordern Sedimentation, Stabilisierung. Das gibt es in dieser Welt nicht; WAS UNS ANGEHT 91 ROSALIND C. MORRIS | DANIEL ESCHKÖTTER die befindet sich in ständiger Transformation und besteht zudem zum Großteil aus Menschen ohne Zugang zu Bildung, bei denen oft auch der Zugang zu ih- ren ‹eigentlichen› Muttersprachen durch Erfahrungen von Trauma, Trennung und Ausschluss im kolonialen und postkolonialen Kontext gebrochen oder verstellt ist. Einige Zama Zamas sind Studierende, die Schulden oder Uni- gebühren in Simbabwe abbezahlen. Aber die meisten sind ehemalige Bauern oder Fischer oder Verkäufer und Angehörige von ethnischen Minderheiten in den genannten Staaten. D. E. Die meisten haben also überhaupt keinen früheren Bezug zur Minen- arbeit? R. M. Nein, nur sehr wenige haben den. Sie lernen bei denen, die schon da sind. Sie folgen oft Gerüchten von Leuten in ihren eigenen Dörfern oder im nächs- ten Dorf, sie folgen dem Rat von Cousins oder Onkeln usw. Frauen reisen auf etwas anderen Wegen, selten mit Männern, selten in Familienverbünden, ob- wohl dann in den Minenübergangsgemeinschaften oft Familien oder familien- ähnliche Verbünde entstehen. Die Arbeitsteilung ist kompliziert und oft durch krasse Gewalt geprägt. Die Bezeichnung Zama Zama erhält die wirklich nega- tive Aura in Südafrika, weil das Zonen sind, in denen der Staat oft aus Angst abwesend ist bzw. nur präsent ist, um sein Einflussgebiet zu sichern. Die Polizei tritt nur in Erscheinung – oder droht mit dem Erscheinen, um Leute auszu- weisen. Oder um Bestechungsgelder einzutreiben. Das ist eine Zone allgegen- wärtiger Gewalt, auch wegen der Beweglichkeit der Währungen, Gold und Bargeld. Von staatlicher Seite bleiben Raub und Mord meist ungeahndet. Der Zama Zama personifiziert für viele Südafrikaner_innen diese Gewalt und dieses Vakuum der Staatsgewalt. D. E. Er ist also auch ein failed state-Emblem … R. M. Ja, die Figur eines gescheiterten Staates – und damit ein Vorbote dessen, was bevorstehen könnte. Die Zama Zamas kommen oft aus Simbabwe, was für viele in Südafrika die Versinnbildlichung eines gescheiterten Staates dar- stellt. Es gibt also eine Verdoppelung und Verdreifachung dieser spektralen Möglichkeit, die dann auf diese fast allegorische Figur projiziert oder durch sie inkarniert wird. Der Titel des Dokumentarfilms, den ich gerade fertiggestellt habe, We Are Zama Zama, soll die komplexe Selbstbehauptung der Menschen, mit denen ich arbeite, fassen: das Behaupten auch gegen die Figur, die sie ver- körpern sollen. Es gibt einen schrägen, wenn nicht sogar zynischen Humor, der damit einhergeht; und einen emphatischen Diskurs persönlicher Souve- ränität und Freiheit, des Sprechens über und für sich selbst. Aber die Zama Zamas sind auch Opfer komplexer, zeitlich ausdifferenzierter Schichten und Geschichten struktureller Gewalt: erst zur Wanderarbeit gezwungen – aber auch diese ‹Möglichkeit› existierte dann so irgendwann nicht mehr –; dann gezwungen umherzuziehen, dann aber war genau das verboten. Jetzt sind sie 92 ZfM 20, 1/2019 VERSUCHSZONEN DES SPÄTI NDUSTRIALISMUS WAS UNS ANGEHT 93 ROSALIND C. MORRIS | DANIEL ESCHKÖTTER sozusagen unfrei in Bewegung, das heißt, sie sind zwar gezwungen umherzu- ziehen, aber es fehlt ihnen an Mobilität im Sinne einer Bewegungsfreiheit und eines Rechts, auch nicht bewegt, nicht abgeschoben zu werden. D. E. Inwiefern ist es Teil des sozialen Imaginären, dass es in Namen und Existenzform nicht nur die Echos von Risiko und Spiel gibt, sondern dass sie auch das Erbe der brutalen Arbeit in den Minen antreten? Spielt Arbeit als labor da eine Rolle? R. M. Ja und nein. Es handelt sich da sicher um ein echtes Arbeitsregime, das aber nicht die Ausprägung hat, dass da von Arbeit im Sinn des englischen labor gesprochen werden kann: Die Ebenen der Abstraktion und Rationalisierung sind nicht dasselbe; es gibt nichts Lohnförmiges, weder ein vertragliches Ele- ment noch ein echtes Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis usw. Aber klar, trotzdem gibt es ein Verhältnis von Zeit und Wert in dieser Ökonomie, al- lein durch das Unter-Tage-Sein, bis genug ‹erwirtschaftet› wurde. Dazu muss noch gesagt werden, wie viel von der Arbeit über Tage von Frauen geleistet wird. Das ist anders ausdifferenziert als in früheren Regimen. Es gibt operative Formen der Hierarchie und Aufsicht, die sich in gewisser Weise parodistisch zu den älteren Aufsichtstrukturen (im doppelten Sinn von oversight: überwacht und nicht gesehen zu werden) verhalten oder ihnen nachgebildet sind und die aus der Minenindustrie kommen: Aufseherrollen usw. Aber es gibt noch einen anderen Effekt dieser sozusagen gesicherten Staatenlosigkeit, und das betrifft die Reaktion auf Gewalt, die einerseits im Heute fortdauert, die aber auch schon lange Vorgeschichten hat. Es gehört zum Erbe der langen Epoche der drastischen Ethnisierung in Südafrika, die schließlich eine der zentralen Regierungstechnologien war, dass sich auch in der Welt der Zama Zama die Menschen eher nach sozialen Formationen ausrichten, in denen es eine ge- teilte Sprache, eine geteilte Herkunft gibt. Es gibt Ängste vor der Eskalati- on: dass grenzüberschreitende Gewalt einen totalen, unaufhaltsamen Charak- ter bekommen könnte, die auch die absolute Gewalt des Staates nicht hegen könnte. Diese Angst ist immer da, insbesondere wenn sich die Lage zuspitzt, etwa wenn, was vorkommt, mehrere Menschen innerhalb weniger Tage getö- tet werden und es so wirkt, als hätte der Konflikt im Hintergrund ethnisier- te Züge. Ein Eingreifen des Staates könnte zu einer Abstraktion von diesen Identitätsmarkierungen führen, aber das passiert nicht. Die Angst ist real, dass solche Konflikte und daraus resultierende Rachespiralen in eine Lage führen, wie sie unter der Apartheid entfacht und auch gewollt wurde: totale ethnisierte politische Gewalt. Um dem vorzubeugen werden bei einer solchen drohen- den Spirale ethnisierter Gewalt dann oft Pseudotribunale eingerichtet, nicht wie die TRC, eher das Exekutieren von Opfergewalt in René Girards Sinn, wo Gewalttäter von den Mitgliedern ihrer eigenen Gruppe eliminiert werden sollen. Das Opfer, die Beseitigung des gewalttätigen Elements aus den Rei- hen der eigenen Gemeinschaft, soll die große Gefahr der Gewalteskalation in 94 ZfM 20, 1/2019 VERSUCHSZONEN DES SPÄTI NDUSTRIALISMUS Schach halten. Unter der Apartheid waren ethnische Differenzen nicht nur der politische Bodensatz, sie wurden geradezu konserviert oder musealisiert. Die Ethnisierung der Politik wurde auch auf die Welt der Minen ausgedehnt und in die Struktur der Landschaften und Siedlungen eingeschrieben: welches Gebiet Zulu oder Sotho oder Xhosa ist zum Beispiel. Aber im Hier und Jetzt müssen ganz andere Kräfte wirken, gerade weil sowohl der Staat, der auf der Grundlage ethnischer Differenz und eines Staatsrassismus funktionierte, als auch der Staat, der es sich gerade zur Aufgabe gemacht hat, diese Grundlage zu überwinden, in diesen Gebieten und den Leben der Menschen abwesend sind. Die Lage in und bei den Ruinen dieser Minen zeugt zum einen von ei- nem Fortleben des alten ideologischen und wirtschaftlichen Systems, einer Kontinuität, von der Unmöglichkeit einer Rückkehr, aber auch von der Tatsa- che, dass sich die Dinge manchmal ändern, indem sie sich an eine Vorstellung der Vergangenheit anpassen. — Aus dem Englischen von Daniel Eschkötter WAS UNS ANGEHT 95 B R I G I T TA K U S T E R und B R I T TA L A N G E im Gespräch mit P E T R A L Ö F F L E R ARCHIVE DER ZUKUNFT? — Ein Gespräch über Sammlungspolitiken, koloniale Archive und die Dekolonisierung des Wissens Kürzlich haben Felwine Sarr und Bénédicte Savoy dem französischen Präsiden­ ten einen Bericht vorgelegt, der die Frage der Restituierung kolonialer Bestände 1 Vgl. die englische Fassung des Berichts: Felwine Sarr, Bénédicte in Archiven, Sammlungen und Museen mit einer deutlichen politischen Agenda Savoy: The Restitution of African Cultu- versieht.1 Das Papier geht die Frage der Rechtmäßigkeit des Besitzes von Kunst­ ral Heritage. Toward a New Relational Ethics, November 2018, online unter werken und Kulturgütern europäischer Kulturinstitutionen tatsächlich an und for­ restitutionreport2018.com/sarr_savoy_ dert eine gemeinsame Wende in der Kulturpolitik, die das Recht der afrikanischen en.pdf, gesehen am 18.1.2019. Fragen der Restitution hat Savoy auch in Länder auf ihr kulturelles Erbe anerkennt. Restitution wird dabei als ethischer Akt ihrer Antrittsvorlesung am Collège der Kultivierung verstanden, der neue kulturelle Beziehungen knüpft.2 Sarr und de France in Paris behandelt. Vgl. dies.: Die Provenienz der Kultur. Von Savoy schlagen zugleich einen Katalog von Maßnahmen vor, wie Restitutionen der Trauer des Verlusts zum universalen praktisch durchgeführt werden können. Damit steht auch eine neue Archivpo­ Menschheitserbe, Berlin 2018. 2 «Can we thus think of restitu­ litik auf der Agenda.3 Brigitta Kuster und Britta Lange forschen und publizieren tions as being something more than seit Langem über sensible Sammlungen, koloniales Erbe, Archivierungsprozesse a mere strategic maneuver – neither merely an economic or political und Ausstellungspraktiken.4 Mit Petra Löffler sprechen sie über Möglichkeiten und strategy – but rather something truly Risiken einer zukünftig anderen Archivpolitik und über das Verhältnis von Materi­ cultural», Sarr, Savoy: The Restitution of African Cultural Heritage, 22. alität und Medialität von Archiven. 3 Vgl. ebd., 41 f. 4 Vgl. u. a. Britta Lange: Sensible — Sammlungen. Aus dem anthropologischen Depot, Hamburg 2011. Sie leitete von Petra Löffler Das Papier von Sarr und Savoy hat die Frage provoziert, inwie- 2015 bis 2018 mit Sebastian Klotz das Lautarchiv der Humboldt­Univer­ fern auch in Deutschland eine neue Politik der Restitution erforderlich ist sität, siehe www.lautarchiv.hu-berlin. und damit auch die Notwendigkeit besteht, die eigene Geschichte kolonialer de/. Brigitta Kuster: Choix d’un pas- sé – transnationale Vergegenwärtigungen Archive und ethnografischer Sammlungen aufzuarbeiten.5 Der Gründungs- kolonialer Hinterlassenschaften, Wien direktor des Berliner Humboldt Forums, Horst Bredekamp, hat die Mei- 2016. Kuster ist am transnationalem Ausstellungs­ und Forschungs­ nung vertreten, dass Deutschlands Kolonialgeschichte nicht zu vergleichen progamm «Artificial Facts» beteiligt, sei mit der Frankreichs, weil deutsche Forschende nur gesammelt hätten, siehe artificialfacts.de/. 5 Zur Situation deutscher Institu­ um aufzuklären und Wissen zu generieren. Welchen Einfluss hat der Bericht tionen, insbesondere des Humboldt von Sarr und Savoy auf den Umgang mit kolonialen Archiven und ethnografi- Forums, nimmt der Bericht auf S. 14 f. Stellung. schen Sammlungen hierzulande? 96 ZfM 20, 1/2019 Brigitta Kuster Mit Blick auf das Papier von Sarr und Savoy und den staatlichen Willen, zu restituieren oder die Frage des kolonialen Erbes neu zu verhandeln, müsste man zunächst einmal zwischen Kolonialarchiven und ethnografischen Sammlungen unterscheiden und überlegen, wofür man diese Begriffe jeweils verwendet. Es geht zunächst ganz klar um die ethnografischen Sammlungen, die in Frankreich seit der Chirac-Ära und mit dem Musée du Quai Branly unter dem Paradigma der Kunst ausgestellt wurden. Dass jetzt die Direktive ausgege- ben wird, die Frage der Restitution, die seit den Unabhängigkeiten der 1960er Jahre virulent geworden ist, erneut zur Debatte zu stellen, bedeutet in meinen Augen, dass Deakzession, also die Überprüfung und Reduktion oder auch der Abgang von Beständen, im Kontext des kolonialen Sammelns überhaupt die Voraussetzung dafür bildet, über eine Neuverteilung der Archive nachzuden- ken oder über das, was sich aus Archiven heraus kuratieren lässt. Sonst bleibt man immer im selben Paradigma. Man muss das Grundproblem der Konsti- tution dieser Sammlungen angehen, und die Restitution ist gewissermaßen die Vorbedingung dafür, das zu tun. Horst Bredekamp hat als Gründungsintendant des Humboldt Forums be- reits zu Beginn der Debatte, etwa in der Ausstellung Anders zur Welt kommen von 2009, zu argumentieren versucht, dass man in Deutschland gewisserm aßen die postkoloniale Fragestellung oder Ära überspringen könne, weil man sich mit der Geschichte der Wunderkammer auf ein ganz anderes Sammlungs- paradigma bezieht – und damit die Frage der kolonialen oder postkolonialen Sammlung historisch ausspart.6 Das ist ein Trugschluss. Denn aus der Kolonial- zeit kommt natürlich das meiste Sammelgut, das mit dem Umzug der ethnolo- gischen Sammlung aus Berlin-Dahlem ins Humboldt Forum zur Debatte steht. In den Jahren um 1900 wurde am meisten gesammelt. Natürlich stimmt es in gewisser Weise auch, dass Frankreich eine ganz andere Nationalstaats- und Kolonialgeschichte hat als Deutschland. Dennoch finde ich die Art der Ver- einfachung und der Auslassung, die Bredekamp mit seiner Aussage produziert, 6 Horst Bredekamp hat diese unlauter. Er verleugnet nicht die Kolonialgeschichte; er hat keinen Begriff von Sicht in einem Interview mit dem Deutschlandfunk bekräftigt. Kolonialgeschichte und versucht auch keinen zu entwickeln. Vgl. ders.: Ich lehne diese Argu­ Britta Lange Das ist ja tatsächlich nichts Neues in der deutschen Debatte. Sie mentation der Gleichsetzerei ab, in: Deutschlandfunk Kultur, Fazit, zeichnet sich besonders stark durch dieses Argument aus: Die deutsche Kolo- dort datiert 26.11.2018, online nialherrschaft sei vernachlässigbar, weil sie im Vergleich zu anderen Imperial- unter www.deutschlandfunkkultur. de/bredekamp-widerspricht-savoys- mächten in Europa so kurz war und auch weitgehend folgenlos, weil die deut- empfehlungen-ich-lehne-diese.1013. sche Kolonialgeschichte nach dem Ersten Weltkrieg schon zu Ende war. Wir de.html?dram:article_id=434280. Jürgen Zimmerer hat ihm einen Tag wissen natürlich alle, dass das Unsinn ist, weil sie ja im Imaginären w eitergeht später an gleicher Stelle widers­ und wir verschiedenste Neuauflagen erlebt haben. Mit diesem Argument kann prochen: Vgl. ders.: Die rassistischen Exzesse werden von Bredekamp das ganze Konzept von Kolonialität geleugnet und die postkoloniale Frage eli- ignoriert, in: Deutschlandfunk Kultur, miniert werden. Es stimmt, dass die Kolonialgeschichten unterschiedlich sind, Fazit, dort datiert 27.11.2018, online unter www.deutschlandfunkkultur.de/ auch die der europäischen Imperien, aber sie sind da und man kann sie nicht ge- kontroverse-um-umgang-mit-kolonialer- geneinander aufwiegen und sagen, die eine war nicht so wichtig wie die andere. kunst-die.1013.de.html?dram:article _id=434390. Beides gesehen am Man muss sich zu so einer Differenz auch bekennen. Da muss in Deutschland 18.1.2019. WAS UNS ANGEHT 97 BRIGITTA KUSTER / BRITTA LANGE | PETRA LÖFFLER noch viel aufgearbeitet werden: Es muss gesagt werden, was die Spezifika waren, und damit auch, was das für die heutige Situation bedeutet. Die Vorlage, die Frankreich jetzt gibt, ist möglicherweise einfach die Grund- bedingung dafür, überhaupt etwas anders machen zu können mit den Archiven, auch anders zu kuratieren. Die Versuche, die sonst gemacht werden, verbleiben in den klassischen kritischen Nischen und kriegen dann eine Alibifunktion zu- geschrieben, dass man mit postkolonialen Fragestellungen Interventionen pro- duzieren kann, aber sie bleiben tatsächlich Interventionen, die das Konzept an sich nicht ändern. Ich finde, eigentlich muss man darüber hinausgehen, nur den Inhalt der Archive zur Disposition zu stellen. Es muss die Möglichkeit zur Res- titution geben. Es müsste aber im Sinne einer Zukunft der Archive auch darum gehen, noch einmal ihre Genese zu reflektieren. Und zwar nicht nur im Sinne einer Sammlungspolitik, sondern wirklich mit Blick auf diese sehr europäische Verbindung von Staatsmacht und Archivmacht und – wenn man so will – Geset- zeskraft: Die Genese wäre also nicht nur als eine Sammelgeschichte zu begrei- fen, sondern als eine Geschichte der Macht ihrer Institutionen, ihrer Formatio- nen und ihrer Medien. B. K. Diesen Gedanken finde ich interessant. Das bedeutet ja, dass eigentlich ge- nau das Gegenteil dessen passieren müsste, was wir alle kennen in den Debatten und Auseinandersetzungen um und mit Archiven. Es würde bedeuten, von da, wo in gewisser Weise eine Art von Proliferation des Archiv-Begriffs produziert wur- de, zurückzukommen auf die Partikularität einer sehr eurozentrischen Geschich- te der Archivgenealogien. Was heute neu zur Debatte steht – und das ist ja stark angelegt in dem Restitutionsprojekt von Sarr und Savoy – ist, dass es um eine räumliche Neuverteilung geht. Denn das Dokument, das Geschichte macht, und die Produktion des Archivs – die Überführung von irgendwas in ein Archiv – ist eigentlich immer eine raumpolitische Frage, durch die überhaupt erst Geschichte entsteht. Deshalb ist das, was gerade wieder passiert oder wieder passieren müss- te, eine Bewegung raus aus der bestehenden archivalischen Eingrenzung. P. L. Wenn wir davon ausgehen, dass das Archiv eine zentrale raumpolitische Position einnimmt, dann wäre das Humboldt Forum ein Beispiel. Auch wenn es nicht im strengen Sinne ein Archiv ist, so betreibt es doch eine bestimmte Archivpolitik: Es verbindet Archivpraktiken des Versammelns, des Konzen- trierens an einem bestimmten Ort mit Praktiken des Ausstellens und des Kuratierens. Natürlich kann man auf dieser Ebene Veränderungen in der Präsentation von Objekten versuchen. Aber das würde, wie Britta betont hat, nichts an den machtpolitischen Bedingungen ändern, sondern es wäre eine Art Kosmetik. Und natürlich kommt es auch zu bestimmten prakti- schen Einschränkungen, wenn beispielsweise afrikanische Kurator_innen nicht einreisen können und dadurch an diesem Prozess gar nicht teilnehmen können. Es gibt offensichtlich politische Entscheidungen und Rahmenbe- dingungen, die verhindern, ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen den 98 ZfM 20, 1/2019 ARCHIVE DER ZUKUNFT? Dingen in Archiven und den Dingen in Ausstellungen sowie denen herzu- stellen, die mit ihnen umgehen; dass also diejenigen, aus deren Kulturen die Objekte, die Archivdinge kommen, die Möglichkeit bekommen, auf ihre Art und Weise damit umzugehen. Auch wenn das der Grundgedanke ist, so pas- siert das faktisch noch kaum. Das heißt, es ändert sich also zunächst nichts an der grundsätzlichen Verfasstheit von Archiven als zentralem Machtpool. Nun gibt es auch Archivorte, die in einem bestimmten Territorium verteilt, also dezentrale Archive sind. Ein Beispiel wären die antiken Athener Stadtar- chive, die Stadtteilarchive waren, während das Zentralarchiv wahrscheinlich erst später entstanden ist. Plädierst du, Brigitta, für eine Dezentralisierung von Archiven im Sinne einer bestimmten Raumpolitik? B. K. Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Interessant ist, dass Archive selbst bestimmte Epistemologien ermöglichen bzw. verstellen. Das betrifft auch die Frage, was in Archive überführt wird, also von wo aus wir Wissen oder Ge- schichte produzieren, und was gar nicht erst ins Archiv eintritt und somit auch nicht Teil dessen ist, was wir verhandeln. Ich glaube, bei der Frage nach der Dezentralisierung geht es mehr ums Loslassen: dass also jemand anders – eine andere Instanz oder eine andere institutionelle Konfiguration – die Möglich- keit hätte, die Verfügungsgewalt innezuhaben. Im Kontext des Kuratierens ist heute viel die Rede von Mobilität und Zirkulation, von unterschiedlichen Zu- gängen zu einer geteilten Geschichte etc., und es gibt das Konzept des shared heritage, bei dem allerdings gerade an der Verfügungsgewalt bzw. am Besitz, die den Diskursrahmen des Archivs weit mehr prägen, als wir das vielleicht gerne hätten, eher nicht gerüttelt wird. B. L. Der Fokus auf Besitz – und damit auch auf Räumlichkeit und Verteilung – ist berechtigt. Zugleich muss es aber eine politische Direktive geben, die sagt, dass der Besitz zur Disposition steht. Sonst gerät die Frage der Wissenspolitiken aus dem Blick, die erst zu dieser Situation geführt haben. Deshalb ist es in dieser De- batte wichtig, die Genese der Archive mit zu bedenken. Sie dürfen nicht als etwas Gegebenes hingenommen werden. Die Institution des Archivs ist zunächst eine europäische Einrichtung. Es gibt ja Archivbegriffe, die sich genau gegen diese Institutionen richten oder sie befragbar machen. Damit meine ich die Idee des kolonialen Archivs, der zufolge ein solches Archiv nicht nur als Anhäufung von Dingen und Besitz zu verstehen ist, sondern als etwas, das mit Memorierung, Performanz und Festsetzung zu tun hat. Ich denke, das sind produktive Begriffe, die eigentlich mit der Besitzdiskussion mehr zu tun haben müssten. P. L. Ich finde es sehr spannend, dass wir Archive damit in die doppelte Per- spektive von Aneignung und Enteignung rücken. Dabei denke ich auch an alles, was diese beiden Tendenzen an Querungen und Kreuzungen pro- duzieren können. Das Enteignen trifft die Institutionen des Sammelns ins Herz. Mein Gedanke war vorhin, dass es dann auch eine Option sein müsste, Archive aufzulösen. WAS UNS ANGEHT 99 BRIGITTA KUSTER / BRITTA LANGE | PETRA LÖFFLER B. L. Wenn man stärker auf ethnografische und völkerkundliche Museen eben- so wie auf anthropologische Sammlungen schaut, dann kann man aus dieser Debatte einiges lernen. Mein Eindruck ist, dass diese Institutionen die Frage der Restitution sehr lange gescheut haben. Nicht nur, weil sie kompliziert ist, sondern weil die ultimative Vorstellung, die daraus resultiert, eigentlich das l eere Museum ist. Wenn man das zu Ende denkt, kommt man zu der Erkenntnis, dass ein Museum eigentlich nur aus unrechtmäßigen oder auf seltsamen Wegen an- geeigneten Besitztümern besteht, die zurückgegeben werden müssen – doch, was ist dann noch das Museum? Es ist leer. Und auch wenn das so in der Rea- lität nicht passieren wird, finde ich die Konsequenz aus diesem Gedankenspiel wichtig. Das leere Museum – oder auch das leere Archiv – muss immer ein Kon- zept sein. Wenn man einen Begriff von Museum oder Archiv nicht als solchen aufgeben will, steckt genau darin die Chance einer Neukonfigurierung. Es geht also darum zu fragen: Wenn unser Ziel gar nicht mehr der Besitz von vielen Ob- jekten ist, was kann das Archiv dann? Was für Geschichten kann es produzieren, was für Narrative können dann möglicherweise konstruiert werden? Ein Grund, für die Auflösung des Archivs zu plädieren, ist die Möglichkeit eines Schreibens von Geschichte auf eine andere Art – und möglicherweise auch mit einer ande- ren Rollenverteilung. B. K. In diesem Diskurs schwingen auch viele unheimliche Aspekte mit. Da ist einerseits das Auflösen der Archive. Vielleicht ist das sogar ein Euphemismus, denn man könnte ja auch sagen: die Zerstörung der Archive. Gerade im kolo- nialen Kontext ist das ja durchaus historisch auch passiert, indem Souveräni- tätsansprüche aufgegeben werden mussten. Ich glaube, in allen Kolonien sind Teile der Archive zerstört worden, weil man nicht wollte, dass es eine Überlie- ferung gibt. P. L. … und nicht nur bei kolonialen Archiven … B. K. Ja, von den Nationalsozialisten kennen wir das ja auch. P. L. Es gibt in Deutschland tatsächlich so etwas wie eine historische Tradition der Archivzerstörung, die reicht bis zu den Stasi-Archiven. Denn wenn die Staatsmacht sich auflöst, sind deren Archive geradezu gefährlich. B. K. Also geht es auch um das, was nicht rekonstruiert oder nicht erinnert werden soll – das, womit man keine Geschichte machen können soll. Das heißt, es geht auch um die Produktion solcher Gespenster, nämlich dort, wo die Entsprechung – also das Dokument und damit die Belegbarkeit – eine Form der Sicherheit bedeutet, oder zumindest einen Versuch, das Unzweifel- hafte herzustellen. Zum anderen stellt sich gerade im Kontext der ethnogra- fischen Sammlungen die Frage nach Archivbeständen, die eine Belastung darstellen und somit Formen der Verantwortung generieren. Das scheint mir für die aktuelle Debatte auch von Bedeutung, und zwar dann, wenn Objekte restituiert werden wie jetzt die 26 herausragenden Objekte aus der Republik 100 ZfM 20, 1/2019 ARCHIVE DER ZUKUNFT? Benin.7 Da geht es natürlich zunächst um symbolisch bedeutsame, wertvolle Dinge, meist auch um Meisterwerke. Aber die tausend anderen akkumulierten Dinge, die noch in den Kellern liegen wie die unzähligen Speere und andere Alltagsgegenstände, sind auch eine Form der Belastung, mit der wir nur ganz selten umgehen, weil wir Wissen eher ausgehend vom Besonderen generieren und nicht über diese vielzähligen seriellen Dinge, die die materielle Grundla- ge der Ethnologie als e iner Wissenschaft gebildet haben. Mich beschäftigt die Frage, ob vielleicht auch diese Serialität heutzutage irrelevant geworden ist, weil es eher um Extraktion bzw. um Vervielfältigung der Extrahierbarkeiten geht und nicht um die strukturalistische Logik der Serie als eine Form von Ähnlichkeit und Vergleichbarkeit. Auch im Kontext der Digitalisierung von Archiven geht es nicht um Addition oder Akkumulation, sondern um Extrak- tion und Exploitation. P. L. Diese Extraktion und Exploitation hat immer mit Werten zu tun, die man den Objekten zuschreibt. Auch in der Digitalisierung findet permanent eine Reevaluierung dessen statt, was verfügbar ist, was in den Depots, in Ar- chiven und Sammlungen lagert, weil sich die Frage stellt: Welchen d ieser Materialien wird durch die Digitalisierung die Gelegenheit gegeben, in kulturelle Kreisläufe eingespeist zu werden? Die Digitalisierung ist da eine Art Katal ysator – genau wie Ausstellungen, wenn Objekte musealisiert und in Vitrinen präsentiert werden. Die Frage ist für mich, welche neuartigen Objekte durch Ausstellungen und durch das Digitalisieren entstehen. Denn das Digitalisat ist ein neuartiges Objekt, das der Biografie des materiellen Dings ein neues Kapitel hinzufügt. Wenn man den Objektstatus betrachtet, gehören Ding und Digitalisat zusammen, aber natürlich haben Digitalisate auch ein Eigenleben. Auch die digitalisierten Materialien bleiben weiter be- stehen, werden aufbewahrt und gelagert, weil es eine Beziehung zwischen dem materiellen Substrat und dem digitalen Objekt braucht – eine Rück- führbarkeit auf das materielle Ding. Ohne diese scheint auch das Digitalisat 7 Vgl. etwa Lise Verbeke: nicht existieren zu können. L’épineuse restitution des œuvres Auch die Frage des Besitzes interveniert in die Logiken von digitalen Ob- d’art au Bénin par la France, in: France Culture, dort datiert 31.5.2018, jekten und ihrer Mobilität – also der Art und Weise, wie sie zirkulieren und online unter www.franceculture. anders verfügbar sind, als wenn sie in Archiven verwahrt sind. Man muss die fr/societe/lepineuse-question-de-la- restitution-des-oeuvres-dart-au- Sachen also nicht mehr aus den Archiven herausholen, wenn ein Digitalisat benin-par-la-france, oder Corinne vorhanden ist, aber sie müssen trotzdem noch drin sein. Wir haben es er- Hershkovitch: La restitution annoncée de 26 objets au Bénin neut mit der westlichen Fixierung auf den Besitz und die Verfügbarkeit von s’inscrit dans un processus de Objekten zu tun, die man anfassen, in die Hand nehmen und ausstellen kann. revendication aussi exemplaire que nécessaire, in: lemonde.fr, dort datiert Wieder stellt sich die Frage, wie man Archive ausräumen, entleeren kann: Da- 29.11.2018, www.lemonde.fr/idees/ bei müsste man eigentlich überlegen, wie man die Logik der Repräsentation article/2018/11/28/rapport-savoy-sarr- la-restitution-annoncee-de-26-objets- durchbrechen kann. Macht man die Orte des Aufbewahrens und Zeigens, au-benin-s-inscrit-dans-un-processus- also Archive und Museen zuallererst, zu Versammlungsorten? Welche For- de-revendication-aussi-exemplaire-que- necessaire_5390003_3232.html, men von Begegnung wären möglich, wenn man sich nicht immer um Vitrinen beides gesehen am 26.1.2019. WAS UNS ANGEHT 101 BRIGITTA KUSTER / BRITTA LANGE | PETRA LÖFFLER herum versammeln und Objekte betrachten würde, die irgendwie auf dem Boden oder an Wänden fixiert sind oder von der Decke herunterhängen? Wenn man sich andere Arten von Dingen und Objekten vorstellen würde, mit denen man Begegnungen haben kann – was wäre dann? Das fände ich aus- gehend von der Idee des Ausräumens und der Entleerung von Archiven und Museen interessant. Sie müssen ja nicht leer bleiben, nur weil es dann keine angeeigneten Sammlungsgüter mehr zu sehen gibt. Aber was könnte es an diesen Orten geben und was würde dort passieren? B. L. Wenn man sich das Leer- oder Ausräumen oder die Entnahme von Objek- ten ganz plastisch vorstellt, dann produziert die Deakzession – genauso wie das klandestine Rauben von Objekten in kolonialisierten Regionen – schon allein auf der Verwaltungsebene immer auch einen paper trail, ganz einfach weil die Sachen verschifft werden müssen. So haben die Exhumierungen, die Rudolf Pöch 1907 / 1908 im südlichen Afrika vorgenommen hat,8 sehr wohl polizeiliche Folgen gehabt und sind in den Archiven von Südafrika rekonstruierbar. Sol- che Versuche verbleiben dann natürlich in der europäischen Logik des Archivs, auch wenn man das eine Archiv mit einem anderen kontert. Das ändert sich erst in dem Moment, in dem man ein Objekt aus einem Archiv oder Museum herausnimmt. Wir kennen ja Beispiele von Restitutionen, die mit bestimmten Ritualen verbunden werden. Vonseiten des Museums oder Archivs muss man anerkennen, dass dadurch auch eine Geschichte entsteht, die nicht nur erneute Deakzession ist, sondern eine Geschichte, die reflexiv ist und diesen Prozess auf einer konzeptuellen Ebene begleitet, die sich über den leeren Platz Gedanken macht – und über die Frage, wofür er steht, was er symbolisch bedeutet. Die zweite Idee ist, Museen als Begegnungsstätten zu konzipieren. Inzwischen wer- den Ausstellungen oft durch eine Veranstaltungsreihe begleitet. Ich finde, das kann man noch viel stärker machen, so dass an die Stelle des Besitzes – oder zusätzlich zu ihm – eine Begleitung durch Verhandlung und durch historisch- reflexive Versuche tritt, Geschichten anders zu schreiben. Dieses konzeptuelle Neudenken von musealen Strategien lässt zusammen mit den Möglichkeiten der Digitalisierung von Objekten die Frage entstehen, warum man überhaupt noch an materiellen Objekten und der an sie gekop- pelten Vorstellung der Originalität festhalten sollte. Diese Frage kann je nach Perspektive sehr unterschiedlich beantwortet werden. Das Auffinden oder Neuerfinden von Orten für die materiellen Artefakte und human remains kann unverzichtbar und politisch wichtig sein. Zugleich sorgen Digitalisate von Ob- jekten aber auch dafür, dass diese vielfach im Netz zirkulieren, jeweils eige- ne – digitale – Objektbiografien schreiben und damit Reflexe der Materialität an unterschiedlichste virtuelle Orte und in verschiedenste soziale Handlungs- zusammenhänge bringen. 8 Vgl. Martin Legassick, Ciraj Rassool: Skeletons in the Cupboard. South African Museums and the Trade in P. L. Es stellt sich hier auch noch mal die Frage nach der Serialität: Wenn Human Remains 1907 – 1917, Kapstadt, Kimberley 2000. man die Digitalisierung als Möglichkeit nutzt, die Archivalien besser 102 ZfM 20, 1/2019 ARCHIVE DER ZUKUNFT? miteinander zu vernetzen als bei digitalen Metaarchiven und Sammlungs- plattformen, dann ließen sie sich doch tatsächlich miteinander in Kontinui- tät stehend bearbeiten. B. K. Ich denke, das ist genau das, was zur Debatte steht: nicht das leere oder das volle Museum, sondern dass unterschiedliche Wissensbestände und Archivalien überhaupt miteinander in Verbindung gebracht werden, um eine Geschichte neu erzählen zu können. Wenn man beispielsweise nicht die Verbindung gemacht hätte zwischen den lokalen Administrationen in Südafrika, wo Pöch seine Spuren hinterlassen hat, und dem Naturhistorischen Museum in Wien, dann wäre diese Geschichte so nicht zu erzählen gewesen. Im nächsten Schritt hat man ja sogar versucht zu rekonstruieren: Was landet von dessen Samm- lungen im Naturhistorischen Museum und was landet im ethnografischen M useum? Um diese Verbindungen überhaupt erst wieder verstehen zu können oder eben auch neu zu stiften. Um noch einmal zurückzukommen auf das Papier von Sarr und Savoy: Ich denke, dass es da um die Umformung der Kolonialität unseres Wissens geht, und dafür brauchen wir neue Beziehungen, die auch durch die Bewegung der Objekte oder der Dinge und auch der Dokumente gestiftet werden können. Ich finde das richtig und ganz zentral, das nicht nur mit Kunstwerken, sondern auch mit Dokumenten zu machen. Deshalb ist das Museum ja ein so interessan- ter Ort: Es gibt zum einen das Gezeigte, das Display, die Performativität, das Publikum, und dann gibt es zum anderen die Sammlungen, irgendwo da unten, und man weiß gar nicht so genau, was da eigentlich drin ist, und dann ist da aber eigentlich viel zu viel drin, und man schafft es gar nicht, das aufzuarbeiten. B. L. Und vielleicht gibt es auch gar kein Archiv. B. K. Ja, oder hat man es vorher ausgelagert und wo ist es eigentlich hin? Oder: Wo ist das Archiv, welches zum Museum gehört, oder welches Archiv würden wir jetzt dazu gruppieren, um neue Beziehungen zu stiften zwischen den Din- gen, die im Museum zirkulieren? Von daher würde ich vorschlagen, das Ding als Mediator der sozialen und ästhetischen Beziehungen zu denken, also das Ding in einer Kette von anderen Verdinglichungen, von Verdinglichungsstadien zu betrachten. P. L. Zugleich sind Dinge – nicht nur im Archiv oder Museum – in Handlungs- gefüge verstrickt. Mit Archiven umzugehen, bedeutet ja längst nicht mehr nur zu archivieren und zu verwalten, sondern mit anderen Wissenspraktiken und analytischen Methodiken ausgestattet in diese einzugreifen. Ich finde es dabei auffällig, wie durchlässig Archive werden, wenn sie mit kuratorischen und wissenschaftlichen Praktiken konfrontiert werden, wo immer auch Akteur_innen, am Werk sind, die durch ihre Forschung andere Werte und Interessen ins Spiel bringen. Wir haben den Eurozentrismus bereits ange- sprochen: Wir sind ja auch Teil dessen, was wir hier kritisieren, weil wir als an europäischen Universitäten ausgebildete Forscher_innen natürlich auch WAS UNS ANGEHT 103 BRIGITTA KUSTER / BRITTA LANGE | PETRA LÖFFLER mit Wissenspraktiken ausgestat- tet sind, die zu einem kritischen Umgang mit Archivmaterialien, mit Geschichten, mit bestimmten historischen Wissensbeständen und Konzepten von Geschichten anleiten. Aber können wir dem Eurozentrismus unseres Wissens und unserer Wissenspraktiken entgehen, bzw. wo liegen unsere Fluchtwege? B. L. Genau darum muss es ge- hen – um die Dekolonisierung des Abb. 1 / 2 Entkolonialisierung/ eigenen Wissens. Das ist ein hochgehängtes Ziel, und ich weiß nicht, ob man Decolonization von Brigitta es erreichen kann. Umso mehr sollte es in dieser Debatte darum gehen, nicht Kuster, 3-Kanalvideoinstallation, Berlinale Forum 2010 nur die eigenen Praktiken zu befragen, sondern auch die eigenen Epistemo- logien – das heißt, soweit es geht, die Konzepte von Originalität, Besitz und forschender wissenschaftlicher Persönlichkeit zu befragen. Die Ansätze, die es in dieser Hinsicht gibt, sind noch nicht weitgehend genug, um die eigene Deutungsposition auch wirklich zur Debatte zu stellen; um also die für uns un- sichtbar gewordenen Privilegien – etwa unsere Vorstellung, dass man von oben darauf gucken und alles erfassen kann – mit am Schopf zu packen. Im Laut- archiv der Humboldt-Universität, das mit seinen Metadaten in die universitä- re Sammlungsdatenbank eingespeist ist, haben wir irgendwann realisiert, dass noch die alten Sprachbezeichnungen in dieser Datenbank verwendet werden.9 Und da es um Tonaufnahmen von 1915 bis 1918 geht – zur Zeit der offiziel- len deutschen Kolonialherrschaft also – sind natürlich ganz viele Sprachnamen verwendet worden, die gar keine Eigenbezeichnungen sind, sondern bestimm- te ethnische Setzungen vorgeben, die nicht aus den jeweiligen Sprachkultu- ren selbst kommen. Unsere Überlegungen waren: Ja, man könnte jetzt erneut recherchieren, wie damals die Eigenbezeichnungen der Sprache waren. Oder man könnte fragen, wie sie heute genannt werden, und dann könnte man die Begriffe auswechseln. Aber was würde dann passieren? Man wäre zwar auf dem heutigen Stand, aber zugleich wäre die historische Dimension des Archivierens gelöscht. Faszinierend fände ich hier, eine Art Zeitschieber mit der Datenbank des Archivs oder dem Thesaurus zu verbinden, der diese Historizität sichtbar macht. Denn dieser Thesaurus muss 1910 ein anderer sein als 2010. Ich finde, so etwas wäre tatsächlich eine Möglichkeit, um deutlich zu machen, dass wirk- 9 Siehe www.lautarchiv.hu- mächtige politische Konstellationen in die Praxis des Archivierens einwandern. berlin.de/. Zu einer ersten kritischen Und diese sind ja erst einmal überhaupt sichtbar zu machen. B efragung der Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs: The Halfmoon Files. A P. L. Das heißt, Datenbanken zu entwickeln, die dazu beitragen, Wissens- Ghost Story, Regie: Philip Scheffner, D 2007, siehe auch halfmoonfiles.de. praktiken zu historisieren, indem eine Architektur zur Verfügung gestellt 104 ZfM 20, 1/2019 ARCHIVE DER ZUKUNFT? wird, die uns heute in die Lage versetzt, historische Formationen von Wissen zu erkennen … B. K. Das finde ich sehr interessant. Die Idee ist ja auch, dass das Archiv mit sich selbst eine Unterhaltung führt und eine Eigendynamik hat – ein wichtiger Gedanke, gerade wenn wir über Big Data und digitale Datenbanken nachden- ken. Ich habe mal eine künstlerische Arbeit gemacht zu einem alten Schlag- wortkatalog in der Bibliothek in Zürich. Da habe ich nachgeschaut, welche Literatur unter dem Stichwort «Kolonialisierung» verbucht war. Das wurde dann einfach geändert zu «Entkolonialisierung»; und weil das in Zürich nicht wichtig genug oder nicht schuldbar oder schambehaftet genug gewesen ist, hat man diese Spur auch nicht gelöscht, sondern es war ein Pragmatismus: Man hat einfach das Stichwort geändert. Natürlich konnte man auch sehen, dass die Frage der Entkolonialisierung viel früher aufgetaucht ist als das Schlagwort. Das heißt, die antikoloniale Literatur war unter dem Stichwort «Kolonialisie- rung» abgelegt. Und es war erst der Wechsel der Verschlagwortung, der mich darauf aufmerksam gemacht hat, was für eine Form der Wissensordnung dem zugrunde lag. P. L. An deiner Arbeit gefällt mir, dass eine Art Spiel im Archiv entsteht. Solche Spiele mit Nomenklaturen sind ja Möglichkeiten, Archivpraktiken zu verändern, denn Sprache stellt den Bedeutungsrahmen her und ist per- formativ. Wobei es immer auch unfreiwillig Praktiken gibt, die das Archiv d e-archivieren. Derrida sagt an einer Stelle: Das Archiv kämpft ständig mit sich selbst. Gleichermaßen gilt: Man kann zwar das Archiv zerstören, nicht aber die Spuren seiner Zerstörung. Dem entkommt man nicht, gerade wenn man westliche Kultur als eine Schrift- und Archivkultur begreift. Denn das Aufschreiben gehört ja immer dazu. Man müsste die Schrift zerstören, um das Archiv zu zerstören. B. L. Das ist ja auch eine dieser Utopien, die sich an Archive knüpft, die im In- ternet entstehen, weil sie eben diese Referenz auf die Materialität nicht mehr unbedingt brauchen, sondern von vornherein aus digital erstellten Bildern bestehen, die nicht unbedingt eine Referenz auf ein Objekt haben. Eine Zeit- lang wurde angenommen, dass digitale Archive demokratisch seien – dass es mit dem Internet ein Demokratisierungsmedium für Archive gäbe, weil man erstens die bestehenden miteinander vernetzen und zweitens neue oben drauf WAS UNS ANGEHT 105 BRIGITTA KUSTER / BRITTA LANGE | PETRA LÖFFLER setzen kann, die für alle immer gleichzeitig zugänglich sind, und vor allem, weil Archive entstehen, die über eine Struktur vernetzt sind, die nicht mit der hierarchischen Struktur der historischen Verwaltung übereinstimmt. Dass da auch Hierarchien im Spiel sind, war zunächst verdeckt. Wir wissen jedoch alle, dass Zugänglichkeiten beschränkt sind, dass es Ranking-Modelle gibt und so weiter. Trotzdem: Wenn man über die Zukunft der Archive nachdenkt, dann muss man nicht nur über die Zukunft der bestehenden Archive nachdenken, sondern eben über neue Archive, und nicht nur über neuartige Infrastruktu- ren, sondern auch inhaltlich. Bezogen auf historische Archive müssen wir fra- gen, was alles nicht da ist. Was ist alles nicht archiviert worden? Einerseits sind ganz viele Dinge, die einmal archiviert worden sind, zerstört worden. Aber die schwierigere und zentralere Frage ist ja: Was wandert aufgrund von politischen und epistemologischen Entscheidungen ins Archiv und was nicht? Ein Archiv der Zukunft wäre in diesem Sinne eines, in das erst einmal überhaupt einge- schrieben wird, was nicht archiviert ist, von dem man aber gerne hätte, dass es archiviert wäre – sozusagen das Imaginäre als eine Vorübung für das reale Ar- chiv –, und es wäre damit eine Verhandlungsebene, die diese anderen Archive in eine Relation setzt. B. K. Vielleicht geht es ja auch nicht so sehr um das, was man archiviert, s ondern eher darum, dass bestimmte Dinge nicht archiviert wurden oder sich der Archivierung geradezu entziehen. Das mag auch damit zu tun h aben, dass sie sich den Archivierungspraktiken entziehen. Die entscheidende F rage – auch in Bezug auf die Demokratisierungsfrage – ist vielleicht eher, wie archivieren wir eigentlich? Was für Entscheidungen oder welche Verhält- nisse f ühren zu Archivierungsprozessen? Auch sind die Archive tatsächlich d urchlässiger geworden und durch die Digitalisierung auch andere gesell- schaftliche Akteur_innen eingeladen, ihr Wissen einzubringen, z. B. bei Foto- grafien, die irgendwo lagern und die niemand mehr zu deuten und zu kontex- tualisieren weiß. B. L. Dem stimme ich zu. Das ist der Sinn der Übung: die Frage zu stellen, wie wurde eigentlich archiviert, und diese Frage nicht nur zu historisieren, sondern zu projizieren und damit auch mit einem Willen zu verbinden und zu fragen: Wie wollen wir denn eigentlich was in Zukunft archivieren? P. L. Das wäre dann ein Archiv der Relationen – ein Archivbegriff, der sich nicht über die Institution, das Materielle und vor allen Dingen den Besitz, sondern über die Beziehungen und Praktiken des Archivierens und des Um- gangs mit dem jeweiligen Was bildet. Genau das ist die Frage: Wie archivie- ren? Ich würde da noch weiter gehen. Ich versuche Archive tatsächlich als einen Ort des Austauschs, des Zirkulierens und des Versammelns zu begrei- fen und nicht als einen Ort des Sedimentierens und des Ablegens, sondern innerhalb einer stärkeren Dynamik. So kann auch das Archivieren nur ein Aspekt von vielen sein. Natürlich kann man auch über das De-Archivieren 106 ZfM 20, 1/2019 ARCHIVE DER ZUKUNFT? sprechen, aber zwischen Archivieren und De-Archivieren gibt es sicher v iele andere Praxisfelder, die wir entwickeln können. Das betrifft noch einmal die Frage der Restituierung. Ich denke, es ist eine Chance zu sagen: Wir haben so viele Möglichkeiten, digitale Substrate anzufertigen, wir können Substitute herstellen und mit diesen arbeiten. Und warum geben wir dann nicht die Sachen zurück? Und wenn wir der Meinung sind, es bedarf aber des Originals, dann reisen wir eben – z. B. – nach Benin? B. K. Das ist ja oft gerade der Vorschlag für den Umgang mit den europäischen Archivbeständen der afrikanischen Länder: Wir machen Digitalisate für euch und behalten die Originale – und damit die Macht. P. L. Ja, aber warum geben wir nicht das Original zurück und behalten die Reproduktion? B. L. Das wird ja auch schon gemacht. Dennoch hängen wir noch immer einem extrem europäischen Medienbegriff an, der besagt, dass das Digitalisat, das Foto oder der Scan etwas vollkommen anderes ist als das originale Objekt. Und das unterschreiben eben einfach nicht alle Gesellschaften dieser Welt. So gel- ten etwa Gipsabdrücke der Körper für bestimmte Gruppen in Australien als Teile des Körpers und nicht als davon trennbare Objekte oder bloße Reproduk- tionen.10 Das ist etwas, was für die europäische Kultur vielleicht auch einmal gegolten hat – im Sinne der Abbildung als einem spirituellen Medium, das in direkter Verbindung zum Körper oder zum Objekt steht und von diesem ei- gentlich nicht zu trennen ist. Wir verwenden heute aber einen Medienbegriff, der wirklich von der Kopie ausgeht, und verstehen ein Ding, das anders funkti- oniert, als Magie. Ist die Fotografie das Substitut des Originals oder ist es Teil des Originals? Führen diese Begriffe nirgendwo hin? P. L. Da wird eine interessante Grenze berührt. Mir leuchtet sehr ein, dass die Abbildungen dazugehören und dass sie mit bestattet werden sollen. Ich halte es aber auch für schwierig, das zu realisieren. Denn wo befinden sich alle diese Bilder? Verstreut in Archiven und Sammlungen … B. K. Wobei: Gerade was die Fotografie und die Geschichte der visuellen Me- dien angeht – man denke nur an die Geisterfotografie –, ist das förmlich in der Geschichte des Mediums selbst angelegt. Das ist ein Teil dessen, was sie so mächtig macht. Die Idee der Zuschreibung, des Animismus an die anderen, das wiederum ist natürlich auch Teil des Kolonialismus und seines epistemischen 10 Sie werden daher ggf. wie Vertrags zu sagen: Die anderen Kulturen haben das, wir aber nicht. human remains behandelt. Vgl. u. a. B. L. Genau. Ich finde, da wird reproduziert, was Michael Taussig gesagt hat: Fiona Clayton: Bones of Conflict, in: Anette Hoffmann (Hg.): What Wir wollen gerne, dass die anderen an Magie glauben und dass das bei uns mal We See. Reconsidering an Anthropomet- so war, aber nicht mehr so ist.11 Die Erkenntnis, dass dieser Prozess wesentlich rical Collection from Southern Africa: Images, Voices and Versioning, Basel komplizierter ist, muss Teil der Debatte sein. Sonst sitzt man in der Falle – wie 2009, 205 – 217. du sagst. Dann reproduziert man das 19. Jahrhundert. Deshalb denke ich, dass 11 Vgl. Michael Taussig: Mimesis and Alterity. A Particular History of the es da um viel mehr und um viel komplexere Beziehungen geht. Senses, New York, London 1993. WAS UNS ANGEHT 107 BRIGITTA KUSTER / BRITTA LANGE | PETRA LÖFFLER P. L. Auf diesen Gedanken muss man ja geradezu stoßen: dass wir uns immer noch in Wissensparadigmen des 19. Jahrhunderts bewegen und dass eigent- lich die Frage der Auseinandersetzung mit den kolonialen Archiven und die Dekolonisierung ein notwendiger Schritt sind, um überhaupt zu einem an- deren Verständnis von Wissen und vielleicht auch von Archiven zu kommen. Bezogen auf die Digitalisierung und die Medienfrage kommt es mir tatsäch- lich gerade so vor. Die ganze Frage des Kolonialismus ist natürlich mit einem bestimmten Verständnis von Besitz verbunden, das letztlich als Akkumula- tion – also als kapitalistisch – begriffen werden muss. Das anders zu denken würde bedeuten, Gesellschaft und Kultur anders zu denken … B. K. … und man dürfte dabei nicht den Fehler begehen, die Sache umzudrehen und einfach vom Akkumulationismus zum Extraktionismus zu wechseln, weil man nicht bemerkt, dass es genau dasselbe ist. P. L. Wie könnten wir denn dann Archivpolitik machen? Das ist jetzt die F rage: Was könnten wir denn tun? Mikropolitisch? B. K. Ich denke, dass Archivpolitik etwas ist, was einerseits durch Herrschaft be- stimmt ist und sich gleichzeitig durch Mikropolitiken permanent rekonstruiert. Von daher müsste man sagen: Wie können wir nicht permanent Archivpolitik machen? Wie du auch gesagt hast, tun wir es natürlich permanent – in der Art, wie wir auch mit Wissen umgehen. Die Frage ist deshalb vielleicht: Wie tun wir es eigentlich und wie reflektiert unser Umgang mit Wissen bestimmte Herrschaftsverhältnisse, stellt sie in Frage? In dem Sinne glaube ich nicht, dass man aus der Verantwortung herauskommen könnte. P. L. Ist dann etwa das Generieren von Fake-Archiven – wie z. B. das Ausstel- len des Nichtarchivierten, also dessen, was durch das Raster bestimmter in- stitutioneller Archivpolitiken gefallen ist, und der Akteur_innen, die nicht vorkommen – eine wirksame Praxis? Kann man solche Archive einfach erfin- den, die zwar die Lücken nicht schließen – denn das geht auch nicht –, aber auf sie aufmerksam machen? Da entsteht ja eine Dynamik, die widerständig ist. Aber das sind nicht unbedingt unsere Praktiken. B. L. Archivpolitik ist auf der Ebene grundsätzlicher politischer Entschei- dungen darüber anzusiedeln, was eigentlich die Rolle und das Verständnis von Archiven ist, die wir jetzt haben wollen, und – ganz aktuell – wie wir uns Restitution vorstellen. Für mich ist einer der zentralen Punkte, dass das Nachdenken über Archive und die Frage nach der Genese und Funktions- weise von Archiven verbunden sein muss mit der Frage danach, wie Wissen- schaft funktioniert – wie Wissenschaft gemacht wird; und dass die Idee einer Dekolonisierung des Archivs nicht zu trennen ist von einer Dekolonisierung des Wissens bzw. der Wissenschaft. Und die verbinden sich über so etwas wie epistemische Gewalt und die Deutungsmacht als eine Macht, nicht nur Ins- titutionen zu schaffen, sondern auch zu bezeichnen, Kategorien zu schaffen 108 ZfM 20, 1/2019 ARCHIVE DER ZUKUNFT? und über sie zu entscheiden. Das sind Dinge, die übersetzen sich ja auch in den intellektuellen Diskurs. Meine erste Antwort wäre in diesem Sinne immer die Reflexion. Da geht es sehr genuin um eine Selbstbefragung von Deutungs- macht und von Diskurspolitiken. B. K. Stehen nicht gerade die Wissenschaftsparadigmen Reflexion und Differen- zierung zur Disposition, wenn wir ernsthaft über Dekolonisierung der Episte- mologien sprechen? Brauchen wir nicht etwas, was darüber hinausgeht. Sollten wir nicht gegen bestehende Archive und ihre Ordnungen andenken, alternative Archive stiften, Gegengeschichten erzählen und das thematisieren, was nicht erzählt wird? In den Debatten um die Dekolonisierung der Universitäten wird auch virulent, welche Formen der Subjektkonstitution und der Wissensproduk- tion eigentlich unseren Wissensparadigmen entsprechen und wie diese heraus- gefordert werden können. Ich sehe hier Vorsicht geboten, weil hierbei an die Gewalt von, aber auch gegenüber Wissensformen und -korpora gerührt wird, ebenso gegenüber Institutionen und Relationen. Wie kann man das vorsichtig und verantwortungsvoll angehen, aber auch zulassen, dass überhaupt etwas ins Wanken gerät? Gerade wenn es hoch her geht, sind für mich Reflexion, Her- leitungen, methodologische Fragen immer die sicheren Banken; also den Weg, den man beschreitet, zurückgehen, differenzieren. Aber ich bin mir nicht sicher, ob diese Bastionen nicht auch schwanken können müssten und ob man das ir- gendwie wagen sollte und wie. P. L. Das Risiko ist auf jeden Fall nicht gering. Was du beschreibst, geht für mich über das Verständnis eines situierten Wissens im Sinne Donna H araways noch hinaus – also das Offenlegen und das stärkere politische Verständnis der eigenen Position innerhalb einer Institution wie der Universität und in be- stimmten Wissenskulturen. Das ist keine Lösung, sondern erst einmal die Anerkennung einer Problematik. Und bei der Frage, welche Grenzen man da tatsächlich verschieben kann, denke ich, es wäre auf jeden Fall eine Flucht- linie, die Relationen, die Archive eingehen, zu vervielfältigen. Das ist ja eine Idee, die Isabelle Stengers mit einer wissenschaftlichen Ethik verbindet. Die Relationen zu vervielfältigen würde natürlich immer auch implizieren, ande- re Entitäten zuzulassen und damit eine Art von Egalität der Wissenden und Wissensformen herzustellen. Wir hatten das ja eben gerade in der Frage nach der Relevanz magischer Praktiken. Und eine Tendenz der feministischen Wissenschaftstheorie ist es, Fragen der Verantwortung und der Verantwort- barkeit, der Übernahme von Verantwortung und des Riskierens der eigenen Position zu stellen. B. K. Ich sehe auch das umgekehrt Riskante, das darin liegt, die Institution oder den Kanon zu verteidigen und zu bewahren, also das Archiv … B. L. … auch als eine Art der Wahrheit. In dem Moment, wo es um die politi- schen Archive geht, kann man ja auch sagen: Es gibt bestimmte Dinge, die wis- sen wir z. B. nur durch die Stasi-Archive, durch Archive der politisch Verfolgten. WAS UNS ANGEHT 109 BRIGITTA KUSTER / BRITTA LANGE | PETRA LÖFFLER Wer kann wissen, ob es der richtige Weg ist, diese zu zerstören? Denn in diesen politischen Diskussionen können die Archive auch immer Orte der Wahrheits- findung sein, wobei man stets fragen muss: Wessen Wahrheit ist das? Ist das eine Form von Evidenz? Die Frage ist auch, welche Sprache haben wir noch, wenn wir über die Archive an die eigenen Kategorien – die letzten von dir so genann- ten Inseln Reflexion und Differenzierung – herangehen, welche Sprache kommt dann? Das ist eine Frage, die ich mir stelle: Welche Sprache haben wir dafür, was sind die Inseln und Kategorien, die wir brauchen – brauchen wir überhaupt welche? Was können wir wie verhandeln? P. L. Interessen und Werte. Das wäre aus einer handlungstheoretischen Per- spektive Diplomatie. Das ist nicht die Negation von Reflexion und Differen- zierung – im Gegenteil. Aber es geht letztendlich ja auch darum, Allianzen zu bilden, die mit der Vertretung von Interessen zu tun haben. Und wenn man sagt, die Interessen sind aber verteilte Interessen, es gibt viele Interes- sen, die im Spiel sind, und nicht nur ein Interesse, dann wäre Wahrheit nur ein Interesse von vielen. Aber es gäbe auch ein Interesse daran, bestimmte Dinge zu bewahren oder nicht zu bewahren. Und diese Interessen kollidie- ren einfach. Das ist zumindest der Normalfall. Und dann ist man wahnsinnig verstrickt. Dann kann man sich nicht raushalten. Interessen macht man sich zu eigen, also welche vertritt man? B. L. Ich denke, das ist ebenso eine der Bedingungen von möglichen Politiken des Archivs und Umgängen mit dem Archiv: sich nicht mehr rauszuschreiben, sondern – auch wenn das vielleicht ein alter Hut ist – zu fragen: Aus welcher Position, mit welchen Interessen, mit welchen Möglichkeiten, mit welcher Sprache schaue ich da drauf und was mache ich damit? B. K. Das passt noch einmal zu den kolonialen Archiven. Bisher wurde das oft auch in dem Sinne diskutiert, dass es das koloniale Archiv gibt – jetzt im Foucault’schen Sinne – , und dann gibt es diejenigen, die ausgestrichen, verhandelt werden, die also implizit oder in Inkubation eine Gegenseite des Archivs bilden. Es gibt aber aktuell auch die Tendenz – aus der Perspektive der ehemals Kolonisierten – eher umgekehrt zu sagen: Nein, wir sind Teil all dieser kolonialen Wissensformen und all dieser kolonialen Handlungs- f ormen, wenn auch in einer komplexen, deformierten und erniedrigten Art und Weise, aber wir sind nicht das Andere. Es wäre komisch, sich aus dem Archiv herausschreiben zu wollen. Im Gegenteil: Man sollte sich einschrei- ben, aber wissend darum, in welcher Weise man es tut und was dabei auf dem Spiel steht. P. L. Ja, die Durchlässigkeit von Archiven stellt natürlich auch permanent die Frage nach dem Außen. Was ist das Außen des Archivs oder von Archiven? B. L. … und wie verändert sich das Archiv durch jeden neuen Zugriff? Wenn ich das Archiv unter bestimmten Interessen und mit einem bestimmten Blick 110 ZfM 20, 1/2019 ARCHIVE DER ZUKUNFT? benutze, schreibt sich das in die Geschichte des Archivs ein. Und das finde ich eigentlich auch in der feministischen Wissenschaftskritik zu wenig präsent. Dass zu diesen Archiven ständig auch ein Meta-Archiv seiner Benutzung, sei- ner Auslesung und so weiter gehört. Ich finde, es ist auch unsere Aufgabe, das klarer zu machen. P. L. Arbeiten in Archiven hinterlassen Spuren. Und die prägen das Archiv mit. Gerade mit Blick auf das Digitale kann man sagen: Natürlich hinterlässt man auch Datenspuren – durch jede Suchanfrage sind wir eingeschrieben in diesen Datenkosmos. B. L. Genau, das wäre die juristische Spur. Ich finde es wichtig, das auf der In- haltsebene mitzudenken; dass jede Nutzung nicht nur überprüfbar ist, sondern auch, dass man klarzumachen hat, aus welchem Blickwinkel und mit welchem Interesse Archive genutzt werden. Das passiert noch zu wenig. B. K. Das wäre aber auch eine mutige Komplikation der Archive. — WAS UNS ANGEHT 111 B R I G I T T E W E I N G A RT «DEAR WHITE PEOPLE»? — Notizen zu Arthur Jafas Black Cinema und Fragen der Adressierung Anlass für diesen Text ist eine Ausstellung von Arthur Jafa, die letztes Jahr in der Julia Stoschek Collection Berlin stattfand: A Series of Utterly Improbable, Yet Extraordinary Renditions. «Extraordinary», außerordentlich – so war auch der Effekt, den die Arbeiten des afroamerikanischen Filmemachers und Künst- lers, die sich nahezu vollständig auf das Bild- und Soundrepertoire einer black experience berufen, auf mich hatten. Und offenbar bin ich nicht die einzige (weiße) Rezipientin, der es so ging – womit die Katze schon aus dem Sack ist und vom Versuch, die Situierung meiner Autorschaft eleganter zu thematisie- ren, nur noch die Einklammerung einer eingestandenermaßen plumpen Geste zeugt. Denn wenn ich im Folgenden versuche, in Worte zu fassen, was an den Arbeiten Jafas, und zwar insbesondere an den filmischen, mich auf so außeror- dentliche Weise angegangen ist, dann liegt der Akzent auf dem Problem der Adressierung: Was geht mich das (eigentlich) an? In Kritiken zu dieser und zu anderen Ausstellungen Jafas kommt diese Frage seltsamerweise fast nicht vor: «Goes without saying», wenn schwarze Kritiker_ innen sich der Ausstellung annehmen bzw. redaktionell für zuständig befun- den wurden, wohingegen weiße Autor_innen der offenbar durchaus verspürten Notwendigkeit einer Kommentierung der eigenen Sprechposition mit einer eher beiläufigen Erwähnung Genüge tun. Und ist es nicht tatsächlich ziem- lich eitel und womöglich gar ein Symptom eingefleischter, wenn nicht white s upremacy, dann doch mindestens weißer Wichtigtuerei, noch die dezidiert aus der Position der Zugehörigkeit, und das heißt in Anbetracht der Unterdrü- ckungs- und Gewaltgeschichte auch: Betroffenheit, vorgenommene Auseinan- dersetzung mit blackness reflexhaft auf sich selbst und das eigene Weißsein zu beziehen? Und doch hat der Reflex in diesem Fall meines Erachtens immer- hin die Reflexion auf seiner Seite: Denn die Frage der Adressierung ist in Jafas Werk derart präsent, dass es in der Tat seltsam ist, sie zu ignorieren. Günstigstenfalls kann das Thema, auch in dieser sehr vorläufigen Behandlung, dazu beitragen, dass in einer Zeitschrift für Medienwissenschaft die unvermeidbaren 112 ZfM 20, 1/2019 Unsicherheiten diskutiert werden, die der Umgang mit Phänomenen provoziert, die wir als Forscher_innen, Lehrende und idealerweise public intellectuals vielleicht lieber nicht angehen, weil das Schlingern zwischen Willen zum (Mehr-)Wissen und dem Eingeständnis der Anmaßung zumindest eine Extraanstrengung erfor- dert. Das führt mitunter zu solchen Verzerrungen, wie sie Aria Dean 2016 in ihrem Text «Poor Meme, Rich Meme» diagnostiziert: dass die digitale Folklore vom kreativen Input schwarzer Produzent_innen massiv geprägt ist, ohne dass diese Arbeit ökonomisch, aber auch diskursiv gewürdigt würde 1 – was seitdem im Übrigen in den Debatten über cultural appropriation nicht nachgeholt wurde.2 * * * In einem Gespräch über seine jüngste Videoarbeit The White Album stellt der Englischprofessor Stephen Best Arthur Jafa die Frage, die auch mich u mtreibt – nicht nur im Umgang mit seinen Arbeiten, sondern auch mit m einen Studierenden, denen im Zuge unserer Seminardiskussionen über cultural appropriation und die Unhintergehbarkeit kolonialer Blickregime die Selbst- verständlichkeit ihrer Diskursposition abhanden gekommen ist (etwa weil sich die Beteuerung ihrer ‹Farbenblindheit› als weißes Privileg erwiesen hat): Wie die Studierenden am besten beraten seien, die zögerten, über black culture zu schreiben, «because, well … they are white?»3 Jafas Antwort, dass er in diesen Dingen ein «libertine» sei und kein Problem damit habe, wenn Leute sich mit dem auseinandersetzen, ‹was sie fasziniert›, darf man getrost als Ermunterung auffassen. Als Freibrief, der von der Notwendigkeit entledigt, über den Ort des 1 Aria Dean: Poor Meme, Rich eigenen Sehens, Hörens und Sprechens nachzudenken, ist Jafas Einladung aber Meme, in: Real Life, dort datiert 25.7.2016, reallifemag.com/poor-meme- schon deshalb nicht misszuverstehen, weil in seinen Arbeiten Faszination selbst rich-meme/, gesehen am 15.2.2019. als Konstellation des Sehens und Gesehenwerdens verhandelt wird, in der die 2 «On Instagram accounts run by largely nonblack, hip millennials, ‹Farbe› des Blicks einen Unterschied macht. these memes wield some mimicry of African American Vernacular English, * * * but usually to describe cultural phe­nomena affiliated with a more mo­ Dem aktuellen Hype um Jafas Werk geht seine jahrzehntelange Arbeit am Pro- neyed class of tastemakers. (See: the ‹goes to Berlin once› starter pack, or jekt eines Black Cinema voraus. Dessen Fluchtpunkt bringt er in seinem viel- the plethora of belated #woke and zitierten «Mantra» auf die Formel: «Black cinema with the power, beauty, and ‹feminist› memes.)» (Ebd.) 3 In Conversation: Arthur Jafa and alienation of black music».4 Damit ist schon klar, dass es bei allem c ommitment Stephen Best, BAMPFA [Berkeley Art zur Geschichte schwarzer Subjekte und aller Materialversessenheit des Bilder- Museum and Pacific Film Archive], 12.12.2018, www.youtube.com/ sammlers, wie sie auch Jafas Collagenbücher dokumentieren, zwar um Iden- watch?v=FcIBS015EIQ, gesehen am titätspolitik, aber nicht um ‹Inhaltismus› geht, sondern immer auch um Fra- 15.1.2015. 4 Das Zitat taucht in fast jedem gen der Form, um mediale Potenziale jenseits des Narrativen und um eine Interview auf. Vgl. auch das Mission Verknüpfung von Sinn und Sinnlichkeit, die black aesthetics an eine spezifische Statement auf der Website der von Jafa mitbegründeten Filmproduk­ aisthesis zurückbinden. Wie andere Theoretiker_innen afrodiasporischer Kul- tionsfirma TNEG: «TNEG is a motion turtechniken (etwa Paul Gilroy oder Kodwo Eshun) führt Jafa den auch jenseits picture studio whose goal is to create a black cinema as culturally, von Klischees haltbaren Befund, dass schwarze Ästhetik in Musik, Tanz und socially, and economically central to Rhetorik (etwa des signifyin’) stilbildend war, auf ihre Produktionsbedingungen the 21st century as was black music to the 20th century.» tneg.us/ethos, zurück, weil sich schwarze Subjekte im Zuge ihrer Enteignung und Versklavung gesehen am 8.3.2019. WAS UNS ANGEHT 113 BRIGITTE WEINGART zu Expert_innen für immaterielle Praktiken entwickelt bzw. die Ma- terialität ihrer Körper zur kreativen Ressource gemacht haben: «Black people figured out how to make culture in free-fall. We are a n ation, but we have no land. There is no Constitution of Black Culture.»5 Dazu passt auch Jafas Affinität zum Internet, denn die Einschreibung in global zirkulierende Datenflüsse zur Kommunikation schwarzer Kollek- tivbefindlichkeiten, von der neben der Memekultur auch Phänomene Abb. 1 – 3 Apex von Arthur Jafa, wie Black Twitter zeugen, ist Autorinnen wie Dean oder Laur M. Jackson 6 zu- Video, 8' 22'', Farbe, Ton, folge in der afrodiasporischen Erfahrung fundiert: «We, as black people, are no 2013. Installationsansicht. Fotos: Simon Vogel strangers to the alienation of a mediated selfhood.»7 Seine Tätigkeit als Kameramann für so dezidierte Black Cinema-Projekte wie Spike Lees Crooklyn, aber auch für Stanley Kubriks Eyes Wide Shut, erscheint Jafa rückblickend offenbar eher als entfremdete Arbeit im schlechten Sinne, weil er nicht Autor, sondern Angestellter war.8 Mit seiner damaligen Ehefrau Julie Dash hat er 1992 mit Daughters of the Dust den ersten Film unter der Regie einer Afroamerikanerin gedreht, der in den USA in den Kinos zu sehen war (und ge- rade eine Renaissance erlebt, nachdem sich 2016 Beyoncé für ihr Visual Album Lemonade und Barry Jenkins für Moonlight davon inspirieren ließen). Nachdem 5 Arthur Jafa im Gespräch mit Jafa nach mehrfachen Ausstellungsbeteiligungen in der Kunstwelt dieser auch Kate Brown: ‹Black People Figured Out How to Make Culture in Free­ deshalb den Rücken kehrte, weil er sich mit der Rolle des black face im White fall›: Arthur Jafa on the Creative Cube nicht anfreunden konnte und offenbar lieber Musikvideos für Jay-Z und Power of Melancholy, in: artnet news, dort datiert 21.2.2018, news. Solange drehte, hatte er 2016 mit der siebenminütigen Videocollage Love Is the artnet.com/art-world/arthur-jafa-julia- Message, The Message Is Death eine Art Comeback.9 Ich habe diese Arbeit, der stoschek-collection-1227422, gesehen am 15.1.2019. zahlreiche Kritiker_innen ein geradezu epiphaniehaftes Rezeptionserlebnis be- 6 Laur M. Jackson, The Blackness scheinigen, nicht gesehen – obwohl sich der Film weitgehend aus im Internet of Meme Movement, in: Model View Culture, Issue 35, dort datiert zugänglichen Clips speist, ist er mit dem Übergang in die Kunstwelt auch deren 28.3.2016, modelviewculture.com/ eigenen Prozessen der Wertschöpfung unterworfen und wird derzeit nur in Mu- pieces/the-blackness-of-meme-move ment, gesehen am 15.1.2019. seen und Galerien gezeigt. 7 Dean: Poor Meme, Rich Meme. 8 «[S]o wie ein Jazz­Musiker in einer Stadt, in der es nur eine * * * Polka­Kapelle zum Spielen gibt.» Zit. In der Berliner Ausstellung war aber als Großprojektion in einem eigenen, n. Gerd Brendel: Was es bedeutet, schwarz in einer weißen Welt zu kinoartigen Raum die ältere Arbeit Apex (2013) zu sehen und zu hören, eine sein, in: Deutschlandfunk Kultur, dort protofilmische Montage von Bildern aus Jafas offenbar unerschöpflichem Ar- datiert 10.2.2018, www.deutschland funkkultur.de/arthur-jafa-in-berlin- chiv, durchgetaktet im Rhythmus der Klänge eines Tracks des Detroiter Tech- was-es-bedeutet-schwarz-in-einer.1013. nomusikers Robert Hood.10 Sie zeigen hauptsächlich Menschen, Schwarze vor de.html?dram:article_id=410504, gesehen am 15.1.2019. allem, aber nicht nur. Zwischen Ikonen der schwarzen Musikgeschichte wie Bob 114 ZfM 20, 1/2019 «DEAR WHITE PEOPLE»? Marley, Miles Davis, Billie Holiday und Michael Jackson finden sich die Sex Pistols oder David Bowie und unter den C elebrities viele (mir) Unbekannte. Körper, glamourös oder durch lynching verstümmelt wie der von Jesse Washington, und vor allem Gesichter, sublim-schöne, alltägliche, maskierte, misshandel- te. Dazwischen hybride Geschöp- fe, Comicfiguren, C yborgs, Aliens, Mikroben. In etwas mehr als acht Minuten treten Hunderte von Ge- stalten für einen kurzen Moment in Erscheinung – ein Flickerfilm, wenn das Timing nicht genau so kalkuliert wäre, dass es gerade reicht, sowohl das Motiv auszumachen wie seine Beziehung zum vorherigen und nächsten Bild zu erahnen. Zwar sind viele der Bilder schon für sich genommen entweder «Schlagbilder» (Aby Warburg) oder «Schockbilder» ( Roland Barthes) – oder schlicht: «dope», wie Jafa sein Auswahlkriterium auf 9 «It made Jafa, after nearly three den Begriff bringt.11 Vor allem aber nisten die Affekte hier zwischen den Bildern, decades of filmmaking, a star in the art world.» Antwaun Sargent: in den – mitunter unwahrscheinlichen, außerordentlichen – Verbindungen, die Black Cinema Pioneer Arthur Jafa’s zwischen ihnen hergestellt werden. Der Filmemacher John Akomfrah hat d iese New Film Dissects the Problems of «Whiteness», in: Artsy, dort datiert Beziehungen als «affective proximities» beschrieben und damit offenbar das 28.12.2018, www.artsy.net/article/ Verhältnis zu seinem Freund Jafa mitgemeint, der diese Formulierung regelmä- artsy-editorial-black-cinema-pioneer- arthur-jafas-new-film-dissects-problems- ßig zitiert, wenn er über seine Montageprinzipien Auskunft gibt.12 whiteness, gesehen am 15.1.2019. Dieses Verfahren hat auch Konsequenzen für die Affektübertragung auf die 10 Jafa zeigt Apex im Gespräch mit bell hooks am 12.9.2016, siehe Rezipientin, auf die Adressierung also. Während ich überlege, warum mich www.youtube.com/watch?v=imGskKiC_ Apex so ‹geflasht› hat, kommt mir ein Statement von Jafa in die Quere, das sich Z8, gesehen am 15.1.2019. 11 Artist Talk mit Arthur Jafa im zwar auf seinen so gefeierten neueren Film bezieht, mir aber zu denken gab, Luma Westbau Zürich, 15.12.2018, weil er erklärt, warum er keine «Love Is the Messages» mehr liefern wolle, vimeo.com/307286991, gesehen am 15.1.2019. trotz oder gerade wegen des spektakulären Erfolgs dieser Arbeit: «I started to 12 John Akomfrah: It Is in the feel like I was giving people this sort of microwave epiphany about blackness Brewing Luminous, in: Booklet zur Ausstellung Arthur Jafa: A Series of and I started [feeling] very suspect about it. After so many ‹I cried. I crieds›, Utterly Improbable, Yet Extraordinary well, is that the measure of having processed it in a constructive way? I’m not Renditions (Serpentine Galleries), London 2017, 39 – 50, hier 43. sure it is.»13 An anderer Stelle bezieht er diese Reaktion ausdrücklich auf weiße 13 Zit. n. Ruth Gebreyesus: Why the Zuschauer_innen14 – womit sie in die Nähe der problematischen Rezeptions- film­maker behind Love Is the Mes­ sage is turning his lens to whiteness, haltung bezüglich schwarzer Kultur rückt, die der Autor und Musiker Greg in: The Guardian, 11.12.2018, www. Tate (noch ein Freund von «AJ») mit den Worten seiner Mutter auf den Satz theguardian.com/artanddesign/2018/ dec/11/arthur-jafa-video-artist-love-is- gebracht hat: Everything But the Burden.15 the-message, gesehen am 15.1.2019. Und doch fühle ich mich, was meine Reaktion auf Apex angeht, nicht wirk- 14 Siehe Sargent: Black Cinema Pioneer Arthur Jafa’s New Film. lich ertappt: Denn die hypnotische Wirkung, die diese Arbeit auf mich hatte 15 Vgl. Greg Tate (Hg.): Everything (erst recht, als ich sie bei der Finissage als Teil einer Performance wiedergese- But the Burden. What White People Are Taking from Black Culture, New hen habe: als mehrfachen Loop, von Jazzmusiker Jason Moran auf dem Klavier York 2003. WAS UNS ANGEHT 115 BRIGITTE WEINGART begleitet), hat nichts Identifikatori- sches – dem arbeitet ihre Machart entgegen, weil ihr ein Unbehagen an der eigenen Position geradezu eingearbeitet ist: Mir kam es vor, als bliebe die affektive Aufladung, die die Bilderreihen in der Hori- zontalen entfalten, eigentümlich asynchron zur gleichsam vertikalen Übertragung, der ich als Betrach- terin ausgesetzt war; unterstützt durch das Staccato des Techno- sounds wurde ich von den Bildern und Blicken ebenso durchlöchert, wie ich bei dem Eigenleben, das sie dank ihrer subtilen Mikrodramaturgie ent- wickeln, außen vor blieb. Ich war gleichzeitig gebannt und mit meiner eigenen Faszination beschäftigt. * * * Faszination erweist sich im Zuge meines ‹coming to terms› hier als das pas- sende Wort, wenn man über die diffuse Anziehung hinaus, die den Begriff heutzutage als Unsagbarkeitstopos oder «Mana-Wort» (Barthes) qualifiziert, seine Geschichte mitbedenkt: Als fascinatio hat man bis ins 18. Jahrhundert eine bestimmte Form der Verzauberung bezeichnet, vor allem jene folgenreichen Blickkontakte wie den bösen Blick, die krankmachen und töten können, aber auch den erotischen und begehrlichen Blick. Zu den traditionellen Abwehr- maßnahmen gegen die fascinatio gehört der Einsatz von Amuletten als Blick- fang, wofür in der römischen Antike vorzugsweise das fascinum eingesetzt wur- de: ein Phallusobjekt. Zur Magie der Faszination gehört also auch die Gegenfaszination, der Ab- wehrzauber – und genau in diesem Sinne scheint Jafa die medialen Repräsen- tationen von blackness einzusetzen, die er aus vorgefundenem Material approp- riiert. Als Strategie des Entzugs, die trotzdem etwas zu sehen gibt, gehört zum Repertoire der Gegenfaszination auch die Pose, die mit der Erstarrung des Körpers dessen Bildwerdung im Blick des Anderen antizipiert. Aus dieser Per- spektive arbeitet nicht nur der Bildpool, auf den in Apex rekurriert wird, auf- grund der vielen stilisierten Gesten, Masken, Schmuckobjekte, menschlichen und unmenschlichen Augen und Blicke einer Strategie der Abschirmung zu. Auch die mitkommunizierte Bildhaftigkeit der Zitate (Stills, Fotos, Zeichnun- gen, mikroskopische Aufnahmen) und die Taktung widersetzen sich der Über- griffigkeit des faszinierten Blicks. Natürlich ruft ein solches Szenario der Faszination und Gegenfaszination mit den impliziten Thesen Jacques Lacans die Theorie eines weißen Mannes 116 ZfM 20, 1/2019 «DEAR WHITE PEOPLE»? auf, die die Kritik provoziert hat, dass sie Blickstrukturen universalisiere.16 Dass diese Referenz nicht weit hergeholt ist, verdeutlicht Jafas Feststellung: «If you point a camera at a Black person, on a psychoanalytical level it functions as a White gaze. It therefore triggers a whole set of survival modalities that Black Americans have.»17 An anderer Stelle wird der weiße Blick mit dem der Insti- tution kurzgeschlossen, wenn Jafa sich mit Fred Moten über die Herausforde- rung austauscht, unter Bedingungen des White Cube auszustellen: «I often think of refusing the imposition of the white gaze in terms of deflecting a projectile or beam. Almost like Captain America with a shield. Entering the gallery / mu- seum space though is like attempting to deflect this gaze / projectile / beam in a mirrored interior.»18 Wenn die Verfahren, die in Apex zur Anwendung kom- men, als Reflexionen rassifizierender Blickregime und ihrer Geschichte gelten können, so kommen hier neben dem bösen Blick der Überwachung und Unter- drückung auch jene ambivalenten Facetten der fascinatio ins Spiel, die sich als Exotismus oder Fetischismus aus einer gutgemeinten Diskriminierung speisen. In Akomfrahs Kommentar wird die Arbeit unter dem (vermutlich früheren) Titel APEX_Practising Refusal geführt; und im Gespräch mit bell hooks nennt Jafa als schwarze Strategie dessen, was hier Gegenfaszination genannt wird, die Tendenz zum «glamourizing».19 Kein Wunder also, dass ‹Geflashtsein› für 16 In den Vorlesungen zum die weiße Betrachterin in diesem Spiegelkabinett der Blicke, Strahlen und Ge- Blick als Objekt a kommt Lacan ausdrücklich auf das fascinum und schosse immer auch bedeutet, dass man sie hat ‹abblitzen› lassen. die Pose als phallische Abwehrgeste zu sprechen; vgl. Jacques Lacan: * * * Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse [1964], Paris 1973, Aber auch Lacan hatte mehr als eine Ahnung davon, dass – anders als es die 124 ff., hier zit. n.: ders.: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, übers. Doppeldeutigkeit des französischen Verbs regarder nahelegt – ‹ansehen› und v. Norbert Haas, Weinheim, Berlin, ‹angehen› je nach Adressat_in nicht notwendig zusammenfallen. Schließlich 4. Aufl., 1996, 102. 17 Arthur Jafa in Conversation wurde er in der berühmten Szene mit der im Meer glitzernden Sardinenbüchse with Hans­Ulrich Obrist, Los von einem der Fischerjungen, die der junge Intellektuelle touristisch bei dem Angeles 2016, 7, online unter www. serpentinegalleries.org/files/downloads/ begleitet, was für sie ihre Arbeit ist, darüber belehrt, dass er zwar die Büch- arthur_jafa_in_conversation.pdf, se sehen möge, sie ihn aber nicht – und noch in Lacans Beharren darauf, dass gesehen am 15.1.2019. 18 Zit. n. Fred Moten: Black sie ihn in einem gewissen Sinne durchaus anblickt («en un certain sens, tout Topological Existence, in: Booklet de même, elle me regarde»), klingt das Eingeständnis an, dass sie ihn vielleicht zur Ausstellung Arthur Jafa: A Series of Utterly Improbable, Yet Extraordinary tatsächlich nichts angeht.20 Gilt das nicht auch für meine Perspektive auf black Renditions, 5 – 15, hier 12. culture? «White people are left to eavesdrop at the door, while Jafa and his black 19 Akomfrah: It Is in the Brewing Luminous, 41; bell hooks and a udience investigate and tinker with the black experience of cinema», konstatiert Arthur Jafa Discuss T ransgression Aria Dean.21 Wenn aber der weiße Blick den Formationen schwarzer Sichtbar- in Public Spaces at The New School, 12.9.2016, www.youtube.com/ keit und Subjektivität auf so konstitutive Weise eingeschrieben ist, wie es Jafas watch?v=fe-7ILSKSog, gesehen am Arbeiten nahelegen, dann gibt es vielleicht doch gute Gründe für white people, 15.1.2019. 20 Lacan: Les quatre concepts fonda- sich nicht auf heimliche Lauschaktionen zu beschränken, sondern sich am Dis- mentaux de la psychanalyse, 110. kurs zu beteiligen – im Bewusstsein, dass man nicht die erste Adresse ist (son- 21 Aria Dean, Arthur Jafa: Human, Alien, in: Kaleidoscope, Vol. 32, 2018, dern wie der jugendliche Lacan «mehr oder weniger ein Fleck im Bild»).22 online unter kaleidoscope.media/ Jafa, der wiederholt zu Protokoll gegeben hat, dass seine Arbeiten dezidiert arthur-jafa/, gesehen am 15.1.2019. 22 Lacan: Les quatre concepts fonda- an Schwarze adressiert, alle anderen aber eingeladen sind, mitzuschauen und mentaux de la psychanalyse, 110. WAS UNS ANGEHT 117 BRIGITTE WEINGART zu hören, hat inzwischen die bereits erwähnte Videoarbeit The White Album im Auftrag des BAMPFA angefertigt; eine kürzere Vorversion war als Mix 4_C onstantly Evolving (2017) auch in der Julia Stoschek Collection zu sehen. Wieder kommen YouTube-Clips zum Einsatz: Musikvideos zu den Stücken The Pure and the Damned und Animals des Elektronikmusikers Oneohtrix Point Never z. B., und mit den Handymitschnitten der Cybergoth Dance Party und ei- nes exaltierten Bon Jovi-Fans, die Millionen Viewer_innen Einblicke in wei- ßes Tanzfieber verschafft haben, kommt die Memekultur erneut ins Spiel. Der weiße Suprematist Dylann Roof ist beim Betreten der Kirche in Charleston zu sehen, in der er Momente später neun Afroamerikaner_innen erschießen wird; ebenso vertreten ist der vom White Supremacism zum White Guilt-Bekenner konvertierte Dylan Nixon, der «black anger» zum Produkt jener Ideologie er- klärt, von der er sich nun abgewendet hat: «it’s a hate that hate produce [sic]». Mit dem Zitat längerer, sich der Kontemplation anbietenden Ausschnitte aus in der Regel eher flüchtig rezipierten Formaten setzt Jafa hier auf ein ande- res Verfahren als in Apex, aber wieder fallen eindringliche Blickkonstellationen auf: zwischen Robert Pattison (of all people) und einem wolfsähnlichen, blutver- schmierten Tier z. B., dessen abjekte Andersartigkeit ihn mitsamt schon erho- benem Schwert innehalten lässt – als ahnte er etwas von dessen konstitutiver Funktion für sein Selbstgefühl. Wenn im selben Oneohtrix Point Never-Video Iggy Pop mittels Computeranimation oder in einem anderen Val Kilmer mit- tels verzerrter Bildspur zu ruckeligen Cyborgs mutieren, können wir weißer Subjektivität dabei zugucken, wie sie sich selbst fremd wird. Mit einem Projekt wie der Netflixserie zum Kinofilm Dear White People, die der Titel dieser Notizen zitiert, haben die Videos Arthur Jafas vielleicht nicht viel mehr gemeinsam, als dass auch hier an der Umadressierung der Frage von race gearbeitet wird. Beide Interventionen in die mediale Konstruktion von race können aber unseren akademischen Versuchen, Weißsein mit seiner vermeint- lichen Unmarkiertheit auch seine selbstverständlichen Privilegien streitig zu machen, audiovisuelle Argumentationshilfen an die Hand geben. Schließlich ist die Message, dass race politics, ‹matters of love and death›, alle angehen, aber jede_n anders, noch längst nicht überall angekommen. — 118 ZfM 20, 1/2019 — BILDSTRECKE B L A C K AT H E N A C O L L E C T I V E — From what distance are things clear? From what distance are things clear? untersucht, wie politischer Raum durch ver- schiedene Architekturen und Formen der Reterritorialisierung wiederhergestellt wird. Indem Fragmente von Fotografien, Texten und Illustrationen zu einer ar- chitektonischen Sprache zusammengesetzt werden, die von den dominanten Rah- mungen des Archivs abweicht, bedient sich dieses Projekt einer archäologischen Logik, um neue Notationsformen zu erarbeiten. Die Bibliothek von A lexandria ist als kulturgeschichtliches Symbol der Ausgangspunkt von From what distance are things clear?, das für unbeantwortete Fragen und Lücken in der Geschichts- schreibung steht. Wer wird aus der Geschichte herausgeschrieben und welche Hierarchien folgen daraus? Das gegenwärtige Verständnis der Kulturräume des Roten Meers und des Mittelmeers wird auf eine territoriale Verbundenheit zu- rückgeführt, die in koloniale Logiken verwickelt ist. In einer Region, die jahrhun- dertelang Mittlerin zwischen ausgedehnten Handelszonen und -kreisläufen war, hat Migration Vorstellungen von Kultur geprägt. Heute beschwört Migration in diesem Teil der Welt ein davon deutlich unterschiedenes Bild herauf. Ende 2015 haben die Künstler_innen Heba Y. Amin (Ägypten) und Dawit L. Petros (Eritrea / Kanada) das Black Athena Collective gegründet. Das For- schungs- und künstlerische Experimentallabor befasst sich mit dem politischen Diskurs und mit Praktiken räumlicher Konstruktion in der Region des Roten Meeres zwischen Eritrea und Ägypten. Das Kollektiv entstand aus dem Be- dürfnis heraus, Mobilität als entscheidendes Prinzip zu thematisieren, um neue territoriale Konventionen vorstellbar zu machen und neue Ansätze für Politi- ken der Staatsbürgerschaft zu entwickeln. Anhand von Bildern aus Archiven und Bibliotheken kolonialer Landvermessung, Geschichten der Kolonialarchi- tektur sowie Studien nomadischer Architektur in nord- und ostafrikanischen Landschaften untersuchen sie heutige Geografien anhand der Geschichten der Mobilität und entwerfen so alternative konzeptuelle Rahmungen. Das Black Athena Collective widmet sich damit Herausforderungen, die aus Martin Bernals Hinterfragung der methodologischen Annahmen der westlichen Geschichtsschreibung hervorgehen. In einer multidisziplinären Perspektive, die Geografie, Archäologie und Geschichte einschließt, befragt das Kollektiv schrei- bend, in Performance Lectures und mit visuellen Strategien die Geschichten der Region des Roten Meeres und stößt neue historische Dynamiken an. — Aus dem Englischen von Annika Haas 120 ZfM 20, 1/2019 From what distance are things clear? It is unclear who burned the library of Alexandria. Various theories attribute it to different perpetrators: Julius Caesar in 48 BC, Theophilus around 400 AD and Caliph Omar in 640 AD. We are told, however, that it was the greatest destruction of the ancient world’s archive of knowledge. A narration of history privileges the dramatic singular event over the slow, unraveling of time. It obliterates the peripheral, small matters, the fringes. From what distance are things clear? “History is neither the opposite of fiction nor is it simply fictional. History is a method rather than a truth, an institutional formalization of the stories we tell ourselves to make sense of our lives”.1 We consider every act of telling an act of possibility to interrogate the uncertainties of the past while illuminating tensions in the present. No images of Alexandria’s ancient library exist. In its stead, architectural elevations of the new Alexandria Bibliotheque are built in proximity to the historical. The new building connects to a lineage that attempts to resituate the importance of the region in a global context, an endeavour to access the greatest archive of knowledge. Architectural Renderings of Bibliotheca Alexandrina. Image courtesy of Snøhetta. Conceived as a revival of the ancient library, the new Bibliotheca Alexandrina was built and opened to the public in 2002 in close proximity to its historical location. 1 Ashcroft, Bill. Post-Colonial Transformation (Routledge, 2013) 82. Archeology of the Image 2, Notation 1, Massawa, 2018 From what distance are things clear? Not only do we fail in our attempts to account for the knowledge that is lost, we are also unable to make a definitive claim on the mechanism of destruction itself. History is an enterprise through which the space of truth in fiction is recuperable. The construction of the contemporary library without a discernible framework requires an insertion of fantasy, myth. The crisis within the contemporary moment makes the construction of such a structure necessary. Without a concrete form to substantiate itself, the new Alexandria Bibliotheque is an attempt at restaging history without a mimetic trace, or a representational shadow. With the donation of 500,000 books from the Bibliothèque Nationale de France, the current Alexandria Bibliotheque houses the largest repository of French books in Africa - books with their own systems of classification and imposed modes of knowledge. From what distance are things clear? From what distance are things clear? From what distance are things clear? Whose trajectory of history do we speak of? We move within the boundaries of imagined geographies, in which what is available is not the truth as an absolute historical measure of the world, but a constructed series of representations. The sea, with the narratives of those who move across its waters, is a concept and a historical cultural formation that is imaginatively constructed. We can allude to the erasure of other stories with certainty. Historical processes are often employed to flatten out knowledge, homogenize thought and limit the scope of diverse information. Connecting to lost knowledge points to the possibilites of engaging multifaceted narratives. Archeology of the Image 4, Notation 1, The Bay of Zula, 2018 From what distance are things clear? It is clear that the south to north trade route is a circuit on which knowledge moves. A legend: Foreign ships arriving to Alexandria had all books and scrolls confiscated. Copies were produced and later returned to their owners, while the originals were kept for the library. Which inflections of cultural possibilities have been erased when the Alexandria library is framed as a Greek library, the Grand Church of Universal Knowledge and Scholarship? Archeology of the Image 3, Notation 1, Suez Canal, 2019 The future is where the histories of the dispossessed are used to construct narratives with which to imagine other futures. Archeology of the Image 1, Notation 1, Massawa, 2017 We tell ourselves simplified stories for easy consumption when we should tell complex ones even though they may bring about a sense of discomfort. If history is not negotiable then the future is not negotiable. Map of Mersa/Wadi Gawasis with excavated areas. Courtesy of Journal of the American Research Center in Egypt. Archeology of the Image 5, Notation 1, White Nile, 2018 Whose trajectory of history do we speak of? From what distance are things clear? — EXTRA D E N N I S G Ö T T E L HISTORIOGRAFIE DER FILMARBEIT — Making of, up & out («Cruising») «There aren’t enough X’s in the alphabet for this picture!»1 Malusmaterial Auf der 2007 erschienenen DVD von William Friedkins Cruising (USA 1979) finden sich unter der Rubrik «Extras» zwei Making-ofs. Beide sind aus dem Jahr der Erstveröffentlichung der DVD, für beide ist dasselbe Team verant- wortlich, beide haben die gleiche Länge und unterscheiden sich weder n arrativ noch ästhetisch: talking heads von an der Produktion Beteiligten, Filmaus- schnitte, Filmstills, Setfotografien. Doch während das eine Making-of nichts weniger als The History of Cruising (Regie: Laurent Bouzereau, USA 2007) er- zählen will und dabei die kreativen Entscheidungsprozesse rekonstruiert, hat das zweite einen anderen Schwerpunkt: Excorcising Cruising (Regie: Laurent Bouzereau, USA 2007) berichtet vor allem über die großen Demonstrationen, die es gegen die Dreharbeiten im New York der späten 1970er Jahre gegeben hat, weil dem Filmprojekt eine diskriminierende Repräsentation von Schwulen vorgeworfen worden war. Außerdem findet sich in diesem zweiten Making-of der lakonische Hinweis auf «lots of trouble with the rating board»: Cruising musste aufgrund von Beanstandungen expliziter Sexszenen mehrmals umge- schnitten und gekürzt werden. Die Fertigstellung von Cruising, dessen Plot sich um eine Mordserie in der Subkultur schwuler Leder- und SM-Clubs und einen inkognito ermittelnden Polizisten dreht, stand in zweifacher Hinsicht in Gefahr: wegen des Protests gegen die spezifische Darstellung schwuler Lebensformen und wegen der 1 Richard Heffner, Vorsitzender Zensur von schwulem Sex. Im Bonusmaterial der DVD findet zwar beides Er- des Rating Board der Movie Picture Association of America, wähnung, doch werden Protest wie Zensur aus der vermeintlich eigentlichen zit. n. William Friedkin: The Friedkin Produktionsgeschichte (The History of Cruising) herausgetrennt. Excorcising Connection. A Memoir, New York 2013, 373. Cruising nimmt in seinem Titel nicht nur spielerischen Bezug auf Friedkins 130 ZfM 20, 1/2019 bekanntesten Film, sondern versucht sich an einer Geistervertrei- bung (so der deutsche Titel des Making-ofs): Das, was den Pro- duktionsprozess von Cruising heimgesucht hatte, muss exorziert werden. Unterschieden werden soll zwischen der Filmarbeit und den Störungen des kreativen Prozesses. Letztere werden zu A pokryphen der Produktionsgeschichte. Die Rezeptionsgeschichte zu Cruising wird vor allem von Fragen nach Repräsentation geprägt.2 Nun eine Produktions- geschichte von Cruising zu skizzieren, will ein solches Anliegen keineswegs durchstreichen, sondern vielmehr den Aspekt der Repräsentation mit der Perspektive auf Filmarbeit verschrän- ken, kreuzen. Für eine Produktionsgeschichte von Cruising, die Proteste wie Zensur miteinbegreift und nicht als bloße Fährnisse behan- Abb. 1 Button gegen die Dreh- delt, findet sich Quellenmaterial, das selbst filmisch ist: zum einen Stop the arbeiten von Cruising Movie (Cruising) (Regie: Jim Hubbard, USA 1979 / 80), Aufnahmen mehrerer Demonstrationen während der Dreharbeiten von Cruising; zum anderen Inte- rior. Leather Bar (Regie: James Franco, Travis Mathews, USA 2012), der dessen zensierte S exszenen thematisiert. Eine Filmproduktionsgeschichtsschreibung zu Cruising muss nicht nur entscheiden, wie das Verhältnis zwischen dem Pro- dukt einer Filmproduktion, also dem Artefakt Film, und dem Herstellungs- prozess zu gewichten ist, sondern steht auch vor der Frage, welche Spezifik andere filmische Materialien haben, die sich auf die Produktion beziehen; das heißt: wie Filmgeschichte als Produktionsgeschichte als Filmgeschichte ge- schrieben werden kann. Unmaking-of Auf der Internetplattform collectibles.bidstart wurde 2014 ein Button mit der Aufschrift «Stop the Movie Cruising» zur Versteigerung angeboten (Abb. 1) und für das Höchstgebot von 12 US-Dollar verkauft.3 Werden Buttons nicht zuletzt als Protestemblem sozialer Bewegungen im 20. Jahrhundert populär, so ist dieser nicht nur winziges Detail der Geschichte der Lesben- und Schwulen- 2 Für eine prominente Kritik der homophoben Repräsentation von bewegung, sondern auch Artefakt der Filmgeschichte. Denn der Anstecker Schwulen in Cruising vgl. Vito Russo: wurde bei den Demonstrationen gegen die Dreharbeiten von Cruising getra- The Celluloid Closet. Homosexuality in the Movies, New York 1981, 236 – 240. gen. Der Filmtitel sticht auf dem Button typografisch hervor, die Blutstropfen, Zur Verteidigung von Cruising gegen in die sich das Wort verflüssigt, lassen an einen Horror- oder Splatterfilm den- den Vorwurf homophober Repräsen­ tation vgl. Robin Wood: The Incoher­ ken; hier ist die Typografie pejorativ gemeint. ent Text. Narrative in the 70s [1980], Cruising fußt auf einem Roman wie auf Zeitungsberichten zu Morden in: ders., Hollywood from Vietnam to Reagan, New York 1986, 46 – 69. in der schwulen Leder- und SM-Szene in den 1970er Jahren. Bereits die 3 Vgl. www.collectibles.bidstart.com, Ankündigung des Filmprojekts wurde umgehend zum Politikum. Der Jour- gesehen am 15.8.2018 [Seite nicht mehr aufrufbar]. nalist und Politaktivist Arthur Bell berichtete in seiner Kolumne im Magazin 4 Vgl. z. B. Arthur Bell: Bell Tells, Village Voice mehrfach von den anstehenden und laufenden Dreharbei- in: The Village Voice, 14.7.1979, 36; ders.: Bell Tells, in: The Village Voice, ten, und er rief zum Widerstand auf.4 Raubkopien von Drehbuchfassungen 30.7.1979, 36. EXTRA 131 DENNIS GÖTTEL Abb. 2 – 3 Screenshots aus: wurden heimlich Aktivist_innen zugespielt. Die auf Diskussionsveranstaltun- Stop the Movie (Cruising), Regie: gen und Flugblättern drastisch artikulierte Kritik galt vor allem dem Fokus Jim Hubbard, USA 1979 / 80 auf die SM-Szene. Das Filmprojekt wurde als homophob angeprangert, weil die thematische Verquickung von als deviant verhandelter Sexpraxis und mörderischer Gewalt insinuiere, dass Schwulsein eine genuin lebensbedrohli- che Lebensform sei. Regisseur Friedkin wurde vorgehalten, gesellschaftliche Strukturen von Homophobie nicht zu reflektieren, sondern vielmehr zu be- feuern; der New Yorker Bürgermeister wurde daher aufgefordert, die Dreh- genehmigung zurückzuziehen. Eine Kritik wiederum am Protest selbst war, dass er auf Zensur hinauslaufe, weil er das Recht auf freie Meinungsäuße- rung und künstlerische Freiheit beschneiden wolle. Innerhalb der schwulen Community gab es Vorbehalte gegen die Protestbewegung, weil sie Sadoma- sochismus und Promiskuität delegitimieren wolle und damit in puritanisti- sches Fahrwasser gerate.5 Bemerkenswert ist, dass sich der Protest 6 eben nicht erst nach dem Kinostart von Cruising formierte. Im Sommer 1979 ist der Film im Stadium seiner Rea- lisierung. Die Kritik entzündete sich nicht am fertigen Film, sondern an seiner 5 Für die Analyse der politischen Positionen der Proteste einerseits Ankündigung, an durchgestochenen Drehbuchfassungen und am Hörensagen. und der Kritik daran andererseits Die Repräsentationskritik ist also noch keine Kritik am Artefakt Film. Ist der vgl. Alexander Wilson: Friedkin’s Cruising, Ghetto Politics, and Gay Topos der Repräsentation grundsätzlich mit den Modi von Sichtbarkeit und Sexuality, in: Social Text, Nr. 4, Unsichtbarmachung verknüpft – ist also maßgeblich auf Visualität gemünzt –, 1981, 98 – 109. Für einen Überblick über die Debatte innerhalb der agierte die Kritik an Cruising anders: Sie konnte sich noch gar nicht an den schwulen S zene, die vor allem in The Bildern des Films selbst beweisen, sondern agierte im Vorfeld des Sichtbarwer- Village Voice geführt wurde, vgl. Jason Bailey: Making Sense of Cruising, dens. Repräsentationskritik als präservative Kritik. in: The Village Voice, 21.3.2018, Die Kritik war eine praktische, und sie fand ihre Form maßgeblich in der online unter: www.villagevoice. com/2018/03/21/making-sense-of- Sabotage. Zum einen wurde versucht, in die Herstellung der Filmbilder zu cruising/, gesehen am 15.8.2018. intervenieren: Kamerakabel wurden in Brand gesetzt; mit Spiegeln auf Häu- 6 Zahlreiche Materialien zu den Protesten gegen Cruising sind serdächern und Balkonen wurden Lichtstrahlen auf das Set gelenkt und so bei ONE. National Gay & Lesbian Ausleuchtung und Aufnahme gestört; Statist_innen wurden behindert, ans Archives in Los Angeles gesammelt und archiviert. Set zu kommen; die Filmcrew wurde mit Steinen, Flaschen, Dosen und Eiern 132 ZfM 20, 1/2019 HISTORIOGRAFIE DER FILMARBEIT beworfen; Fassadenschilder von schwulen und lesbischen Kneipen wurden verhängt, um die Szenerie im Meatpacker District, in dem viele Szenen ge- dreht wurden, zu verunstalten. Wirkmächtiger noch als diese visuellen Ein- griffe erwies sich die Sabotage der Filmakustik: Demonstrant_innen konnten wegen erhöhtem Polizeischutz Drehorte zwar nicht stürmen, erzeugten aber mit Megafonen, Trillerpfeifen, Fahrradhupen, Händeklatschen und skandier- ten Schlachtrufen eine Lärmkulisse, um die Tonaufnahme zu beeinträchtigen. Apartments wurden angemietet, um dort mit aufgedrehten Stereoanlagen die Dreharbeiten in angrenzenden Wohnungen schier zu verunmöglichen. Der präservativen Repräsentationskritik wurde Gehör verschafft.7 Tonlos hingegen ist Jim Hubbards Film Stop the Movie (Cruising), eine zehnminütige Kompilation von Aufnahmen mehrerer Protestmärsche in den Straßen New York Citys: Die Stadt liegt im Dunklen, riesige Leuchtreklame- schilder an Hochhäusern sind zumeist die einzigen Lichtquellen, sie beleuch- ten sommerlich gekleidete Demonstrant_innen (Abb. 2). Nicht nur sind d iese nicht hörbar, überhaupt zeichnet den Film eine Ästhetik des Mangels aus: Stop the Movie (Cruising) hat weder eingeblendete Titel, enthält keine Angabe zum Filmemacher, noch hat der Film irgendeine Exposition. Die Aufnahmen der Proteste machen beinahe den Eindruck ungeschnittenen Rohmaterials, sie sind mal in Schwarz-Weiß, mal in Farbe gedreht. Die Kamera ist durchweg im Getümmel der Menge, sie nimmt – vor allem mit Kameraschwenks – die Perspektive eines Demonstrierenden ein. Der Fokus liegt häufig auf einzelnen Demonstrant_innen. Die Bildpolitik betont das Individuelle ebenso, wie sie es gleichzeitig in der vielgesichtigen Menge verortet. Gilt die Kritik an Cruising dessen Inszenierung sexueller Devianz, ist Stop the Movie (Cruising) eine filmi- sche Erwiderung: Hier wird ein heterogenes, geschlechtlich diverses Kollektiv sichtbar, das sich nicht in dunklen Clubs, sondern auf offener Straße bewegt (das «Stop», das im Filmtitel vorkommt, ist auf einem Protestbutton in der Ikonografie des gleichnamigen Straßenschilds gestaltet). Verzichtet Stop the Movie (Cruising) auf Filmton, ist dieses Fehlen für die Produktionsgeschichte von Cruising signifikant. Tröten, Trillerpfeifen oder Megafone verweisen visuell auf die abwesende Tonspur (Abb. 3), der Lärm auf 7 Zu den Protesten und diversen den Straßen hat sich woanders hin verzogen: nämlich auf die Tonspur des un- Sabotageaktionen vgl. Scott Tucker: weit im Dreh befindlichen Cruising. Tatsächlich ist auf der finalen Tonspur des Sex, Death and Free Speech, in: Edward Jackson, Stan Persky (Hg.): Films auffallend häufig extradiegetische Musik zu hören, womöglich, um die Flaunting It! A Decade of Gay Journalism unerwünschte Geräuschkulisse zu übertönen. Unter diesem Gehörpunkt ereig- from the Body Politic: An Anthology, Vancouver 1982 [1979], 197 – 206; net sich eine Episode der Produktionsgeschichte visuell und akustisch separat: Janet Maslin: Friedkin Defends Visuell in den Bildern eines anderen Films, Stop the Movie (Cruising), akustisch His Cruising, in: The New York Times, 18.9.1979, 12; Edward Guthmann: in der originalen Tonspur von Cruising, die dann wieder getilgt wurde. Der Ton The Cruising Controversy: William von Cruising verdankt sich daher in doppelter Weise einem ‹Akustoklasmus›. Friedkin vs. The Gay Community, in: Cinéaste, Vol. 10, Nr. 3, 1980, 2 – 8; vgl. (Für Stop the Movie (Cruising) wiederum hätte der Ton an anderer Stelle hin- Nathan Lee: Gay Old Time, in: The zugefügt werden sollen: Hubbard plante ursprünglich eine expanded cinema- Village Voice, 28.8.2007, online unter: www.villagevoice.com/2007/08/28/gay- Aktion, bei der während der Filmvorführung an die Kinozuschauer_innen old-time/, gesehen am 15.8.2018. EXTRA 133 DENNIS GÖTTEL Trillerpfeifen verteilt worden wären, um sie die Geräuschkulisse besorgen und nachträglich Teil des protestierenden Kollektivs werden zu lassen – ein akusti- sches Reenactment.) 8 Eine solche bild- wie tonpolitische Auseinandersetzung mit Stop the Movie (Cruising) wird indes durch die schiere Materialität des Films erschwert: Er ist in seiner digitalisierten Fassung von durchgängigem Rauschen gezeichnet. Diese nichtintentionale Dimension ist aus medientechnischer wie -ökonomi- scher Perspektive aufschlussreich: Mit einer Super-8-Kamera gefilmt, besorg- te Hubbard in den 1980er Jahren eine Videoaufnahme des projizierten Films, die er vor einigen Jahren digitalisierte und zunächst als DVD, heute als File vertreibt. In dieser jüngsten Version sind so die Spuren von drei materiellen Trägern aufgeschichtet. Die wenig fachmännischen Kopien sind auch Echo der kargen Produktionsbedingungen der Filmaufnahmen, die deswegen mal in Farbe, mal in Schwarz-Weiß bzw. tonlos sind, weil es Hubbard schlicht an Pro- duktionsmitteln mangelte und er das benutzen musste, was zur Hand war.9 Eine solche Produktions- und Distributionsskizze erzählt im Kleinen eine Mediengeschichte des unabhängigen Kinos. Dessen Kargheit steht in Kont- rast zu den üppigen Ressourcen der Produktion von Cruising. Doch erschöpft 8 Die Informationen hierzu und sich darin nicht die Politik der Ökonomie beider Filmproduktionen. Die ge- über andere Details zum Film sind wieften Sabotageakte – mit dem Ziel, den Produktionsprozess zu verteuern aus einem Interview, das der Autor mit dem Filmemacher Jim Hubbard oder gar sein vorzeitiges Ende zu erzwingen – sind der militanten Praxis des am 25.4.2016 via E­Mail führte. Operaismus nicht unähnlich.10 Die Repräsentationskritik an Cruising fußt zwar 9 Die Ästhetik des Films prägt indes auch ein gewollt un­künst­ nur mittelbar auf einer ökonomischen Kritik (Hollywoods),11 ihre Mittel und lerischer Look eines politischen Verkehrsformen sind aber materialistischer Art insofern, als es um einen tat- Aktivismus, wie er später im Film­ und Videoaktivismus von sächlichen Eingriff in den Produktionsprozess geht. Am nächsten kommen die ACT UP (AIDS­Coalition to Unleash Proteste gegen die Dreharbeiten einer operaistischen Praxis, wo angeheuerte Power) zu sehen ist; einer ihrer Protagonisten war Jim Hubbard. Vgl. Statist_innen und andere Arbeiter_innen am Set Informationen durchstechen Chris Tedjasukmana: Mechanische und Drehbuchf assungen leaken. Vor allem aber deutet sich in den Protesten Verlebendigung. Ästhetische Erfahrung im Kino, Paderborn 2014, 255 f. nichtintentional die Idee gesamtgesellschaftlicher Arbeit an – gleichwohl in 10 Zur Sabotage, die neben negativer Form: Die ‹Ko-Produktion› der Protestierenden ist keine helfende wildem Streik, Arbeitsverweige­ rung, Bummeln oder Krankmachen Hand, sondern ein gestelltes Bein. zur operaistischen Praxis zählt, In einer Produktionsgeschichte von Cruising, die nicht allein dessen inten- vgl. z. B. Mario Tronti: Arbeiter und Kapital, Frankfurt / M. 1974; für eine tionalen Herstellungsprozess in den Blick nimmt, sind die Handgreiflichkeiten operaistische Theorie der Sabotage der Proteste mehr als bloßes Beiwerk. Vielmehr erweist sich die Filmproduk- vgl. Toni Negri: Sabotage, München 1979 [1977]; für eine (theorie­) tion als komplexe und nicht zuletzt kontroverse Anordnung: Zu ihr gehören historische Einordnung vgl. Alberto neben Filmkameras und Statisterie dementsprechend auch Trillerpfeifen Toscano: Chronicles of Insurrection: Tronti, Negri, and the Subject of und Transparente. Cruising ist für eine solche Produktionsgeschichtsschrei- Antagonism, in: Cosmos and History: bung – ganz wie im Titel von Hubbards Film – in Klammern zu setzen: als The Journal of Natural and Social Philo- sophy, Vol. 5, Nr. 1, 2009, 76 – 87. nicht vollends stabilisierbares Artefakt. Dies heißt nicht, den Prozess seiner 11 Tatsächlich beteiligten sich Herstellung – zu dem die Versuche seiner Entstellung gehören – als radikal auch marxistische Gruppen an den Demonstrationen, etwa Vertreter kontingenten zu überzeichnen, wohl aber eine mehr oder minder teleologische der leninistischen Workers World Geschichte zu konterkarieren, in der Störungen bestenfalls als anekdotischer Party, wie auf einigen Fotografien zu sehen ist. Zierrat vorkommen dürfen. 134 ZfM 20, 1/2019 HISTORIOGRAFIE DER FILMARBEIT Filmökonomie Produktionsgeschichte ist ein Randgebiet der Filmwissenschaft, was sich wis- senschaftshistorisch auf den großen Einfluss philologischer Disziplinen auf die Genese des Fachs zurückführen lässt. Wie Patrick Vonderau herausgearbei- tet hat, ist die Forschung auf dem Feld der Filmproduktion eine verstreute, methodisch diverse und nicht zuletzt dem Verdacht der positivistischen Nach- erzählung ausgesetzt.12 Hierbei lassen sich makroökonomische Studien vor allem der Film- und Mediensoziologie, wie sie in den 1970er Jahren Konjunktur hat- ten und im deutschsprachigen Raum etwa mit Dieter Prokop verbunden sind,13 unterscheiden von den in jüngerer Zeit aufstrebenden Production Studies, am prominentesten von John Caldwell vertreten,14 die eine eher mikroökonomische Perspektive einnehmen, in der qualitativ empirische wie ethnografische Metho- den dominieren. Als ein dazwischen vermittelnder Forschungsansatz können die Studien Janet Staigers seit den 1980er Jahren zu Produktionsprozessen wie 12 Vgl. Patrick Vonderau: Theorien Arbeitsverhältnissen in Hollywood gelten.15 zur Produktion: ein Überblick, in: montage AV, Nr. 22, H. 1, 2013, 9 – 32. Für einen mikroökonomischen Ansatz zur Filmproduktion stellt histori- 13 Vgl. Dieter Prokop: Soziologie sches Material eine besondere Herausforderung dar; offensichtlich müssen des Films, Neuwied 1970. 14 Vgl. John Caldwell: Production hier andere Methoden als etwa teilnehmende Beobachtung greifen. Wenn es Culture. Industrial Reflexivity and um Quellen für eine Produktionsgeschichtsschreibung geht, die die Arbeit an Critical Practice in Film and Television, Durham, London 2008. einem bestimmten Film mikrohistorisch untersucht, scheinen jedoch die Pro- 15 Vgl. Janet Staiger: The duction Studies insbesondere gegenüber audiovisuellem Material – vulgo dem Hollywood Mode of Production: its Conditions of Existence, in: David Making-of 16 – sehr zurückhaltend. Schon Staiger leitet ihre Beschreibung von Bordwell, Janet Staiger, Kristin Produktionsmodi in Hollywood mit einer allgemeinen Warnung vor dem Sog Thompson: The Classical Hollywood Ci- nema. Film Style & Mode of Production von Klatsch und Hagiografien über Dreharbeiten ein, seien diese doch zum to 1960, London u. a. 1985, 87 – 95. einen nicht verifizierbar, zum anderen stünden sie im Zeichen der Reklame.17 16 Zu filmwissenschaftlichen Forschungen zum Making­of vgl. Caldwell gereichen Featurette, Making-of und Behind-the-scenes-Dokumen- z. B. Vinzenz Hediger: Spaß an harter tation zu einer ideologiekritischen Analyse hinsichtlich der Selbstdarstellung Arbeit. Der Making­of­Film, in: ders., Patrick Vonderau (Hg.): Demnächst in der Film- und Fernsehwirtschaft, die die realen Produktionsverhältnisse ver- ihrem Kino. Grundlagen der Filmwerbung brämten.18 In diesem Zusammenhang erkennt Vonderau eine Konkurrenz von und Filmvermarktung, Marburg 2005, 332 – 341; Volker Wortmann: special wissenschaftlicher Produktionsforschung und den populären, filmindustriell extended: Das Filmteam als kreativer lancierten Darstellungen von Filmproduktion.19 Kollektiv­Körper im ‹making of...›, in: Hajo Kurzenberger, Hans­Josef Die beiden Making-ofs The History of Cruising und Excorcising Cruising etwa Orteil, Matthias Rebstock (Hg.): sind von ihrem kommerziellen Zweck nicht losgelöst zu betrachten. Dies be- Kollektive in den Künsten, Hildesheim, Zürich, New York 2008, 39 – 60. deutet jedoch keineswegs, dass es sich nicht um genuin historiografische Prak- 17 Vgl. Staiger: The Hollywood tiken handeln würde. Ihre audiovisuelle Geschichtsschreibung zur Produktion Mode of Production, 87. 18 Vgl. Caldwell: Production Culture, folgt konventionell gewordenen Darstellungsmodi im Zuge der Standardisie- 283 – 306. rung des Making-ofs; diese beginnt zwar nicht erst mit den Distributionsfor- 19 Vgl. Vonderau: Theorien zur Produktion, 24. men von DVD und Video, wird da aber medientechnisch und -ökonomisch 20 Zu Darstellungen von Filmar­ forciert. Zuvor schon sind das im Kinobeiprogramm abgespielte Featurette beit im Fernsehen vgl. z. B. Arbeiten zu «Klassenverhältnisse» von Danièle und im Fernsehen gesendete Werkstattberichte zu Dreharbeiten 20 für die Zu- Huillet und Jean-Marie Straub, Regie: nahme filmischer Dokumente filmischer Arbeit verantwortlich. Die offiziellen Harun Farocki, BRD 1983; Alla Ricerca di Tadzio, Regie: Luchino Visconti, Making-ofs wie etwa im Fall von Cruising weisen jenseits von Standardisierung I 1970. EXTRA 135 DENNIS GÖTTEL Abb. 4 – 5 Screenshots aus: ein gravierendes Problem auf: Sie präsentieren allermeist die Erzählung eines Interior. Leather Bar, Regie: fertigen und vollendeten Produkts. In Opposition hierzu steht etwa das film- James Franco, Travis Mathews, USA 2012 historiografische Verfahren Sylvie Lindepergs: 21 Filmproduktion wird dort als Palimpsest gedacht – als ein nicht nur immer wieder neu beschreibbarer (das heißt: interpretierbarer), sondern auch als ein immer wieder erneut überschrie- bener (das heißt: veränderlicher) Text.22 Faking-of Ursprünglich wurde Cruising mit einem X-Rating eingestuft, was mitunter ein stark eingeschränktes Interesse von Kinobetreibern nach sich zieht. M oniert wurden vom Rating Board der Motion Picture Association of America die expliziten sexuellen Handlungen. Friedkin musste den Film daher mehrfach umschneiden und wiederholt probevorführen, um ein R-Rating ausgestellt zu bekommen. 40 Minuten, die wegen der Beanstandung aus Cruising herausge- 21 Vgl. Sylvie Lindeperg: Film schnitten wurden, waren später im Archiv der Produktionsgesellschaft United Production as a Palimpsest, in: Petr Artists nicht mehr auffindbar, um sie für einen Director’s Cut in der DVD- Szczepanik, Patrick Vonderau (Hg.): Behind the Screen: Inside European Edition zu verwenden. Was die Aufnahmen genau enthielten, lässt sich nicht Production Cultures, Basingstoke vollständig rekonstruieren – nicht zuletzt, weil die Szenen in den Lederbars fast 2013, 73 – 87. 22 Lindeperg wiederum hat zu­ durchweg improvisiert waren; Friedkin erinnert sich grob: «40 minutes of what sammen mit Jean­Louis Comolli ihre you would call pornography».23 Auch einige Szenen, die der Kinofassung er- produktions­ und distributionshisto­ rische Forschung zu Nuit et bruillard halten blieben, mussten modifiziert werden: Nackte Clubgänger wurden nach- nicht nur als Buch publiziert, träglich mit Nebel kaschiert oder überblendet.24 War zuvor Originalton wegen sondern auch in einen Essayfilm übertragen: Face aux fantômes, Regie: der Lärmkulisse der Protestierenden überspielt worden, fielen nun einige Film- Jean­Louis Comolli, F 2010. bilder in der Postproduktion Zensur und Tricktechnik zum Opfer. 23 William Friedkin on «Cru­ ising», Franco’s «Interior. Leather. Die ursprünglich vorgesehenen, schließlich entfernten 40 Minuten sind Aus- Bar.» [sic] & Mineshaft footage, gangspunkt von Interior. Leather Bar. Der Film zeigt die Dreharbeiten eines Low- online unter: www.youtube.com/ watch?v=RQ0MGKSd_wA, gesehen Budget-Filmprojekts, das sich an einem Reenactment jener herausgeschnittenen am 15.8.2018. Szenen versucht. Der im Dreh befindliche Film wartet infolgedessen mit ex- 24 Vgl. Friedkin: The Friedkin Connection, 371 ff. pliziten Sexszenen auf: Blowjobs, Spitting, Spanking. Was 1980 auf Geheiß der 136 ZfM 20, 1/2019 HISTORIOGRAFIE DER FILMARBEIT Zensur fehlen musste, wird 2012 ostentativ zur Schau gestellt, und das heißt im Wesentlichen: sichtbar erigierte Penisse (Abb. 4). Mehr Raum indes nehmen die Vorbereitungen der Dreharbeiten ein, weit mehr noch Kontroversen über die Konzeption des Films und dessen politische Implikationen. Doch ist das wesent- liche Charakteristikum von Interior. Leather Bar, dass der Film nur zum Schein als Beiwerk auftritt. Denn es handelt sich bei dem vermeintlichen Making-of um eine Mockumentary: 25 Das Filmprojekt ist frei erfunden. Historisches Faktum von Interior. Leather Bar bleibt das aus Cruising verschwundene Filmmaterial, und um diese notgedrungene Leerstelle herum verhandelt der Film auf zweier- lei Weise Fragen nach Geschichtsschreibung: zum einen ausdrücklich – bezogen auf die Praxis des Reenactments –, zum anderen unausgesprochen, da epitextu- ell – bezogen auf die Gattung der Mockumentary. Das Reenactment in Interior. Leather Bar ist kein dem zeithistorischen D etail der späten 1970er Jahre verpflichtetes Verfahren: Szenerie, Dekor, Kos- tüme folgen keiner historischen Akkuratheit, schon die originalen Drehorte aus Cruising kommen nicht vor (Abb. 5). Der Grund dafür liegt jedoch nicht in mangelnden Informationen über die herausgeschnittenen Szenen. Stattdessen stellt die Vollführung des Reenactments ausdrücklich die historische Differenz 25 Mockumentarys «represent the ‹hostile› appropriation of documen­ zur Schau. In Entsprechung zu einer Definition Maria Muhles geht es dar- tary codes and conventions, and can um, «im immersiven Modus des Reenactments eine Aktualität zu produzieren, be said to bring to fruition the ‹latent reflexivity› which […] is inherent to die sich in einem kritischen Bezug zur wiederholten Vergangenheit verortet mock­documentary’s parody of the und auf die Differenzen oder Singularitäten abzielt, die jede Wiederholung documentary project.» Jane Roscoe: Craig Hight, Faking It. Mock-Documen- notwendigerweise produziert.»26 Immer wieder gerät noch das Reenactment tary and the Subversion of Factuality, selbst, gerät Cruising im Handlungsverlauf in den Hintergrund – erörtert wird Manchester, New York 2001, 160. 26 Maria Muhle: History will re­ der eigene historische Kontext: das Regime der Sichtbarmachung von schwu- peat itself. Für eine (Medien­)Philo­ lem Sex im Jahr 2012. sophie des Reenactment, in: Lorenz Engell, Frank Hartmann, Christiane Die sexpositive-Haltung von Interior. Leather Bar affirmiert die schwule SM- Voss (Hg.): Körper des Denkens. Neue Subkultur der 1970er Jahre als Ausdruck antiheteronormativer Lebenswelt. In Positionen der Medienphilosophie, M ünchen 2013, 113 – 134, hier 131. den diegetischen Diskussionen werden zwei heutige Positionen einander ge- 27 Nostalgisch beschreibt Nathan genübergestellt: zum einen die womöglich nur oberflächliche Akzeptanz mit Lee die Transformation der Schwu­ lenszene in Rückschau auf Cruising: Bezug auf die Darstellung von schwulem Sex ebenso wie das Beharren auf der «Nowadays, when the naughtiest Unterscheidung zur Pornografie; zum anderen ein radical chic, der das schiere thing you can do in a New York gay club is light a cigarette, it’s Zeigen von schwulem Sex als provokantes Politikum inszeniert. Impliziert ist, bracing – and, let’s admit, pretty dass homosexuelles Leben im Westen heute weniger von reaktionärer Diskri- fucking hot – to travel back to a mo­ ment when getting your ass plowed minierung als vielmehr von linksliberaler Nivellierung betroffen sei.27 Deswe- in public was as blasé as ordering a gen wird sexuelle Devianz positiv zu einer «bad queerness» umgewidmet, die Red Bull.» Lee: Gay Old Time. 28 Michael Warners Begriff «bad sich der Vereinnahmung qua Normalisierung zu widersetzen versucht.28 queer» operiert gegen die gesell­ Interior. Leather Bar steht so nicht nur in einem Verhältnis zu Cruising, sein schaftliche Integration Homosexuel­ ler in eine bürgerliche Lebensweise; heimliches Gegenüber ist die Repräsentationskritik der Proteste der 1970er vgl. ders.: The Trouble With Normal: Jahre, wie sie in Stop the Movie (Cruising) dokumentiert sind. Interior. Leather Sex, Politics, and the Ethics of Queer Life, Cambridge 1999, 114. James Franco Bar folgt nicht jener Topologie, die die damaligen Proteste auszeichnete – Ak- studierte in Yale bei Warner, und tionen von der wortwörtlichen Peripherie des Filmsets aus. Im Titel von In- er vertritt dessen Position in den diegetischen Diskussionen in Interior. terior. Leather Bar spricht sich nicht zuletzt die angenommene Unmöglichkeit Leather Bar. EXTRA 137 DENNIS GÖTTEL einer Verortung in einem solchen Außen aus. Doch wird wiederum dem interior design des linksliberalen Konsenses mit der gezickzackten Topologie eines Dark- rooms geantwortet – nicht szenografisch, sondern im Modus der verwinkelten Mockumentary als quasihistoriografischer Praxis. Interior. Leather Bar ist als Mockumentary zunächst ein Spiel mit der Gattung des Making-ofs.29 Dieses wird aber nicht – wie beispielsweise in S ketchen von French & Saunders – grell überzeichnet.30 Das fingierte Making- of macht das Beiwerk zum Werk. Produziert wird nicht ein Produkt jenseits von Interior. L eather Bar, produziert wird Interior. Leather Bar. Darüber hin- aus durchkreuzt die ‹Mockumentarität› die mögliche Naivität historischer Nachstellung oder gar die Folklorisierung der Vergangenheit. Sie hegt den Gestus des Reenactments ein, hintertreibt die Versprechen einer Nachspiel- barkeit der Geschichte, der Wiedergutmachung verlorener Geschichte.31 Die M ockumentary befördert das Potenzial des Reenactments «als Produktion ei- ner künstlerisch-experimentellen Versuchsanordnung [...], in der eine nicht- indexikalisch gebundene Verlebendigung statthatt, die einer antihistorischen Vergegenwärtigung stattgibt»,32 um an Muhles Beschreibung einer kritischen Praxis des Reenactments anzuschließen. Das Reenactment wird eingeklam- mert ausgeführt. Es wird zu einer Spielart queerer Historiografie umgestaltet, wie sie André Wendler konzipiert.33 Die Spezifik der historiografischen Pra- xis von Interior. Leather Bar ist, dass keine historische Erzählung zu Cruising etabliert, sondern die historiografische Praxis selbst diskursiv ausgelotet wird. 29 Im Anschluss an Philipp Blum ließe sich Interior. Leather Bar als Die Produktionsgeschichte von Cruising wird nicht als abgeschlossener und zu queerer Film bezeichnen: «‹Queer› rekonstruierender Gegenstand behandelt (was schon dadurch verunmöglicht ist [...] der Begriff zur Beschreibung eines filmischen Verfahrens, in bzw. ermöglicht ist, dass im Mittelpunkt verschollenes Filmmaterial steht). dem dokumentarisierender und Stattdessen wird an der Produktionsgeschichte weitergeschrieben, zwischen fiktivisierender Modus sowohl der Darstellung als auch der Lektüre Potenzialis und Irrealis filmisch weitergearbeitet. uneindeutig und unentscheidbar in Die Produktion von Interior. Leather Bar selbst erfolgte in einem bestimm- den filmischen Text eingefaltet [...] sind.» Ders.: Experimente zwischen ten kinokulturellen Regime, das auch Distribution und Rezeption betrifft: Es Dokumentar- und Spielfilm. Zu Theorie handelt sich um eine Low-Budget-Produktion, deren professioneller Look und Praxis eines ästhetisch ‹queeren› Filmensembles, Marburg 2017, 255. sich der Erschwinglichkeit digitalen Kameraequipments verdankt; der Cast 30 Vgl. French & Saunders, Specials: besteht aus Hollywoodstars, Pornodarstellern und tatsächlicher Filmcrew The Making of Titanic (BBC 1998); French & Saunders: Comic Relief (Ko-Regisseur, Make-up-Artist, Propdesigner etc.). Dieses Hybrid ist selbst Special – Harry Potter and the Secret Ausdruck queerer historiografischer Praxis, hier im Sinne der Vermischung Chamberpot of Azerbaijan (BBC 2003). 31 Frappant ist, dass in der traditionell getrennter Schauspielkategorien und Funktionsträger_innen. Mit historiografischen Praxis von der Ko-Autorschaft James Francos wird auf den Kunstbetrieb ebenso verwie- Interior. Leather Bar HIV und AIDS anathematisch sind. Ist Cruising in sen wie auf das obere Ende der Hierarchie des amerikanischen Kinos, während der Rückschau Dokument schwulen dessen schmuddlige Peripherie durch die Auswahl des Drehorts repräsentiert Lebens vor dem Aufkommen von AIDS, diskursiviert Interior. Leather Bar ist: kleine und karge Filmstudios in Seitenstraßen Hollywoods, die gewöhn- dies in keiner Weise. lich für Pornofilmproduktionen genutzt werden. Diese Hybridisierung findet 32 Muhle: History will repeat itself, 131. ihre Entsprechung in der Eigenwerbung des Films als art porn; seine Finan- 33 Vgl. André Wendler: Ana- zierung erfolgte maßgeblich durch eine Galerie, die Uraufführung fand als chronismen: Historiografie und Kino, Paderborn 2015, 294 – 302. Installation in einem Showroom der New Yorker Fashion Week 2012 statt, 138 ZfM 20, 1/2019 HISTORIOGRAFIE DER FILMARBEIT die weitere Distribution war, mit Sundance und Berlinale, der Festivalbetrieb. Treibt Interior. Leather Bar als historiografische Praxis ein verrätseltes Spiel, spricht sich sein filmökonomisches Register unverblümt aus, wo ein Aufkleber auf der DVD-Hülle das «Queer Cinema» als Marktsegment reklamiert (Abb. 6). So wie akademischen historio grafischen Verfahren der ideologische Staatsapparat Universität irreduzibel ist, sind auch die Produk- tionsbedingungen der repräsentationskritischen Geschichtspra- xis von Interior. Leather Bar nicht äußerlich; sie ko-figurieren Ästhetik und Narration. Anders gesagt: Die Herstellung und der Vertrieb des Films profitierte von derjenigen linksliberalen H egemonie, die er kritisiert. Filmgeschichte cruisen Der jüngeren geschichtswissenschaftlichen Methode der Histoire croisée geht es nicht um die Wiederherstellung einer verschütteten Wirklich- Abb. 6 DV D-Hülle von keit, nicht um die bloße Wiedergabe eines schlicht gegebenen Ereignisses,34 Interior. Leather Bar sondern vielmehr um dessen Verflechtung mit anderen, vermeintlich separaten Ereignissen. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf den «intercrossings»35 selbst, die in Reflexion des eigenen historiografischen Verfahrens nicht als factum brutum gelten, sondern mittels historischer Erzählung erst generiert werden. Die Histoire croisée steht so in der Tradition historismuskritischer Ansätze wie etwa dem Hayden Whites. Besonders betont wird die Dynamik einer Orien- tierung auf Prozessualität und Multiplizität von Geschichtlichkeit,36 die sich gegen die Stillstellung der Gegenstände durch die historiografische Praxis wen- det: «[T]he entities, persons, practices, or objects that are intertwined with, or affected by, the crossing process, do not necessarily remain intact and identical in form»,37 auch wenn sie weiterhin (in modifizierter Form) identifizierbar blei- ben sollen. Doch ist die Diskretheit historischer Gegenstände nicht mehr ohne Weiteres gewährleistet. Filmproduktionshistoriografie könnte bedeuten, eine lineare und zielgerich- tete Entwicklung, Vorbereitung und Durchführung eines Filmprojekts nach- zuzeichnen. Zentral bliebe darin der Fokus auf ein bestehendes Werk, dessen Hervorbringung, womöglich hagiografisch, rekonstruiert würde. Mit der pro- duktionshistorischen Skizze zu Cruising ist ein alternatives Verfahren angezeigt, das auf eine epistemologische Verschiebung der Perspektive auf Film als Ge- 34 Vgl. Michael Werner, Bénédicte genstand deutet. Mit dem Fokus auf Produktion kann Filmgeschichte anders Zimmermann: Beyond Comparison: Historie Croisée and the Challenge dargestellt werden; Produktionshistoriografie eröffnet die Möglichkeit, um mit of Reflexivity, in: History and Theory, Vonderau zu sprechen, Film als «‹work in progress› zu verstehen» und «die Idee Vol. 45, Nr. 1, 2006, 30 – 50, hier 32. 35 Ebd., 38. eines autoritativen Originals» zu verwerfen.38 Dass die Geschichte zu C ruising 36 Vgl. ebd., 46. von Störungen und Eingriffen, von Zensur und Zerstörung erzählt, zeigt die 37 Ebd., 38. 38 Vonderau: Theorien zur Pro­ Arbitrarität des Herstellungsprozesses markant auf, ist aber nur offensichtliches duktion, 22. EXTRA 139 DENNIS GÖTTEL Indiz der strukturell unvermeidlichen Ergebnisoffenheit der Filmarbeit. Der Film hat keine letztgültig stabilisierbare Form. Zugespitzt heißt das auch, dass der ‹eigentliche› Film nicht länger als finales Erzeugnis einer Produktionsket- te klassifizierbar ist, ja vielleicht gerät er fast ganz aus den Augen. Denn Film ist lediglich ein Artefakt seiner eigenen Produktionsgeschichte. Mit der Histo- ire croisée gedacht, wird die Idee der Linearität einer Produktionskette ersetzt durch den Prozess der Verknüpfung einzelner Fäden (in der Textilherstellung meint Croisé eine Kreuzbindetechnik). Angesichts einer solchen Dezentrali- sierung und Enthierarchisierung teilt Cruising mit einem auf Demonstrationen gegen die Dreharbeiten getragenen Button die Eigenschaft eines Artefakts der selben Produktionsgeschichte; wenngleich er ein komplexeres ist als ein mit Nadel auf Bluse angestecktes Blechteil. Zu einer solchen Filmproduktionsgeschichte können auch andere filmische Artefakte gehören. Weit mehr noch als bei einem Button stellt sich mit Stop the Movie (Cruising) oder Interior. Leather Bar die Frage nach der Grenze des Produktionsprozesses, werden beide Filme doch eben nicht mit den Produkti- onsmitteln von Cruising hergestellt. Die hier skizzierte historiografische Praxis wiederholt und verfestigt daher nicht die privatwirtschaftliche Einhegung ei- nes kommerziellen Films, sie öffnet sich (zumindest im Rahmen bestehender Produktionsverhältnisse) der Idee gesamtgesellschaftlicher Arbeit. Die Produk- tionsgeschichte von Cruising findet mit beiden Filmen nicht nur ein periphe- res Dokument bzw. eine queere Historiografie vor; Stop the Movie (Cruising) und Interior. Leather Bar fügen Cruising etwas hinzu, tilgen etwas anderes. In den Verhältnissen, die die beiden Filme zu Cruising unterhalten, spiegeln sich die Formen einer hier vorgeschlagenen Produktionsgeschichtsschreibung: Die Fertigung wird vereitelt, oder es wird weitergearbeitet. Handelt sich eine Produktionsgeschichte von Cruising noch die Produkti- onsgeschichten anderer Filme ein, liegt eine ökonomische Perspektive auf Stop the Movie (Cruising) und Interior. Leather Bar mit deren repräsentationskriti- schen Praktiken nicht über Kreuz; impliziert ist aber ein Registerwechsel weg von einer kulturalistischen Lesart. Die Methode der Histoire croisée befürwor- tet nicht nur «[t]he crossing of scales»,39 sondern auch «[t]he intercrossing of points of view»,40 was eine distinkte sozial-, kultur- oder wirtschaftsgeschicht- liche Perspektive negiert. Ja, die Histoire croisée ist nur zu bewerkstelligen, indem solche Ansätze gekreuzt werden. Die Wahl besteht daher nicht zwischen Repräsentationskritik oder politischer Ökonomie, wie man auch im Anschluss an Caldwell sagen kann, der mit einer filmwissenschaftlichen Wende zur Pro- duktionsforschung keinem methodischen Ausschluss von etwa Textanalyse oder 39 Werner, Zimmermann: Beyond Ästhetik das Wort redet.41 Comparison, 42. In einer solchen Vervielfältigung der Produktionen gerät Cruising nicht 40 Ebd., 40. 41 Vgl. John Caldwell: Zehn nur zu einem indiskreten Gegenstand – der Begriff der Produktion ist darü- Thesen zur Produktionsforschung, ber hinaus durch den der Arbeit einzutauschen, um die Idee eines abschließend in: montage AV, Nr. 22, H. 1, 2013, 33 – 47, hier 34 f. produzierten Gebrauchswerts zu hintertreiben, um den hergestellten Film 140 ZfM 20, 1/2019 HISTORIOGRAFIE DER FILMARBEIT durchzu-x-en. Für die Methode der Histoire croisée heißt es: «[E]ntities and objects of research are not merely considered in relation to one another but also through one another, in terms of relationships, interactions, and circula- tion».42 Und dieses Unternehmen überschneidet sich mit dem Cruisen, dem Herumschlendern, Durchstreifen und Mäandern, das im Unterholz die Pfade ertrampelt; kein absichtsloses Flanieren, aber auch kein zielstrebiges Gehen, der Reproduktion entbunden, des Ertrags unsicher, unsafe. Dieser Wollust steht allerdings eine andere Figuration entgegen: Die Be- schreibung und Analyse eines nie endenden Herstellungsprozesses meint auch die forcierte Ästhetisierung der Arbeit. Eine Produktionsgeschichte im Zeichen der Histoire croisée kann sich dem nicht entziehen. Filmindustriell findet das seine Form im Making-of, das noch den Arbeitsprozess kommodifiziert und die 42 Werner, Zimmermann: Beyond filmischen Produktionsmittel abermals verwertet. Comparison, 38. — EXTRA 141 D R E H L I R O B N I K REINES WARTEN UND IM KINO BLEIBEN — Maintenances von Momenten von Demokratie Es geht hier um proto-politische Einsätze der Reinheit des Kinos. Vermutlich liegt uns heute das Gegenteil näher: Die Rede von der Unreinheit des Kinos hat die gegenwärtige Ambivalenz-Orthodoxie auf ihrer Seite und kann sich etwa 1 Oder auf Alexander Kluge: Der auf André Bazin berufen.1 Sein Votum für ein unreines Kino betrifft das Ver- nannte seine Filme «antiprofessiona­ listisch, mit aller Imperfektion: hältnis von Film zu anderen Künsten, und da votiert Bazin gegen eine strik- ‹cinéma impur›.» Ders.: Gelegenheits- te Trennung von Literatur und Film und für filmische Literatur-Adaptionen.2 arbeit einer Sklavin / Zur realistischen Methode, Frankfurt / M. 1975, 220. Verwickelter liegt der Fall bei einem zweiten Pariser A. B., der sich zu unreinem 2 Vgl. André Bazin: Für ein Kino äußert: Alain Badiou postuliert in seinen Kino-Schriften zum einen eine un reines Kino. Plädoyer für die Lite­ raturverfilmung [1952], in: ders.: regelrechte Reinigung filmischer Genres auf deren «Ideen» hin – auf Idealtypen Was ist Film?, Berlin 2004, 110 – 138. einer jeweiligen Film-Form jenseits der Konventionalität von Repräsentatio- 3 Wobei Badious Beispiele vor allem Hypertrophien sind, etwa nen.3 Zum anderen scheint Badiou dem Film eine Art Ausnahmeposition zuzu- solche des Tons bei Godard, des gestehen – im Rahmen seiner Ästhetik, die generell auf Kunst als ein Ensem- sexualisierten Körpers bei Antonioni, der «calligraphy of general explo­ ble von Praktiken der Treue zur Reinheit universeller Ideen abzielt: Film, so sion» im Spezialeffekt­Actionkino räumt er ein, bringe es fertig, vom Unreinen zum Reinen zu gelangen – von der eines John Woo. Vgl. Alain Badiou: Philosophy and cinema, in: ders.: Wahrnehmung schnöder materieller Alltagswirklichkeit zu Universal-Wahr- Infinite Thought. Truth and the Return to heiten (kategorisch: der Universalität von Gleichheit, die Badiou etwa anhand Philosophy, London, New York 2003, 83 – 94, hier 85 f. von Chaplins Tramp-Figur in ihrer «generischen Humanität» wahrgenommen 4 Zur Position der Demokratie­ sieht). Und der ansonsten so unerbittliche Hüter der Treue zum Bruch mit aller Verachtung vgl. Alain Badiou: The Democratic Emblem, in: Giorgio Unreinheit der kapitalisierten Welt, mit ihren kulturellen Materien wie auch Agamben, Alain Badiou, Daniel mit ihren Formen von Demokratie, ist in diesem Punkt, angestoßen vom Film Bensaïd u. a.: Democracy: In What State?, New York 2011, 6 – 15. Zur (und auch nur implizit), offenbar bereit, auch jenem politisch Unreinen, das Position der Teil­Rehabilitierung Demokratie heißt, ein Quantum egalitaristischer Wahrheitsfähigkeit zuzuer- von Demokratie vgl. ders.: Cinema as a Democratic Emblem, in: ders.: kennen. (Das zeigt sich daran, dass der Ausdruck democratic emblem bei Badiou Cinema, Cambridge 2013, 233 – 241. im Allgemeinen negativ, nachgerade abjekt besetzt ist – Demokratie als Inbe- Siehe auch Drehli Robnik: Nonstop Nonsolution. Chaplins Slapstick als griff imperialer Staatsherrschaft über Versammlungen von Quasi-Subjekten im Denkbild von (Nicht)Philosophien Zeichen generalisierter Austauschbarkeit –, im Speziellen aber positiv gefasst politischer Macht bei Kracauer, Zizek, Badiou und Rancière, in: Ivo ist, zumal in der Nähe einer Bezeugung universalistisch-egalitaristischer Ideen, Ritzer (Hg.): Classical Hollywood und wenn ihn das Kino – exemplarisch: Chaplins Slapstick – in seiner Funktion als kontinentale Philosophie, Wiesbaden 2015, 133 – 156. demokratisches Emblem interessiert.4) 142 ZfM 20, 1/2019 Zwei A.B.s, wohl auch Abbés: Beide sind befasst mit Fragen des Glaubens. Screenshot aus: Deadpool, Beide argumentieren im Namen der Kunst und meinen mit cinéma das Kino Regie: Tim Miller, USA 2016 vom Film her gesehen, auf Film als projizierten Werk-Streifen fokussiert. Was das Kino in diesem Verständnis betrifft, ist von den beiden A.B.s heute eher Bazin tonangebend: Weniger der Bezug zum Sinn von Ideen steht auf der Tageso rdnung als vielmehr die Strahlkraft alter Mythen und Rituale im Um- gang mit der Endlichkeit; also die Bazin’schen Motive der Mumie, des Films respektive des Kinos als Einbalsamierung des Lebens und, etwas weiter ge- fasst, der Kultivierung dessen, was als Vergängliches geliebt wird. In diesem Punkt (mehr als in Sachen realistische Film-Inszenierung als Alltagswirklich- keitserschließung) trifft Bazins Nachhall heute einen Nerv der Kunst, denn seit circa 20 Jahren lebt die Kunst gut vom erklärten Tod des Kinos: Es zählt zu den Vorlieben des Kunstbetriebs, das Kino zu beerdigen, seine Hinfällig- keit zu deklarieren und zugleich diverse Memorabilia zu vergegenwärtigen. Fürs Heute festgehalten wird nicht ein (wie auch immer anzutretendes) Erbe an Sinn, sondern ein Bestand an Vorlieben, die einbalsamiert sein wollen. Ein gutes Beispiel ist die Ausstellung Was vom Kino übrig blieb des Künstlerhauses Graz im Frühjahr 2018: Was bleibt, ist, was beliebt. Sprich: Der Rückstand, das Hinterlassene des Kinos, besteht dieser Ausstellung zufolge aus allerlei Kuriosa und Kramuri 5 – etwas Technik und viel Verehrungskultur in Form von Kunstpraktiken, die ihrerseits die Künste der Fans emulieren, nämlich aus Bildern von Lieblingen (Stars, favorite movie monsters etc.) Altäre dessen zu er- richten, was als Übriggebliebenes gilt. Was hat das mit der Reinheit des Kinos zu tun? Dieser Gestus ist, bei allem Hang zur Musealisierung von Materie, einer des Wegputzens: nicht nur des Abstaubens (wodurch Kunst ihre routinemäßige Fähigkeit im Ausnutzen kultu- reller Erinnerungen und sozialer Situationen erweist – und, zum Wert an sich erhoben, hinausposaunt), sondern auch einer Säuberung. Symbolisch beseitigt 5 Umgangssprachlich für werden damit die – je nach lokaler Dimension – Tausenden oder Millionen Krempel. EXTRA 143 DREHLI ROBNIK Leute, die nach wie vor in Kinos gehen: Sie werden implizit für inexistent er- klärt bzw. für ahnungslos gegenüber der Tatsache, dass ihre gelegentliche Frei- zeitbeschäftigung nicht mehr in der Welt ist; die Kunst weiß es, aber e inige hören noch nicht auf sie. Die Nachricht vom Tod des Kinos ist bei d enen, die immer noch drin hocken, nicht angekommen, obwohl es schon so lange Post-Cinema heißt. Schon klar: Post-Cinema meint ein Danach, wie denn auch anders heute? Es impliziert aber auch, dass jedes Ding, das mit e inem Post versehen ist, umso weniger loszuwerden ist. Das ist normal. Eine Form, eben- dieses Nichtloszuwerdende zu bekräftigen, ist ein Komplementärdiskurs zu den Begräbnisritualen des Kunstbetriebs: In seiner Besprechung der Grazer Ausstellung vermerkt denn auch Christian Höller – halb dialektisch, halb vita- listisch –, dass Trauer und Melancholie unangebracht seien, weil die Kunst in beeindruckender Weise Totgesagtes neu beleben könne: gerade die Praktiken der A ppropriation und Umarbeitung, die Was vom Kino übrig blieb zeige, be- zeugten ästhetische Lebendigkeit.6 Mit der Kinophilosophin Heide Schlüpmann, die in ihrem Schreiben vom Kino und dessen Raum als Form »öffentlicher Intimität« ausgeht, ließe sich die Reinheit des Kinos (samt ihren immanenten Momenten von Unreinheit) noch einmal anders ins Auge fassen – und zwar abseits von Kunst und ihren Wert- (distinktions-)regimes wie auch von Konzepten kreativistischer Verlebendigung; also mehr in Richtung anonymer, untätiger Versammlungen, Raumnutzungen und Zeit-Teilungen. Und auch allfällige Treue zu Ideen und allfällige Cinephilie wären mit Schlüpmann anders zu fassen. Erstens ist Kino für sie wesentlich ein Abbruch eines Aufstiegs zu den Ideen; dies im Sinn einer Wendung des philosophi- schen Exodus aus der Platon’schen Kino-Höhle (wie sie der Apparatus-Theorie einst als Denkbild diente) zurück zu diesem zurückgelassenen, degradierten Raum selbst,7 aber auch im Sinn dessen, dass es da einen Zug gibt in Richtung 6 Vgl. Christian Höller: Kino im von Gehalten, die einmal in Obhut der Philosophie waren und nun der Wahr- Präteritum? Rückblicke auf eine vorwärtsgewandte Kunstform, in: Nehmung der Zerstreuten, Gestreuten, im Kino zufallen – etwa Selbstwahr- kolik.film 29, 2018, 114 – 116. nehmung als Masse-Sein, als nichts Besonderes, mithin eine A hnung einer Idee 7 «Wiederholt» die «Filmaufnah­ me» einen «Abstraktionsprozess im von Egalität und deren Wahrheit.8 Abbruch eines Zugs zur Ideen-Wahrheit Aufstieg des Theoretikers zu den heißt nicht, dass es keine Wahrheiten gibt oder dass Ideen irrelevant wären. Ideen», so ist die erkenntnisfähige Wahrnehmung, die sich im Kino bil­ Schlüpmanns Abbruch des Zugs zur Idee wäre da, mit Siegfried Kracauer, zu ver- det, «der Abbruch dieser Bewegung, stehen als eine Haltung des Anhaltens und Wartens – bei den vorletzten, nicht nicht der Durchgang zu den Ideen.» Heide Schlüpmann: Öffentliche Intimi- den letzten, Dingen – gespannt auf das hin, was da noch kommt.9 Zweitens gibt tät. Die Theorie im Kino, Frankfurt / M., Schlüpmann zu bedenken, dass Kino – bei aller Liebe quasi – kein gutes Objekterl Basel 2002, 90, 157. 8 Vgl. Heide Schlüpmann: ist, nichts Putziges (Herausgeputztes). Zum einen, weil Kino «im Kern […] auch Ungeheure Einbildungskraft. Die dunkle etwas Nichtzuliebendes ist»: etwa «Verlorenheit im dunklen Raum, Einsamkeit Moralität des Kinos, Frankfurt / M., Basel 2007. in der Masse».10 Zum anderen legt Schlüpmann Wert darauf, Kino eben als 9 Vgl. Siegfried Kracauer: History. Wirklichkeit eines Alltagsraums, zugleich eines Nicht-Orts anonymer Massen The Last Things Before the Last, New York 1969, insbes. das Schlusskapitel (und der technischen Einfassung ihrer wiewohl nicht auf Technik reduzierbaren «The Anteroom». Wünsche) zu verstehen, mit einem Akzent auf der Wirklichkeit dieses Orts in 10 Schlüpmann: Öffentliche Intimität, 158 f. den 1910er und 1920er Jahren. Sie will Kino nicht gleichsam reterritorialisiert 144 ZfM 20, 1/2019 REINES WARTEN UND IM KINO BLEIBEN sehen in der pittoresken Vagabondage von Wanderkino und Zirkus, auch nicht in der Spektakel-Archäologie, die selbstbezügliche Wunderkammern zum ori- ginären Ort des Kinos erklärt; beides sind Topoi im «Kino der Attraktionen»- Diskurs, der nach wie vor einen Claim auf eine Inkarnation dessen, was Kino genuin ist, mithin auf dessen Reinheit, anmeldet.11 In diesem Claim, Kino sei eine Roadshow der Attraktionen, klingt die Eventisierung qua Festivalbetrieb ebenso mit wie ein Gourmet-Diskurs – auch mit Echos des von Roland Barthes gefeier- ten Geschmacks am Körnigen 12 –, der in Kunstinstallationen Schmalfilmprojek- toren rattern und in Liebhaber-Kinos Elitenpublika schnattern lässt – darüber, dass du dir diesen oder jenen Film ja echt nur auf Zelluloid anschauen kannst, als ginge es um Craftbeer versus Industriebräu. Ich schlage vor, die Reinheit des Kinos kurz nicht im Zeichen dessen, was vom Kino übrig blieb, auftauchen zu lassen, sondern in dem, was im Kino üblich blieb oder wohl erst in letzter Zeit üblich wurde. «Im Kino» heißt vor allem in Multiplexen; diese nicht als Environments oder Synästhesie-Tempel mit Burger-Bespielung verstanden, sondern als Orte, wo viele Leute im Kino zu- sammenkommen, zumal immer wieder auch recht verschiedene Leute (und recht verschiedene Filme übrigens auch). Es geht mir um ein Übliches danach, auch ein übliches Danach.13 In Kinos, in die viele Leute gehen (obwohl es tot ist und sie nicht zählen), ist es heute vielfach üblich zu bleiben, nämlich nach Filmende den Abspann auszusitzen. Das ist eine recht verlässliche Konventi- on. Leute fortgeschrittenen Alters, die nicht zum Kernpublikum von Univer- 11 Der Fokus auf Attraktion sen bildenden Marvel-Superheld_innen-Comic-Verfilmungen zählen, kennen habe, so Schlüpmann, den «Blick das von alten Zucker-Abrahams-Zucker-Komödien oder nicht ganz so alten für das Abstoßende des Frühen Kinos verstellt.» Dies.: Öffentliche Will- Ferrell-Komödien 14 oder von x anderen Beispielen nachklassischer Film- Intimität, 159. erfahrung: Credit Cookies, in den Abspann integrierte Easter Eggs, Szenen 12 Vgl. Roland Barthes: Beim Verlassen des Kinos, in: ders.: nach dem Abrollen der letzten Copyrights, die – in verschiedenen Anredewei- Das Rauschen der Sprache, Frank­ sen – ein Bleiben, Dranbleiben nahelegen. Der paradigmatische Ort, an dem furt / M. 2006, 376 – 380. 13 Auch nach den Struktur­ das Bleiben danach heute üblich ist, sind aber eben Filme wie z. B. Doctor S trange, Bereinigungen in Form digitaler und bei dem ich 2016 im Wiener Apollo-IMAX-Saal bis zum Ende der Projekt ion gastronomischer Umrüstungen, die nach 2010 nochmal einige ausgeharrt habe (neben vielen Eingeweihteren), weil der Platzanweiser am Ruinen von Nahversorgungskinos Ausgang mir auf die Frage: «Kommt noch was?», geantwortet hat (und zwar in Städten und Landgemeinden zurückgelassen haben. fast verächtlich ob meiner Unkenntnis): «Bei Marvel – immer!» Ein Platzan- 14 Als Ferrell noch gut und noch weiser als Weiser: a strange doctor, indeed.15 Aber auch abgesehen von solchen nicht der neue Carrell war. 15 Genau damit beginnt jene Art Momenten der Umverteilung von Expertise: Bei diesem Danach-Bleiben im von Post­Cinema, das in der filmi­ Kino zählt – anders als wenn wir daheim oder unterwegs DVDs oder Files zum schen Reflexion auf die Kino­Raum­ und Projektions­Erfahrung besteht, Ende forwarden / scrollen – etwas, worauf der Titelheld von Deadpool 2016 in nämlich mit der Kino­Reinigung seinem Credit-Cookie-Bademantel-Auftritt (nebst Verweis auf den Cast des als Auftakt von Buster Keatons Sherlock Jr.: Wir sehen den Detektiv Sequels und das Ausbleiben von Sam Jackson darin) anspielt: «And don’t leave mit der Lupe, der sich als zum Saal­ your garbage all lying around – it’s a total dick move!» Wer zu den Credits im Aufkehren vergatterter Projektionist erweist («Before you clean up any Kino bleibt, tut das üblicherweise bei halb aufgedrehtem Licht und zusammen mysteries – clean up this theater!»), mit dem Wartungspersonal, das den Saal zu reinigen beginnt – zurückhaltend, bzw. sehen wir den Mann vom Wartungspersonal als ein Subjekt aber gegen die Uhr. Was bleibt, ist auch Müll. Der Filmkritiker David Auer detektivischen Wissens. EXTRA 145 DREHLI ROBNIK hat mir von seinem Job im Saalpersonal des Wiener Gasometer Megaplex um 2015 erzählt, dass er und seine Kolleg_innen im Dienst ebendies gehasst haben (ironischerweise, weil er einige Marvel-Filme schätzt): dass diese Filme (von denen jeden Monat gefühlt zwei – faktisch drei – anlaufen) in meist großen Sälen typischerweise sehr gut und von sehr hungrigem Publikum besucht sind (säckeweise Leerbehälter und Nachoreste auf und unter den Sitzen, total dick move!) und dass durch massenweises Bleiben der Leute zu den Credit Cookies kaum Zeit blieb, um im ganzen Saal die Reinheit des Kinos wiederherzustellen; zeitgerecht nämlich zum Start der nächsten Vorführung (der sich bei Digital- projektionen enger timen lässt). Natürlich gibt es ein Bleiben zu den Credits auch im Filmmuseum oder im Festivalbetrieb. Aber da bleiben wir, zumal im Dunkeln, deshalb, weil der protosakrale Ritus gegenüber dem Werk es verlangt oder weil wir Filmemacher_innen applaudieren wollen, die gleich nach dem Abspann zum Publikumsgespräch in den Saal kommen. Während wir in eben- diesen Hoch- und Eventkultur-Situationen in einem Danach bleiben, das unter dem Transzendenzregime der – fast immer maskulinen – Meisterschaft steht (die Präsenz der Macher_innen, und sei es als Aura zum Aussitzen), wird bei Marvel-Blockbustern (und Ähnlichem) die Filmerfahrung im Kino auf einen anonymen Kontakt mit Putzkräften hin überschritten. Ganz am Ende unseres Wartens, wenn Deadpool seinen letzten Witz gerissen hat, steht, werkt, das Wartungspersonal; vielmehr, wir warten mit ihnen, die ihrerseits warten, bis wir endlich gehen. Warthaus statt Arthaus. 16 In ein paar Jahren – oder wann immer die Superheld_innen­ In meinem essayistischen Wunsch, aus dem Bleiben und Warten etwas zu Franchise­Kino­Dynamiken abklin­ machen, was es aber ohnehin schon ist (und gar so viel ist es ja nicht), hebe ich gen (kann das jemals sein?) – ist es vielleicht nicht mehr üblich. dieses heute 16 übliche Zusammen-Sein im Raum, dieses Teilen von Zeit her- 17 Und: Das Warten ist nicht auf vor. Schon klar: Sehr viel an Erfahrung wird da nicht geteilt mit dem Personal; die Ware reduzierbar, lässt sich nicht abtun mit dem kulturindustrie­ aber das ist ja kaum je so, wenn die ‹Freizeit› der einen mit der Dienstleis- kritischen Pauschalhinweis darauf, tungsarbeitszeit der anderen zusammenkommt – in der einen Zeit, die alle spal- dass nun explizit am Abspann­Ende formuliert ist, was jeder Film implizit tet und gerade darin versammelt.17 Aber im Unterschied zu Alltagssituationen schon seit jeher war – Reklame für mit Servier- oder Supermarktpersonal behält das Mit-Sein mit »der Reinigung«, den nächsten Film. 18 «[H]umanity would be mit der Wartung, im Kino, bei aller Üblichkeit, etwas von einem deformativen irretrievably bogged down if it were und (sanft) intrusiven Charakter: ein Restgefühl von Deplatziertheit und Ana- unsustained by the ideas mankind breeds in desperate attempts to chronismus, von Bleiben, obwohl der Zeitplan sagt, dass die Zeit dafür um ist, improve its lot.» Siegfried Kracauer: und von Warten auf etwas, das nicht ganz im gefügten Ablauf liegt. Pathetisch Paisan [Typoskript, 1948], in: ders.: American Writings. Essays on Film and gesagt: Begegnen der Maintenance ist Maintenance des Begegnens. Sprich: Popular Culture, hg. v. Johannes von Das Bleiben zum Warten im Kino ist zwar vielleicht nicht ganz ein Alltags- Moltke, Kristy Rawson, Berkeley, Los Angeles, London 2012, 150 – 156, Enactment des Kracauer’schen Anhalts im Vorraum der Ideen (ohne die es auf hier 156. Weiterführend siehe: Erden keine Humanität gäbe 18), aber es ist ein Platzhalter – eine Platzanweise- Drehli Robnik: Burning through the causes: Kracauers Politik­Theorie rin, eine Maintenance – für eine Idee in deren Abwesenheit, in Zeiten, in d enen der Paradoxie und maintenance (im egalitäre ideengetriebene politische Projekte als lost causes oder als «reine» Zeichen von Faschismus 2, Blair Witch 3 und Mad Max 4), in: Bernhard (bloße) Projektionen um uns sind und umso mehr der Wahrnehmung bedür- Groß, Vrääth Öhner, ders. (Hg.): Film fen. (Badiou hat also durchaus nicht Unrecht, wenn er auf egalitär-universelle und Gesellschaft denken mit Siegfried Kracauer, Wien, Berlin 2018, 47 – 61. Wahrheiten und Ideen pocht; nur diese als gegeben anzunehmen, nämlich kraft 146 ZfM 20, 1/2019 REINES WARTEN UND IM KINO BLEIBEN heroischer Treue zu ihnen, und jene abzukanzeln, die von dieser Pflicht abfal- len, halte ich für falsch.) Freilich aber: Wäre egalitäre Demokratie ausschließ- lich im Kommen bzw. deren Idee ganz und einzig lost cause, dann wäre das wohl 19 Ersteres meint Jacques auch zu «rein», zu «geistig»: Das abwesende Projekt bedarf einer Vertretung Rancières Position in Die Geschicht­ lichkeit des Films, in: Drehli Robnik, (und sei sie Verdrehung) in der Erfahrung. Dass das Anpeilen von Politik- Thomas Hübel, Siegfried Mattl Projekten mit Putzen zu tun hat, in dieser Vermutung bekräftigt mich ein signi- (Hg.): Das Streit-Bild. Film, Geschichte und Politik bei Jacques Rancière, Wien, fikanter Schreibfehler seitens der Kulturverwaltung des (2018 noch) rot-grünen Berlin 2010, 213 – 232; Zweiteres Wien: Auf mein Ansuchen um Druckkostenzuschuss für das Filmtheorie-Buch- meint Jean­Luc Nancy: singulär plural sein, Berlin, Zürich 2004. projekt Film Puts the X in PolitiX wurde mir amtlich meine Einreichung für das 20 Außer in einem Comedysketch, Projekt Film Putz the PolitiX bestätigt. den ich circa 1975 im österreichi­ schen Staatsfernsehen gesehen Die Maintenance als Wahr(nehm)ung von egalitären causes: Das wäre einer habe: Eine Reinigungsfrau, die ein der Momente, in denen am Kino-Raum, der zur Öffentlichkeit ausgebaute Zeit ganzes Büro abstauben soll, auch den als neuestes Wunderwerk ist, seine Rückbindung an eine demokratische Geschichtlichkeit lesbar bleibt. gepriesenen und – so war es üb­ Dieses Demokratische muss nicht gleich in der Versinnlichung / Ästhetisie- lich – abgehackt sprechenden Com­ puter, fragt diesen, ob er wirklich rung aller gemeinschaftlichen Formen bestehen; Gesellschaft als Gemeinsam- alles könne, wie es heißt, und als der Erscheinen-im-Sein mit anderen tut’s auch 19 – zumal in Zeiten nationalautori- Computer bejaht, schmeißt sie ihm das Staubtuch hin mit den Worten: tärer Karriere-Kanzler, die staatliche Maintenance auf rassistisches Schließen «Dann staub di söwah ab.» der Grenzen von Reichtumsräumen reduzieren. Sein mit anderen: Ich meine 21 Dass die in Kinos zerstreuten Massen «der Wahrheit nahe sind», das nicht als ein Einander-um-den-Hals-Fallen, nicht als Bündnis, Volksfront, nämlich der Wahrheit der «Unord- Aufgehen in einem geteilten Stoff oder Ähnlichem. Es ist im Kino anonym, nung der Gesellschaft» und eines ausstehenden «Umschlags», besagt ein Zusammen-Sein als Getrennte. Es muss sich nicht gleich zur Inter-Intimi- der Schlusssatz von Kracauers Kult tät erheben wie im Cinephilie-Denkbild-haften Schwebe-Sex von Reinigungs- der Zerstreuung. Über die Berliner Lichtspielhäuser [FZ 4.3.1926], in: frau und kolonial verfemtem Alien im nostalgischen, herrschaftskritischen ders.: Das Ornament der Masse, Frank­ Monster-Movie The Shape of Water (2017), wo der Kino-Raum in osmotischem furt / M. 1963, 311 – 317, hier 317. – Meine Formulierung: Kontakt mit ozeanischen Sphären steht. Es muss kein Zusammen-Sein mit «So fern sie auch sein mag», spielt Monstern und Gespenstern sein (aber es kann); und es ist gut, wenn es ohne Ak- auf die Aura­Definition Walter Benjamins («einmalige Erschei­ tivierungsvorgaben auskommt: Im Kino bleibt mehr an Untätigkeit üblich als nung einer Ferne, so nah sie sein bei anderen der Kultur zugerechneten Gelegenheiten – ganz zu schweigen mag») in einer Studie an, in der er den Zentralbegriff aus Kracauers vom Vergleich mit solchen Medienpraktiken, durch die sich das Bedienen Zerstreuungs­Essays aufgreift: ders.: von Bürot astaturen über die Rest-Lebenszeit ausbreitet. Im Kino muss nicht «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit», Klasse repräsentiert werden wie im Theater, nicht Sexiness, Fitness oder Kauf- in: ders.: Illuminationen. Ausgewählte kraft bezeugt werden wie in Discos, auf Sportstätten oder in Gastronomien, Schriften 1, Frankfurt / M. 1977, 136 – 169, hier 142. wo wir als Aktivierte, nicht Wartende, mit anderen sind. Anders als beim Fern- 22 Verdeckt wie in der «Do They sehserienkonsum wiederum holen wir im Kino nicht unsere Lieblinge zu uns, Know It’s Christmas?»­Gesangs­ szene im Foyer eines Multiplex mit und anders als beim PC – beim Dirty Computer (Janelle Monáe) – ist das Kino Stromausfall in dem unsäglichen nicht intim mit uns, sondern rein.20 In demokratischer Hinsicht ist es schon Weihnachtsfilm Daddy’s Home 2 (2017): Will Ferrells Schlüsselmo­ eine Wahrnehmung – eine Nähe zur Wahrheit, so fern sie auch sein mag 21 –, nolog («Think about it: We come to wenn im Multiplex ein wenig Verschiedenheit bleibt, auch in Klassen-Hinsicht, the movies all the time … We laugh together, cry together, but we never und nicht notwendigerweise ganz «rein», aber auch nicht ganz von Hegemo- look at each other, do we?») bekräf­ nie und H omogenität verdeckt.22 tigt darin noch die hier ohnehin durchgängige ideologische Univer­ Zusatzbemerkung: Etwas von dem hier anvisierten demokratischen Po- salisierung von weißem upper middle tenzial ist wahrgenommen durch das unprätentiöse Wiener Open-Air-Wan- class­Habitus als hegemonialer (Konsum­)Verhaltensnorm – noch derkino VOLXkino, das seit 1990 in Sommermonaten bei freiem Eintritt vor dazu im Kino … EXTRA 147 DREHLI ROBNIK allem marginale urbane Orte bespielt – Plätze in Arbeiter_innengegenden, Vorstadtparks, Gemeindebauten.23 Sehr verschiedene Filme, sehr verschiedene Leute. Eine Form der Maintenance desegregierter Urbanität, die kreischen- de Hirschstettener Sozialwohnungskids, vapende mittelständische Studis und l achende Fünfhausener Omis mit und ohne Schleier zum Filmschauen mitein- ander, nebeneinander bringt. Das demokratische (mehr als nur sozialsentimen- tale) Moment am VOLXkino ist chiffriert in dem Volk, das großgeschrieben, aber in allfälliger populistischer Anmutung suspendiert ist durch das X imVolk als Unbekannte und Platzhalterin von Masse als Dividualität im Zusatz. Kino ist Wartung geteilter Zeit, die spaltet. Das gilt auch für das Freiluftkino: wo man sich trifft – aufgeteilt. Etwas in dieser Art beschreibt Kracauer 1930 in e inem Reisebericht, der auch Verdrehungen der Cinephilie ins Spiel bringt: «Ich liebe leidenschaftlich das Kino […]. Daß auch diese Liebe nicht schran- kenlos ist, habe ich erst in St. Malo erfahren.» Dort sieht Kracauer nämlich (natürlich noch «stumm») auf drei nebeneinander aufgespannten Freiluft- Leinwänden gleichzeitig eine Slapstick-Komödie, einen Krimi und dazwischen einen Liebesfilm: «Während ich in der Mitte weinen müßte, […] hätte ich, streng genommen, links mit den andren zu lachen und rechts den Atem er- 23 Vgl. volxkino.at, gesehen am regt anzuhalten. Ich zerspalte mich zuletzt in drei Zuschauer, die nichts mehr 16.7.2018. 24 Siegfried Kracauer: Aufenthalt miteinander gemein haben. Die verlassene Geliebte schlägt Purzelbäume, und in der Bretagne [FZ 17.9.1930], der Held geradeaus wird zum Mörder. Die drei Zuschauer überwerfen sich auf in: ders.: Werke 5.3, Berlin 2011, 319 – 327, hier 323 ff. dem Heimweg und wollen nicht länger zusammenbleiben.»24 — 148 ZfM 20, 1/2019 — DEBATTEN Methoden der Medienwissenschaft — Fakultät für Architektur, Middle East Technical University Ankara, Çinici Architects Methodenfragen sind in den letzten Jahren immer wieder in unterschiedlichen Kontexten des Fachs aufgetaucht – sowohl als von Institutionen und Drittmittelge­ bern formulierter Anspruch der Explikation methodischer Grundlagen als auch im Kontext der fachinternen Auseinandersetzung mit digitalen Verfahren. Der Beitrag von Christoph Engemann, Till A. Heilmann und Florian Sprenger, der diese Debat­ te eröffnet, bestimmt den gegenwärtigen Ort der Herausforderungen einerseits in der wissenschaftspolitischen Situation und forschungsstrategischen Stellung des Fachs, andererseits in der Transformation medienwissenschaftlicher Gegenstände angesichts digitaler Kulturen. Er ruft dazu auf, statt einer Inventarisierung medien­ wissenschaftlicher Methoden die Voraussetzungen der Methodenfrage und die Ant­ worten, die das Fach liefern kann, ebenso zu debattieren wie dessen gegenwärtige Forschungs­ und Finanzierungspolitik. — 150 ZfM 20, 1/2019 — WEGE UND ZIELE Die unstete Methodik der Medienwissenschaft von CHRISTOPH ENGEMANN, TILL A. HEILMANN und FLORIAN SPRENGER Bei der Lektüre von Studienplänen, Modul- Frage widmet und sich einen Überblick über handbüchern oder Seminarankündigungen von gebräuchliche oder randständige medienwissen- Einführungsveranstaltungen der Medienwis- schaftliche Verfahrensweisen verschafft, sollte senschaft gewinnt man den Eindruck, das Fach man einen Schritt zurücktreten und einerseits das verfüge über eine stabile curriculare Grundlage. Feld wissenschaftspolitischer Akteure und Strö- Die meisten Studiengänge enthalten ein Modul, mungen analysieren, in dem die Medienwissen- das neben anderem Handwerkszeug «Metho- schaft bestimmte Rollen spielt (oder spielen soll), den der Medienwissenschaft» vermitteln soll. andererseits gilt es, die fachinternen Dynamiken Entweder besteht also Einigkeit darüber, dass es in den Blick zu nehmen, die für eine enorme ein lehrbares Fundament medienwissenschaftli- affektive Aufladung des vermeintlich so neutralen cher Methoden gibt und folglich eine definierte Gegenstands ‹Methoden› gesorgt haben. Menge genuiner Verfahren unserer Disziplin; Die institutionell noch immer junge Medien- oder die fortgesetzte Evaluation und Akkreditie- wissenschaft hat Forderungen nach methodischer rung der Studiengänge erzwingen eine curricula- Festlegung lange und aus guten, weil für die re Identität und Konformität des Fachs, weshalb Fachgeschichte konstitutiven Gründen wider- Methoden als integraler Teil des Studiums sprochen. Mittlerweile wird diese Haltung, wie erwartet werden.1 wir im Folgenden erläutern wollen, zu einer Anders stellt sich die Sache dar, wenn man immer drängenderen fachpolitischen Heraus- sich mit Kolleg_innen unterhält oder Gesprä- forderung. Die fachinterne Skepsis gegenüber chen auf dem Flur oder am Rande von Tagungen methodischer Selbstbeschränkung ist einerseits lauscht. Auch dann scheint man darin überein- mit von außen an das Fach herangetragenen zustimmen, dass sich die Frage nach Methoden Erwartungen an wissenschaftliche Strenge, stellt – doch über das Wann, Wie und Warum methodische Validität und Genauigkeit konfron- herrscht weitgehend Uneinigkeit. Konsens tiert. Andererseits machen die aktuellen sozialen besteht allenfalls darüber, dass es aufgrund der und kulturellen Veränderungen durch Digital- verschiedenartigen Gegenstände und Interes- technik und die Wandlung charakteristischer sen im Fach fraglich bleibt, ob eine allgemein Gegenstände des Fachs eine Neubewertung und verbindliche methodische Grundlage für ‹die etwaige Neuausrichtung bisheriger medienwis- Medienwissenschaft› möglich oder überhaupt senschaftlicher Verfahrensweisen nötig. Auch wünschenswert ist.2 Doch bevor man sich dieser ist in manchen Bereichen eine ‹Digitalisierung› DEBATTEN 151 CHRISTOPH ENGEMANN / TILL A. HEILMANN / FLORIAN SPRENGER der Methoden selbst zu beobachten, was in der Anwendung) annimmt, sie historisch situiert und deutschsprachigen Medienwissenschaft bis- wissenschaftspolitisch sowie epistemologisch lang vergleichsweise wenig diskutiert wurde.3 kontextualisiert. Dann werden die Zwänge und Diese Veränderungen berühren die Medienwis- Evidenzen offensichtlich, die, wie wir glauben, senschaft in besonderer Weise, weil ihre Genese eine Methodendebatte in der Medienwissen- vielgestaltig und ihre Geltungsansprüche wei- schaft fruchtbar machen könnten – eine Debatte, terhin (und aus guten Gründen) breit sind, aber zu der wir mit diesem Beitrag aufrufen möchten. auch weil digitale Kulturen nicht bloß potenzielle Verfahrensweisen des Fachs betreffen, sondern Methoden und Wissenschaft(-lichkeit) selbst ihr Gegenstand sind. Um dem zu begeg- Dem klassischen Verständnis gemäß ist die Frage nen, wollen wir in Ansätzen den historischen wie nach Methoden systematischer Bestandteil der epistemologischen Ort der Frage nach Metho- Entstehung und Ausdifferenzierung wissenschaft- den – als externer Anspruch wie als interne Aus- licher Disziplinen. Wie Pierre Bourdieu unter- differenzierung – aufzeigen, auf die Genese des strichen hat, sind Methoden eine «Sammlung Fachs beziehen und die wissenschaftspolitischen von technischen Rezepten und Verfahrensregeln, Kontexte zur Debatte stellen – eine Debatte, an die sich jeder halten muss, nicht um das Ob- in welche die Medienwissenschaft derzeit ohne- jekt zu erkennen, sondern um als Kenner des hin verwickelt ist, wie eine ganze Reihe von Objekts (an)erkannt zu werden».5 Die Herausbil- Tagungen und Veranstaltungen unter anderem dung disziplinärer Traditionen geschieht zumeist von Arbeitsgruppen und Foren der Gesellschaft über die Verhandlung der richtigen Methoden, für Medienwissenschaft zeigt. nicht der Begriffe und Theorien. Wie Remigius Wohl in kaum einer Geistes- oder Kultur- Bunia in einer verwandten Debatte in den Litera- wissenschaft herrschen derzeit methodologische turwissenschaften gezeigt hat, wird eine Diszi- Einheit und Einigkeit. Weil die Explikation plin nicht nur über ihren Gegenstand definiert, von Methoden und deren fachöffentliche Legi- sondern auch über die Art, auf die sie nach dem timation jedoch wesentliche Kriterien der Gegenstand fragt. «Anhand der Fragen, die eine Wissenschaftlichkeit sind, werden sie bei der Disziplin beantworten kann, lässt sich am ehes- Begutachtung von Forschungsanträgen schnell ten begreifen, worüber die Disziplin Auskunft zum Problem.4 Es gibt gute Gründe, der diskur- erteilen kann, wo sie ihre Methoden geschärft siven Fixierung auf Methoden ebenso skeptisch und ihre Theorien entwickelt hat.»6 Der Begriff gegenüberzustehen wie der Politik von Dritt- Methode geht auf μετá (metá) und ὁδóς (hodós mittelgebern und einem etwaigen erkenntnisthe- für Weg) zurück. Seine Etymologie verweist auf oretischen Monismus das Feyerabend’sche Motto das Aufzeigen eines Weges, den auch andere «Wider den Methodenzwang!» entgegenzuhal- beschreiten können. Noch vor allen Schulstrei- ten. Insbesondere empirische Methoden stehen tigkeiten kann man eine Methodendebatte des- demnach für ein positivistisches, bürokratisches halb als Auseinandersetzung über die einer Diszi- Wissenschaftsverständnis, das die Ergebnisse plin eigenen Wege zum Wissen begreifen – und von Forschungsprojekten aufgrund der gefor- auch darüber, welche Wege in der fraglichen derten methodischen Anlage bereits von Beginn Disziplin als nicht gangbar eingeschätzt werden. an festzuschreiben droht. Doch diese Skepsis In seinem Discours de la méthode von 1637 gewinnt erst dann an Schärfe, wenn man die beschreibt René Descartes den Rationalismus Frage nach Methoden (sowohl ihre Aushandlung bzw. das rationale Denken als Methode des Er- als auch den Imperativ ihrer Darlegung und kenntnisgewinns. Eine Methode ist für Descartes 152 ZfM 20, 1/2019 WEGE UND ZIELE eine Verfahrensweise, die prinzipiell jeder einer solchen Auffassung fallen Methode, Em- Mensch verstehen, anwenden und w iederholen pirie und Wissenschaft in eins. Und deshalb ist kann. Die Verwendung nachv ollziehbarer der Ruf nach Methoden nicht selten auch ein Ruf Methoden hängt für Descartes eng mit dem nach Empirie, eine Aufforderung, die fragliche politischen Projekt der Aufklärung zusammen Disziplin auf das Erkenntnisschema der Natur- und steht im Herzen der Akademie, die diese wissenschaften umzustellen.7 a llgemeine V erfügbarkeit von Erkenntnis Noch aber ist die Spannbreite zwischen durch den Unterricht wissenschaftlicher Metho- Positionen der disziplinären Gegenstands- und den sichern soll. Methoden schaffen demnach Methodenspezifizität und universalistischen Wiederholb arkeit und sind folglich nicht nur Methodenmodellen, wie demjenigen des in den für den Weg zur Erkenntnis, sondern auch in Naturwissenschaften geltenden Empirismus, der Lehre zentral. groß. Zumindest in den Geisteswissenschaften Als besonders wirkmächtige Verfahren hat sich die Partikularität des Vorgehens dem der Erkenntnisgewinnung haben sich spätes- ideal-rationalistischen Bild von Methoden, wie tens seit Mitte des 20. Jahrhunderts auch in den es sich bei Descartes findet und in der scientific Sozial- und Geisteswissenschaften empirische method der Naturwissenschaften kulminiert, Methoden – und insbesondere quantitative vielfach entzogen. Hans Blumenberg hat in empirische Methoden – erwiesen. In manchen diesem Zusammenhang die Sonderstellung der Wissenschaften sind die Ausdrücke «Methode» Philosophie betont: und «Empirie» nahezu gleichbedeutend. Dies gilt selbstredend für alle Disziplinen, die sich Alle Methodik will unreflektierte Wiederholbarkeit schaffen, ein wachsendes Fundament von Voraus- eindeutig als Erfahrungswissenschaft definieren, setzungen, das zwar immer mit im Spiel ist, aber berührt aber auch Grenzbereiche in den Geis- nicht immer aktualisiert werden muss. Aus dieser teswissenschaften. Im englischen Sprachgebrauch Antinomie zwischen Philosophie und Wissenschaft tritt die Verbindung von Methode und Empirie ist nicht herauszukommen: das Erkenntnisideal der deutlicher hervor: Dort wird im wissenschaft- Philosophie widersetzt sich der Methodisierung, die Wissenschaft als der unendliche Anspruch eines lichen Kontext zumeist von ‹der› scientific method endlichen Wissens erzwingt sie.8 gesprochen, nicht von Methoden im Plural. Gemeint ist damit ausschließlich empirisch ge- Mit Blick auf die Geisteswissenschaften insge- wonnene Erkenntnis aus kontrollierten Beo- samt plädiert Bunia dafür, Methoden weniger bachtungen der Welt und aus Experimenten. als fächerübergreifende Verfahren zur Überprü- Das Attribut scientific markiert, dass es sich fung von Forschungsergebnissen zu verstehen, hierbei eben um sciences, d. h. um ‹harte› Wis- sondern als das jeweilige disziplinäre Handwerk senschaften bzw. um das Erkenntnismodell der im breiteren Sinne. Dass Gegenstände der Naturwissenschaften, handelt, wie es auch in Medienwissenschaft auch von anderen Fächern den Sozialwissenschaften oder social sciences zur bearbeitet werden, stellt in dieser Perspektive so Anwendung kommt – also gerade nicht um ein lange kein Problem dar, wie die Medienwissen- Bücher- bzw. ‹Buchstabenwissen›, ein étude des schaft ihre fachspezifische Art und Weise, Fragen lettres wie etwa in den Sprach- und Literatur- zu stellen und nach Antworten darauf zu suchen, wissenschaften, der Philosophie und der Theo- expliziert und darin von den anderen Disziplinen logie, von denen sich Descartes im ersten Teil anerkannt wird. seines Discours abwendet, um sich stattdessen Die Methodenwahl ist fraglos keine macht- dem ‹großen Buch der Welt› zu widmen. In freie Angelegenheit: Es führen in der Regel DEBATTEN 153 CHRISTOPH ENGEMANN / TILL A. HEILMANN / FLORIAN SPRENGER mehrere Wege zum Ziel und die Wahl eines Denn die durch Methoden versprochene wissen- bestimmten Weges ist immer auch eine diszipli- schaftliche ‹Sicherheit› ist selbst durchaus nicht näre wie eine disziplinierende Entscheidung, die immer gesichert (wie in der jüngeren Vergangen- gerade im universalistischen Anspruch Partiku- heit etwa die Replikationskrise in der Psychologie laritäten überspringt.9 Entsprechend lohnt es zeigt), wissenschaftspolitisch aber von strukturel- sich, über den Zusammenhang der Entstehung ler Bedeutung. europäischer Universitäten und wissenschaftli- cher Methoden erneut nachzudenken. Während Erste Herausforderung: institutioneller Descartes dem Ideal der Eindeutigkeit wissen- E xplikationsdruck schaftlicher Wahrheiten folgt, ist dieses Vertrau- Aus anderen Fächern, vor allem aber von Wis- en in den Geisteswissenschaften spätestens seit senschaftsorganisationen und den für sie tätigen Beginn des 20. Jahrhunderts verschwunden und Gutachter_innen wird seit geraumer Zeit ein vielfach von einer Kritik der mit dem genann- Explikationsdruck auf die Medienwissenschaft ten Empirismus einhergehenden Normativität ausgeübt. So sprechen ihr Vertreter_innen aus ersetzt worden. Zumal für interpretierende Wis- Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der senschaften kann Wiederholbarkeit kein Kriteri- Germanistik, der Komparatistik oder der Sozio- um sein, weil jede Interpretation situiert und logie genuine Methoden gelegentlich schlicht vom eigenen Standpunkt abhängig ist. Doch wie ab oder sehen ihre eigenen Methodenstandards steht es um die Nachvollziehbarkeit? durch medienwissenschaftliche Aneignungen Die Funktion von Methoden besteht, gene- verletzt. Die Medienwissenschaft ist hingegen rell gesprochen, in der Aufrechterhaltung der durch eine Ausdifferenzierung und Auskoppe- S pannung zwischen Vorhersagbarkeit und Offen- lung aus diesen und anderen Disziplinen entstan- heit sowie in der Herstellung interdisziplinärer den. Sie zeichnete sich in ihrer Gründungsphase Anschlussfähigkeit. ‹Transparente› Methoden gerade auch dadurch aus, benachbarte Fächer versprechen Sicherheit und dienen der Selbstver- mit der Frage nach den ihnen zugrundeliegenden gewisserung über das eigene Vorgehen. In diesem Medien zu konfrontieren und sie so gleichsam Sinne tragen sie zur disziplinären Kohärenz bei. auf ihre eigenen Voraussetzungen stoßen zu Entsprechend hat Donna J. Haraway ein Begeh- lassen.11 Gleichermaßen hat die Abgrenzung von ren nach Methoden konstatiert, aber auch eine der eher quantitativ orientierten Publizistik bzw. Furcht vor deren homogenisierender Wirkung: Kommunikationswissenschaft für die Entstehung «The step from methods to metaphysics is an easy und das Selbstverständnis des Fachs eine große one.»10 Es scheint uns in der momentanen Lage Rolle gespielt. Dies führte zu einer Abwehrhal- unseres Faches wichtig, den historischen Ort tung gegenüber der empirischen Erforschung des Begehrens nach Methoden wie der Skepsis medialer Kontexte bei gleichzeitiger Hinterfra- ihnen gegenüber zu befragen und diese Spannung gung der medialen Grundlagen und normativen zwischen Universalismus und Partikularismus Effekte eben solcher Methoden.12 aufrechtzuerhalten. Die beiden Herausforderun- Besonders stark wird der Explikationsdruck gen der Drittmittelpolitik und der Bedingungen vonseiten der großen Drittmittelgeber wie der digitaler Kulturen in den Blick zu nehmen, führt DFG und, vermittelt darüber, von Hochschul- zwar von einer Methodendebatte im Sinne einer leitungen spürbar. Der gestellte Anspruch an Inventarisierung gewünschter Verfahren weg, Methodensicherheit hat selbst eine wissenschafts- könnte sich aber als Schlüssel zum Verständnis politische Komponente und impliziert einen der gegenwärtigen Herausforderungen erweisen. bestimmten Stand der Institutionalisierung des 154 ZfM 20, 1/2019 WEGE UND ZIELE Fachs, um es in die Schemata der Forschungs- von Grund- auf Drittmittelfinanzierung und der förderungsinstrumente einzuordnen. Damit ist seither eskalierenden ‹Verwettbewerblichung› eine Normalisierung verbunden, in der Ansätze der Wissenschaft ist auch die Medienwissenschaft rasch marginalisiert werden, die dem von außen mit einem zunehmend komplexeren Institutio- in das Fach hineinprojizierten Methodenkonsens nengefüge konfrontiert. Dies zeitigt mindestens nicht entsprechen.13 Methoden sind ein Mittel drei Dynamiken, die für ein sich aus (ehemals) der Disziplinierung. Wer die Methodenfrage wissenschaftsdissidenten und emanzipatorischen stellt, nimmt eine zweifache forschungsstrate- Positionen speisendes Fach problematisch sind: gische Verortung vor: Den Institutionen, Gut- erstens eine Verdolmetschung eben jener dissi- achter_ innen und benachbarten Fächern denten Epistemologien in institutionell akzeptab- signalisiert man die Normalisierung der For- le Formate, zweitens eine permanente und in die schungstätigkeit und die eigene Förderungs- Forschungs- und Reflexionspraktiken einsickern- würdigkeit; innerhalb des Fach signalisiert man de Antizipation institutioneller Erwartungen und Kohärenz und Konsistenz, was je nach Perspek- drittens, aufseiten eben dieser Institutionsgefüge, tive als Dominanz, Marginalisierung oder die Verfertigung einer raschen und für das Begut- Fort entwicklung interpretiert werden kann. achtungsgeschäft viablen Kommunikation. Der eigentümliche Reiz von Forschungsanträ- Wissenschaftskommunikation vollzieht sich gen von der Promotionsstelle bis zum Sonder- jedoch als Kritikkommunikation, als das In- forschungsbereich speist sich aber nicht zuletzt frag estellen von Annahmen und Schlussfolge- aus der Spannung zwischen der Vorhersehbar- rungen. Dabei werden Methoden leicht zum keit und der Offenheit von Resultaten. Anträge kleinsten gemeinsamen Nenner, versprechen sollen prospektiv in Aussicht stellen, was sich erst sie doch transdisziplinäre Kritikfähigkeit. Das retrospektiv in vollem Umfang zu erkennen gibt. Resultat entspricht dabei oft dem, was Peter Beides wird gemeinhin durch Methoden bzw. Galison Wissenschaftspidgin 15 genannt hat: eine deren Explikation zugunsten intersubjektiver provisorische Sprache, die von der Komplexi- Nachvollziehbarkeit reguliert. Ein wesentliches tät der Gegenstände zugunsten vermeintlicher Problem gutachterlicher Tätigkeit besteht eben Objektivität abstrahiert – mit dem Unterschied, darin, dass sich wissenschaftliche Standards «nur dass es hier nicht um die Etablierung von Prak- sinnvoll auf Methoden, nicht aber auf Theorien tiken zur Beforschung eines gemeinsamen epis- und Resultate anwenden»14 lassen. Daher sind temischen Objekts, sondern um die Verhandlung es gerade die Methodenteile bzw. Arbeitsprogram- von finanziellen Mitteln für die institutionelle me von Forschungsanträgen, die hauptsächlich Selbstbehauptung geht. zur Beurteilung der Durchführbarkeit der Vorha- Entsprechend herrschen im Wissenschafts- ben herangezogen werden. betrieb enormer Originalitätsdruck und Inno- Dennoch, oder gerade deshalb, ist die spä- vationszwang, was mitunter zur Flucht in eine testens in dieser Dekade beobachtbare gut- gewisse ‹Protestmethodik› führt. Gerade das achterliche Notlage anzuerkennen: Von fachex- Unterlaufen von Methoden gilt dann als originell ternen Kolleg_innen werden die epistemischen und birgt im günstigen Fall Chancen des ‹Tricks- Grundlagen des Fachs häufig als vage oder gar tertums›, der Ironisierung und der Äs thetisierung. unbekannt wahrgenommen, weshalb in Anträgen In dieser Konstellation mag es zudem plausibel der Materialkorpus und die Methoden beson- scheinen, die kulturtechnischen Grundlagen des derer Prüfung unterzogen werden. Mit der etwa wissenschaftlichen A rbeitens – also das Recher- zur Jahrtausendwende einsetzenden Umstellung chieren, Lesen, Schreiben und Denken – als DEBATTEN 155 CHRISTOPH ENGEMANN / TILL A. HEILMANN / FLORIAN SPRENGER Methoden auszu weisen und die Frage danach entsprechend gefordert, das Internet nicht nur ganz kategorisch zu beantworten: Medienwissen- als Gegenstand zu erforschen, sondern mit dem schaft sei immer schon methodisch reflektiert, Internet den durch es veränderten Gegenstand weil sie in der für sie typischen Beobachtungshal- ‹Kultur› auf eine neuartige Weise zu analysieren, tung zweiter Ordnung die medialen Bedingungen «die dem Medium folgt, die dessen Dynamiken der Wissensproduktion selbst in den Blick nimmt. erfasst und fundierte Aussagen über den kulturel- Die genannten Grundlagen wie auch die Metho- len und gesellschaftlichen Wandel trifft».18 Nach den im engeren Sinne sind derzeit jedoch von der Rogers bewirkt die online groundedness digitaler zunehmenden Digitalisierung der Technik und Methoden eine diskursive Verschiebung weg von damit einhergehenden diskursiven Verschiebun- ontologischen Fragen der Medienspezifität hin gen betroffen. zur epistemologischen Auseinandersetzung mit Verfahren der automatisierten und quantitativen Zweite Herausforderung: ‹Digitalisierung›, Datenerhebung bzw. -auswertung. digitale Methoden und Digital Humanities Ohne dabei den Ausdruck «digitale Metho- Die Medienwissenschaft sieht sich aktuell nicht den» zu verwenden, hat Chris Anderson in einem nur einer rasch fortschreitenden Digitalisie- vielgelesenen Artikel bereits 2008 behauptet, rung ihrer Quellen, Gegenstände und Formate digitale Datenverarbeitung bedeute das «Ende gegenüber, sondern auch einer grundsätzlichen von Theorie», weil mit Big Data bedeutsame Neubestimmung von Verfahrensweisen im Korrelationen und Muster allein aus dem mas- Bereich digitaler Medien.16 Mit der anstehenden siven Zuwachs an Daten und deren statistischer drittmittelalimentierten Auseinandersetzung über Analyse hervorgingen, ohne dass dafür noch oder Forschungsdaten sowie deren mediale Trans- zuerst Theoriebildung nötig sei, um forschungs- formationen wird das hergebrachte Methoden- leitende Hypothesen zu formulieren.19 An die verständnis auf vielen Gebieten herausgefordert. Stelle von Hypothesenbildung und Überprüfung Digitale Kulturen können etablierte Forschungs- trete rein quantitatives data mining. Modelle prozesse grundlegend verändern und werfen und Theorien, mit denen sich Wissen ordnen damit unweigerlich auch methodische Fragen lasse, seien nicht mehr nötig. auf, indem sie das Verhältnis von Forschungsinst- Dieses Dogma der Quantifizierbarkeit hat rument und Forschungsgegenstand neu gestal- Alexander Galloway als Ausdruck eines neoli- ten. Die Digital Humanities, die sich im Sinne beralen, positivistischen Wissenschaftsverständ- einer Antwort auf diese Veränderungen nicht nur nisses gedeutet, das Wissenschaft primär von als Bündel neuartiger computergestützter Me- den Methoden her definiert und dabei deren thoden, sondern als umfassende Reorientierung Effizienz für Problemlösungen betont.20 Frag- des geisteswissenschaftlichen Forschungsfeldes würdig ist dies Galloway zufolge schon des- verstehen, machen – bei aller berechtigten Kritik halb, weil die ökonomische Wertschöpfung in an einem gelegentlich beobachtbaren medienver- digitalen Kulturen auf nichts anderem beruht gessenen Positivismus – die anstehenden Heraus- als der Anwendung quantitativer Methoden der forderungen deutlich.17 Das Wissen über digitale Datensammlung und -analyse. Im Unterschied Kulturen wird in vielen Fällen mit Mitteln und zur akademischen Wissenschaft verfügen die Methoden generiert, welche solche Kulturen Big Five Amazon, Apple, Facebook, Google und selbst zur Verfügung stellen. Diese Doppelung Microsoft jedoch über die Ressourcen, diese von Methode und Gegenstand ist medienwis- Methoden voll auszuschöpfen (und haben, wie senschaftlich zu bedenken. Richard Rogers hat im Fall von Microsoft, folgerichtig ihre eigenen 156 ZfM 20, 1/2019 WEGE UND ZIELE sozialwissenschaftlichen Forschungseinrich- Zugriffsweisen, aber auch die Perspektive auf tungen geschaffen 21). Wenn also in den Digital die wirtschaftlichen und politischen Motive der Humanities und im Datenkapitalismus Spielarten Akteur_innen, ihren rechtlichen Status sowie ihre der quantitativen Ausübung von Wissenschaft historischen Verortungen und Existenzbedingun- selbst mit kapitalistischer Wertschöpfung iden- gen müssten Teil einer kritischen Methodende- tisch sind, dann entpuppt sich Wissensarbeit als batte sein. Dabei wird die Medienwissenschaft immer schon wertschöpfungsbezogen. Die Frage mit dem epistemischen Dilemma einer technik- nach den Methoden erhält so eine selten bedach- bezogenen und -affinen Erforschung der Kultur te politische und ökonomische Dimension: «Is bei gleichzeitiger Skepsis gegenüber digitalen it appropriate to deploy positivistic techniques Methoden und technischer Automatisierung von against those self-same positivistic techniques?»22 Analyse- und Interpretationsverfahren konfron- Die von den Digital Humanities beförderte tiert werden, das durch die genannten politischen Methodendebatte sei im Kern keine Auseinan- und ökonomischen Kontexte der technischen dersetzung um unterschiedliche Methoden, son- Entwicklungen noch verschärft wird. dern eine Entscheidung über die kybernetische Wissensordnung digitaler Technologien – und, Methoden und Medien(-wissenschaft) so könnte man ergänzen, auch über die Gestalt Zur weiteren Erläuterung der Schwierigkeit, den der Universität. Ansprüchen an eine Bestimmung von ‹Methoden Wenn, wie Galloway darlegt, die Datenprak- der Medienwissenschaft› nachzukommen, mag es tiken digitaler Ökonomien selbst mit der ver- helfen, sich noch einmal die fachgeschichtlichen wendeten methodischen Auswertung von Daten und intellektuellen Sensibilitäten und Intuitionen übereinstimmen,23 dann stellt sich die Frage des Faches zu vergegenwärtigen. Den Impuls, in nach Methoden noch einmal neu als Frage nach den Geistes- und Kulturwissenschaften bis dahin Macht- und Wissensinstrumenten – was, so un- unsichtbar gebliebene formative Dynamiken sere Hoffnung, zu einer kritischen Verlagerung von Kultur in eine analytische Sichtbarkeit und der Methodendebatte führen könnte. Galloways Reflektierbarkeit zu überführen, gaben nicht Ausführungen legen nahe, nicht nur nach dem etwa methodische Erwägungen oder Herausfor- Unterschied zwischen den Big Five und den Digi- derungen, sondern vor allem theoriebezogene tal Humanities zu fragen, sondern auszuleuchten, Frage- und Problemstellungen. Der Begriff, auf inwieweit letztere auch an einer Neuaushand- den man sich dafür im deutschsprachigen Raum lung der Arbeitsteilung in der Verwaltung und in den 1980er Jahren einigte, war derjenige der Verarbeitung von kulturellem Wissen zwischen Medien.25 Gemeint war damit über alle diszip- Universitäten und privaten Unternehmen teil- linären Differenzen hinweg etwas im Wahrneh- haben.24 Festzuhalten ist wenigstens, dass der men, im Wissen und im Sagen Dazwischenlie- internationalen Tendenz zur Ab- und Entwer- gendes oder -kommendes, etwas Vermittelndes, tung der Geisteswissenschaften eine gewaltige das am Vermittelten mitarbeitet. Zugleich wurde ökonomische Auf- und Verwertung seitens der dieses Vermittelnde als ein materielles und, im Plattformanbieter gegenübersteht, für welche weiteren Sinne, technisches Dazwischen aus- kulturelle Güter bzw. Daten und deren maschi- gewiesen, womit ein theoretischer wie ein his- nelle Verarbeitung zentraler Bestandteil des torischer Fokus für die Forschung gesetzt war. Geschäftsmodells sind. Die Wechselwirkungen Der ursprüngliche kritische Impuls der Medien- zwischen diesen Dynamiken, die Gemeinsam- wissenschaft bezog sich je nach politischer keiten und Unterschiede in den methodischen und theoretischer Ausrichtung entweder auf das DEBATTEN 157 CHRISTOPH ENGEMANN / TILL A. HEILMANN / FLORIAN SPRENGER intellektuelle Verfügbarmachen des Vermitteln- bei gleichzeitiger Verengung des Methodenbe- den oder auf das, wahlweise lustvoll besetzte oder griffs auf empirische Verfahrensweisen. fatalistisch gedachte, Ausgeliefertsein daran bzw. Folglich liegt der theoretische Einsatz der dessen ebenso subtile wie triumphale Arkanisie- Medienwissenschaft nicht zuletzt darin, Me- rung. Medienwissenschaftliche Kritik war und thodenfragen als Fragen nach den Medien der ist Kritik der Moderne, deren Legitimität sich Methode stellen zu können: als Fragen nach den an der Blindheit gegenüber der Wirkmächtigkeit technischen Bedingungen und epistemologi- von Medien als differenzkassierenden Strukturen schen Vorannahmen, die je einzelnen Methoden bricht. Den fachlichen Grundsatz der deutsch- zugrunde liegen. Entsprechend sind Werkzeu- sprachigen Medienwissenschaft bildet weiterhin ge, Verfahren und Praktiken als interdisziplinär die Einsicht (oder die Überzeugung), dass Me- verbindliche und verbindende Methoden zu dien nicht bloß als neutrale Vermittler im kul- begreifen.27 Medienwissenschaftliche Ansätze turellen Geschehen fungieren und Vermittlung berühren potenziell immer auch das Selbstver- nicht unmittelbar sein kann. Damit aber werden ständnis anderer Fächer, wie die polemischen auch Methoden – als das in Wahrnehmungs- und Debatten der Anfangstage des Fachs zeigen. So Erkenntnisprozessen Vermittelnde – selbst the- sind die Bedeutung des Videorekorders für die matisiert. Sie gehen nicht so sehr als Werkzeuge Filmwissenschaft oder des Zettelkastens für in die medienwissenschaftliche Forschung ein, die Systemtheorie ebenso untersucht worden wie sondern können strukturell als deren Gegenstand in der ZfM-Rubrik «Werkzeuge» die M edien fokussiert werden. medienwissenschaftlichen Forschens.28 Die Allgemeiner formuliert markiert Unmittel- medienwissenschaftliche Perspektivierung von barkeitskritik einen wichtigen Ausgangspunkt Methoden hat innerhalb der Geisteswissenschaft von Medienwissenschaft. Der Bezug auf post- zu neuen Forschungsfragen geführt, weil die strukturalistische und dekonstruktivistische The- disziplinäre Reflexion auf die eigenen Methoden orietraditionen, der das Fach vor allem zu Beginn für jedes Fach zugleich eine Revision der Medien stark prägte, findet darin seine Erklärung und ihrer Methoden bedeutet. So gehörte, um nur Begründung. Medienwissenschaft erweist sich so ein Beispiel zu nennen, die Papyrologie zu den als ein Projekt, Operationen der kulturellen Vorreitern der Digitalisierung von Quellen. S etzung und Behauptung von Unmittelbarkeit Die Medienwissenschaft hat das Verdienst, im selbst als Vermittlungsoperationen aufzuweisen Zeichen poststrukturalistischer Programme zur und historisch wie ästhetisch zu perspektivieren.26 Problematisierung der Methodik in der geis- Den heute stärker mit Fragen ökonomischer tes- und kulturwissenschaftlichen Forschungs- und sozialer Vermittlungen befassten Unter- landschaft beigetragen zu haben. Im Zuge ihrer suchungen könnte die einst historisch und institutionellen Normalisierung kann sie dieses ästhetisch fokussierte Unmittelbarkeitsskepsis Innovationspotenzial jedoch nicht mehr mit vol- analytische Kräfte bieten, welche sich nicht ler Wirkung entfalten. Die Frage nach dem epi- gleich in eine Arbeit an Einrichtungen ‹richti- stemischen Mehrwert digitaler Methoden sucht ger› Vermittlung übersetzen lassen. So besteht noch nach medienwissenschaftlichen Antworten. aus unserer Sicht ein wesentliches Problem der Um kurz die disziplinären Schnittstellen aktuellen Debatten in einem rein instrumentellen anzusprechen: In der Geschichtswissenschaft Verständnis von Methoden als der vermeintli- beispielsweise wurden parallel zum Aufkommen chen Möglichkeit eines unverstellten – eben der Medienwissenschaft seit den 1980er Jahren unmittelbaren – Zugangs zur Wirklichkeit rege Methodendebatten geführt. Dabei hat die 158 ZfM 20, 1/2019 WEGE UND ZIELE Medienwissenschaft mit Verfahren wie der Ge- wie oben angemerkt, theoretisch und durchaus nealogie, der historischen Diskursanalyse und der moderneskeptisch grundiert. Man mag es für (Medien-)Archäologie Partei für eher randstän- analytisch gescheitert, für inhaltlich überzogen dige geschichtliche Theorie- und Methodenan- oder auch schlicht für albern halten – das Wissen gebote ergriffen und sich an den entsprechenden darum ist für die Klärung der Frage, welche Posi- Diskussionen innerhalb der Geschichtswissen- tion Medienwissenschaftler_innen in den Metho- schaft kaum beteiligt. Vergleichbares gilt für die dendebatten einnehmen könnten, weiterhin von Debatten in der Germanistik über poststruktura- Bedeutung. Das gilt heute umso mehr, da mit listische Ansätze der Textarbeit. Eng mit der Me- den Digital Humanities und den Computational dienwissenschaft verwandt und in inspirierenden Social Sciences technisch elaborierte, politisch Resonanzverhältnissen zu ihr stehend sowie fall- forcierte und teils exzellent alimentierte metho- weise konkrete Forschungs- und Projektzusam- dische Formationen auftreten, die beanspruchen, menhänge bildend, waren und sind die Cultural die mangelnde Wissenschaftlichkeit in den Geis- Studies. Mit ihnen teilt die Medienwissenschaft tes- und Sozialwissenschaften zu beheben.30 nicht nur den weiteren Gegenstandsbereich, son- Demgegenüber müsste daran erinnert und dern auch einschlägige Verfahren der Machtkritik mit starken Argumenten und Beispielen aus der und der Diskurs- sowie Medienanalyse. Von Forschung gezeigt werden, welche die Spezifika besonderer Bedeutung war und ist kritische Me- des geistes- und kulturwissenschaftlichen Fragens thodologie bzw. Methodenkritik für die Heraus- sind und wo und wie die oben genannten Ver- bildung und das fachliche Selbstverständnis der fahrensweisen an ihre Grenzen stoßen oder gar Gender Studies und der Postcolonial Studies.29 selbst Artefakte medientechnischer und sozialer Was die jüngere fachliche Entwicklung der Me- Dynamiken darstellen. Entsprechend könnten dienwissenschaft anbelangt, so sind vor allem aus nicht nur die Methoden der Medienwissenschaft, den englischsprachigen Science and Technology sondern die Medien der Methoden in den Mit- Studies sowie aus der Actor-Network-Theory telpunkt rücken. Auch die Medien der Begut- importierte Konzepte und Methoden zu nennen, achtung, Evaluation und Akkreditierung harren die Kompatibilität mit medienwissenschaftlichen einer medienwissenschaftlichen Untersuchung. Theoremen versprechen, dabei mitunter jedoch Die differentia specifica medienwissenschaftlicher ganz andere Ziele verfolgen. Diese Diskussionen Forschung würde dabei gerade im Nachweis und Positionen sind in der institutionalisierten der entsprechenden Vermittlungen, d. h. in der deutschsprachigen Medienwissenschaft erst ver- analytisch vollzogenen Unmittelbarkeitsskepsis gleichsweise spät rezipiert worden und könnten und dem Nachweis unreflektierter Machtverhält- für eine Debatte über Methoden und ihre Kritik nisse, liegen. Dabei kann sie sich, wo es oppor- wichtige Anknüpfungspunkte bieten. tun ist, etwa auch ethnomethodologischer und Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass das qualitativer Methoden bedienen, genauso wie sie ‹harte› Programm der Medienwissenschaft als gegebenenfalls digitale Methoden zum Einsatz der Versuch begriffen werden kann, die Dicho- bringen mag. Medienwissenschaft würde so einen tomie der ‹zwei Kulturen› zwischen Humanities strategischen Spagat zwischen Technikkritik und und sciences zu überwinden und einen dritten Technikaffinität wagen, statt eine systematische Weg aufzuzeigen, nämlich Kultur als Produkt Reserviertheit gegenüber der Anwendung digita- medientechnischer Vermittlungen zu lesen, ler Datenverarbeitung zu pflegen. Der wachsen- die sich durch medienhistorische Genealogien de Konkurrenz- und Explikationsdruck und die rekonstruieren lassen. Dieses Vorhaben war, im internationalen Zusammenhang weniger stark DEBATTEN 159 CHRISTOPH ENGEMANN / TILL A. HEILMANN / FLORIAN SPRENGER ausgeprägte Trennung zwischen geistes- und kul- Text liefert nicht mehr als einige Ansatzpunkte turwissenschaftlicher Medienforschung einerseits zur weiteren Diskussion. Das Ziel sollte dabei und sozialwissenschaftlichen Ansätzen anderer- weniger eine Abgrenzung oder ‹Disziplinie- seits lassen es zumindest ratsam erscheinen, die rung› des Faches sein, wozu Methodendebatten bestehenden Theoriereferenzen auf ihre Eignung nicht selten dienen, als vielmehr die Lockerung für solche Fragestellungen hin zu prüfen. der diskursiven Grenzen, wie sie für ein so offen Der Reflex voreiliger Antworten auf die angelegtes Fach wie die Medienwissenschaft Methodenfrage sollte vermieden und stattdessen und angesichts der gegenwärtigen Herausforde- eine Analyse der internen wie externen Ansprü- rung durch digitale Methoden nötig scheinen. che an unser Fach vorgenommen werden. So Eine entsprechende Methodenkritik könnte in ließe sich verhindern, in einer für junge Diszip- der Offenlegung von Vorentscheidungen liegen, linen nicht untypischen Selbstverortungsdebatte um die Kontingenz der Gegenstände wie der zu verharren. Dagegen könnte ein Verständnis Verfahrensweisen zu betonen. Entsprechend dafür entwickelt werden, warum in diesem histo- geht es nicht um eine Stetigkeit, Geschlossen- rischen Moment auf diese Weise nach Methoden heit oder Kohärenz von Methoden, sondern um gefragt wird – und von wem. Vor ähnlichen die stete Auseinandersetzung mit ihrer Dring- Herausforderungen stehend haben für die Ge- lichkeit – ob von innen oder von außen an uns schichtswissenschaft Monika Dommann und Da- herangetragen. vid Gugerli dafür plädiert, anstatt sich den ver- — meintlichen Erfordernissen eines «methodisch homogene[n] Forschungsdesign[s]» anzupassen, 1 Die ersten der hier vorge­ ten medienwissenschaftlichen die «Methodenfrage als Gegenstand epistemo- stellten Überlegungen sind im Symposiums wurden. Dabei Rahmen der Lüneburger Summer wurde in Begleitung fachexterner logischer Erörterungen zu reaktivieren».31 In School on Digital Cultures «Chal­ Respondent_innen über die diesem Sinne wollen wir also keineswegs für lenging Methods» entstanden, methodischen Grundlagen der die im September 2014 an der Disziplin diskutiert – kontro­ einen Methodenpluralismus oder, umgekehrt, Leuphana Universität Lüneburg vers, aber ohne Konsens. Vgl. nur für bestimmte Methoden plädieren, wollen stattfand. Wir danken alle Betei­ Rembert Hüser: M ethoden der ligten für die Zusammenarbeit. Medienwissenschaft (vorher), keine Ratschläge erteilen, in welche Richtung 2 Zum Überblick vgl. Vinzenz dort datiert 11.3.2015, www. die Medienwissenschaft sich methodisch zu Hediger, Markus Stauff: Empirie. zfmedienwissenschaft.de/online/ Einleitung in den Schwerpunkt, methoden-der-medienwissenschaft-0; orientieren habe und keine Methoden inventari- in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Vinzenz Hediger: Methoden der sieren. Es geht uns vielmehr darum, die Debatte Nr. 5, 2011, 10 – 14; Celia Lury, Medienwissenschaft (nachher), Nina Wakeford (Hg.): Inventive dort datiert 30.4.2015, www. anders – d. h. historisch, epistemologisch und M ethods: The Happening of the zfmedienwissenschaft.de/online/ wissenschaftspolitisch informiert – zu führen, Social, London, New York 2012. methoden-der-medienwissenschaft- 3 Prominent sind die Arbeiten nachher, beides gesehen am als dies bislang geschieht, die gegenwärtigen der sozialwissenschaftlich 21.11.2018. Die methodische wissenschaftspolitischen Herausforderungen des ausgerichteten digital methods, Herausforderung der Digitali­ die freilich von ‹genuin› digitalen sierung ist auch Gegenstand Fachs ernst zu nehmen und davor zu warnen, (nicht von ‹digitalisierten›) der ebenfalls von der DFG sich diesen diskursiv zu entziehen. Methoden sprechen, etwa Carolin geförderten Symposiensreihe Gerlitz, Bernhard Rieder: Tweets «Digitalität in den Geisteswissen­ Um den «Legitimationsstress»32 in der Are Not Created Equal: Investiga­ schaften», die von Martin Huber, Medienwissenschaft zu kanalisieren, sollten der ting Twitter’s Client Ecosystem, Sybille Krämer und Claus Pias in: International Journal of Commu- organisiert wird. Vgl. Zeitschrift historische Ort der gegenwärtigen Methoden- nication, Vol. 12, 2018, 528 – 547, für digitale Geisteswissenschaften, frage im Kontext der fachlichen Institutiona- https://ijoc.org/index.php/ijoc/article/ Sonderband 3: Wie Digitalität die view/5974/2252, gesehen am Geisteswissens chaften verändert: lisierung bestimmt sowie die Bedeutung der 15.2.2018. Neue Forschungsergebnisse technologisch-methodologischen Entwicklung 4 Es ist also kein Wunder, und Methoden, hg. v. dies., dort dass Methoden 2015 zum Thema datiert 27.6.2018, www.zfdg.de/son für diese Frage thematisiert werden. Dieser eines von der DFG ausgerichte­ derband/3, gesehen am 13.1.2019. 160 ZfM 20, 1/2019 WEGE UND ZIELE 5 Pierre Bourdieu, Loïc J. D. Unter dem Druck zunächst des 21 Das Social Media Collective 30 In der deutschen Soziologie Wacquant: Reflexive Anthropologie, auf strenge Empirie abstellen­ von Microsoft Research New hat diese Auseinandersetzung Frankfurt / M. 2006, 213. den Behaviorismus, dann der England versammelt u. a. danah zu einer faktischen Spaltung 6 Remigius Bunia: Das Hand­ Kognitionsforschung und zuletzt boyd, Kate Crawford und in zwei Fachgesellschaften werk in der Theoriebildung. Zu der Neurowissenschaften gelten Tarleton Gillespie. geführt. Eine Reihe führender Hermeneutik und Philologie, in: in der akademischen Psychologie 22 Galloway: The Cybernetic Methodenlehrstuhlinhaber_innen Journal of Literary Theory, Vol. 5, mittlerweile nahezu uneinge­ Hypothesis, 110. gründete 2018 als Abspaltung Nr. 2, 2011, 149 – 162, hier 152. schränkt naturwissenschaftliche 23 Zu diesem Argument vgl. von der Deutschen Gesellschaft 7 Die Filmwissenschaft hat Epistemologie und Methodologie. auch Mike Savage, Roger Burrows: für Soziologie die Akademie für angesichts ihres klarer umris­ 14 Bunia: Das Handwerk in The Coming Crisis of Empirical Soziologie, die unter Verweis auf senen Gegenstands traditionell der Theoriebildung, 150. Sociology, in: Sociology: A Journal die neue Datengrundlage digitaler einen Methodenkorpus, der 15 Peter Galison: Image and of the British Sociological Association, Gesellschaften und die Com­ auch digitale Methoden inkor­ Logic. A Material Culture of Micro- Vol. 41, Nr. 5, 2007, 885 – 899. putational Social Sciences neue poriert, vgl. Patrick Vonderau: physics, Chicago 1997, 151 f. 24 Vgl. dazu auch Lev und weiterreichende Paradigmen Quantitative Werkzeuge, in: Malte 16 Vgl. dazu Monika Büscher, Manovich: Media Analytics & soziologischer Forschung und Hagener, Volker Pantenburg John Urry, Katian Witchger (Hg.): Gegenwartskultur, in: Christoph Politikberatung beanspruchte, (Hg.): Handbuch Filmanalyse, Mobile Methods, London 2011; Engemann, Andreas Sudmann während der Rest der Soziologie Wiesbaden 2019 (im Erscheinen), Richard Rogers: Digital Methods, (Hg.): Machine Learning – Medien, mitunter schlicht als unwissen­ online unter doi.org/10.1007/978- Cambridge 2013; Konrad Scherfer, Infrastrukturen und Technologien schaftlich deklariert wurde. Siehe 3-658-13352-8_28-1, gesehen Helmut Volpers (Hg.): Methoden der Künstlichen Intelligenz, Bielefeld dazu u. a. akademie-soziologie.de, am 15.2.2019, sowie Jan­Hendrik der Webwissenschaft, Berlin, 2018, 271 – 291. gesehen am 21.11.2018. Bakels, Hermann Kappelhoff: M ünster 2013; Anja Kanngieser: 25 Vgl. zum Überblick Rainer 31 Monika Dommann, David Das Zuschauergefühl. Möglichkei­ What is a Research Platform? Leschke: Medienwissenschaf­ Gugerli: Geschichtswissenschaft ten qualitativer Medienanalyse, Mapping Methods, Mobilities and ten und ihre Geschichte, in: in Begutachtung. Acht Kom­ in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Subjectivities, in: Media, Culture Jens Schröter (Hg.): Handbuch mentare zur historischen Methode Nr. 5, 2011, 78 – 96. & Society, Vol. 36, Nr. 3, 2014, Medienwissenschaft, Stuttgart der Gegenwart, in: Traverse, Bd. 18, 8 Hans Blumenberg: Lebenswelt 301 – 318. 2014, 21 – 30; Claus Pias (Hg.): Nr. 2, 2011, 154 – 164, hier: 163. und Technisierung unter Aspek­ 17 Zu einer kritischen Übersicht Was waren Medien?, Berlin 2011, 32 Hediger u. a.: Empirie, 10. ten der Phänomenologie, in: ders.: über entstehende Methoden­ sowie Ulrike Bergermann: Wirklichkeiten in denen wir leben, fragen vgl. Cameron Blevins: Leere Fächer. Gründungsdiskurse in Stuttgart 1981, 7 – 54, hier 47. The Perpetual Sunrise of Metho­ Kybernetik und Medienwissenschaft, 9 Vgl. George Steinmetz: The dology, dort datiert 5.1.2015, Münster 2015. Politics of Method in the Human www.cameronblevins.org/posts/ 26 Vgl. Florian Sprenger: Sciences: Positivism and its Epistemo- perpetual-sunrise-methodology/, Medien des Immediaten. Elektrizität, logical Others, Durham 2005. gesehen am 21.11.2018. Telegraphie, McLuhan, Berlin 2012. 10 Donna J. Haraway: Crystals, 18 Richard Rogers: Das Ende 27 Siehe mit zahlreichen Fabrics, and Fields: Metaphors des Virtuellen. Digitale Methoden, Beispielen etwa zum Zeichnen, of Organicism in Twentieth-Century in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, zum Graben, zum Sezieren, zum Developmental Biology, New Nr. 5, 2011, 61 – 77, hier 64. Skalieren oder zum Generalisie­ Haven 1976, 22. 19 Vgl. Chris Anderson: The End ren Celia Lury, Rachel Fensham, 11 Dies wird von anderen of Theory: The Data Deluge Makes Alexandra Heller­Nicholas u. a. Fächern auch explizit anerkannt, the Scientific Method Obsolete, (Hg.): Routledge Handbook of vgl. Jan­Friedrich Missfelder: in: Wired, dort datiert 26.3.2008, Interdisciplinary Research Methods, Endlich Klartext. Medientheorie www.wired.com/2008/06/pb-theory/, New York 2018. und G eschichte, in: Jens Hacke, gesehen am 21.11.2018. Zu einer 28 Vgl. Siegfried Zielinski: Zur M atthias Pohlig (Hg.): Theorie kritischen Aufarbeitung dieser Geschichte des Videorecorders, Berlin in der Geschichtswissenschaft. Ein- Debatte vgl. Ted Underwood: 1986; Markus Krajewski: Zettelwirt- blicke in die Praxis des historischen Theorizing Research Practices We schaft. Die Geburt der Kartei aus dem Forschens, Frankfurt / M. 2008, Forgot to Theorize Twenty Years Geiste der Bibliothek, Berlin 2002. 181 – 198. Ago, in: Representations, Vol. 127, 29 Siehe Gisela Febel: 12 Vgl. für eine medienwissen­ Nr. 1, 2014, 64 – 72. Postkoloniale Literaturwissen­ schaftlich informierte Methoden­ 20 Siehe Alexander R. Gallo­ schaft. Methodenpluralismus kritik der Sozialwissenschaften way: The Cybernetic Hypothesis, zwischen Rewriting, Writing Sebastian Ziegaus: Die Abhän- in: Differences: A Journal of Feminist back und hybridisierenden und gigkeit der Sozialwissenschaften Cultural Studies, Vol. 25, Nr. 1, kontrapunktischen Lektüren, in: von ihren Medien. Grundlagen einer 2014, 107 – 131. Die Diskussion um Julia Reuter, Alexandra Karentzos kommunikativen Sozialforschung, die Äquivalenz positivistischer (Hg.): Schlüsselwerke der Post- Bielefeld 2009. Methoden und kapitalistischer colonial Studies, Wiesbaden 2012, 13 Wie die Geschichte der Konsumerabilität hat historische 229 – 247; Wenda K. Bauchspies: Psychologie zeigt, können Vorläufer: Theodor W. Adorno, Methods, Postcolonial, in: alternative – in diesem Fall: Hans Albert, Ralf Dahrendorf George Ritzer (Hg.): The Blackwell geisteswissenschaftliche – Zugän­ u. a.: Der Positivismusstreit in der Encyclopedia of Sociology, Malden ge und Methoden mitunter ganz deutschen Soziologie, Neuwied, 2007, doi:10.1002/9781405165518. aus einem Fach verschwinden. Berlin 1969. wbeosm092. DEBATTEN 161 «Free speech» und rechter Populismus — Foyer der Fakultät für Architektur, Middle East Technical University Ankara, Çinici Architects Der europäische und weltweite politische Rechtsruck mag in deutschen Universi­ täten weniger heftig spürbar sein als an den Außengrenzen und in minorisierten Gemeinschaften, aber er ist in der Medienwissenschaft so oder so schon lange an­ gekommen: Er ist Thema für Analysen der alt right­Medienpolitiken (vgl. die Bei­ träge auf dem Gender Blog der ZfM), er greift mit den Gender Studies auch die Gender Media Studies an, und er unterminiert allgemeiner Konzepte der Freiheit von Lehre und Forschung an den Universitäten – im Namen von demokratischen Freiheitsrechten. Die ZfM hat die Debatte online mit Berichten von der Universität Siegen begonnen und setzt sie hier mit einem Beitrag aus Bayreuth fort. — 162 ZfM 20, 1/2019 — UNIVERSITÄT UND NEUE RECHTE Geisteswissenschaftliche Positionierungen von JEANNE CORTIEL und CHRISTINE HANKE Die im ‹Sommer der Migration› 2015 zunächst Inhalts postet (2017). Dienstrechtliche S chritte euphorisierende Berichterstattung über die bleiben aus, jedoch gründet die Universität vielfältig praktizierte sogenannte Willkommens- Leipzig in Folge ein Kompetenzzentrum für kultur verschob sich noch im selben Jahr zu einer Rechtsextremismus und Demokratieforschung.2 Problematisierung geöffneter Grenzen, in deren Der Fall geht zudem bis in den Landtag, in dessen Kontext völkisch-nationalistische Positionierun- politischer Debatte eine Petition erörtert wird, gen und rassistische Angriffe auf Unterkünfte die Möglichkeit dienstrechtlicher Konsequenzen und Geflüchtete zugenommen haben. Neben ei- noch einmal zu überprüfen (2018). In Siegen ner Normalisierung rechtsextremer Gewalttaten lädt ein Philosophie-Professor im Rahmen eines hat sich auch der politische Diskurs merklich in Seminars mit Ringvorlesung zum Thema Mei- Richtung eines völkisch-nationalistischen Spre- nungsfreiheit politische Redner der Neuen Rech- chens verschoben – als ein Beispiel sei nur der ten ein (2018 / 19). Die Hochschulleitung distan- deutsche Bundesinnenminister genannt, der im ziert sich in einer öffentlichen Stellungnahme von September 2018 die Migrationsfrage als «Mutter den politischen Positionen der beiden Redner, die aller Pro bleme» bezeichnet hat.1 Veranstaltung führt zu konträren Positionierun- Auch die Universität ist von dieser Diskursver- gen und wird bis ins Feuilleton weitergetragen.3 schiebung betroffen. Als deren Mitglieder sind wir Ein Landtagsabgeordneter der AfD und Sprecher mit einer zunehmenden Präsenz völkisch-nationa- der sich mittlerweile in Selbstauflösung befin- listischer Positionen sowohl an der Institution als denden «Patriotischen Plattform» lässt sich im auch im öffentlichen Diskurs über Universitäten Fach Islamwissenschaft habilitieren (2018). In konfrontiert. Studierende aus der sogenannten einer politischen Rede bezeichnet er dies «als Identitären Bewegung besetzen gezielt Lehrver- ein kleines Wunder» angesichts dessen, dass «an anstaltungen an der Universität Halle (2017 / 18); meiner Fakultät in Bayreuth kaum noch Wissen- ein AfD-Landtagsabgeordneter in Baden-Würt- schaften betrieben werden, sondern eher Karne- temberg fordert in Anlehnung an die AfD-Lehrer- valsumzüge wie Gender Studies oder kritische Denunziations-Webseiten Studierende dazu auf, Weißseins-F orschung». Auch wiederholt er in Professor_innen zu melden (2018); in Leipzig se- Reaktion auf eine Frage aus dem Publikum seine hen sich eine Fakultät und die Universitätsleitung Programmatik der ‹Orientalistik› «als Wissen- mit öffentlichen Äußerungen eines Professors schaft vom Fremden» und «Widerstandswissen- konfrontiert, der Tweets völkisch-nationalistischen schaft gegen Globalisierung».4 DEBATTEN 163 JEANNE CORTIEL / CHRISTINE HANKE Uns als Repräsentantinnen der Universität Öffentlichkeit. Die Debatten in den Gremien wie Mitglieder dieser Gesellschaft gehen die finden dabei in der Regel nichtöffentlich statt genannten Fälle an, und zwar existenziell. Sie ge- und sind aus Gründen des Daten- und Personen- hen uns persönlich an, weil wir Wissenschaft als schutzes vertraulich. Die Vertraulichkeit solch machtkritische Forschung und Lehre betreiben, i nterner Debatten erfordert daher im öffent- in unserer Arbeit also den Blick für die Funkti- lichen Nachdenken den Bezug auf Spuren und onsweisen von Macht schärfen. Sie gehen uns Positionierungen in öffentlich zugänglichem als Geistes- und Kulturwissenschaftler_innen an Material und Stellungnahmen wie etwa in Blogs, wegen unserer fachlichen Kompetenzen: Weil Zeitungen und Zeitschriften, Universitätsweb- kulturwissenschaftliche Theorien zu normativen sites, in Landtagsprotokollen und -videos usw. und autoritären Zwecken angeeignet und umge- Einige dieser Diskussionsstränge sollen im deutet werden, müssen wir intervenieren und un- Folgenden aufgegriffen, reflektiert und durch sere Lesarten stark machen – schließlich verfügen weitere Überlegungen ergänzt werden. Uns geht wir über die fachliche Expertise zu einer Analyse es dabei weniger um die Einzelfälle selbst – de- der Diskursmuster, Rhetoriken und Textstrategi- nen wir hier gar nicht so viel Aufmerksamkeit en, zur historischen Kontextualisierung und Re- schenken wollen. Wir wollen hieraus vielmehr flexion. Sie gehen uns als geschichtlich denkende allgemeinere Fragen extrahieren, die dann Menschen an, weil wir ein historisches Wissen wiederum die Leser_innen selbst auf existierende über die zerstörerische NS-Ideologie und den und noch bevorstehende konkrete Einzelfälle Holocaust haben, aus dem sich gerade für uns beziehen können. als Wissenschaftler_innen in Deutschland und In den Debatten um völkisch-nationalistische Österreich die Verantwortung ergibt zu verhin- Positionen im Umfeld der Universität geht es um dern, dass sich die Geschichte wiederholt. Argumentationslinien zwischen Beamtenrecht Für uns stellt sich daher die Frage nach den und politischem Mäßigungsgebot,5 um Differen- Möglichkeiten des Handelns in unterschiedlichen zierungen zwischen Wissenschaft, Politik und Dimensionen unserer Verantwortung: in unserer Öffentlichkeit, um die Trennung von privater Lehre, als wissenschaftlich Forschende und als und dienstlicher Sphäre bzw. von Privatem und politisch Agierende sowie in unserer Funktion Öffentlichem. Kritik an der universitären Präsenz in der akademischen Selbstverwaltung als Mitor- der Neuen Rechten sieht sich allerdings vor ganisator_innen der Universität als Institution. allem mit einem Zensurvorwurf konfrontiert: In Wir schlagen im Folgenden drei Zugangsweisen einer Übertragung und Verschiebung der in den der Auseinandersetzung vor: eine Analyse der USA von Rechten derzeit wieder entfachten free Hauptstränge relevanter Debatten um völkisch- speech-Debatte in den deutschen Kontext domi- nationalistische Positionen innerhalb der Uni- niert das Thema der Meinungsfreiheit – obwohl versität, unsere eigenen Positionierungen und die Debatte deutlich mehr Facetten umfassen ihre Effekte sowie eine Reflexion des institutio- könnte. Die Anrufung der Meinungsfreiheit nellen Handelns in der Universität. als in der Verfassung verankertem höchsten Gut der Demokratie – das sich jedoch vom First Debatten Amendment der USA unterscheidet, wie ange- Fälle wie die eingangs genannten führen auf sichts des Rufs nach free speech oftmals übersehen die eine oder andere Weise zu umfangreichen wird 6 – scheint es den Mitgliedern der Univer- Diskussionen in den universitären Gremien der sität schwer zu machen, Handlungsmöglichkeiten Institution, aber auch in der massenmedialen gegen die Neue Rechte in Betracht zu ziehen, 164 ZfM 20, 1/2019 UNIVERSITÄT UND NEUE RECHTE weil jede Aktion unter den Verdacht einer Ein- ebenso hohes Gut wie die Meinungsfreiheit zu schränkung dieses demokratischen Rechts ge- verteidigen ist und sich diese [beiden] eben nicht stellt scheint. Doch werden damit nicht womög- gegeneinander ausspielen lassen.»9 lich andere Freiheiten eingeschränkt, wie etwa In eine ähnliche Richtung argumentiert auch das Vertrauen darin, sich auf dem Campus und der Politikwissenschaftler Janosik Herder in in wissenschaftlichen Denkräumen der Lehre der taz, der unter dem Titel «Ich möchte lieber und Forschung angstfrei, und ohne diskriminiert nicht!» die erregten Diskussionen über Weige- zu werden, bewegen zu können? rungen, mit Rechten zu reden, kommentiert.10 Die unter dem Banner der Meinungsfreiheit Die Verweigerung des Dialogs wird nicht als geführten Debatten lenken von den eigentlich Verweigerung der Auseinandersetzung mit der brennenden Fragen ab – so eine zentrale These Neuen Rechten, sondern vielmehr als Ergebnis des pointiert betitelten Textes «Worüber wir re- einer solchen Beschäftigung skizziert. Herder den, wenn wir mit jemandem nicht reden wollen. bezieht sich in seiner Argumentation zum einen Zum Spannungsverhältnis von Rassismuskritik auf die in den letzten Jahren vor allem mit einem und Meinungsfreiheit an der Universität» in Interesse für Fragen des Widerstands wieder- der Zeitschrift movements.7 Ausgangspunkt ist die entdeckte Novelle Herman Melvilles Bartleby, Diskussion um die Ein-, dann folgende Ausla- the Scrivener: A Story of Wall-street (1853),11 in dung des umstrittenen rechten Polizeigewerk- dem die Hauptfigur sich mit dem Satz «I would schafters Rainer Wendt, der u. a. racial profiling prefer not to» der Produktivität der Wall Street in der polizeilichen Praxis befürwortet, an die verweigert. Zum anderen erinnert Herder an Goethe-Universität Frankfurt und der stattdes- Herbert Marcuses Aufsatz «Repressive Toleranz» sen organisierten Veranstaltung zu Meinungs- (1965),12 der sich gegen eine «reine Toleranz» freiheit. Katharina Hoppe, Darja Klingenberg, liberaler Gesellschaften wendet, die alle Positi- Vanessa Eileen Thompson, Felix Trautmann und onen gleichermaßen toleriert, und stattdessen Alexander Vorbrugg analysieren anlässlich dieser zwischen befreiender und repressiver Toleranz Auseinandersetzung die Argumentationslogiken unterscheidet: «Marcuse zeigt, dass wahre der geführten Debatten: Wenn der Protest gegen Toleranz parteiisch sein müsse – der Intoleranz die Präsenz völkisch-nationalistischer Positio- gegenüber.»13 Entsprechend fordert Herder, dass nen an der Universität allein unter der Frage «wir […] rassistische und sexistische Positionen von Zensur diskutiert wird, so wird der Auslöser nicht auf einer Ebene mit anderen Positionen des Protestes selbst – nämlich der Rassismus verhandeln [dürfen]. Wir tun dann so, als wäre völkisch-nationalistischer Positionen und seine die Gleichheit von Menschen eine Frage der Realitäts- und Machteffekte – übergangen. Über Meinung und nicht Voraussetzung des demokra- den müsste jedoch eigentlich gesprochen werden. tischen Gesprächs.»14 Meinungsfreiheit und Rassismuskritik werden Erneut steht hiermit also zur Debatte, wie die im Grunde gegeneinander ausgespielt: «Rassis- zwei oben genannten Freiheiten eigentlich zu- mus erschien in der Debatte als diffuse Anklage, einander ins Verhältnis gesetzt werden. H erders die sich nicht belegen lässt. In dieser Hinsicht Textbezüge führen jedoch gleichzeitig vor, kann von einer Normalisierung von Rassismus dass Strategien und Theorien aus dem 19. und durch seine Verkennung gesprochen werden.»8 20. Jahrhundert im 21. Jahrhundert zwar inspi- So stellen die Autor_innen daher dem Rekurs rierend, aber gleichzeitig auch ambivalent sind. auf die Meinungsfreiheit den Kontrapunkt der Denn Melvilles Bartleby verweigert sich dem Diskriminierungsfreiheit gegenüber, die «als Gespräch, so wie er sich dem Produktivitäts- und DEBATTEN 165 JEANNE CORTIEL / CHRISTINE HANKE Konsumwahn des industriellen Kapitalismus werden, ebenso über die Machteffekte von verweigert; allerdings wird er damit auch zur Rassismus und Sexismus. Vor diesem Hinter- Figur der Unmöglichkeit und Einsamkeit einer grund wäre dann auch das Verhältnis der beiden solchen Position – er stirbt unverstanden im Freiheiten – Meinungsfreiheit und Diskriminie- Gefängnis an Nahrungsverweigerung. Marcuses rungsfreiheit – zueinander zu thematisieren und Konzept der Toleranz wiederum geht davon auszuhandeln. Da sich die Konzeption der Dis- aus, dass «die Unterscheidung zwischen wahrer kriminierungsfreiheit ja in der ein oder anderen und falscher Toleranz, zwischen Fortschritt und Form sogar in den Leitbildern der Universitäten Regression sich rational auf empirischem Boden formuliert findet, liegt nahe, diese Forderung treffen lässt»15 und dass der politische Status der Autor_innen in strategischer Hinsicht auch quo selbst repressiv ist. Dieser Ansatz hat – trotz explizit an die Institution in ihrem offiziellen der problematischen Differenzierung zwischen Selbstverständnis heranzutragen. Denn hier wird ‹wahr› und ‹falsch› im Gefolge marxistischer auch problematisierbar, dass – mit Sara Ahmed Theorie – mit Blick auf die Durchökonomisie- gesprochen – Antidiskriminierungspolitiken im rung neoliberaler Gesellschaften an Plausibilität institutionellen Kontext nicht performativ, also und Attraktivität nicht verloren. Doch in einer nicht wirksam sind.16 Auch wenn die in einer Bezugnahme mit Blick auf die Neuen Rechten solchen Gegenüberstellung eingesetzten sehr droht eine solche Lesart deren repressive Ideen unterschiedlichen Freiheitsbegriffe noch genauer unversehens in die Position der Mehrheits- zu diskutieren wären («Freiheit zu» versus meinung zu rücken und der aktuell wirksamen «Freiheit von»), wird hier schon deutlich, dass politischen Macht zuzuordnen. Den Auftritt der weder die Frage der Meinungs- noch der Lehr- Neuen Rechten daher mit Marcuses Ansatz zu und Forschungsfreiheit eindeutige und einfache lesen, ohne das Konzept grundlegend zu aktua- Antworten auf die Problematik Neuer Rechter lisieren, antizipiert eine Zukunft, die es gerade zu an der Universität geben. verhindern gilt. Dennoch treffen gerade Bartleby Im Kontext einer Reflexion von Rassismus und Marcuse den Kern der notwendigen Debatte und Sexismus der Neuen Rechten müssen auch und rufen deren paradoxe Vielschichtigkeit auf deren explizite Diskreditierungen von und den Plan, speziell für die Universität als Instituti- Angriffe auf antirassistische und feministische on im Spannungsfeld zwischen Neoliberalismus, Ansätze in den Blick geraten. Antirassismusver- fortgeschrittener Moderne und Neokolonialis- anstaltungen im universitären Kontext erleben mus. Wir brauchen Bartleby und wir brauchen direkte Anfeindungen, siehe etwa die Stür- Marcuse, aber wir müssen sie völlig neu lesen. mung der Inszenierung von Elfriede J elineks In diesem Sinne wäre der Untertitel von Herders Schutzbefohlenen mit Geflüchteten an der U niver- Kommentar als Einladung anzunehmen, weiter sität Wien durch eine Gruppe sogenannter zu denken: «Die freundliche, aber bestimmte Identitärer im April 2016. Auch sind feministi- Weigerung, mit der Neuen Rechten in Dialog sche Forschung und Gender Studies schon lange zu treten, kann auch bewusstes Ergebnis eines nicht nur im Feuilleton einem erzkonservativen Denkprozesses sein.» Gegenwind ausgesetzt, sondern immer öfter Ziele Statt sich also von der Dominanz des Argu- von unmittelbaren Angriffen an Universitäten. ments der Meinungsfreiheit blenden zu lassen, Es wäre verfehlt, solcherlei Aggressionen gegen müsste im Anschluss an Hoppe u. a. vielmehr politisch nichtopportune wissenschaftliche Arbeit über die diskursiven Verschiebungen in Richtung als partikulare Fälle zu verstehen, die nur auf völkisch-nationalistischer Positionen diskutiert disziplinäre Nischen zielten. Vielmehr sind sie 166 ZfM 20, 1/2019 UNIVERSITÄT UND NEUE RECHTE Angriffe auf machtkritisches Denken, in denen viel Raum jeweils völkisch-nationalistischen völkisch-nationalistische Positionen im Kampf Positionen gegeben wird – dies betrifft nicht um Aufmerksamkeit und um Diskurshoheit nur den Aspekt der Einladung solcher Red- exemplarisch und spektakulär eingesetzt werden. ner_innen unter dem Diktum «Mit Rechten Und wieder bemühen die Angreifenden die Argu- reden»,18 sondern auch die kritisch-analytische mentationsfigur der free speech und gerieren sich Praxis, die solche Positionen selbst in der Kritik als Opfer einer ‹Meinungsdiktatur›, und so wäre noch verbreitet. Im Folgenden skizzieren wir auch hier das bereits skizzierte Verhältnis von exemplarische Fälle: eine Veranstaltung, eine Freiheit vor Diskriminierung und Meinungsfrei- Online- Debatte, ein Online-Magazin und damit heit zu verhandeln. Denn hier fordern Kräfte die verbundene Strategien für universitäre Öffent- Freiheit der Wissenschaft und der Meinung für lichkeitsarbeit und Wissenschaftsvermittlung so- sich, die sie gleichzeitig doch im Sinne völkisch- wie Taktiken im Umgang mit der «autoritären nationalistischer Standpunkte beschränken wol- Revolte»19 der Neuen Rechten an der Universität. len. Die Diffamierungsversuche antirassistischer Schon lange gibt es Initiativen, die sich mit und feministischer Forschung sind angesichts der den rhetorischen Strategien und Praktiken der politischen Umsetzung solcher antiwissenschaft- Neuen Rechten befassen.20 Im Anschluss an licher Positionen in U ngarn, wo 2018 sämtlichen schon bestehende und an neuere Forschungen Studiengängen in den Geschlechterstudien von unterschiedlicher Fächer bietet es sich für die der rechtsnationalistischen Regierung sowohl Universität und deren Mitglieder an, über Rechte Akkreditierung als auch Finanzierung gestrichen zu reden, deren Argumentationsstrategien wurde,17 durchaus ernst zu nehmen. Es gilt daher, kritisch zu analysieren und dabei wissenschaft- in den Aushandlungen zwischen Meinungs- liche und öffentliche Debatte zu verbinden. Ein und Diskriminierungsfreiheit mit im Blick zu be- aktuelles Beispiel für einen solchen Zugang ist halten, dass mit dem Reden der Neuen Rechten ein Fachtag an der Martin-Luther-Universität durchaus Visionen politischer Umsetzungen H alle-Wittenberg im Oktober 2018, wo der einhergehen. Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und europäische Politik zusammen mit der Landes- Positionierungen zentrale für Politische Bildung zu Semesterbe- Welche Möglichkeiten der Positionierung sind ginn einen ganztägigen Workshop zum Thema denkbar? Müssten wir angesichts zunehmenden «Neue Rechte – Die autoritäre Revolte?»21 Auftretens völkisch-nationalistischer Positio- durchführte. Die geladenen Sprecher_innen nierungen in der Presse (wie sie sich vor allem wurden mit einer Ausnahme im Veranstaltungs- am Beispiel der sogenannten Migrationsdebatte programm auch mit ihrer doppelten Zugehörig- beobachten lässt) nicht selbst machtkritische keit zu Universität und Öffentlichkeit angekün- Analysen solcher Standpunkte und unsere ra di- digt, die die unmittelbare Verbindung zwischen kale Positionierung gegen Rassismus und den beiden betonte: Hauptsprecher Volker Ausschluss stärker in die öffentlichen D ebatten Weiß, promovierter Historiker und Autor des einbringen? Es gibt bereits eine Reihe von p opulärwissenschaftlichen Buchs Die autori- universitären Initiativen und Veranstaltungen, täre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang die sich thematisch mit der Neuen Rechten des Abendlandes (2017), wurde als «Historiker, auseinandersetzen und damit eine breitere Publizist» angekündigt; Antonie Rietzschel, Öffentlichkeit suchen. Grundsätzlich stellt sich Redakteurin der Süddeutschen Zeitung mit einem bei solchen Veranstaltungen die Frage, wie Arbeitsschwerpunkt in der Flüchtlingspolitik DEBATTEN 167 JEANNE CORTIEL / CHRISTINE HANKE und der Neuen Rechten, die ein Buch über die mit geisteswissenschaftlicher Schärfe mit der Erfahrung von syrischen Geflüchteten von Philosophieprofessor Dieter Schönecker an in Deutschland veröffentlicht hat,22 erschien der Universität Siegen organisierten Ringvor- als «Journalistin, Politikwissenschaftlerin». lesung «Denken und Denken lassen. Zur Philo- Der Workshop war – wie auch schon frühere sophie und Praxis der Meinungsfreiheit» aus- Veranstaltungen – als eine klare Positionierung einander, zu der mit dem AfD-Vordenker Marc der Universität gegenüber dem ‹identitären› Jongen und dem Noch-SPD-Politiker Thilo Hausprojekt «Kontrakultur» zu verstehen, das in Sarrazin zwei politische Vertreter neurechter unmittelbarer Nähe des Campus gezielt auf die Positionen eingeladen wurden. Der Beitrag Universität einzuwirken versucht. Der Mitteldeut- legt die S trategien der Inszenierung Schöne- sche Rundfunk (MDR) berichtete unter dem Titel ckers o ffen, deren Höhepunkt der heldenhafte «Wie die Uni Halle mit Identitären Studenten Triumph des veranstaltenden Protagonisten umgeht»23 in einem detaillierten Bericht über die über die behauptete linke Kulturhegemonie Präsenz von ‹Identitären› in Lehrveranstaltungen. und Zensur darstellt. Als Konsequenz rufen die Im Anschluss an den Fachtag berichtete der Autor_innen zum Kampf gegen den «rechtsra- MDR erneut ausführlich über die Störaktion der dikalen Missbrauch des Diskurses der Meinungs- AfD-Landtagsfrakt ion bei dieser Veranstaltung,24 freiheit» auf. Hier wird journalistisches und was den Blick vom Inhaltlichen der Tagung wissenschaftliches Denken verknüpft, werden wegführte und die Taktiken der Neuen Rechten wissenschaftliche Analysekategorien für die vorführte. Die Veranstalter_innen hatten mit öffentlich-politische Ause inandersetzung um die k laren Regeln zur Diskussion der Vorträge (Be- Universität als offenen Raum genutzt. Beiträge grenzung der Redezeit auf zwei Minuten) schon von Fachkolleg_innen wie auf der ZfM-Website im Vorfeld die Versuche der im Publikum erwarte- oder auch von Erhard S chüttpelz im Blog des ten AfD-Abgeordneten, die Veranstaltung zu stö- Merkur verdeutlichen auf diese Weise den Spiel- ren, zumindest begrenzt. Letztlich gibt der MDR- raum, sich aus der U niversität heraus öffentlich Beitrag in der Kritik denPositionen der Störenden im Spannungsfeld von Politik, Wissenschaft inhaltlich mehr Raum als den Fachvorträgen der und Institution gegen die Präsenz der Neuen Tagung. Aus der journalistischen Logik erwächst Rechten zu positionieren.27 oft ein solcher unbeabsichtigter Effekt bei der Eine Verknüpfung von Wissenschaft und Berichterstattung zu derartigen Veranstaltungen: Online-Journalismus, die als analytische Inter- Konflikte und klare Antagonisten bieten der Auf- vention zu aktuellen politischen Debatten und merksamkeitsökonomie spektakulärere Ereignisse Diskursfiguren agiert, findet sich im von Kultur- und ermöglichen leichter erzählbare Geschichten. und Geisteswissenschaftler_innen initiierten Höher schlagen die journalistischen Wellen, Online-Magazin Geschichte der Gegenwart – ei- wenn es Proteste um Veranstaltungen gibt, in de- nem «wissenschaftsbasierte[n] Feuilleton».28 Das nen mit den Neuen Rechten geredet werden soll. Magazin folgt dem Anspruch, «mit historischem Einen solchen Fall nimmt die ZfM zum Blick, kulturwissenschaftlichem Sachverstand Anlass für ein Online-Special «Free speech und und einer kritischen und reflexiven Form von rechter Populismus», in dem das Feld für eine Wissen (in die öffentliche Debatte) zu interve- breitere inhaltliche Diskussion geöffnet wird, nieren – ohne Fachjargon und Fussnoten, aber die weit über den konkreten Fall hinaus geht.25 mit dem Anspruch, weiterzudenken.»29 Ein Der Auftaktartikel von Armin Beverungen, Arbeitsschwerpunkt liegt auf der Auseinander- M arcus Burkhardt und Tatjana Seitz 26 setzt sich setzung mit der Neuen Rechten und dem 168 ZfM 20, 1/2019 UNIVERSITÄT UND NEUE RECHTE Populismus, wie bereits die Sektion «Reizwör- Plattform diffamiert mit der Autorität eines ter» verdeutlicht, in der sich Begriffe finden wie Privatdozenten genau die Fakultät öffentlich, an Bevölkerung, Differenz, Diktatur, Flüchtlings- der er habilitiert wurde. krise, Identität, Integration, Meinungsfreiheit, Nationalismus, Populismus, postmigrantisch. Institutionelles Handeln Unter anderem veröffentlichte hier der Schwei- Steht also eine Positionierung gegen völkisch- zer Historiker Philipp Sarasin eine Reihe nationalistische, sexistische, rassistische Posi- von Artikeln etwa zur Geschichte der Neuen tionen im Widerspruch zum institutionellen Rechten, zu Angriffen auf die Gender Studies, Handeln der universitären Gremien? Auch hier zur autoritären Logik des Populismus und zur rücken die Anrufungen der Freiheit von For- Geschichte politischer Streitkultur.30 Hier ist schung, Lehre und Meinungsäußerung schnell auch eine analytische Auseinandersetzung des in den Vordergrund der Debatten. Gleichzeitig Philosophiestudenten Maurice Weber mit einer spielt innerhalb der Institution – so blitzt es Veranstaltung aus dem Umfeld der Neuen sowohl in den Auseinandersetzungen um Leipzig Rechten zu lesen, die sich zu kritischen Fragen als auch jenen um Siegen immer wieder auf – der an die Universität Zürich zuspitzt, welche die rechtliche Rahmen des Handelns eine zentrale Veranstaltung ermöglicht und finanziert hat.31 Rolle. Allerdings kommt in den juristisch gepräg- Jule Govrin und Andreas Gehrlach, Philosophin ten Diskussionen um völkisch-nationalistische und Kulturwissenschaftler, analysieren linke Positionen an der Hochschule der ebenfalls und rechte Konzepte von Differenz.32 Beiträge gesetzlich festgeschriebene Ausbildungs- und von Daniel-Pascal Zorn, Sylvia Sasse und Sandro Achtungsanspruch der Studierenden oder die Zanetti analysieren, wie die Postmoderne von Menschenwürde aller Mitglieder der Universität ihren verspäteten Gegner_innen als Gespenst wenig zum Tragen. Zudem ist in den öffentlichen beschworen oder als Pappkamerad aufgestellt Spuren institutionellen Handelns oftmals eine wird.33 Die Themenfelder sind zugleich breit und Reduktion der Begründung auf den rechtlichen hoch aktuell, aber die größte Wirkung entfaltet Rahmen auffällig, so als könne der juristische sich darin, dass geisteswissenschaftliche For- Diskurs von anderen Diskursen getrennt werden. schung sich direkt in journalistischem Schreiben Selbstverständlich sind die genannten gesetzli- entfaltet und darin beides schärft. chen Rahmenbedingungen historische Errun- Solche diskursiven Positionierungen bleiben genschaften, hinter die wir nicht zurückgehen jedoch unbefriedigend, wenn sie nicht in die wollen. Doch gleichzeitig ist diese ‹Reinigungs- Institution Universität und ihre Gremien selbst arbeit› in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert, hineingetragen und auf deren i nstitutionel les und es würde genauerer Analysen bedürfen, Handeln bezogen werden. Hier scheinen um präzise zu benennen, welche Trennungen Positionierungen auf Basis wissenschaftlicher, zwischen Rechtlichem, Wissenschaftlichem und d. h. historischer, theoretischer wie diskursana- Politischem vorgenommen werden und welche lytischer Erkenntnisse offenkundig nur mühsam Vermittlungsprozesse gleichzeitig stattfinden. in institutionelles Handeln übersetzt werden Erinnert sei daran, dass rechtliche Rahmenbe- zu können: Der Leipziger Professor lehrt weiter- dingungen erst Ergebnisse politischer Aus- hin weitgehend unbehelligt im Fach Rechts- handlungsprozesse sind. Und auch Recht und wissenschaft, die Siegener Veranstaltung wurde Wissenschaft stehen in einem gegenseitigen aus anderen Mitteln finanziert und fand statt, Wechselverhältnis: Man denke etwa an die Dis- der B etreiber einer völkisch-nationalistischen ziplin der Rechtsphilosophie, welche das Recht DEBATTEN 169 JEANNE CORTIEL / CHRISTINE HANKE selbst wissenschaftlich reflektiert, oder auch an spekulativ bleiben, denn die letzte Entschei- die Einholung wissenschaftlichen Expertentums dung über die Auslegung von Gesetzestexten in im Rahmen von Gerichtsverhandlungen, in der demokratischen Systemen ist der Judikativen, also die Wissenschaft zur Entscheidung in recht- d. h. den Gerichten als Institutionen der Recht- lich wirksamen Prozessen herangezogen wird. sprechung, vorbehalten. Hier werden anhand Könnten wir nicht unsere wissenschaftlichen Er- von Streitfällen Auslegungen der Gesetztexte kenntnisse zur Performativität medialer Prozesse verhandelt und in Einzelfällen entschieden – in- und zur diskursiven Hervorbringung von Realität sofern das Berufungsrecht sogar die Revision in diese Entscheidungsprozesse einbringen, von gerichtlich gefällten Urteilen ermöglicht, etwa wenn ein Professor der Rechtswissenschaft verweist dies einmal mehr auf den Verhandlungs- die Vision eines rein weißen Europa verbreitet? status gerichtlicher Gesetzesauslegungen. Judith Wäre nicht auch danach zu fragen, welche Rea- Butler hat in ihrem Buch Excitable Speech schon lität dieser Sprechakt – und die dienstrechtliche 1997 am Beispiel US-amerikanischer Debat- Handlungsunfähigkeit der Universität in diesem ten sehr deutlich gezeigt, inwiefern gerade das Fall – für Studierende und andere Mitglieder Verständnis des Verhältnisses von hate speech und dieser Universität schafft? Bemerkenswerterweise free speech nicht ein für allemal feststeht oder in bezieht mittlerweile offenkundig sogar der Ver- einem eineindeutigen Gesetzestext geregelt wird, fassungsschutz geisteswissenschaftliche For- sondern in verschiedensten Arenen immer wieder schung zur Performativität von Rassismus ein, neu ausgehandelt wird und werden muss – neben wie etwa im Gutachten deutlich wird, in dem Gerichtsprozessen spielen hier auch öffentliche Teile der AfD zum Extremismus-«Verdachtsfall» Debatten, wissenschaftliche Forschungen und erklärt werden.34 Da Verfassungsschutz Politik alltägliche Praktiken eine Rolle.35 Dies zeigt, nicht ersetzen kann und soll, müssten wir in der dass selbst die Anrufung juridischer Autorität die Institution Universität daher den Reinigungs- Verantwortung zur Entscheidung nicht abneh- prozess zwischen juristischer, politischer und men kann, die dann im Zweifelsfall gerichtlich wissenschaftlicher Argumentation und die gleich- verhandelt werden muss. zeitig stattfindenden Übersetzungen offenlegen Neben dem Fokus auf den juridischen Rah- und selbstreflexiv in die Debatte mit einbeziehen. men ist dem Argument der Meinungsfreiheit in Unbestritten bleibt die in den Hochschul- Personaldebatten zudem der Ansatz implizit, gesetzen festgeschriebene Notwendigkeit einer zwischen persönlichen bzw. privaten Äußerungen Institution, in ihren Entscheidungen nicht und dienstlichen bzw. wissenschaftlichen Äuße- rechtswidrig zu handeln – also etwa niemanden rungen zu unterscheiden (so auch im o.g. Fall des rechtswidrig zu entlassen oder die Freiheit von Leipziger Professors). Doch ist eine solch klare Forschung einzuschränken. Doch zu fragen Trennung von privaten, öffentlichen und akade- wäre auch: Welche Autorität rufen wir an, wenn mischen Positionen zu rechtfertigen bzw. lässt sie wir vor allem auf den juridischen Diskurs, auf sich überhaupt aufrechterhalten, vor allem wenn Gesetze und Rechtsprechungen setzen? Der die ‹privaten› Äußerungen in einem öffentlichen Blick ins Gesetz allein reicht schon deshalb nicht Rahmen wie der Social-Media-Plattform Twitter aus, da Gesetzestexte in der Regel der Ausle- erfolgen? Die Unterscheidung der Sphären gung bedürfen – zunächst der Auslegung durch des Privaten und des Öffentlichen, zwischen dem die Gremien, denen im Falle der Hochschulen Politischen und dem Privaten, ist ja selbst erst ihre Rechtsabteilungen zur Seite stehen. Diese Ergebnis einer historischen Reinigungsarbeit, Einschätzungen müssen dabei jedoch tendenziell welche zum einen umstritten ist (vgl. etwa die 170 ZfM 20, 1/2019 UNIVERSITÄT UND NEUE RECHTE Dreigeteilter Vorlesungssaal, Fakultät für Geisteswissenschaften und Literatur, Middle East Technical University Ankara, Çinici Architects DEBATTEN 171 JEANNE CORTIEL / CHRISTINE HANKE Kontroversen um das Habermas’sche Konzept Prinzip akademischer Selbstverwaltung lädt dazu der Öffentlichkeit) und in ihrer Historizität ein, unsere geisteswissenschaftliche Expertise gleichzeitig auf die geschichtliche Variabilität noch stärker als reflexives Potential in diese insti- der Trennung selbst verweist (man denke an tutionellen Entscheidungsprozesse mit einfließen die Debatten um die Verschiebung der Sp hären zu lassen. a ngesichts digitaler Transformationen und Social-Media-Plattformen). In institutionellen Welche Universität wollen wir? Debatten müsste außerdem etwa eingebracht Dass universitäre Gremien ohnehin nicht allein werden, dass öffentliche Äußerungen, sofern sie juridischen, sondern auch konzeptuellen Zu- rassistisch und sexistisch diskriminieren, eben- gängen folgen, die historisch, kontextualisiert, falls als Bestandteil des wissenschaftlichen Han- ethisch-moralisch und sogar politisch sind, zeigt delns der Person zu betrachten sind, vor denen sich z. B. in den formulierten Leitbildern, die die Mitglieder der Universität geschützt werden nicht zuletzt auch als neoliberale Marketing- müssen. Dies ist umso mehr der Fall, wenn instrumente fungieren. Solcherlei Materialien der wissenschaftliche Grad oder die Anbindung entstehen in umfassenden Diskussionsprozessen an eine Universität genutzt wird, um die ‹privat› und Verhandlungen an einer Hochschule, an geäußerten Aussagen zu legitimieren. denen auch die Gleichstellungsstellen – selbst Solche Durchlässigkeiten und Vermischungen Resultate hochschulpolitischer Kämpfe – betei- unterlaufen eine saubere Trennung des Juridi- ligt sind. Positive Leitbilder deutscher Uni - schen vom Politischen und Wissenschaftlichen, versitäten bekennen sich mittlerweile explizit zur und damit auch vom Historischen, Konzeptuel- Vielfalt.36 Die Universität Bayreuth formuliert len, Kooperativen und Performativen. Mit Blick etwa: «Auf unserem Campus geschieht Leben auf die institutionelle Dimension der Universität in seiner ganzen Vielfalt, hier steht der Mensch stellt sich daher die Frage, wie sich ein Wissen im Mittelpunkt – ganz gleich welcher Haut- über diese hybriden Konstellationen produktiv farbe und Herkunft, welcher geschlechtlichen nutzen lässt. Wie agieren wir in den hochschul- Identität und welcher religiösen oder welt- rechtlich verankerten Gremien, denen wir nach anschaulichen Orientierung».37 Und bereits im dem Prinzip der akademischen Selbstverwaltung November 2015 haben sich die Mitglieder ja gerade als Fachwissenschaftler_innen ange- der Hochschulrektorenkonferenz in ihrem Aufruf hören? Trotz hochschulpolitischer Kämpfe um «Weltoffene Hochschulen – Gegen Fremden- eine Demokratisierung der ständischen Struktur feindlichkeit» klar positioniert.38 Zu diskutieren der Hochschulen und paritätische Gremienbe- wäre vor diesem Hintergrund nun, wie solche setzungen – zuletzt in den 1980er und 1990er Positionierungen vorgenommen werden, wie Jahren – dominiert in den Gremien einem im sich Leitbilder zu den realen Praktiken auf dem Grunde wenig demokratischen Prinzip folgend Campus verhalten, mit welchen Handlungen nach wie vor eine Statusgruppe mit rechtlich sie verbunden werden bzw. inwiefern sie trotz al- festgeschriebener Mehrheit und befindet sich ler Ambivalenz als strategische Instrumente zum damit in einer Position der Macht. Diese Reprä- Handeln eingesetzt werden können. Erfordert sentation der Macht nimmt uns Professor_innen nicht eine «weltoffene» Universität tatsächlich, mit all unserem Wissen auf besondere Weise dass die Universität auch in ihren Handlungen in die Verantwortung: Auf welcher Grundlage klar Stellung bezieht gegenüber Menschen, die also diskutieren und fällen wir Entscheidungen mit ihrer Weltanschauung politisch aktiv sind, zu Forschung, Lehre und Studium? Gerade das um Personen auszuschließen, deren Hautfarbe, 172 ZfM 20, 1/2019 UNIVERSITÄT UND NEUE RECHTE Herkunft oder geschlechtliche bzw. religiöse 1 Michael Bröcker, Eva watch?v=yUA8XgB6da0, gesehen Identität als anders markiert sind? Möglichkeits- Quadbeck: Horst Seehofer im am 19.1.2019, vgl. insbesondere RP­Interview: «Migrationsfrage ab 28:00. Tillschneider ist ein räume für Vielfalt entstehen ja nicht allein ist Mutter aller Probleme», in: Beispiel dafür, wie die deutsche durch Postulate und bunte Bilder auf der Web- RP Online, dort datiert 6.9.2018, Neue Rechte – anders als die rp-online.de/politik/deutschland/horst- US­amerikanische – die diskre­ site der Universität. seehofer-lehnt-stichtagsregelung-fuer- ditierenden Zuschreibungen von Eine solche Notwendigkeit zur Reflexion fluechtlinge-als-fachkraefte-ab_aid- «Intellektualismus» und «Wissen­ 32736207, gesehen am 20.1.2019. schaftlichkeit» aufruft, um kriti­ ergibt sich nicht nur durch das Phänomen der 2 Vgl. die Homepage www. sche Wissenschaft anzugreifen. Neuen Rechten,39 sondern auch angesichts der kredo.uni-leipzig.de/start/, gesehen 5 Vgl. hierzu Klaus Gärditz: am 19.1.2019. Politisches Mäßigungsgebot zunehmend schwierigen Rahmenbedingungen 3 Vgl. Universität Siegen und verbeamtete Wissenschaft. der Universität in einer neoliberalen Gesell- (Hg.): Stellungnahme Universität Wieviel Freiheit darf sich ein Siegen, dort datiert 21.11.2018, Wissenschaftler nehmen?, in: schaft.40 Was für eine Universität wollen wir? www.uni-siegen.de/start/news/oef- Forschung & Lehre, Nr. 24, H. 2, Die Frage ist auch in einem positiven utopischen fentlichkeit/842943.html, gesehen 2018, 116 – 118. am 6.1.2019. Dass die Universität 6 Erhard Schüttpelz: Installa­ Sinn gemeint – weil wir über alle ambivalenten Siegen konträre Stellungnahmen tion einer Freisprechanlage. Ein Geschichten, hierarchischen Anordnungen und als Spuren einer universitären vorläufiger Bericht in elf Briefen, Debatte auf einer ihrer Webseiten in: Merkur Blog, dort datiert Machtstrukturen der Institution hinweg eine verlinkt und damit selbst Öffent­ 4.1.2019, www.merkur-zeitschrift. Vision von einer Universität entwickeln wollen, lichkeit für den inneruniversitären de/2019/01/04/installation-einer- Diskussionsprozess schafft, ist freisprechanlage-ein-vorlaeufiger- in der alle Mitglieder kollektiv an den Möglich- bemerkenswert. bericht-in-elf-briefen/, gesehen am keitsbedingungen für eine gerechtere Welt ar- 4 Hans­Thomas Tillschneider: 20.1.2019. Bewerbungsrede um einen 7 Vgl. Katharina Hoppe, beiten. Der Medienwissenschaft ist bekannt, dass AfD­Listenplatz für die Europawahl Darja Klingenberg, Vanessa Eileen es eine solche positive Bestimmung nicht geben 2019 bei der Europa­Wahlver­ Thompson u. a.: Worüber wir re­ sammlung der AfD in Magdeburg, den, wenn wir mit jemandem nicht kann, und den Literaturwissenschaften, dass die 16.­19.11.2018, veröffentlicht u. a. reden wollen. Zum Spannungsver­ Utopie als Genre weniger Zukunftsvisionen als auf Tillschneiders YouTube­Kanal, hältnis von Rassismuskritik und dort datiert 19.11.2018, www.you Meinungsfreiheit an der Universi­ Kritik an der Gegenwart artikuliert. Dennoch tube.com/watch?v=G5u2hWDzFY4, tät, in: movements. Journal for Critical kommt die Zukunft gnadenlos auf uns zu – und gesehen am 17.1.2019, sowie Migration and Border Regime Studies, auf der Facebook­Seite von «Der Vol. 4, Nr. 1, 2018, 167 – 177. wir brauchen eine Vorstellung davon, wie und Flügel», die mittlerweile vom 8 Ebd., 173. wohin wir sie gestalten wollen, weil uns in aller V erfassungsschutz als Verdachts­ 9 Ebd., 175. fall gehandhabt wird, vgl. Verfas­ 10 Vgl. Janosik Herder: Normativitätskritik, Medialität, Negativität sungsschutz (Hg.): Bundesamt Ich möchte lieber nicht, in: taz, und Reflexivität die Hoffnung antreibt, die Welt für Verfassungsschutz [BfV] gibt 20.11.2018, online u nter das Prüfergebnis zu der Partei «Al­ www.taz.de/!5548652/, gesehen zu einer anderen machen zu können. ternative für Deutschland» [AfD] am 6.1.2019. — bekannt, Pressemitteilung vom 11 Vgl. Herman Melville: 15.1.2019, www.verfassungsschutz. Bartleby, the Scrivener: A Story of de/de/oeffentlichkeitsarbeit/presse/ Wall­street [1853], in: Dan McCall pm-20190115-pruefergebnis-zur- (Hg.): Melville’s Short Novels. A partei-alternative-fuer-deutschland- Norton Critical Edition, New York afd, gesehen am 17.1.2019. Vgl. 2002, 3 – 34. auch Tillschneiders Konzept vom 12 Vgl. Herbert Marcuse: Islam als dem Fremden und sein Repressive Toleranz [1965], in: Fachverständnis der Orientalistik Robert Paul Wolff, Barrington als «Leitwissenschaft» im Dienste Moore, Herbert Marcuse: Kritik der «Identitären Bewegung»: der reinen Toleranz, 7. Aufl., ders.: Braucht der Islam eine Frankfurt / M. 1970, 91 – 128. Reformation? Gedanken zu einer 13 Herder: Ich möchte lieber unsinnigen Frage. Vortrag auf der nicht. Ideenwerkstatt der Normannia­Ni­ 14 Ebd. belungen in Bielefeld, 25.11.2017, 15 Marcuse: Repressive veröffentlicht am 27.02.2018 auf T oleranz, 116. Tillschneiders YouTube­Kanal, 16 Vgl. Hoppe u. a.: Worüber wir unter dem Titel: Weshalb es Unsinn reden, 172, sowie Sara Ahmed: ist, eine «Reformation» des Islams On Being Included. Racism and Diver- zu fordern, www.youtube.com/ sity in Institutional Life, Durham, DEBATTEN 173 JEANNE CORTIEL / CHRISTINE HANKE London 2012, sowie Wagadu. A index.php?modus=pmanzeige&pm_ die-neue-rechte-von-arnold-gehlen- hoecke-1.4295585; die Wandel­ Journal of Transnational Women’s and id=2938, gesehen am 4.1.2019. bis-botho-strauss/; ders.: Gender barkeit der Einschätzungen und Gender Studies, Nr. 16: Difference 22 Vgl. Antonie Rietzschel: Studies und die «Polarisierung des impliziten Selbstverständ­ that Makes No Difference. The Dreamland Deutschland? Das erste der Geschlechtscharaktere». Ein nisses des Verfassungsschutzes Non­Performativity of Intersectio­ Jahr nach der Flucht. Zwei Brüder aus alter Text verdient es, neu gelesen diskutiert: Tim Wihl: Staatsschutz nality and Diversity. Special Issue, Syrien erzählen, München 2016. zu werden, in: Geschichte der 3.0? Der Verfassungsschutz vor hg. v. Nikita Dhawan, 2016. 23 Vgl. Maria Hendrischke: Gegenwart, dort datiert 24.10.2018, der Tendenzwende, in: Verfas- 17 Vgl. Elizabeth Redden: Wie die Uni Halle mit Identitären geschichtedergegenwart.ch/gender- sungsblog, dort datiert 18.1.2019, Hungary Officially Ends Gender Studenten umgeht, Mitteldeutscher studies-und-die-polarisierung-der- verfassungsblog.de/staatsschutz- Studies Programs, in: Inside Rundfunk Sachsen-Anhalt, dort geschlechtscharaktere-ein-alter-text- 3-0-der-verfassungsschutz-vor-der- Higher Ed, dort datiert 17.10.2018, datiert 10.10.2018, www.mdr.de/ verdient-es-neu-gelesen-zu-werden/; tendenzwende/, beides gesehen www.insidehighered.com/quick sachsen-anhalt/halle/halle/umgang- ders.: Die autoritäre Logik des am 23.1.2019. takes/2018/10/17/hungary-officially- neue-rechte-identitaere-uni-halle- #Populismus, in: Geschichte der 35 Vgl. Judith Butler: Excitable ends-gender-studies-programs, gese­ 100.html, gesehen am 5.1.2019. Gegenwart, dort datiert 23.3.2017, Speech. A Politics of the Performative, hen am 20.1.2019. Keno Verseck 24 Vgl. Maria Hendrischke: geschichtedergegenwart.ch/die- New York 1997. sieht dies als konsequenten Teil Wenn die AfD zu einer Tagung auto ritaere-logik-des-populismus/; 36 Institutionelles Management der autoritären Kulturpolitik über Neue Rechte kommt, ders.: Es fliegen wieder die und Mainstreaming von Gender der gegenwärtigen ungarischen Mitteldeutscher Rundfunk Sachsen- Fetzen. Bedroht politischer Streit und Diversity sind in der feminis­ Regierung, siehe ders.: Warum Anhalt, dort datiert 12.10.2018, die Demokratie?, in: G eschichte tischen Diskussion mit Blick auf Ungarn das Fach Gender Studies www.mdr.de/sachsen-anhalt/halle/ der Gegenwart, dort datiert ihre ausgesprochen ambivalenten an Unis abschafft, in: Spiegel halle/fachtag-neue-rechte-afd- 29.10.2017, geschichtedergegenwart. Effekte vielfach kritisch diskutiert Online, dort datiert 21.8.2018, verein-miteinaner-100.html, gesehen ch/politischer-streit/, alles gesehen worden, vgl. etwa Ahmed: On Being www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/ am 5.1.2019. am 4.1.2019. Included, siehe auch: Wagadu: Dif­ ungarn-gender-studies-soll-an-unis- 25 Vgl. die ZfM­Online­Debatte: 31 Vgl. Maurice Weber: «Free ference that Makes No Difference. verschwinden-warum-a-1223688. GfM (Hg.): Free speech und thinkers welcome!» Die Uni Zürich 37 Universität Bayreuth (Hg.): html, gesehen am 20.1.2019, siehe rechter Populismus, in: ZfM bietet libertären Aktivisten ein Leitbild der Universität Bayreuth: hierzu auch: GfM (Hg.): Gender Online – Debatte, o. D., www.zfm Forum, in: Geschichte der Gegenwart, Mehr als eine Universität, o. D., Studies in Ungarn. Resolution edienwissenschaft.de/online/debatte/ dort datiert 25.11.2018, geschichte www.uni-bayreuth.de/de/universitaet/ der Gesellschaft für Medienwis­ free-speech-und-rechter-populismus, dergegenwart.ch/free-thinkers- profil/leitbild/index.html, gesehen senschaft, in: ZfM Gender Blog, gesehen am 20.1.2019. welcome-die-uni-zuerich-bietet- am 6.1.2019. dort datiert 15.10.2018, www. 26 Vgl. Armin Beverungen, libertaeren-aktivisten-ein-forum/, 38 Vgl. Hochschulrektoren­ zfmedienwissenschaft.de/online/blog/ Marcus Burkhardt, Tatjana Seitz: gesehen am 6.1.2019. konferenz (Hg.): Weltoffene gender-studies-ungarn, gesehen Meinungsfreiheit, rechtspopu­ 32 Vgl. Jule Govrin, Andreas Hochschulen – Gegen Fremden­ am 20.1.2019. listische Netzwerke und nazifreie Gehrlach: Vive la Différence! Wenn feindlichkeit. Bundesweite Aktion 18 Vgl. das breit diskutierte Universitäten. Zum Seminar Linke und Rechte von #Differenz der HRK­Mitgliedshochschulen, Buch zu der Frage: Per Leo, «Denken und denken lassen» von reden, meinen sie nicht das Glei­ dort datiert 11.11.2015, www.hrk. Maximilian Steinbeis, Daniel­ Prof. Dieter Schönecker, in: ZfM che, in: Geschichte der Gegenwart, de/weltoffene-hochschulen, gesehen Pascal Zorn: Mit Rechten reden. Online, dort datiert 14.12.2018, dort datiert 13.6.2018, geschichte am 5.1.2019. Ein Leitfaden, Stuttgart 2017. www.zfmedienwissenschaft.de/online/ dergegenwart.ch/vive-la-difference- 39 David Harvey formuliert 19 Vgl. Volker Weiß: Die meinungsfreiheit-rechtspopulistische- wenn-linke-und-rechte-von-differenz- einen Zusammenhang von autoritäre Revolte. Die Neue Rechte netzwerke-und-nazifreie-universi reden-meinen-sie-nicht-das-gleiche/, Neoliberalismus mit zunehmend und der Untergang des Abendlandes, täten, gesehen am 20.1.2019. Der gesehen am 6.1.2019. autoritären Strukturen, vgl. ders.: Stuttgart 2017. Text ist Teil der Debatte «Free 33 Vgl. Sylvia Sasse, Sandro A Brief History of Neoliberalism, 20 Vgl. z. B. den «Arbeitskreises speech und rechter Populismus». Zanetti: #Postmoderne als Oxford 2007. Rechts» des Duisburger Instituts 27 Vgl. Schüttpelz: Installation Pappkamerad, in: Geschichte 40 Eckpunkte sind hier etwa die für Sprach­ und Sozialforschung, einer Freisprechanlage. Vgl. auch der Gegenwart, dort datiert Notwendigkeit der Einwerbung das schon seit den 1980er Jahren die Positionierung zu einer De­ 11.6.2017, geschichtedergegenwart. von Drittmitteln, die leistungsbe­ dem Ziel folgt, «politische Ent­ batte an der Goethe­ Universität ch/postmoderne-als-pappkamerad; zogene Mittelvergabe, das Prinzip wicklungen auf dem Feld rechter Frankfurt: Hoppe u. a.: Worüber Daniel­Pascal Zorn: Das Gespenst der individuellen Leistungsbe­ Ideologie und rechter Bewegun­ wir reden. der #Postmoderne, in: Geschichte züge, die prekäre Beschäftigung gen langfristig zu beobachten und 28 Vgl. die Website Geschichte der Gegenwart, dort datiert des akademischen Mittelbaus, zu analysieren und die Ergebnisse der Gegenwart, geschichtedergegen 20.6.2018, geschichtedergegenwart. die lange Geschichte der Universi­ seiner Analysen der Öffentlichkeit wart.ch/. ch/das-gespenst-der-postmoderne, tät als ständische Institution und zugänglich zu machen». Siehe 29 Vgl. Editorial, in: Geschichte beides gesehen am 6.1.2019. hierarchische Strukturen. www.diss-duisburg.de/arbeitskreis- der Gegenwart, geschichteder 34 Vgl. den Bericht der Süd- rechts/, gesehen am 3.1.2019. gegenwart.ch/editorial/, gesehen deutschen Zeitung, der offenbar 21 Vgl. Martin­Luther­ am 15.2.2019. Teile des vertraulichen Gutachtens Universität Halle­Wittenberg 30 Vgl. Philipp Sarasin: Der vorliegen: Reiko Pinkert, Georg (Hg.): Fachtag an der Universität alte Hass auf die Aufklärung. Die Mascolo, Ronen Steinke: Dieses Halle: Die Neue Rechte als Neue Rechte von Arnold Gehlen Gutachten zeigt, wie der Verfas­ Herausforderung für die bis Botho Strauß, in: G eschichte sungsschutz die AfD einschätzt, Demokratie, Pressemitteilung der Gegenwart, dort datiert in: SZ.de, dort datiert 21.1.2019, 121/2018, dort datiert 26.9.2018, 16.12.2018, geschichtedergegenwart. www.sueddeutsche.de/politik/ pressemitteilungen.pr.uni-halle.de/ ch/der-alte-hass-auf-die-aufklaerung- gutachten-verfassungsschutz-afd- 174 ZfM 20, 1/2019 — BESPRECHUNGEN — MEDIALISIERUNGEN DES MEERES Aquariengeschichten von NANNA HEIDENREICH Natascha Adamowsky: Ozeanische Wunder. Dingen um die Historisierung des Meeres gerade auch Entdeckung und Eroberung des Meeres in der Moderne, mit Blick auf Mythen und Erzählungen geht. Der oceanic Paderborn (Fink) 2017 turn versucht sich wiederum an der Verflüssigung der Dis­ ziplinen und hydrofeministische Ansätze versuchen sich Mareike Vennen: Das Aquarium. Politiken, Techniken in ‹aquatischen Perspektiven›. Letztere beziehen sich da­ und Medien der Wissensproduktion (1840 – 1910), bei u. a. auf Elaine Morgans Version der aquatic ape­Theo­ Göttingen (Wallstein) 2018 rie,2 nach der die Entwicklung des Menschen eine aqua­ Helmut Höge: Fische, Ostheim / Rhön tische Phase durchlaufen habe und die Morgan dem (Peter Engstler) 2016 geläufigen, wie sie es nannte, tarzanistischen ‹Mann als Jäger›­Stereotyp der Vor­ und Frühgeschichte ent­ — gegensetzte.3 Meere und andere Gewässer machen den Vergeschlechtlichung betrifft alles; nicht, weil die Welt Großteil des ‹blauen Planeten› aus, wobei unser Wissen an sich zweigeschlechtlich wäre (was sie nicht ist), besonders über die Weltmeere, so die gängige Formulie­ sondern weil sie so fundamental zur europäischen rung, weiterhin begrenzt ist. Wie dieses Wissen geschaf­ Geistesgeschichte gehört wie die Idee von Geschichte fen wird, besonders die ‹Entdeckung› und technisch­me­ überhaupt, in der alles, selbst Adapter für Kabel mit der diale Erschließung der Tiefsee seit dem 19. Jahrhundert, gleichen Steckverbindung, am Ende natürlich verge­ soll im Folgenden anhand dreier aktueller Publikationen schlechtlicht erscheint (gender changer). Dies zeigt sich besprochen werden. Für den Blick unter Wasser sind auch in der zweigeschlechtlichen und heteronormativen medienwissenschaftliche Perspektiven insofern zentral, Beschreibung der Tierwelt, auch der unter Wasser.1 Der als unser Zugang zum Meer, wie die Meeresbiologin Blick ins und unter Wasser hat gegenwärtig Konjunktur. und «scientist­poet of the sea»4 Rachel Carson bereits Dies betrifft nicht nur die Meeresforschung in den 1950er Jahren schrieb, nur technisch und das Interesse an den Ressourcen des vermittelt möglich ist, mit Booten, Atemge­ Meeres und der Meeresböden – wie dem räten, Tauchausrüstungen sowie mit Medien Run auf aquatische Biomasse und Mangan­ der Sichtbarmachung, «mechanical eyes»,5 knollen –, auch in den Geisteswissenschaf­ also «technisch­medialen Ermöglichungs­ ten werden neue Forschungsausrichtungen formen» (S. 23), wie Natascha Adamowsky verkündet, wie die Blue Humanities und in ihrer hierfür wegweisenden Studie Ozea- die New Thalassology, denen es vor allen nische Wunder. Entdeckung und Eroberung des 176 ZfM 20, 1/2019 Meeres in der Moderne formuliert. Neben bisher gerne die Form der Faszinati­ Adamowskys Ozeanischen Wundern neh­ onsgeschichte gefunden (vgl. ebd.). Zu me ich hier Mareike Vennens Disserta­ wundersam und zu fantastisch seien tionsschrift Das Aquarium. Politiken, Tech- die Geschichten dieses medialen Ob­ niken und Medien der Wissensproduktion jekts «par excellence» (S. 371). Vennen (1840 – 1910) – beides reich bebilderte versteht unter Faszinationsgeschich­ umfangreiche Schriften – in den Blick te hier nicht ganz überzeugend die sowie Band 10 der dem kleinen Format Erzählung der Aquariumsgeschichte entsprechend betitelten Reihe «Der Klei­ als Erfolgsgeschichte, «als teleologi­ ne Brehm», Helmut Höges Fische.6 sche Fortschrittsgeschichte optimier­ Das Aquarium steht paradigmatisch ter Techniken», der sie den Fokus auf für den Zugang, genauer: die mediale Widerstände, Unfälle, Unschärfe und Vermittlung des Zugangs, zum Unter­ Trübungen entgegensetzt. Besonders wasserraum und zählt zu «den erfolg­ der Schlamm spielt für sie eine wichtige reichsten Medialisierungen des Meeres» Rolle.9 Letztlich ist ihre Studie so zwar (Adamowsky, S. 265). Das Aquarium, eine gelungene Kritik linearer Aquaris­ «der Ocean auf dem Tische»,7 stell­ tikgeschichte, die sich auch in der Dop­ te, wie Vennen mit Christina Wesselys pelung der Perspektiven in der Wie­ Ausführungen zu Wässrigen Milieus ar­ derholung der sieben Kapitel in je zwei gumentiert, die Fantasie eines Konti­ verschiedenen Versionen zeigt (Ein­ nuums dar, ein «Medienwechsel ohne richten, Stabilisieren, Ins Bild bannen, Medienwechsel», das damit selbst zum Rahmen, Erweitern, Aneignen, Mobili­ «watery medium» wird.8 Die Ausblen­ sieren). Sie ist aber dennoch selbst im dung der Künstlichkeit des Aquariums, Modus der Faszination geschrieben, die Naturalisierung seiner medien­ einem Modus, der insofern nicht über­ technischen Bedingungen und die Un­ rascht, als er mit dem 19. Jahrhundert sichtbarmachung des «technisch­medialen Apriori des für den Blick ins Wasser der Weltmeere prägend wur­ Aquariums» (Vennen, S. 371) in den frühen Jahren steht de, wie Natascha Adamowskys Studie ausführt und der daher immer wieder im Zentrum der Studie von Vennen, auch die heutigen ‹aquatischen Perspektiven› infor­ die zunächst als Dissertation verfasst wurde und 2018 miert. Adamowsky beschreibt, wie das Wunder Ozean mit dem Opus­Primum­Preis der Volkswagenstiftung gerade als Phänomen der wissenschaftlich­technischen für die beste wissenschaftliche Nachwuchspublikation Durchdringung der Welt in Erscheinung trat und da­ ausgezeichnet wurde. Das Buch widmet sich der Frage, mit die große Furcht vor den unbekannten Abgründen durch welche Medien und Medienverbünde das Wissen des Meeres abgelöst wurde, und argumentiert, dass über das Leben unter Wasser weitergegeben und damit «Pathos und Triumphausbrüche ob immer weiterer ausgehandelt und stabilisiert wurde (vgl. S. 14). Dabei Bemeisterungen des ozeanischen Raumes» (S. 37) sich durchqueren sowohl das Objekt selbst als auch die Stu­ weit in die Moderne ziehen. Auch die heutige Begeis­ die die unterschiedlichsten Disziplinen, von denen hier terung für die Weltmeere und die zunehmenden wirt­ vor allem die Mediengeschichte naturkundlichen Wis­ schaftlichen Interessen an ozeanischen Ressourcen sens hervorgehoben werden soll (vgl. S. 18). Einen wich­ werden, so würde ich ergänzen, vom Ah­ und Oh­ tigen Raum nehmen dabei epistemische und ästheti­ Format solcher medientechnischer Visualisierungen sche Aneignungen und Transformationsp rozesse ein begleitet, die wir u. a. dem Aquarium verdanken. Der (wobei der Begriff des Epistemischen in Vennens Band durch das Aquarium eingeführte vertikale Schnitt, «der zur Ausbreitung tendiert, wie jene organischen Schweb­ eine Unterwasser­Perspektive sozusagen auf Augen­ stoffe und der Schlamm, die den Bewohnern der ersten höhe der Meeresbewohner installiert» (Vennen, S. 17), Aquarien oft das Leben gekostet haben). Die Wissens­ ist uns zur Normalität geworden.10 Adamowsky und geschichte des Aquariums, so hält die Autorin fest, hat Vennen machen es möglich, die Medialisierungen des BESPRECHUNGEN 177 NANNA HEIDENREICH Aquariums historisch nachzuvollziehen; 11 eine geo­ von Simon Lake) ließen ebenfalls Argonauten auf Tauch­ politische und dekolonisierende Perspektive, die sich fahrt gehen. Vernes Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer gerade der Fortschreibung dieser Faszination selbst (1874, deutsch 1869 / 70) war nicht nur vom Besuch gro­ kritisch nähert, steht jedoch noch aus, wie auch Ven­ ßer Schauaquarien inspiriert, wie Vennen (vgl. S. 303) nen in ihrem Ausblick in Form von Forschungsdeside­ und Adamowsky (vgl. S. 170) ausführen.15 Die Illustrati­ raten zumindest erwähnt.12 Auch Adamowsky deutet die onen des Buches, die ganz wesentlich für seinen E rfolg Notwendigkeit eines Blickwechsels in ihrem Epilog an: waren, trugen wiederum zur Formatierung des Aqua­ Durch die dramatischen Veränderungen der Weltmeere riumsblicks, seiner Vertikalität als heute noch gängige wird das große Staunen heute von einer «mächtige[n] Unterwasserperspektive bei (vgl. Adamowsky, S. 164). Unruhe» (S. 372) abgelöst. Für Adamowsky steht Vernes Nautilus aber auch für Ein weiteres Forschungsdesiderat stellt die Fokus­ die zweite der beiden «wichtigsten m edientechnischen sierung einer geschlechtertheoretischen Befragung S trategien der Ästhetisierung von Wahrnehmungsbedin­ der Unterwasserperspektiven dar. Bei Adamowsky tau­ gungen und Präsentationsformen des Meereslebens», chen Hinweise darauf u. a. in ihrer Detektivgeschichte die der Tauchgeräte (S. 172). Durch die Fensterperspek­ zur Ursprungsfrage des Aquariums auf: Hat es Jeanne tive dieser Unterwasserfahrt präsentiert sich das Meer als Villepreux­Power erfunden 13 oder Robert Warington? «gerahmtes Weltbild» (S. 176), in dem die «Grenzenlosig­ Welche Rolle spielte Anna Thynne? Hat Philip Henry keit des ozeanischen Raumes optisch konzentriert und Gosse Ideenklau bei Thynne betrieben, jener Gosse, der in einen gerahmten Wahrnehmungs­ bzw. Erfahrungs­ im Allgemeinen als Vater des Aquariums bereich überführt» (S. 174) wird – ein gilt, diesen Titel aber nie beansprucht Weltbild, dessen Ins­Bild­Setzung bei hat, und der zumindest dafür sorgte, Verne für Vennen aber auch den Ansatz dass Thynnes Arbeit unter ihrem Namen zu einer Umkehrung der Perspektive publiziert wurde (vgl. S. 246 – 254)? 14 Die bildet, oder zumindest eine «Verun­ wissenshistorische Detektivarbeit bei sicherung der Blickrelation»: Das U­Boot Adamowsky führt auch zu der Frage, als kleines Behältnis im großen Raum wieso bei Vennen die von ihr eingangs des Meeres ist selbst eigentlich Aquari­ konstatierte «ungleiche Verteilung in um, «oder vielmehr V ivarium», das den der Sichtbarkeit der Geschlechter», Blick auf das Aquarium als «Einschlie­ die die gesamte Aquarienliteratur des ßungsarchitektur» zumindest andeutet 19. Jahrhunderts durchzieht, gleich zum (S. 305 ff.).16 Verschwinden von Villepreux­Power aus Wie Biologie, Ökonomie und Ge­ ihrer Studie führt und zur Einsetzung der schichte der Weltmeere erzählt werden, «männlichen Form» in ihrer Monografie konkret vermittelt durch die technische­ (Vennen, S. 27). mediale Ermöglichungsform des Aqua­ Jeanne Villepreux­Power baute ihre riums, lässt sich auch an Helmut Hö­ Aquarienvorläufer, um darin Papierboote ges F ische studieren. Die Serie «Kleiner lebend zu studieren. Papierboote werden Brehm» ist nach Brehms Tierleben benannt, auch Argonauten genannt und verdan­ dem von Alfred Brehm begründeten zoo­ ken ihren Namen ihrer Schale, die eine logischen Nachschlagewerk, das einst papierähnliche Struktur besitzt. Rein Teil jeder gutbürgerlichen Grundausstat­ optisch verwandt sind die Papierboote tung war. Alfred Brehm (1829 – 1884) war den Perlbooten, die zwar auch Kopffüßer u. a. Zoodirektor in Hamburg, wo er für sind, aber keine Oktopoden, sondern der das erste europäische Seewasseraquari­ Gruppe der Kraken zugehörig: Nautilida. um verantwortlich zeichnete, das sowohl Nautilus, so nannte Jules Verne sein Un­ Schau­ als auch Forschungszwecken terseeboot – und spätere Verne­Adaptio­ diente, und von 1866 – 1878 Direktor des nen (Filme, aber auch die Unterseeboote Berliner Aquariums.17 178 ZfM 20, 1/2019 MEDIALISIERUNGEN DES MEERES Jeder Band von Helmut Höges «Klei­ oder durch die beständige Verän­ nem Brehm»18 hat genau 52 Seiten. derung in der Aquarienpopulation). Die Nummer 10 der Reihe besteht zum Höges Anmerkungen, die seinen größten Teil aus Anmerkungen (vgl. Aquarienrundgang begleiten, sind als S. 24 – 51), die die Faszination für das kritische Variante einer solchen aqua­ Medium Aquarium im Hauptteil durch ristischen Praxis zu begreifen. kritische Kommentare ergänzen. Für Mit der Beobachtung, dass die At­ Adamowsky bringen mit Verweis auf traktivität von Aquarien gegenwärtig K. Ludwig Pfeiffer Aquarien, «wie Medi­ steigt, beginnt Höge seine längste en dies eben tun, eine Form gesteiger­ Fisch­Endnote (vgl. Nr. 4, S. 31 – 40). ter Erfahrung mit sich» (S. 276), eben Deren Aktualität bringt er unter Verweis jene Erfahrung, die Höge zunächst in auf Ursula Harter zunächst mit einer Erscheinung treten lässt. Der vermeint­ von dieser konstatierten Konjunktur liche Hauptteil des Buchs ist also der der Ästhetik des Prozessualen und des Nachvollzug eines Aquariumbesuchs. Liquiden in Verbindung. Sie ist aber Eingeführt durch die biografische Per­ auch Teil der Konjunktur der Meeres­ spektive des Autors (der erste Satz biologie, die die Lücken von Hochsee­ lautet: «[Z]u Hause in Bremen besaßen fischerei und Schiffbau füllt und dabei wir ein Aquarium mit Warmwasserfi­ auch in die neokolonialen Interessen schen») und einer kritischen Ausein­ am Ressourcenabbau in der Tiefsee andersetzung mit west­ und ostdeut­ verwickelt ist (vgl. S. 31). Die Hochseefi­ scher Hochseefischerei, wechselt das scherei wurde zunächst in Erzählungen Buch dann zur Perspektive von Werner zum Zwecke ihrer Monumentalisierung Marwedel, der früher das Nordsee­ und Historisierung übersetzt, Erzäh­ Aquarium in Bremerhaven betreut hat lungen, in denen die «darwinistische und nebenbei Mitglied im Verein der Weltsicht in eine kapitalistische» über­ Bremerhavener Aquarienfreunde war. geht, «und beide legitimieren sich ge­ Marwedel wird von Höge und «Wahl­ genseitig» (S. 6). Große Teile von Höges bremerhavener» Burkhard Scherer, den Schreiben nimmt die Darstellung jener Höge in anderen Texten als duck watcher und Küsten­ ökologischen Perspektive ein, für die das Aquarium ein forscher bezeichnet, im Nordsee­Aquarium interviewt, wichtiger Vorläufer ist, wie Vennen in ihrer Studie aus­ «während eines Rundgangs von Becken zu Becken» führt.20 So schreiben sowohl Höge als auch Vennen über (S. 8).19 Dieser Rundgang, eine Abfolge von Zeigegesten Karl August Möbius’ Begriff der Biozönose, den dieser und Beschreibungen, endet mit dem Verweis auf jene im 19. Jahrhundert zur Beschreibung maritimer Lebens­ medien technischen Rahmungen, die bei Vennen und gemeinschaften vorschlug. In der bereits erwähnten An­ Adamowsky im Zentrum stehen. Marwedel erzählt vom merkung 4 führt Höge nicht nur aktuelle Symbiosefor­ Doktorfisch, der eine Süsslippe verletzt hatte, davon soll schung in der Meeresbiologie an, sondern zitiert auch es noch ein Foto geben: «Das kann ich ihnen nachher Beschreibungen von weiteren Autoren des 19. Jahrhun­ mal zeigen» (S. 23). Die Fotografie, die im Buch nur er­ derts, die in Korallenriffen die Ideale der Sozialdemo­ wähnt, aber nicht gezeigt wird, tritt so lediglich als inde­ kratie oder der französischen Revolution eingelöst sa­ xierendes Medium auf, dessen aquaristische Relevanz hen oder den Korallen­Polyp gar als Vorzeigekommunist von Vennen analysiert wird. Wie sie ausführt, ging die bezeichneten. In dieser Anmerkung geht es außerdem Entwicklung des Aquariums mit «aquaristischen Auf­ um Ressourcenausbeutung, um eine Kritik an Darwin, zeichnungspraktiken» (S. 161) einher: Handbücher, aber ums Soziale und Nichtinvasive – und um Frauen, die an­ auch Tafeln, die die (un)sichtbaren Bewohner der Aqua­ ders / Anderes forschen. rien festhielten, die sich beständig dem Blick zu entzie­ Geschlechterforschend wäre noch einiges aus den hen drohten (durch Verunreinigungen, Bewegungen Medien des Meerwassers und deren Tauchfahrten BESPRECHUNGEN 179 NANNA HEIDENREICH ‹hervorzuholen›. So irritiert die Begründung für die Ausblendung von Geschlechterfragen bei Vennen (die ‹Unsichtbarkeit› von Frauen, vgl. S. 27), auch wenn Gen­ der als Forschungsdesiderat ausblickend wieder bei ihr auftaucht. Höges Lesart wässriger Perspektiven ist zwar irgendwie feministisch, aber solcherart, dass Frauen und Männer eine ausgemachte Sache sind und bleiben. Die Zentralität von Geschlechterfragen in Adamowskys detektivischer Untersuchung der Aquariumsgeschich­ te ist für mich Hinweis darauf, dass hier zu «erweitern» wäre, wie Vennen eines ihrer Doppelkapitel betitelt; zumal, wie Adamowsky am Beispiel der Seepocke aus­ führt, Aquarien ein «Theater sich fortlaufend verän­ dernder exotischer Körper, einen Fluss der seltsamsten Metarmophosen und paradoxen Symbiosen, eine Art freak show sensationeller Fortpflanzungs­ und Interakti­ onsmethoden» darstellen, voller «rätselhafter Zustände zwischen Geschlechtern und Seinszuständen» (S. 268). Mir scheint, die das 19. Jahrhundert «verstörenden se­ xuellen Implikationen» (S. 269) bieten sich geradezu an, eine verqueerte 21 geopolitische Geschichte der Un­ terwasserperspektiven zu verfassen, zumal eine, in der auch die Problematik der invasiven Arten (vgl. Vennen, S. 373) eine Reperspektivierung erfährt und die sowohl die gegenwärtige als auch vergangene Faszination für die mediale Erfahrung des Meeresraums auf ihre blin­ den Flecken hin befragt.22 — 180 ZfM 20, 1/2019 MEDIALISIERUNGEN DES MEERES 1 Vgl. Swetlana Hildebrandt: (blogs.taz.de/hausmeisterblog/bio/), schreibt Ursula Harter den Begriff Vergeschlechtlichte Tiere. beides gesehen am 18.1.2019. eindeutig Gosse zu. Vgl. dies.: Eine queer­theoretische Be­ 7 Diese Formulierung stammt Aquaria – in Kunst, Literatur und trachtung der Gesellschaftlichen von dem Begründer der deutschen Wissenschaft, Heidelberg 2014, 19. Mensch­Tier­Verhältnisse, in: Aquaristik, Emil Adolf Roßmäßler, 15 Adamowsky widmet Verne Chimaria – Arbeitskreis für zit. n.: Adamowsky, S. 254. ein großes Unterkapitel. Human­Animal Studies (Hg.): 8 Christina Wessely: Wässrige 16 Siehe dazu auch Harter, Über die gesellschaftliche Natur von Milieus. Ökologische Perspektiven die Roland Barthes zitiert, der Mensch-Tier-Verhältnissen, in Meeresbiologie und Aquarien­ zur Nautilus schreibt, sie sei die Bielefeld 2014, 215 – 242. kunde um 1900, in: Berichte zur ideale Höhle, und «das Genießen 2 Vgl. Luciana Parisi: Being Wissenschaftsgeschichte Nr. 36, der Abgeschlossenheit erreicht Aquatic, in: Mute Vol. 1, Nr. 19, 2013, 128 – 147, zit. n.: Vennen, dann seinen Paroxysmus, wenn es 10.4.2001, www.metamute.org/ S. 99, siehe dort auch Anm. 17. möglich ist, aus dem Schoß dieses editorial/articles/being-aquatic, Zum Medienwechsel siehe beson­ nahtlosen Inneren durch eine gesehen am 18.1.2019. ders auch das Kapitel «Ins Bild große Scheibe das unbestimmte 3 Vgl. Libby Brooks, Elaine Bannen 1» zu den Aquarienlitho­ Außen des Wassers zu sehen und M organ: Interview. Come on grafien, ebd., S. 125 – 143. damit durch ein und dieselbe in – the water’s lovely, in: The 9 Vor allen Dingen im Kapitel Bewegung des Inneren durch sein Guardian, 1.5.2003, www.the «Einrichten II: Meeresbiologische Gegenteil bestimmt zu sehen.» guardian.com/education/2003/ Schlammgeschichte(n). Aquarien Barthes, zit. n.: ebd.: Aquaria, 78. may/01/academicexperts.higheredu als Schauplatz ökologischer 17 Siehe Vennen, S. 326. Brehms cation, gesehen am 18.1.2019. Forschung», S. 317 – 338. Erzählstil, seine zu Lebzeiten Zu den Verfechtern der Wasser­ 10 Zur Aufmerksamkeit der immer wieder als unwissenschaft­ affentheorie zählt auch David Moderne für die Vertikale siehe lich kritisierte Anthropomorphi­ Attenborough, der ansonsten auch Adamowsky, S. 225. sierung der Tierwelt, erfährt heute geradezu paradigmatischen 11 Dabei macht das Aquarium im K ontext von Human­Animal männlichen Erzählstimme des nur einen Teil von Adamowskys Studies eine neue (kritische) Tierfilmgenres, der die These als Studie aus. Sie nimmt auch das Würdigung. ‹Waterside Model› seit 2004 Tauchen, die Unterwasserfoto­ 18 Die Reihe umfasst bislang in einer Reihe von Beiträgen in grafie und Unterwasserfilmauf­ zwölf Bände, neben den Fischen der BBC reformuliert hat. nahmen in den Blick. sind dies Schwäne, Kühe, Affen, 4 Jill Lepore: The Right Way to 12 Vennen erwähnt kolonialge­ Spatzen, Bienen, Elefanten, Gänse, Remember Rachel Carson, in: schichtliche Perspektiven auf die Hunde, Pferde, Rabenvögel und The New Yorker, 26.3.2018, www. Aquariumsgeschichte, die not­ Katzen. Im Frühjahr 2019 erscheint newyorker.com/magazine/2018/ wendige Historisierung aktueller Band 13, Schafe. 03/26/the-right-way-to-remember- Technikutopien sowie die Ausein­ 19 Die erste Frage an Marwedel rachel-carson; den Hinweis auf andersetzung mit den – ökologi­ ist die nach den Aquarianerinnen. diesen Artikel verdanke ich Sybille schen – Folgen der Globalisierung Daraus geht Anm. 8 hervor, Bauriedl und ihrem Blog Klima­ des Handelsverkehrs, dessen die Erzählung der «Nadel im Heu­ debatte: klimadebatte.wordpress. Produkt und Motor die Aquaristik haufen», mit Höges taz­Kollegin com/2018/03/24/the-right-way-to- bildet. Vgl. S. 372 – 374. Siehe dazu Nicola Schwarzmaier. remember-rachel-carson/, beides auch Alexander Kraus, Martina 20 Siehe dazu auch Wessely: gesehen am 18.1.2019. Winkler: Weltmeere. Für eine Wässrige Milieus. 5 Rachel Carson: The Sea Around Pluralisierung der kulturellen 21 Siehe dazu auch Cord Us, Oxford 1951, 7. Meeresforschung, in: dies. (Hg.): Riechelmann: Queere Quallen, 6 Adamowsky ist Professorin für Weltmeere. Wissen und Wahrnehmung in: Jungle World, Nr. 28, 14.7.2016, Medienwissenschaft im Bereich im langen 19. Jahrhundert, Göttin­ online unter jungle.world/ der Digitalen Medientechnologien gen 2014, 9 – 24. artikel/2016/28/queere-quallen, an der Universität Siegen und 13 In diesem Fall steht überdies gesehen am 18.01.2019. Mitglied im Vorstand der Gesell­ der Name zur Verhandlung: 22 Zu den blinden Flecken schaft für Medienwissenschaft Sie publizierte auch unter dem siehe Natalie Lettenewitsch: Fund­ (natascha-adamowsky.de/). Vennen Pseudonym Jeannette Power. Bei stücke aus der Tiefe. Filmische hat im Rahmen des Graduierten­ Adamowsky wird sie als Jeanette Tauch gänge zwischen Naturwis­ kollegs «Mediale Historiographi­ Power de Villepreux geführt, auch senschaft und Geschichte, in: en» an der Universität Weimar der Bindestrich taucht mal auf, González de Reufels, Rasmus promoviert und ist wissenschaft­ mal wieder unter. Greiner, Stefano Odorico u. a. liche Mitarbeiterin am Institut für 14 Während bei Adamowsky (Hg.): Film als Forschungsmethode. Kunstgeschichte der TU Berlin im sowohl Gosse als auch Warington Produktion – Geschichte – Perspek- Rahmen des BMBF­geförderten für die Prägung des Begriffs Aqua­ tiven, Berlin 2018, 79 – 90. Forschungsprojektes «Dinosaurier rium stehen, bei Vennen dazu in Berlin», wo sie u. a. zur Proveni­ keine genauen Angaben gemacht enzforschung von Fossilien arbei­ werden und Höges Aquariums­ tet. Höge ist Autor, Kolumnist und geschichte vor allem im 20. und «Aushilfshausmeister» bei der taz 21. Jahrhundert angesiedelt ist, BESPRECHUNGEN 181 — PREKÄRE ÖKOLOGIEN von STEPHAN TRINKAUS Anna Tsing: Der Pilz am Ende der Welt – Leben in den die deutsche Übersetzung von Anna Lowenhaupt Tsings Ruinen des Kapitalismus [The Mushroom at the End of The Mushroom at the End of the World und der von the World. On the Possibility of Life in Capitalist Ruins], S ebastian Gießmann und Nadine Taha herausgegebene übers. v. Dirk Höfer, Berlin (Matthes & Seitz) 2017 [2015] Band der zentralen Aufsätze von Susan Leigh Star, Grenz- objekte und Medienforschung – zum Anlass nehme, dem Susan Leigh Star: Grenzobjekte und Medienforschung, etwas genauer nachzugehen. hg. v. Sebastian Gießmann und Nadine Taha, Bielefeld In Der Pilz am Ende der Welt folgt Anna Tsing den We­ (transcript) 2017 gen der Matsutakesammler_innen im Nordwesten der Erich Hörl (Hg.), unter Mitarbeit von James Burton: Vereinigten Staaten. Der Matsutakepilz, der sich nicht in General Ecology – The New Ecological Paradigm, London, Plantagen ziehen lässt und am Besten in von ihrer indus­ New York (Bloomsbury) 2017 triellen Vergangenheit gezeichneten Wäldern gedeiht, ermöglicht dort sehr unterschiedliche Lebensweisen — und Praktiken, die allerdings nicht entlang der gängigen «We are witnessing the breakthrough of a new histori­ Integrationsmodi der US­amerikanischen Arbeitsgesell­ cal semantics: the breakthrough of ecology.» (S. 1) Mit schaft verlaufen. Matsutakepilze sind Phänomene, die diesem Satz beginnt Erich Hörl seine Einleitung in dem sich weder den Fantasien eines unberührten Ursprungs von ihm herausgegebenen Sammelband General Eco­ zurechnen lassen, einer Zeit, in der die Welt noch intakt logy. Diese, wie es im Untertitel der Einleitung heißt, war, noch der technomechanisierten, skalierten Welt Ecologization of Thinking 1 bezieht sich nicht nur auf eine der kapitalistischen Effizienz; sie gedeihen – wie der Un­ schon seit längerem anhaltende Welle von Veröffent­ tertitel des Buchs lautet – in den Ruinen des Kapitalismus, lichungen und Konzeptionalisierungen, die sich in ir­ in einer von ihm bereits verheerten Welt. Tsing analy­ gendeiner Weise auf Ökologie beziehen. Es scheint viel­ siert dies als Verwertungskapitalismus, der über seine mehr so, als ließe sich unsere Welt nicht mehr denken, Lieferketten, «eine Übersetzung zwischen nichtkapita­ ja als ließe sich kein Moment dieser Welt mehr denken listischen und kapitalistischen Wertsystemen» leistet. ohne Bezug auf das, was hier Ökologie genannt wird. So entsteht eine Welt, die nicht einfach kapitalistisch ist, Was darunter allerdings zu verstehen ist, erscheint viel sondern – wie Tsing sagt – perikapitalistische Verbin­ weniger gesichert. Weshalb ich hier drei neuere Veröf­ dungen zwischen nichtkapitalistischen und kapitalisti­ fentlichungen – neben Hörls General Ecology sind das schen Ökonomien ermöglicht. 182 ZfM 20, 1/2019 Der Matsutake und seine Lebenswel­ eines gewählt werden, und es kommt ten oder Praxisgemeinschaften sind ge­ darauf an, was sich darunter verstehen wissermaßen kapitalistische Peripherie, lässt, welche ‹Wahl›, welche Praxis es borderlands, in denen sich keine sozial­ hier geben kann. Diese Freiheit wäre demokratischen good life fantasies 2 von demnach eine spezifisch amerikanische einem abgesicherten, erfüllten Leben Form der Verbindung unvereinbarer he­ innerhalb der kapitalistischen Ökono­ terogener Elemente, ein in den Prozes­ mie träumen lassen, die aber auch nicht sen selbst entstehender ethischer Wert, völlig den lückenlosen Dynamiken ka­ der in der Lage ist, die prekären Ökolo­ pitalistischer Rationalität und Effizienz gien und perikapitalistischen Verwer­ unterliegen. Matsutake ist ein Phäno­ tungsketten zu verknüpfen. Tsing bietet men des Waldes, der Verschränkung, dafür ein naheliegendes und dennoch der Relationalität und nicht der Plantage überraschendes Konzept an: «Bei den oder der Fabrik. Zugleich unterläuft er professionellen Matsutake­Sammlern in seiner Abhängigkeit von der Zerstö­ in Oregon ist Freiheit ein ‹Grenzobjekt›, rung, den Ruinen jede Vorstellung von das heißt, ein geteiltes Anliegen, das je­ Fortschritt und linearer Zeitlichkeit. Die doch viele Bedeutungen annehmen und Matsutakewelten sind prekär und sie in unterschiedliche Richtungen führen sind relational, sie sind, könnte man mit kann.» (S. 133) Tsing sagen, prekäre Ökologien. Was Was also ist ein Grenzobjekt? Dar­ die prekären Ökologien des Matsutake ermöglichen, über gibt der Band Genzobjekte und Medienforschung aus ist ‹Freiheit›, da sind sich die heterogenen, mehrfach dem Umfeld des Siegener Graduiertenkollegs «Locating marginalisierten Gemeinschaften der Sammler_inn­ Media» und des dortigen Sonderforschungsbereichs nen und Händler_innen, die südostasiatischen legalen «Medien der Kollaboration» Auskunft, den Sebastian Flüchtlinge, die zumeist illegalen Migrant_innen aus Gießmann und Nadine Taha herausgegeben haben und Lateinamerika ohne Papiere, die traumatisierten Vete­ der viele der wichtigen Aufsätze, die Susan Leigh Star ran_innen der Kriege, die die USA in den letzten Jahr­ allein und mit anderen veröffentlicht hat, nicht nur ver­ zehnten geführt haben, die Hippieaussteiger_innen und sammelt, sondern mit einem Kommentar oder eher einer Matsutakeaficionados, der Matsiman etwa, einig. Eine Respondenz, seinem jeweiligen Echo in der deutschen seltsame, je länger man fragt, immer «fremdartigere» Medienwissenschaft, verbindet. Wobei – und das ist viel­ (S. 105) Freiheit, schreibt Anna Tsing, und sie versucht zu leicht eine recht subjektive Sicht – die Texte von Star für präzisieren: «Freiheit ist der Umgang mit den Geistern in die deutsche Diskussion so unerwartet, irritierend und einer heimgesuchten Landschaft; sie exorziert den Spuk folgenreich sind, dass die Notwendigkeit eines Echos aus nicht, sondern arbeitet mit feinem Gespür daran, ihn zu der deutschen Medienwissenschaft nicht unbedingt nö­ überleben und mit ihm umzugehen.» (Ebd.) Freiheit ist tig erscheint. Mitunter drängt sich der Eindruck auf, dass hier ganz offensichtlich nicht etwas, das aus der Prekari­ die deutschen Begleittexte geradezu Zeugnis ablegen tät der Lebensverhältnisse herausführt oder sich ihr nur von der fehlenden deutschen Rezeption Stars (nicht nur) entgegensetzt, sie scheint durchaus gebunden an die­ in der Medienwissenschaft. Um so verdienstvoller natür­ se Unsicherheit. Wobei es sich hier keineswegs um die lich ist das Unternehmen dieses beachtlichen Bandes. gleiche Unsicherheit, die gleiche Prekarität handelt: Die Was aber nun ist dieses Grenzobjekt, das bei Tsing unterschiedlichen Kollektive, die sich nicht nur um die nur kurz, fast beiläufig, aber doch an zentraler Stelle, verschiedenen Stationen des Matsutakehandels bilden, an einem Punkt erscheint, an dem sich entscheidet, was unterscheiden sich grundlegend voneinander. ‹Freiheit›, eine prekäre Ökologie sein kann? Die gängigen Ausle­ das Versprechen, das die USA verkörpert, verbindet sie. gungen des Begriffs und wohl auch Star selbst, würden So wie es ein «Lao­Aufkäufer» ausdrückt: «In Frankreich «Freiheit», selbst ein Konzept also, wohl nicht als Gren­ gibt es zweierlei: Freiheit und Kommunist. In den USA zobjekt fassen. Im ältesten Text des Bandes, «Institutio­ gibt es nur eines: Freiheit.» (S. 132) Hier kann also nur nelle Ökologie, ‹Übersetzungen› und Grenzobjekte» von BESPRECHUNGEN 183 STEPHAN TRINKAUS 1989 stellen Star und James R. G riesemer Hier geht es nicht direkt um das Gren­ das Konzept des Grenzobjekts im Rah­ zobjekt, es geht aber um das, worauf das men ihrer Studie zur Geschichte des Grenzobjekt antwortet: ein Konzept des Museum of Vertebrate Zoology in Ber­ Sozialen als nichtkonsensuelle Verbin­ keley vor: In diesem Kontext handelt es dung einander heterogener Welten. Ein sich um Objekte, die es ermöglichen, Sozial­, Modular­ und Bio­McDonald’s einander völlig heterogene soziale Wel­ wäre gerade der Versuch, diese «Man­ ten oder Praxisgemeinschaften, Samm­ nigfaltige Marginalität» (S. 268) des So­ ler_innen, Mäzen_innen, Wissenschaft­ zialen auszulöschen. Star geht es genau ler_innen, Besucher_innen etc., in das um diese Marginalität: gemeinsame Projekt eines Naturkunde­ museums einzubinden, ohne einen Kon­ Uns interessiert vielmehr das Ent­ sens zwischen ihnen herstellen zu müs­ fernen der Zwiebeln, das Ich, das sen.3 Grenzobjekte dürfen als solche also sich gerade der Gruppe zur Er­ gerade nicht genau definiert sein, sie haltung der Familienunternehmen müssen Spielräume bieten, die anderen angeschlossen hat, das bislang Un- Anschlüssen stattgeben. Das, was Gren­ etikettierte. Dies sind nicht die Ent­ zobjekte zu leisten vermögen, hängt also gerade von rechteten, die an irgendeinem Punkt ihrer Marginalität ab, ihrer nicht völligen Bestimmtheit, als «Zielgruppe» angesprochen werden, und auch ihrer – wie Star in einem anderen Aufsatz sagt – schlech­ nicht als residuale Kategorie, die von den gegen­ ten Strukturiertheit (vgl. S. 131). In ihrem vielleicht be­ wärtigen Marketingtaxonomien nicht abgedeckt kanntesten Text «Macht, Technik und die Phänomenolo­ wird. Diese sind das, was sich permanent entzieht gie von Konventionen – Gegen Zwiebeln allergisch sein» und widersetzt und gleichwohl in Beziehung zum entfaltet sie das (wissenschafts­)politische Potenzial des Standardisierten steht. Das ist nicht Nonkonformi­ Grenzobjektekonzepts bzw. das Potenzial des Ansatzes, tät, sondern Heterogenität. Oder um es mit Donna dem das Grenzobjektekonzept entstammt, anhand des Haraway zu formulieren: Dies ist das Cyborg­Ich. Problems, (nicht nur) in einer McDonald’s­Filiale eine für (S. 255, Herv. i. Orig.) sie und ihre Zwiebelallergie angemessene Infrastruktur vorzufinden, die in der Lage ist, ein Essen ohne Zwiebeln Grenzobjekte sind in diesem Sinne keine Cyborgs, sie zu servieren. Dabei geht es ihr ausdrücklich nicht um ermöglichen es uns aber, Cyborgs zu bleiben, margi­ Flexibilisierung, Modularisierung oder bessere Informa­ naler, uneindeutiger, heterogener zu werden, an den tionsverarbeitung, eher im Gegenteil: Standards teilzuhaben, ohne selbst standardisiert zu werden. Sie sind Anschlüsse an Standardisierung, die Nehmen wir einmal an, McDonald’s würde eine Tech­ keine Standardisierung des Angeschlossenen verlan­ nik entwickeln, dank derer es vegetarische Gerichte gen, unbestimmt genug, heterogene Kooperation zu anbietet, Salz optional macht, eine an jede Filiale an­ ermöglichen. Diese bedingte Unbedingtheit, könnte geschlossene koschere Küche hat, sich aus eigenen man vielleicht sagen, hat Star zusammen mit Geoffrey Biobauernhöfen versorgt, ein Essen­auf­Rädern­Pro­ Bowker zu einem Konzept der Grenzinfrastrukturen gramm sowie eine kostenlose Armenküche betreibt ausgebaut. Grenzinfrastrukturen wären demnach und alle modularen Wahlmöglichkeiten anbietet, nichtstandardisierende standardisierte, vielleicht welche Zutaten hinzugefügt oder weggelassen wer­ schlecht standardisierte, eben marginale Ermögli­ den. Von dem Tag an würde ich der Liga zum Schutz chungen von Andersheit. Sie erlauben das Bewohnen kleiner Familienbetriebe beitreten und würde, im­ der borderlands zwischen den Welten, indem sie deren mun gegen die Verlockungen von McDonald’s, keine Alterität, ihre Nichtgegebenheit im Spiel halten. Star ihrer Filialen mehr betreten. Ich habe nämlich ein Ich und Bowker verweisen so auch ausdrücklich auf Gloria hinzugefügt, für das McDonald’s blind ist, das sich Anzaldúas «La conciencia de la mestiza».4 Grenzinfra­ aber auf meinen Umgang mit ihm auswirkt. (S. 253) strukturen, das wäre jedenfalls ihr politischer / ethischer 184 ZfM 20, 1/2019 PREKÄRE ÖKOLOGIEN Einsatz bei Star und Bowker, gestatten das Überleben Erich Hörl arbeitet schon seit einiger Zeit an diesen Fra­ der Vieldeutigkeit und Mannigfaltigkeit der Mestiza / gen und hat darauf eine (medien­)historische und phi­ Cyborg, die vielen Welten angehören kann, pluriversal 5 losophische Antwort gegeben, die er Die technologische und nicht völlig bestimmbar. Bedingung 7 genannt hat. Er sieht die Heraufkunft eines neuen ökologischen Paradigmas untrennbar mit der Anna Tsing vergleicht am Ende ihres Buches den Wald, Frage der Technik, mehr noch: mit der Technologisie­ für den «man aber unentwegt arbeiten muss, nicht um rung der Welt, verbunden. Das ökologische Paradigma ihn zu einem Garten zu machen, sondern um ihn of­ handelte demnach auch nicht von der durch Technik fen und einer Vielzahl von Arten zugänglich zu halten» gestörten Balance der Naturverhältnisse, sondern – im (S. 382), mit der intellektuellen Arbeit. So lassen sich Gegenteil – von ihrer Technologisierung. Ökologie be­ wohl auch Grenzinfrastrukturen und die Aktivität, die sie zeichnet bei Hörl also gerade nicht einen aus der Natur erfordern, verstehen: Die Welten offen halten, für ihre zu ziehenden Sinnzusammenhang, sondern die Entfal­ Begegnung mit anderen Welten, ja für ihre Kooperati­ tung der ökologischen Grundlosigkeit der Welt. General on und «spielerische Zusammenarbeit». (Ebd.) Das gilt Ecology heißt denn auch der Sammelband, den er 2017 für den Matsutakewald, die wissenschaftliche Arbeit und mit James Burton bei Bloomsbury herausgegeben hat. Es vor allem für die digitalen Informationssysteme, die wir handelt sich hier folglich auch um eine Fortsetzung des bewohnen, die uns Cyborgs hervorbringen und auf die 2011 bei Suhrkamp erschienenen Bandes zur technologi- sich Star in ihren Texten immer stärker bezieht. Nicht nur schen Bedingung,8 und es erscheint mir durchaus erwäh­ in dem gemeinsam mit Karen Ruhleder verfassten Text nenswert, dass es neben Bernard Stiegler und Frédéric «Schritte zu einer Ökologie von Infrastruktur» macht Star Neyrat keine weiteren Überschneidungen in den – vor­ das deutlich: Die Arten und Weisen, in denen (Grenz­) sichtig gesagt – eindrucksvollen Autor_innenlisten der Infrastrukturen designt werden, entscheiden nicht nur beiden Bände gibt. (Erwähnenswert ist aber sicher auch, über die Bewohnbarkeit der vielen Welten, denen wir dass die Quote nichtmännlicher Autor_i nnen sich bei angehören, sondern vor allem darüber, wie sie sich beiden Bänden von dem Verhältnis zwei zu zwölf auf begegnen und miteinander kooperieren können, wie nun drei zu zwölf gesteigert hat.) Auch in General Ecolo- Welten verfasst sein können, die auf ihrer eigenen Ver­ gy kommen also wesentliche (aber eben überwiegend änderbarkeit, Verletzbarkeit, Prekarität männliche) Stimmen jener technikphilo­ gründen. Gabriele Schabacher weist in sophischen Debatte zu Wort, auf die Hörl ihrem Kommentar zu diesem Text darauf seine Diagnose stützt und mit denen er hin, dass Ökologie hier nicht einfach die sich in den letzten Jahren ausgetauscht Lehre von der Umgebung ist (vgl. S. 410). hat.9 Es ist im Rahmen dieses Reviewes­ Ökologie bezeichnet, so würde ich es says nicht möglich, der Vielzahl der hier verstehen, die relationale Bezogenheit versammelten mit­, gegen­ und neben­ der vielen Welten, die nicht in der Stan­ einander arbeitenden Argumentationen dardisierung und Homogenisierung der gerecht zu werden. Hörl gelingt in seiner «One­World World»6 aufgeht. «Was für umfassenden Einleitung aber gerade in eine Ökologie und Verteilung von Leiden der Vorstellung der einzelnen Texte eine wird es geben?» (S. 198), fragen Star und grundlegende, intensive Einführung in Bowker am Ende ihres Grenzinfrastruk­ die mitunter labyrinthischen Probleme turentextes. Das ist sicher die Frage, die und Fragestellungen des ökologischen sich im digitalen 21. Jahrhundert in einer bzw. technoökologischen Denkens mit Dringlichkeit stellt, wie wir sie bisher nur und ohne Natur. Was jedoch schnell erahnen können. Wir müssen sie aber deutlich wird: Es passiert etwas mit denken, ihr antworten, unsere Fähigkeit, dem Ökologiekonzept, wenn es zu ei­ ihr zu antworten, entwickeln: Grenzinf­ nem Paradigma und einer historischen rastrukturen designen, die die Prekarität Epoche umgedeutet wird. So scheint unserer Welten halten. es, als benutze Hörl das Konzept einer BESPRECHUNGEN 185 STEPHAN TRINKAUS allgemeinen Ökologie genau andersherum, als Jacques schließt der Band mit Brian Massumis Versuch einer Derrida es in seinem Bataille­Aufsatz zu dessen allge­ Verschränkung von Raymond Ruyers Philosophie da la meiner Ökonomie getan hatte. Überbordet dort die «ir­ valeur mit Guattaris in Chaosmose angedachter Ökologie reversible Verausgabung» das Konzept der Negativität des Virtuellen, um so etwas wie eine von der Erfahrung im Hegel’schen System,10 so sieht es mitunter so aus, als ausgehende, nichtuniversale und durchaus auch nicht­ ob Hörls Projekt gerade in der Historisierung und Syste­ menschliche Theorie des Werts zwischen Ökologie und matisierung einer wilden, partialen, technonatürlichen Ökonomie zu gewinnen. In diesem Sinne situiert Mas­ Ökologisierung bestünde. Bataille und Derrida werden sumi die virtuelle Ökologie des Werts auch in den Über­ natürlich auch Thema in General Ecology, zentral bei­ gängen der von Guattari vorgeschlagenen drei Ökologi­ spielsweise im Aufsatz von David Wills. Und auch James en des Umweltlichen, des Mentalen und des Sozialen:13 Burton kommt auf die Differenz zwischen beschränkter und allgemeiner Ökonomie zurück und am Ende auch The theory of value […] aims less at these systems auf jene grundlegende Unterscheidung, die sich meines per se than at their processual turnover into each Erachtens im Zusammenhang einer allgemeinen Ökolo­ other, and together into new postcapitalist patter­ gie dahinter verbirgt: Gibt es ein Außen der Ökologie, nings of experience, each a value in itself, such as it hat sie eine Geschichte, einen bestimmbaren Ort? Die is, as well carrying other­onward an immeasurably Frage des Naturverhältnisses oder eher der Gaiahypo­ augmented intensity of virtual complexions, red ripe these von James Lovelock und Lynn Margulis kehrt hier for experiential adventure beyond the human com­ auf verschobene Weise wieder: Ist Ökologie die blaue pass. (S. 365) Murmel unseres Planeten, ein begrenzbares, aus dem Nirgendwo beobachtbares und bestimmbares System, Dieser letzte Satz in General Ecology stellt die Frage si­ oder bezeichnet das Ökologische nicht vielmehr die Ir­ cherlich noch einmal etwas anders, und es macht reduzibilität, Partialität und Nichtgegebenheit der Rela­ e inen Unterschied, ob sie als ein «Abenteuer jenseits tion oder der Relationalität des worldings, zu der es kein des menschlichen Kompasses» erscheint oder ob sie Außen gibt? 11 Das ist womöglich – und in den Texten von von der Verteilung der Leiden handelt. Dennoch und General Ecology gibt es viele Hinweise darauf – genau deshalb möchte ich gerne zu der Fassung von Star und die Unterscheidung zwischen einer be­ Bowker zurückkehren: Welche Ökologi­ schränkten und einer allgemeinen Öko­ en, welche Verteilung von Leiden, wird logie. (Allgemeine) Ökologie ließe sich es unter den Bedingungen der Digita­ dann nicht auf die Frage der Umwelt lisierung und – so ließe sich mit Tsing und des Gleichgewichts begrenzen, son­ hinzufügen – Prekarisierung geben? Der dern bezeichnete – wie Hörl durchaus Beitrag von Luciana Parisi in General Eco- kritisch anmerkt – den Exzess der Rela­ logy entwickelt eindringlich, dass sich tion, nicht im Sinne eines Alles­ist­mit­ mit der massiven umweltlichen Expan­ allem­verbunden, sondern im Sinne ei­ sion der algorithmischen Prozessualität nes Ausgehens von der Relation selbst, eine grundlegende Transformation des ihrer Vorgängigkeit vor den Relata, ihrer worldings und des ‹Umweltlichwerdens Alterität, ihrer Unbindbarkeit. von Macht› vollzieht, die – Parisi zufol­ Hörl borgt sich den Begriff der Gene- ge – mit der Auslöschung von Alterität ral Ecology allerdings weniger von Batail­ einhergehen könnte. Vielleicht bezeich­ le und Derrida als von dem radikal nicht­ net die Digitalisierung aber doch einen hegelianischen Denken Félix Guattaris,12 ökologischen Exzess, der unsere auf in dem sich die Frage des Exzesses und universalen Gegebenheiten beruhende des Überbordens auch noch in einem Welt verunmöglicht, die das koloniale anderen Sinne stellt: als eine Frage Projekt der homogenen Modernisierung des Zusammenhangs von Prozessuali­ eine Zeitlang durchzusetzen vermochte, tät und Virtualität. Dementsprechend so wie die prekarisierte Arbeitswelt die 186 ZfM 20, 1/2019 PREKÄRE ÖKOLOGIEN Agentialität der good life fantasies des ‹sozialdemokrati­ 1 Eine erste Fassung dieser 10 Jacques Derrida: Von der schen› Zeitalters außer Kraft setzt. Wir brauchen andere, Einleitung ist bereits in dem von beschränkten zur allgemeinen Petra Löffler und Florian Sprenger Ökonomie. Ein rückhaltloser heterogene, nichtkoloniale und nichtmännliche Prozes­ verantworteten ZfM­Schwerpunkt Hegelianismus, in: ders. Die Schrift se des Weltens, die die algorithmische Prozessualität «Medienökologie» erschienen: und die Differenz, Frankfurt / M. queeren und mit anderen Prozessen verschränken: Wir vgl. Erich Hörl: Die Ökologisie­ 1976, 380 – 421, hier 392. rung des Denkens, in: Zeitschrift 11 Siehe dazu auch: Alexander brauchen Cyborgs.14 Stars Konzept der Grenzobjekte für Medienwissenschaft, Nr. 14, Friedrich, Petra Löffler, Niklas und ­infrastrukturen sowie der (Nicht­)Standardisierung 2016, 33 – 45. Scharpe u. a.: Ökologien der verstehe ich in diesem Sinne: als Ethico­Onto­Episte­ 2 Vgl. Lauren Berlant: Cruel Erde – Zur Wissensgeschichte und Optimism, Durham 2011. Aktualität der Gaia-Hypothese, mologien 15 oder auch als immanente, nichtuniversale 3 Aus diesem Text, also aus Lüneburg 2018. Konzeption des Werts, wie sie Massumi mit Guattari und dem Museumskontext, stammt 12 Vgl. Félix Guattari: Die drei auch jene Liste der «vier Arten von Ökologien, Wien 1994, und ders.: Ruyer vorschlägt oder wie sie Tsing in den ökologisch­ Grenzobjekten», die immer wieder Chaosmose, Wien, Berlin 2014. ökonomischen Knotenpunkten des Perikapitalismus zu ihrer Bestimmung herange­ 13 Brian Massumi: Virtual eco­ ausmacht. Ökologie oder auch allgemeine Ökologie zogen wird: 1. Repositorien, 2. Ideal- logy and the question of value, in: typus, 3. sich überlagernde Grenzen, Hörl: General Ecology, 345 – 373. könnte also bedeuten, auf die heterogene Grundlosig­ 4. standardisierte Formulare. Vgl. 14 Siehe dazu: Lisa Handel: keit der Welt, der Relation, zu setzen, die zwar nicht Star 106 f. Ontomedialität – Eine medienphiloso- von den machtvollen Dispositiven oder Gefügen zu 4 Vgl. Gloria Anzaldúa: La phische Perspektive auf die aktuelle conciencia de la mestiza. Towards Neuverhandlung der Ontologie, trennen ist, die unsere Welt derzeit überwältigen, ja a New Consciousness, in: dies.: Bielefeld 2019. die mit der algorithmischen Kolonialisierung des Um­ Borderlands / La Frontera: The New 15 Vgl. Karen Barad: Meeting weltlichen / des Molekularen selbst eine Technologie der Mestiza, San Francisco 1987. the Universe Halfway, Durham, 5 Vgl. Arturo Escobar: Designs London 2007. Homogenisierung zu werden scheint,16 die aber zugleich for the Pluriverse – Radical 16 Siehe dazu Florian Sprenger: immer schon Verschränkung mit anderen und Anderem, Interdependence, Autonomy, and Epistemologien des Umgebens. nichtgegeben und dennoch irreduzibel, gespenstisch the Making of Worlds, Durham, Zur Geschichte und Biopolitik künst- London 2017. licher environments, Bielefeld 2019 ist. Anna Tsings Ökologien des Matsutake können hier 6 Vgl. John Law: What’s Wrong (im Erscheinen). vielleicht einen Hinweis geben. So schreibt Tsing im Pro­ with a One­World World?, in: Distinktion: Journal of Social Theory, log zu Der Pilz am Ende der Welt von «störungsbasierten Öko- Vol. 16, Nr. 1, 2015, 126 – 139. logien, in denen mitunter zahlreiche Arten ohne Harmonie, aber 7 Vgl. Erich Hörl (Hg.): Die tech- auch ohne Eroberungsversuche zusammenleben» (S. 19, Herv. nologische Bedingung, Berlin 2011. In der Danksagung zu General i. Orig.). Dies wäre meines Erachtens der Einsatz prekä­ Ecology wird darauf hingewiesen, rer Ökologien: nicht die Balance, das Gleichgewicht, die dass es sich bereits um den Stabilität zu halten, sondern ihre Instabilität, ihre Prekä­ dritten Band einer Reihe handelt. Darin erschien zuerst: ders., rität und Marginalität, die letztlich nichts anderes sind Michael Hagner (Hg.): Die Transfor- als Exzesse der Irreduzibilität der Relation. mation des Humanen: Beiträge zu — einer Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt / M. 2008. 8 Erich Hörl (Hg.): Die techno- logische Bedingung. Vgl. auch: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Nr. 8: Medienästhetik, hg. v. Erich Hörl, Mark B. Hansen, 2013. 9 Diese Runde ist so illuster, dass sie hier immerhin aufgeführt werden soll: Neben Hörl, Burton, Neyrat und Stiegler finden sich darunter Luciana Parisi, Didier Debaise, Jussi Parikka, Bruce Clarke, Cary Wolfe, David Wills, Elena Esposito, Timothy Morton, Matthew Fuller, Olga Goriunova und Brian Massumi. BESPRECHUNGEN 187 — AUTOR_INNEN Christoph Engemann ist Medienwissenschaftler und Post­Doc für Gesellschaft & Digitalisierung an der Fakul­ tät Medien an der Bauhaus­Universität Weimar. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medien der Staatlichkeit, Genealogie der Transaktion, Ruralität und Scheunen. Daniel Eschkötter ist Film­ und Medienwissenschaftler, Redakteur der ZfM, regelmäßiger Beiträger für CARGO Film / Medien / Kultur und forscht aktuell zu Filmphantom­ theorie, Gesellschaft in Serie, Medien und Substanzen und Re­education als Kinokomplex. Zwei aktuelle Publi­ kationen: in gemeinsamer Autorschaft mit Lukas Förster, Lena Appenzeller lebt und arbeitet als Grafikdesigne­ Nikolaus Perneczky, Simon Rothöhler, Joachim Schätz: rin mit dem Schwerpunkt Printmedien in Berlin. Sie hat Amerikanische Komödie. Kino | Fernsehen | Web, Berlin (Kad­ Visuelle Kommunikation an der Universität der Künste mos) 2016; The Dis / rupture of Film as Skin. Jean­Luc Berlin studiert und war im Anschluss in unterschiedlichen Nancy, Claire Denis, and Trouble Every Day, in: Lars Koch, Redaktionen tätig. An der Gestaltung der ZfM arbeitet sie Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.): Disruptions in the Arts, seit Ausgabe 7 mit und verantwortet diese seit 2014 ganz. Berlin, Boston (De Gruyter) 2018. Ulrike Bergermann ist seit 2009 Professorin für Medien­ Dennis Göttel hat die Juniorprofessur für Geschichte wissenschaft an der HBK Braunschweig; zuvor SFB und Geschichtsschreibung der technischen Bildme­ «Medien und kulturelle Kommunikation» Köln, an der dien am Institut für Medienkultur und Theater an der Ruhr­Universität Bochum und der Universität Paderborn. Universität zu Köln inne; zur Zeit Vertretung der Pro­ 2007 – 2011 im GfM­Vorstand – mit der Gründung der ZfM fessur für Kulturgeschichte des Wissens am Institut für 2009 – und im DFG­Lenkungsgremium Medienwissen­ Geschichtswissenschaft und Literarische Kulturen der schaft 5/2010 – 10/2017. Schwerpunkte: Gender Studies, Leuphana Universität Lüneburg. Aktuelle Forschungs­ Postkoloniale Theorie, Wissenschaftstheorie. Publikatio­ projekte: Gattungsgeschichte des Making­ofs; Kultur­ nen etc.: www.ulrikebergermann.de geschichte des Flipperautomaten. Jüngste Publikation: Pinball Politics, or, Cisgression, in: Katja Müller­Helle Paolo Caffoni ist Verleger bei Archive Books, Gründungs­ (Hg.): The Legacy of Transgressive Objects, Berlin (August) mitglied von Archive Kabinett in Berlin und unterrichtet 2018, 39 – 64. Verlagswesen an der Nuova Accademia di Belle Arti in Mailand. 2018 hat er die 2. Yinchuan Biennale (China) Naomie Gramlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in ko­kuratiert. der Europäischen Medienwissenschaft an der Univer­ sität Potsdam. Ihre Promotion beschäftigt sich mit Jeanne Cortiel ist Professorin für Amerikanistik an der Medien und Energien aus einer postkolonialen Pers­ Universität Bayreuth. Schwerpunkte: Amerikanische Lite­ pektive. Ihre Forschungsschwerpunkte sind feministi­ ratur des 19. Jahrhunderts, Science Fiction Studies, Pub­ sche Methoden, medienökologische Ansätze und die likationen: With a Barbarous Din: Race and Ethnic Encounter Rohstoffvergessenheit der Medien­ und Kulturtheorie. in Mid-Nineteenth-Century American Literature, Heidelberg Zuletzt erschien von ihr: Sticky Media. Encounters with (Winter) 2016; Knowledge on Edge: Resident Evil, Femi­ Oil through Imaginary Media Archaeology, in: communi- nism, and the Rescue of the Female Child, in: Christian cation +1, Vol. 7, Nr. 1, 2018, 1 – 26. Sie arbeitet als Redak­ Kloeckner, Sabine Sielke, Simone Knewitz (Hg.): Know- tionsassistentin für die ZfM. ledge Landscapes North America, Heidelberg (Winter) 2016, 249 – 268; Risk and Feminist Utopia: Radicalizing the Fu­ ture, in: American Journal of Economics and Sociology, Vol. 77, Nr. 5, 2018, 1353 – 1376. 188 ZfM 20, 1/2019 Annika Haas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG­ Rosalind C. Morris ist Anthropologin, Kulturtheoretike­ Graduiertenkolleg «Das Wissen der Künste» an der Uni­ rin und Medienkünstlerin. Sie lehrt als Professorin am versität der Künste Berlin und forscht zu den ästhetischen Department of Anthropology der Columbia University, Dimensionen der Theorie bei Hélène Cixous. Seit 2016 ist New York. Sie hat zur Geschichte von Moderne, Massen­ sie Redaktionsassistentin der ZfM. Zuletzt erschien: Hg. medien und Mediumismus in Südostasien geforscht und mit Sarine Waltenspül: Windtunnel Bulletin no. 7, Zürich arbeitet aktuell an einer vielformatigen Ethnografie der (ZHdK) 2018; Ihre erste unterbrochene durchgängige Sozialleben industrieller wie informeller Goldminenar­ L inie. Hélène Cixous’ Ameisentheorie, in: dies., Jonas beit in Südafrika. Zu aktuellen Publikationen zählen: mit Hock, Anna Leyrer, Johannes Ungelenk (Hg.): Widerstän- William Kentridge: That Which Is Not Drawn. Conversations, dige Theorie. Kritisches Lesen und Schreiben, Berlin (neofelis) 2014, und Accounts and Drawings from Underground, 2015, 2018, 235 – 243. beide Kalkutta (Seagull Books), sowie mit Daniel H. Le­ onard: The Returns of Fetishism: Charles de Brosses and the Christine Hanke ist Professorin für Digitale und Audiovi­ Afterlives of an Idea, Chicago (Univ. of Chicago Press) 2017. suelle Medien an der Universität Bayreuth, Schwerpunk­ te: Medientheorie und STS, Medien des Widerstands. Brigitta Kuster ist Kulturwissenschaftlerin, Künstlerin Publikationen: Texte – Zahlen – Bilder: Realitätseffekte und und Juniorprofessorin für Filmforschung mit Schwer­ Spektakel, Bremen 2010; Alles nur Programm? Überlegun­ punkt Gender an der Humboldt­Universität zu Berlin. gen zum Unprogrammierten der Medien(wissenschaft), Ihre Schwerpunkte liegen auf film­ und bildwissenschaft­ in: Dieter Mersch, Joachim Paech (Hg.): Programm(e) der lichen Themen, Post­ und Antikolonialismus sowie Mig­ Medien, Berlin (De Gruyter) 2014; Figuren und Kanäle po­ rations­ und Grenzregimeforschung. Jüngste Buchver­ litischen Widerstands – Zum Verhältnis von Medien und öffentlichungen: Grenze filmen. Eine kulturwissenschaftliche Versammlung in den Gezi­Protesten der Türkei, in: Maske Analyse audiovisueller Produktionen an den Grenzen Europas, und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theater-, Film- und Bielefeld (transcript) 2018, und Choix d’un passé – transna- Medienwissenschaft, Nr. 60, H. 2, 2014, 111 – 124. tionale Vergegenwärtigungen kolonialer Hinterlassenschaften, Wien (transversal texts) 2016. Nanna Heidenreich ist seit Herbst 2016 Professorin für Digital Narratives / Theory an der ifs internationale Britta Lange ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am In­ filmschule köln. Daneben Kuratorin u. a. für das Forum stitut für Kulturwissenschaft der Humboldt­Universität Expanded bei der Berlinale (2009 – 2017) und das Haus zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte der Kulturen der Welt Berlin (2015 – 2017). Mehr unter des 19. bis 21. Jahrhunderts, Geschichte und Theorie des nannaheidenreich.net frühen Films und früher Tondokumente, Konzepte des Sammelns und Ausstellens, koloniale und postkoloniale Till A. Heilmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Konstellationen. Jüngste Publikationen: Archival Silences Universität Bonn. Forschungsschwerpunkte: Digitalität as Historical Sources: Reconsidering Sound Recordings of als Kulturprinzip; Digitaltechnik und Arbeit; nordame­ Prisoners of War (1915 – 1918) from the Berlin Lautarchiv, rikanische und deutschsprachige Medienwissenschaft; in: SoundEffects: An Interdisciplinary Journal of Sound and Schriftlichkeit und Algorithmus; Standardisierung und Sound Experience, Vol. 7, N. 3, 46 – 60; Lemma «Kulturwis­ Normierung. Publikationen u. a.: Die Oberflächlichkeit senschaft», in: Daniel Morat, Hansjakob Ziemer (Hg.): des Digitalen, in: Christina Lechtermann, Stefan Rieger Handbuch Sound. Geschichte – Begriffe – Ansätze, Stuttgart (Hg): Das Wissen der Oberfläche, Berlin, Zürich ( diaphanes) (Metzler) 2018, 113 – 119. 2015; Handschrift im digitalen Umfeld, in: Osnabrücker Bei- träge zur Sprachtheorie, Nr. 85, 2014; «Tap, tap, flap, flap.» Ludic Seriality, Digitality, and the Finger, in: Eludamos. Journal for Computer Game Culture, Vol. 8, Nr. 1, 2014, 33 – 46. www.tillheilmann.info AUTOR_INNEN 189 Petra Löffler lehrt an der Humboldt­Universität zu Florian Sprenger ist Juniorprofessor für Medienkultur­ Berlin Wissens­ und Kulturgeschichte und forscht zu wissenschaft an der Goethe­Universität Frankfurt. For­ Medienarchäologie, Archivpraktiken und Ökologie der schungsschwerpunkte: Geschichte der Medientheorie, Materialien und ist Redaktionsmitglied der ZfM. Aktu­ künstliche Environments im 20. Jahrhundert, Infrastruk­ elle Veröffentlichungen: mit Winfried Gerling, Susanne turen der Überwachung in der Gegenwart. Er ist Redakti­ Holschbach: Bilder verteilen. Fotografische Praktiken in onsmitglied der ZfM. Letzte Publikationen: Politik der Mi- der digitalen Kultur, Bielefeld (transcript) 2018; Hg. mit kroentscheidungen. Edward Snowden, Netzneutralität und die Christian Dewald, Marc Ries: Kino Arbeit Liebe. Hommage Architekturen des Internets, Lüneburg (Meson Press) 2015; an Elisabeth Büttner, Berlin (Vorwerk 8) 2018; Gaia’s For­ Hg. mit Christoph Engemann: I nternet der Dinge – Über tune. Kosmopolitik und Ökologie der Praktiken bei La­ smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische tour und Stengers, in: Alexander Friedrich, dies., N iklas Durchdringung der Welt, Bielefeld (transcript) 2015. Schrape, Florian Sprenger (Hg.): Ökologien der Erde – Ge- schichte und Aktualität der Gaia-Hypothese, Lüneburg (Me­ Stephan Trinkaus arbeitet derzeit am Arbeitsbereich son Press) 2018, 95 – 121. Geschlechtersoziologie der Universität Bielefeld und hat 2017 an der Heinrich­Heine­Universität Düsseldorf zu Kathrin Peters ist Professorin für Geschichte und Theorie dem Thema «Prekäre Gemeinschaft – Zu einer diffrakti­ der visuellen Kultur an der Universität der Künste Berlin ven Theorie des Haltens» habilitiert. Er ist Redaktionsmit­ und Co­Sprecherin des dortigen DFG­Graduiertenkollegs glied der ZfM. Aktuelle Publikation: Wissen, Materialität, «Das Wissen der Künste». Sie hat die Redaktionsleitung Sorge: Into the Chthulucene II, in: Kathrin Busch, der ZfM inne. Christina Dörfling, Kathrin Peters, Ildikó Szántó (Hg.): Wessen Wissen? Situiertheit und Materialität in den Künsten, Drehli Robnik ist Theoretiker in Sachen Film und Politik, Paderborn (Fink) 2018. Nebenerwerbsessayist, Gelegenheitskritiker, musikba­ sierter Teilzeit­Edutainer. ‹Lebt› in Wien­Erdberg. (Mit­) Thomas Waitz arbeitet am Institut für Theater­, Film­ Herausgeber von Siegfried Mattls Filmschriften und und Medienwissenschaft der Universität Wien und ist B änden zu Siegfried Kracauer. Monografien: Geschicht- Redaktionsmitglied der ZfM. Forschungsschwerpunkte: sästhetik & Affektpolitik. Stauffenberg und der 20. Juli im Film Ästhetik, Theorie und Politik der Medien; Kapitalismus 1948, Wien (Turia + Kant) 2009; Film ohne Grund. Filmthe­ und Klassengesellschaft; Theorie und Analyse medialer orie, Postpolitik und Dissens bei Jacques Rancière, Wien Verfahren. ( Turia + Kant) 2010; Kontrollhorrorkino: Gegenwartsfilme zum prekären Regieren, Wien (Turia + Kant) 2015. independent. Brigitte Weingart ist Professorin für Medienkulturwis­ academia.edu/DrehliRobnik senschaft an der Heinrich­Heine­Universität Düssel­ dorf und Redakteurin der Zeitschrift für Medienwissen­ Janine Sack arbeitet als Verlegerin, Art­Direktorin und schaft. Gegenwärtige Schwerpunkte in Forschung und Dozentin in Berlin. 2017 hat sie das Redesign der taz ent­ Lehre: Medientheorie und ­geschichte, Genealogie und wickelt (mit Christian Küpker); 2008 bis 2012 arbeitete Medienästhetik der Faszination, Celebrity Cultures, sie als Art Direktorin der Wochenzeitung der Freitag. 2018 M edienpraktiken der Aneignung. Publikationen etc.: gründete sie den E­Book­Verlag EECLECTIC – Digital Pu­ www.brigitte-weingart.de blishing for Visual Culture und 2017 den Künstlerbuch­ verlag A Book Edition. Als Teil der Gruppe Drucken Heften Laden gibt sie seit 2015 den vierteljährlichen Newsletter Paper News mit heraus. 190 ZfM 20, 1/2019 — BILDNACHWEISE S. 9 Aus dem Archiv von Kathrin Peters. Foto: Annika Haas S. 122 Courtesy of Snøhetta (Orig. in Farbe) S. 123, 125 f., 127 o., 128 Courtesy of Black Athena Collective S. 17 Aus: Onlinearchiv von PROKLA. Zeitschrift für Sozialwissenschaft, S. 127 u. Courtesy of Journal of the American Research Center in Egypt www.prokla.com/jahrgange/45/, gesehen am 8.3.2019 (Orig. in Farbe) S. 131 Screenshot von: collectibles.bidstart.com, gesehen am 15.8.2018 S. 18, 21 Abbildungen aus dem Archiv des Autors (Orig. in Farbe) [Seite nicht mehr aufrufbar] (Orig. in Farbe) S. 38, 46, 51 Aus: FFBIZ – DAS FEMINISTISCHE ARCHIV, Berlin. Vielen S. 132 Screenshots aus: Stop the Movie (Cruising), Regie: Jim Hubbard, Dank an Dagmar Nöldge für die Unterstützung der Recherche. Fotos: USA 1979/80 die Autorinnen (Orig. in Farbe) S. 38 o. r., S. 46 o. l. Aus: Regelindis Westphal (Hg.): Die Frau im politischen Plakat, Berlin 1979, 134, 143. S. 136 Screenshots aus: Interior. Leather Bar, Regie: James Franco, Travis Mathews, USA 2012 (Orig. in Farbe) S. 54 f. Aus dem Archiv von Kathrin Peters. Fotos: Annika Haas (Orig. in Farbe) S. 139 Abbildung aus dem Archiv des Autors (Orig. in Farbe) S. 57 Zur Verfügung gestellt von Janine Sack (Orig. in Farbe) S. 143 Screenshot aus: Deadpool, Regie: Tim Miller, USA 2016 (Orig. in Farbe) S. 58 l. Archive Books r. Courtesy of Raphaël Grisey, Bouba Touré, Archive Kabinett (Orig. in Farbe) S. 150, 162, 171 Aus: SALT Research: Altuğ ­Behruz Çinici Archive auf Flickr, www.flickr.com/photos/saltonline/albums/72157645838673339/ S. 78, 82 f., 86 f., 90 f., 93 Screenshots aus: We Are Zama Zama, with/14663168619/, gesehen am 13.3.2019 (Orig. in Farbe) Regie: Rosalind Morris, Kamera: Ebrahim Hajee, Kameras unter Tage: Bhekani Mumpande, Darren Munenge, Prosper Ncube, S. 175 – 180, 183 – 187 Aus: Alfred Goldsborough Mayer: Medusae of the World, S üdafrika/USA 2019 (Orig. in Farbe) Vol. II: The Hydromedusae, Washington 1910 S. 104 f. Copyright Brigitta Kuster (Orig. in Farbe) S. 114– 116 Installationsansichten von Arthur Jafa: Apex, Video, 8' 22'', Farbe, Ton, 2013 in der Ausstellung Arthur Jafa – A Series Of Utterly Falls trotz intensiver Nachforschungen Rechteinhaber_innen nicht Improbable, Yet Extraordinary Renditions, Julia Stoschek Collection, b erücksichtigt worden sind, bittet die Redaktion um eine Nachricht. 11.2.–25.11.2018 Berlin. Fotos: Simon Vogel, Köln (Orig. in Farbe) — 191 — IMPRESSUM Herausgeberin Gesellschaft für Medienwissenschaft e. V. Die Zeitschrift für Medienwissenschaft erscheint c / o Prof. Dr. Matthias Christen, Universität Bayreuth, zweimal im Jahr. Medienwissenschaft, Geschwister­Scholl­Platz 3, Die digitale Version ist ab Frühjahr 2019 als Open­Access­ 95 445 Bayreuth, info@gfmedienwissenschaft.de, Version verfügbar. www.gfmedienwissenschaft.de Weitere Infos (u. a. auch zum Abonnement) finden Sie unter: Redaktion Ulrike Bergermann (Braunschweig), www.transcript-verlag.de/zeitschriften/zfm-zeitschrift-fuer-medien Daniel Eschkötter (Berlin), Maja Figge (Berlin), wissenschaft/ Petra Löffler (Berlin), Kathrin Peters (Berlin, V.i.S.d.P.), Florian Sprenger (Frankfurt / M.), Stephan Trinkaus Mitglieder der Gesellschaft für Medienwissenschaft erhalten (Bielefeld), Thomas Waitz (Wien), Brigitte Weingart die Zeitschrift für Medienwissenschaft kostenlos. (Düsseldorf ) Verlag transcript Verlag, Hermannstraße 26, Redaktionsanschrift: Zeitschrift für Medienwissenschaft 33 602 Bielefeld, www.transcript-verlag.de c / o Prof. Dr. Kathrin Peters, Universität der Künste Berlin, Grunewaldstr. 2 – 5, 10 823 Berlin, Bestellung: vertrieb@transcript­verlag.de info@zfmedienwissenschaft.de, www.zfmedienwissenschaft.de Telefon: +49 (521) 39 37 97 0 Schwerpunktredaktion Heft 20 Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung die Redaktion der Zeitschrift für Medienwissenschaft des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmun­ Redaktionsassistenz gen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Naomie Gramlich, Annika Haas Bibliografische Information der Deutschen National­ Beirat Marie­Luise Angerer (Potsdam), Cornelius Borck bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet (Lübeck), Philippe Despoix (Montréal), Mary Ann Doane diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; (B erkeley), Lorenz Engell ( Weimar), Vinzenz Hediger detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über (Frankfurt / M.), Ute Holl (Basel), Gertrud Koch (Berlin), http://dnb.d-nb.de abrufbar. Antonio Somaini (Paris), Martin Warnke (Lüneburg), Geoffrey Winthrop­Young (Vancouver) Die Open­Access­Veröffentlichung er­ folgt unter der Creative­Commons­Lizenz Grafische Konzeption CC­BY­NC­ND 4.0 DE (Attribution, Non­Commercial, Lena Appenzeller, Stephan Fiedler No Derivates). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Layout, Bildbearbeitung und Satz Nutzung (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by- Lena Appenzeller nc-nd/4.0/de/legalcode. Druck und buchbinderische Weiterverarbeitung Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier © 2019 transcript Verlag Mit freundlicher Unterstützung Printed in the Federal Republic of Germany der Universität der Künste Berlin ISSN 1869­1722 Gefördert durch die Deutsche F orschungsgemeinschaft eISSN 2296­4126 Print-ISBN 978­3­8376­4467­8 PDF-ISBN 978­3­8394­4467­2 EPUB-ISBN 978­3­7328­4467­8 —