montage/av Zeitschrift für Theorie & Geschichte 7/2/1998 audiovisueller Kommunikation Lust am Dokument montage/av Zeitschrift für Theorie & Geschichte 7/2/1998 audiovisueller Kommunikation Lust am Dokument Editorial 2 Boleslas Matuszewski Eine neue Quelle für die Geschichte. Die Einrichtung einer Aufbewahrungsstätte für die historische Kinematographie 6 Dirk Eitzen Wann ist ein Dokumentarfilm? Der Dokumentarfilm als Rezeptionsmodus 13 Christof Decker Die soziale Praxis des Dokumentarfilms. Zur Bedeutung der Rezeptionsforschung für die Dokumentarfilmtheorie 45 Frank Kessler Fakt oder Fiktion? Zum pragmatischen Status dokumentarischer Bilder 63 Margrit Tröhler wA LK THE wA LK oder: Mit beiden Füßen auf dem Boden der unsicheren Realität. Eine Filmerfahrung im Grenzbereich zwischen Fiktion und Authentizität 79 Christa Blümlinger Das Imaginäre des dokumentarischen Bildes. Zu Chris Markers LEVEL FIVE 91 Nico de Klerk Nur noch wenige Stunden. Nachrichtenfilm und Technikinteresse in Amsterdamer Filmvorführungen zwischen 1896 und 1910 105 Jens Schröter Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffs 129 Zu den Autoren 155 Impressum 156 Titelillustration: Szenenfoto aus LEVEL FIVE (Chris Marker, F 1996) 2 montage/av Editorial ,,Der Kinematograph gibt die Geschichte vielleicht nicht integral wieder, doch zumindest ist das, was er zeigt, unbestreitbar und von absoluter Wahr- heit." Mit dieser optimistischen Einschätzung der kinematographischen Aufnahme plädierte Boleslas Matuszewski 1898 für die Einrichtung eines Archivs, das Filmbilder als historische Dokumente aufbewahren und sam- meln sollte. Als ein „wahrhaftiger und unfehlbarer Augenzeuge par exce/- /ence'' verbürge die bewegte Photographie Eindeutigkeit und Klarheit, das Filmbild - ein Garant für Präzision und Authentizität. Heute, 100 Jahre später, machen Wortmeldungen ganz anderer Art von sich Reden. Sie spannen mit Matuszewskis frühem Plädoyer die beiden Pole auf, zwischen denen derzeit eine Theorie des Dokumentarfilms denkbar ist. So hat sich Brian Winston 1997 auf der Stuttgarter Tagung „Trau-Schau- Wem" bekannt: ,,Wer - wie ich - ein Gefangener im Zuchthaus des Realis- mus Griersonscher Prägung ist, für den bedeutet die Digitalisierung parado- xerweise Freiheit." Mit diesem neu empfundenen Freiheitsgefühl dürfte Winston nicht alleine stehen, denn neben der Digitalisierung als einer ein- schneidenden technischen Veränderung haben der Diskurs der Postmoderne und das Bemühen des Fernsehens, auch auf dem Feld des Dokumentari- schen neue Attraktionen zu schaffen, kräftig dabei geholfen, den Doku- mentarfilm von der Idee der „Abbildlichkeit" und dem Anspruch der Sach- lichkeit und Objektivität zu „befreien". Ungewöhnliche, neuartige, mitunter sehr unterhaltsame Dokumentarfilme sind dabei entstanden. Sie betreiben ein Spiel mit den Dokumenten und bezeugen eine neue Lust am Dokumen- tarischen. Was aber vermag den Dokumentarfilm noch als Gattung zu begründen, wenn sich sein „Genrekopf' solcherart verändert, daß die spezifischen Dis- kurse, die mit ihm verbunden sind, die Erörterungen von Authentizität, Zeugnischarakter und Ethik nicht mehr in ihrer bisherigen Form geführt werden können? Von solchen Zweifeln ist Boleslas Matuszewski völlig unberührt. Sein Text aus dem Jahre 1898, der in diesem Heft erstmals in deutscher Sprache er- scheint, gehört zu den frühesten Dokumenten, die auf einen besonderen dokumentarischen Status der Filmbilder aufmerksam und die Filmaufnahme als eine Quelle für die historische Forschung nutzbar machen möchten. Wenngleich seine Einschätzung, mit den kinematographischen Aufnahmen 7/2/1998 Editorial 3 der Geschichtsschreibung objektive, verläßliche und unwiderlegbare Zeug- nisse zugänglich machen zu können, heute nicht mehr auf solch apodikti- sche Weise vertreten wird, so ist sie für die zeitgenössische Geschichtswis- senschaft, die begonnen hat, über die Zulässigkeit und den Erkenntniswert filmischen Quellenmaterials zu streiten, von einem besonderen Interesse und bildet darüber hinaus noch immer den Ausgangspunkt aktueller Doku- mentarfilmdebatten. So versucht Dirk Eitzen in einem Text, den wir hier ebenfalls zum ersten Mal in einer deutschen Übersetzung zugänglich machen, die Gattungsdefi- nition des Dokumentarfilms nicht aus den Eigenschaften der Texte, sondern aus den rezeptiven Operationen der Zuschauer zu gewinnen. Die Zuschauer ,,rahmen" einen Film als dokumentarisch, indem sie ihm einen Wahrheits- anspruch unterstellen. Die Anwendbarkeit der Frage „Könnte das gelogen sein?" scheidet Eitzen zufolge dokumentarische von fiktionalen Diskursen. Die Rahmensetzung ist kulturell vermittelt, wird durch metatextuelle Eti- kettierungen angeregt, aber ist sowohl einem historischen Wandel unter- worfen als auch abhängig von den spezifischen rezeptiven Interessen der Zuschauer, für die zuweilen auch fiktionale Texte als Dokumentarfilme ,,funktionieren" können. In seinem kritischen Kommentar situiert Christof Decker Eitzens Artikel in der amerikanischen Theoriediskussion, insbesondere in der Auseinanderset- zung mit Positionen von Nichols und Platinga. Obwohl Decker eine Schwerpunktverlagerung auf Fragen der Rezeption begrüßt, stellt er fest, daß Eitzen drei Begriffsbestimmungen des Dokumentarischen wählt, die, wie er in der Analyse zu demonstrieren versucht, nicht stringent sind und gegenüber früheren Diskussionen eher reduktionistisch verfahren. So wirft Decker Eitzens Versuch, den Dokumentarfilm durch die Frage nach einer möglichen Lüge zu bestimmen, vor, die Erörterung des Wahrheitsanspruchs und die damit verbundene Argumentation nur umzuformulieren, diese aber nicht weiterzuführen oder zu präziseren. Fragen nach der Interaktion von Texten und Zuschauern sowie nach den Erwartungshaltungen der Zu- schauer und insbesondere nach deren Historizität blieben weiterhin offen. In diesem Sinne untersucht Decker exemplarisch die amerikanische Debatte über eine Ethik des Dokumentarfilms, die sich am Direct Cinema entzündet hatte. Dabei rekonstruiert er den historischen und gesellschaftlichen Kon- text als Faktor, der das Vorverständnis der Zuschauer bestimmt. Auf diese Weise kann er die Diskussion über Authentizität und den Umgang der Fil- 4 Editorial montage/av memacher mit den Filmsubjekten als Teil der zeitgenössischen sozialen Praxis lokalisieren. Der Beitrag von Frank Kessler reagiert ebenfalls auf die unklaren Begriffs- bestimmungen, die zeitgenössische Ansätze der Dokumentarfilmtheorie vor allem im Umgang mit den Begriffen des Fiktionalen und Nichtfiktionalen aufweisen. Dabei greift Kessler zunächst auf John Searles Sprechakttheorie zurück und erläutert die spezifischen Bedingungen fiktionaler Äußerungen, um anschließend eine hier nicht angelegte Perspektive, nämlich die Frage nach einer Pragmatik fiktionaler Diskurse für eine Theorie des Dokumen- tarfilms zu diskutieren. Zwei Ansätze - Odins Konzept der „dokumentar- isierenden Lektüre" und Souriaus Vokabular der Filmologie - bieten Kess- ler die Möglichkeit, die begrifflichen und theoretischen Grundlagen zeitge- nössischer Diskussionen zu sondieren und grundlegende Mißverständnisse sowie mögliche Anknüpfungspunkte zu erläutern. Christa Blümlingers Analyse von Chris Markers LEVEL FIVE geht der Frage nach, welche diskursiven Positionen dieser im Cyberspace (als diegetisier- tem Dispositiv) angesiedelte Film einnimmt und welche theoretische Be- deutung dabei dem verwendeten Found Footage zukommt. Sie zeigt, daß das „gefundene" Dokumentarmaterial bei Marker nicht, wie sonst üblich, dazu dient, den Zuschauer zum imaginären „Meister der Archive" zu ma- chen. ,,Das Dokument repräsentiert hier weniger die Geschichte selbst als den gesellschaftlichen Umgang mit derselben", so Blümlingers These. Ihre Analyse untersucht daher, wie Marker die Bedeutung des Schnitts und der Montage für das visuelle „Dokument" offenlegt und wie er „die mortifizie- rende Dimension eines Dokumentarismus, der den Krieg zeigen will", und die Erstarrung dokumentarischer Aufnahmen zu Klischee-Bildern ins Be- wußtsein hebt. Die imaginäre Kraft von LEVEL FIVE beruhe weit mehr auf der (De-)Konstruktion des Erinnerns als auf der Rekonstruktion von Ge- schichte. Eine weitere Filmanalyse, die ebenfalls einer neuen und ungewöhnlichen Lust am Dokumentarischen nachspürt, stellt Margrit Tröhler vor. Am Bei- spiel von Robert Kramers WA LK THE W ALK zeigt Tröhler, wie hier das Verhältnis von Fiktion und Nichtfiktion in einem Schwebezustand verharrt, der vom Zuschauer nicht zugunsten eines der beiden Pole aufgelöst werden kann. Ein für dieses Phänomen wichtiges Element sind die Figuren, die zwar von Schauspielern verkörpert werden, aber durch ihre Verankerung in einem aktuellen historisch-politischen Kontext einen quasi-dokumentari- schen Status erhalten. 7/2/1998 Editorial 5 In einer Erweiterung des engen filmhistorischen Rahmens der "novelty period" verfolgt Nico de Klerk in seinem Beitrag die anhaltende Faszination an technischen Aspekten des neuen Mediums. Besonders die Verkürzung der Zeitspanne zwischen sensationellen politischen Ereignissen und deren filmischer Reproduktion im Nachrichtenfilm muß in diesem Kontext ver- ortet werden. De Klerks Auswertung von Berichten über Filmvorführungen aus zwei Amsterdamer Tageszeitungen zwischen 1896 und 1910 belegt im Gegensatz zu gängigen Annahmen der Filmhistoriographie ein anhaltendes Technikinteresse, welches allerdings erst dann in den Blick rückt, wenn bei der Rekonstruktion der Frühphase des Kinos auch die Rolle der Zuschauer Berücksichtigung findet. Außerhalb des Themenschwerpunkts veröffentlicht Montage!AV einen Aufsatz von Jens Schröter, der sich dem Begriff der „Intermedialität" wid- met. Schröter verortet den Begriff in vier Feldern, die die Beziehungen zwischen verschiedenen Medien jeweils auf eine bestimmte Art und Weise perspektivieren. Diese Grundhaltungen determinieren sowohl die Phäno- mene, die in den Blick geraten können, als auch die theoretischen Ansätze und analytischen Verfahren, die genutzt werden, um diese Phänomene zu beschreiben. Letztlich kann gezeigt werden, daß ein integraler Begriff und mithin eine „große Theorie" der Intermedialität nicht möglich ist, da sich die verschiedenen Perspektiven zumindest partiell gegenseitig ausschließen. Boleslas Matuszewski Eine neue Quelle für die Geschichte Die Einrichtung einer Aufbewahrungsstätte für die historische Kinematographie· Paris, den 25. März 1898 Sehr geehrter Herr, erlauben Sie mir, Ihre Aufmerksamkeit auf ein Unternehmen zu lenken, dessen Plan Sie nachstehend finden. Seine Ausführung läßt sich sofort be- werkstelligen, und ich würde gerne Ihr Interesse dafür wecken. Es handelt sich darum, einer Sammlung kinematographischer Dokumente eine Be- stimmung zu geben, die im Belang der Öffentlichkeit liegt. Sie ist unter bemerkenswerten Umständen entstanden und wurde von den ausgewählten Kreisen, vor denen ich sie präsentieren durfte, mit großem Wohlwollen aufgenommen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir über Ihre Zeitung oder auf anderem Wege die Überlegungen, Kritik oder neuen Einsichten, die dieses Boleslas Matuszewski (1856-?), geboren in Pinczow (Polen), war Photograph in Warschau und später einer der Hofphotographen von Zar Nikolaus II. Mög- licherweise arbeitete er als Lumiere-Karneramann während der Feierlichkeiten anläßlich der Krönung von Nikolaus II. 1897 drehte er Aufnahmen von einer chirurgischen Operation in Warschau sowie einige folkloristische Szenen. 1898 verfaßte er Une nouvelle source de l'Histoire (Creation d'un depot de cinema- tographie historique) sowie eine Schrift mit dem Titel La photographie animee, ce qu'elle est, ce qu'elle doit etre. (Beide wurden im französischen Ori- ginaltext erneut veröffentlicht in Zbigniew Czeczot-Gawrak (Hg.) Boleslaw Matuszewski i jego pionierska mysl filmova, Warschau: Filmoteka Polska, 1980; im Polnischen schreibt sich sein Vorname 'Boleslaw', in der französi- schen Publikation verwendet er aber durchgängig die Schreibweise 'Boleslas'). Nach 1898 verliert sich seine Spur. Diese biographischen Angaben beruhen auf dem Eintrag Deac Rossells in Luke Mc Keman, Stephen Herbert (Hg.) Who's Who of Victorian Cinema, London: BFI, 1996. Die Redaktion dankt Roland Cosandey für seine freundliche Unterstützung bei der Beschaffung der Über- setzungsvorlage. 7/2/1998 Eine neue Quelle für die Geschichte 7 Projekt Ihnen vielleicht eingibt, mitteilen könnten, und halte mich zu Ihrer Verfügung für alle weiteren Informationen, die Sie benötigen. B. M Der Stellenwert der lebenden Photographien unter den Quellen der Geschichte Es wäre falsch zu glauben, daß alle Arten bildlicher Dokumente, die der Geschichte Hilfe leisten, in Museen oder Bibliotheken zu finden sind. Ne- ben den Stichen, Medaillen, bemalten Tongefäßen, Skulpturen usw., usw., die dort gesammelt und klassifiziert sind, gibt es für die Photographie zum Beispiel keine eigene Abteilung. In Wahrheit haben die Dokumente, die sie liefert, nur selten einen erkennbar historischen Charakter, und vor allem gibt es ihrer zu viele! Irgendwann jedoch wird man Porträts von Menschen, die auf ihre Zeit einen deutlich Einfluß ausgeübt haben, in Serien klassifi- zieren. Das wird dann allerdings bereits als rückwärtsgewandt erscheinen, denn schon heute geht es darum, weiter fortzuschreiten: In offiziellen Krei- sen erwägt man den Gedanken, in Paris ein kinematographisches Museum oder eine kinematographische Aufbewahrungsstätte zu schaffen. Anfangs wird die Sammlung notwendigerweise noch beschränkt sein. Ihr Umfang dürfte jedoch in dem Maße zunehmen, wie die Neugier der kine- matographischen Photographen sich von rein unterhaltenden und erdachten Szenen abwendet hin zu Ereignissen und Schauspielen von dokumentari- schem Interesse, von Ausschnitten aus dem komischen Leben hin zu Aus- schnitten aus dem öffentlichen und nationalen Leben. Die lebende Photo- graphie würde so von einem einfachen Zeitvertreib zu einem angenehmen Mittel, die Vergangenheit zu studieren; oder besser noch: Da sie eine di- rekte Ansicht der Vergangenheit bietet, befreite sie uns zumindest in eini- gen wichtigen Punkten von der Notwendigkeit der Nachforschung und Untersuchung. Darüber hinaus könnte sie zu einem überaus wirkungsvollen Unterrichts- mittel werden. Wie viele Zeilen mit vagen Beschreibungen in den Büchern für die Jugend wird man sich ersparen können, wenn es eines Tages mög- lich ist, vor einer Schulklasse in einem genauen und bewegten Bild den mehr oder weniger aufgewühlten Anblick eines Parlaments bei der Ab- stimmung zu zeigen; die Begegnung von Staatsoberhäuptern, die eine Alli- anz besiegeln; den Abmarsch von Truppen oder einer Eskadron oder aber die sich wandelnde, bewegte Physiognomie der Städte. Allerdings muß noch viel Zeit vergehen, ehe man diese Hilfsquelle für den Geschichtsunter- 8 Boleslas Matuszewski montage/av richt heranziehen wird. Bevor sich die bildliche, äußerliche Geschichte vor den Augen derer, die sie nicht erlebt haben, entfalten kann, gilt es, sie zuerst zu lagern und aufzubewahren. Eine Schwierigkeit könnte unseren Gedanken für einen Moment Einhalt gebieten: Die historischen Ereignisse finden nicht immer dort statt, wo man es erwartet. Die Geschichte besteht ja keineswegs nur aus vorab geplanten und organisierten Feierlichkeiten, die nur darauf warten, sich vor dem Ob- jektiv in Pose zu setzen. Es gibt auslösende Handlungen und Bewegungen, unerwartete Fakten, die sich der Aufnahme durch den photographischen Apparat entziehen ... wie eben auch allen anderen Informationsmitteln. - Ganz zweifellos sind die historischen Auswirkungen leichter zu erfassen als die Ursachen. Doch die Dinge erhellen sich gegenseitig. Wenn diese Auswirkungen im hellen Licht der Kinematographie erscheinen, werden sie in den Köpfen auch die im Dunkeln liegenden Ursachen zur Erscheinung bringen. Und selbst wenn man nicht alles, was es gibt, erfaßt, sondern nur das, was sich erfassen läßt, so wäre dies für jede Art von wissenschaftli- chem oder historischem Informationsmittel ein exzellentes Ergebnis. Auch die mündliche Überlieferung und die schriftlichen Dokumente liefern uns nicht die Gesamtheit der Fakten, von denen sie handeln. Aber dennoch existiert die Geschichte und ist im großen und ganzen wahr, selbst wenn die Einzelheiten oft falsch sind. Und dann ist der kinematographische Photo- graph von Berufs wegen indiskret; wenn er auf der Lauer nach jeder sich bietenden Gelegenheit liegt, dürfte sein Instinkt ihm oft genug verraten, wo die Ereignisse sich abspielen, die zu historischen Ursachen werden. Man wird wohl eher seinen Übereifer bremsen müssen, als seine Zurückhaltung beklagen. Einmal ist es die natürliche Neugier des menschlichen Geistes, dann die Aussicht auf Gewinn, oft beides zusammen, wodurch er kühn und erfindungsreich handelt. Läßt man ihn bei den entsprechenden feierlichen Gelegenheiten zu, so findet er auch Mittel und Wege, sich unerlaubt Zu- gang zu anderen zu verschaffen. In den meisten Fällen wird er die Orte und Anlässe aufspüren, wo die Geschichte von morgen sich abspielt. Eine Volksbewegung oder die Anfänge eines Aufruhrs jagen ihm keine Angst ein. Selbst im Falle eines Krieges kann man sich gut vorstellen, wie er sein Objektiv auf derselben Brustwehr in Stellung bringt wie der Soldat sein Gewehr und zumindest ein Stück der Schlacht festhält. Wo immer es einen Sonnenstrahl gibt, wird auch er sein ... Hätten wir zum Beispiel vom ersten Kaiserreich oder der Revolution eine Wiedergabe auch nur der Szenen, welche die bewegte Photographie leicht zum Leben erwecken kann, welche Mengen überflüssig vergossener Tinte hätten wir uns ersparen können an- 7/2/1998 Eine neue Quelle für die Geschichte 9 läßlich von Fragen, die vielleicht nebensächlich sind, aber doch interessant, ja aufregend! So ist dann der kinematographische Abzug, wo eine Szene sich aus tausend Bildern zusammensetzt und der, wenn er sich zwischen einer Lichtquelle und einem weißen Tuch entrollt, die Toten auferstehen läßt, so ist dieser einfache Streifen bedruckten Zelluloids nicht einfach ein historisches Do- kument, sondern ein Stück Geschichte, und zwar einer Geschichte, die nicht verschwunden ist und für die es keines Geistes bedarf, um sie wieder er- scheinen zu lassen. Sie schlummert nur und, so wie die elementaren Orga- nismen, die ein latentes Leben führen und sich nach Jahren durch ein biß- chen Wärme und Feuchtigkeit wiederbeleben, so genügt ein bißchen Licht, das, von Dunkelheit umgeben, durch eine Linse fällt, um die Geschichte wieder zu erwecken und den vergangenen Zeiten neues Leben einzuhau- chen! Der besondere Charakter des kinematographischen Dokuments Der Kinematograph gibt die Geschichte vielleicht nicht integral wieder, doch zumindest ist das, was er zeigt, unbestreitbar und von absoluter Wahr- heit. Bei der gewöhnlichen Photographie ist die Retouche möglich, bis hin zu einer völligen Umwandlung. Doch man versuche einmal, für jede Gestalt auf identische Weise die tausend oder zwölfhundert fast mikroskopischen Negative zu retuschieren ... ! Man kann sagen, daß die lebende Photographie einen Charakter der Authentizität, der Genauigkeit und der Präzision be- sitzt, der ihr allein eigen ist. Sie ist der wahrhaftige und unfehlbare Augen- zeuge par excellence. Sie kann die mündliche Überlieferung überprüfen und, wenn sich die menschlichen Zeugen hinsichtlich einer Tatsache wider- sprechen, Einigkeit herstellen, indem sie denjenigen, den sie widerlegt, zum Schweigen bringt. Nehmen wir an, es entstünde eine Diskussion über ein Militär- oder Marinemanöver, dessen Ablauf vom Kinematographen fest- gehalten wurde: Sie wäre schon bald entschieden ... Mit mathematischer Genauigkeit gibt der Kinematograph die Abstände zwischen den einzelnen Punkten der von ihm aufgenommenen Szenen wieder. In den meisten Fäl- len bezeugt er durch deutliche Indizien die Tages- oder Jahreszeit sowie die klimatischen Umstände eines Ereignisses. Das Objektiv erfaßt selbst das, was den Augen entgeht, wie die unmerkliche Vorwärtsbewegung, die in der Feme am Horizont beginnt, bis hin zu dem Punkt, der am nächsten liegt, im Vordergrund der Leinwand. Es wäre also geradezu wünschenswert, daß all 10 Boleslas Matuszewski montage/av die anderen historischen Dokumente diesen Grad an Eindeutigkeit und Klarheit besäßen. Einrichtung einer Aufbewahrungsstätte für die historische Kinematographie Es geht nun darum, dieser vielleicht bevorrechteten Quelle der Geschichte den gleichen Stellenwert, die gleiche offizielle Anerkennung und den glei- chen Zugang wie den anderen bereits bekannten Archiven einzuräumen. Darum kümmert man sich in höchsten Staatskreisen, und es scheint im übrigen nicht schwierig, hierzu Mittel und Wege zu finden. Es genügt schon, den kinematographischen Abzügen, die einen historischen Charakter haben, den Teil eines Museums, ein Bibliotheksregal oder einen Archiv- schrank zuzuweisen. Die offizielle Aufbewahrungsstätte würde entweder bei der Bibliotheque Nationale eingerichtet oder beim Institut National unter der Obhut einer der Akademien, die sich mit der Geschichte befassen, im Nationalarchiv oder aber im Museum von Versailles. Man wird aus- wählen und dann eine Entscheidung treffen. Ist die Gründung erst vollzo- gen, werden kostenlose Eingänge oder solche, die aus irgendeinem Inter- esse heraus geschehen, nicht auf sich warten lassen. Der zu Anfang noch sehr hohe Preis für den kinematographischen Aufnahmeapparat und die Filmbänder fällt schnell und wird bald schon für die einfachen Liebhaber der Photographie erschwinglich sein. Viele unter ihnen, von den Berufs- photographen einmal ganz zu schweigen, beginnen, sich für die kinemato- graphische Anwendung dieser Kunst zu interessieren und warten geradezu darauf, einen Beitrag zur Geschichte zu liefern. Wer seine Sammlung noch nicht gleich zur Verfügung stellt, wird sie sicher gern als Nachlaß geben. Ein fachkundiges Komitee wird die eingereichten Dokumente annehmen oder ablehnen, nachdem es sie auf ihren historischen Wert überprüft hat. Die negativen Rollen, die man annimmt, werden in Behältern versiegelt, beschriftet und katalogisiert; das sind die Urbilder, die unberührt bleiben. Dasselbe Komitee entscheidet auch über die Bedingungen, unter denen die Positive zugänglich sein sollen; solche, die aus besonderen Ermessensgrün- den erst nach Ablauf einiger Jahre der Öffentlichkeit preisgegeben werden können, bleiben unter Verschluß. Dies geschieht auch in anderen Archiven. Ein Konservator der ausgewählten Einrichtung trägt die Verantwortung für die anfangs noch kleine, neue Sammlung, und eine Institution der Zukunft ist gegründet. Paris wird seine Aufbewahrungsstätte für die historische Kinematographie besitzen. 7/2/1998 Eine neue Quelle für die Geschichte 11 Grundzüge der geplanten Einrichtung Eine solche Einrichtung ist von wesentlicher Bedeutung und wird eines Tages in irgendeiner großen europäischen Stadt entstehen. Ich möchte dazu beitragen, daß dies in der Stadt geschieht, in der man mich so freundlich aufgenommen hat. Und an dieser Stelle bitte ich darum, selbst in aller Be- scheidenheit die Bühne betreten zu dürfen. Als Photograph des russischen Zaren durfte ich auf besonderen persönli- chen Befehl Seiner Majestät mit dem Kinematographen neben anderen bemerkenswerten Bildern auch die bedeutenden Szenen und die bekannten Vorfälle aufnehmen, die sich anläßlich des Besuchs des Präsidenten der französischen Republik in Petersburg im September 1897 ereigneten. 1 Diese Aufnahmen, die ich auf solch hohe Initiative hin hatte machen dür- fen, wurden für seine Augen projiziert. Danach konnte ich in sechzig aufeinanderfolgenden Vorführungen den Soldaten in den Kasernen von Paris dasselbe Schauspiel darbieten. Ich war überrascht und bezaubert von der Wirkung, die es auf diese einfachen Seelen ausübte, denen ich so die Physiognomie eines fremden Volkes und Landes zeigen konnte sowie die Organisation von Feierlichkeiten, die neu für sie waren, und schließlich auch, was ein Ereignis von nationaler Bedeutung ist. Ich biete diese ungewöhnliche Serie kinematographischer Aufnahmen als Grundstock für die Schaffung des neuen Museums an. Es ist mir gelungen, Personen von erheblicher Bedeutung für meine Ansichten zu gewinnen, und mit ihrer Unterstützung werde ich es vielleicht bald erleben, daß in Paris dieses neuartige Archiv gegründet wird. Ich habe ausgeführt, warum ich dafür eine rasche, mühelose Weiterent- wicklung voraussehe. Ich selbst will dazu beitragen. Außer den erwähnten Szenen kann ich weitere anbieten von der Krönung S.M. Nikolaus II., von den Reisen zweier anderer Kaiser in Rußland, vom Krönungsjubiläum der Die Vorführung einer dieser Aufnahmen gestattete es, auf unstrittige Weise eine aus dem Ausland kommende falsche Behauptung zu widerlegen, die sich auf ein angebliches Fehlverhalten während der Ereignisse bezog. Die Angele- genheit war sicherlich nicht ganz ohne Bedeutung, doch vor allem ist dies ein Beispiel für die Dienste, welche die lebende Photographie der Wahrheit leisten kann, indem sie die Aussagen menschlicher Zeugen überprüft. Diese ganze anekdotische Seite der Geschichte entzieht sich von nun an der Einbildungs- kraft der Berichterstatter. 12 Boleslas Matuszewski montage/av Königin von England. In jüngster Zeit gelang es mir, in Paris unerwartete und fesselnde Ausschnitte von Ereignissen festzuhalten. Ich erkläre mich bereit, in ganz Europa Wiedergaben von allen Szenen, die mir von histori- schem Interesse scheinen, zu sammeln und an die zukünftige Autbewah- rungsstätte zu senden. Man wird meinem Beispiel folgen ... wenn Sie diese einfache, aber neuartige Idee unterstützen wollen und weitere zu ihrer Vervollständigung vorschla- gen, vor allem aber ihr die Öffentlichkeit verschaffen, die nötig ist, auf daß sie lebendig und fruchtbar sei. Boleslas Matuszewski Aus dem Französischen von Frank Kessler Dirk Eitzen Wann ist ein Dokumentarfilm? Der Dokumentarfilm als Rezeptionsmodus • Dokumentarfilme - oder wie immer ihre Regisseure sie bezeichnen wollen - sind nicht meine liebste Art von Kino. Ich traue den kleinen Halunken nicht über den Weg. Und ich traue den Motiven derer nicht, die meinen, daß Doku- mentarfilme Spielfilmen überlegen seien; die behaupten, daß Dokumentarfilme die Wahrheit gepachtet hätten. Ich traue ihrem überzogenen und völlig unver- dienten Status bürgerlicher Wohlanständigkeit nicht. {Ophüls I 985, 19) Marcel Ophüls' Mangel an Vertrauen ( der ihn nicht davon abgehalten hat, selber bedeutende Dokumentarfilme zu drehen), trifft den Kern dessen, was einen Dokumentarfilm (,,oder wie immer ihre Regisseure sie bezeichnen wollen") ausmacht. Denn bei Dokumentarfilmen geht es immer um Ver- trauen, egal, ob wir sie nun wirklich für vertrauenswürdig halten oder nicht. Ein Dokumentarfilm ist jeder Film, an den die Frage gerichtet werden kann: ,,Könnte das gelogen sein?" Es ist jetzt fast siebzig Jahre her, daß John Grierson den Begriff documen- tary erstmalig auf Filme angewandt hat, aber immer noch ist dessen Defini- tion umstritten, und zwar nicht nur bei Filmtheoretikern, sondern auch bei Dokumentarfilmern und ihrem Publikum. Genredefinitionen wie „Western" oder „film noir" sind ziemlich akademisch und eher ein Thema für Film- Anm.d.Red.: Dieser Text erschien unter dem Titel „When Is a Documentary?: Documentary as a Mode of Reception" zuerst im Cinema Journal 35, 1, 1995, S. 81-102. Wir danken Dirk Eitzen und der Texas University Press für die freundliche Genehmigung zur Übersetzung. Der Autor dankt an dieser Stelle Rick Altman, Dudley Andrew, Scott Curtis und zwei Lesern, die anonym bleiben wollen, für ihre Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Aufsatzes. Der Aufsatz ist Teil seiner Dissertation .. Bringing the Past to Life ": The Reception and Rhetoric of Historical Docu- mentaries. University of Iowa 1994. Die Arbeit an der Dissertation wurde von einem Dissertationsstipendium des National Endowment for the Humanities unterstützt. 14 Dirk Eitzen montage/av wissenschaftler denn für normale Kinobesucher. Aber die leidenschaftli- chen Debatten, die um Filme wie JFK (1991) oder MALCOM X (1992) ent- brannten, also Filme, die „auf wahren Begebenheiten beruhen", hat gezeigt, daß die Unterscheidung zwischen „Fakt" und „Fiktion" für ein normales Kinopublikum dagegen durchaus relevant ist. Ohne diese Unterscheidung wären vermutlich auch viele Alltagsdiskurse - vom Gespräch unter Freun- den bis zur Fernsehwerbung - schwer zu verstehen, aber absolut grundle- gend ist sie für die Rezeption von nicht fiktionalen Diskursen, also auch von Dokumentarfilmen. Die Frage, der ich hier nachgehen will, lautet: Wo liegt der Unterschied? Was macht es Rezipienten aus, ob sie einen Diskurs für erfunden oder wahr [fiction or nonfiction] halten? Obwohl ich mich hauptsächlich mit Doku- mentarfilmen beschäftigen werde - d.h. mit Filmen, von denen angenom- men wird, sie seien nicht fiktional 1 - betrifft diese Frage auch andere do- kumentarische Formen wie z.B. Geschichtsschreibung oder Journalismus. Der Dokumentarfilm erfuhr im Lauf der Jahre verschiedene Definitions- versuche, etwa als „die dramatisierte Darstellung des Menschen im öffent- lichen Leben" (Spottiswoode 1959, 284), als „Filme mit Botschaft" (Barsam 1973, 4 ), als „ Vermittlung von wirklichen, und zwar ausschließ- lich wirklichen, nicht erfundenen Inhalten" (Stott 1973, xi) und als „Filme, die über die gefilmten Ereignisse keine Kontrolle ausüben" (Allen/Gomery 1985, 216). Die berühmteste und noch immer brauchbarste Definition ist John Griersons Formulierung „die kreative Behandlung der aktuellen Wirklichkeit [the creative treatment of actuality]" (Grierson 1966, 147). Aber keine dieser Definitionen ist völlig zufriedenstellend. Die erste schließt Porträtfilme und Großstadtsinfonien aus, die zweite aber allegori- sche Spielfilme wie Spike Lees SCHOOL DAZE (1988) ein, die dritte umgeht die schwierige Frage, welcher Teil eines so komplexen Dokumentarfilms Richard Meran Barsarn schreibt: ,,Alle Dokumentarfilme sind nicht fiktionale Filme, aber nicht alle nicht fiktionalen Filme sind Dokumentarfilme" (1973, 1) . Die Abendnachrichten im Fernsehen gehören für ihn zum Beispiel nicht zu den dokumentarischen Filmformen. Ich schließe mich dieser allgemein üblichen Definition an, aber möchte sie in diesem Aufsatz auf die Abendnachrichten, das „Dokudrarna" und sogar auf die „faktischen" Elemente in solchen Spielfilmen ausweiten, die „auf wahren Begebenheiten beruhen". Ich spreche also von Fil- men, die von Zuschauern in irgendeiner Weise als nicht fiktional wahrgenom- men werden. 7/2/1998 Wann ist ein Dokumentartilm? 15 wie HIGH SCHOOL von Frederick Wiseman (1968) ,,wirklich" und welcher ,,erfunden" ist, usw. Das größte Problem bei all diesen gebräuchlichen Definitionen des Doku- mentarfilms wie Griersons „kreativer Behandlung der aktuellen Wirklich- keit" liegt darin zu bestimmen, was genau denn eigentlich die „ Wirklich- keit" ausmacht. Im Grunde ist jede Darstellung der Wirklichkeit ein künst- liches Konstrukt und von daher Fiktion - ein selektiver und voreingenom- mener Blick auf die Welt, der daher unvermeidlich einen subjektiven Stand- punkt wiedergibt. Selbst unsere „unmittelbaren" Wahrnehmungen der Welt sind unweigerlich von unseren Überzeugungen, Annahmen, Absichten und Wünschen gefärbt. Auch wenn es eine konkrete materielle Realität gibt, von der unsere Existenz abhängt (und kaum jemand bezweifelt das) können wir sie nur durch mentale Repräsentationen begreifen, die ihr höchstens ähneln und zum größten Teil gesellschaftlich produziert sind. Einige Filmtheore- tiker lösen dieses Dilemma, indem sie behaupten, daß der Dokumentarfilm nur eine besondere Art von Fiktion sei, und zwar eine, die ihre Fiktionalität verschleiere oder „ verleugne". 2 Eine solche Definition weist zwar zurecht einen naiven Realismus zurück, kann aber die praktische Relevanz der Alltagsunterscheidungen zwischen Fiktion und Wahrheit nicht erklären, Unterscheidungen, die wir für wirklich halten und die höchst reale Auswirkungen auf unseren Umgang mit der Welt haben, mögen sie auch noch so imaginär sein. Man könnte ebensogut nachweisen, daß auch die optische Wahrnehmung nur eine besonders real scheinende Fiktion ist. Die Wahrnehmung eines Baseballs, der direkt auf meinen Kopf zuschießt, mag theoretisch nichts als ein imaginäres Konstrukt sein. Aber wenn diese „Fiktion" mich nicht dazu veranlaßt, mich zu ducken, werde ich eine beachtliche Beule abbekommen. Auch der Doku- mentarfilm hat solch praktische Auswirkungen. Dokumentarfilmdefinitionen, die sich elegant auf textuelle Merkmale oder die Intentionen des Autors berufen, haben sich ebenfalls als problematisch erwiesen. Ich behaupte, daß eine solche Definition tatsächlich unmöglich ist, und zwar weil im Alltagsdiskurs und in der Alltagserfahrung der Zu- schauer die Grenzen des Dokumentarfilms verschwommen und variabel sind. Es mag möglich sein, die Spezies „Schnabeltiere" genau zu definieren, Vgl. William Guynns letztes Buch (1990, 17). Ähnliche Argumente gegen eine Unterscheidung von fiction und nonfiction werden von Barbara Foley ent- wickelt ( 1986, 29-41 ). 16 Dirk Eitzen montage/av indem man festlegt, daß sich der Begriff auf eine bestimmte, eindeutig begrenzte empirische Kategorie bezieht. Das ist beim Dokumentarfilm nicht der Fall. Die Frage, ob die Nachstellung einer Entführung in der Fernseh- serie A CURRENT AFFAIR dokumentarisch ist oder nicht, würden die mei- sten Zuschauer eben nicht mit einem klaren Ja oder Nein, sondern mit „Na ja. .. " beantworten. Und ob es sich bei dem halbfiktionalen Film DAUGHTER RITE (1978, Michelle Citron) um einen dokumentarischen handelt, ist eine Frage der Betrachtungsweise. Es wäre durchaus machbar, per Dekret rigo- rose analytische Unterscheidungskriterien aufzustellen - und Genretheore- tiker täten das nur zu gern -, aber gerade weil sie notwendigerweise CURRENT AFFAIR oder DAUGHTER RITE eindeutig ein- oder ausschließen würden, beschrieben sie die Kategorie „Dokumentarfilm" nicht so, wie es unserer Alltagserfahrung entspricht. Und die allein zählt, wenn wir die tatsächlichen, ganz gewöhnlichen Alltagsdiskurse verstehen und erklären wollen (zum Beispiel, wie die Nachinszenierungen in A CURRENT AFFAIR auf Zuschauer in einer bestimmten Situation wirken). Deswegen sollte man vielleicht den Dokumentarfilm einfach als das defi- nieren, was wir alle normalerweise unter dem Begriff verstehen. Ähnlich schrieb Andrew Tudor vor zwanzig Jahren über Genres: ,,Genre ist das, was wir kollektiv darunter verstehen" (Tudor 1974, 139; Herv.i.O.). Diese Defi- nition ist deswegen nicht tautologisch, weil Tudor auch gezeigt hat, daß Verwendung und Bedeutung von Genrebegriffen kulturell ziemlich klar reguliert sind. DAUGHTER RITE kann als Dokumentarfilm bezeichnet wer- den oder auch nicht, je nachdem, welche Rezeptionshaltung man einnimmt. Auf der anderen Seite wäre es unter normalen Umständen absurd, ROCKY (1976) als Dokumentarfilm zu bezeichnen. Aber Konventionen ändern sich natürlich. Bei seinem Erscheinen wurde etwa ON THE WATERFRONT (1954) als Dokumentarfilm bezeichnet, eine Einschätzung, die heute kaum noch nachvollziehbar ist. Eine solche Definition geht natürlich an der eigentlichen Fragestellung vorbei: Zu erklären daß Dokumentarfilme das sind, was die Leute darunter verstehen, sagt absolut nichts darüber aus, was genau die Leute darunter verstehen. Das aber ist die entscheidende Frage. Realität repräsentieren In Representing Reality wirft Bill Nichols eine neue Definition des Doku- mentarfilms in die Debatte. Er behauptet, daß die Angemessenheit einer Definition weniger damit zu tun habe, wie weit sie mit dem allgemeinen 7/2/1998 Wann ist ein Dokumentarfilm? 17 Gebrauch übereinstimme (wie Tudor vorgeschlagen hatte), sondern damit, wie gut sie „wichtige [theoretische] Fragen ausfindig macht und anspricht" (Nichols 1991, 12). Die theoretischen Fragen, die Nichols ausfindig machen und ansprechen will, sind in erster Linie solche nach den Machtverhältnis- sen in dokumentarischen Diskursen. Ohne Zweifel eine wichtige Frage, aber nur ein Teilaspekt davon, wie Dokumentarfilme als Diskurs funktio- nieren. Auch Nichols scheint einzuräumen, daß man erst dann adäquat untersuchen kann, wie Macht in einem Diskurs zirkuliert, wenn man zuvor verstanden hat, wie dieser von seinen Rezipienten wahrgenommen und interpretiert wird. Folglich versucht Nichols zunächst, dieses konventionelle Verständnis zu erläutern.· In drei diskursiven Arenen oder Schauplätzen, so Nichols, zirkulieren Kon- ventionen, werden verhandelt und festgelegt: Da ist einmal die Gemein- schaft der Produzenten und ihre institutionelle Einbindung, dann ein Textkorpus und schließlich die Zuschauerschaft. Die drei Ebenen sind un- trennbar miteinander verwoben, und ihre Unterscheidung ist daher eine rein analytische, aber nichtsdestoweniger eine nützliche. Im Fall von Doku- mentarfilmdiskursen besteht die Gruppe der Produzenten aus denjenigen, die Dokumentarfilme herstellen oder vertreiben. Diese Gruppe wird von Subventionsgebern wie „The National Endowment for the Arts", Vertrieben wie PBS, Interessensvertretungen, Dokumentarfilmfestivals und anderen Institutionen unterstützt. Der Textkorpus schließt alles ein, was gemeinhin unter einem Dokumentarfilm verstanden wird. Auch wenn Nichols dies nicht explizit sagt, scheint es eine logische Schlußfolgerung, daß einige Texte, so wie DAUGHTER RITE und Episoden von A CURRENT AFFAIR, nur am Rande oder vorübergehend zu diesem Korpus gehören. Die Zuschauer- schaft im weitesten Sinn schließt alle ein, die sich zumindest hin und wieder Dokumentarfilme anschauen. Diese Gruppe definiert sich aber eher durch ein gemeinsames Wissen darüber, was einen Dokumentarfilm ausmacht und wie man ihn nach gültigen Konventionen zu verstehen hat. Hinzuzufügen wäre, daß das Publikum seinerseits von Einrichtungen wie der Filmkritik in Tageszeitungen, dem Bildungswesen und wiederum von Verleihern wie Anm.d.Red.: Zu Nichols' Dokumentarfilmtheorie vgl. Christof Decker (1994) Grenzgebiete filmischer Referentialität. Zur Konzeption des Dokumentarfilms bei Bill Nichols. In: Montage/AV 3,1, S. 61-82. 18 Dirk Eitzen montage/av PBS unterstützt wird, die die Kategorisierung eines Films und seinen Auf- führungskontext festlegen.) Laut Nichols definiert sich die Gemeinschaft der Produzenten hauptsächlich durch den „gemeinsamen, selbstgewählten Auftrag, die historisch reale Welt statt erfundene Welten darzustellen" (1991, 14). Der Textkorpus ist durch eine „grundlegende Haltung" (ibid., 18) bestimmt, ,,die historisch gegebene Welt zu repräsentieren, an einem Fallbeispiel abzuhandeln oder sich mit einem Argument auf sie zu beziehen" (ibid.). Die Zuschauerschaft wird von zwei Grundannahmen bestimmt: Die erste ist die, daß „die Bilder, die wir sehen (und viele der Töne, die wir hören) ihren Ursprung in der historischen Welt haben", und zweitens, daß Dokumentarfilme die histo- risch reale Welt nicht einfach bloß abbilden, sondern ihr mit einem „Argument", einer „Beweisführung" gegenübertreten (ibid., 25). In jedem der drei Fälle ist die „historisch gegebene Welt" der entscheidende Faktor. Ob man sich damit beschäftigt, warum Dokumentarfilme gemacht werden, wie sie aufgebaut sind oder wie sie interpretiert werden - laut Nichols läuft die konventionelle Definition von Dokumentarfilmen immer auf ihren Be- zug zur „historischen Welt" hinaus, genauer gesagt darauf, daß sie sich mit ,,Argumenten" auf diese beziehen. Die Ähnlichkeit mit Griersons Definition von der „kreativen Behandlung der aktuellen Wirklichkeit" ist auffallend. Nichols ersetzt „die kreative Behandlung" mit „ein Argument formulieren", ,,die aktuelle Wirklichkeit" mit „historische Welt". Wie Grierson scheint auch Nichols der schwierigen Frage auszuweichen, was denn nun die „Wirklichkeit" oder die „historische Welt" sei, aber tatsächlich erläutert er eben das ausführlich. Wir bilden uns die historische Welt nicht ein, sagt er, obwohl unsere Welt- wahrnehmung immer von unseren Weltvorstellungen vermittelt ist. Die Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, daß das Publikum die Gruppe der Produzenten einschließt und den Korpus der Filmtexte definiert, weil (im Un- terschied zu den Schnabeltieren) in diesem Fall die Kategorie von der Diskurs- kompetenz der Zuschauer bestimmt wird und nicht von Eigenschaften, die den Dingen selbst innewohnen. Nichols scheint dem zuzustimmen (vgl. ibid., 24). Das Publikum schließt die Gruppe der Produzenten mit ein, weil jede/r von ihnen selbst „Leser/Leserin" ist. Die Filmemacher mögen zwar die Texte pro- duzieren, aber sie können nicht festlegen, wie Menschen auf einen Film reagie- ren, wie sie ihn interpretieren und Gebrauch von ihm machen werden. Produ- zenten können nur aufgrund ihrer eigenen Diskurskompetenz versuchen, die Reaktionen anderer zu antizipieren und ihren Text entsprechend zu gestalten. 7/2/1998 Wann ist ein Dokumentarfilm? 19 historische Welt liegt ihrer Repräsentation zwar zugrunde, bleibt dieser aber äußerlich. Sie ist eine „krude Wirklichkeit", in der „Objekte aufeinander- stoßen, Handlungen gesetzt werden [u nd] Kräfte ihren Tribut fordern" (ibid., 110). Dokumentarfilme sind daher nicht Repräsentationen einer erfundenen Wirklichkeit, sondern erfundene Repräsentationen einer tat- sächlichen historischen Realität. Somit kommt Nichols' Definition des Dokumentarfilms jener von Grierson näher als solchen, die davon ausge- hen, daß der Dokumentarfilm nur eine Fiktion sei, die ihre eigene Fiktiona- lität verleugne. Natürlich können wir unsere Wahrnehmungen der und Mei- nungen zur historischen (d.h. tatsächlichen) Realität anderen nur durch konventionelle Mittel vermitteln. Und um diese konventionellen Praktiken zu beschreiben, bringt Nichols seine drei Ebenen - die Produzenten, den Textkorpus und die Zuschauer - ins Spiel. Nichols Dokumentarfilmdefinition läßt sich in etwa wie folgt zusammen- fassen: Der Einsatz konventioneller Mittel, um sich auf die historische Wirklichkeit zu beziehen, sie darzustellen oder ihr argumentativ gegenüber- zutreten. Das scheint ein vielversprechender Anfang zu sein. Aber ein Pro- blem bleibt ungelöst: Es gibt auch viele Spielfilme, die sich auf die histori- sche Wirklichkeit beziehen, sie darstellen oder ihr mit Argumenten entge- gentreten. Spike Lees Film SCHOOL DAZE behandelt zum Beispiel die Kon- flikte zwischen den Studenten in einem fiktiven „rein schwarzen" College. Die Konflikte entstehen unter anderem aus heftigen Meinungsverschieden- heiten in der Frage, ob die Schule ihre Beteiligungen an Firmen, die mit Südafrika Geschäfte machen, veräußern soll. 1987, als der Film gedreht wurde, war dieser Konflikt an zahlreichen Hochschulen sicherlich histori- sche Realität. Am Schluß von SCHOOL DAZE weckt der Hauptdarsteller früh morgens den ganzen Campus mit Glockengeläute auf und ruft: ,, Wacht auf1 Wacht auf1" Sein Gegenspieler im Film, ein zynischer, egoistischer Kar- riere-Typ kommt auf ihn zu, schaut ihn an, und unerklärlicherweise weint er. Beide wenden sich direkt zur Kamera und durch sie an das Publikum. ,,Bitte wacht auf', sagt der Protagonist, und man hört einen Wecker läuten. Diese Szene dürfte den meisten Zuschauern mehr als deutlich vermitteln, daß der Film einen Standpunkt - eben ein „Argument" - vertritt und daß sich dieser Standpunkt offenkundig auf die historische Realität der Apart- heid in Südafrika bezieht. Nach Nichols' Definition wäre SCHOOL DAZE also ein Dokumentarfilm. Aber natürlich nehmen ihn die meisten Zuschauer nicht als einen solchen wahr. Nichols versucht das Problem zu lösen, indem er meint, daß Spielfilme, die sich auf die Realität beziehen oder sie darstellen, dies „metaphorisch" täten. 20 Dirk Eitzen montage/av Der Neorealismus zum Beispiel „stellt eine Welt wie die historische Welt dar und fordert uns dazu auf, daß wir diese Welt so wahrnehmen und erfah- ren wie die Geschichte selbst" (ibid., 170). Diese Erklärung trägt allerdings nichts zur Klärung der Schlußsequenz von SCHOOL DAZE bei, die sich auf die historische Realität bezieht, ohne ihr im geringsten zu ähneln und ohne sie explizit mit irgendetwas zu vergleichen. Vergleichen wir diese Szene mit dem Anfang von Wisemans HIGHSCHOOL (1968): Aus einem fahrenden Auto wird die häßliche Backsteinfassade eines Schulgebäudes, Philadelphias „Northeast High", so aufgenommen, daß es wie eine Fabrik aussieht. Am Ende der Sequenz verweilt die Kamera länger auf der Rückseite eines Lieferwagens, auf dem der Schriftzug „Penn Maid Products" zu lesen ist. Während der ganzen Szene ertönt, vermutlich aus dem Autoradio, Otis Reddings Song „Sitting on the dock of the bay, wasting time ... ". Warum der Bezug zur Realität in dieser Sequenz keine Metapher sein soll, jener in SCHOOL DAZE aber schon, dafür bleibt Nichols die Erklärung schuldig. Unter Rückgriff auf die Kunstphilosophie von Nicholas Wolterstorff schlägt Carl Plantinga eine angemessenere Unterscheidung zwischen den Realitäts- bezügen in allegorischen Spiefilmen wie SCHOOL DAZE und in Dokumen- tarfilmen wie HIGH SCHOOL vor (Plantinga 1989, 25-40).4 Alle Werke der darstellenden Kunst, und das schließt Dokumentar- wie Spielfilme ein, „entwerfen eine Welt", so Wolterstorff. Diese Welt ist imaginär, insofern sie als Kunstwerk immer Ausdruck der Vorstellung eines Künstlers ist ( obwohl es seine oder ihre Vorstellung der Realität sein mag). Wie in der Alltagswelt können in dieser Welt Gegenstände, Ereignisse, Menschen, Ursachen und Wirkungen, Kategorien, Grundregeln und so weiter vor- kommen. In einer gegebenen entworfenen Welt könnte all das als ,,Zustand" [.,state of affairs"] bezeichnet werden. Ein darstellendes Kunst- werk entwirft also sozusagen bestimmte Zustände. Bis auf die ungewohnte Terminologie folgt diese Argumentation dem bereits Skizzierten. Wolterstorff sagt weiter, daß eine Welt oder ein Zustand mit verschiedenen „Haltungen" [., stances "] entworfen werden kann. Ein Geschichtenerzähler nimmt typischerweise eine „fingierende" Haltung [,,fictive" stance] ein: Plantinga bezieht sich insbesondere auf Nicholas Wolterstorffs Works and Worlds ofA rt. Oxford: Clarenton Press 1980 und dessen Art in Action. Grand Rapids: Eerdmans 1980. 7/2/1998 Wann ist ein Dokumentarfilm? 21 Wenn man gegenüber einem Zustand eine fingierende Haltung einnimmt, be- hauptet man weder, daß dieser Zustand wahr sei, noch fragt man, ob er wahr ist, noch fordert man, daß er wahr werde, noch wünscht man, daß er wahr sei. Es ist lediglich die Einladung, einen Zustand in Betracht zu ziehen (Wolters- torff zit.n. Plantinga 1989, 28). Es geht also nur darum, eine Welt zu zeigen, sie zu beschreiben, sie vorzu- stellen, und nicht darum, Behauptungen über sie aufzustellen. Im Gegensatz dazu wird aus einer „behauptenden" Haltung [,, assertive" stance] heraus der Anspruch erhoben, daß etwa ein Zustand so und nicht anders war oder ist. Plantinga argumentiert, daß es diese „behauptende" Haltung sei, die Dokumentarfilme von Spielfilmen unterscheide. Wie Spielfilme legen Do- kumentarfilme uns eine Welt zur Betrachtung vor. Aber anders als Spiel- filme stellen sie Behauptungen über diese Welt auf. Über diesen Punkt kann man nun streiten. Ein Produzent kann eine „behauptende Haltung" nicht einmal und dann für alle Zeit gültig in einem Text manifestieren, läßt sich doch so etwas grundsätzlich nicht in Filmtexte einbauen. Die Eröffnungssequenz von HIGH SCHOOL unterscheidet sich weder in der Form noch im Stil von ähnlichen Sequenzen in low-budget- Spielfilmen. Tatsächlich könnte mit dieser Sequenz ein Spielfilm anfangen. Anstatt also zu sagen, daß der Dokumentarfilm etwas behaupte, sollten wir sagen, daß der Dokumentarfilm so wahrgenommen wird, als ob er etwas behaupte. Und ob ein Text so wahrgenommen wird, ist zum einen eine Frage der filmischen Konventionen (ob der Text beispielsweise so aussieht, wie man es von einem Dokumentarfilm erwartet) und zum anderen eine Frage des diskursiven Kontexts (wie z.B. der Verleih den Film kategorisiert und beschreibt). Durch diese Wendung gelingt es Plantinga, die intentiona- listischen Implikationen in Wolterstorffs Theorie zu vermeiden. Befassen wir uns wieder mit dem Problem, wie wir einen allegorischen Spielfilm wie SCHOOL DAZE von einem Dokumentarfilm wie HIGH SCHOOL unterscheiden können. Nicht nur Dokumentarfilme nehmen eine behaup- tende Haltung ein: Auch ein fiktionaler Text kann Behauptungen über die von ihm entworfenen Zustände aufstellen. Plantinga zieht als Beispiele die Gleichnisse aus dem Neuen Testament und Äsops Fabeln heran. Implizit oder explizit machen sie eine Aussage, formulieren ein Argument oder eine „Moral", die auf die Wirklichkeit abzielt. Aber laut Plantinga besteht ein Unterschied zwischen diesen Behauptungen und solchen, die für Doku- mentarfilme bestimmend sind. Wenn eine Fiktion Behauptungen über die Wirklichkeit aufstellt, wird eine Analogie oder Ähnlichkeit zwischen einem entworfenen Zustand und der realen Welt vorgeschlagen. Im Gegensatz 22 Dirk Eitzen montage/av dazu behauptet der Dokumentarfilm, daß der entworfene Zustand in der realen Welt wahr sei. Fiktionale Texte behaupten Ähnlichkeiten, Doku- mentarfilme dagegen Wahrheiten. Nach Plantinga können Spielfilme eine allgemeine künstlerische Wahrheit behaupten oder implizieren, ,,die auch Dokumentarfilme beanspruchen können, aber sie behaupten darüber hinaus, daß der von ihnen repräsentierte Sachverhalt sich tatsächlich genau so zu- getragen hat". 5 Das „Wacht auf! Wacht auf!" am Ende von SCHOOL DAZE ist gleichzeitig ein Handlungsaufruf in der historisch realen Welt sowie die Behauptung, daß die im Film gezeigten Zustände denen in der historisch realen Welt ähnlich seien. Aber es wird kein Wahrheitsanspruch erhoben. HIGH SCHOOL erhebt vergleichbare Ansprüche, so z.B. daß „Northeast High" wie eine Fabrik sei. Aber im Gegensatz zu SCHOOL DAZE stellt HIGH SCHOOL auch explizite Wahrheitsansprüche: daß der „Penn Maid"-Lieferwagen nicht absichtlich an den Drehort gestellt wurde, sondern zufällig vorbeifuhr; daß der Song von Otis Redding tatsächlich irgendwann während der Drehar- beiten im Radio gespielt wurde; usw." Diese letztgenannten Behauptungen - filmische Ereignisse, die auf der Basis entsprechender Konventionen als Wahrheitsansprüche verstanden werden - machen laut Plantinga aus HIGH SCHOOL einen Dokumentarfilm. Wen kümmern schon Wahrheitsansprüche? Plantingas Unterscheidung zwischen dem Dokumentarischen und allegori- scher Fiktion klärt sehr schön, was Nichols vermutlich meint, wenn er sagt, daß sich Spielfilme metaphorisch auf die Wirklichkeit beziehen. Plantingas Aus einem persönlichen Schreiben vom 27. August 1992. Der Otis Redding-Song wurde wahrscheinlich beim Dreh dieser Szene gar nicht im Radio gespielt. Wiseman sagt allerdings, daß er ihn jeden Morgen auf dem Weg zum Set im Auto gehört hat und er ihn deswegen in der Postproduk- tion dazu nehmen durfte. Wisemans Vorgehensweise, den ganzen Film hin- durch ausschließlich Tonmaterial zu verwenden, das den Anschein diegetischen Tons erweckt - dazu zählt auch der Trick, den Song so klingen zu Jassen, als käme er direkt aus dem Autoradio-, fungiert als impliziter Wahrheitsanspruch. Dieser Eindruck wird dadurch bestärkt, daß Wiseman seine Verwendung dieses Materials offensichtlich auch später noch für erklärungsbedürftig hielt und in einem Interview sagte, der Redding-Song sei ein wahrhaftiger Teil der Erfah- rung bei den Dreharbeiten gewesen, auch wenn er der Wahrheit der Tatsachen nicht so ganz entsprochen hätte (vgl. Rosenthal 1972, 73). 7/2/1998 Wann ist ein Dokumentarfilm? 23 Behauptung, daß Dokumentarfilme Wahrheitsansprüche erheben, entspricht der Behauptung von Nichols, daß Dokumentarfilme „Argumente" gegen- über der historischen Realität formulieren. Ich bin mir aber nicht sicher, ob Dokumentarfilme wirklich immer so wahrgenommen werden, wie es Plan- tinga und Nichols sich vorstellen. Die Zuschauer scheinen Dokumentar- filme nicht durchgehend als „Argumente" aufzufassen. Und manchmal sieht es so aus, als ob ihnen die Wahrheitsansprüche von Dokumentarfilmen gleichgültig sind oder gar nicht auffallen. (Aus diesem Grund halten man- che Filmtheoretiker traditionelle Dokumentarfilme für besonders heim- tückische Ideologieträger.) Nehmen wir als Beispiel den Schluß aus der ersten Episode von Ken Bums' THE CIVIL WAR (1991 ). In dieser Szene wird eine lange Passage aus einem Liebesbrief zitiert, den ein Soldat namens Sullivan Ballou kurz vor seinem Tod in der Schlacht von Bull Run an seine Frau Sarah geschrieben hat: Wenn ich nicht zu Dir zurückkomme, geliebte Sarah, vergiß nie, wie sehr ich Dich liebe, noch daß mein letzter Atem auf dem Schlachtfeld Deinen Namen hauchen wird. [. .. ] Oh Sarah, sollten die Toten wirklich in diese Welt wieder- kehren und unsichtbar um ihre Lieben schweben, dann werde ich für immer bei Dir sein [. . .]. Für immer und ewig. Und wenn ein sanfter Windhauch Deine Wange küßt, wird es mein Atem sein, oder wenn kühle Luft über Deine heißen Schläfen streift, wird es mein Dich umarmender Geist sein. Während der Brief gelesen wird, erklingt im Hintergrund die schwermütige Melodie „Ashokan Farewell", gespielt auf Geige und Gitarre. Die Bild- ebene zeigt Fotos von Soldaten mit ihren Frauen; manchmal bleibt die Kamera erst auf den sich berührenden Händen der Paare, bevor sie nach oben auf ihre Gesichter schwenkt. Auf diese Fotos folgen Einstellungen von Kanonen aus dem Bürgerkrieg, die sich als Silhouette gegen einen roten Sonnenuntergang abheben. Während die Off-Stimme "wenn ein sanfter Windhauch Deine Wange küßt, wird es mein Atem sein" liest, schwingt eine Eisenkette, die von einer der Kanonen herunterhängt, vor dem purpur- nen Abendhimmel langsam hin und her. Diese Szene rief eine Flut von Reaktionen hervor - weit mehr als irgend- eine andere Episode in der insgesamt elfstündigen Serie.' Was ist gerade an Diese Szene wird in mehr als einem Drittel der Besprechungen der Serie er- wähnt, es gab Dutzende von Anfragen bei der öffentlichen Fernsehstation, die sie finanzierte; vgl. dazu: ,,Echoes of a Union Major's Farewell". In: /nsight/ Washington Times, November 1990 (zu finden in: Newsbank FTV, eine Micro- 24 Dirk Eitzen montage/av dieser Szene so besonders? Es scheint nichts mit dem „Argument" oder dem „Wahrheitsanspruch" der Szene zu tun zu haben, denn diese sind nichts Besonderes und eher trivial. Die Szene erhebt und impliziert zwar Wahrheitsansprüche, etwa: ,,Es gab einen Soldaten mit Namen Sullivan Ballou, der in der ersten Schlacht von Bull Run gefallen ist", und „das ist ein authentischer Brief'. Aber darauf achten Zuschauer nicht. Ihnen fällt an der Szene nur auf, wie rührend und ergreifend sie ist, wie sie die Gefühle anspricht, wie sie sie an die eigenen geliebten Menschen erinnert und wie sie sie zum Weinen bringt. Die Szene verdankt ihre Wirkung offensichtlich etwas anderem als „einem Argument". Sie scheint auf melodramatische Elemente, Stimmungen und die emotionale Reaktion zu bauen, die Sullivan Ballous Brief bei den Zu- schauern auslöst. Man könnte auch sagen, sie bearbeitet weniger die syn- tagmatischen, horizontalen Verbindungen zwischen den Elementen, wie Reihenfolge, Logik, Ursache und Wirkung usw., sondern betont die para- digmatische Dimension, indem sie Bedeutung über Bedeutung schichtet und so eine Art emotionaler Tiefenwirkung erreicht. In dieser Szene, die für viele Zuschauer besonders gelungen zum Ausdruck brachte, warum die gesamte Serie ihrer Meinung nach eine so außergewöhnliche und interes- sante Dokumentation war, scheinen diese rhetorischen Operationen weit wichtiger und ganz etwas anderes zu sein als Nichols' sogenannte „Ar- gumente". Man kann der Szene eine gewisse Überzeugungskraft nicht absprechen. Auf verschiedenste Arten werden die Empfindungen der Zuschauer erfolgreich manipuliert und vermutlich auch unterschwellige Botschaften vermittelt. Die Musik preßt die Emotionen aus den Zuschauer geradezu heraus; der pathetische Brief, die romantischen Fotos und die „künstlerischen" Ein- stellungen der Kanonen im Sonnenuntergang tragen insgesamt zu einer Sentimentalisierung des Krieges bei. Der edle Opfertod, den diese Szene impliziert, appelliert letztlich auch an nationalistische Stimmungen. Alle diese Merkmale operieren, wenn man so will, quasi-argumentativ. Aber diesen quasi-argumentativen Merkmalen wird in den Rezensionen und form-Sammlung von Zeitungsausschnitten zum Thema Film und Fernsehen [1990, 128, G8]). Die Szene wurde auch in 15% einer Stichprobe von 450 Briefen an die Produzenten erwähnt (in einer Untersuchung, die der Historiker David Glassberg, University of Massachusetts, durchgeführt und auf dem jähr- lichen Treffen des National Council of Public History im Mai 1991 in Toledo, Ohio, vorgestellt hat). 7/2/1998 Wann ist ein Dokumentarfilm? 25 Briefen an die Produzenten keine Aufmerksamkeit geschenkt. Die typische Reaktion behandelte den Text offensichtlich nicht als rhetorisches Kon- strukt (wozu Filmwissenschaftler neigen würden), sondern als etwas völlig anderes. Wie immer man den Begriff Argument fassen möchte - als eine Folge von expliziten Behauptungen, eine implizite Haltung, die Feststellung von Hi- storizität etc. -, es scheint, daß die Zuschauer die Liebesbrief-Szene im allgemeinen nicht als „Argument" wahrnehmen. Die Szene wird eher wie ein Melodrama gelesen. Es geht um emotionale Anteilnahme, um „Identi- fizierung" mit dem Soldaten, der seinen Tod voraussieht, oder mit der Frau, die den Brief ihres verstorbenen Mannes liest. Zuschauer denken an Men- schen, die ihnen nahe stehen, oder vielleicht denken sie auch an soldati- sches Heldentum oder die Tragödie des Krieges. Aber Menschen, die so auf die Szene reagieren, scheinen weder die Wahrheitsansprüche noch die Argumente zu bemerken, zu überprüfen oder auch nur besonders inter- essiert an ihnen zu sein. K Andererseits scheinen die Zuschauer anzunehmen, daß diese Szene wahr ist, auch wenn sie den konkreten Wahrheitsansprüchen keine Beachtung schen- ken. Und genau aufgrund dieser Annahme können sie den Wahrheitsan- spruch ignorieren. So können sie ihre Aufmerksamkeit auf die melodrama- tischen Aspekte der Szene statt auf ihre historischen Argumente richten. Die implizite Annahme, der Film sage die Wahrheit, authentisiert zudem die emotionalen Reaktionen. Würde der Brief als eine Fälschung betrachtet werden, wäre seine emotionale Wirkung zweifelsohne erheblich geringer. Es kam tatsächlich zu einer kleinen Kontroverse, als bekannt wurde, daß der zitierte Brief nur eine von mehreren, verschieden formulierten „Ab- schriften" eines verschollenen Originals ist. 9 Diese Analyse stimmt mit Michaels Renovs Interpretation überein, daß Doku- mentarfilme nicht allein als logische und erklärende Diskurse verstanden wer- den müssen, sondern - ebenso wie Spielfilme - als Diskurse des „Begehrens". Meiner Meinung nach entspricht aber der Tenor, den ich in den Reaktionen auf die Liebesbrief-Szene in THE CIVIL WAR heraushöre, den „vier Modi des Be- gehres" (Aufdecken, Überzeugen, Analysieren und Ausdrücken) von Renov in keinster Weise; vgl. Renov 1993, 12-36. Vgl. ,,129 Years in His Grave, Civil War Major Sullivan Ballou Touches America's Heart as He Once Touched Beloved Sarah's." In: People Weekly v. 15. Oktober 1990, S. 67. 26 Dirk Eitzen montage/av Meine Hypothese ist also, daß die Annahme, wonach Dokumentarfilme im allgemeinen „die Wahrheit sagen" (oder sagen sollen), der Interpretation eines konkreten Dokumentarfilms vorausgeht und dieser zugrundeliegt, und zwar auch, wenn die Zuschauer ihn völlig anders deuten und sich aneignen - etwa als Melodrama. Jedenfalls nehmen die Rezipienten die Liebesbrief- Szene aus THE CIVIL WAR üblicherweise nicht als Argument wahr und kümmern sich auch nicht um ihren Wahrheitsanspruch. Deswegen ist es auch nicht ganz richtig, wie Nichols und Plantinga zu be- haupten, daß Dokumentarfilme Filme seien, die so wahrgenommen würden, als ob sie ein Argument oder einen Wahrheitsanspruch gegenüber der histo- rischen Wirklichkeit aufstellten. Sie tun dies nämlich keineswegs - jeden- falls nicht immer. Es ist treffender zu sagen: Von Dokumentarfilmen werde angenommen, daß sie wahrheitsgetreu sind, gleichwohl Überlegungen zum Wahrheitsgehalt bestimmter Behauptungen für das Verständnis der Zu- schauer eine geringe Rolle zu spielen scheinen. Klarer ausgedrückt: Ein Dokumentarfilm ist jeder Film, jedes Video oder jede Fernsehsendung, dem prinzipiell unterstellt werden kann, es sei gelo- gen. Das ist mehr als eine griffige Arbeitshypothese für Analyse-Zwecke; ich stelle vielmehr die Behauptung auf, daß Zuschauer mit eben diesem heuristischen Prinzip Dokumentarfilme begreifen. Daraus läßt sich keine fein säuberlich abgegrenzte Textsorte gewinnen, sondern eine, die so ausge- franst und flexibel ist wie die mentale Kategorie „Dokumentarfilm", mit der wir tatsächlich operieren. Ist also die Nachstellung einer Entführung in A CURRENT AFFAIR ein Dokumentarfilm? Das kommt darauf an. Es kommt nicht darauf an, ob diese Szene Behauptungen oder Argumente aufstellt. Es kommt nicht darauf an, ob sie „die Wahrheit sagt" oder nicht. Es kommt darauf an, ob sie in einer Weise wahrgenommen wird, daß die Frage „Könnte das gelogen sein?" Sinn macht. Ich schlage hiermit vor, daß es die Anwendbarkeit der Frage „Könnte das gelogen sein?" ist, die Dokumentar- filme und nicht fiktionale Formen im allgemeinen von fiktionalen Formen unterscheidet. Keine Lügen Diese Definition klingt vielleicht deswegen vertraut, weil Umberto Eco ein Zeichen auf sehr ähnliche Weise definiert: ,,Ein Zeichen ist alles, [ ... ] was 7/2/1998 Wann ist ein Dokumentarfilm? 27 man zum Lügen verwenden kann" (1987, 26). 10 Diese Zeichendefinition ist zwar reizvoll, aber dennoch halte ich sie für unzutreffend. Ein Stop-Schild, der griechische Buchstabe 1t, ein Ford T-Bird-Cabriolet sind allesamt Zei- chen, aber man kann sich nur schwer eine Situation vorstellen, in denen mit ihnen gelogen wird. Wie kann beispielsweise ein Stop-Schild zum Lügen benutzt werden? Eine Aussage über ein Stop-Schild, zum Beispiel: ,,Dieses Zeichen bedeutet freie Fahrt!", kann eine Lüge sein. Aber wenn Sie jeman- dem einreden, daß ein Stop-Schild freie Fahrt bedeutet, und ihm dann mit diesem Verkehrszeichen signalisieren, daß er fahren kann, haben Sie nicht wirklich damit gelogen. Vielleicht haben Sie über das Stop-Zeichen gelo- gen, aber Sie haben nicht mit ihm gelogen. Ein Stop-Zeichen kann über- haupt nicht lügen, weil es nicht behauptet, die Wahrheit zu sagen. Es ist einfach nur. Dasselbe gilt für Bilder. Ein Gemälde ist weder wahr noch falsch, es ist einfach nur. Das Gemälde mag falsch bezeichnet, eine erfundene Darstel- lung, gar eine Fälschung sein. Trotzdem kann man von einem Bild nicht sagen, daß es lüge, weil es selbst nicht behauptet, die Wahrheit zu sagen. Dieses Argument wird von dem Semiotiker Sol Warth in seinem wunderba- ren Aufsatz „Pictures Can't Say Ain't" [,,Bilder können nicht sagen: Stimmt nicht"] sehr überzeugend dargelegt (Warth 1981). Er argumentiert, daß Bilder, im Gegensatz zu Worten, nicht verneinen kön- nen. Mit Worten kann man sagen: ,,Das ist kein ... ", oder: ,,Es stimmt nicht, daß ... ", aber versuchen Sie, ein Bild zu malen, das zum Beispiel sagt: ,,Dies ist kein Hund", oder: ,,Es stimmt nicht, daß dies mein Freund ist." Die ein- zige Möglichkeit wäre, das Bild mit Worten oder konventionellen graphi- schen Symbolen zu versehen, oder wie Warth formuliert: ,,Ein Maler kann mit bildlichen Mitteln nicht ausdrücken, daß eine Farbe, eine Form oder ein 10 Dieses Zitat ist ein Ausschnitt aus Ecos berühmter Definition der Semiotik: „Die Semiotik befaßt sich mit allem, was man als Zeichen betrachten kann. Ein Zeichen ist alles, was sich als signifizierender Vertreter für etwas anderes auf- fassen läßt. Dieses andere muß nicht unbedingt existieren oder in dem Augen- blick, in dem ein Zeichen für es steht, irgendwo vorhanden sein. Also ist die Semiotik im Grunde die Disziplin, die alles untersucht, was man zum Lügen verwenden kann. Wenn man etwas nicht zum Aussprechen einer Lüge verwen- den kann, so läßt es sich umgekehrt auch nicht zum Aussprechen der Wahrheit verwenden: Man kann es überhaupt nicht verwenden, um ,etwas zu sagen'. Ich glaube, daß die Definition einer ,Theorie der Lüge' ein recht umfassendes Pro- gramm für eine allgemeine Semiotik sein könnte" (Eco 1987, 26; Herv.i.O.). 28 Dirk Eitzen montage/av Gegenstand etwas anderes ist. Bilder zeigen nur, was - auf ihrer Oberfläche - ist" (ibid., 174; Herv.i.O.). In einem der Beispiele, die Warth anführt, wird das Foto eines Senators, der behauptet, einen gewissen Gangster nicht zu kennen, in ein Foto dieses Gangsters und seiner Kumpel hineingeschnitten, so daß es aussieht, als proste der Senator dem Gangster zu. Hierbei handelt es sich um eine Fäl- schung, keine Lüge. Natürlich kann ich mit dem Foto lügen. Wenn ich es an Zeitungsredaktionen schicke und behaupte, es sei echt, dann benutze ich das Foto zum Lügen. Aber das Bild selbst lügt nicht. Es entspricht in jeder Hinsicht einer echten Aufnahme des Senators beim Abendessen mit dem Gangster. Was würde der Senator sagen, wenn man ihn mit dem Foto kon- frontierte: ,,Das ist eine Lüge!"? Nein, er würde sagen: ,,Das ist eine Fäl- schung" - eine Fälschung, die dazu benutzt wird, eine Lüge glaubhaft zu machen. In den Worten von Sol Worth: ,,Wir sagen von verbalen Äußerun- gen, daß sie ,unwahr', ,falsch' oder sogar , völliger Blödsinn' sind. Aber über Bilder urteilen wir in dieser Art und Weise kaum, wenn überhaupt" (ibid.). Es ist nur eine gesellschaftliche Konvention, eine Gewohnheit, daß man von Fotos annimmt, sie würden historische Tatsachen wiedergeben. In den Anfangstagen des Kinos wurden historische Ereignisse häufig und meist offenkundig nachgestellt. So zeigt z.B. der Kurzfilm von Vitagraph aus dem Jahr 1899, RAISING OLD GLORY OVER MORRO CASTLE, einen Ausschnitt aus dem Festakt, in dem Spanien die Herrschaft über Kuba an die USA abtritt. Man sieht, wie die amerikanische Flagge vor dem ganz offensicht- lich gemalten - noch dazu schlecht gemalten - Morro Castle gehißt wird. 11 Aber das Publikum schien das nicht zu stören. Es ist jedoch keine gesellschaftliche Konvention, daß „Bilder nicht sagen können: stimmt nicht". Das liegt in der Natur der Bilder. Obwohl ein Bild etwas zeigen kann, was es nicht gibt und was es nie gegeben hat ( etwa einen Senator, der einem Gangster zuprostet, dem er nie begegnet ist), hat ein Bild keine Möglichkeiten, etwas auszudrücken, was es nicht zeigt. Da, wie Worth sagt, Bildern die formale Fähigkeit fehlt, Negationen zu bilden, ergibt es keinen Sinn, sie in Kategorien von wahr oder falsch einzuteilen. Aber wenn Bilder die II Eine Aufnahme aus dem Film sowie eine Beschreibung des Festaktes in der New York Tribune liegen als Wiederabdruck vor in Before Hollywood. New York: American Federation of Arts 1986, S. 95. 7/2/1998 Wann ist ein Dokumentarfilm? 29 Aussage, daß etwas nicht ist oder nicht stimmt, gar nicht darstellen können, wäre es auch unsinnig zu behaupten, daß Bilder nur das darstellen, was tat- sächlich der Fall ist (ibid., 179; Herv.i.O.). Bilder stellen nur das dar, was (auf dem Bild) ist, obwohl das sehr wohl etwas Erfundenes sein kann, etwa Raumschiff „Enterprise" in den unendli- chen Weiten des Weltalls, oder etwas Unwahres, wie ein ehrlicher Senator, der einem Gangster zuprostet. Bilder konstituieren ihre eigene „Wirklich- keit''. Oder wie Wolterstorff es faßt: Sie „entwerfen eine Welt". Das bedeutet aber nicht (und Worth behauptet auch nichts Dergleichen), daß Bilder nicht zum Lügen benutzt oder als Lüge wahrgenommen werden können. Im Gegenteil: Wenn ich eine Fotomontage eines Senators in Um- lauf bringe, der einem Gangster zuprostet, den er nie getroffen hat, lüge ich zweifelsohne, zumindest hinsichtlich der zu erwartenden Schlußfolgerun- gen. Denn in unserer Kultur sind wir mit dem mechanischen Vorgang der Fotografie vertraut. Und obwohl auch die Technologien, mit deren Hilfe „Trickfotos" und Fälschungen hergestellt werden können, immer bekannter werden, machen es diese Bildbearbeitungstechniken selbst geschulten Be- trachtern praktisch unmöglich, eine gefälschte von einer authentischen Fotografie zu unterscheiden. Deswegen ist es normalerweise inakzeptabel, bearbeitete Fotos in Umlauf zu bringen, ohne sie als solche zu deklarieren, eben weil das einer Lüge gleichkommt. Denken Sie an den Aufruhr, den TV-Guide vor ein paar Jahren verursachte, als es eine Fotomontage mit dem Kopf von Oprah Winfrey, die gerade auf Diät war, und dem Körper von Ann-Margret auf das Titelblatt setzte. Wäre die Montage deutlich erkennbar gewesen, hätte sich niemand beschwert. Der Skandal bestand darin, daß die Fälschung zu perfekt war, als daß man sie hätte erkennen können. 12 In unse- rer Gesellschaft ist die Annahme, daß fotografische Bilder „die Wahrheit sagen", überaus wirkungsmächtig. Aber nichts in den Bildern selbst recht- 12 Wahrscheinlich liegt ein Teil des Vergnügens für Leser von Publikationen wie National Enquirer etc. darin herauszufinden, wie die „Fotos" (aber auch die sie begleitenden „Berichte") von Politikern, die Außerirdischen die Hand schüt- teln, oder von 200-Kilo-Babies gefälscht wurden. Diese Publikationen setzen sich absichtlich über die Standards des „seriösen" Journalismus hinweg, aber doch auch wieder nicht so, daß sie ihren eigenen Regelbruch ernst (also sati- risch) nehmen würden. Das Oprah/Ann-Margret-Foto wäre in einem solchen Kontext sicher akzeptabel gewesen, aber eben nicht auf der Titelseite von TV Guide. 30 Dirk Eitzen montage/av fertigt diese Annahme. Deshalb bereitet es uns auch keine Probleme, sie aufzugeben, wenn wir ins Kino gehen. Das, was eine Fotografie oder irgendeine andere Art von Bild zur „Lüge" macht, liegt nicht im Bild selbst, sondern außerhalb. Bei dem Oprah/Ann- Margret-Foto war es die (meistens zutreffende, in diesem Fall jedoch irrige) Annahme der Leser, daß Fotos in journalistischen Veröffentlichungen nicht verändert oder gefälscht sind. Bei anderer Gelegenheit mag es eine falsche Bildunterschrift oder Bezeichnung sein - eine explizite verbale Aussage -, die zu falschen Schlüssen verleitet, z.B. so etwas wie „Oprahs dramatische Diät!" Es versteht sich aber durchaus nicht von selbst, daß was für Bilder zutrifft, auch auf Laufbilder anwendbar ist. In Filmen wird schließlich viel geredet. Und weil Filme voller verbaler Aussagen sind, beinhalten sie - im Gegen- satz zu Fotos - ihre eigenen Bezeichnungen. Ein Film kann sagen: ,,Dieser Film ist ein Dokument der tatsächlichen Ereignisse", oder auch: ,,Die Per- sonen in diesem Film sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig." Solche Aussagen entsprechen der Legende eines Fotos, und natürlich können sie „lügen" oder zumindest falsch sein. Aber abgesehen von den Titelsequenzen sind solche expliziten metatextuellen Bezeichnungen in Spielfilmen selten, in HIGH SCHOOL feh- len sie völlig, und sogar in einer so wortreichen Dokumentarserie wie Frank Capras WHY WE FIGHT (1942-1945) bleiben sie die Ausnahme. So wie Bilder wollen auch Filme - und sogar „dokumentarische" Filme - in erster Linie „eine Welt entwerfen". Das trifft für den Großteil der Montage, die Kameraarbeit, die Dialoge und die Musik zu. Und das gilt sogar für ver- bale Aussagen wie z.B.: ,,Eine Woche vor der Schlacht von Bull Run schrieb Sullivan Ballau, ein Major der Second Rhode Island Volunteers, einen Brief nach Hause an seine Frau in Smithfield." Obwohl die Zuschauer annehmen, daß diese Aussage wahr ist, unterscheidet sie sich formal durch nichts von einer erfundenen. Was Warth über Bilder sagt, trifft also, mit Ausnahme der expliziten meta- textuellen Bezeichnungen oder Etikettierungen, auch auf Filme zu. Im Normalfall repräsentiert ein Film Räume, Handlungen und Ereignisse nicht anders als eine Fotografie Gegenstände und Szenen: Er „entwirft eine Welt". Noch einmal: Es geht hier nicht darum zu behaupten, daß Filme nicht lügen können. Selbstverständlich können sie das. Aber wenn Zuschauer Filme als gelogen wahrnehmen (bzw. als „wahr"), dann zumeist nicht aufgrund der 7/2/1998 Wann ist ein Dokumentarfilm? 31 Form des Textes selbst, sondern wegen seiner metatextuellen Etikettierun- gen oder seines Interpretationsrahmens. Natürlich kann die Form des Filmtextes Zuschauer dazu veranlassen, ihn innerhalb eines bestimmten „Rahmens" [.,frame "] zu verstehen. (,,Rahmen" ist ein Begriff aus der Soziolinguistik, der die Anwendung einer metatextu- ellen Etikettierung oder eines Interpretationsrahmens auf einen Diskurs beschreibt.)'3 Zum Beispiel deuten eine unruhige Kamera, unzureichende Lichtverhältnisse und schlechter Ton an: ,,Dies ist ein direct cinema-Film." Aber dennoch gibt es nichts an diesem Filmmaterial, das notwendig vor- schreiben würde, den Film auf diese bestimmte Weise zu „rahmen". Nichts an der Form von SCHOOL DAZE hindert Zuschauer daran, den Film so zu rahmen, daß die Frage: ,,Könnte das gelogen sein?" Sinn macht. Man könnte sich zum Beispiel fragen, ob wirklich Spike Lee Regie geführt hat oder ob in einer bestimmten Szene tatsächlich Larry Fishburne und nicht sein Double auftritt. Umgekehrt veranlaßt die Form von THE CIVIL WAR den Zuschauer keineswegs zwingend dazu, die Frage: ,,Könnte das gelogen sein?" zu stellen. Man könnte den Film ohne weiteres als ansprechendes Melodram, als eine „Geschichte" betrachten, an die die Frage „Könnte das gelogen sein" nicht gerichtet werden kann oder muß. Tatsächlich könnte es Spielfilme geben, die, was die filmische Form anbelangt, von THE CIVIL WAR so gut wie nicht zu unterscheiden wären. Sie brauchen nur an die fiktive Folge von THE MARCH OF TIME' denken, die so originalgetreu in CITIZEN KANE (USA 1941, Orson Welles) verwendet wurde, daß man sie ohne den Spielfilmkontext für echt halten könnte. Es sind also nicht formale Gesichtspunkte oder solche der Repräsentation, die darüber entscheiden, ob Zuschauer einen Film als Dokumentarfilm ,,rahmen". Eher ist es eine Kombination aus den Wünschen und Erwartun- gen, die die Zuschauer an einen Text richten, sowie ihren Vermutungen aufgrund von situativen Hinweisen und textuellen Merkmalen. Anders ausgedrückt, die Frage: ,,Könnte das gelogen sein?", die Dokumentarfilme von anderen Filmen unterscheidet, wird von den Zuschauern gestellt, nicht von den Texten. Resultat: Unter Dokumentarfilm sollte man nicht eine bestimmte Textsorte, sondern eine „Lesart" verstehen. 13 Eine Definition und aufschlußreiche Analyse, wie „Rahmensetzung" auf ganz verschiedene Alltagsdiskurse zutrifft, bietet Erving Goffmans bekanntes Buch Rahmen-Analyse ( 1977). Anm.d.Übers.: US-amerikanische Wochenschau. 32 Dirk Eitzen montage/av Es gibt einen Film, an dem sich das besonders gut nachweisen läßt. Es handelt sich um einen ,gefakten' Dokumentarfilm mit dem bezeichnenden Titel No LIES ( 1973, Mitchell Block). 14 No LIES ist ein fiktionaler Film, insofern er nach einem Drehbuch, nach ausführlichen Proben und mit pro- fessionellen Schauspielern gedreht wurde. An der Oberfläche ist dieser Film aber von einem Dokumentarfilm des direct cinema ununterscheidbar. Der Film zeigt einen Filmemacher, der versucht, Ereignisse aufzunehmen, wäh- rend sie stattfinden; und wie bei jedem direct cinema-Film sehen die Zu- schauer die Ereignisse durch die subjektive Kamera des Filmemachers. Der Filmemacher im Film ist ein Filmstudent, der an einem Semesterprojekt arbeitet; er filmt eine Freundin in deren Wohnung, während sie sich schminkt und zurecht macht, um ins Kino zu gehen. Verständlicherweise weiß die Frau nicht so recht, was sie reden soll. Nach ein paar Minuten erwähnt sie beiläufig, daß sie am Abend davor vergewaltigt wurde. Der Filmemacher (wie jeder gute Dokumentarfilmer will er sich diesen mögli- cherweise dramatischen Moment nicht entgehen Jassen) redet auf sie ein, provoziert und verhört sie, um sie dazu zu bringen, mehr über den Vorfall zu erzählen. Obwohl die Frau mehrere Versuche unternimmt, das Thema zu wechseln, läßt der Filmemacher nicht locker - er meldet sogar Zweifel an ihrer Geschichte an, da der Vorfall ihr doch so wenig auszumachen scheint -, bis sie schließlich zusammenbricht. Doch anstatt sich zu entschuldigen, versucht er daraufhin, sich zu rechtfertigen. Und obwohl sie ihn anfleht, weigert er sich, die Kamera auszuschalten, bis sie schließlich die Wohnung verläßt. Der Film ahmt peinlich genau den Stil eines direct cinema-Dokumentar- films nach: Er verwendet eine Handkamera, die Kamerabewegungen wir- ken unsicher, die Räume sind ungleichmäßig ausgeleuchtet, es wird kein nicht-diegetischer Ton verwendet, und der Film sieht aus, als ob er aus einer einzigen langen Einstellung bestünde. Es gibt zwar einige Schnittstel- len, an denen die Kamera für den Magazinwechsel angehalten wurde, aber diese Stellen sind so gut getarnt, daß sie nur zu bemerken sind, wenn man sehr genau darauf achtet. Die schauspielerische Leistung ist perfekt - so natürlich verunsichert (oder so unsicher natürlich) wie eine „richtige" direct cinema-Darstellung. Den einzig sichtbaren Hinweis darauf, daß dieser Film 14 No LIES ist ein berüchtigter, aber vennutlich wenig gezeigter Film. Deswegen sei hier auf Vivian Sobchacks Analyse verwiesen, in dem sie den Film einge- hender untersucht, als es mir in diesem Aufsatz möglich war (Sobchack 1988). No LIES wird vertrieben von Direct Cinema Ltd. 7/2/1998 Wann ist ein Dokumentarfilm? 33 kein Dokumentarfilm ist, liefert der Abspann, in dem die handelnden Per- sonen als Schauspieler ausgewiesen werden. Da aber so viele andere Merkmale den Film eindeutig als Dokumentarfilm kennzeichnen - vom Titel über die Kommentare der Charaktere bis zur strikten Einhaltung der Dokumentarfilmkonventionen -, übersehen oder ignorieren die Zuschauer anscheinend die dem widersprechenden Informa- tionen des Abspanns. Werden sie aber darauf hingewiesen, daß der Film eigentlich ein Spielfilm ist - d.h. ausgedacht, einstudiert und geschauspie- lert -, dann ändert sich ihre Lesart des Films dramatisch: Der Film ruft völlig andere Reaktionen bei den Zuschauer hervor, wenn sie ihn als Spiel- film und nicht als Dokumentarfilm sehen. Und da es sich um dasselbe Filmmaterial handelt, können also weder Form, noch Stil, noch „Inhalt" die Wahl der einen oder der anderen Lesart bestimmen. Wenn die Zuschauer sich No LIES ansehen, ohne zu wissen, daß es sich um einen ,gefakten' Dokumentarfilm handelt, sind sie sichtlich empört, daß der Filmemacher die Frau solchen Qualen unterzieht. Sie bekunden Mitleid mit der Frau und Wut über den Filmemacher im Film, den sie zugleich für den Regisseur des Films halten. Hat man sie schließlich davon überzeugt, daß es sich tatsächlich um einen Spielfilm handelt, verschiebt sich ihre Wut von dem Filmemacher im Film auf den Filmemacher hinter dem Film. Da der Filmemacher im Film nur ein Schauspieler ist, der seine Rolle spielt, ist es nicht länger angebracht, wegen seiner Grausamkeit gegenüber der Frau wütend auf ihn zu sein. Man kann sich zwar immer noch über die Figur im Film ärgern, aber das Ziel des Ärgers hat sich verschoben. Mag die Wut auch immer noch aufrichtig sein, bezieht sie sich jetzt auf eine Person, die man für erfunden, nicht auf eine, die man für real hält. Zusätzlich ärgert die Zuschauer aber auch, daß sie betrogen worden sind. Worth nennt das „Medienwut" ( 1981, 177); gemeint ist damit auch der Ärger, den das Oprah/Ann-Margret-Foto ausgelöst hat. Diese Wut richtet sich immer ge- gen denjenigen, der für den Streich verantwortlich gemacht wird, und das ist im Fall von No LIES der Mensch, der den Film konzipiert hat. Daß die Zuschauer sich darüber ärgern, getäuscht worden zu sein, beweist, daß sie dem Film ursprünglich einen Wahrheitsanspruch unterstellt hatten. Sie müssen davon ausgegangen sein, der Film behaupte implizit: ,,Was Sie in diesem Film sehen, ist wirklich das, was es zu sein scheint." Eine Be- hauptung, die einem Spielfilm, wenn überhaupt, nur sehr selten zugeschrie- ben wird. Wäre No LIES ein echter und kein ,gefakter' Dokumentarfilm, würden sich die Zuschauer die Frage: ,,Könnte das gelogen sein?" vermut- 34 Dirk Eitzen montage/av lieh nie stellen. Aber es ist nun klar geworden, daß und warum sie grund- sätzlich gestellt werden kann. Wenn man dem Film unterstellt, er behaupte: ,,Was Sie in diesem Film sehen, ist wirklich das, was es zu sein scheint", dann öffnet das den Film für Fragen wie etwa die folgenden: Hat sich die Frau diese Vergewaltigung nur ausgedacht (ein Zweifel, den der Filme- macher im Film mehr als einmal äußert)? Enthält uns der Film entschei- dende Elemente der Geschichte vor? Und ( obwohl das beim erstmaligen Sehen kaum vorstellbar ist): Könnte es sein, daß die Frau im Film nur eine Rolle spielt? Wenn die Zuschauer erst einmal wissen, daß No LIES ein Spielfilm ist, ergeben sich ganz andere Fragen. Die Frage „Könnte das gelogen sein?" kann sich zwar dann immer noch auf die Etikettierung des Films, aber nicht mehr auf die im Film entworfene Welt beziehen. Wenn die Frau eine Schauspielerin ist, bleibt es völlig irrelevant für die Geschichte, ob sie nun wirklich vergewaltigt wurde oder nicht. Was sie von der Vergewaltigung berichtet, ist erfunden, nicht gelogen, eine Darstellung ohne Wahrheitsan- spruch. Die Zuschauer können sich immer noch fragen, ob diese Darstellung im übertragenen Sinn wahr ist. Gibt der Bericht der Frau die Erfahrungen von Vergewaltigungsopfern im allgemeinen wieder? Ist der direct cinema-Stil tatsächlich eine Art Vergewaltigung? Ist die relativ harmlose Erfahrung, von einem Film hereingelegt worden zu sein, wirklich mit dem langanhal- tenden Schock einer Vergewaltigung vergleichbar? Aber all diese Fragen zur allgemeinen Wahrheit der Darstellung sind auf einer anderen Ebene angesiedelt als die Frage: ,,Könnte das gelogen sein?" Der Unterschied liegt darin, daß No LIES nicht behauptet, die Erfahrungen von Vergewaltigungs- opfern im allgemeinen zu repräsentieren. Der Film schildert den besonderen Fall einer Vergewaltigung und überläßt die Verallgemeinerungen den Zu- schauern. Er behauptet nicht, daß ein direct cinema-Film wie eine Verge- waltigung sei. Der Film konstruiert zwar einen offensichtlichen Vergleich, überläßt es aber den Zuschauern, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Da No LIES keine allgemeinen Wahrheiten behauptet, wäre es sinnlos zu fragen, ob er bezüglich dieser allgemeinen Wahrheiten lüge. Selbst wenn die Frau völlig untypisch über ihre Vergewaltigung berichten würde und die Zuschauer dadurch zu falschen Schlüssen über Vergewaltigungen im all- gemeinen veranlaßt würden, wäre das trotzdem nicht gelogen oder falsch, weil der Film, wie gesagt, einen Einzelfall und keine Verallgemeinerung darstellt. Der Film legt nicht fest, welche Schlußfolgerungen die Zuschauer 7/2/1998 Wann ist ein Dokumentarfilm? 35 aus diesem Einzelfall ziehen sollen. Weil auf dieser Ebene nicht gesagt werden kann, daß der Film lügt, ist er gemäß der vorgeschlagenen Defini- tion auch kein Dokumentarfilm. Auf einer anderen Ebene bleibt der Film aber ein Dokumentarfilm: Selbst wenn die Zuschauer schon wissen, daß No LIES ein Spielfilm ist, haben sie immer noch den Eindruck, daß der Film unwahre Behauptungen aufstellt. Der Film wird nicht als neuartiger Spielfilm gesehen, sondern als gefälsch- ter Dokumentarfilm. Der Film lügt über sich selbst. Er betreibt Etiketten- schwindel. So kann zwar die Frage: ,,Könnte das gelogen sein?" nicht mehr auf das im Film Dargestellte angewendet werden, sie findet aber sehr wohl Verwendung als Frage nach der Art von Film, mit der man es zu tun hat. Auf dieser Ebene ist No LIES immer noch ein Dokumentarfilm, auch wenn er eine vollständig erfundene Handlung erzählt. No LIES ist ein Spielfilm über eine Vergewaltigung, aber er ist auch ein Dokumentarfilm über Do- kumentarfilme. Und ich denke, daß die meisten Zuschauer den Film genau so interpretieren. Gemäß der meisten Dokumentarfilmdefinitionen muß No LIES entweder ein Dokumentarfilm sein oder keiner. Aber so wird dieser Film eben nicht wahrgenommen. Um der Wahrnehmungsweise der Zuschauer gerecht zu werden, wäre es zutreffender zu sagen, daß No LIES zuerst ein Dokumentar- film und dann sowohl ein Dokumentarfilm als auch kein Dokumentarfilm ist. Beim ersten Ansehen, wenn das Geheimnis des Films noch nicht gelüf- tet wurde, wird No LIES als Dokumentarfilm etikettiert, als Dokumentarfilm wahrgenommen und als Dokumentarfilm interpretiert. Damit ist er ein Do- kumentarfilm. Sobald die Zuschauer wissen, wie der Film gemacht wurde, wird er auf zwei Ebenen gelesen: als Spielfilm über das Thema Vergewalti- gung und als gefälschter Dokumentarfilm - ein Film, der bestimmte Wahr- heitsansprüche erhebt, die er dann paradoxerweise als falsch entlarvt. Das Beispiel von No LIES zeigt, daß derselbe Film sowohl als Dokumentar- film als auch als Spielfilm „gerahmt" werden kann und wie unterschiedlich die jeweiligen Lesarten sind. Das Beispiel zeigt auch, daß die von mir vor- geschlagene Definition des Dokumentarfilms - jeder Film, von dem man grundsätzlich behaupten könnte, er lüge - auf ein außerordentlich komple- xes Beispiel zutrifft: einen sehr gut gefälschten Dokumentarfilm, der seine Doppelbödigkeit erst maskiert und dann aufdeckt. Und schließlich zeigt das Beispiel, daß die Frage nicht lauten sollte: Was ist ein Dokumentarfilm?, sondern: Wann ist ein Dokumentarfilm? 36 Dirk Eitzen montage/av Wann ist ein Dokumentarfilm? Bis zu diesem Punkt habe ich herausgearbeitet, daß Dokumentarfilme durch einen bestimmten Interpretationsrahmen definiert sind, in dem die Frage: ,,Könnte der Text lügen?" Sinn ergibt. Offen geblieben ist jedoch die Frage, wann oder unter welchen Umständen man diesen Rahmen anwenden kann. Woher wissen die Zuschauer, wann es angemessen ist, einen Film als Do- kumentarfilm zu „rahmen"? Es war bereits von zwei Arten von situativen Hinweisen die Rede, die dem Zuschauer signalisieren, einen Film als Dokumentarfilm zu rahmen. Die erste Gruppe besteht aus verbalen Etiketten, z.B. erläuternde Titelsequenzen oder Kurzbeschreibungen in Femsehprograrnrnzeitschriften. Die zweite Gruppe umfaßt eine ganze Reihe von Text- bzw. Kontextelernenten, das ,,Wissen" des Zuschauers über die Welt und die Diskurse zu ihrer Darstel- lung aufrufen: etwa sichtlich „authentische" Filmaufnahmen von einer historischen Persönlichkeit wie z.B. John F. Kennedy oder die wacklige Kamera, die verkündet: ,,Dies ist direct cinema." Neben diesen situativen Hinweisen bestimmen auch die Ziele und Interessen der Zuschauer, wel- chen Rahmen sie auf einen bestimmten Diskurs anwenden. So kann trotz all der Kriterien, die SCHOOL DAZE normalerweise als Spielfilm ausweisen, jemand den Film durchaus als „Dokument" über Larry Fishbumes Ent- wicklung als Schauspieler betrachten. Was ich hier mit situativen Hinweisen bezeichnet habe, nennt Noel Carroll ,,Indices" [., indexes"]: Produzenten, Drehbuchautoren, Regisseure, Verleiher und Programmgestalter indizieren ihre Filme als Dokumentarfilme [. . .]. Es kommt kaum vor, daß man in einen Film geht, bei dem man erst raten muß, ob es sich um einen Doku- mentar- oder Spielfilm handelt. In der Regel sind die Filme eindeutig indiziert (Carroll 1983, 24). Plantinga nimmt diesen Gedanken auf und führt ihn weiter. Da die Indizie- rung eines Films in einer Öffentlichkeit stattfindet, wird sie „zu einer Ei- genschaft oder zu einem Element des Textes in seinem jeweiligen sozio- kulturellen Milieu" (Plantinga 1989, 32). Die „Indices" eines Textes erge- ben sich also nicht nur aus den Ableitungen der Zuschauer. Selbst wenn ein Dokumentarfilm eine „Lesart" ist, wie ich es vorgeschlagen habe, ist diese Lesart innerhalb einer gegebenen Interpretationsgemeinschaft so eng mit bestimmten Texten verbunden, daß es nichts bringt, sie als eine Lesart zu definieren. Plantinga argumentiert weiter, daß sich Zuschauer zwar für eine bestimmte Indizierung entscheiden müssen, sich dabei aber, da diese kultu- 7/2/1998 Wann ist ein Dokumentarfilm? 37 rell festgelegt ist, auch irren können. Wenn Sie also HIGHSCHOOL als Spiel- film und SCHOOL DAZE als Dokumentarfilm interpretierten, dann wäre laut Plantinga Ihre Interpretation schlicht und ergreifend „falsch". 15 Ich würde sagen: nicht falsch, sondern bloß ungewöhnlich und unkonven- tionell. Schließlich ist SCHOOL DAZE ja wirklich ein Dokumentarfilm über Larry Fishburnes Schauspielstil um 1987. Und man kann HIGH SCHOOL durchaus als einen interessanten, quasi-fiktiven Kommentar zu Highschools im allgemeinen sehen (so wie SCHOOL DAZE ein allgemeiner Kommentar zu Colleges ist), ohne sich darum zu kümmern, ob der Film die Besonder- heiten von „Northeast High" wiedergibt. Plantinga schlägt vor, daß man für eine adäquate Dokumentarfilmdefinition nur bestimmen muß, welche Texte in einem bestimmten soziokulturellen Milieu als Dokumentarfilme indiziert sind. Damit hätte man den gängigen Gebrauch des Begriffs bestimmt, ähnlich wie es von guten Lexikondefini- tionen erwartet wird. Plantinga meint sogar, auf diese Weise hätte man präzise erfaßt, was wir kollektiv glauben, daß Dokumentarfilme sind. Obwohl das eine vernünftige und geradlinige Strategie zu sein scheint, um festzustellen, was wir kollektiv unter Dokumentarfilm verstehen, hat sie meiner Ansicht nach doch drei verhängnisvolle Schwachstellen. Wie ich am Beginn dieses Aufsatzes festgestellt habe, ist es nicht nur schwierig, son- dern schlichtweg unmöglich zu bestimmen, welche Texte in unserer Kultur als Dokumentarfilme indiziert sind und welche nicht. Texte wie DAUGHTER RITE, No LIES und selbst bekannte und populäre Texte wie JFK oder Episo- den von A CURRENT AFFAIR sind eben nicht eindeutig als das eine oder das andere indiziert; vielmehr ist ihre Indizierung ambivalent oder solcherart, daß sie sowohl als Dokumentarfilm als auch als Spielfilm gelesen werden können oder abwechselnd als das eine und das andere. Plantinga schlägt vor, mithilfe eines „gewichteten Gesamtmittelwerts" zu bestimmen, ob solche Texte Dokumentarfilme genannt werden sollten. 16 Aber spätestens an 15 Vgl. Plantinga 1989, 33. Seine Beispiele sind REAR WINDOW und THE BATILE OF SAN PIETRO. 16 Ich gebe zu, daß Plantingas Argument (vgl. 1989, 39) hier vereinfachend wie- dergegeben ist. Plantinga argumentiert eigentlich, daß die Zuschauer auf diese Weise Dokumentarfilme kategorisieren. Obwohl das sicher bis zu einem gewis- sen Grad richtig ist, scheinen die Zuschauer ein gewisses Maß an Ambiguität in der Zuweisung solcher Etikettierungen zu tolerieren. Diese Mehrdeutigkeit 38 Dirk Eitzen montage/av diesem Punkt ist das Definitionsproblem zu einer rein akademischen Spiele- rei geworden - und dazu noch zu einer, die dazu verleitet, die Komplexität von marginalen, ambivalenten und hybriden Texten zu vereinfachen. Zweitens ignoriert Plantingas Ansatz die vielen unterschiedlichen Weisen, in denen die Zuschauer je nach ihren sich verändernden Zielen und Interes- sen einen Rahmen wie „Dokumentarfilm" anwenden. Es gibt für jeden Diskurs einen beträchtlichen Spielraum der Interpretation oder der Rah- mensetzung. Ich habe schon gezeigt, daß man mit der entsprechenden Fra- gestellung SCHOOL DAZE durchaus als eine Art Dokumentarfilm betrachten kann. Umgekehrt ist es durchaus möglich, THE CIVIL WAR, wenn man denn möchte, als pure Erfindung zu lesen. Und schließlich verwirft Plantingas Zugang unkonventionelle Lesarten und ungewöhnliche Textverwendungen einfach als „falsch". Ganz abgesehen von den politischen Implikationen einer solchen Haltung ist sie offensicht- lich wenig geeignet, dem tatsächlichen Gebrauch von Dokumentarfilmen durch die Zuschauer auf die Spur zu kommen. Beschränkt sich allerdings das Anliegen darauf, den Kanon abzustecken, dann ist es vermutlich not- wendig, atypische Lesarten auszusondern. Wenn man aber herausfinden möchte, wie und wodurch Zuschauer Dokumentarfilme als besondere und eindeutige Kategorie wahrnehmen, dann dürfen gerade ungewöhnliche oder ambivalente „Lesarten" nicht vernachlässigt werden. Das gilt umso mehr, als Texte - wie das Beispiel von No LIES zeigt - nicht notwendig endgültig und unverrückbar als Dokumentarfilm eingeordnet werden. Genausowenig muß die Genre-Etikettierung jedes Element eines Films betreffen. Das Ende von SCHINDLER'S LIST (1993) ist vom Rest des Films deutlich als etwas Besonderes abgesetzt: als „Dokumentarfilm". Wenn man Dokumentarfilme daher als tatsächliche Diskursform verstehen will und nicht nur als abstrakte Textkategorie, besteht die eigentliche Aufgabe nicht darin, komplette Texte einzuordnen, sondern herauszufinden, wie Zuschauer sich diese besonderen Momente und Elemente eines Films aneignen, die sie als dokumentarisch rahmen - wann immer das auch sein mag. Plantinga und Carrol weisen aber mit Recht darauf hin, daß es in unserer Kultur unter Filmzuschauern ein hohes Maß an Übereinstimmung gibt, wann die Genre-Etikettierung Dokumentarfilm zutrifft und wann nicht, oder anders ausgedrückt: wann von den Zuschauern erwartet wird, daß sie scheint dann zu verschwinden, wenn ambivalente Kennzeichnungen absolut eindeutig festgelegt werden. 7/2/1998 Wann ist ein Dokumentarfilm? 39 einen Text als nicht fiktional rahmen. Denn in jeder Rezeptionssituation gibt es eine Fülle konventioneller Hinweise darauf, wie der jeweilige Dis- kurs zu rahmen ist. Normalerweise begegnen wir Texten immer schon als „indizierten", auch wenn es uns letztlich freisteht, diese „Indizierung" zu ignorieren und uns den Text auf eine andere Art und Weise anzueignen. Es wäre spannend, der Frage weiter nachzugehen, welche situativen Hin- weise in unserer Kultur einen Text als Dokumentarfilm „indizieren". Tat- sächlich gibt es bereits zahlreiche ausgezeichnete Untersuchungen zu den konventionellen Formen und Techniken des Dokumentarfilms, die sich dieser Frage widmen. Aber die Frage, die bislang vernachlässigt wurde und mit der ich mich hier auseinandergesetzt habe, ist, was den Rahmen aus- zeichnet, den Menschen an Texte anlegen, die sie als Dokumentarfilme wahrnehmen. Das ist etwas anderes, als danach zu fragen, wie ein Diskurs überhaupt als dokumentarisch „indiziert" wird, obwohl sich „Rahmen" und ,,Indizien" häufig auf denselben Text beziehen. Manche Texte verfügen über eine so eindeutige Rahmensetzung, daß Fra- gen nach richtig oder falsch von vornherein ausgeschlossen sind. Es macht keinen Sinn, bei einem Gemälde von Georgia O'Keeffe, das einen Tier- schädel auf einer Rose zeigt, zu fragen, ob das richtig oder falsch ist. Das ist auch die Aussage von Magrittes Gemälde einer Pfeife mit der Unterschrift ,,Ceci n'est pas une pipe". Das gleiche trifft auf Illustrationen in Märchen- büchern oder auf Liebesromane zu und in den meisten Fällen auch auf Spielfilme - selbst auf solche mit einer so expliziten „Botschaft" oder ,,Moral" wie SCHOOL DAZE. Das Ende von SCHOOL DAZE verweist offenkundig auf die historische Rea- lität der Apartheid in Südafrika; es behauptet eine Ähnlichkeit zwischen dem Cliquenwesen auf dem College und der Rassendiskriminierung. Der Film argumentiert sogar wie folgt: daß wir alle uns unserer Vorurteile be- wußt werden müssen. Trotzdem macht es keinen Sinn zu sagen, daß diese Szene lügen könnte. SCHOOL DAZE ist auch voller höchst unrealistischer Szenen, wie zum Beispiel einer vom Musical inspirierten Tanzeinlage, in der die Jungen und Mädchen zweier Schulcliquen ihre Meinungsverschie- denheiten über Haarstile austragen. Aber wie fantastisch und weithergeholt eine solche Szene auch wirken mag, es wäre unangebracht zu sagen, daß sie lüge. In dem Rahmen, in dem SCHOOL DAZE (normalerweise) wahrgenom- men wird, ist die Frage: ,,Könnte das gelogen sein?" schlichtweg nicht an- wendbar. 40 Dirk Eitzen montage/av Die Welt, die Wiseman in HIGHSCHOOL zeigt, ist nicht weniger imaginär als die in SCHOOL DAZE. Der Film ist ein äußerst selektiver und konstruier- ter Bericht bestimmter Situationen und Ereignisse. Die Zuschauer behan- deln HIGH SCHOOL in vielerlei Hinsicht als Spielfilm, obwohl der Film eindeutig als Dokumentarfilm „indiziert" ist. Und das gilt sogar für jene konventionellen Funktionen des Textes, die den Film laut Nichols eindeutig als Dokumentarfilm definieren. So bezieht sich HIGH SCHOOL zum Beispiel auf bestimmte autoritäre Unterrichtsmethoden, der Film behauptet, daß ,,Northeast High" wie eine Fabrik sei, und der Film argumentiert dahinge- hend, daß die Erkenntnisse über „Northeast High" auf Highschools im allgemeinen übertragbar seien. Aber all dies wird gemeinhin als Standpunkt des Films verstanden, vergleichbar der in SCHOOL DAZE vertretenen Mei- nung, daß Cliquenbildung auf dem College unter gewissen Umständen mit Apartheid vergleichbar sei. Die Frage: ,,Könnte der Film lügen?" trifft auf solche Behauptungen wiederum nicht zu. Und selbst wenn jemand aus eigener Erfahrung „wüßte", daß „Northeast High" in keinster Weise mit einer Fabrik zu vergleichen ist, würde sie oder er deswegen nicht sagen, daß HIGH SCHOOL, indem er etwas anderes suggeriert, lüge, sondern nur, daß der Film unrecht habe. Auf dieser Ebene, die mit dem dem Film zuge- schriebenen „Standpunkt" oder seiner „Moral" zu tun hat, wird HIGH SCHOOL genau so gelesen wie die letzte Szene von SCHOOL DAZE. Das kann also nicht das Kriterium sein, das den Film als Dokumentarfilm auszeich- net. Aber auf einer anderen Ebene trifft die Frage: ,,Könnte das gelogen sein?" auf HIGH SCHOOL ganz sicher zu. So wie der Film indiziert ist, müssen die Zuschauer annehmen, daß die Darstellungen im Film wirklich das sind, was sie zu sein vorgeben. Also nehmen sie an, daß das Gebäude in der Ein- gangsszene wirklich das „Northeast High"-Gebäude ist und nicht irgendeine nahegelegene Fabrik. Sie setzen voraus, daß der „Penn Maid Products"- Lieferwagen zuflillig da war und daß Wiseman ihn nicht um des Effekts willens in den Film hineingenommen hat. Aufgrund von Annahmen wie diesen ist die Frage: ,,Könnte das gelogen sein?" allerdings relevant. Und genau solche Annahmen sind für die Interpretation des Films von zentraler Bedeutung - das macht HIGH SCHOOL zu einem Dokumentarfilm. Natürlich kann man bei SCHOOL DAZE von ähnlichen Annahmen ausgehen, etwa wenn man unterstellt, daß der Schauspieler in einer bestimmten Szene wirklich Larry Fishbume ist und kein Double. Aber im Gegensatz zu HIGH SCHOOL haben solche Annahmen normalerweise keinerlei Auswirkungen auf die Interpretation des Films. 7/2/1998 Wann ist ein Dokumentarfilm? 41 Ich habe zu zeigen versucht, daß die Frage: ,,Könnte das gelogen sein?" der Schlüssel ist, um zu entscheiden, ob und wann ein Film als Dokumentarfilm gesehen wird. 17 Ich sage nicht, daß das die einzig interessante Frage ist, im 17 Eine alternative Theorie sollte hier zumindest kurz skizziert werden. Auch Roger Odin ist aus ähnlichen Gründen wie ich der Meinung, daß Dokumentar- filme sich durch einen bestimmten Rezeptionsmodus von anderen Filmen un- terscheiden. Odin bezeichnet diesen Rezeptionsmodus (ganz im Trend der fran- zösischen Vorliebe für neue Terminologien) als „dokumentarisierende Lek- türe". Das wesentliche Kriterium einer solchen Lesart ist die „Konstruktion eines als real präsupponierten Enunziators durch den Leser" (Odin 1990, 131 ). Odins Konzept des Enunziators ist sehr weitgefaßt und eher idiosynkratisch. Der Enunziator ist nicht notwendigerweise auf Personen bezogen: Alles, was für einen Aspekt des Films verantworlich zeichnet, kann Enunziator sein. In diesem Sinn kann das Monument Valley der Enunziator eines Western sein, wenn anzunehmen ist, daß die Landschaft den Film in signifikanter Weise mit- bestimmt. Historische Ereignisse, gesellschaftliche Zustände, die Kameraarbeit, eine öffentliche Institution oder ein Erzähler können alle potentielle Enunziato- ren einer dokumentarisierenden Lektüre sein. Laut Odin ist die dokumentarisie- rende Lektüre durch zwei Kriterien charakterisiert: Der Enunziator muß dem Zuschauer eines Films auffallen, und er muß ihn als signifikant wahrnehmen. Und zweitens müssen die Leser des Films den Enunziator für „real" halten. Wenn man SCHOOL DAZE (in klassischer Hollywood-Manier) als einen Film betrachtet, der „sich selbst erzählt", spricht man damit dem Enunziator keine besondere Bedeutung zu und liest den Film deswegen auch nicht dokumenta- risch. Wenn man den Film als die Geschichte einer bestimmten fiktiven Person liest, könnte diese Person als Enunziator betrachtet werden; aber wird sie als er- funden oder „nicht real" wahrgenommen, wird der Text wiederum nicht als Dokumentarfilm gelesen. Gesetzt den Fall, man betrachte den Film als Aus- druck von Spike Lees Regiearbeit, dann wird von einem Enunziator (in diesem Fall Lee) ,,präsupponiert", daß er sowohl relevant als auch „real" sei, und der Film dementsprechend als Dokumentarfilm gelesen. Obwohl ich prinzipiell mit Odins Ansatz übereinstimme, habe ich zwei Einwände gegen seine Bestim- mung des Rezeptionsmodus von Dokumentarfilmen. Erstens betont er meiner Meinung nach den „realen" Ursprung oder Hintergrund der dokumentarischen Elemente zu stark. Dramatisierungen und Illustrationen werden oft trotz ihres ,,irrealen" Ursprungs dokumentarisch gelesen. Radiodokumentationen verwen- den beispielsweise häufig keinen O-Ton, und das wird von den Hörern auch nicht unbedingt erwartet. Aber es besteht kein Zweifel, daß diese Sendungen als Dokumentationen wahrgenommen werden. Und zweitens kann ein Zu- schauer den Regisseur eines Films für relevant und real halten und den Film trotzdem als Fiktion betrachten. Avantgardistische Spielfilme, selbstreferen- 42 Dirk Eitzen montage/av Gegenteil: Wenn wir erst einmal klargestellt haben, daß die Zuschauer HIGH SCHOOL als Dokumentarfilm wahrnehmen, ergeben sich alle mögli- chen anderen interessanten Fragen zu dem Film. Man könnte danach fra- gen, ob der Film auch als Allegorie oder als Melodrama gelesen werden kann. Man könnte sich damit beschäftigen, wie hier Spielfilmtechniken eingesetzt werden, um eine „Welt zu entwerfen", oder damit, wie diese entworfene Welt bestimmte Schlußfolgerungen und Verallgemeinerungen über die historische Welt nahelegt. Man könnte analysieren, wie der Film „Beweise" benutzt, um seine Thesen zu entwickeln und die Zuschauer von seinen Behauptungen zu überzeugen. Und natürlich könnte man auch unter- suchen, wie Macht in einem solchen Diskurs zirkuliert - wie sie bestimmte Standpunkte autorisiert oder vernatürlicht. ,,Könnte das gelogen sein?" ist keineswegs die einzige Frage, die wir uns stellen müssen, wenn wir verste- hen wollen, wie Dokumentarfilme funktionieren. Ich behaupte aber, daß es die einzige Frage ist, die wir brauchen, um zu bestimmen ob, oder besser, wann ein Film wie ein Dokumentarfilm funktioniert. Daß ein Film „wie ein Dokumentarfilm funktioniert", sei, könnte man ein- wenden, aber schließlich etwas anderes, als daß er ein Dokumentarfilm ist. Schließlich existieren Spielfilme wie JFK, denen Wahrheitsansprüche un- terstellt werden, und es gibt Dokumentarfilme wie LOUISIANA STORY von Robert Flaherty (1950), die ganz wie Spielfilme ablaufen. Aber mein Punkt in diesem Aufsatz war ja, daß es keinen Text gibt, der in sich und notwen- digerweise ein Dokumentarfilm ist. Erst ein bestimmter Rahmen, innerhalb dessen er gelesen wird, macht ihn zu einem Dokumentarfilm. In anderen Worten: Ein Dokumentarfilm ist das, was Menschen gewöhnlich daraus machen, nicht mehr und nicht weniger. Was sie gewöhnlich daraus machen, und das habe ich zu zeigen versucht, ist ein Film, ein Video oder eine Fern- sehsendung, von dem sie annehmen, daß er oder es einen Wahrheitsan- spruch erhebt. Wenn man sich JFK auf diese Weise betrachtet, behaupte ich, wird er tatsächlich zu einem Dokumentarfilm. Und wenn man LOUI- SIANA STORY nicht so ansieht, wird der Film tatsächlich zu einem Spielfilm. tielle Komödien, Experimentalfilme und verschiedene Arten von Animations- filmen scheinen diese Rezeptionsweise zu begünstigen. Bei 8Y, etwa erklären wir uns Erzählsprünge, sonderbare Charaktere und Traumsequenzen auch in Bezug auf den Filmautor Fellini - ein sicherlich als „real präsupponierter Enunziator". Aber das bedeutet noch lange nicht, daß wir 8'!, als Dokumentar- film lesen. Wir betrachten den Film nicht als „Dokument" über Fellinis künstle- rische Intentionen, sondern als einen Spielfilm, der absichtlich etwas undurch- sichtig bleibt. 7/2/1998 Wann ist ein Dokumentarfilm? 43 Man könnte einwenden, daß wir damit keinen festumrissenen Textkorpus bestimmt haben, den man als „Dokumentarfilm" kategorisieren könnte, aber das macht nichts. Die interessante und wichtige Frage ist hier nicht, wie man einen ziemlich unscharfen Korpus von Texten endlich ein für allemal definieren könnte, sondern viel eher, wie Zuschauer einen Diskurs verstehen, den sie als besonders und andersartig wahrnehmen, in diesem Fall als dokumentarischen. Damit wird, wie ich eingeräumt habe, ohnehin eine ziemlich stabile Gruppe von Texten beschrieben. Situationen, in denen SCHOOL DAZE tatsächlich als Dokumentarfilm und HIGH SCHOOL als Spiel- film gelesen werden, sind äußerst selten. Es kommt auch nur selten vor, daß uns ein Film so verwirrt, daß wir nicht wissen, ob wir ihn als Dokumentar- oder Spielfilm lesen sollen. Wie Carroll gezeigt hat, kennen wir meistens die „Indizierung", bevor wir den Film sehen. Und selbst bei so gräßlichen Grenzkategorien wie „Dokudrama" und „Infotainment", zu denen etwa Serien wie A CURRENT AFFAIR und die unglaublich erfolgreiche Serie ROOTS (1977) gehören, ist sehr klar festgelegt, auf welche textuellen Aspekte die Kriterien des Dokumentarfilms anwendbar sind. Wirklich ver- wirrende Filme wie DAUGHTER RITE und No LIES sind die Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Aus dem Amerikanischen von Georg Tillner (TEXTRAFIK} Literatur Allen, Robert C. / Gomery, Douglas (1985) Film History. Theory and Practice. New York( ... ]: McGraw-Hill. Barsarn, Richard Meran (1973) Nonfiction Film. A Critical History. New York: E.P. Dutton & Co. Carroll, Noel (1983) From Real to Reel: Entangled in the Nonfiction Film. In: Philosophie Exchange, 14, S. 5-46. [Wiederabgedr. in: Ders.: Theorizing the Moving Image. Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 224-252.] Eco, Umberto (1987) Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen. Übersetzt v. Günter Memmert. München: Fink. 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Betrachtet man die gegenwärtigen, zum Teil sehr polarisiert geführten Debatten, so fällt auf, daß sie überwiegend an traditionellen Überlegungen hinsichtlich der Filmtechnologie oder der rhetorischen Strukturen des do- kumentarischen „Textes" orientiert sind (vgl. Winston 1995, Plantinga 1996). Aspekte der Rezeption, die im Umfeld der Cultural Studies seit Jahren eine wichtige Rolle spielen, wurden für den Dokumentarfilm nur sehr sporadisch und für eine historische Rezeptionsforschung fast gar nicht berücksichtigt. Erst mit einiger Verspätung kündigt sich nun ein Wandel der Perspektive an, da zunehmend nach den spezifischen Erwartungen und Leistungen des Publikums gefragt wird und die Tatsache, daß für das Genre der Augenblick seiner „Lektüre" bzw. Rezeption eine entscheidende Rolle spielt, eine größere Beachtung findet. Der Beitrag von Dirk Eitzen in diesem Band ist Ausdruck dieser veränder- ten Blickrichtung. Ich möchte ihn zum Ausgangspunkt für Überlegungen nehmen, wie Fragen der Rezeption für den Dokumentarfilm fruchtbar ge- macht werden können. Auch wenn die von Eitzen vorgebrachten Thesen die allgemeine Diskussion beleben können, werde ich in Teil I zunächst anhand einiger Textstellen zu zeigen versuchen, daß er aufgrund der ver- kürzten Skizzierung des gegenwärtigen Forschungsstandes und einer monokausalen Herangehensweise an die Begriffsbestimmung des Doku- mentarfilms nicht über bestehende Modelle hinausgeht. Fragen der Rezep- tion werden bei ihm zu stark von Textstrukturen abgelöst, und sie dienen primär als Definitionskriterium des Genres. Ich möchte dagegen argumen- tieren, daß sie weniger für einen erneuten Definitionsversuch des Doku- mentarfilms als für die spezifische Qualität der historischen Diskurse, in 46 Christof Decker montage/av denen Dokumentarfilme verhandelt werden, von Interesse sind. Wichtiger als Definitionsbemühungen erscheinen mir also die Veränderungen kultur- spezifischer Debatten, an denen Dokumentarfilme beteiligt sind. Dieses Argument geht auf die Beobachtung zurück, daß sich für die meisten Zuschauer mit dem Genre ein besonderer Wirklichkeitsbezug verbindet, den viele Filmemacher explizit suchen und der auch eine konstante An- nahme in gegenwärtigen Begriffsbestimmungen ist. Mit dem Dokumentar- film und seinem Bezug auf „soziale Realität" geht offensichtlich eine spezi- fische soziale Praxis einher, die diesen Bezug erst einlösen kann, wenn ein konkreter Austausch zwischen Texten und Zuschauern innerhalb des anvi- sierten Verweisungshorizonts erfolgt. Neben den Akten der Repräsentation ist sie in einem konstitutiven Sinn auf die öffentlichen Räume und Prozesse der Rezeption bzw. Reflexion angewiesen. Untersuchungen der Rezeption sind daher meines Erachtens besonders ergiebig, wenn sie sich dieser ,,Schnittstelle" zwischen Texten und Zuschauern zuwenden. Dies soll an- hand der amerikanischen Debatte über die Ethik des Dokumentarfilms in Teil 2 ausgeführt werden. Zentrale Aspekte des Genres - z. B. Formen der ästhetischen Erfahrung oder der kulturellen Selbstverständigung - können mit einer historisch ausgerichteten Rezeptionsforschung erfaßt werden. So bietet sich die Untersuchung eines konkreten und begrenzten Rezeptions- umfeldes an, wenn die Erfahrungsdimensionen und Kommunikations- potentiale des Dokumentarfilms bestimmt werden sollen. Schließlich möchte ich kurz umreißen, welche weitergehenden Fragestellungen sich aus dieser Perspektivierung ergeben könnten. 1. Dirk Eitzen und der amerikanische Theoriekontext In der nordamerikanischen Theoriebildung hat die Debatte um den Doku- mentarfilm mit der Veröffentlichung von Bill Nichols' Buch Representing Reality im Jahr 1991 einen starken Entwicklungsschub bekommen. Kaum eine neuere Begriffsbestimmung des Genres kann ohne einen Verweis auf den Entwurf von Nichols auskommen. Das liegt zum einen daran, daß er den Versuch unternommen hat, den Dokumentarfilm aus einer gewissen Isolation zu befreien und mit anderen Theoriediskussionen - z. B. zur An- thropologie oder zum Feminismus - zu verbinden. Zum anderen haben sich seine Kategorien als ausgesprochen brauchbar für die praktische Analyse spezifischer Filme erwiesen. Nichols ist ein aufmerksamer Filmanalytiker und hat daraus eine formalistische Genauigkeit im kleinen abgeleitet, die er im großen mit der ideologiekritischen Tradition verbunden hat, aus der er kommt. Dieser zweiten Ebene wurde in der Folgezeit von grundsätzlichen 7/2/1998 Die soziale Praxis des Dokumentarfilms 47 Gegenpositionen aus widersprochen: so von Noel Carroll (1996), der die Möglichkeit verteidigt, daß Dokumentarfilme objektiv sein können, oder von Carl Plantinga (1996), der gegen die vermeintliche Allgegenwart ihrer ideologischen Effekte argumentiert. Bei Carroll und Plantinga, aber vor allem bei Nichols wird der Dokumen- tarfilm möglichst umfassend in ein Netzwerk von Kommunikationsprozes- sen integriert. Obwohl sich ihre Konzeptionen in einigen Punkten wesent- lich unterscheiden, gehen sie für die Charakterisierung des Genres von einem relationalen Modell aus, das sich nicht mehr auf die Ontologie des Filmmaterials oder eine exklusive Erzählweise beruft. Vielmehr wird, wie in den meisten neueren Ansätzen, eine Reihe von Einflußfaktoren betrach- tet. Von zentraler Bedeutung sind Zuschauererwartungen und Textstrate- gien, aber auch Fragen der Institution und der sozialen Funktion.' Der dar- aus resultierende Gewinn. an Komplexität hat den Forschungsbereich un- übersichtlicher gemacht, aber auch zum besseren Verständnis einer filmi- schen Ausdrucksform beigetragen, die in traditionellen Filmgeschichten als unermüdlicher Dienst am „Fenster zur Welt" verstanden worden war. In dem vorliegenden Aufsatz von Dirk Eitzen wird nun wiederum eine Verengung der Perspektive vorgeschlagen. Eitzen geht auf die Ansätze von Plantinga und Nichols ein, möchte aber - expliziert an Beispielen aus CIVIL WAR (USA 1991, Ken Bums), HIGHSCHOOL (USA 1968, Frederick Wise- man), No LIES (USA 1973, Mitchell Block) und SCHOOL DAZE (USA 1988, Spike Lee) - einige ihrer Grundannahmen revidieren: zum einen, daß der Dokumentarfilm primär ein argumentatives Genre sei, zum anderen, daß sein besonderer Wirklichkeitsbezug zur historischen Realität bestimmte Wahrheitsansprüche besitze. Statt dessen schlägt er vor, die Begriffsbe- stimmung in den Augenblick der Rezeption zu verlagern und neben argu- mentativen auch andere Formen der Ansprache zu berücksichtigen. Ein hilfreiches - wenn nicht das einzige - Kriterium für die Zuschaueraktivität sei die Annahme, daß sich mit der Frage, ob der Film lügen könnte, das entscheidende Charakteristikum des Dokumentarfilms verbinde. Drei Ausprägungen einer Begriffsbestimmung zeichnen sich bei ihm ab: a) Dokumentarfilme seien Programme, die mit der Frage: ,,ist es möglich, daß der Film lügt?" identifiziert werden könnten; b) Dokumentarfilme würden als solche durch den Austausch von Zuschauererwartungen und Textstruk- turen bezeichnet; c) Dokumentarfilme seien das, was die Zuschauer dafür Zur Theoriegeschichte des Dokumentarfilms siehe Hohenberger ( 1998). 48 Christof Decker montage/av hielten. Das Verhältnis zwischen diesen Formulierungen ist jedoch nicht immer klar. Die dritte, tautologische Bestimmung entspricht einer Art All- tagszuschreibung; die zweite bezeichnet eine grundsätzliche Kommunika- tionsrelation, aber nur die erste präsentiert Eitzen (1998, 43) als entschei- dendes Merkmal für die Identifizierung des Dokumentarfilms; sie sei sogar ,,die einzige Frage [ ... ]t, die wir brauchen, um zu bestimmen ob, oder bes- ser, wann ein Film wie ein Dokumentarfilm funktioniert". Um dieses Argument zu entwickeln, nimmt Eitzen, wie ich meine, eine starke Verkürzung der Ansätze von Plantinga und Nichols vor. Dies soll hier nicht im einzelnen verfolgt werden. Ich möchte vielmehr meinem zen- tralen Einwand nachgehen: Obwohl Eitzen zu Recht die Rezeption als ent- scheidendes Element der Begriffsbestimmung bezeichnet, geht er über bestehende Modelle nicht hinaus. Er vernachlässigt den Einfluß textueller Strukturen, und er reduziert die Zuschauererwartung auf eine ahistorisch konzipierte „Frage nach der Lüge". a) Die „Frage nach der Lüge" Die erste Begriffsbestimmung hat zunächst eine Absage an den Dokumen- tarfilm als „Argument" zur Voraussetzung - eine Absage, die Eitzen vor allem im Hinblick auf die Theorie von Bill Nichols formuliert. In seinem Buch Representing Reality führt Nichols aus, daß er mit dem Dokumentar- film einen kalvinistischen „sense of mission" verbindet. Das Genre gehört für ihn den „discourses of sobriety" an, jenen nüchtern-ernsthaften Diskur- sen, die in der Wissenschaft dominieren und sich in einem instrumentellen Verhältnis zur Welt verstehen. Das Argumentative spielt für diese Zusam- menhänge die größte Rolle, da für die historische Realität, auf die es sich bezieht, primär ein ernsthafter „Umgang" angemessen erscheint. Dieser Einschätzung stellt Eitzen ein Beispiel aus der historischen Dokumentation CIVIL WAR von Ken Bums gegenüber, in der eine sentimentale Stimmung durch Fotos von Soldaten und Kanonen im Sonnenuntergang erzeugt wird. Nicht alles, so sein Einwand, sei im Dokumentarfilm argumentativ; für viele Zuschauer sei eine emotionale Reaktion ebenso wichtig. Dies ist, wie auch ein Blick auf die Dokumentarfilme der dreißiger Jahre zeigen würde, sicherlich richtig (auch wenn der Film von Ken Bums mit seinen starken Anleihen bei der Historiographie insgesamt ein denkbar schlechtes Beispiel für die Abwesenheit des Argumentativen ist). Eitzen geht jedoch noch einen Schritt weiter: Aus der Beobachtung, daß in manchen Filmen die emotio- nalen Aspekte wichtiger seien als die argumentativen, leitet er die These ab, daß der Dokumentarfilm nicht als etwas wahrgenommen (perceived) würde, 7/2/1998 Die soziale Praxis des Dokumentarfilms 49 das Wahrheitsansprüche über die historische Realität besitze, sondern daß es von den Zuschauern angenommen bzw. unterstellt (presumed) würde, daß diese Ansprüche bestünden. Er postuliert, daß potentielle affektive Re- aktionen in einem allgemeinen Sinn die Abwesenheit eines explizit wahr- genommenen Argumentationszusammenhangs für den Dokumentarfilm nahelegen würden. Dies führt ihn zu folgender Definition: Es kommt nicht darauf an, ob [eine] Szene Behauptungen oder Argumente auf- stellt. Es kommt nicht darauf an, ob sie „die Wahrheit sagt" oder nicht. Es kommt darauf an, ob sie in einer Weise wahrgenommen wird, daß die Frage „Könnte das gelogen sein?" Sinn macht. Ich schlage hiermit vor, daß es die Anwendbarkeit der Frage „Könnte das gelogen sein?" ist, die Dokumentarfilme und nicht fiktionale Formen im allgemeinen von fiktionalen Formen unter- scheidet. (Eitzen 1998, 27). Eitzen geht also davon aus, daß es nicht entscheidend ist, ob die Filme ein Argument anbieten, sondern daß die Frage, ob sie lügen könnten, gestellt wird. Dieser Gedanke beinhaltet jedoch einen logischen Widerspruch, denn wie kann die Frage, ob ein Film lügt, prinzipiell gestellt werden, wenn die- ser Film nicht zuvor eine Reihe von Annahmen oder Behauptungen vorge- bracht hat, auf die sich diese Frage sinnvollerweise beziehen ließe? Mit anderen Worten, damit die Frage nach der Lüge möglich ist, muß zunächst eine intelligible Aussage gemacht werden, die eine Beantwortung anhand von Wahrheitskriterien nahelegt. Insofern erweist sich das von Eitzen ange- sichts des Beispiels aus CIVIL WAR vorgebrachte Postulat, emotionalisie- rende Wirkungen würden die Abwesenheit des Argumentativen nahelegen, als theoretischer Kurzschluß. Wenn er von einer Fragehaltung aufseiten der Zuschauer ausgeht, müssen Behauptungen, die ein Film macht, als solche wahrgenommen werden. Die „Frage nach der Lüge" scheint vor allem dem Versuch geschuldet zu sein, sich von den bestehenden Ansätzen von Plantinga und Nichols absetzen zu wollen, aber letztlich führt sie nur zu einer Inversion des Arguments, daß Dokumentarfilme Wahrheitsansprüche besäßen, also nur zu einem anderen Vorzeichen vor der gleichen Argu- mentationsstruktur. Denn was ist die Frage nach der Lüge anderes als die Umkehrung der Frage nach einem Wahrheitsanspruch? Bedenklicher ist jedoch, daß dem Argument insgesamt ein sehr reduktio- nistisches Verständnis von rhetorischen Verfahren unterliegt. Dies zeigt sich vor allem im Hinblick auf Plantingas Position. Entgegen Eitzens For- mulierung geht Plantinga nicht von der naiven Annahme aus, der Doku- mentarfilm würde die „Wahrheit erzählen", sondern er unterscheidet deut- lich zwischen dem Umstand, einen Wahrheitsanspruch geltend zu machen, 48 Christof Decker montage/av hielten. Das Verhältnis zwischen diesen Formulierungen ist jedoch nicht immer klar. Die dritte, tautologische Bestimmung entspricht einer Art All- tagszuschreibung; die zweite bezeichnet eine grundsätzliche Kommunika- tionsrelation, aber nur die erste präsentiert Eitzen (1998, 43) als entschei- dendes Merkmal für die Identifizierung des Dokumentarfilms; sie sei sogar ,,die einzige Frage [ ... ]t, die wir brauchen, um zu bestimmen ob, oder bes- ser, wann ein Film wie ein Dokumentarfilm funktioniert". Um dieses Argument zu entwickeln, nimmt Eitzen, wie ich meine, eine starke Verkürzung der Ansätze von Plantinga und Nichols vor. Dies soll hier nicht im einzelnen verfolgt werden. Ich möchte vielmehr meinem zen- tralen Einwand nachgehen: Obwohl Eitzen zu Recht die Rezeption als ent- scheidendes Element der Begriffsbestimmung bezeichnet, geht er über bestehende Modelle nicht hinaus. Er vernachlässigt den Einfluß textueller Strukturen, und er reduziert die Zuschauererwartung auf eine ahistorisch konzipierte „Frage nach der Lüge". a) Die „Frage nach der Lüge" Die erste Begriffsbestimmung hat zunächst eine Absage an den Dokumen- tarfilm als „Argument" zur Voraussetzung - eine Absage, die Eitzen vor allem im Hinblick auf die Theorie von Bill Nichols formuliert. In seinem Buch Representing Reality führt Nichols aus, daß er mit dem Dokumentar- film einen kalvinistischen „sense of mission" verbindet. Das Genre gehört für ihn den „discourses of sobriety" an, jenen nüchtern-ernsthaften Diskur- sen, die in der Wissenschaft dominieren und sich in einem instrumentellen Verhältnis zur Welt verstehen. Das Argumentative spielt für diese Zusam- menhänge die größte Rolle, da für die historische Realität, auf die es sich bezieht, primär ein ernsthafter „Umgang" angemessen erscheint. Dieser Einschätzung stellt Eitzen ein Beispiel aus der historischen Dokumentation CIVIL WAR von Ken Bums gegenüber, in der eine sentimentale Stimmung durch Fotos von Soldaten und Kanonen im Sonnenuntergang erzeugt wird. Nicht alles, so sein Einwand, sei im Dokumentarfilm argumentativ; für viele Zuschauer sei eine emotionale Reaktion ebenso wichtig. Dies ist, wie auch ein Blick auf die Dokumentarfilme der dreißiger Jahre zeigen würde, sicherlich richtig (auch wenn der Film von Ken Bums mit seinen starken Anleihen bei der Historiographie insgesamt ein denkbar schlechtes Beispiel für die Abwesenheit des Argumentativen ist). Eitzen geht jedoch noch einen Schritt weiter: Aus der Beobachtung, daß in manchen Filmen die emotio- nalen Aspekte wichtiger seien als die argumentativen, leitet er die These ab, daß der Dokumentarfilm nicht als etwas wahrgenommen (perceived) würde, 7/2/1998 Die soziale Praxis des Dokumentarfilms 49 das Wahrheitsansprüche über die historische Realität besitze, sondern daß es von den Zuschauern angenommen bzw. unterstellt (presumed) würde, daß diese Ansprüche bestünden. Er postuliert, daß potentielle affektive Re- aktionen in einem allgemeinen Sinn die Abwesenheit eines explizit wahr- genommenen Argumentationszusammenhangs für den Dokumentarfilm nahelegen würden. Dies führt ihn zu folgender Definition: Es kommt nicht darauf an, ob [eine] Szene Behauptungen oder Argumente auf- stellt. Es kommt nicht darauf an, ob sie „die Wahrheit sagt" oder nicht. Es kommt darauf an, ob sie in einer Weise wahrgenommen wird, daß die Frage „Könnte das gelogen sein?" Sinn macht. Ich schlage hiermit vor, daß es die Anwendbarkeit der Frage „Könnte das gelogen sein?" ist, die Dokumentarfilme und nicht fiktionale Formen im allgemeinen von fiktionalen Formen unter- scheidet. (Eitzen 1998, 27). Eitzen geht also davon aus, daß es nicht entscheidend ist, ob die Filme ein Argument anbieten, sondern daß die Frage, ob sie lügen könnten, gestellt wird. Dieser Gedanke beinhaltet jedoch einen logischen Widerspruch, denn wie kann die Frage, ob ein Film lügt, prinzipiell gestellt werden, wenn die- ser Film nicht zuvor eine Reihe von Annahmen oder Behauptungen vorge- bracht hat, auf die sich diese Frage sinnvollerweise beziehen ließe? Mit anderen Worten, damit die Frage nach der Lüge möglich ist, muß zunächst eine intelligible Aussage gemacht werden, die eine Beantwortung anhand von Wahrheitskriterien nahelegt. Insofern erweist sich das von Eitzen ange- sichts des Beispiels aus CIVIL WAR vorgebrachte Postulat, emotionalisie- rende Wirkungen würden die Abwesenheit des Argumentativen nahelegen, als theoretischer Kurzschluß. Wenn er von einer Fragehaltung aufseiten der Zuschauer ausgeht, müssen Behauptungen, die ein Film macht, als solche wahrgenommen werden. Die „Frage nach der Lüge" scheint vor allem dem Versuch geschuldet zu sein, sich von den bestehenden Ansätzen von Plantinga und Nichols absetzen zu wollen, aber letztlich führt sie nur zu einer Inversion des Arguments, daß Dokumentarfilme Wahrheitsansprüche besäßen, also nur zu einem anderen Vorzeichen vor der gleichen Argu- mentationsstruktur. Denn was ist die Frage nach der Lüge anderes als die Umkehrung der Frage nach einem Wahrheitsanspruch? Bedenklicher ist jedoch, daß dem Argument insgesamt ein sehr reduktio- nistisches Verständnis von rhetorischen Verfahren unterliegt. Dies zeigt sich vor allem im Hinblick auf Plantingas Position. Entgegen Eitzens For- mulierung geht Plantinga nicht von der naiven Annahme aus, der Doku- mentarfilm wurde die „Wahrheit erzählen", sondern er unterscheidet deut- lich zwischen dem Umstand, einen Wahrheitsanspruch geltend zu machen, 50 Christof Decker montage/av und der Behauptung, das Gezeigte sei die „Wahrheit".2 Darüber hinaus machen Plantinga und Nichols deutlich, daß es sich im Film immer nur um ein Heranziehen von „artistic proofs" handeln kann. Beweise oder Belege für eine „historische Wahrheit" sind trotz ihrer apparatebedingten Material- qualität immer in vielerlei Hinsicht gebrochen und vennittelt; sie sind eben Bestandteile rhetorischer Strategien. Die Annahme eines rhetorisch kon- struierten Wahrheitsanspruchs sollte demnach nicht mit den früher vorherr- schenden Positionen eines Abbild-Realismus verwechselt werden. Bei Eit- zen ist darüber hinaus weder klar, worauf sich die Frage, ob der Film lügen könnte, eigentlich beziehen soll - auf die „Fakten", die Bilder und Töne, die Fonnen der Ansprache etc. -, noch wird deutlich, daß Wahrheitsansprüche einer historischen Veränderung unterliegen. Die „Frage nach der Lüge" wird präsentiert, als habe sie eine transhistorische Gültigkeit, wo doch ge- rade der Wandel des Dokumentarfilms als Überzeugungsrede - die konti- nuierliche Destabilisierung und Rekonstitution seiner Wahrheitsansprüche - so frappierend ist.' Dagegen ist die Annahme, daß Dokumentarfilme emotionalisierend „gele- sen" werden können, sicherlich richtig. Sie wird aber hier als Teilbereich unterschiedlicher Funktionspotentiale nicht weiter verfolgt, sondern unnötig privilegiert. Eitzen leitet aus zwei spezifischen Ausprägungen des Doku- mentarfilms bei Ken Bums und Frederick Wiseman eine Funktionsbestim- mung ab und setzt sie absolut. Nimmt Nichols vielleicht eine Überbetonung des Argumentativen vor, so schlägt Eitzen sich auf die Seite der „Emotiona- listen". Soll die Debatte zu den unterschiedlichen Formen der Rezeption aber differenziert geführt werden, dann ist es nicht hilfreich, eine Ver- engung von Unterscheidungskriterien vorzunehmen. Diese müßten viel- Plantinga ( 1987, 51) merkt diesbezüglich an: ,,My characterization of the documentary assumes no necessarily successful representation of the facts or truth." Noch deutlicher wird dies, vielleicht auch als Reaktion auf Eitzens Kri- tik, in einem neueren Aufsatz: ,,1 do not assume that nonfiction films neces- sarily assert or imply truths; they assert and imply truth claims. A defining cha- racteristic of nonfiction discourse is that it makes direct assertions about the actual world, not that it makes true assertions" (Plantinga 1996, Fn 9, 321). Obwohl „Wahrheit" und „Lüge" zentrale Begriffe bei Eitzen sind, erstaunt es um so mehr, daß er auf die Debatten zu postmodernen Kulturtheorien und den Streit um Konstruktivismus- und Objektivitätsargumente bei Nichols, Winston und Carroll gar nicht eingeht. Diese Debatten haben die Brauchbarkeit der Be- griffe für das Genre im allgemeinen und für Fragen der Definition im besonde- ren stark in Zweifel gezogen. 7/2/1998 Die soziale Praxis des Dokumentarfilms 51 mehr den mannigfaltigen Funktionspotentialen der Filme gerecht werden und erklären, warum und auf welche Weise diese sich historisch verändern. Auch die als besonders bedeutsam eingeführte Differenzierung des Wahr- heitsanspruchs, den die Zuschauer als solchen wahrnehmen oder den sie nur unterstellen, greift in diesem Sinn zu kurz. Für eine Umstellung des theore- tischen Zugriffs auf eine rezeptionsorientierte Ausrichtung wäre eine kon- krete Rezeptionsforschung notwendig, die erklären würde, warum für bestimmte Zuschauergruppen ein Wahrheitsanspruch des Genres eher im- plizit bleibt, für andere eher explizit ist.' b) Die dokumentarisierende Lektüre Ähnlich wie Eitzens erste Begriffsbestimmung zielt auch die zweite darauf, die Frage des Dokumentarischen von den textuellen Strukturen des Films zu trennen. Nicht der dokumentarische Text sei entscheidend für das Genre, sondern die dokumentarisierende Lektüre. Er schreibt: Es sind also nicht fonnale Gesichtspunkte oder solche der Repräsentation, die darüber entscheiden, ob Zuschauer einen Film als Dokumentarfilm „rahmen". Eher ist es eine Kombination aus den Wünschen und Erwartungen, die die Zu- schauer an einen Text richten, sowie ihren Vermutungen aufgrund von situati- ven Hinweisen und textuellen Merkmalen. Anders ausgedrückt, die Frage: ,,Könnte das gelogen sein?", die Dokumentarfilme von anderen Filmen unter- scheidet, wird von den Zuschauern gestellt, nicht von den Texten. (1998, 32) Wiederum schießt Eitzen mit dem Versuch, die Bestimmung des Doku- mentarfilms vorn Text abzulösen, über das Ziel hinaus. Einerseits sollen die formalen Aspekte der Filme nicht verantwortlich dafür sein, ob diese als Dokumentarfilm gelesen werden. Andererseits ziehen die Zuschauer Rück- schlüsse über die Filme aufgrund der „textual features". Dann müssen aber die Textmerkmale eine gewisse, von Eitzen nicht weiter erörterte Rolle spielen. Die formalen Aspekte eines Films können insofern nicht gleichzei- tig nicht entscheidend für die Wahrnehmung der Zuschauer und entschei- dend für ihre Rückschlüsse über den Film sein. Mit dem unglücklichen Versuch, eine Abtrennung des Textes von den Leseformen vorzunehmen, werden also weder das lnteraktionsverhältnis zwischen Text und Zuschau- In jedem Fall erinnert die Unterscheidung stark an Ecos ( 1990) Kategorien des naiven und des kritischen Lesers und damit an unterschiedliche Leseformen, die aufgrund divergierender Rezeptionskompetenzen entstehen. 52 Christof Decker montage/av ern, noch jene interpretativen frames deutlicher, auf die Eitzen besonderen Wert legt.5 Eitzens zweite Begriffsbestimmung - das Interaktionsverhältnis von Zu- schauererwartung und Textstrukturen - ist auch keine Weiterentwicklung, sondern wurde schon von Plantinga und Nichols weitreichender ausgeführt. Bill Nichols zeigt beispielsweise sehr deutlich, daß Zuschauererwartungen und -aktivitäten für das Genre konstitutiv sind: The most fundamental difference between expectations prompted by narrative fiction and by documentary lies in the status of the text in relation to t~e histo- rical world. This has two levels. Cues within the text and assumptions based on past experience prompt us to infer that the images we see (and many of the sounds we hear) had their origin in the historical world. Technically, this means that the projected sequence of images, what occurred in front of the camera (the profilmic event), and the historical referent are taken to be congruent with one another. [ ... ] On a second, more global level we set up a pattern of inferences that helps us to determine what kind of argument the text is making about the historical world itself, or at least some small part of it. Instead of using proce- dural schemata to formulate a story, we use them to follow or construct an argument (1991, 25). c) Ist der Dokumentarfilm, was er ist? Am Schluß seines Aufsatzes faßt Eitzen seine Definitionen zusammen. Von immanenten Textkriterien, die für die zweite Bestimmung noch eine ge- wisse Rolle spielten, sieht er nun vollständig ab: Erst ein bestimmter Rahmen, innerhalb dessen er gelesen wird, macht ihn zu einem Dokumentarfilm. In anderen Worten: Ein Dokumentarfilm ist das, was Menschen gewöhnlich daraus machen, nicht mehr und nicht weniger. Was sie gewöhnlich daraus machen, und das habe ich zu zeigen versucht, ist ein Film, ein Video oder eine Fernsehsendung, von dem sie annehmen, daß er oder es einen Wahrheitsanspruch erhebt. (1998, 43). Mit dem letzten Satz rückt er von der „Frage nach der Lüge" ab und greift wieder auf die traditionelle, von Plantinga übernommene Annahme eines Wahrheitsanspruchs zurück. Darüber hinaus kommt er mit der Formulie- rung, ein Dokumentarfilm sei, was die Menschen mit diesem Begriff ver- binden würden, auf eine am Anfang des Aufsatzes gemachte Aussage zu- rück. Dort hatte er diese Art der Alltagszuschreibung, die ohne großes Er übernimmt im wesentlichen das Konzept des Index bei Noel Carroll, d. h. die institutionelle Zuweisung der Diskurszugehörigkeit des Textes. 7/2/1998 Die soziale Praxis des Dokumentarfilms 53 Nachdenken getroffen wird, als Definition vorgeschlagen, aber gleichzeitig auch verworfen. Denn mit ihr würde an der eigentlichen Sache, wie die Menschen tatsächlich eine dokumentarisierende Lektüre vornehmen wür- den, vorbeigegangen. Ich behaupte, daß dies auch am Schluß des Aufsatzes nicht klarer ist. Weder ist das Zusammenspiel von Text und Lektüre ge- nauer untersucht worden, noch ist die Annahme neu, daß mit Wahrheits- ansprüchen zu rechnen sei. Sie ist zumindest nicht als einziger interpretati- ver frame zu sehen, der für den Dokumentarfilm wichtig wäre. Annahmen zur Wahrheit oder Unwahrheit sind zwar relevant für Erwartungshaltungen, mit denen Zuschauer an Dokumentarfilme herangehen. Sie sind aber nur ein Teilaspekt von Rezeptionsfonnen, ein bestimmtes Bündel von Fragen, und mit Sicherheit keine zu privilegierende Klassifikationskategorie. Eitzen geht also trotz gegenteiliger Ankündigungen nicht über jene von Nichols, Plantinga und Carroll ausgearbeiteten Ansätze hinaus. Gerade die tautologische Formulierung, Dokumentarfilme seien das, was die Zuschauer dafür hielten, macht deutlich, daß für die Erklärung des Wandels von An- sprachefonnen, Indextypen oder Zuschauererwartungen die Modelle feh. len.6 Es zeigen sich die grundsätzlichen Probleme von reduktiven Ansätzen, die versuchen, den Dokumentarfilm auf ein Erkennungsmerkmal zurückzu- führen. Auch die Auswahl von Filmbeispielen, die für einen Definitionsver- such herangezogen werden, ist oftmals fragwürdig. Allgemein läßt sich beobachten, daß vielen Theoriediskussionen die Tendenz innewohnt, aus vereinzelten Beispielen globale Kategorien oder Annahmen abzuleiten. So versucht Carroll, die Kritik von Nichols an der Objektivität des Dokumen- tarfilms mit dem Hinweis auf Tierfilme zu widerlegen, Eitzen greift sich eine vereinzelte sentimentale Szene gegen das Argumentative des Genres heraus usw. Sinnvoller erscheint es, filmwissenschaftliche Fragen konkreter auf spezifische Ausprägungen des Genres (mit ihren jeweiligen institutio- nellen und sozialen Bedingungen) zu beziehen und nicht die ganze Palette Die tautologische Definition des Genrebegriffs wird im allgemeinen Andrew Tudor zugeschrieben. Allerdings wollte er mit seiner Formulierung, ein Genre sei, ,,what we collectively believe it to be" (1986, 7), hervorheben, daß Genre- definitionen primär über den kulturtypischen Umgang mit Erzählmustern Aus- kunft geben. Sie seien daher sehr interessant, jedoch „more for the exploration of the psychological and sociological interplay between filmmaker, film, and audience than for the immediate purposes of film criticism" ( 1986, 7). Seine Ausführungen verdeutlichen damit um so mehr, daß Fragen nach Texten und Zuschauererwartungen in ihren kulturellen und historischen Kontext eingebun- den werden müssen, um aussagekräftig zu sein. 54 Christof Decker montage/av von Formen unter totalisierende, oftmals wenig aussagekräftige Kriterien zu subsumieren. Für den prinzipiell zu begrüßenden Anstoß von Dirk Eitzen, die Bedeutung der Rezeption für das Genre genauer zu bestimmen, läßt sich jedenfalls zusammenfassen, daß drei Grundprobleme ungeklärt bleiben: die Beschaf- fenheit des Interaktionsverhältnisses zwischen Texten und Zuschauern, die Bandbreite des Spektrums von Erwartungshaltungen auf seiten der Zu- schauer und die Historizität dieser Erwartungshaltungen. Im zweiten Teil sollen diese Fragen anhand eines Beispiels - der amerikanischen Diskussion über die Ethik des Dokumentarfilms - aufgegriffen werden. 2. Erfahrungsdimensionen der sozialen Praxis des Dokumentarfilms Wie oben angedeutet, hat die Rezeption in der Beschäftigung mit dem Do- kumentarfilm bislang eine unzureichende Rolle gespielt. Erstaunlich lange ist an klassischen Wirkungsannahmen festgehalten worden, die mit der Analyse von Textstrukturen zumeist eine homogene Wirkung verbanden. Obwohl die Rhetorik der Überzeugungsrede seit den Anfängen des Genres von zentraler Bedeutung war, wurden weder die Rezeptionskontexte noch die individuellen Formen der Aneignung genauer betrachtet; zumeist stan- den die „Missionen" der Filmemacher im Vordergrund. 7 In einer Untersu- chung zum amerikanischen Dokumentarfilm habe ich aus diesem Grund versucht, für eine bestimmte historische Phase den Zuschauererwartungen und „Leseformen" hinsichtlich des Austauschs über die Ethik des Doku- mentarfilms nachzugehen - vor allem auch deswegen, weil die in Frage stehenden Filme zumeist auf besonders heftige Zuschauerreaktionen stießen (vgl. Decker 1995). Anhand dieser Untersuchung wurde deutlich, daß die Erwartungen und Aktivitäten des Publikums ein wichtiges Element für die soziale Praxis des Dokumentarfilms darstellen. Sie trugen einerseits dazu bei, daß wesentliche Vorannahmen des Genres kontinuierlich reflektiert werden mußten, und zum anderen, daß die Filmemacher, die durch die Struktur ihrer Filme eine bestimmte Interpretation von Wirklichkeit vorge- legt hatten, sich mit dieser Interpretation beständig gegenüber anderen Sichtweisen und Perspektivierungen zu behaupten hatten. Daß Fragen der Rezeption selten ausführlicher thematisiert worden sind, liegt mit Sicherheit auch an den methodischen Schwierigkeiten der historischen Re- zeptionsforschung. Vgl. zu Problemen der Methodik Morley ( 1992). 7/2/1998 Die soziale Praxis des Dokumentarfilms 57 entscheidend waren: Fragen zum Grad der Kontl'_GrR.A.nll:n.ll:.A.. 1. De Zee te Scheveningen. 2. De Bookmakcrs op het ~oersplein. 3. Be smeden in bnn werkplaats. 4. Aan boord van de mailboot „Kon.ingin Wilhelmina". 5. De W estminsterbrug te Londen. 6. De Goochelaar, (goochelt: Konijnen, Zakdoeken enz. cen hoed). 7. Straatrartisten op de Kermis. 8. Aankomst van ·een Spoortrein. Voorste11ingen alle dagen mn 10 tot 12 uur 's morgen 2 tot 11 1mr 's aromls, op de ttrm etl l,alre url. En. "tree Q~ Ce.n-' Drllll nD Biene Ealventr. 11!8 Abb. 2: Programmzettel fo.r den Theatrographe 1896 (a us: Briels J 97 J, J8 ) 7/2/1998 Nachrichtenfilm und Technikinteresse 109 Weitaus deutlicher zeigen die Präsentation und Zusammensetzung dieser Programme, daß die Neuheit, ja das Wunder des Kinos hier eine zentrale Rolle spielte. So fallt zunächst auf, daß die Programme sorgsam von den gewohnten Kontexten und Abspielstätten (Ausstellungen, Jahrmärkte oder Theater) ferngehalten wurden, in denen mechanische visuelle Reproduktio- nen für gewöhnlich eingeführt wurden; ein leerstehender Laden wird der Vorführung in vieler Hinsicht das Vertraute von vornherein genommen haben. Zweitens scheinen die Programme selbst so arrangiert worden zu sein, daß sie das Publikum nicht gewinnen, sondern überwältigen sollten. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich zum Beispiel wesentlich von den Lumiere-Programmen, die 1896 auf der Exposition Generale in Montpellier gezeigt wurden. Obwohl die Lumieres auch hier einen leerstehenden Laden angemietet hatten, lag dieser nicht nur in unmittelbarer Nähe zum Ausstel- lungsgelände sondern direkt auf dessen Zufahrtsstraße - gleichsam als pointierter Kommentar zu den anderen visuellen Attraktionen der Ausstel- lung. Wie darüberhinaus Jacques und Marie Andre in ihrem Buch über die Ausstellung von Montpellier zeigen, führten die zwei noch erhaltenen Pro- gramme dieser Vorführungen die Zuschauer behutsam an den Cinemato- graphe heran: Der umsichtige Wechsel zwischen hektischen und ruhigen Szenen, zwischen Bildern aus Berufs- und Familienleben etc. untermalte wiederholt die neuartigen „effets de foule", die Louis Lumiere unbedingt erzielen wollte (vgl. Andre/Andre 1987, 74-85). Hingegen war die Zusam- mensetzung der Amsterdamer Programme, die auch über einen viel kürze- ren Zeitraum gezeigt wurden, weit weniger subtil: Hier finden sich grobe Unterteilungen in komische Szenen, in denen es zumeist um Kinder geht und denen einige seriösere Ansichten folgen. Die lustigen, ja reizenden Ereignisse der komischen Filme mögen etwaige Widerstände bei den Zu- schauern abgebaut haben, doch scheint dies auch die einzige Konzession gewesen zu sein, was die Programmfolge anbelangt. Noch deutlicher wird die Betonung des Neuen mit Blick auf die Inhalte der acht im Programm aufgeführten Filme. Sicherlich könnte man mit Sadoul (1964, 51) behaupten, daß der Schock des Neuen in diesen Filmen durch die Popularität (und somit auch die Vertrautheit) ihrer Gegenstände inner- halb der Amateurphotographie absorbiert wurde. Zweifellos zählten Ama- teurphotographen zu denen, die den hohen Eintrittspreis für die Vorführun- gen der Lumieres in Amsterdam zahlen konnten. Doch werden nicht alle hier behandelten Themen ihr Äquivalent im Bereich der Amateurphotogra- phie gefunden haben, und man kann kaum davon ausgehen, daß alle Zu- schauer im Lauf dieser zwei Monate so gut informiert waren. Selbst dort wo die Filme sich an die Photographen als cognoscenti richteten, läßt sich doch 110 Nico de Klerk montage/av behaupten, daß die Inhalte der Filme nicht als Ausgangspunkt für „novelty" fungierten, sondern daß sich die Neuerungswut auf eben diese Inhalte rich- tete. Angesichts der Tatsache, daß die Lumieres ihren Apparat nicht als eine Form populärer Unterhaltung, sondern als wissenschatfliches Instrument auf dem neuesten Stand der technischen Entwicklung verstanden wissen wollten,' scheint es mir, als wollten diese Vorführungen gerade das Ver- traute der gewählten Inhalte auslöschen. So ging es hier keineswegs um die Transparenz der gezeigten Szenen. Vielmehr sollten die Programme das Kino selbst bei der Arbeit zeigen, d.h. zeigen, wie dieser Apparat die flüch- tigen, oft unkontrollierbaren Bewegungen des Alltagslebens einfängt. Melies' Bemerkung über die „wehenden Blätter" im Hintergrund in LE REPAS DE BEBE trifft genau diese Materialität der Lumiere-Filme (vgl. Melies 1984, l 7f.). Primacy Effect Im Mai 1896 brachte eine gastierende Varietetruppe eine weitere Reihe von Ansichten in ein Amsterdamer Varietetheater: Auf dem Programm der Truppe fanden sich auch die Skladanowsky-Brüder als „sensationelle Neu- igkeit", die laut Ankündigung mit ihrem „Bioskop" ,,lebendige Bilder" präsentierten. Neben der Betonung des Neuen, die für das Variete ohnehin üblich war, erklärten die Plakate explizit, daß die Aufnahmen „das kom- plette Programm einer Varietetruppe" enthielten." Mit ihren Wurzeln in der Welt der Unterhaltung war es für die Skladanowskys selbstverständlich, daß sie ihre Erfindung in dieser Art von Theater unterbrachten - die Urauffüh- rung ihres Filmprogramms hatte im Berliner Wintergarten, einer der größ- ten Varietebühnen Europas stattgefunden. Hierin ist ein deutlicher, wenn nicht gar tautologischer Versuch zu sehen, das Kino in einem „vertrauten Kontext" zu verorten: Die Einreihung der Filme in ein tatsächliches Varie- teprogramm wird den „novelty"-Effekt zweifellos abgeschwächt haben. So läßt sich vielleicht auch erklären, warum eine Rezension des Varietepro- gramms in einer Amsterdamer Theaterzeitschrift das Bioskop erst am Schluß der Besprechung und ohne viel Aufhebens erwähnt: ,,Das Bioskop, die Reproduktion lebender Bilder auf der Leinwand, war sicher für viele [Zuschauer] neuartig und interessant" (vgl. Asmodee v. 21.5.1896). Eine Der teure Eintritt für Vorführungen wie die in Amsterdam kann dies belegen; cf. auch Williams 1983. Zit. n. Castan 1995, 95; vgl. auch die Annonce in AH v. 16.5.1896, wo aller- dings der Name der Skladanowskys unerwähnt bleibt. 7/2/1998 Nachrichtenfilm und Technikinteresse 111 Woche später wird dieser Teil des Programms überhaupt nicht mehr er- wähnt. Weiterhin setzte das Programm der Skladanowskys auf das Vertraute statt auf das Neue, indem es die Verbindung zu früheren Formen der mechani- schen visuellen Unterhaltung stets aufrechterhielt. Mit ihren Varieteakten Abb. 3: Schaukastenzettel far das Kinetoscope 1894/95 (aus: Briels 1971, 9) stehen die Filme der Skladanowskys zu einem gewissen Grad in der Tradi- tion der für das Kinetoskop festgehaltenen Szenen. In Amsterdam war das Kinetoskop 1894-95 eingeführt worden. Ein Schaukastenzettel aus der Zeit führt neben einigen Szenen aus dem Berufsleben - eine Schmiede, ein Friseursalon - und Hahnenkämpfen auch typische Varietenummem auf, wie etwa einen Serpentintanz, einen Seiltänzer und den Lassohelden aus Buffalo Bills Wild West Show (vgl. Abb. 3). Da die Filme keine „wehenden Blätter" zeigten, entstand hier eine starke Kontinuität. Mit einer Tanzszene und zwei Kampfszenen im Programm werden die Skladanowskys auf Publikums- wirksamkeit gesetzt haben. 112 Nico de Klerk montage/av Zu diesen intentionalen Überlegungen kommt noch hinzu, daß die Sklada- nowskys gerade zwei Wochen vor Ende des Lumiere-Programms in Am- sterdam ankamen, was wiederum den Schluß nahelegt, daß die Einführung des Kinos nur in Ausnahmefällen ausschließlich auf „novelty" setzte. Viel- mehr wird der Aspekt des Vertrauten hinsichtlich des primacy effects, mit dem die Skladanowskys konfrontiert waren, beinahe unvermeidlich gewe- sen sein: eine Zeitung berichtete, daß das Bioskop nur eine andere Bezeich- nung für den „bekannten Cinematographe auf der Kalverstraat" sei (AH v. 17.5.1896).5 So ist die Einführung des Kinos in Amsterdam zwischen diesen beiden Polen von relativ kompromißloser „novelty" einerseits und Vertrautem andererseits zu verorten.6 Die Vorführungen mit R.W. Pauls Theatrographe im Sommer 1896 verfolgten zum Beispiel einen Mittelweg, indem sie abge- filmte Varietenummem (einen Clown, einen Jongleur) mit Außenaufnah- men ( des Meers, der Ankunft eines Zuges, einer Reise und von Szenen aus dem Berufsleben) kombinierten. Auf ähnliche Weise entwickelte auch die Werbung für Vorführungen mit dem Kinematographen im April 1897 das Neue aus dem Bekannten: die Projektion erfolge auf einer Leinwand, die ,,schon" sechs Quadratmeter messe und so die Figuren größer denn je er- scheinen lasse (NvD v. 19.4.1897). Ungeachtet aller Unterschiede setzten die Zeitungsberichte über die Vorfüh- rungen der Skladanowskys deren Apparat mit dem der Lumieres gleich (in den Berichten findet sich die Rede von ihrer Familienähnlichkeit als Bruder und Schwester): dieser Sachverhalt ist meines Erachtens für eine Epoche symptomatisch, die von einer rasanten Folge von Neuerungen im Bereich der mechanischen visuellen Reproduktion gekennzeichnet ist: eine Erfin- dung oder Innovation jagt die andere, ohne daß die von der Werbung be- haupteten erkennbaren Unterschiede oder Fortschritte immer tatsächlich auszumachen sind. In solchen Zeiten kommt dem Vertrauten ein besonders hoher Wert zu. In diesem Sinne erinnern die zeitgenössischen Berichte Eine andere Zeitung beschreibt das Bioskop als "lebendige Bilder etc., wie sie auch in der Kalverstraat zu sehen sind" (NvD v. 19.5.1896). Die Relativierung dieses scheinbar eindeutigen Bekenntnisses zum Neuen zeigt sich u.a. in der Tatsache, daß ein Hauch von Gewohntem in die Lumiere-Pro- gramme drang, nachdem sie Amsterdam verlassen hatten und im Seebad Sche- veningen gezeigt wurden: als Ersatz für zwei gestrichene Nummern liefen nun PLEZIERTOCHTJE OP ZEE (möglicherweise BARQUE EN MER) und HET BADEN IN ZEE (wahrscheinlich BAIGNADE EN MER). 7/2/1998 Nachrichtenfilm und Technikinteresse 113 daran, daß die Zuschauer zu jedem Zeitpunkt mit einer Fülle unterschied- licher Überlegungen beschäftigt sind, einschließlich der Frage, wie sie rea- gieren sollen. Die zitierten Berichte deuten auf eben diese Verwirrung und Unsicherheit, die auch für das zweite Problemfeld wesentlich sind, das ich hier beleuchten möchte: das Verhältnis zwischen „novelty" und Technolo- gie. N achrichtenfi Im Der verhältnismäßig kurze Zeitraum, den der Begriff „novelty period" abdeckt, ergibt sich selbstverständlich aus der Tatsache, daß dieser Begriff seinen eigenen Fluchtpunkt mitliefert: legt er doch nahe, daß der Neuig- keitswert des Apparats und auch die „novelty period" selbst in dem Maße verschwindet, in dem die Zahl der Filmvorführungen stetig zunimmt.' So ließe sich die Tatsache, daß der Apparat in der Werbung immer seltener erwähnt wird, als Beleg dafür anführen, daß diese Vermarktungsstrategie gezwungenermaßen nur von kurzer Dauer war. Was die Stadt Amsterdam angeht, so könnte man auf eine Werbung des Nederlands Panopticum ver- weisen, die im Herbst 1896 veröffentlicht wurde und die Besucher zu einer Gratisvorstellung des „Cinematographe Werner" einlud. Offenbar wurde es nicht für nötig befunden, dem Leser zu erklären, was ein Cinematographe sei oder was diesen speziellen Apparat von anderen unterschied. Stattdessen erwähnt die Ankündigung, daß eine Ansicht, bzw. Reihe von Ansichten unter dem Titel ANKUNFT DES ZAREN UND DER ZARIN IN PARIS auf dem Programm stehe (AHv. 28.10.1896). Diese Ankündigung steht am Anfang einer Entwicklung, in deren Folge die Auswerter in ihren Zeitungsannoncen anstatt auf den Apparat als solchen aufmerksam zu machen zunehmend auf einzelne Filmtitel setzen. So un- Bei Musser (1990, 189) heißt es entsprechend: "die Dynamik der Neuerungen [novelties] führte dazu, daß [amerikanische] Filmgesellschaften bald über die bloße Verbreitung technologischer Innovationen in breite Gesellschaftskreise hinausgingen." In anderen nationalen Filmgeschichten wird das Ende des Kinos als novelty ebenfalls an Veränderungen im Produktionssektor gekoppelt, wenn auch oft nicht so deutlich oder selbstverständlich. In seiner Beschreibung der frühen französischen Filmindustrie betont Richard Abel zum Beispiel aus- drücklich die Bedeutung des Feuers im Bazar de la Charite für das abflauende Interesse am Kino; ein anderer Faktor hingegen ("die immer geringer werdende Faszination für das Kino als technologische Neuerung") scheint vollkommen selbstverständlich (vgl. Abel 1994, 17). 114 Nico de Klerk montage/av übersehbar diese Entwicklung auch sein mag, so fraglich scheint mir aller- dings, ob sie einfach als Ende auch des Zuschauerinteresses am Apparat interpretiert werden kann. 8 Denn zum einen erscheint die eben zitierte Wer- bung nur sieben Monate nach der ersten Filmvorführung in Amsterdam, also zu einem Zeitpunkt, als Filmvorführungen noch relativ selten und unregelmäßig sind. Man kann also mit anderen Worten kaum davon ausge- hen, daß der Neuigkeitswert des Kinos aus Sicht der Zuschauer in Amster- dam schon einen gewissen Sättigungsgrad erreicht hatte. Andererseits muß die Veränderung des „novelty"-Begriffs in den folgenden Jahren keines- wegs bedeuten, daß auch das Interesse an der Kinotechnologie abgenom- men hatte. In der Tat legt gerade die Art der angekündigten Ansicht - eine Aktualität - und insbesondere die zunehmende Geschwindigkeit, mit der diese Art von Ansichten die Leinwand erreichte, eine ganz andere Lesart nahe. Folgt man den Zeitungsberichten über die Filmvorführungen in Amster- dam, so scheint es geboten, die Tragweite des Begriffs „novelty period" neu zu beleuchten - insbesondere die Annahme, daß die technische Dimension des Kinos kein langfristiges Interesse zu erwecken vermochte. Der Begriff schafft natürlich eine gewisse befriedigende, lineare Vorstellung, wonach die „novelty period" von einer nächsten Phase abgelöst wird, in der dann andere Aspekte (z.B. Inhalte, Narration) im Mittelpunkt stehen. Doch wird so der Blick für Kontinuitäten in verschiedener Hinsicht von der Fixierung auf Veränderungen und Innovationen überlagert. Darüberhinaus führt eine solche Betrachtungsweise dazu, daß die Filmhistoriographie sich zuneh- mend von den Erfahrungen der Zuschauer löst. Hingegen bin ich der Mei- nung, daß die technischen Wunder des Kinos weiterhin eine wichtige Kom- ponente der Filmvorführungen ausmachten und daß der Apparat sowohl für das Publikum als auch für die Rezensenten weiterhin ein Gegenstand der Bewunderung blieb - ein Umstand, der bis weit in das erste Jahrzehnt die- ses Jahrhunderts andauerte. Der Neuigkeitswert des Films mag sich im Laufe der Zeit abgenutzt haben, aber der Nachrichtenfilm hielt das Interesse an den Möglichkeiten des Apparats am Leben. Abel ( 1994, 17) weist im französischen Kontext auf das wiedererwachte Inter- esse an der Technologie, bzw. an den neuen Technologien des Kinos hin. Als filmhistorisches Konzept ist der Begriff der "novelty period" mithin alles an- dere als eindeutig. 7/2/1998 Nachrichtenfilm und Technikinteresse 115 Krönung Im Frühjahr 1910 berichtet eine niederländische Zeitung: Mit lobenswerter Schnelligkeit werden lebende Bilder des königlichen Besuchs [in Amsterdam] im Flora und im Bioscope-Theater gezeigt. So konnte man gestern abend sehr schöne Bilder sehen, die noch am selben Tag gemacht wor- den waren. [ ... ] Es ist verwunderlich, daß sich bislang niemand sonderlich für diese Kinovorführungen interessiert hat. Scheinbar ziehen die Leute die fest- liche Aufregung auf der Straße dem ruhigen Sitz im Theater vor, wo sich die wichtigsten Ereignisse der vergangenen paar Tage in bewegten Bildern auf der weißen Leinwand vor ihren Augen abspielen (AHv. 30.5.1910). Unter den Berichten über Amsterdamer Filmvorführungen, die sich zwi- schen 1896 und 1914 in zwei Amsterdamer Tageszeitungen finden, ist dieses einer der letzten Fälle, in denen ausdrücklich auf die Darstellung jüngster Ereignisse im Kino Bezug genommen wird. In dieser Hinsicht handelt es sich um einen signifikanten Bericht, da er auf die schwindende Wirkung zweier Aspekte hinweist, die über ein Jahrzehnt lang das Kino- publikum in ihren Bann gezogen hatten: Bilder von Königen, berühmten und großen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, sowie die „lobens- werte Schnelligkeit", mit der die filmische Berichterstattung wichtige Ereig- nisse auf die Leinwand brachte. Die Krönung der niederlänidischen Königin Wilhelmina am 6. September 1898 und die darauffolgenden Festivitäten würde man heute als Medien- ereignis bezeichnen. Zwar spielten die Medien kaum eine nennenswerte Rolle bei diesem Ereignis, hätten doch die Lichtverhältnisse das Filmen im Koninklijk Paleis und in der Nieuwe Kerk auf dem Dam ohnehin unmög- lich gemacht. Was die Krönung selbst anging, so mußten sich die Kameraleute mit einer Ellipse begnügen: sie konnten nur filmen, wie die Thronfolgerin die Kirche betrat und wie sie diese als Königin der Nieder- lande wieder verließ. Darüberhinaus legen die von der Biograph & Muto- scope Company gedrehten Filme (die als einzige erhalten geblieben sind) nahe, daß dem Kino nur eine marginale Rolle zukam: wenn der Kamera- blick auf das Geschehen auch durch nichts verstellt war, so deuten doch die hohen Perspektiven und die große Kameraentfernung auf einen dem Ge- schehen entrückten Standort. Doch die Produzenten und Auswerter lagen mit ihrer Auswahl dieser Er- eignisse für ihre jeweiligen Programme richtig: Mit enormem Erfolg liefen Filmprogramme der „Krönung", einschließlich der Ankunft der Thronfolge- rin am 5. September, ihres Auftritts auf dem Balkon des Palastes, der an- 116 Nico de Klerk montage/av schließenden Rundfahrt durch die Hauptstadt, eines Trachtenumzugs am folgenden Tag und der Ankunft der frisch gekrönten Königin in Den Haag drei Tage darauf. Noch im Januar 1899, also vier Monate nach diesen Er- eignissen, findet sich eine Zeitungsnotiz mit dem Hinweis, daß die Krö- nungsfilme der Biograph & Mutoscope Company immer noch zu sehen seien (NvD v. 27.1.1899). Ein so durchschlagender Erfolg läßt sich meines Erachtens auf eine Kombination von Faktoren zurückführen. Erstens natürlich auf die lebensnahe Qualität dieser Filme. Im Grunde ge- nomme11 handelte es sich bei diesen Filmprogrammen für viele, die bei der Krönung selbst nicht anwesend waren, um die einzige verfügbare Quelle, kamen die Zeitungsleser um die Jahrhundertwende doch hauptsächlich aus den mittleren und oberen Klassen. Als Beleg hierfür mag der Nachdruck gelten, mit dem ein Journalist auf die Vollständigkeit der Bilder hinweist, die nicht nur die königliche Familie sondern die gesamte Prozession auf einer geschätzten Länge von „500 Metern Film" ablichten (NvD v. 14.9.1898). Darüberhinaus bildeten die Filme einen wenn auch nachträg- lichen Aufhänger für die Festlichkeiten, die jede Stadt und jedes Dorf an- läßlich der Krönung ausrichteten. Weiterhin fällt auf, daß diese Filme als „überraschend getreue Nachah- mung" beschrieben werden (ibid.). Betrachtet man die Rezensionen, die in der betreffenden Epoche in der Regel im Lokalteil erschienen, bekommt man bei solchen und ähnlichen Formulierungen den Eindruck, daß der Kinoapparat nicht immer ganz begriffen wird, daß dieser Maschine nach wie vor etwas Geheimnisvolles anhaftet. Man kann davon ausgehen, daß diese Artikel, die von nicht spezialisierten Journalisten verfaßt wurden, für eine breitere Haltung repräsentativ sind. Da man solche Bemerkungen noch nach der Jahrhundertwende findet, kann man weiterhin davon ausgehen, daß sich auch die Auffassung vom Kino als technologisches Wunder bis in diese Zeit gehalten hat. Die zitierte Formulierung legt den Schluß nahe, daß im Jahre 1898 noch längst nicht jeder von den Möglichkeiten des Kinos überzeugt war, oder diese auch nur begriffen hatte. Es scheint, als würden die Filme nicht nur als Aufzeichnung tatsächlicher Ereignisse, sondern gleichzeitig als eine Art Testfall für das Funktionieren des Kinoapparats selbst begriffen. Eine solche Haltung ist auch in einem Bericht Ober Film- bilder vom Papst zu spilren, wo es heißt, diese Bilder seien von einem katholischen Geistlichen „eindeutig bezeugt worden" als er sie für „beeindruckend korrekt" erklärte, weil er „viele Leute in der Entourage des Papstes wiedererkannt habe" (AH v. 17.1.1899). Folglich waren die Krö- nungsfilme noch in einem zusätzlichen Sinne „lebensecht", reproduzierten 7/2/1998 Nachrichtenfilm und Technikinteresse 117 sie doch genau die Dinge, welche die Menschen auf dem Dam, entlang der Route der Königen, oder bei anderen Ereignissen mit ihren eigenen Augen gesehen hatten. Die Überzeugungskraft und Popularität dieser Filme wird zum Teil sicher damit zu tun gehabt haben, daß die Zuschauer Gelegenheit bekamen, sich selbst auf der Leinwand zu entdecken - ein Mittel, das na- türlich zu der Zeit häufig und durchaus absichtlich eingesetzt wurde. Zweitens hat die Tatsache, daß die Filme das höfische Leben zum Gegen- stand hatten, wesentlich zu ihrem Erfolg, wenn nicht zu ihrer Aura beige- tragen. Die Gegenwart der Roya/s auf der Leinwand mag sogar wie ein kleines Wunder gewirkt haben, war das Kino doch in der Lage, die Bewe- gungen solcher Menschen in ungewöhnliche Nähe zu bringen - auch durch die Einbeziehung der Kamera (und sei's nur aus Unsicherheit). Die Auf- nahme hochrangiger Persönlichkeiten war nicht immer unproblematisch, wie auch die Diskussion um das Filmen von Papst Leo XIII zeigt. 9 Dennoch war die Projektion von Bildern höfischen Lebens nicht vollkommen neu. Ein Beleg findet sich in einem Zeitungsbericht Anfang 1898, demzufolge das Programm der American Bioscope in einem Amsterdamer Variete mit einem Portrait Ihrer Majestät der Königin endete (AH v. 17.3.1898). Dieses Portrait - ein Standbild - zeigte das Ende der Vorführung an. Die Würde der dargestellten Person sollte wahrscheinlich dazu dienen, etwaiges Ge- murmel oder andere Ausdrücke des Mißfallens über das Ende der Abend- unterhaltung zu unterbinden. Gleichzeitig signalisierte das Erscheinen die- ses Portraits, daß in diesem Moment die Wirklichkeit wieder in ihr Recht gesetzt wurde (funktionsgleich wurde bis vor kurzem noch von vielen Sen- deanstalten die Nationalhymne verwendet, um den Sendeschluß zu signali- sieren). Die tatsächliche, von den Krönungsfilmen herbeigeführte Neuerung bestand nun darin, daß die Königsfamilie nicht mehr als abgrenzende Cf. Musser 1990, 2 l 9f.; in diesem besonderen Fall bestand das Problem darin, ob die vom Papst für den Film ausgesprochene Segnung sich nur auf das anwe- sende Filmteam bezog oder auch für die späteren Zuschauer gelten würde; erst als der Vatikan davon überzeugt war, daß letzteres zuträfe, soll er laut die Auf- nahmen genehmigt haben. Die Herausgeber der Korrespondenz von Lumieres Kameramann Gabriel Veyre weisen auf einen ähnlichen Effekt hin, allerdings aus der Sicht der Mächtigen selbst: der mexikanische Diktator Profirio Diaz soll besonders stolz darauf ge- wesen sein, von Veyre gefilmt worden zu sein, würde doch nun sein Name auf dem gleichen Programmzettel mit berühmteren Größen, wie Zar Nicholas II oder dem französischen Präsidenten Felix Faure, zu finden sein (vgl. Jacquier/Pranal 1996, 54). 118 Nico de Klerk montage/av Klammer zwischen Theaterstück oder Film als Unterhaltung einerseits und der Alltagsrealität andererseits diente, sondern hier als Teil der Unterhal- tung selbst auftrat. Hierin mag ein weiterer, weniger offensichtlicher Grund für den Gegenstand dieser Filme liegen: womöglich haftete diesen beweg- ten Bildern der königlichen Familie noch etwas von ihrer Abgrenzungs- funktion als „Schlußklammer" an, so daß die Filme zusätzlich zu ihrer na- tionalen und symbolischen Bedeutung auch ein strukturelles Gewicht ge- wannen. 111 Der dritte Bestandteil des Erfolgs der Krönungsprogramme war sicherlich die Geschwindigkeit, mit der die Ereignisse auf die Leinwand kamen und die die Zuschauer weiterhin im Bann der technologischen Errungenschaften - um nicht zu sagen: der Wunder - des Kinos hielt (die Rede vom Magi- schen findet sich in diesen Berichten immer wieder). Die Zeitungen wußten schon vorab von der schnellen Veröffentlichung der Krönungsfilme und hielten ihre Leser über deren Produktion auf dem Laufenden. Obwohl die Krönung selbst am 6. September 1898 stattfand und das Filmprogramm am 11. September Premiere hatte, liegen doch nur zwei Tage zwischen dem letzten für das Programm aufgezeichneten Ereignis - der Ankunft der Kö- nigin im Bahnhof von Den Haag am 9. September 1898 - und dessen Vor- führung.11 Genau diese Zeitspanne versuchten die Vorführer in den folgen- den Jahren zu verkürzen - ein Unterfangen, das von den Zeitungsberichten aufmerksam begleitet wurde. Rekord Die „Lieferfrist" eines Nachrichtenfilms ist natürlich abhängig vom Ort eines Ereignisses und von dessen relativer Wichtigkeit im Leben der vor- aussichtlichen Zuschauer. Diesen Zusammenhang verdeutlicht zum Beispiel der Bericht einer Amsterdamer Zeitung, der notiert: ,,zwar lief auch DER PRUNKVOLLE UMZUG DER KÖNIGIN VICTORIA DURCH DIE STRASSEN VON LONDON in unseren Kinos, doch wird es kaum überraschen, daß die Festi- 10 Zum Begriff der Klammer vgl. Goffman 1977, 278-296. II Annonce in AH v. 11.9.1898. Hier erscheint das Programm des Varietetheater- besitzers F.A. Nöggerath Sr. Es scheint, daß Nöggerath dem Biograph-Pro- gramm um eine Länge voraus war, enthielt dieses doch in der Version, die gleichzeitig in einem anderen Theater lief, nur die Ereignisse vom 5. und 6. September. Dieses Programm wurde erst einige Tage darauf vervollständigt. Vgl. van den Tempel 1997, 54. 7/2/1998 Nachrichtenfilm und Technikinteresse 119 vitäten unserer eigenen Königin, die uns noch frisch im Gedächtnis sind, einen gewaltigeren Eindruck hinterließen" (NvD v. 14.9.1898). Andererseits war räumliche Entfernung per se nicht entscheidend, wenn man sich die überlieferten Reaktionen auf Bilder von den Besuchen Paul Krugers und anderer Buren-Generäle in verschiedenen europäischen Städten vor Augen hält: Das niederlänidsche Publikum identifizierte sich stark mit deren An- liegen, und die Filme über Helden des Burenkrieges knüpften an lautstark verkündete Sympathiebekundungen an, die an Formen des Nationalismus grenzten. Nebenbei gesagt mag es zunächst merkwürdig erscheinen, daß die Zeitun- gen so regelmäßig über die Geschwindigkeit berichteten, mit der solche Ereignisse auf die Leinwand kamen, mußte doch die rasche Vorführung von Aktualitäten eigentlich den Zeitungen selbst als direkte Konkurrenz erscheinen. Doch findet sich in Berichten über das Verhältnis der beiden Medien um die Jahrhundertwende nicht die Spur einer Rivalität; ein Bericht situiert die Aufgaben von Kino und Zeitung sogar in unmittelbarer Nähe zueinander: ,,Die Aufgabe eines solchen Biograafs ist der einer Zeitung ähnlich: es gilt, Weltereignisse mit höchster Geschwindigkeit zu verbreiten, in diesem Fall in Bildern" (NvD v. 21.11.1898). Mit der Ausnahme von außergewöhnlichen Ereignissen wie der Krönung von 1898 oder dem Un- tergang der „Berlin" vor der niederländischen Küste 1907, finden sich in Zeitungen aus Holland bis ca. 1910 keine photographischen Reproduktio- nen (umgekehrt mag hier auch ein Grund für das Verschwinden von Be- richten über verfilmte Aktualitäten ab 1910 liegen). 12 Im Nachhinein scheinen die Krönungsprogramme eine Art von Maßstab etabliert zu haben, da die Zeitungen in den folgenden Jahren nicht müde wurden, den Aufwand zu betonen, mit dem die Zeit zwischen einem Ereig- nis und seiner Darstellung auf der Leinwand immer weiter komprimiert wurde. Dabei wurden die Aktivitäten des holländischen Filmpioniers F.A. 13 Nöggerath Sen. besonders hervorgehoben (vgl. Abb. 4): Nöggerath und 12 In einem Bericht aus NvD vom 30.6.1909 ahnt man schon einen Anflug von Nervosität, wenn es dort heißt: "Während die Tagespresse sich stetig darum bemüht, ihren Lesern die täglichen Nachrichten umgehend in gedruckter Form zu liefern, verlieren die Kinos heutzutage keine Zeit, wenn es darum geht, wichtige Ereignisse manchmal wenige Stunden nachdem sie stattgefunden ha- ben in Bildern zu präsentieren." 13 Warum gerade Nöggerath für die Vorreiterrolle auserkoren wurde ist allerdings nicht ganz klar. Als Besitzer des Amsterdamer Varietetheaters Flora war er in 120 Nico de Klerk montage/av seine Assistenten hatten bald den Ruf, die Öffentlichkeit besonders schnell mit berichtenswerten Ereignissen aus dem In- und Ausland zu versorgen. Seine Position als Lokalheld geht eindeutig aus der Entrüstung eines Jour- nalisten hervor, als Nöggerath die beträchtliche Summe von einhun- dertsechzig Gulden bezahlen mußte, um seine Kamera bei der Beerdigung Abb. 4: F.A. Nöggerath Sen. (Quelle: Nederlands Filmmuseum) der Kaiserin Elisabeth von Österreich an einem „bescheidenen Platz" auf- stellen zu können - und das bei einem Ereignis, dessen Vorführung „in ein paar Tagen" zu erwarten war (AH v. 23.9.1898). Es ist nicht überliefert, der Unterhaltungsindustrie vor Ort recht bekannt, was den Zeitungen womög- lich die Gelegenheit gab, ihre Berichte auf eine Person zu beziehen; darüber- hinaus ist es wahrscheinlich, daß er auch ein besonderes Geschick im Umgang mit der Presse bewies. 7/2/1998 Nachrichtenfilm und Technikinteresse 121 warum die Beerdigung letztlich erst am 7. Oktober, also einige Wochen später, vorgeführt wurde, doch berichteten die Zeitungen auch nach diesem Datum weiterhin voller Enthusiasmus und Bewunderung über die Errun- genschaften von Nöggerath und anderen Pionieren aus Produktion und Auswertung. So gibt es zwischen 1898 und 1910 eine recht konstante Folge von Lobes- hymnen, die die Vorführung lokaler und internationaler Aktualitäten be- gleiten. Hier eine kleine Auswahl aus den Berichten während des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts: Am 25. April 1900 stellt Nöggerath mit seinen Aufnahmen der königlichen Prozession in Amsterdam auf dem Weg zum Stapellauf eines Kriegsschiffes gewissermaßen einen neuen Rekord auf. Die Prozession wird „zwischen 14 Uhr und 14:30 Uhr" mit einer Ge- schwindigkeit von „ 1160 Photographien pro Minute" aufgenommen, die „keine 9 Stunden später" um 22:45 Uhr in Nöggeraths eigenem Theater Flora gezeigt werden (NvD v. 26.4.1900; vgl. Abb. 5). Neben dem fehlen- den Wissen, oder wenigstens dem fehlenden Vokabular bezüglich des Film- apparats, dessen Funktionieren in geläufigen Begriffen (,,Photographien") gefaßt wird, füllt hinsichtlich der Verrechnung von Zahlen besonders das anhaltende Interesse an den technologischen Aspekten des Kinos auf: die Rede von „1160 Photographien pro Minute", die in unter „9 Stunden" ent- wickelt werden, kann die Bewunderung des Journalisten kaum verbergen. Im Dezember desselben Jahres wiederholt Nöggerath diese Leistung mit seinen Aufnahmen von Paul Krugers Besuch in Amsterdam (die er „um kurz nach zwei Uhr" macht), sowie mit den Bildern der Ehrengarde aus Transvaal und dem Freistaat Oranje. Letztere müssen gegen drei Uhr auf- genommen worden sein, werden die Filme doch laut Bericht am selben Abend um elf, ,,gut acht Stunden später" gezeigt - und das Blatt lobt wie- derum ausdrücklich Nöggerath's „außergewöhnlich schnelle Arbeit" (NvD v. 21.12.1900). Aus diesem Bericht geht auch hervor, daß die Gelegenhei- ten zu solchen Höchstleistungen vorsichtig ausgewählt werden, auch wenn die grundsätzlichen Bemühungen, die Zeit zwischen Ereignis und Vorfüh- rung zu verkürzen, niemals abbrechen. So hatte Nöggeraths Programm im Juni und im September zum Beispiel Bilder eines Maskenumzugs in der Universitätsstadt Leiden bzw. die Ankunft des persichen Schahs in Den Haag enthalten, die jeweils einen Tag nach ihrer Aufnahme vorgeführt wurden; daß hier keine eilenden Kameramänner oder rasche Laborarbeiten erwähnt werden, deutet darauf hin, daß die Presse in diesem Fall nicht mit solch lebhaften Details bedient wurde. Offenbar waren diese Ereignisse den Aufwand einer schnellen Vorführung nicht wert, obwohl Nöggerath schon 122 Nico de Klerk montage/av bewiesen hatte, daß er dazu in der Lage gewesen wäre. Das Publikums- interesse an „frischen" Bildern wird mit anderen Worten in bestimmten, zweckmäßigen Situationen stimuliert und bedient, deren Breitenwirksam- keit praktisch garantiert ist (wie zum Beispiel bei wenig kontroversen Ge- genständen wie etwa der niederländischen Königsfamilie oder dem Buren- krieg). Abb. 5: Flora Theater 1900 (Quelle: Nederlands Filmmuseum) Am 6. März 1901 findet sich ein bemerkenswerter Bericht im Algemeen Hande/sblad, demzufolge einige Aufnahmen des jungvermählten Königs- paares nun nur noch „wenige Stunden" nach ihrer Aufnahme zur Vorfüh- rung gelangten. Die Tatsache, daß diese Filme nicht nur umgehend in Nöggeraths eigenem Theater in Amsterdam gezeigt wurden, sondern daß darüberhinaus „die gleichen Ansichten des Herrn Nöggerath auch in Rot- terdam zu sehen waren", wird vom Berichterstatter mit Staunen an die Leser weitergegeben - auch dies ein Beleg für das „Magische" des Kinos zu dieser Zeit (vgl. AH v. 6.3.1901). Ein Bericht vom 26. März 1907, der ebenfalls auf die simultane Vorführung von Aktualitäten in Amsterdam und Rotterdam hinweist, zeugt davon, daß die Journalisten zu diesem Zeitpunkt 7/2/1998 Nachrichtenfilm und Technikinteresse 123 nicht länger von der bloßen Möglichkeit überrascht sind (vgl. NvD v. 26.3.1907). Schließlich findet sich am 20. Dezember 1909 ein Bericht über Nöggeraths Vorführung der BEERDIGUNGSZEREMONIE KÖNIG LEOPOLDS IN BRÜSSEL, der mit der Frage beginnt: ,, Wurde gestern der Rekord der Kinounterneh- men gebrochen?" (NvD v. 20.12.1909). Genaugenommen handelt es sich hier nicht um einen rein zeitlichen Rekord, dauert es doch acht oder neun Stunden, bis die Filme zu sehen sind. Vielmehr ist dieses Ereignis denk- würdig und berichtenswert, weil es angesichts der Entfernung zwischen der Zeremonie in Brüssel und ihrer schnellen (Re )Präsentation in drei Amster- damer Theatern eine meisterhafte Überbrückung von Zeit und Raum dar- stellt. Besonders interessant ist dieser Bericht auch deshalb, weil er einen seltenen Blick auf eine schrumpfende Welt erlaubt. Er behandelt das Kino als Teil eines übergeordneten Kontextes moderner Technologien - hier vor allem der Transportmittel. 14 Im Unterschied zu heute gängigen Assoziatio- nen fällt weiterhin auf, daß diese Technologien nicht als austauschbare Beispiele für Modernisierung begriffen werden, sondern nur implizit mit- einander in Verbindung gebracht werden. Weiterhin scheint es mir kaum verwunderlich, wenn eine Tageszeitung die Errungenschaften des Kinos auf diese Weise in den Vordergrund stellt. Schließlich erhielten Zeitungen ihre Informationen (vor allem aus dem Ausland) per Telefon und Telegraph, d.h. mittels Technologien, die immer größere Distanzen überwanden und so zu einem neuen (womöglich stets erneuerten) Gefühl für Zeit und Raum beitrugen; nur der Vorgang des Druckens selbst fand weiterhin in mehr oder weniger vertrauten Grenzen statt. Umgekehrt war der Kinoapparat, wie auch die Eisenbahn, ein Phänomen von echten, physichen Proportionen: Mannschaft, Material und Film mußten hin- und hertransportiert werden. Doch trug die fortschreitende Reduktion der Zeitspanne zwischen Ereignis und Aktualität zu einer Wahrnehmung des Kinos als immaterielles Medium bei. 14 In den britischen Zeitungen wurden diese Technologien noch expliziter mitein- . ander in Verbindung gebracht, findet sich dort doch zum Beispiel ein Bericht über Barkers Filme vom Grand National, die noch im Zug nach London ent- wickelt wurden, um sofort vorgeführt werden zu können. Vgl. den Kommentar von Nicholas Hiley in Hertogs/de Klerk 1994, 26. 124 Nico de Klerk montage/av Massenattraktion Innerhalb von fünf oder sechs Jahren war es den Filmherstellern gelungen, die Zeit zwischen einem Ereignis und seiner Darstellung auf der Leinwand auf nur noch „wenige Stunden" zurückzuschrauben. In dieser Hinsicht belegt der Aufwand, mit dem Aktualitäten schnellstmöglich zur Vorführung gebracht wurden, die Vorstellung vom Kino als „Umweg zum Fernsehen", wie William Uricchio (1997) es bezeichnet - ein Umweg also in Richtung ,,live"-Sendung und Spontaneität, und sei es nur um zu zeigen, wo die Stra- ßensperren liegen. Je mehr solche Hindernisse sich allerdings dem Kino in den Weg legten, desto ferner schien die Idee des Fernsehens. Für das breite Publikum dauerte es noch mindestens drei Jahrzehnte, bis auch diese weni- gen Stunden noch überwunden waren. Zur Verlängerung dieses Umwegs trug auch die Veränderung der Filmpro- gramme seit dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts bei. In Amsterdam wie anderswo waren Filmprogramme zunächst größtenteils ein Bestandteil der Nummernfolge des Varietetheaters gewesen. Im Rahmen dieser relativ kurzen Programme hatten sich sich die Aktualitäten aus den oben genann- ten Gründen zu einer wichtigen Massenattraktion entwickelt. Nachdem aber ab 1907 richtiggehende Kinos gebaut wurden, gewann das Programm, das nur aus Filmen bestand, an Popularität. Das hatte selbstverständlich für dessen Zusammensetzung wesentliche Folgen15, wurde doch nun der Bei- trag jedes einzelnen Films zum Erfolg des Gesamtprogramms immer wich- tiger. Die neuen Filmprogramme behielten das Prinzip der Varietetheater bei, indem sie eine ausgewogene Mischung von Genres anboten, zu denen auch „mechanisierte" Nummern gehörten (wie z.B. Filme von Akrobaten, Jongleuren, Clowns, dressierten Tieren etc. und, in Verbindung mit Mu- sikaufnahmen, Sänger und Musiker). Obwohl Filme auch schon in den Programmen der Varietetheater allmählich einen größeren Raum einge- nommen hatten, wurde diese Entwicklung durch den zunehmenden Bau von Kinos noch einmal erheblich beschleunigt. IS Auch die Lumiere-Programme waren natürlich vollständig aus Filmen zusam- mengesetzt gewesen, doch waren sie kurz und die Filme größtenteils als Neu- heiten angepriesen - ja, sie waren selbst noch Werbematerial: für den Cinema- tographe. Wenn aber der Lumiere-operateur Marius Chapuis von der Verbin- dung seiner Vorführungen mit den Vorstellungen einer Theatertruppe bei einer Rußland-Tournee als einem "succes monstre" berichtet, so darf man annehmen, daß selbst zu diesem frühen Zeitpunkt ( 1896) die Funktion der Filme im Um- bruch war; vgl. Rittaud-Hutinet 1985, 85f. 7/2/1998 Nachrichtenfilm und Technikinteresse 125 Der Aufstieg des fiktionalen Films ist mit der Unzulänglichkeit und Un- kontrollierbarkeit berichtenswerter Ereignisse in Verbindung gebracht wor- den. Bedenkt man jedoch den hohen Bedarf an verschiedenen Genres, um das Unterhaltungsprogramm eines Abends zu füllen, so kann es gut sein, daß dieser Zusammenhang nur ein Grund für die Dominanz des Fiktionalen war, und nicht einmal der ausschlaggebende. Bei der Zusammenstellung solcher Programme spielten Aktualitäten (wenn nicht Genrefilme über- haupt) und die dazugehörigen technischen Errungenschaften schlicht keine so entscheidende Rolle wie zuvor. Obwohl die Werbung für Aktualitäten wie wir gesehen haben selektiv und mit Bedacht eingesetzt wurde, tauchten diese durchaus regelmäßig in den Programmen auf; hieran änderte sich auch nach 1907 nichts. Darüberhinaus erscheint die Rede von unzureichen- der Kontrolle meines Erachtens sinnvoller, wenn man sie auf den Entschei- dungsprozess bei der Programmgestaltung bezieht, wo sie eher mit Fragen der Stimmung zu tun hat. Schließlich hat die Vorführung einer Krönung einen erheblich anderen Effekt auf das Publikum als die einer Katastrophe im Bergwerk. So ist es durchaus signifikant, daß die Aktualitäten allmählich von weniger variablen Reiseberichten abgelöst, oder doch in Verbindung mit diesen gezeigt wurden. 16 Auch die Aufnahme der Aktualitäten in die Wochenschau, ein Genre, das aus einer ganzen Palette von Stimmungen bestand und ein regelrechtes Miniatur-Programm darstellte, mag dazu bei- getragen haben, daß das Programm als weniger kontingent empfunden wurde. Auf die Bedeutung und den Einfluß von Zeitungen auf das Kino um die Jahrhundertwende ist schon mehrfach hingewiesen worden, insbesondere von Charles Musser: er verweist einerseits auf die ähnliche Art und Weise, mit der einzelne Aktualitäten und Zeitungsberichte jeweils ihren Gegen- stand konstruieren, und die das Kino zum visuellen Gegenstück der Zeitung werden ließ; andererseits zeigt er eine deutliche Entsprechung zwischen den beiden Medien hinsichtlich ihres doppelten Unterhaltungs- und Informa- tionsinteresses (Musser 1991, 162-67). So stellten nicht nur in den USA sondern auch in den Niederlanden die Zeitungen bis nach der Jahrhundert- wende, als der fiktionale Film allmählich die Filmprogramme zu beherr- schen begann, in der Tat ein Modell für die Markteinführung des neueren Mediums dar. Wenn man jedoch die Art und Weise betrachtet, in der die 16 Wie Uricchio (1997, 162-67) zeigt, enthielten bestimmte Themen der Reisebe- richte, wie zum Beispiel die sogenannten Stein-und-Wellen Einstellungen, noch einen gewissen "live"-Aspekt. 126 Nico de Klerk montage/av (holländischen) Zeitungen über das Kino berichteten, scheint es, daß der nichtfiktionale Film viel länger eine wichtige Rolle im öffentlichen Be- wußtsein spielte. Insbesondere die schnelle Versorgung mit Nachrichten- filmen ist für die anhaltende Wahrnehmung des Kinos als technisches Wunderwerk bezeichnend. Darüberhinaus kommt den Zeitungsberichten über Aktualitäten und Nach- richtenfilme auch aufgrund ihres hervorgehobenen Status eine wichtige Funktion zu. Schließlich handelt es sich hier nicht um irgendeine Quelle, sondern auch um ein weiteres Massenmedium. Obwohl der „heiße" Nach- richtenfilm im Rahmen des reinen Filmprogramms allmählich an Glanz und spezifischem Reiz verlor, ist es doch gut möglich, daß eben diese Aktuali- täten und deren Besprechung in den Zeitungen zur raison d'etre dieser Filmprogramme beigetragen haben. Zwei frühe Berichte deuten in diese Richtung. Am 20. September 1898 heißt es: Kaum waren die Einweihungsfeierlichkeiten vorüber, da zeigte [Nöggerath] mit seinem Kinematographen dem Publikum schon den Eintritt Ihrer Majestät in die Kirche, ihre Ankunft an der Nieuwe Kerk, etc. Abend für Abend ziehen diese Filme nach wie vor viele Zuschauer an; doch wird bald etwas Neues an- gekündigt und dem Publikum die Gelegenheit geboten, einem Ereignis noch jüngeren Datums beizuwohnen. In Wien sind einige Aufnahmen des feierlichen Begräbnisses Ihrer Majestät der Kaiserin von Österreich gemacht worden (NvD V. 20.9.1898). Und im oben bereits zitierten Bericht vom 21. November 1998 über das Verhältnis zwischen Kino und Zeitungen werden einige Aufnahmen er- wähnt, die den General Kitchener bei seiner Ankunft in Calais und Dover zeigen - ,,ein Ereignis sehr jungen Datums, wie man weiß" (in Wirklichkeit wußte „man" das nicht, waren doch einen Monat zuvor Aufnahmen von Kitchener's Rückkehr aus dem Sudan gemacht worden, cf. Barnes 1983, 157). Doch im gleichen Atemzug kündigt der Bericht an, daß der Kamera- mann Levin der Firma Biograph „am kommenden Montag nach Paris auf- brechen wird, um die mögliche Ankunft von Dreyfuss zu erwarten, und kurz darauf wird man dieses wichtige Ereignis sehen können" (NvD v. 21.11.1898). Die beiden Berichte beschreiben, ja erzeugen das Potential des Kinos als Unterhaltungsstätte, die auch den wiederholten Besuch lohnt. Nimmt man also die Aktualitäten und deren Besprechungen in den Zeitungen, sowie die vielen Ankündigungen schon verfilmter Ereignisse, deren Vorführung un- mittelbar bevorstehe, so weckten sie nicht nur das lebhafte Interesse der Zuschauer an den neuesten Nachrichten in bewegten Bildern, sondern auch 7/2/1998 Nachrichtenfilm und Technikinteresse 127 deren Neugier auf kommende Vorführungen. Um es noch einmal zu beto- nen: Das bedeutet nicht, daß das Interesse an der Kinotechnik abnahm, wenn auch die Attraktion des Kinoapparats als eigener Betrachtungsgegen- stand vor allem in den Großstädten geringer wurde. Im Gegenteil: Hier wird deutlich, daß die Technologie des Kinos eine erneuerbare, anpassungsfil- hige Ware darstellte, mit der man den Appetit des Publikums mehr als nur ein- oder zweimal wecken konnte. Mit der Unterstützung der Berichterstat- tung in den Zeitungen erwies sich das Kino als ein wiederholbares Wunder, aus dem sich eine eigenständige Form der Unterhaltung entwickeln konnte. Aus dem Englischen von Johannes von Moltke Literatur Abel, Richard (1994). The Cine Goes to Town. French Cinema 1896-1914. Berke- ley[ ... ): University ofCalifomia Press. Andre, Jacques / Andre, Marie ( 1987). Une saison Lumiere a Montpellier. Per- pignan: Insitut Jean Vigo. Barnes, John (1983). Pioneers oft he British Film. London: Bishopsgate Press. Briels, Adriaan (1971). De intocht van de levende Photographie in Amsterdam. De Kinetoscoop - 1894 en de Cinematografen - /896-1898. Hilversum: Neder- lands Filminstituut. Castan, Joachim (1995). Max Skladanowsky oder der Beginn der Filmgeschichte. Stuttgart: Füsslin. Goffman, Erving ( 1977). Rahmenanalyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hertogs, Daan / de Klerk, Nico (Hrsg.) (1994). 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Das Wort selbst scheint erstmals 1983 von Hansen-Löve verwendet worden zu sein. Der Begriff ,Intermedia' hingegen hat eine viel längere Geschichte. Er ist mindestens bis 1812 zurilckverfolgbar, als Coleridge ihn verwendet, und erlebte zur Zeit von Fluxus eine Wiederauferstehung. In den siebziger Jah­ ren allerdings war es eher der wahrscheinlich von Julia Kristeva im An­ schluß an Bachtin gebrauchte Begriff der Intertextualität, der die Aufmerk­ samkeit auf sich zog. Um gleich mit den notwendigen Eingrenzungen des Themas zu beginnen: Die Bestimmung der Intertextualität wird - wenn überhaupt - nur sehr peripher eine Rolle spielen. Dieses Feld hat eine derar­ tige Explosion an Sekundärliteratur erlebt, daß es geboten scheint, in die einschlägige Literatur zu sehen (vgl. Broich 1985; Pfister 1985; Zander 1985; Hoesterey 1988). Im folgenden Text soll einzig der Begriff der Intermedialität im Mittel­ punkt stehen. Er kann ausdifferenziert werden in vier verschiedene Typen, die auf unterschiedlichen theoretischen Modellen beruhen: l) Synthetische Intermedialität, 2) Formale oder Trans-mediale Intermedialität, 3) Trans­ formationale Intermedialität und 4) Ontologische Intermedialität. Der dritte und der vierte Typ sind dabei eher als verschiedene Seiten derselben Me­ daille aufzufassen. 130 Jens Schröter montage/av 1. Synthetische Intermedialität Das erste Korpus von Texten, das zur Diskussion steht, thematisiert Inter- medialität als den Prozess der (sexuell konnotierten) Fusion mehrerer Me- dien zu einem neuen Medium, dem Intermedium, welches mehr wäre als die Summe seiner Teile. Die Texte (Kultermann 1970, Yalkut 1973, Higgins 1984, Frank 1987) assoziieren den Prozeß sowohl mit künstlerischen Strö- mungen der sechziger Jahre, insbesondere Happening und Fluxus, als auch mit der utopistischen Vorstellung, die Spaltung zwischen Kunst und Leben durch diese neuen, synästhetischen Formen aufheben zu können. Solches Denken steht in der Tradition Wagners und seiner Züricher Schriften - mithin also in der genealogischen Linie des Gesamtkunstwerks. Drei Mo- mente sind charakteristisch für dieses Modell von Intermedialität: a) die Verurteilung der Monomedien als Form gesellschaftlicher und äs- thetischer Entfremdung; b) die polemische, aber schwer verständliche Abgrenzung der intermedia von den mixed media und c) damit engstens verbunden ein revolutionär-utopischer Gestus, der in der Überwindung der Monomedien (zumindest die Vorstufe) einer ge- sellschaftlichen Befreiung sieht, im Sinne der Rückkehr zu holistischen Seinsweisen. Higgins, selbst Fluxus-Künstler, fordert von avantgardistischer Kunst, daß sie holistische mentale Erfahrungen (1984, l) vermitteln solle. Er begreift das als eine Form kathartischer Grenzerfahrung, durch die die konventiona- lisierten Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster des sogenannten alltägli- chen Lebens verändert und bereichert werden. Das Potential derartiger fusions sieht er insbesondere in den new arts - damit ist vornehmlich Fluxus gemeint - angelegt: ,,[A]nother characteristic of many of them is that they are intermedial, that is, they fall conceptually between established or tradi- tional media" (15, Hervorhebung durch mich). Das Zitat zeigt, daß die Abhebung von den traditionellen Kunstformen eine gewichtige Vorausset- zung der neuen intermedialen Kunstwerke ist. Higgins weist an anderer Stelle (23, Hervorhebung durch mich) darauf hin, daß schon 1812 Cole- ridge das Wort ,Intermedia' benutzt habe: ,,to define works which fall con- ceptually between media that are already known". Da diese Fusionierung neu ist, wird sie als lustvolle, erfrischende und erneuernde Verschiebung der eigenen Horizonte erfahren - bis erneut die Automatisierung greift und die neuen Intermedia „with familiarity" ihren verfremdenden (,,defamiliar 7/2/1998 lntermedialität 131 izing") Effekt verlieren (vgl. ebd., 93). Der Sinn und Zweck von lnterme- dien ist ganz auf einer Linie mit Higgins' Verständnis von Kunst als /imina/ experience: ,,but we should look to intermedial works for the new pos- sibilities of fusion, which they afford" (17). Ähnlich formulierte McLuhan: ,,Der Augenblick der Verbindung von Medien ist ein Augenblick des Frei- seins und der Erlösung vom üblichen Trancezustand und der Betäubung, die sie sonst unseren Sinnen aufzwingen" (1994, 95). Für Higgins besteht die Funktion intermedialer Kunst in der Durchbrechung habitualisierter Wahrnehmungsformen. Diese Überzeugung verbindet ihn mit Autoren wie Kultermann und Frank, aber auch mit Richard Wagner. Ganz in Einklang mit diesem Ausgangspunkt argumentiert er weiter: ,,The concept of the separation between media arose in the Renaissance" (18). Seine Überlegungen beschreiten nun also einen im engeren Sinne histori- schen Pfad. Er beschreibt die Renaissance als eine Phase, in der die gesell- schaftliche Aufspaltung in verschiedene Stände eirie Form von Selbstver- ständnis hervorbrachte, die die Purifizierung von Medien begünstigte. Frank (1987, 6) folgt dem, präzisiert aber dahingehend, daß die Errichtung von Kunstakademien im Frankreich des 17. Jahrhunderts ,jene Entwicklung der Trennung der Künste" kennzeichnet. Demzufolge ist die im 20. Jahr- hundert einsetzende Tendenz zum lntermedialen mehr eine „Wieder- Vereinigung" als ein ganz neuartiger Prozeß. Sowohl Frank als auch Hig- gins sehen in ähnlichen gesellschaftlichen Verschiebungen den Grund für diese Entwicklung. Während laut Frank (4) ,,das Zeitalter der Spezialisie- rung" seinen Einfluß verliere und die „Gleichzeitigkeit" unser Jahrhundert präge, bemerkt Higgins: ,,We are approaching the dawn of a classless society, to which separation into rigid categories is absolutely irrelevant" (18). Hier macht sich nun der utopische Impuls bemerkbar. Die Überwindung der Arbeitsteilung und der Spezialisierung in rigiden Kategorien in der klas- senlosen (kommunistischen) Gesellschaft ist eine der zentralen Ideen des Marxismus. Die lntermedien erscheinen so gesehen als die Vorwegnahme jener Überwindung im Bereich des Künstlerischen, als konkret gewordene Utopie - Kultermann bezeichnet explizit die „Grenzüberwindung in den Künsten" als revolutionär (I 970, 77). Eine von Wagners programmatischen ästhetischen Schriften heißt Die Kunst und die Revolution. Dort spricht Wagner von der „großen Menschheitsrevolution", die einen neuen Gesell- schaftszustand hervorbringen soll, welcher an die griechische Antike und 132 Jens Schröter montage/av ihr „Gesamtkunstwerk der Tragödie" anschließt (vgl. Borchmeyer 1982, 65): Die Vereinzelung und Autonomisierung der Künste entspricht dem modernen gesellschaftlichen ,Egoismus' wie ihre Einheit dem ,Kommunismus' als dem an der griechischen Polis orientierten und dem Kunstwerk der Zukunft vorge- schriebenen gesellschaftlichen Ideal (Borchmeyer 1982, 69). 1 Die von Higgins immer wieder beschworene Metapher der Fusion gewinnt - so betrachtet - noch eine andere Komponente: Sie konnotiert auch die Wieder-Vereinigung des durch Spezialisierung und Lohnarbeit von sich und seiner Arbeit entfremdeten Individuums mit seinen (bisher) verküm- merten Möglichkeiten. Das „wunderbar natürliche [ ... ] Ineinandergreifen von menschlichem Individuum und Umwelt" (Yalkut 1973, 94) kann so als Telos intermedial arbeitender Künstlergruppen bestimmt werden. Konse- quenterweise kann Higgins somit den ,puren' Medien, insbesondere der Malerei vorwerfen, ,ornamentale Objekte für die Wände der Reichen' (vgl. Higgins 1984, 18) herzustellen. Nachdem er sich spöttisch über die Kom- merzialisierung und Vermarktung von Kunst in Galerien ausgelassen hat, folgert er: lt is absolutely natural to (and inevitable in) the concept of the pure medium, the painting or precious object of any kind. That is the way such objects are marketed since that is the world to which they relate (e bd., 19). Hier zeigt sich, daß Higgins das Konzept des ,pure mediums' unmittelbar (,natural' und ,inevitable') verbunden sieht mit der Welt, die Kunst in die Warenzirkulation einschließt - die arbeitsteilige Welt des Hochkapitalismus (,,the world to which they relate"). Schon Wagner attackierte die moderne Kunst, da er sie in ihrer Form als Ware nur abfällig betrachten konnte: Wo der griechische Künstler, außer durch seinen eigenen Genuß am Kunstwerke, durch den Erfolg und die öffentliche Zustimmung belohnt wurde, wird der moderne Künstler gehalten und - bezahlt (Wagner, zit. in: Borchmeyer 1982, 66). Diese Aufhebung der Differenz zwischen ,Kunst' und ,Leben' ist in bezug auf die Kunstströmungen von Happening und Fluxus, denen auch Higgins' Obwohl Wagner Marx wohl kannte, darf die begriffliche Nähe selbstverständ- lich nicht dazu verführen, in Wagner einen Marxisten zu sehen. Sein Kommu- nismus war eher am Vorbild der griechischen Polis orientiert. Zur Politik des Gesamtkunstwerks vgl. die detaillierte Studie von Bermbach (1994). 7/2/1998 lntermedialität 133 eigene künstlerische Arbeit zuzuordnen ist, geradezu ein Klischee. Higgins führt in diesem Zusammenhang eine intensive Kritik der proszenischen Bühne durch (1984, 200, die für ihn symptomatisch eine verschwindende Sozialordnung repräsentiert, ebenso wie Kultermann die Trennungen zwi- schen Werk und Publikum als „der bürgerlichen Gesellschaft angehörige [ ... ] Rituale" (1970, 101) betrachtet. Schon Wagner stellte dem Gegenüber von Zuschauer und Bühnenraum das Amphitheater entgegen, da es eine Fusion von Künstlern und Rezipienten ermögliche: In der vom Amphitheater fast vollständig umgebenen antiken Orchestra stand der tragische Chor wie im Herzen des Publikums (Wagner, zit. in: Borchmeyer 1982, 64, Hervorhebung durch mich). Demzufolge ist es nur konsequent, wenn Higgins einem der Väter des Hap- penings, John Cage, eine „social vision" bescheinigt (66) und sogar Du- champs' Ready-Mades für intermedial hält2: The ready-made or found object, in a sense an intermedium since it was not intended to conform to the pure medium, usually suggests this, and therefore suggests a location in the field between the general area of art media and those of life media (20). Diese Passage ist einigermaßen verblüffend. Das Ready-Made oder die Skulpturen Oldenburgs erscheinen also als intermedial, weil ein Gegenstand aus dem alltäglichen Leben, ein /ife medium, in die „general area" der Kunst überführt, gleichsam Kunst und Leben ineinander verschränkt. Der Begriff /ife medium verlangt nach Erklärung. Da Higgins in seinem 1965 erschie- nenen Aufsatz zur Intermedialität, in Zusammenhang mit Arbeiten von Claes Oldenburg, Schuhe offenbar als „Medium" betrachtet, suggeriert diese Passage eine konzeptionelle Nähe zu dem 1964 erschienenen und schnell berühmt gewordenen Buch Understanding Media von Marshall McLuhan. Es ist sicher kein Zufall, daß Jud Yalkut (ein Fluxus-Künstler der 60er Jahre) sein Manifest Understanding Intermedia (Yalkut 1973) genannt hat. McLuhan (1994, 15) betrachtet alle Medien als Ausweitungen des Menschen, und deswegen kann bei ihm auch die Kleidung - die „erweiterte Haut" - als Medium begriffen werden (186-190). D.h. im verfremdenden Zugriff auf die life media durch die art media werden erstere zu ästhe- Zu Duchamp bemerkt Frank (1987, 13): ,,Duchamps Ästhetik der ,infra-mince' betonte die Kluft zwischen Kunst und Leben, um gleichzeitig ihre Nähe zu de- monstrieren und zu bekräftigen". 134 Jens Schröter montage/av tischen Formen überhöht, die die Grenze zwischen art media und life media generell in Frage stellen. Das wesentliche Problem in den referierten Positionen scheint die Unter- scheidung zwischen lntermedia und Mixed Media zu sein. Higgins unter- scheidet diese beiden Formen, indem er den Mixed Media unterstellt, daß die medialen Formen, die darin zusammentreten, jederzeit vom Betrachter als getrennte begriffen werden können. Demgegenüber trete in den Inter- medien oder intermedialen Formen eine „konzeptuelle" Fusion auf, die es unmöglich mache, nur einen ihrer Ursprünge zu betrachten, sondern dazu zwinge, diese als gleichzeitig und untrennbar zu betrachten (vgl. 16). Hier liegt ein dialektisches Verständnis von Intermedialität vor. Während die Mixed Media eine bloße Versammlung verschiedener Medien an einem Ort oder in einem Rahmen darstellen, sind die lntermedia Synthesen, in denen die eingehenden Formen aufgehoben werden. Ebenso wird die durch die Intermedien vorweggenommene und katalysierte Überwindung der Spal- tung zwischen Leben (These) und Kunst (Antithese) begriffen. Weder wird das eine durch das andere einfach geschluckt, noch soll es zu einer Form, die Halb-Leben und Halb-Kunst wäre, kommen. Die dialektische Synthese wäre hier „die neue Identität von Leben und Kunst" (Kultermann 1970, 78). Allerdings ist merkwürdig, daß eine Form, deren Name schon das Zusam- mentreten verschiedener Formen andeutet, wie z.B. visual poetry als un- trennbar fusioniertes Intermedium erscheint. Denn wenn die Intermedia unauflöslich zu einer neuen Form verschmolzene alte Formen sind, dann dürfte es dem Analytiker wohl kaum gelingen, die ursprünglichen Formen zu benennen, aus denen sich das Intermedium generiert - und wenn, dann nur um den Preis der (textuellen) Auftrennung in die ursprünglichen Me- dien - was also geradewegs zur Leugnung der unverbrüchlichen Einheit des Intermediums führte. Wie Scholz {1991, 84 und 98t) an einem Beispiel, welches man zur visual poetry zählen könnte, nämlich an einem mit Schreibmaschine erzeugten Bild, welches zugleich ein lesbarer Text ist, ausgeführt hat, ist es bei solchen Darstellungen nicht möglich, das Bildhafte und das Geschriebene zugleich wahrzunehmen. Man kann es entweder als Bild interpretieren, dann muß man die Dicke, Farbe, Größe usw. der Buchstaben in den Blick bekommen, oder man kann den Text lesen, was die Beachtung der eben genannten Parameter überflüssig, unbedeutend und 7/2/1998 lntermedialität 135 sogar störend' macht. Der Betrachter kann zu einem gegebenen Zeitpunkt nur einen der beiden „Horizonte", wie Higgins sagen würde, rezipieren, weswegen keine Wahrnehmung möglich ist, die es als „both visual and lite- rary art" (Higgins 1984, 16; Hervorhebung durch mich) ausweisen würde. In diesem Sinne scheint bei Higgins u.a. der Begriff der Multimedialität (mixed media) - wenn überhaupt - nur graduell abgrenzbar von dem der Interrnedialität zu sein. Der Begriff einer medialen „Synthese" oder „Fu- sion" macht nur Sinn als raumzeitlich simultane Präsentation und Rezeption verschiedener medialer Fonnen in einem institutionellen Rahmen. Die „Synthese" ist also weniger im Intennedium selbst als in der perzeptiven und kognitiven Verarbeitung verortet. Solche Aspekte fehlen völlig bei den hier diskutierten Texten. Ein weiterer Kritikpunkt ergibt sich daraus, daß die von allen Autoren als Ziel interrnedialer Kunst implizierte Fusion von Kunst und Leben voraus- setzt, daß das sogenannte „Leben" selbst als mediale Fonn erscheinen muß (life media), um dialektisch mit den Medien der Kunst (art media) synthe- tisiert werden zu können. Wenn, wie Kulterrnann sagt, das Leben „das Umfassende ist, das, was wir als die Gesamtheit der auf den Menschen bezogenen Realitäten unserer Existenz verstehen" ( 1970, 8), dann muß hier diese Gesamtheit der auf den Menschen bezogenen Realitäten als Medium erscheinen - oder andersherum: Alle Medien erscheinen als „Ausweitung des Menschen" (McLuhan 1994, 15). Die Welt als solche wird interrnedial: der Begriff droht ubiquitär4 zu werden. Am Rande nur sei bemerkt, daß die Mixtur aus multi-medialistischen und utopisch-holistischen Vorstellungen, wie sie für diesen Diskurs symptomatisch ist, im Bereich der Com- puter-Technologie eine erneute Wiederkehr zu feiern scheint. Das „Multi- medium Computer" ennöglicht ein „Gesamtdatenwerk" (Ascott 1989) oder ein „mediales Gesamtkunstwerk" (vgl. Rötzer/Weibel 1993), das ins „Mul- timedia-Zeitalter" führt, wo durch „Zugang für jeden" gesellschaftliche Barrieren (angeblich) abgebaut werden und alle Medien zum digitalen Supermedium verschmelzen (vgl. Winkler 1997, 54-80). Vgl. hierzu Aleida Assmans (1988) Überlegungen zum „langen Blick", der die Materialität der Schrift zu sehr beachtet und sich so in einer „wilden Semiose" verhakt. Die totalitären Implikate des Diskurses des „Gesamtkunstwerks" analysieren u.a. Bazon Brack (1983) und Hans Günther (1995). Den Holismus McLuhans 136 Jens Schröter montage/av 2. Formale oder trans-mediale Intermedialität Das, was uns die Untersuchung des Verhältnisses von Film und Malerei lehrt, ist unter anderem gerade der Sachverhalt, daß die Malerei nicht als konstituierte Kunst in den Film eingeschlossen ist, sondern daß sie in ihre Konstituenten aufgespalten wurde und daß der Film keine Synthese wovon auch immer ist (Aumont 1992, 88). Vehement weist Aumont jeden Versuch zurück, den Film als ein „synthe- tisches Medium" zu bestimmen. Er wendet sich scharf gegen das „simple Verfahren einer reinen Aufzählung". Vielmehr macht er die bemerkens- werte Feststellung, daß die Malerei aufgespalten wurde und einige dieser „Spaltprodukte" in den Film zumindest einfließen können. Müller hat den Unterschied zwischen der in 1) und der hier dargelegten Konzeption von Intermedialität konzise zusammengefaßt, wenn er Higgins als Problem vor- hält, ,,Intermedialität von Kunstwerken zwischen unterschiedlichen Medien und nicht innerhalb spezifischer medialer Kontexte" verortet zu haben. Als Quintessenz liest er hingegen bei Aumont: ,,Im Medium ,Film' werden Konzepte und Prinzipien anderer Medien thematisiert und ästhetisch realisiert und auch in anderen Medien Konzepte des Films" (1994, 133).5 Der zentrale Begriff, den Aumont als die Malerei und die neuen Bildtypen wie Photographie und Film verbindend begreift, ist der des variablen Auges. Konsequenterweise erscheinen Photoapparat und Kamera nun als Inkarnationen dieser, die Modeme geradezu als Synonym bezeichnenden, Beweglichkeit des Blicks: ,,L'appareil photographique comme incamation de cette mobilite enfin trouvee" (1989, 39).6 Dementsprechend vertritt er auch die Auffassung, daß die immer wieder betonte Kontinuität der in der Renaissance entwickelten zentralperspektivischen Organisation des Bild- raumes mit dem photographischen und kinematographischen Bild (vgl. Comolli 1980; dazu ausführlich Winkler 1991, 19-38) von geringerer Rele- vanz sei: Aumonts Konzept deckt sich in diesem Punkt mit neueren Studien stellt Hartmut Winkler (1997, 64-72) präzise vor der Folie der Philosophie Teilhard de Chardins heraus. Allerdings muß Müllers Formulierung kritisiert werden. Es ist sinnlos zu sagen, daß ein Medium Strukturen eines anderen Mediums enthalte. Wenn es diese enthält oder enthalten kann, sind sie nicht Strukturen des anderen Mediums, sondern Strukturen, die beiden Medien eignen. Auf dieses Problem wird gleich näher eingegangen. Vgl. Deleuze (1990, 17): ,,[D]ie Kamera erschiene dann als eine Art Relais oder besser noch als ein verallgemeinertes Äquivalent der Fortbewegungen". 7/2/1998 lntermedialität 137 zur „Vorgeschichte" des Kinos, insbesondere denen von Jonathan Crary (1988; 1990, vgl. dazu Hick 1994), der ebenso der Auffassung ist, daß sowohl die moderne Malerei, die beispielsweise in Form des Impressionis- mus die flüchtige Erscheinung der Welt bannen wollte, als auch die Photo- graphie, die das „Unbedeutende, das Atmosphärische, das kaum zu Fas- sende und zu Fühlende" (Aumont 1992, 83) festhält, wie aber auch der Film als „experimentelles Spiel mit der Variation des Blickpunktes" (81) gleich- ermaßen aus dem Einschnitt zu Beginn des 19. Jahrhunderts resultieren. Aumont vertritt also die Auffassung, daß das intermediale Band, welches Malerei und Kino verbindet, in vergleichbaren, trans-medialen Darstel- lungsweisen liegt, die durch gemeinsame Partizipation an einer historisch gegebenen „Ordnung des Sichtbaren", einem skopischen Regime (vgl. Jay 1988), bedingt sind. Die formalen Ebenen sind getrennt von der medialen Basis und relativ auto- nom ihr gegenüber - in diesem Sinne Irans-medial', wenngleich sie sich auch nur in einem je gegebenen medialen Substrat aktualisieren können. Allerdings drängt sich das Problem auf, ob es sich hierbei nicht um einen „medientheoretischen Idealismus" handelt, insofern eine quasi-platonische Unabhängigkeit der Form vom Medium behauptet wird: ,,Intermedialität wäre in diesem Kontext als Verbindung oder Verkettung verschiedener Medien zur Vermittlung der von allen unterschiedenen Eigenschaften [ ... ] mißzuverstehen" (Paech 1997, 336). Paech insistiert - mit Luhmann (1986) - zurecht auf der Untrennbarkeit von Medium und Form, insofern Formen immer nur in einem Medium erscheinen, Medien selbst immer nur in For- men aktualisiert existieren. Jedoch scheint die Rede von der „Transmediali- tät" insofern gerechtfertigt, als sich sehr wohl nachträglich konkrete Analo- gien zwischen medialen Artefakten konstruieren lassen, die beispielsweise Rückschlüsse auf ein zu einem gegebenen Zeitpunkt dominierendes „skopi- sches Regime" zulassen. Paech bemerkt ja selbst: ,,Man kann auch sagen, daß es keine Intermedialität zwischen Literatur und Film gibt, sondern nur zwischen Medien literarischen und filmischen Erzählens" (Paech 1997, 335; Anm. 7). Diese Formulierung impliziert die Transmedialität des Er- zählens, der Narration, insofern sie als tertium comparationis den Bezug zwischen den beiden Medien eröffnet, ohne einem der beiden als Spezifi- kum zugeordnet werden zu können.8 Seymour Chatman bemerkt: ,,One of Der Begriff stammt von Lars-Henrik Gass ( 1993, 70). Andernorts und in einem anderen Zusammenhang formuliert Paech noch expli- ziter: ,,Meine These ist, daß sich die virtuelle räumliche Struktur des Erfah- 138 Jens Schröter montage/av the most important observations to come out of narratology is that narrative itself is a deep structure quite independent of its medium" ( 1981, 117). Auch Fiktionalität, Rhythmizität oder Serialität (vgl. Sykora 1983) können als mögliche Fälle solcher trans-medialer Strukturen gelten. Zwar rangieren diese Begriffe offensichtlich nicht auf der gleichen Ebene - gemeinsam ist ihnen aber doch, daß sie alle schon herangezogen wurden, um Artefakte aus verschiedenen Medien auf abstrakterer Stufe zu vergleichen. Gerade in Hinsicht auf derartige fonnale Strukturen kann Aumonts (und auch Crarys) Position durch Heranziehung der präzisen analytischen In- strumente des Neofonnalismus ergänzt werden. Der Neofonnalismus scheint als theoretischer Rahmen für Untersuchungen trans-medialer For- men von Intennedialität geeignet zu sein, bedauert Bordwell doch: ,,We Jack a tenn for those trans-media architectonic principles that govem the shape and dynamics of a film" (1989, 375; Hervorhebung durch mich). Und: ,,As a distinction the fabula/syuzhet pair cuts across the media. At a gross level, the same fabula could be inferred from a novel, a film, a paint- ing, or a play" (1993, 51). Ferner heißt es: ,,Logically, syuzhet patteming is independent of the medium; the same syuzhet pattems could be embodied in a novel, a play, or a film" (50). Obwohl der Neofonnalismus im Unter- schied zu allzu generalisierenden Theorien wie bestimmten Formen der Psychoanalyse, denen Bordwell (1989, 385-390) oft in sehr polemischer Weise vorwirft, von sehr allgemeinen Annahmen ausgehend Filme bloß illustrativ zu benutzen, gerade "[v]om Spezifischen des Films" (vgl. Wulff/Hartmann 1995) zu handeln scheint, ist diese Spezifik nicht mit einer schroffen, ontologischen Gegenüberstellung von Films und anderen Medien zu verwechseln.' Und obwohl auch Branigan darauf insistiert, daß es im Neoformalismus um „a set of uniquely cinematic techniques" (1992, 119) rungs- und Wahrnehmungsraumes bei Simmel und Rilke, den ich als Bewe- gung zwischen Projektion und Imagination am Beispiel der Skulpturen Rodins dargestellt habe, homolog zum realen kinematographischen Raum verhält." (1990 b, 148; Hervorhebung durch mich). Hier ist es eine bestimmte Räum- lichkeit, die den Bezug zwischen Rodins Skulpturen und dem Kino eröffnet. David Bordwell bemerkt sogar in aller Deutlichkeit: ,,On the matter of speci- fity, suffice it to say that although certain poeticians have assumed a distinction between the cinematic and the non-cinematic, this is by no means constitutive of poetics as such. One could assume that any film could be studied by poetics, with no film lying any closer to the essence ofthe medium than others" (1989, 374). 7/2/1998 lntermedialität 139 ginge, zeigt doch seine eigene Demonstration der von ihm entwickelten Narrationstheorie gerade nicht an einem Film, sondern an einem Comic (76-83), daß die vom Neoformalismus eruierten narrativen oder auch ein- facheren formalen Strukturen des Filmsw sehr wohl einen Status haben, der sie als Grundlage für eine Art komparative Studie" trans-rnedialer, allge- meiner Darstellungsweisen geeignet macht. Insofern ist die einfache Zuord- nung des Neoformalismus zu den „Spezifizierem", wie sie Branigan in Kontrast zu anderen Theorien der Narration vornimmt, welche diese als „general, transcendent sort of medium [ ... ] which is superimposed upon specific media like film and literature" (121) begreifen, zu einfach und verkürzend. Zumal der Status der „uniquely cinematic techniques" sich bei genauerer Betrachtung alles andere als glasklar zeigt. Was wäre denn eine solche ,technique' oder neoformalistischer gesprochen: ein solches ,de- vice', welches nur und „uniquely" dem Kino zukäme? Als erster Gedanke mag sich vielleicht die Bewegung des Bildes und dann, in Präzisierung der Unterscheidung des Films vom Theater, die Bewegung des Bildfeldes als solchem aufdrängen. Aber wie bemerken Bordwell und Thompson doch selbst so deutlich: Paintings, photographs, comic strips, and other images all fumish instances of aspect ratios, in frame and out frame relations, angle, height, level, and distance ofthe frames vantage point. But there is one resource offraming that is specific to cinema (and video). In film it is possible for the frame to move with respect to the framed material. ,Mobile framing' means that within the confines of the image we see, the framing of the object changes ( 1990, 181 ). Just in dem Kapitel, in welchem es um „Cinematographic Properties" geht und spezieller noch genau dort, wo es - wie das Zitat zeigt - um die Ab- setzung des Films von anderen Bildtypen anhand des Kriteriums ,Mobile Framing' sich dreht, konzedieren Bordwell und Thompson freimütig, daß jenes ,mobile framing', welches „specific to cinema" ist, dies auch für "video" ist: ergo ist es nicht „uniquely cinematic"! Und da das ,mobile 1() Ein Beispiel für letztere wären ohne Zweifel die von Bordwell und Thompson beschriebenen basalen Strukturen wie Wiederholen/Alternieren, Ein- heit/Nicht-Einheit usw. (vgl. Bordwellffhompson 1990, 47-49). II Eine komparative Studie, die zwar nicht explizit mit neoformalistischen Me- thoden vorgeht, aber durchaus in die hier skizzierte Richtung einer Analyse trans-medialer Intermedialität weist, ist Petrics ( 1993) konzise Untersuchung von Vertovs CELOVEK S KINOAPPARA TOM (UdSSR 1929) vor der Folie des Kon- struktivismus. 140 Jens Schröter montage/av framing' sogar nicht nur diesen beiden Medien zugeschrieben werden kann, sondern auch noch den digitalen Bildern des Computers in Form der ,,virtual camera" 12, so ließe sich exakt an dem Verfahren [device] des ,mo- bile framings' eine vergleichende, inter-medial orientierte Untersuchung initiieren. Bordwell (1993) selbst gibt zahlreiche Hinweise, wie sich die neo-formalistischen Kategorien fruchtbar machen lassen könnten: Sein ,Art Cinema Mode of Narration' ist in Zusammenhang mit modernistischen Formen von Literatur entstanden (207f), der ,Parametric Mode' hingegen hat vieles mit serialistischen Kunstformen und serieller Musik gemeinsam (275-278). Ein wichtiger Begriff im Zusammenhang dieser trans-medialen Intermedialität ist der Begriff der transtextual motivation (vgl. Bordwell 1993, 36). Er beschreibt die Weise, in der ein Text oder ein Element des Textes z.B. durch Anlehnung an Genre-Konventionen, also durch den Bezug auf andere kanonische Texte, motiviert ist: Transtextual motivation [ ... ] involves any appeal to conventions of other art- works, and hence it can be as varied as the historical circumstances allow. [ ... ] In film, types of transtextual motivation most commonly depend on our know- ledge of usage within the same genre, our knowledge of the star, or our know- ledge of simi/ar convenlions in other art-forms (Thompson 1988, 18/19; Her- vorhebung durch mich). Zu untersuchen ist also, wie bestimmte formale Verfahren (devices), z.B. die Bildkomposition in Bezug auf die Bildgrenze, rhythmische Strukturen in bestimmten Artefakten der Malerei, der Musik usw., eingesetzt werden und ob und wie in bestimmten Filmen, Photos, Gemälden usw. auf derartige Funktionen und Verfahren zurückgegriffen wird (vgl. Bonitzer 1987; Jost 1987; Brüggemann 1991).IJ Auf diese Weise können formale, strukturelle Homologien zwischen Artefakten verschiedener medialer Provenienz mit den Begrifflichkeiten des Neoformalismus analysiert werden: als „trans- textuel1"14 motivierte „Verfahren". Und übergreifend ließen sich vielleicht historische Phasen lokalisieren, in denen dominant bestimmte Verfahren bestimmter Kunstformen (Medien) auf bestimmte Weise auf andere Kunst- 12 Vgl. Mitchell 1992, 117-136. Zum framing bemerkt Mitchell: ,,Computer- generated images follow the conventions of photography in this respect and so produce similar compositional effects" (246). 11 Das transmediale Paradigma ist übrigens auch mit einer psychoanalytisch inspirierten Epistemologie verträglich, wie sich bei Crawford (1983) andeutet. 14 Ich würde dann allerdings den Neologismus der „transmedialen Motivation" vorschlagen. 7/2/1998 lntermedialität 141 formen (Medien) eingewirkt hätten - der Begriff des „Leitmediums" könnte so systematisch und historisch präzisiert werden. Aumonts „Wiederauf- nahme von Fragen, Konzepten, Prinzipien" (1992, 79) zwischen verschie- denen Medien :fiinde hier als übergreifende Perspektive ihren Platz. Zwei Anmerkungen sind noch zu machen. Zunächst muß man sich gegen- wärtig halten, daß die zu eruierende trans-mediale Ebene natürlich eine Abstraktion ist. Foucaults Wendung von der „Ortlosigkeit der Sprache" (1993a, 19), in der die heterogenen Einträge von Borges' ,,chinesischer Enzyklopädie" ihren gemeinsamen Nicht-Ort finden, gilt in gewisser Weise auch für die Konstruktion „trans"-medialer Korrespondenzen selbst im schriftlichen Raum des theoretischen Diskurses (vgl. Baxandall 1990, 28). Insofern ist Vorsicht vor allzu schnellen Analogiebildungen, etwa zwischen kinematographischer Montage und kubistischer Malerei, angeraten. Weiterhin haben Modelle, die mit trans-medialer Intermedialität operieren, also gerade mit dem Bereich, an welchem verschiedene Medien gleicher- maßen partizipieren, ihre liebe Mühe mit „Medienspezifik". Für den Neo- formalismus ist das spezifisch Filmische am Film ausschließlich im style lokalisiert: ,,Style is thus wholly ingredient to the medium" (Bordwell 1993, 51). Und selbst dort ist es - wie schon erwähnt - nicht sicher vor ständigen Analogien mit anderen Medien. Lars-Henrik Gass hat einmal formuliert: So müßte fortan nicht mehr von zwei definierbaren Seinsweisen - hier Photo- graphie, dort Film - mit gemeinsamer ontologischer Referenz gesprochen wer- den; vielmehr kämen auf einer gleichsam transmedialen Ebene ästhetische Nahverhältnisse zustande, in denen z.B. ein Film einer musikalischen Kompo- sition weitaus näher erscheinen könnte als einem anderen Film und eine Photo- graphie einem Gemälde näher als einer anderen Photographie. [. .. ] Abstrahier- bare mediale Apriori, allgemeine Unterscheidungen zwischen „Photographie", ,,Film", ,,Theater", ,,Malerei", ,,Literatur" usw. werden somit im Gebrauch äs- thetischer Mittel als aufhebbar gedacht (1993, 69f). Und die „abstrahierbaren medialen Aprioris" können nicht nur „als aufheb- bar gedacht" werden: vielmehr scheint, daß im Rahmen des trans-medialen Paradigmas mediale Spezifika widerspruchsfrei überhaupt nicht mehr un- tergebracht werden können. Das zeigt sich insbesondere an jenem Typ von Analysen, der sich einerseits auf trans-mediale Gemeinsamkeiten ver- schiedener Medien stützt, andererseits aber ein hierarchisches Verhältnis zwischen diesen Medien voraussetzt. Diese Hierarchie wird immer dann impliziert, wenn behauptet wird, ein bestimmtes Verfahren sei von einem Medium auf ein anderes „übergegangen" - z.B. in der Rede von einer ,,Literarisierung des Kinos". 142 Jens Schröter montage/av [A] Einerseits muß der Gedanke eines solchen gerichteten Transfers eines Verfahrens (oft „Einfluß" genannt; vgl. Baxandall 1990, 102-105) näm- lich unterstellen, daß das Verfahren medien-un-spezifisch genug ist, um in einem anderen medialen Kontext als selbiges, d.h. wieder-identi- fizierbares Prinzip auftreten zu können (Das ist die Basis für jeden trans-medialen Vergleich). [B] Andererseits muß das Verfahren medienspezifisch genug sein, um in seinem neuen medialen Kontext noch auf das Medium, dem es „ent- liehen" wurde bzw. von dem es „herkommt", verweisen zu können. Diese paradoxale Struktur der Idee eines gerichteten Transfers ästhetischer Prinzipien (Einfluß) kann man z.B. ganz symptomatisch bei Yvonne Spiel- mann (1993; 1994) finden. In ihrer Diskussion der Filme Peter Greenaways findet sich u.a. folgender Gedankengang: Zunächst negiert sie die von Bazin (1967, 166) getroffene „medienspezifische" Unterscheidung zwi- schen dem gemalten Bild als zentripetal und dem filmischen Bild als zentrifugal. Sie konstatiert - mit Deleuze (1990, 32) - ,,die Unhaltbarkeit einer ontologischen Differenz zwischen zentripetalem Rahmen der Malerei und zentrifugaler Filmleinwand" (1993, 57). Diese Strategie ist notwendig, ganz im Sinne des oben unter [A] gefaßten Aspekts, um die Opposition zentripetal/zentrifugal als medien-unspezifische Option zu formulieren, d.h. filmische wie gemalte Bilder können beide sowohl zentripetal als auch zentrifugal organisiert sein. Da also das Filmbild auch zentripetal auftreten kann, kann sie einen intermedialen Bezug transmedialer Art bei Greenaway lokalisieren: Dem Raumkonzept der perspektivischen Malerei nähert sich der Filmregisseur dadurch an, daß der Aufbau des Bildfeldes den zentripetalen Aspekt des Film- bildes vor dem zentrifugalen betont (ebd.). Aber gerade diese Feststellung muß verwundern. Wenn nämlich zentripe- tal/zentrifugal medien-un-spezifisch gefaßt wurden, wieso verweist dann ein zentripetales Filmbild noch auf die Malerei? Wenn nach der Zurück- weisung einer medienspezifischen Differenz zwischen Film und Malerei die Zentripetalität keine exklusive Eigenschaft des gemalten Bildes mehr ist, wieso soll und kann dann ,zentripetal' für „Malerei" stehen? Hier zeigt sich der als [B] bezeichnete Aspekt. Es scheint also, daß transmediale Modelle nur um den Preis der Inkonsistenz15 noch [B], also irgend eine Medienspezi- In Spielmann (1994, 137) findet sich genau derselbe Widerspruch. Dort heißt es ganz im Kontrast zur oben betonten „Unhaltbarkeit der ontologischen Diffe- 7/2/1998 lntermedialität 143 fik, annehmen können. Meiner Meinung nach zeigt sich dieselbe Paradoxie an einer Stelle bei Hansen-Löve (1983, 292): Die konstruktiv-methodische Projektion der medienspezifischen Verfahren einer Kunstform bzw. Gattung in eine andere heterogene dient der Avantgarde (v.a. in ihrer analytischen Frühphase) der Reflexion und Intensivierung des Empfindens der jeweiligen Medien- und Gattungsspezifik (ihrer medialen ,,D iffe renzq ualität"). Wie kann die Übertragung eines „medienspezifischen Verfahrens" in ein anderes Medium stattfinden, wenn das Verfahren spezifisch auf die Struktur seines Mediums angewiesen ist? Und wenn es übertragen werden kann, ist es schlichtweg nicht mehr für das erste Medium spezifisch, sondern minde- stens für beide! Wenn sich z.B. der Film eines Verfahrens der Literatur bedienen kann und bedient, hat es keinen Sinn mehr zu sagen, daß der Film nun „literarisch" sei: denn schließlich ist das Verfahren jetzt ja auch ein filmisches Verfahren. In diesem Sinne hat schon Boris Eichenbaum präzise bemerkt: Vor dem Hintergrund des Films nun haben viele Privilegien der Literatur ihr Monopol verloren [ ... ) Wie das Theater hat auch die Literatur, indem sie den Film befruchtete und zu seiner Entwicklung beitrug, gleichzeitig ihren früheren Status verloren und muß in ihrer weiteren Evolution der Existenz einer neuen Kunst Rechnung tragen (Eichenbaum 1974, 24). Dies ist eine der Bedeutungen von Kittlers Satz, demzufolge neue Medien alte nicht obsolet machen, sondern ihnen andere Systemplätze zuweisen (1993, 178). Aumont betont folglich, daß es ihm gerade nicht um Ein- flußnahme gehe (1992, 87) und daß „die Malerei" und „der Film[. .. ] viel zu offene Begriffe [seien] - immer in Gefahr, substantialistisch definiert und verstanden anstelle historisch spezifiziert zu werden". Konsequenterweise ersetzt er den Ausdruck „Film" durch die Wendung „der Typus künstleri- scher Praxis, den man gemeinhin als ,Film' bezeichnet" (79). renz": ,,Ein grundsätzlicher Wesensunterschied zwischen dem traditionellen Tafelbild und dem Filmbild tritt gerade in der diametralen Rahmenfunktion zutage: Die Mediendifferenz liegt in der zentripetalen Qualität des einen und der zentrifugalen des anderen Bildtyps" [B). Eine Seite später jedoch wird wie- derum die Medienunspezifik betont [A): ,,Diesem Raumkonzept nähert sich Greenaway filmisch an, indem die Gestaltung des Bildfeldes und die Kamera- führung den zentripetalen Aspekt des Filmbildes [sie!) vor dem zentrifugalen betonen". 144 Jens Schröter montage/av 3. Transformationale Intermedialität Hier könnte man mit Philip Hayward (1988, 1) von "Re-Representation" oder mit Maureen Turim (1991) von "displacement" sprechen: Die inter- mediale Beziehung besteht dann darin, daß ein Medium ein anderes repräsentiert. Vorweggeschickt werden müßte, daß es fraglich ist, ob hier von Inter-Medialität gesprochen werden kann, da schließlich ein Artefakt eines bestimmten Mediums (z.B. ein Film) ein anderes Medium (wie z.B. ein Gemälde) nicht als Anderes enthält, sondern es repräsentiert. Ein Gemälde in einem Film oder ein Gebäude auf einem Photo sind kein Gemälde oder Gebäude mehr, sondern integraler Teil des sie repräsentier- enden Mediums - sie werden repräsentiert wie andere Objekte auch. In- sofern wäre das Photo eines geschriebenen Textes kein Träger einer in- ter-medialen Beziehung, sondern ein Photo, das referentiell auf einen Text verweist. Im übrigen untergräbt diese Repräsentationsbeziehung schon im Kern den Gedanken einer „medialen Synthese". So betrachtet, wäre der Film kein kombiniertes „Gesamtkunstwerk" (vgl. Uhlenbruch 1995), das sich aus verschiedenen Medien (oder „Künsten") zusammensetzt - weil ja alles, was im (photographischen) Film erscheint, ,,durch" das Kino- Dispositiv gegangen sein muß, um zu erscheinen. Trotz aller Einwände würde man sich eine interessante Perspektive verstel- len, überspränge man die Repräsentation mit diesem Argument. Denn wenn - um bei dem Beispiel zu bleiben - die Photographie auf einen geschrie- benen Text verweisen bzw. sich auf ihn beziehen kann, handelt es sich bereits um eine Beziehung zwischen zwei Medien. Ein Medium verweist auf ein anderes - es kann das repräsentierte Medium dadurch kommen- tieren, was wiederum interessante Rückschlüsse auf das „Selbstverständnis" des repräsentierenden Mediums zuläßt. Und es kann das repräsentierte Medium auf eine Art und Weise repräsentieren, die dessen lebensweltliche, ,,normale" Gegebenheitsweise verfremdet oder gleichsam transformiert. Eine komplizierte Frage ist, ab welchem Punkt man sich berechtigt fühlen darf, von einer intermedialen Repräsentation zu sprechen. Überdehnt wäre der Begriff sicherlich, wenn man schon die Erwähnung des Wortes „Malerei" in einem Film oder Buch als intermediale Repräsentation werten würde. Auch ein Fall wie der, daß Gemälde in Filmen für szenische oder narrative Zwecke eingesetzt werden (vgl. Stelzner-Large 1990), ist nicht passend. Es muß eine Repräsentation vorliegen, die sich explizit auf das repräsentierte Medium bezieht. 7/2/1998 lntermedialität 145 Als ein kleines Beispiel für eine solche Repräsentation kann die Sendung 100(0) MEISTERWERKE herhalten. Das Gemälde wird sukzessiv in einzelne Bereiche zerlegt, die der Film (oder das Video) über die Montage verketten. Diese Zerlegung des Gemäldes weist auf einen wichtigen Aspekt hin, dem wir schon begegnet sind. Bazin (l 967, 166) unterschied das zentripetale Bild der Malerei, dessen Rahmen es fest eingrenzt und auf den Bildmit- telpunkt bezieht, vom zentrifugalen Bild des Films, das beständig den Rah- men überschreitet und in Austausch mit dem Außerbildraum steht. Es ist zu beobachten, daß in zahlreichen filmischen Darstellungen von Malerei zunächst das ganze Gemälde als gerahmte Einheit zu sehen ist, dann aber die Kamera so nah an das Bild heranfährt, daß das Bild aus seinem Rahmen herausgenommen wird und die Leinwand füllt. Da diese aber zentrifugal ist, kann das Bild oder Details daraus nun in Anschluß zu anderen Details, anderen Bildern desselben Malers, Bildern anderer Maler usw. treten (vgl. Paech 1990a, 45). Nicht zufälligerweise wird diese Struktur oft getragen von einem voice-over. Es kommentiert die verketteten, ,zentrifugalisierten' Bildausschnitte und ersetzt auf diese Weise das - wie Eichenbaum (1974, 35) schreibt - ,,innere Gemunnel", welches wir vor dem Bild produzieren - diese Stimme supplementiert unsere Lesart. Jene Stimme liefert den zeitlich sich entfaltenden Begründungszusammenhang, der rechtfertigt, warum gerade diese und keine andere Weise der Verknüpfung gewählt wurde (vgl. Doane 1985, 572). In der Tat bezeichnet schon die Eröffnungssequenz der 100(0) MEISTERWERKE den Anspruch der Sendung, ,,Übersetzungsorgan für Kunstwerke" (Winter 1990, 73) zu sein. Wir werden buchstäblich Kom- plizen der immer gleichen Off-Stimme, denn die erhöhte Kameraposition, die uns als Zuschauer weit über die die Treppe benutzenden Besucher er- hebt, deutet an, daß wir eine Überblicksposition besitzen, von der aus eine ,,objektive" Beurteilung des Kunstwerkes möglich ist (76). Entscheidend ist, daß trotz aller Verschiedenheiten die Beschreibungen solcher Transformationen immer ontologische Implikationen haben. Denn, um überhaupt eine Transformation - ein „displacement", wie Turim (1991) sagt - konstatieren zu können, muß ein Wissen, was das repräsentierte Me- dium (angeblich) und auch was das repräsentierende Medium (angeblich) sei, vorausgesetzt werden. Es müssen wesentliche Differenzen bestimmt werden, die es möglich machen zu beschreiben, was dem repräsentierten Medium durch das repräsentierende Medium ,,(hin)zugefügt" wurde: eben wie es „displaced" wurde. Für unsere winzige Analyse setzen wir z.B. voraus, daß beide Bildfonnen (Malerei und Film/Video) eine Zeit des Er- 146 Jens Schröter montage/av zählten beinhalten können, aber doch nur der Film eine fixe Erzähl- oder allgemeiner Darstellungszeit hat. Viele weitere solcher ontologischen Differenzen sind denkbar und formu- liert worden: Eine der häufigsten ist die zwischen dem indexikalischen Charakter der Photographie im Unterschied zur bloßen lkonizität der Malerei. Eine solche Opposition als Grundlage ermöglichte andersartige Analysen transformationaler Intermedialität, für Fälle etwa, in denen zunächst ein Gemälde abgefilmt erscheint und dann ein Protagonist den, für die Filmkamera nachgestellten, Bildraum ( des Gemäldes) betritt, um sich dort zu bewegen. Ein solcher Fall liegt in der „Krähen"-Episode von DREAMS (Japan/USA 1990, Akira Kurosawa) vor, in welcher der Protago- nist ein Gemälde van Goghs betritt. Wie man sieht, ist das, was im trans-medialen Paradigma nicht operationalisierbar ist, nämlich eine vorausgesetzte medienspezifische Differenz, für das transformationale Paradigma unhintergehbare Voraussetzung. Und das bedeutet auch, daß man aus der Transformation Rückschlüsse sowohl auf das - wenn man so will - ,,Modell" des transformierenden als auch auf das „Modell" des transformierten Mediums ziehen kann. ,,Die Krähen"-Episode legt eben die Opposition indexikalisch/nicht-indexikalisch als signifikante Differenz zwischen Film und Malerei nahe, während die Zerhackungen der Maibewegung qua Montage in LE MYSTERE PICASSO (Frankreich 1963, Georges Clouzot) etwa ,unbewegt/bewegt' als zentralen, spezifischen Unterschied suggerieren. Damit befinden wir uns schon auf der Rückseite der transformationalen Intermedialität, die man 4. ontologische Intennedialität nennen könnte. Zentral ist, daß sich etwa „der" Film durch transformier- ende Bezugnahme auf ein anderes Medium wie „die" Malerei selbst be- stimmen kann. Diese Reflexivität des Films durch seine Transformation eines anderen Mediums könnte ein gutes Beispiel für die von Kessler, Lenk und Müller (1994, 9f.) bei Christian Metz vermißten „intermedialen Enunziationsfiguren" sein. Die Frage, die sich hier stellt, ist also: Gehen die klar abgegrenzten, durch irgendwelche „medienspezifischen Materialitäten" bestimmten Einheiten, die wir Medien nennen, der inter-medialen Beziehung voraus, oder gibt es eine Art Ur-lntermedialität, die umgekehrt als Bedingung der Möglichkeit solcher Einheiten fungiert? 7/2/1998 lntermedialität 147 Um der Antwort auf diese Frage näherzukommen, sei ein kleines Gedan- kenexperiment eingeschoben: Will man eine Definition für die „Photographie" finden, müßte zunächst die Hinsicht bestimmt werden, für die diese Definition gelten soll. Festzustellen, daß die „Photographie" rechteckige Bilder erzeugt, wäre ungenügend. Aber welche Aspekte soll man auswählen? Eben genau die, in denen sich die „Photographie" von den als Vergleich herangezogenen Medien unterscheidet - und zwar nur diese. Rechteckige Bilder - dies hätte die „Photographie" mit der (meisten) ,,Male- rei" gemeinsam - was aber unterscheidet sie? Eben daß „Photographien" indexika/ische Bilder sind. Zieht man also nur die „Malerei" als Kontrast heran, ist „Photographie" ein Medium, das indexikalische Bilder erzeugt. Diese Charakteristik unterschiede aber nicht die „Photographie" vom (pho- tographischen) ,,Film": Um sie durchzuführen, wäre z.B. das unterschied- liche Verhältnis beider Bildtypen in Bezug zum hors-champ zu erörtern. Definiert man die „Photographie" also im Kontext von „Malerei" und ,,Film", kommt dabei eine Aussage wie die folgende heraus: ,,Photogra- phie" ist ein Medium, das indexikalische und statische Bilder hervorbringt. Beide Unterscheidungen würden aber ebenfalls nicht ausreichen, um die ,,gewöhnliche Photographie" von der „Polaroid-Photographie" zu differen- zieren, usw. ad infinitum. Dies zeigt, daß das, was an einem gegebenem Medium als spezifisch erscheint, abhängig ist von den „umlagernden Bezugspunkten" (Saussure ), den Definitionen der anderen Medien. Dies ist die zweite Bedeutung von Kittlers These, derzufolge neue Medien alte nicht obsolet machen, sondern ihnen andere Systemplätze zuweisen (1993, 178). Das wiederum bedeutet, daß die Bestimmung des „Eigenen" eines Mediums die differentielle Abgrenzung von anderen Medien voraussetzt - die anderen Medien sind also paradoxerweise für jede puristische und essen- tialistische Definition absolut notwendig. So betrachtet muß jedes mediale „Wesen", sobald es „auf der Szene der Anwesenheit erscheint, sich auf etwas anderes als sich selbst bezieh[en]" (Derrida 1988, 39). Die ontolo- gische Intermedialität wäre also nicht eine, die der Spezifik gegebener, bereits bestimmter Medien als ihre Synthese nachfolgt, sondern, umgekehrt, diesen vorausgeht. Die Begriffe, um ein neues Medium zu beschreiben, können ja nur der bereits existierenden Sprache entlehnt oder aus existierenden Begriffen zu Neologismen zusammengesetzt werden - der Rückgriff auf Metaphern, die auf andere Medien verweisen (,,visueller Rhythmus", ,,Schrift des Lichts" und ähnliches mehr) ist unvermeidlich.16 16 Wie Noel Carroll (1984/85, 146) bemerkt: ,,Ironically, often a cinema based on 148 Jens Schröter montage/av Man könnte sagen, daß das „Wesen" eines Mediums „Stück für Stück aus Figuren, die ihm fremd waren, aufgebaut worden ist" (Foucault 1993b, 71). Meine Argumentation scheint sich an diesem Punkt in einen Selbstwider- spruch zu verwickeln. Denn einerseits wurde betont, daß Medien nur rela- tional und differentiell in ihrem So-Sein bestimmt werden, mithin kein absolut konstantes „Wesen" aufweisen. Andererseits mußte dazu aber auf dem differentiellen Charakter der Bedeutungskonstitution im Medium Sprache/Schrift insistiert werden. Mithin scheint also diesem Medium selbst eine invariante Spezifik unterlegt zu werden. In gewisser Weise ist dieses Paradox unvermeidlich, insofern Sprache/Schrift die unhintergehbare Bedingung der Möglichkeit von Theorie darstellt. Die Medien, über die die Medientheorie schreibt, erscheinen nur als inter-mediales „displacement" in Texten - nämlich versprachlicht/verschriftlicht. D.h. allerdings nicht, daß Theorie prinzipiell nur in Sprache/Schrift möglich ist. Die sogenannten Essay-Filme legen zumindest die Möglichkeit nahe, daß es auch Theorie in Bildern geben könnte, jedoch ist die schriftlich/sprachliche Theorie die gegenwärtig dominante Form. Wichtig ist es auch, darauf hinzuweisen, daß damit nicht andere Medien nach dem Modell von Sprache/Schrift funk- tionieren, wie es etwa die Filmsemiotik für den Film behauptet hat (vgl. kritisch dazu Deleuze 1991, 41-63). Jedoch ist auch das radikalste Zugeständnis einer irreduziblen Andersheit etwa des Bildes immer noch darauf angewiesen, sprachlich ausgedrückt zu werden. Sprache/Schrift ist kein Medium unter anderen, es verhält sich asymmetrisch zu den anderen Medien, insofern es der Ort ist, wo die „Wahrheit", das „Wesen", die „Spezifik" aller anderen Medien einzig ausgesagt werden können. Und umgekehrt kann kein Medium „als es selbst", in seiner reinen Spezifik und Wesenhaftigkeit erscheinen, ohne durch die Relationalität und Differenti- alität der Sprache/Schrift gegangen zu sein: Vor der Schrift steht man wie vor dem Gesetz, d.h. man ist immer schon von ihr betroffen, unterliegt immer schon ihrem Prinzip, ohne ihrer Herr werden zu können. Schrift und Gesetz implizieren daher einander wechselseitig. Die Schrift ist das Gesetz einer jeden Sprache, und umgekehrt ist jedes Gesetz nur als Schrift bindend (Wetzei 1991, ix). musicalist analogies is urged over literary cinema in the name ofpurism". 7/2/1998 lntermedialität 149 Man wird bemerken, daß die ontologische Intermedialität1' (auch: Onto- medialität) die Vorstellung klar voneinander separierbarer medialer Seg- mente unterläuft. Darin sind die ontologische und die transmediale Inter- medialität vergleichbar, bemerkt Müller doch - ohne den Begriff zu ver- wenden - zur letzteren: Wenn ein „Medium" Strukturen und Möglichkeiten eines anderen oder anderer Medien in sich birgt, dann impliziert dies, daß sich die Vorstellung von isolierten Medien-Monaden oder Medien-Sorten nicht mehr aufrecht erhalten läßt (Müller 1996, 82). Vielleicht bedeutet dies alles anzuerkennen, daß nicht die einzelnen Medien primär sind und sich dann inter-medial aufeinanderzu bewegen, sondern daß die Intermedialität ursprünglich ist und die klar voneinander abge- grenzten „Monomedien" das Resultat gezielter und institutionell verank- erter Zemierungen, Einschnitte und Ausschlußmechanismen sind: Most often, perhaps in all cases, medium specifity recommendations turn out to be not defenses of a given medium per se, but briefs in favor of certain styles, genres and artistic movements (Carroll 1984/85, 147). Die Geschichte der Kunstkritik ist voll von solchen Versuchen, z.B. be- stimmte Strömungen der Malerei in Rekurs auf eine unterstellte „Eigent- lichkeit" der Malerei zu rechtfertigen. Oder schärfer formuliert: Passend zum jeweiligen Zweck kann man sich eine Spezifik konstruieren, die die Evaluierung bestimmter Objekte erlaubt. Zusammenfassend bleibt zu sagen, daß es niemals darum gehen kann, einen integralen Begriff von Jntermedialität zu vertreten. Der Begriff ist so viel- fältig wie die Diskurse, in denen er produziert wird. Da die gegenwärtig einsetzende inflationäre Verwendung des Begriffs droht, genauso eine Ver- wässerung zu produzieren, wie wir sie schon von Begriffen wie „Diskurs", „Medium" oder „Intertextualität" kennen, schien eine Bestandsaufnahme der vorliegenden Methoden und Ansätze geboten. Wie sich zeigt, richten sich die vier skizzierten Typen mit sehr unterschiedlichen Methoden auf sehr unterschiedliche Phänomene. Und in jedem der unterschiedenen 17 Es muß erwähnt werden, daß die transformationale Intermedialität, insofern sie vorgängige Wesensbestimmungen der beteiligten Medien impliziert, es eben- falls verdiente, ontologische Intermedialität genannt zu werden. Die Entschei- dung, den vierten Typ von Intermedialität „ontologisch" zu nennen, basiert darauf, daß dort die Medien-Ontologien selbst Effekt einer vorgängigen Inter- medialität sind. 150 Jens Schröter montage/av Bereiche ist auch der Medienbegriff ein anderer. Die differenten Begriffe von Medium konnten hier aber nicht entfaltet werden. Die vorliegende Aufzählung erhebt keinen Anspruch darauf, abschließend oder vollständig zu sein. Sie ist eine offene Liste, der sich zu jedem Zeitpunkt neue Typen von lntermedialität (und ihnen korrelierende Methoden) hinzugesellen könnten. Literatur Ascott, Roy (1989) Gesamtdatenwerk. Konnektivität, Transformation und Trans- zendenz. In: Kunstforum, 103, S. 100-106. Assmann, Aleida (1988) Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose. In: Materialität der Kommunikation. Hrsg. v. Hans-Ulrich Gumbrecht u. Karl-Ludwig Pfeiffer. Frankfurt: Suhrkamp, S. 237-251. Aumont, Jacques ( 1989) L 'Oeil interminable. Cinema et Peinture. 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Fragmente einer Ge- ben: Nonfiction from the Teens schichte des österreichischen Kinos (1994), ,,Disorderly Order": Co- (Wien 1996) lours in Silent Film (I 996) und Christof Decker, Dr., geb. 1964, Uncharted Territory: Essays on ist am Kennedy-Institut der Freien Early Nonfiction Film (1997). Universität Berlin mit einer Unter- Jens Schröter, geb. 1970, studierte suchung zum klassischen Holly- Film- und Fernsehwissenschaft, wood-Kino assoziiert. Aufsätze zu Philosophie und Kunstgeschichte Film- und Kulturgeschichte sowie in Bochum. Arbeitet derzeit an zur Medien- und Kulturtheorie; einer Dissertation zur Repräsenta- zuletzt „Interrogations of Cinema- tion der Computertechnologie in tic Norms: Avant-Garde Film, populären Film- und Fernsehdar- History, and Mnemonic Practices" stellungen. Aufsätze zu neoforma- (in: Amerikastudien 43, 1, 1998, listischer Filmtheorie, zu Interme- s. 109-130). dialität, zur Beziehung zwischen Dirk Eitzen, Ph.D., geb. 1957, ist Philosophie und Medientheorie Assistant Professor am Franklin sowie zur Theorie der Populärkul- and Marshall College in Lancaster, tur. Pennsylvania und arbeitet zugleich Margrit Tröhler, Dr., geb. 1961, als Dokumentarfilmer für das ame- Studium in Basel und Paris. Zur rikanische Fernsehen. Derzeit Zeit wissenschaftliche Mitarbeite- produziert er eine Fernsehdoku- rin in einem Forschungsprojekt des mentation über die kulturelle Be- Schweizerischen Nationalfonds zur deutung des amerikanischen Ra- Förderung der wissenschaftlichen sens. Forschung, arbeitet hier zum Frank Kessler, Dr., geb. 1957, Thema: die narrative Funktion der Dozent für Film- und Fernsehwis- Figuren im Spielfilm. Mitglied der senschaft an der Universität Redaktion von Iris (Paris). Utrecht, zahlreiche Aufsätze zu Filmgeschichte und -theorie. Mit- montage/av 7/2/1998 Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation Herausgeber: Wolfgang Beilenhoff (Bochum), Robin Curtis (Potsdam), Jörg Frieß (Potsdam), Britta Hart- mann (Potsdam), Frank Kessler (Utrecht), Stephen Lowry (Braun- schweig), Johannes von Moltke (Ann Arbor), Eggo Müller (Potsdam), Jörg Schweinitz (Berlin), Eva Maria Warth (Utrecht), Hans J. Wulff (Kiel), Peter Wuss (Potsdam) Trägerin: Gesellschaft für Theorie & Geschichte audiovisueller Kom- munikation e.V., Berlin Redaktionsanschrift: c/o Britta Hartmann, Körnerstr. 11, D-10785 Berlin, Tel./Fa.x: 030 / 262 84 20 Erscheinungsweise: 2 x jährlich (Mai/November), je ca. 150 Seiten ISSN: 0942-4954 copyright: für die Beiträge bei den Autoren, für das Heft bei den Her- ausgebern Druck: Offset-Druckerei Gerhard Weinert GmbH, Berlin Preise und Abonnement: Einzelheft DM 20,- (im Postbezug plus DM 5,- Versandkosten), im Jahres-Abo DM 40,- frei Haus (im Ausland: DM 50,-), für Studierende DM 30,- frei Haus (im Ausland: DM 40,-) bei Einsendung eines gültigen Studien- nachweises. Jahres-Abos verlängern sich um je ein weiteres Jahr, wenn sie nicht mindestens drei Monate vor Ablauf schriftlich gekündigt werden. 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