Michael Wedel Autorenfilm, Künstlerdrama, Starkino Dreieckskonstellationen in und um DIE SCHWARZE LOO (1917) DIE SCHWARZE LOO ODER DIE KoMPOSITION DES ANDEREN (D 1917, R: Max Mack) Wiederentdeckt 139, 2. Januar 2009 Auf einem offensichtlich arrangierten Produktionsfoto, das Max Mack 1916 in seinem „Filmbuch“ Die zappelnde Leinwand abdruckt, sieht man den Regis- seur neben seinem damaligen Star Maria Orska und dem Drehbuchautor Hans Brennert an einem kleinen Tisch von einem Stapel Produktionsunterlagen ins imaginäre Off aufblicken. Die gemeinsame Blickachse folgt dem ausge- streckten Zeigefinger des Regisseurs und entspricht sowohl der Ausrichtung der ebenfalls im Bild zu sehenden Kamera wie auch der Blickrichtung weite- rer Mitarbeiter (darunter Kameramann Max Greenbaum), von denen die drei Hauptpersonen der Bildkomposition eingerahmt werden. Dem Foto beigege- ben ist die Bildunterschrift: „Regisseur, Diva und Autor, wie sie sich gerade nicht zanken...”' Inszeniert ist hier das Triumvirat von Regisseur, Star und Autor als kreati- ves Zentrum einer Filmproduktion, die gehobenen Ansprüchen genügen will, wie sie in der Folge der Autorenfilmbewegung 1913/14 von der bürgerlichen Öffentlichkeit an sie gestellt wurden. Mit den von Mack inszenierten und zumeist von Brennert geschriebenen Filmen der „Star-Serie” um Maria Orska zielte Produzent Jules Greenbaum 1916/17 auf einen Begriff von Unterhal- tung, der Anschluss an die bürgerliche Kultur und deren Eckpfeiler, die Lite- ratur und das Theater, suchte, ohne auf die für das Kino charakteristischen Schauwerte und Genremerkmale zu verzichten. Star, Autor, Regisseur. Die Filme der Maria-Orska-Serie geben damit nicht zuletzt aufschlussreiche Hinweise darauf, welche Richtung die Autorenfilm- bewegung Mitte der 1910er Jahre eingeschlagen hatte. Vollständig enthüllt erscheint in ihnen eine Tendenz zum Starkino, die vielleicht immer schon den eigentlichen Kern des Autorenfilms ausgemacht hatte - man denke nur an den Presserummel um die erste Filmrolle des als kamerascheu bekannten Max Mack: Die zupneinde Lemwrnd. Fin Fimbuch. Berlin 1916. 5. SB. Fimblar 11720090 si Albert Bassermann in Macks DER ANDERE (1913).? Nicht anders als Bassermann kommt einige Jahre später auch Maria Orska als gefeierte Charakterdarstel- lerin der Bühne zum Film. Geboren als Rahel Blindermann am 16. März 1894 im südrussischen Nikolajew, beginnt sie ihre Theaterlaufbahn zunächst in St, Petersburg.’ Dort gerät sie in Kontakt mit revolutionären Kreisen und flieht 1909 mit dem Schauspieler Ferdinand Gregori nach Wien. Im Jahr da- rauf folgt sie ihm an das Hoftheater Mannheim, wo sie, anfangs noch unter Verwendung des Künstlernamens „Daisy Orska”, erste Achtungserfolge in weiblichen Hauptrollen der Stücke August Strinbergs und Arthur Schnitzlers " Schon auf den überragenden Erfolg von Bassermanns erstem Fılmauftritt war seinerzeit eine eigene Reihe des Schauspielers bei der Vitascope gefolgt. inszeniert von Max Mack. Titel dieser Serie waren DR .+1718 TaG (1913, Buch: Paul Lindau), Der KÖNIG (19 13. Buch: Richard Fischer und Albert Bassermann) sowie Das Ur Tri 18 ARZTES (1914, Buch: Felix Salten‘. “ Die biografischen Angaben folgen weitgehend Frank Noack: Maria Orska. In: CineGraph. Le xikan zum deutschshrachiwen Fılm, he. von Hans-Mıchael Bock, München 1984 ft. Le. 40 (2005). 52 Fimblatt 411200 10 feiern kann. 1911 wird sie ans Schauspielhaus Hamburg engagiert, seit 1915 gehört sie dem Ensemble Max Reinhardts an. Am Deutschen Theater erarbei- tet sich Maria Orska mit ihren Interpretationen moderner Frauenfiguren in Stücken von Strindberg, Wedekind und Pirandello den Ruf einer emotional radikalen und ihre Körpersprache subtil modulierenden Ausdruckskünstlerin.* Im gleichen Jahr steht sie auch erstmals im Atelier der Greenbaum-Film für Richard Oswalds DÄMON UND MENSCH an der Seite von Rudolf Schildkraut vor der Kamera. Es folgen sieben Filme unter der Regie von Mack, sechs davon im Rahmen ihrer eigenen Star-Serie bei der Greenbaum-Film. Deren Ende bedeu- tet 1917 - sie spielt in diesem Jahr am Deutschen Theater mit überragendem Publikumserfolg an der Seite Wedekinds die Lulu - zunächst eine Unterbre- chung ihrer Filmtätigkeit, die sie erst 1920 wieder aufnimmt. Zu ihren Filmen der 1920er Jahre, in denen sie neben ihrer Arbeit als Bühnenschauspielerin auftritt, gehören DIE LETZTE STUNDE (1920, Regie: Dimitri Buchowetzki), DER STREIK DER DIEBE (1921) in der Regie ihres Schauspielerkollegen Alfred Abel und DIE BESTIE IM MENSCHEN (1921, Regie: Ludwig Wolff). Paul Czinner besetzt sie 1922 mit der weiblichen Hauptrolle des Melodramas OPFER DER LEIDEN- SCHAFT - zwei Jahre bevor er Elisabeth Bergner entdeckt, mit der Maria Orska eine Vorliebe für Schnitzler sowie einen extrem ästhetisierenden, fast schon tänzerisch anmutenden Schauspielstil teilt. Ihre letzte Filmrolle - die Pri- maballerina Barbarina Campanini - spielt Maria Orska 1922 in dritten Teil von FRIDERICUS REX (Regie: Arsen von Cser&py). Im gleichen Jahr wird sie von Oskar Kokoschka porträtiert.” Privat wie beruflich gerät die Schauspielerin, der auch immer wieder ein exzessiver Drogenkonsum nachgesagt wird, nach ihrer Scheidung von dem Berliner Bankier Baron Hans von Bleichröder 1925 in eine Lebenskrise, der sie am 15. Mai 1930 in Wien durch Freitod ein Ende setzt. Als Greenbaum Maria Orska 1915 erstmals und 1916 dauerhaft unter Vertrag nimmt, gilt sie als die führende Strindberg-Darstellerin der deutschen Bühne. In der Rolle der Henriette beherrscht sie Carl Meinhards Inszenierung von Strindbergs Rausch am Berliner Theater an der Königgrätzstraße, die in die- ser Spielzeit 1915/16 an über 50 Abenden gespielt wird. Für Hans Brennert dürfte sie damit zu den seiner Ansicht nach seltenen Fällen von Bühnendar- stellern gezählt haben, die es verstanden „die Geschichte eines Films in ei- gene lebendige Gebärde [zu] übersetzen“.‘ " Val. die Charaktenisierungen ihres (frühen) Schauspielstiis ın den ıhr gewidmeten Nachrufen von Lmil Faktor (Die Schauspielerin Marta Orska. In: Bertiner Börsen-Couricr, 16.5.1930) und ”arl Meinhard {Maria Orska. In: Berhiner Topenlertt, 16.5.1330). Oskar Kokoschka: Portrait der Schauspielerin Mara Orska, Lithografie. 56,5 x 30,1 am, Fine Arts Museum of San Francisco. “ Hans Brennert: Kınometerdichten In: Mack (He Die zoppelnde Leinwand, S. 26. Rimblatt +1 7200910 53 Obwohl Brennert selbst durchaus als eine Schlüsselfigur des Autorenfilm- Phänomens der 1910er Jahre anzusehen ist, ist er als Filmautor in der film- historischen Diskussion bisher kaum beachtet worden. Geboren am 24. Juni 1870 in Berlin, wo er am 8. Februar 1942 auch gestorben ist, war Brennert um die Jahrhundertwende ein äußerst erfolgreicher Schriftsteller und Büh- nenautor, der später zudem regelmäßig für den Rundfunk arbeitete, In Berlin war er vor allem für seine in der Reichshauptstadt angesiedelten Geschichten und Lieder bekannt. Seinen Lebensunterhalt verdiente sich der regelmäßige Beiträger zum Berliner Tageblatt und zur Vossischen Zeitung in den Jahren 1920 bis 1930 als Direktor des Nachrichtenamtes der Stadt Berlin. Brennerts Filmografie zählt zwischen 1915 und 1938 über 70 Titel. Zum Film gekommen ist er durch Mack, für den erin den Jahren 1915 bis 1920 allein sechs Filme - allesamt Dramen - schrieb. Es finden sich aber auch Ausflüge ins Experi- mentelle: 1920 ist er der Autor der im Umkreis des Filmexpressionismus ent- standenen Zukunftsfantasie ALGoL von Hans Werckmeister mit Emil Jannings in der Hauptrolle, 1925/26 entwirft er die Kreuzworträtselszenarien für Paul Lenis und Guido Seebers REBUS-Filme. Der bekannteste Film aus der Feder Brennerts ist wohl HEIMAT aus dem Jahr 1938, in der Regie von Carl Froelich und mit Zarah Leander und Heinrich George in den Hauptrollen. Brennert hat sich früh - mit einiger Regelmäßigkeit ab 1911 - literarisch mit Film und Kino auseinandergesetzt.’ In seinen Texten feiert er die Revolu- tionierung der dramatischen und literarischen Fantasie durch das „Einstun- dentheater des Kinos“ und den modernen, alltagsbezogenen Einfallsreichtum einer neuen Spezies von „Kinometerdichtern”, wie Brennert sie nennt.? Den- noch finden sich von Brennert trotz schriftlicher Einladung der Nordische Films Co., kurz: Nordisk, vom Dezember 1912 keine Filmarbeiten im Umkreis der ersten Autorenfilmwelle.?’ Seine ersten Filmszenarien verfasst er erst mit ein paar Jahren Verzögerung im Kontext von Star-Filmen oder -Serien mit Le- ontine Kühnberg, Maria Orska, Hella Moja oder Erna Morena. Im Zusammenhang mit der Autorenfilmbewegung ist Brennert gleichwohl von Interesse, war er doch Mitbegründer und 1912 Schriftführer des Verban- “Vel. z.B. Hans Brennert: Der Sketch. In: Die Rampe. Almanach des Verbandes deutscher Büh- nenschrfisteller auf 1912. Berlin 19 11,5. 145-149,Vgl, auch Hans Brennert: Filmsketschs. In: B.Z. am Mittag, Nr. 213. 11.9.1916. “ Hans Brennert: Kinometerdichter; Hans Brennert: kinstunden- Theater In: Die Rarnpe. Alma nach des Verbandes deutscher Bühnenschriftsteller auf 1913. Berlin 1913, 5. 247-251. Vgl. auch Hans Brennert: Die Himmerkiste. In: Ebd. 5. 164-170. Fine Kopie des Schreibens der Dramatursischen Abteilung der Nordisk an Brennert. datiert 4.12.1912, findet sıch ım Teılnachlass Hans Brennerts im Berliner Stactmuseum,. Der dortige Bestand ist kürzlich von dem Literatunwissenschaftler und Publizisten Oliver Ohmann (Berlin) entdeckt und ınventarisiert worden, dem mein herrlicher Dank für zahlveiche Hinweise gilt. 54 Kimblart +1 72009710 des Deutscher Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten, der sich zu- nächst vehement gegen eine Beteiligung seiner Mitglieder am aufkommenden Filmgeschäft gewandt hatte.!" Brennert saß damit an einer Schnittstelle der Kontroverse zwischen dem Verband und der Filmindustrie, die noch einige Zeit schwelte und erst Mitte der 1910er Jahre endgültig beigelegt wurde. Seine unmittelbar darauf folgenden ersten Arbeiten für den Film sind daher in einem direkten Zusammenhang mit dem Streit und seiner Schlichtung zu sehen. Besonders hervorgehoben hat Brennert in seinen Texten zur Drehbucharbeit aus dieser Zeit stets den Stellenwert einer kreativen und intellektuellen Sym- biose zwischen Autor und Regisseur: „Über alle nötigen Voraussetzungen ei- nes Films, Einfall, Titel und Überraschung hinaus verlangt die Ausgestaltung eines Films künstlerische Erregungen des Filmautors, die nicht am Schreibti- sche, sondern nur in hitziger, alle Kräfte der Phantasie und der Assoziation anspannender täglicher Aussprache sich einstellen, die sich nie einstellen, wenn der Filmregisseur nur ein gewiegter Konfektionär ist, der sich die ein- fach gekauften Stoffe einfach marktgerecht zusammenschneidet, so daß eben nur eine billige Konfektion herauskommt. Erst durch die gemeinsame Arbeit mit einem wirklichen Regisseur entsteht etwas, das man einigermaßen beru- higt als ein Filmmanuskript bezeichnen kann.”'' Obwohl Mack hier nicht na- mentlich genannt wird, ist doch deutlich, wen Brennert mit diesen Worten in erster Linie meint, denn mit Mack verbindet ihn zu diesem Zeitpunkt bereits eine persönliche Freundschaft, die in eine kontinuierliche Zusammenarbeit während der nächsten Jahre mündet. Mack selbst gehörte mit Filmen wie DER ANDERE, Wo IST CoLETTI? (1913) und DIE BLAUE Maus (1913) zu den bekanntesten und kommerziell erfolgreichsten Regisseuren des deutschen Films. Für seine Sudermann-Verfilmung DER KAT- ZENSTEG erhält er 1915 noch einmal breite kritische Anerkennung. Die Maria- Orska-Serie markiert dann jedoch einen Wendepunkt in der Karriere Macks, der sich anschließend mit einer eigenen Produktionsfirma (und nur wech- selndem Erfolg) selbständig macht.'? Nach dem Krieg deutet er an, es sei ihm in den letzten Kriegsjahren „aus verschiedenen Gründen recht schwer gemacht worden, mich in meinem Beruf - so wie es meinen künstlerischen Im Frühjahr 1919 Jahre gehörte Brennert aann zu den fedeıführenden Gründungsmitglie- dem des Verbandes deutscher Filmautoren, der berufsständischen Interessenvertretung der in der deutschen Flmbranche tätigen Autoren. In dieser Funktion veröffentlichte er die Schrift Urheber und Film. Dürstellung der Voraussetzungen des Erwerbs kınemutographischer Urheber rechte. Mit owem Yortragsenhwul und mt gıner Übersicht aller che Trögeı kinematopraphischer Uehobertechte zusenmmmenfossenden Verbände Deutscher Urheber. Berlin 1920 2. Aufl. 1922). Brennert: Kinometerdichter 5. 24. Hervorhebungen im Original. - Vol, Michael Wedel: Max Muck. Showman im Glashaus, Berlin 1996, 5. 22 ff. Klmbiant 1172009710 55 Intentionen entsprach - zu betätigen”. '* Es lässt sich hier nur spekulieren, ob damit lediglich gelegentliche ‚Zwangsverpflichtungen’ für patriotisch an- gehauchte Dokumentarfilme wie GOSLAR, DIE ALTE DEUTSCHE KAISERSTADT (1918) gemeint waren, oder ob Mack auf Schwierigkeiten durch die in Kriegszeiten zunehmende gesellschaftliche Diskriminierung jüdischer Mitbürger anspielt. Hinzu mag in diesem Fall gekommen sein, dass sich Mack neben seiner kommerziellen Filmarbeit weiterhin in linksgerichteten Kreisen der Avant- garde bewegte: Bereits 1911 hatte er als Darsteller im Kleinen Theater Unter den Linden an einem radikalen Theaterexperiment der „Sturm-Gruppe“ teil- genommen: In der Pantomime Die vier Toten der Fiametta, inszeniert von Wil- liam Wauer und mit Musik von Herwarth Walden, spielte er einen von (nicht weniger als) drei Liebhabern der Titelfigur. Und noch 1914 hatte Mack an der Seite seines Freundes Rudolf Kurtz und neben Franz Pfemfert, Alexander Gra- nach und Jakob varı Hoddis an Vortragsabenden des Kreises um die expres- sionistische Zeitschrift Dre Aktion teilgenommen.'* Für Mack endete mit dem letzten Film der Maria-Orska-Serie seine erfolgreichste Zeit als Filmregisseur, an die er erst nach Kriegsende wieder ansatzweise anknüpfen konnte.” Die Maria-Orska-Serie. Mit DIE SCHWARZE L00, entstanden im Sommer 1917 und uraufgeführt am 6. September 1917 im Berliner Marmorhaus, sollte der Erfolg der insgesamt fünf Filme der Maria-Orska-Serie 1916/17 in der Saison 1917/18 fortgesetzt werden.'° Es blieb der letzte Film, den die Greenbaum- Film im Rahmen dieser Star-Serie herstellte, von keinem anderen lässt sich eine überlieferte Kopie nachweisen. Noch außerhalb der Serie - gewisser- maßen als Pilotfilm - kam bereits Anfang März 1916 Das TANZENDE HERZ nach einem Buch Brennerts und in der Regie Macks in die Kinos. Der Erfolg dieses Films war wohl ausschlaggebend dafür, Maria Orska in der kommenden Sai- son eine eigene Serie zu widmen. Von der Kritik wurde er als „spannendes Filmdrama” und als ein „Traumleben von außerordentlicher Lebendigkeit der Phantasie und kräftig gesteigerter Wirkung” gewürdigt, das „sehr geschickt aufgebaut” sei und sein Publikum, dank der „lebensvollen Regie“ Macks und der „packende[n] Darstellung” Maria Orskas, „vom ersten bis zum letz- ten Bilde im Banne der Handlung” halte." Die Versprechungen, die sich die " Max Mack Wire ıch zum Film kam. In: Die LichtBtdBührie, Nr 21. 24.5.19 195.24. "Vgl. Michael Wedel: Max Mack. Haltung und Unterhaltung. In: Irene Stratenwerth, Hermann Simon (He): Pioniere ın Cellular Juden in der frühen Filmwelt. Berlin 2004 5. 27-35. Als einzige abweichende Quelle nennt die Kritik ın Der Film (Nr 37, 15,9.1917) Louis Neher als Regisscur von DI SCHWARZE lO0). "Vgl. die Verleihanzeigen ın Die LiehtBiidBühne, Nr 36, 8.9.1917.5. 31: Der Film, Nr 36, 8.9.1917,5.67. 50 der Kırliker des Berliner Tageblatt, hier zitiert nach einer Anzeige aus der Füglichen 56 Firmmblatt 417 2009710 Hauptdarstellerin im Vorfeld der Dreharbeiten von ihrer neuen Tätigkeit beim Film gemacht hatte," scheinen bereits mit diesem Film restlos eingelöst. Als erster Film der ihr gewidmeten Star-Serie konnte DER SumPF im Juri 1916 an den Erfolg anschließen. Die dramatische Handlung war hier nicht von Brennert, sondern von Berthold Engels erdacht, verfehlte jedoch zeit- genössischen Quellen zufolge ihre Wirkung nicht. Besonders hervorgehoben wurde die „plastische“ Fotografie des Kameramanns Max Greenbaum, die bei der Uraufführung lediglich von der Entscheidung seines Vaters, des Pro- duzenten Jules Greenbaum, beeinträchtigt worden sei, den Film im Freien vorzuführen.' Spätestens in dem im September 1916 folgenden Drama Das GESTÄNDNIS DER GRÜNEN MASKE, wiederum nach einem Buch Brennerts, glaubte die Fachpresse jene besondere „Individualität“ Maria Orskas, für die sie von der Bühne her bekannt war, auch auf der Leinwand wieder zu erkennen: „Es eignet sich aber auch kaum ein zweites Gesicht so zur Verfilmung, wie das ihrige und es wird kaum eine zweite Filmkünstlerin geben, die ihre Mimik so zu meistern versteht, die imstande ist, Empfindungen so zum Ausdruck zu bringen, wie sie.“?® Mit DIE SEKTWEITE, der nur einen Monat später seine Uraufführung erlebte, unternahm man den Versuch, die Serie auch im Bereich des Lustspielfilms zu etablieren und das Image der Hauptdarstellerin als bekannte Bühnen- schauspielerin in die von Richard Wilde entworfene Handlung selbst hinein zu spiegeln, „eine Episode aus ihrem Leben” zu gestalten, „wie sie sich etwa zugetragen haben könnte“? Zugleich nimmt die Konfliktkonstellation dieses Films einen Topos auf, der in variierter Form im populären Unterhaltungs- theater der Zeit zu finden ist und zahllosen Operetten- und Revuefilmen der folgenden Jahrzehnte ihren Stoff liefern sollte: „Die Orska [...] hat in dem Film einen adligen Herrn geheiratet, der ihr die Rückkehr zur Bühne verbie- tet. Während seiner mehrtägigen Abwesenheit wird sie von einem Theaterdi- rektor, dessen Unternehmen vor dem Verkrachen steht, gebeten, ihn durch ihr Auftreten zu retten. Sie willigt ein und erntet als Tänzerin mit der Maske fabelhafte Triumphe. Die Pleite ist abgewendet und die ganze Stadt zerbricht sich den Kopf über Nam’ und Art der Tänzerin. Da kommt ihr Ehemann vor- zeitig von der Reise nach Hause und staunt gleichfalls die große Unbekannte Rundschau vom 12.3.1916. “Vgl. Berliner Eindrücke eines Provinzlers. In: Der Kınematograph. Nr 471,5.1.1916. “ Der Film wurde im damals neu eingerichteten Gartenlokal des Marmorhauses vorgeführt. Vgl. DER SUMPH. In: Die LichtBildBühne, Nr. 26, 1.7.1916,5. 46, „Die Marta-ÖOrska-Serie" In: Die LchtBidBühne, Nr 27,87.1918,5.58. So der Kritiker des Berliner Lokal Anzeigers, hier zitiert nach einer Änzeige der Greenbaum- Film in: Die LichtßildBühne, Nr. 43, 28.10.1916,5. 31. Filmblatt 41/2009 0 57 DIE SCHWARZE LOO (1917): Innenwelt als Abstraktion und Allegorie: Der Komponist Fredo (Bruno Ziener) beim Übertritt vom Treppenhaus in die Kellerkneipe (oben) so- wie im Angesicht des Todes (unten). an. Er geht sogar vergnügt auf den Vorschlag eines Malers ein, der einen Korb Sekt wettet, daß er das Geheimnis der Tänzerin lüften wird. Das Weibchen, das sich nicht so leicht ertappen läßt, wird von Marla Orska rassig und gra- ziös gespielt.” DIE SEKTWETTE bleibt der einzige Ausflug ins komische Genre. Der folgende vierte Film der Serie, ADAMANTS LETZTES RENNEN (Uraufführung: 24.11.1916) nach einem Buch von Paul Rosenhayn, kehrt mit Wucht ins dramatische Fach zurück und spielt nicht nur in der Namensgebung seiner Protagonisten auf die zeitgenössische naturalistische Dramatik Ibsens oder eben Strindbergs an. Maria Orska ist hier in der Doppelrolle der Schwestern Christine und Eva Wen- deborg zu sehen, deren eine an dem von ihr geliebten Mann (Ludwig Hartau in der Rolle Axel Söderströms) zugrunde geht und von der anderen gerächt wird, indem diese ihn erst in den Ruin und schließlich in den Selbstmord treibt, bevor sie ihrem eigenen Leben ein Ende setzt.” Kaum weniger tragisch lassen Brennert und Mack das im Februar 1917 uraufgeführte Drama DER LE- BENDE TOTE enden: Die in Amerika angesiedelte Handlung findet ihren Höhe- punkt in einem aufwendig inszenierten Brand, dem die Villa des zentralen Liebespaars des Films (Maria Orska und Paul Otto) zum Opfer fällt.” Tragische Konflikte, formale Symmetrien. DIE SCHWARZE L00 ODER DIE KOMPOSITION DES ANDEREN verfügt über eine ähnlich tragische Gesamtanlage. Brennert siedelt den doppelten Liebeskonflikt des Films jedoch nicht im Milieu der Reichen und Schönen an, sondern entwirft ein soziales Rünstler- drama, das am Ende zum sensiblen psychologischen Ehedrama weiterentwi- ckelt wird. Der 1. Akt setzt mitten in einer Schaffenskrise des abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit stehenden und zudem schon todkranken Kom- ponisten Fredo (Bruno Ziener) ein. Er lebt in bescheidenen Verhältnissen und stellt seine gezählten Tage ganz in den Dienst der Arbeit an einer großen Oper, die ihm den Nachruhm sichern soll. Von der fehlenden künstlerischen Eingebung auf die Straße getrieben, wirft er im Vorübergehen einen Blick durch das Fenster einer nahe gelegenen Kellerkneipe. Sein Blick fällt auf eine junge „Zigeunerin”?” (Maria Orska), die dort gegen ein Trinkgeld für die über- wiegend männlichen Gäste unter dem Künstlernamen „Schwarze Loo” tanzt. Inspiriert von der Grazie ihrer Bewegungen, spricht er sie an und lädt sie zu ' Ebd. Zum Inhalt des Fılms vgl. ausführlich den Text ım Programmheft ger Kammerlichtspiele Leipzig. 19.-25.2.19 18: abgedruckt in Wedel: Max Muck. Showmun im Glashaus, 5. 199. Vgl. Der Brana der Villa In: Die LehtBildBöihne, Nr 35.29.1916. - Als solche wird die weibliche Hauptfiaur des Films ın zeitgenössischen Besprechungen cos Films bezeichnet, nicht jedoch m Film selbst. Vol. Die LehtBedBühne. Nr. 36, 8.7.19 7.5.80: Der Ft, N 37, 15,9.1917.5. 56. Finipsart 1172009710 59 DIE SCHWARZE LOO (1917): Doppel(belichtet)tes Gedenken: Erwin (Theodor Loos) er- innert sich an die erste Begegnung mit der Tänzerin, Loo (Maria Orska) wird im Traum vom verstorbenen Geliebten heimgesucht. Filrnhlentt 4 sich zum Essen ein. Sie werden ein Paar, Loo wird zu seiner Muse, die ihn in seiner Arbeit endlich wieder voranschreiten lässt. Das Geld bleibt jedoch weiterhin knapp, weshalb sich Loo (zu Beginn des 2. Akts) gezwungen sieht, heimlich erneut in der „Kaschemme“ zu tanzen. Bei einer Razzia wird sie festgenommen und kommt für einige Tage ins Gefäng- nis, Fredo glaubt, Loo habe ihn verlassen, und formuliert daraufhin seinen letzten Willen. Er hinterlegt das Schriftstück zusammen mit seinem künstle- rischen Vermächtnis - der fertig komponierten Opernpartitur - in einer Kiste, Als Loo aus dem Gefängnis nach Hause zurückkehrt, findet sie ihn tot. Drei Tage lang ist es ihr gestattet, die Leiche Fredos noch bei sich zu behalten, drei Nächte bleiben ihr, um das Geld für seine Beerdigung aufzubringen. Aus der Not heraus, möglichst schnell recht viel einzunehmen, wagt sie sich in ein vornehmes Tanzlokal. Der Kapellmeister des Lokals (Erwin, gespielt von Theodor Loos) gestattet ihr den Auftritt und verliebt sich in sie beim Anblick ihres Tanzes. Die Handlung des 3. Akts setzt nach einem Zeitsprung von einem Jahr ein: Erwin und Loo sind mittlerweile verheiratet, selbstverständlich tritt sie nun nicht mehr als Tänzerin auf. Die von ihr regelmäßig geöffnete Kiste, die ne- ben Fredos Hinterlassenschaften nun auch ihr Tanzkleid enthält, erinnert sie allerdings immer wieder an ihr früheres Leben. Als sie sich eines Abends unbeobachtet fühlt, schlüpft sie noch einmal in ihr altes Tanzkostüm und macht einige Schritte. Erwin erwischt sie dabei und entdeckt bei dieser Ge- legenheit auch Fredos Komposition. Sie bittet ihn, sich für die Veröffentli- chung der Oper einzusetzen und so Fredos Namen berühmt zu machen. Er erkennt jedoch sofort die musikalische Qualität der Komposition und denkt eher daran, sie unter seinem eigenen Namen einer Kommission zu unterbrei- ten, die gerade über seine Berufung zum Professor zu entscheiden hat. Als er einige Tage später in ihrer Wohnung zwei Herren aus der Kommission Partien der Oper auf dem Klavier vorspielt, wird er von Loo dabei belauscht. Nachdem die Herren gegangen sind, nimmt Loo die Notenblätter an sich und stellt Er- win zur Rede. Das Zerwürfnis zwischen den Eheleuten und die verlorene Aus- sicht auf eine gesicherte bürgerliche Existenz lassen Erwin einen Selbstmord- versuch unternehmen. Zur gleichen Zeit entdeckt Loo jedoch in der Kiste Fre- dos den Brief, der dessen letzten Willen enthält: Er besagt, dass er ihr seine Komposition zu freien Verwendung vermache. Sie fühlt ihr Gewissen dadurch entlastet und eilt in Erwins Arbeitszimmer, um inm die gute Nachricht zu überbringen, dass sie ihm die Komposition nun doch überlassen könne. Sie kommt gerade rechtzeitig, um den Schwerverletzten noch zu retten, der, nach erfolgter Genesung und endlich vollständig eingereichter Partitur, nun auch die Professur erhalten soll. Die Titelkarte weist DIE SCHWARZE Loo als ein „Drama in 4 Akten” aus, was auch der Länge der vorhergehenden beiden Filme der Serie entspräche. Zur Fb 1172009710 61 DIE SCHWARZE LOO (1917): Das Helldunkel der Gefühle: Loo entdeckt zuerst Erwins Raub der Komposition ihres verstorbenen Geliebten sowie am Ende den Selbstmord- versuch ihres Gatten. Zensur eingereicht wurden allen verfügbaren Unterlagen zufolge jedoch nur drei Akte.” Aufgrund der Vollständigkeit der Handlung sowie einer Reihe von stilistischen Symmetrien zwischen den einzelnen Akten der überlieferten Fassung kann davon ausgegangen werden, dass der Film ursprünglich - wie schon DER SUMPE und DIE SEKTWEITE - in drei Akten konzipiert war. Besonders deutlich wird diese Symmetrie am gleichmäßig über den Film und seine drei Hauptprotagonisten verteilten Einsatz von Mehrfachbelichtungen zur Veran- schaulichung innerer Bewusstseinszustände gegen Ende jedes Akts: im 1. Akt die Todesvision des todkranken Fredo, die in der Überblendung eines riesigen Skeletts visualisiert wird; im 2. Akt, in einer rot viragierten Einstellung, brin- gen die Gedanken des frisch verliebten Erwin die tanzende Loo im Bild her- vor; im 3. Akt schließt sich der Kreis, wenn der tote Fredo der träumenden Loo am Bett erscheint. Der Einbruch mentaler Vorstellungswelten in den Raum der Handlung mar- kiert zugleich die Schwerpunktverlagerung vom sozialen Drama des 1. Akts zum psychologischen Konflikt der folgenden beiden Akte. Kohärenz erhält die Inszenierung dieser Transformation durch die Kontinuität anderer Stil- mittel, mit denen die einzelnen Handlungsräume voneinander abgehoben und symbolische Übertritte der Figuren von einer Sphäre in die andere ins Bild gesetzt werden. Im 1. Akt geschieht ein solcher Übergang, werın Fredo aus dem in seiner klaren Gliederung der Schwarzweiß-Kontraste abstrakt anmutenden Treppenhaus in das von der tanzenden Loo dominierte, vielge- staltige Formen- und Bewegungsspiel der Kneipe eintritt: Eine Rückkehr ins Leben, durch die sich seine innere Erstarrung löst. Im Zusammenwirken von kontrastreicher Lichtsetzung, szenografisch be- tonten Raumteilungen und durch entsprechende Kostümwahl geschickt ge- setzten Hell-Dunkel-Effekten werden im weiteren Verlauf der Handlung die inneren Spannungen der Figuren in symbolischen Konstellationen nach au- ßen gekehrt. Am markantesten geschieht dies in jener Szene, in der Loo Er- win dabei überrascht, wie er am Klavier einige Takte aus Fredos Komposition spielt und in jener Einstellung am Ende des 3. Akts, in der sie - gleich einem Engel ganz in weiß gekleidet - den schwer verletzten Erwin in seinem voll- ständig abgedunkelten Arbeitszimmer entdeckt. In der Verschränkung von sozialem Künstlerdrama und subtiler psychologi- scher Charakterstudie, einer mehr und mehr auf ein Kammerspiel der inne- ren Emotionen und symbolischen Bildsprache kondensierten Dramatik liegt am Ende vielleicht die besondere filmhistorische Bedeutung des Films. Sein eigener Ort wäre damit nicht weniger symbolisch bestimmt: im engen Bezie- hungsgeflecht zwischen Literatur, Theater und Film ebenso wie im Schnitt- ie etwa 159 Meter um ce die Inerheferto Festung segenüber ven seinerzeit zur Zen- sur oingeroicbten Milena kürzer st, petielfenn ersse Jehlende Szenen sogen Ende de 1. Alts, Fimablar hl 72009710 63 punkt von Autorenfilm und populärer Melodramatik auf der einen sowie der Tendenz zu expressiven filmischen Ausdrucksformen und kammerspielartig verdichteten Figurenkonstellationen auf der anderen Seite. DIE SCHWARZE LOO ODER DIE KOMPOSITION DES ANDEREN (D 1917) Produktion: Greenbaum-Film GmbH, Berlin, Film Nr. 1051 / Monopol-Film-Verleih und Vertrieb: Meteor / Produzent: Jules Greenbaum / Regie: Max Mack / Buch: Hans Bren- nert / Kamera: Max Greenbaum Darsteller: Maria Orska (die Schwarze Loo), Theodor Loos (Erwin Burchhardt), Bruno Ziener (Fredo). Zensur:ÄAugust 1917, Polizei-Zensur Nr. 10558, 3 Akte, Jugendverbot. „Ausschnitte aus Akt I: Die ganze Szene vor Titel |, wo Schiebetänze gezeigt werden. Szene nach Titel 18, wo die Zuhälter mit ihren Verhältnissen in der Kaschemme eingeschlafen sind, durch den Wirt geweckt werden und das Lokal verlassen. Länge des gekürzten Films Akt |: 404 m.Auch nach Kürzungen für Kinder verboten.“ / Polizei-Zensur Nr. 40880, 1917, 3 Akte, 1.389 m, Jugendverbot Uraufführung: 6. September 1917, Berlin (Marmorhaus, als Dreiakter), vor DiE PAGODE / DAs GEHEIMNIS DER PAGODE (1917, Regie: Rudolf Meinert); um eine Woche verlängert. Kopie: Deutsche Kinemathek, Berlin, Verleihkopie, 35mm, Farbe nach Virage, 1.232 m (= 59’ bei 18 Bilder/Sekunde).Titel laut Vorspann: „DIE SCHWARZE LOO“ ODER „DIE KOMPOSITION DES ÄNDEREN“. Drama in 4 Akten. - Titel und Zwischentitel tragen den Namen des Monopol-Inhabers Reinthaler aus Osijek (heute Kroatien); hierbei handelt es sich um den ehemals im Südosten der Österreichischen Monarchie tätigen Filmver- leiher Ignaz Reinthaler. Die Kopie enthält einen (inhaltlich passenden) Zwischentitel der Decla und einen Original-Titel der Greenbaum-Film. Ein Akt-Titel kurz vor dem Ende- Titel ist falsch eingeschnitten. Zur Umkopierung: Eine mehrfarbig viragierte Nitrokopie aus dem Filmarchiv Austria wurde im Januar 2003 von Studio Cine in Rom auf 35mm s/w-Dup-Negativ umkopiert und davon nach dem Desmet-Verfahren eine farbige 35mm-Verleihkopie erstellt. Beim Desmet-Verfahren wird die viragierte Nitro-Kopie auf ein schwarz-weißes Dup-Negativ umkopiert, das zweimal auf Farbfilm ausbelichtet wird: beim ersten Durchlauf wird die schwarz-weiße Bildinformation, beim zweiten die Farbinformation durch farbiges Licht übertragen. So können verblasste Farben des Originals wiederhergestellt werden. — Farbabbildungen aus dem Film sowie der Hinweis auf ein kurzes Nitro-Fragment im Archiv der Deutschen Kinemathek auf https://www.lost-films.eu/films/show/id/37866. Anmerkungen: Der Spielplan der Rheinschloß Lichtspiele in Berlin-Friedenau vom 2. bis 8. November 1917 weist DIE SCHWARZE LOO als vieraktiges Schauspiel aus. (Deutsche Kinemathek, Schriftgutarchiv) - Die Kritik in Der Film (Nr. 37, 15.9.1917) nennt Louis Neher als Regisseur. 64 Fimblart 417200910