Filmkörper: Gender, Genre und Exzess* Linda Williams Wenn ich mit meinem siebenjährigen Sohn ins Kino gehe, wählen wir häufig einen Film, der eine Körperempfindung verspricht, einen Film, der uns körperlich berühren kann. Er nennt diese Filme krass. Mein Sohn und ich stimmen überein, dass das Vergnügen an diesen krassen Filmen darin besteht, wie sie ans Unanständige grenzende Körper- empfindungen in Szene setzen. Der Punkt, an dem sich unsere Geister scheiden – und über den in unserer Kultur entlang der Achsen von Geschlecht, Alter oder sexueller Orientierung oft Dissens herrscht – liegt in der Frage, wo die Grenze zur Unanständigkeit überschritten wird, welche Filme also zu krass sind. Für meinen Sohn sind krasse Fil- me gut, wenn sie Monster wie Freddy Krueger (aus der Freitag der 13.-Serie) beinhalten, Figuren, die Teenager, insbesondere Mädchen, aufschlitzen. Diese Filme faszinieren und erschrecken meinen Sohn gleichermaßen; eigentlich jedoch spricht er lieber über sie, als dass er sie anschaut. Eine zweite Kategorie, eine die ich mag und mein Sohn nicht, sind traurige Filme, bei denen man weinen muss. Diese Filme sind krass in ihrem Fokus auf unangemessene Gefühle, die ihn zu sehr an seine Machtlosigkeit als Kind erinnern. Eine dritte Kategorie, die bei mei- nem Sohn sowohl heftiges Interesse wie äußerste Abscheu (er macht * [Anm.d.Hg.:] Der vorliegende Text ist eine Übersetzung von «Film Bodies: Gender, Genre, and Excess», erstmals erschienen 1991 in Film Quarterly 44,4, S. 2-13 und wiederabgedruckt in: Barry Keith Grant (Hg.) (1995) Film Genre Reader II. Austin: University of Texas Press, S. 140-158. Wir danken der Autorin und der University of Texas Press für die Erlaubnis zur Übersetzung. Eine frühere, wesentlich kürzere Fas- sung des Textes wurde von der Autorin auf dem Symposium «Feminismus und Me- dien» 1990 am Institut für Neue Medien der Städelschule Frankfurt als Vortrag prä- sentiert und in der Konferenzpublikation unter dem Titel «Filmkörper – Geschlecht und Genre» in deutscher Sprache abgedruckt (Williams 1991). 10 montage AV 18 /2 / 2009 die «Ich-muss-mich-übergeben»-Geste) hervorruft, kann er nur eu- phemistisch als «K-Wort» beschreiben. K steht für Küssen. Für einen siebenjährigen Jungen ist Küssen der Inbegriff des Obszönen. Über Geschmack lässt sich streiten, insbesondere was Krassheit be- trifft. In unserer Kultur verwenden wir den Begriff oft, um jenen Exzess zu bezeichnen, den wir ausschließen wollen; um etwa zu be- schreiben, bei welcher von Robert Mapplethorpes Fotografien wir die Grenze ziehen, jedoch nicht, um zu definieren, welche Formen, Strukturen und Funktionen in den als exzessiv abgestempelten Re- präsentationen am Werk sind. Weil so viel Aufmerksamkeit darauf ge- richtet wird, wo die Grenze des guten Geschmacks gezogen werden sollte, sind die Diskussionen über Krassheit sehr oft von einem ver- wirrten Kauderwelsch über Kategorienvermischungen des Exzessiven geprägt. So wird beispielsweise zeitgenössische Pornografie öfter als exzessiv-gewalttätig denn als exzessiv-sexuell erachtet, während Hor- rorfilme exzessiv in ihrer Verschiebung von Sex auf Gewalt gelten. Im Gegensatz dazu werden Melodramen für den ihnen ganz eigenen Pa- thos, der so eng mit Geschlecht und Sexualität verknüpft ist, als exzes- siv gehalten, für ihre nackte Darstellung von Emotion. Ann Douglas (1980) bezeichnete einst das Genre der Liebesromane als «Soft-Core- Gefühlsporno für Frauen». Starkdosierungen von Sex, Gewalt und Gefühl werden – für sich alleine oder in Kombination – von jener Fraktion abgelehnt, die be- hauptet, dass diese Darstellungen keine Existenzgrundlage jenseits ih- res Erregungspotenzials haben. Es handle sich um unmotivierten Sex, unmotivierte Gewalt- und Terrorakte, unmotiviertes Gefühl, so lauten die Anwürfe gegen das Phänomen des Sensationellen in Pornografie, Horrorfilm und Melodram. Dieser Beitrag ergründet die Annahme, dass es sinnvoll sein könnte, über Form, Funktion und System augen- scheinlich unmotivierter Exzesse in diesen drei Genres nachzudenken. Denn wenn, wie es scheint, Sex, Gewalt und Gefühl die fundamen- talen Elemente der Körperempfindungseffekte dieser drei Filmtypen sind, dann wäre die Bezeichnung «unmotiviert» selbst unmotiviert. Meine Hoffnung besteht also darin, dass über das vergleichende Zu- sammendenken aller drei krassen und sensationslüsternen Film-Kör- per-Genres das schiere Faktum des Sensationellen überwunden und stattdessen sein System und seine Struktur wie auch sein Effekt auf die Körper der Zuschauer und Zuschauerinnen ergründet werden kann. Filmkörper: Gender, Genre und Exzess 11 Körpergenres Die repetitive Formelhaftigkeit und das Spektakelhafte von Filmgen- res werden oft über ihren Unterschied zum klassisch-realistischen Stil des narrativen Kinos definiert. Diese klassischen Filme werden cha- rakterisiert durch ihre effiziente, handlungszentrierte, zielorientierte, lineare Erzählweise, durch das vom Begehren eines einzelnen Prota- gonisten getragene Handlungsmovens, durch die Entwicklung von ein oder zwei Handlungssträngen, die in ein eindeutig Erzählendes mün- den. In ihrer einflussreichen Studie zum Klassischen Hollywoodkino nennen Bordwell, Thompson und Staiger (1985) dies den Klassischen Hollywoodstil. Rick Altman (1989) weist darauf hin, dass sowohl Genreforschung als auch die Forschung zur etwas undurchsichtigen Kategorie des Me- lodrams von der Annahme behindert wurden, dass man das Melodram und einzelne andere Genres als Gegensatz zur klassischen, dominanten Erzählweise sah. Altman argumentiert, dass Bordwell, Thompson und Staiger, die den Klassischen Hollywoodstil in der linearen, progressiven Form der Hollywood-Erzählweise verorten, melodramatische Elemente wie das Spektakel, eine episodenhafte Präsentierung der Erzählung oder die Abhängigkeit der Erzählung vom Zufall, in ihrer Begrifflichkeit nur als begrenzte Ausnahmen von oder Spiel mit der dominanten Kausalität des Klassischen berücksichtigen können (Altman 1988, 346). Altman schreibt: «Unmotivierte Ereignisse, rhythmische Montage, hervorgehobener Paralle- lismus, überlange Spektakel – das sind die Exzesse im klassischen Erzählsys- tem, die uns auf die Existenz einer konkurrierenden Logik, einer zweiten Stimme aufmerksam machen.» (Altman 1988, 345f.) Altman, dessen eigene Arbeit zum Filmmusical notwendigerweise auf den Analysen scheinbar exzessiver Spektakel und paralleler Konstruk- tionen gründet, liefert überzeugende Argumente dafür, wie notwen- dig es ist, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Exzess selbst als System organisiert sein könnte (Altman 1988, 347). Doch es hat viel länger gedauert, Analysen vom System des Exzesses für jene Genres zu entwickeln, deren nicht-lineare Spektakelhaftigkeit in direkterer Weise auf die krasse Darstellung des menschlichen Körpers zielt. Pornografie und Horrorfilm sind zwei solcher Systeme des Exzesses. Pornografie hat die geringste kulturelle Anerkennung, Gruselhorror nur ein klein wenig mehr. 12 montage AV 18 /2 / 2009 Als Melodram wird jedoch eine wesentlich breitere Kategorie von Fil- men und somit ein viel weiter reichendes System des Exzesses bezeich- net. Es wäre in der Tat nicht unangebracht, alle drei Genres unter den großen Begriff des Melodrams zu fassen, wenn man das Melodramati- sche als filmischen Modus des stilistisch und/oder emotional Exzessi- ven definiert, als das, was sich von dominanteren Modi des realistischen, zielorientierten Erzählens abhebt. In diesem erweiterten Sinne kann das Melodram eine große Spannbreite an Filmen einschließen, die von Realismus-Verfehlungen im Realismus geprägt sind, von spektakelhaf- ten Exzessen und Darstellungen von primären, ja kindlichen Emoti- onen, und von Erzählweisen, die zirkulär und wiederholend zu sein scheinen. Ein Gutteil des filmwissenschaftlichen Interesses der 1970er und 1980er Jahre am Melodram gründete in der Ansicht, dass seine Form das normative System des restlichen Erzählkinos überschreite. Im Rahmen dieses Textes möchte ich meinen Fokus jedoch auf eine engere Sicht des Melodrams beschränken, um somit die breitere Ka- tegorie des Sensationellen als Überbegriff für die drei Genres, die ich berücksichtigen will, frei zu lassen. In diesem Sinne und auch im Hin- blick auf den Vergleich zum Porno, den ich anstellen möchte, umfasst das Melodram, das mich hier beschäftigen wird, vor allem jene Form, die feministische Kritikerinnen besonders interessiert hat – nämlich der Woman’s Film oder der Weepie. Dabei handelt es sich um Filme, die Frauen in ihrem traditionellen Status im Patriarchat adressieren – als Ehefrauen, Mütter, verlassene Liebhaberinnen, oder in ihrer traditio- nellen Rolle als Verkörperung der Hysterie, als Exzess, als – wie so oft – von tödlicher oder lähmender Krankheit gequälter Frau.1 Was sind die relevantesten Elemente körperlichen Exzesses, welche diese drei krassen Genres teilen? Als erstes möchte ich das Körperspek- takel nennen: es wird gezeigt, wie der Körper einer intensiven Sinnes- oder Gefühlsempfindung ausgeliefert ist. Carol Clover, vorwiegend über Horrorfilme und Pornos schreibend, nennt Filme, die das Sensa- tionelle in den Mittelpunkt stellen, Körper-Genres (Clover 1987, 189). Ich erweitere Clovers Begriff der gesellschaftlich geächteten Körper- genres, um die Körperempfindung des überwältigenden Pathos’ im 1 Für eine hervorragende Zusammenfassung der Problematiken sowohl des Film-Me- lodrams als auch des ‹Woman’s Film› vgl. Christine Gledhills Einführung in die An- thologie Home is Where the Heart Is: Studies in Melodrama and the Woman’s Film (1987). Für eine allgemeinere Studie zu den Wurzeln des Melodrams im Theater vgl. Peter Brooks The Melodramatic Imagination (1976). Und für eine ausführliche theoretische Erforschung und Analyse eines Werkkatalogs melodramatischer Filme, siehe Mary Ann Doanes The Desire to Desire (1987). Filmkörper: Gender, Genre und Exzess 13 Weepie miteinbeziehen zu können. Das Körperspektakel wird in den Darstellungen des Orgasmus im Porno, der Gewalt und des Terrors im Horrorfilm und des Weinens im Melodram zum größten Ereignis ge- macht. Ich würde meinen, dass die Untersuchung der visuellen und narrativen Lüste, die in den Darstellungen dieser drei Arten von Exzess zu finden sind, für eine neue Richtung der Genretheorie wichtig wäre, eine Richtung, die ihren Ausgangspunkt in Fragen – und nicht in un- hinterfragten Vorannahmen – nach Genderkonstruktion und Gende- radressierung nimmt, die beide im Zusammenhang mit den grundle- genden sexuellen Fantasien gesehen werden müssen. Ein anderes grundlegendes Element, das diese Körpergenres teilen, ist ihre Konzentration auf das, was wohl am besten als eine Form von Ekstase zu bezeichnen ist. Während die klassische Bedeutung des grie- chischen Wortes «Irrsinn» und «Verwirrtheit» umfasst, beinhalten mo- dernere Begriffsverwendungen Komponenten direkter oder indirekter sexueller Erregung und Verzückung, eine Verzückung, die sogar für das melodramatische Pathos eine Rolle spielt. Visuell, so könnte man sagen, ist jeder dieser ekstatischen Exzesse durch unkontrollierbare Zuckungen oder Spasmen charakterisiert – der Körper ist «außer sich» vor sexueller Lust, vor Furcht und Terror oder vor überwältigender Traurigkeit. Auditiv prägt den Exzess nicht sein Rückgriff auf die kodifizierten Artikulationen von Sprache, son- dern auf das unartikulierte Stöhnen im Porno, die Angstschreie im Horrorfilm und die Schmerzensschluchzer im Melodrama. Wenn wir diese Körperekstasen anschauen und anhören, können wir ein weiteres Element ausmachen, das diese Genres scheinbar tei- len: obwohl sie in Bezug auf ihr Zielpublikum sehr unterschiedlich vergeschlechtlicht sind – der Porno richtet sich mutmaßlich an akti- ve Männer, das Melodram an passive Frauen und der zeitgenössische Ekel-Horror an Jugendliche, die wild zwischen den Geschlechterpo- len hin- und her gerissen werden – so ist es der weibliche Körper, der in jedem dieser Genres so auf der Leinwand figuriert, als dass er die traditionelle Funktion als primäre Verkörperung von Lust, Angst und Schmerz innehat. Anders formuliert, sogar wenn die Schaulust gewöhnlich für männ- liche Zuschauer konstruiert ist, wie das für die Mehrzahl traditionell heterosexueller Pornografie gilt, so ist es der weibliche, von außer- Kontrolle-geratener Ekstase ergriffene Körper, der den sensations- trächtigsten Anblick liefert. Die Frauenkörper haben seit den Ur- sprüngen dieser Genres im 18. Jahrhundert bei Marquis de Sade, in der Schauerliteratur und in den Romanen von Richardson sowohl die 14 montage AV 18 /2 / 2009 Funktion der Rührung als auch jene des Gerührt-Seins. In diesem Sinne erfährt jedwedes Publikum durch die, wie Foucault es genannt hat, se- xuelle Durchdringung des weiblichen Körpers (Foucault 1991 [1977], 126) seine eindrücklichsten Körperempfindungen. Selbstverständlich gibt es auch andere Filmgenres, die den Körper als Empfindungskörper darstellen und berühren, zum Beispiel Thril- ler, Musicals, Komödien. Ich meine aber, dass insbesondere Filmgen- res, die einen niedrigen kulturellen Status haben und immer hatten – die also anscheinend sogar für das System der Popkultur lediglich eine Existenzweise als Exzess einnehmen konnten – nicht diejenigen sind, die in sensationslüsterner Weise Körper auf der Leinwand zeigen und Auswirkungen in den Körpern der Zuschauer und Zuschauerin- nen ausmachen. Was diese Genres vielmehr als niederwertig ausweist, ist die Wahrnehmung, dass der Zuschauerkörper in einer nahezu un- freiwilligen Nachahmung des Gefühls oder der Körperempfindung des Leinwandkörpers gefangen ist, und dass dieser Leinwandkörper noch dazu weiblich ist. Die körperzentrierte Clown-Komödie ist ein weiteres Körper-Genre, das sich mit allen Arten krasser Handlungen und Körperfunktionen beschäftigt – Schuhe essen, auf Bananenscha- len ausrutschen. Nichtsdestotrotz wurde dieses Genre nie für unmoti- viert exzessiv gehalten, vielleicht weil die Zuschauerreaktion die Kör- perempfindungen des Hauptclowns nicht nachahmt. Vielmehr könnte man nahezu von einer Regel sprechen, die besagt, dass sich die körper- liche Zuschauerreaktion – das Lachen – nicht mit den ausdruckslosen Reaktionen des Clowns überschneiden darf. Anscheinend werden jedoch die Körpergenres, um die es mir hier geht, daran gemessen, wie sehr das Publikum die Körperempfindung, die auf der Leinwand zu sehen ist, nachahmt. Ob diese Nachahmung genau ist, ob also die Porno-ZuschauerInnen einen Orgasmus haben, ob die Horrorfilm ZuschauerInnen vor Furcht geschüttelt werden, und ob die Melodram-ZuschauerInnen in Tränen aufgelöst sind, der Erfolg die- ser Genres scheint selbstverständlich an den körperlichen Reaktionen messbar zu sein. Beispiele für solche Messungen sind leicht zu finden: in den Peter-Meter-Zeichen, die den Rezensionen des Hustler-Magazins an- gefügt sind, und welche die Stärke eines Pornos an den Erektionen klei- ner Comic-Penisse messen; für den Horrorfilm wird der Erfolg an den Schreien des Publikums gemessen, an der Ohnmacht oder den Herzat- tacken von ZuschauerInnen (Horror-Produzent William Castle speziali- sierte sich mit Filmen wie The Tingler (William Castle, USA 1959) auf solche Dinge); und in der seit langem bestehenden Tradition der Eintei- lung des Melodrams in Ein-, Zwei- oder Drei-Taschentücher-Filme. Filmkörper: Gender, Genre und Exzess 15 Was diese drei spezifischen Genres von anderen unterscheidet, ist ihr augenscheinlicher Mangel an ästhetischer Distanz, eine Art Über- Verstricktheit in Körperempfindung und Gefühl. Wir fühlen uns von diesen Texten manipuliert – ein Eindruck, der sich durch die um- gangssprachlichen Bezeichnungen Tränendrüsendrücker (tear jerker) und Horrorschocker (fear jerker) manifestiert, und dem wir die noch direktere Bedeutung von jerk off im Falle des Pornos hinzufügen kön- nen: manche Menschen fühlen sich vom Porno angehalten, sich einen runterzuholen. Die Gewaltrhetorik des Jerks weist darauf hin, dass sich die ZuschauerInnen zu direkt, zu inwändig von einem Text manipu- liert fühlen, und zwar auf geschlechtsspezifische Art und Weise. Mary Ann Doane setzt beispielsweise diese Gefühlsgewalt – sie spricht in diesem Zusammenhang vom vornehmsten aller Jerkergenres, dem Mut- ter-Melodram – mit einer Art «textuellen Vergewaltigung» der weibli- chen Zielgruppe, die «vom Pathos feminisiert» (1987, 95) wird. Feministische Porno-Kritikerinnen verwenden oft ähnliche Bilder der sexuellen/textuellen Vergewaltigung, wenn sie die Verfahrenswei- se des Genres beschreiben. Robin Morgans Slogan «Pornografie ist die Theorie, Vergewaltigung die Praxis» ist geläufig (1980, 139). Dem Slo- gan immanent ist die Auffassung, dass Frauen von der pornografischen Repräsentation zum Opfer-Objekt gemacht werden, dass es sich bei dem Bild der sexuell ekstatischen Frau, das so wichtig für das Genre ist, um ein Abfeiern des Opferstatus der Frau handelt, um jenes Vorspiel, das dazu führt, die Frau auch im wirklichen Leben zum Opfer zu machen. Weniger geläufig, aber verwandt, ist die Feststellung des Horror- filmkritikers James Twitchell, dass das lateinische horrere «sich sträu- ben» bedeute. Er beschreibt, wie sich das Nackenhaar in Augenblicken von erschaudernder Aufregung aufstellt. Der so treffend benamste Twitchell beschreibt somit eine Art Erektion des Haares, das in den beiden gegensätzlichen Reaktionen der «Furcht und der Flucht» be- steht (1985, 10). Während männliche Opfer im Horrorfilm erschauern und auch schreien, war es seit jeher Diktum des Genres, dass die Frau- en die besten Opfer geben. «Quält die Frauen!» lautete der berühmte Rat von Alfred Hitchcock.2 Neben der Angst des weiblichen Opfers ist das Monster das Spekta- kel des klassischen Horrorfilms. Fay Wray und das mechanische Mons- ter, das sie in King Kong (Merian C. Cooper, USA 1933) zum Schrei- en brachte, dient als bekanntes Beispiel für diese klassische Form. Janet 2 Carol J. Clover (1987) bespricht die Bedeutungen dieses berühmten Zitats in ihrem Text «Her Body/Himself: Gender in the Slasher Film». 16 montage AV 18 /2 / 2009 Leigh unter der Dusche in Psycho (Alfred Hitchcock, USA 1960) ist ein bekanntes Beispiel für den Übergang zu einer sexuell expliziteren Form der gequälten und misshandelten Frau. Und ihre Tochter, Jamie Lee Curtis in Halloween (John Carpenter, USA 1978), wird zur zeit- genössischen Version der terrorisierten Frau als Opfer. In beiden spä- teren Filmen scheint das sexuell gestörte, doch absolut menschliche Monster gegenüber den immer zahlreicher werdenden, von ihm auf- geschlitzten Opfern, die kleinere Rolle zu spielen. Im Melodram gibt die dauerleidende Mutter aus den beiden frühen Fassungen von Stella Dallas (Henry King, USA 1925; King Vidor, USA 1937) das klassische Beispiel, eine Mutter, die sich für den sozi- alen Aufstieg ihrer Töchter aufopfert. Das Kinopublikum der frühen 1990er konnte sehen, wie Bette Midler im Film Stella (John Erman, USA 1990) die gleichen Aufopferungen und Verluste auf sich nimmt. Debra Winger in Terms of Endearment (James L. Brooks, USA 1983) ist ein weiteres bekanntes Beispiel für mütterliches Pathos. Eingedenk oben genannter Genrestereotypen sollten wir jetzt nach dem Ausmaß des körperlichen Exzesses in jedem dieser Genres fragen. Ist es einfach nur die ungehörige, «unmotivierte» Gegenwart der sexu- ell ekstatischen, der gequälten Frau, der heulenden Frau die den Ex- zess dieser Filme ausmacht? Und die Begleiterscheinung von sexuellen Flüssigkeiten, von Blut und den Tränen, die aus ihrem Körper rinnen und deren Fluss – so ist anzunehmen – von den Körpern der Zu- schauerInnen nachgeahmt wird? Wie können wir diese körperlichen Darstellungen im Vergleich zu anderen als ein System des Exzesses im populären Film zu fassen kriegen? Und, schließlich, wie exzessiv sind diese Darstellungen wirklich? Das für die Filmwissenschaften, und insbesondere für die feministi- sche Filmwissenschaft und -kritik so einflussreiche Analysesystem der Psychoanalyse verhält sich auffallend ambivalent was die Entwicklung von Werkzeugen für die Untersuchung des Exzesses betrifft. Die Ka- tegorien, die gängigerweise zur Beschreibung der visuellen Lust des Filmschauens bemüht werden – Fetischismus, Voyeurismus, Sadismus und Masochismus – sind, per definitionem, Perversionen. Perversionen werden normalerweise als sexuelle Exzesse definiert, insbesondere als Exzesse, die von «richtigen» Zielen auf Substitutionsziele oder -objek- te, verlagert werden – Fetische statt Genitale, Schauen statt Anfassen, etc. Diese Objekte scheinen dann exzessiv oder unbegründet. Doch die perversen Lüste des Filmschauens können kaum als unbegründet bezeichnet werden. Sie gelten als so grundlegend, dass sie oft als Norm dargestellt werden. Was wäre denn das Kino ohne Voyeurismus? Einher- Filmkörper: Gender, Genre und Exzess 17 gehend mit dieser Feststellung haben jedoch Feministinnen die Positio- nierung der Frau innerhalb dieser Schaulust, die auf einen als sadistisch angenommenen «männlichen Blick» (Mulvey 1980 [1975]) ausgerichtet ist, hinterfragt. Inwieweit ist die Frau das Opfer dieses Blicks? Stehen die orgasmischen Frauen des Pornos und die gepeinigten Frauen des Hor- rorfilms einzig und allein im Dienst des sadistischen männlichen Blicks? Und spricht die heulende Frau des Melodrams die abnormen Perversi- onen des Masochismus bei den weiblichen Zuschauerinnen an? Diese Fragen weisen auf die Doppelbödigkeit der Ausfaltungen des Perversionsbegriffes hin, die dazu benutzt werden, die normale Lust am Filmschauen zu beschreiben. Ohne auch nur zu versuchen, in die Komplexität dieser Diskussion hier vordringen zu können – eine Diskussion, die letztlich die Rolle, die der Perversionsbegriff in den Sexualtheorien selbst spielt, reflektieren muss – möchte ich einfach festhalten, dass es sehr wertvoll sein könnte, Perversionen nicht als ver- urteilenswerte Konzepte zu fassen. Schon die flüchtigste Freud-Lek- türe zeigt, dass Sexualität per definitionem pervers ist. Die «Ziele» und «Objekte» des sexuellen Begehrens sind oftmals rätselhaft und grund- sätzlich von substitutiver Natur. Wenn wir davon ausgehen, dass nicht die Reproduktion das dem Sexualtrieb naturgegebene Ziel ist, müssen wir, in den Worten Jonathan Dollimores (1990), zugeben, dass wir alle Perverse sind. Mit der Aneignung des «Perversionskonzepts als Kate- gorie für die Kulturanalyse» – als eine Struktur, die allen Sexualitäten inhärent und nicht veräußerlicht ist – will Dollimore, und das ist ganz wesentlich, kulturelle Formen, in denen Fantasie eine zentrale Rolle spielt – wie unsere drei Bodygenres – verstehen.3 Strukturen der Perversion in den Weiblichen Körpergenres Jedes der drei oben beschriebenen Körpergenres hängt vom Spektakel des «von Sexualität durchdrungenen» weiblichen Körpers ab, und je- des der drei Genres bietet – darüber wären sich wohl viele feministi- sche Kritikerinnen einig – das Spektakel des weiblichen Opfers. Doch der Vorgang, durch den die Frau zum Opfer gemacht wird, unterschei- det sich wesentlich in den drei Filmgenres und kann nicht einfach dadurch beschrieben werden, indem man den Sadismus der Lust, der 3 Dollimores Arbeit wird, neben Teresa de Lauretis’ detaillierterer Untersuchung des Perversionsbegriffs in der Freud’schen Psychoanalyse, für umfassendere Versuche, die perversen Lüste dieser krassen Körpergenres zu verstehen, ganz wesentlich sein. 18 montage AV 18 /2 / 2009 Machtausübung der männlichen Subjektposition, welche die weibli- chen Objekte bestraft beziehungsweise dominiert, herausstellt. Viele Feministinnen haben darauf hingewiesen, dass die Frau im Porno auf zweifache Weise zum Opfer gemacht wird: einerseits müs- sen Pornodarstellerinnen die sexuellen Handlungen, die im Film dar- gestellt werden, de facto ausüben; andererseits sind auch die Figuren innerhalb der Filme als Opfer der Filmhandlung dargestellt (Dworkin 1979; MacKinnon 1987). Pornografie ist in dieser Sichtweise grund- sätzlich sadistisch. Was den Weepie betrifft, haben Feministinnen oft- mals darauf hingewiesen, dass die Frauen durch simulierte Folter und Mutilation zum Opfer sadistischer Handlungen gemacht werden (Williams 1983), aktuellere feministische Analysen haben den Ansatz verfolgt, dass der Horrorfilm einen interessanten, und vielleicht ins- truktiven Fall der Oszillation zwischen Masochismus und Sadismus darstellt. Diese von Carol J. Clover angestellte Argumentation nimmt ihren Ausgangspunkt in der These, dass Schaulust für einen männlich- identifizierten Zuschauer hin- und herschwankt zwischen der Iden- tifikation mit der anfangs passiven Machtlosigkeit des abjekten und terrorisierten Mädchen-Opfers sowie seiner im Laufe des Films voll- zogenen aktiven Selbstermächtigung (Clover 1987). Folgt man dieser Argumentation, so wechselt die Identifikation der ZuschauerInnen vom «abjekten, als weiblich vergeschlechtlichtem Grauen» hin zu einer aktiven Handlungsmächtigkeit mit bisexuellen Komponenten – und zwar in dem Moment des Films, in dem das Mädchen-Opfer, wie etwa in Halloween, endlich das phallische Mes- ser oder die Axt oder die Kettensäge an sich reißt, und den Spieß ge- gen das Monster kehrt. Ein geschlechterverwirrtes Monster wird von einem «androgynen» Final Girl außer Gefecht gesetzt, oft durch eine symbolische Kastration (Clover 1987, 206ff). Im Slasherfilm wird die Identifikation mit dem Opfer zur Achterbahnfahrt mit einem sadoma- sochistischen Nervenkitzel. In diesem Sinne könnten wir eine vorläufige Schematisierung der perversen Lüste dieser Genres wie folgt vornehmen: Die Faszinati- on des Pornos für den Zuschauer, den wir als männlich annehmen, könnte als sadistisch, die Faszination des Horrorfilms für die erst im Entstehen begriffenen sexuellen Identitäten seiner (oftmals jugendli- chen) ZuschauerInnen als sadomasochistisch, und die Faszination des Melodrams für seine als weiblich angenommenen Zuschauer könnte als masochistisch bezeichnet werden. Die masochistische Komponente der Schaulust für Frauen hat sich für feministische Kritikerinnen als das problematischste Konzept der Filmkörper: Gender, Genre und Exzess 19 Perversion herausgestellt. So ist es zum Beispiel wirklich interessant, dass unsere einflussreichsten Untersuchungen des Masochismus – ob von Deleuze (1971), Silverman (1980; 1988) oder Studlar (1985) – alle ihr Hauptaugenmerk auf den Exotismus des männlichen Masochis- mus richten und weniger die Vertrautheit des weiblichen Masochismus thematisieren. Masochistische Lust für Frauen scheint paradoxer Wei- se entweder zu normal zu sein – zu sehr entspricht sie dem normalen wenngleich unerträglichen Zustand der Frauen – oder zu pervers, um als Lust Ernst genommen werden zu können. Wir müssen also wesentlich klarer als bisher das für Frauen Loh- nende am Masochismus herausarbeiten – welche Funktion Macht und Lust in Dominanzfantasien, die auch Frauen ansprechen, einnehmen. Wir müssen desweiteren klarer als bisher benennen, was sich für Män- ner am Sadismus lohnt. An diesem Punkt müssen wir die ursprüngliche Opposition zwischen diesen beiden am meisten vergeschlechtlichten Genres – weibliches Melodram und männlicher heterosexueller Porno – komplexer werden lassen. Ich habe beispielsweise an anderer Stelle argumentiert, dass Porno zu simplifizierend zu einer rein sadistischen Fantasiestruktur in Bezug gesetzt wurde. Es ist in der Tat so, dass diese verstörenden Filme und Videos, die Folterinstrumente auf Frauenkör- per ansetzen, auf so allumfassende Weise der männlichen Schaulust zu- geordnet wurden, dass wir der Faszination, die diese Filme auf Frauen ausüben, viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben; außer, als die Faszination von Frauen mit diesen Filmen als falsches Bewusstsein zu verurteilen (Williams 1995 [1989], 239–291). Eine wichtige Komplexitätssteigerung des ursprünglichen, weiter oben skizzierten Schemas bestünde somit darin, die Lehre aus Clovers Modell der Zuschaueridentifikation im Horrorfilm, das mehr zur bise- xuellen Orientierung tendiert, zu ziehen und die sadomasochistische Komponente jedes dieser Körpergenres durch ihre unterschiedlichen Aneignungen melodramatischer Fantasien zu betonen, denn diese Fan- tasien sind für alle drei Genres tatsächlich grundlegend. Jedes der drei Genres bietet beispielsweise höchst melodramatische Verkörperungen sexuell aufgeladener, wenn nicht sogar sexuell expliziter Beziehungen. Das Subgenre des sadomasochistischen Pornos, das von einem Hinaus- zögern der Lust über weite Strecken dramatischen Leidens hinweg ge- prägt ist, bietet eine besonders intensive, fast schon parodistische Ver- körperung des klassischen melodramatischen Szenarios vom passiven, unschuldigen weiblichen Opfer, das einem lüsternen Bösewicht aus- geliefert ist. Ebenso können wir in Horrorfilmen, deren Handlung ge- quälte Frauen beinhaltet, eine ähnliche Melodramatisierung des un- 20 montage AV 18 /2 / 2009 schuldigen Opfers ausmachen. Selbstverständlich mit dem wesentlichen Unterschied, dass in einem Dominierungsszenario das Opfer offene se- xuelle Lust zeigt. Doch selbst in extremsten Darstellungen weiblichen masochisti- schen Leidens gibt es immer einen Anteil von Macht oder Lust für das weibliche Opfer. Wir haben gesehen, wie in Slasher-Horrorfilmen die Identifikation der ZuschauerInnen zwischen Macht und Machtlo- sigkeit zu oszillieren scheint. Im Falle des sadomasochistischen Pornos und des melodramatischen Weepies scheinen die weiblichen Subjekt- positionen so konstruiert zu sein, dass ihnen, innerhalb der gegebenen Grenzen patriarchaler Zwänge, denen die Frauen unterworfen sind, ein Quäntchen Macht und Lust zugestanden wird. Es ist in diesem Zusam- menhang auch lohnend anzumerken, dass der nicht-sadomasochistische Porno eine der ganz wenigen Sorten des populären Films ist, die Frau- en nicht dafür bestraft haben, dass sie ihre sexuelle Lusterfüllung aktiv verfolgen. Doch im Subgenre des sadomasochistischen Pornos muss die weib- liche Masochistin der Handlung verschlagen agieren, um ihre Luster- füllung zu verfolgen. Um ihre Lust erfüllt zu bekommen, muss sie die Rolle der passiv Leidenden spielen. Infolge patriarchaler Doppelmo- ral, in der das sexuell passive «brave» Mädchen streng vom sexuell ak- tiven «bösen» Mädchen unterschieden wird, stellt das masochistische Rollenspiel einen Ausweg aus dieser Dichotomie dar, indem das gute Mädchen mit dem bösen kombiniert wird: das passive «brave» Mäd- chen kann ihren Zeugen (dem Über-Ich in Gestalt ihres Peinigers) beweisen, dass sie die Lust, die ihr zuteil wird, nicht willentlich gesucht hat. Doch das sexuell aktive «böse» Mädchen genießt diese Lust und hat das Arrangement, innerhalb dessen sie den Schmerz, den es ver- dient, erleidet, in vollstem Bewusstsein gestaltet. Das kulturelle Gesetz, das regelt, dass manche Mädchen «brav» und andere «böse» sind, ist zwar nicht außer Kraft gesetzt, doch innerhalb seiner Grenzen wurde Lust verhandelt und erkauft, und zwar mit jenem Schmerz, der die Vo- raussetzung der Lust ist. Das «böse» Mädchen wurde bestraft, doch ihr wurde – als Vergütung – Lust zuteil.4 Im Gegensatz dazu werden im sadomasochistischen Teenager-Hor- rorfilm die sexuell aktiven «bösen» Mädchen getötet; nur die nicht- sexuellen, «braven» Mädchen dürfen überleben. Doch diese braven Mädchen werden, als ob sie für diese Bravheit kompensieren müssten, 4 Ich bespreche diese Themen ausführlich in einem Kapitel über sadomasochistische Pornografie in meinem Buch Hard Core (1995 [engl. 1989]). Filmkörper: Gender, Genre und Exzess 21 erstaunlich aktiv, bis hin zur Aneignung der phallischen Macht selbst. Diese phallische Macht scheint genau so lang zugestanden zu werden, so lange sie strengstens von phallischer oder jeder anderen Art von Lust getrennt wird. Denn diese Lüste verheißen in diesem Genre den sicheren Tod. Im weiblichen Melodram könnten wir eigentlich eine reinere Form des Masochismus für weibliche Zuschauer vermuten. Doch sogar hier scheinen die Zuschauerinnen nicht zur uneingeschränkten Identifi- kation mit der sich aufopfernden guten Frau eingeladen zu werden, sondern zur Identifikation mit einer Vielzahl unterschiedlicher Sub- jektpositionen, auch jene, die mit Empathie ihr eigenes Leid beob- achten. Während ich nicht behaupten würde, dass es in diesen Filmen einen starken sadistischen Anteil gibt, würde ich dennoch meinen, dass man von einer starken Mischung aus Passivität und Aktivität sprechen könnte, und von einer bisexuellen Oszillation zwischen diesen beiden Polen, selbst in diesem Genre. Zum Beispiel identifiziert sich die Zuschauerin des mütterlichen Melodramas wie etwa Terms of Endearment oder Steel Magnolias (Herbert Ross, USA 1989) nicht einfach mit der leidenden und ster- benden Heldin dieser Filme. Sie könnte sich ebenso mit den macht- vollen Matriarchinnen identifizieren, den überlebenden Müttern, die über den Tod ihrer Töchter hinaus regieren, und so den Rausch und den Triumph des Überlebens erfahren. Mein Punkt ist, dass Identifika- tion weder festgelegt, noch gänzlich passiv ist. Während es definitiv männliche und weibliche, aktive und passive Pole gibt, die auf der Grafik, innerhalb der wir diese drei Genres an- ordnen können (siehe unten), von links nach rechts verlaufen, sind die Subjektpositionen, die von jedem dieser Genres konstruiert zu sein scheinen, weder so streng geschlechtsgebunden als auch geschlechtsfi- xiert als bisher angenommen. Diese Beobachtung stimmt insbesondere für den Hardcore-Porno, der heute mehr und mehr Faszination auch auf ein weibliches Publikum ausübt. Der vielleicht aktuellste Beweis für einen Bruch mit rigiden aktiv-passiv, männlich-weiblich Dicho- tomien in diesem Genre stellt eine alternative, oszillierende Katego- rie der Adressierung der ZuschauerInnen dar. Obwohl heterosexueller Hardcore einst ausschließlich heterosexuelle Männer adressierte, be- ginnt er jetzt, auch heterosexuelle Paare und Frauen zu adressieren. Und zusätzlich zu homosexuellem Hardcore, der schwule Zuschauer und (in geringerem Maße) lesbische Zuschauerinnen adressierte, gibt es jetzt das neue Videogenre, das «bisexuell» genannt wird. In diesen Videos machen es Männer mit Frauen, Frauen mit Frauen, Männer 22 montage AV 18 /2 / 2009 mit Männern und alle miteinander, die fundamentale Tabuisierung von Sex zwischen Männern aufbrechend.5 Eine verwandte Durchdringung ehemals getrennter Kategorien von Männlichkeit und Weiblichkeit ist mancherorts als männlicher Weepie bekannt geworden. Hierbei handelt es sich um Melodramen, denen es um die Aktivierung von früher verdrängten Gefühlen von Männern und um eine Enttabuisierung von Umarmungen und Liebkosungen zwischen Männern geht. Als beispielgebend hierfür wäre die Vater- Sohn Umarmung am Ende von Ordinary People (Robert Redford, USA 1980) zu nennen. In jüngerer Vergangenheit hat ein Wettstreit väterlicher Weepies mit mütterlichen Weepies begonnen – wie etwa im konventionellen Dad (Gary David Goldberg, USA 1989) oder in den weniger konventionellen, wilden väterlichen Darstellungen von Twin Peaks (TV-Serie, David Lynch, USA 1990–1991). Es geht mit Sicherheit nicht darum, die «sexuelle Freiheit» dieser neuen Verflüssigungen und Oszillierungen dahingehend abzufeiern – die neue Weiblichkeit der Männer, die umarmen und die neue Männ- lichkeit lüsterner Frauen – als ob es sich hierbei um die endgülti- ge Zerschlagung phallischer Macht handeln würde. Vielmehr könnte eine wesentlich nützlichere Lehre daraus zu ziehen sein das Potenzial dieser neuen Verflüssigungen und Oszillierungen für die Konstrukti- on weiblicher Schaulust, die einst für nicht existent erklärt wurden, zu erkennen (es ist beispielsweise aufschlussreich, dass im neuen bisexuel- len Porno die weiblichen Figuren dabei gezeigt werden, wie sie verbal ihre Schaulust artikulieren, während sie Männern dabei zusehen, wie sie Sex mit Männern haben). 5 Unter den Titeln dieser relativ neuen (post 1986) Hardcore-Videos finden sich: Bisexual Fantasies; Bi-Mistake; Karen’s Bi-Line; Bi-Dacious; Bi-Night; Bi and Beyond; The Ultimate Fantasy; Bi and Beyond II; Bi and Beyond III: Hermaphrodites. Filmkörper: Gender, Genre und Exzess 23 Eine Anatomie der Filmkörper Genre: Porno Horrorfilm Melodram Körperlicher Sex Gewalt Gefühl Exzess: Ekstase: Ekstatischen Sex Ekstatische Ekstatisches Leid - dargestellt Orgasmus Gewalt Schluchzen durch Ejakulation Schauder Tränen Blut Angenomme- Männer Männliche Mädchen, Frauen nes Publikum: (aktiv) Jugendliche (passiv) (aktiv/passiv) Perversion: Sadismus Sadomasochismus Masochismus Urfantasie: Verführung Kastration Ursprung Zeitlichkeit Rechtzeitig! Zu früh! Zu spät! der Fantasie: Genrezyklen: Herrenfime «klassischer» «klassischer» «klassisch» (1920er – 1940er) Horror: Women’s Film: The Casting Dracula mütterliches Couch Frankenstein Melodram: Dr. Jekyll/Mr. Stella Dallas Hyde Mildred Pierce King Kong Liebesfilm: Back Street Letter from an Unknown Woman Zeitgenössisch Spielfilm-Hard Post-Psycho: Männliche Core: Deep Texas Chainsaw und weibliche Throat, etc. Massacre Weepies: The Punishment Halloween Steel Magnolias of Anne Dressed to Kill Stella Femme Pro- Videodrome Dad ductions Bisexuell Trisexuell Der Einsatz von Sex, Gewalt und Gefühl müsste in diesem Sinne eine sehr präzise Funktion in diesen Körpergenres haben. Wie alle popu- lären Genres adressieren diese Genres Grundprobleme unserer Kultur, unserer Sexualitäten, ja, unserer Identitäten. Der Einsatz von Sex, Ge- walt und Gefühl ist somit keineswegs überflüssig und auch keineswegs 24 montage AV 18 /2 / 2009 auf diese Genres begrenzt; stattdessen handelt es sich hierbei um eine kulturelle Form des Problemlösens. Wie ich in Hard Core argumentiert habe, tendieren Pornos dazu, Sex als Problem darzustellen, als des- sen Lösung mehr, anderer oder besserer Sex konstruiert wird (1995 [1989]). Im Horrorfilm ist eine mit Geschlechterdifferenz verbundene Gewalt das Problem, mehr Gewalt, die mit Geschlechterdifferenz ver- bunden ist, wird hier ebenfalls als Lösung konstruiert. Im Melodrama ist das Pathos des Verlusts das Problem, Wiederholungen und Variatio- nen dieses Verlusts sind die vom Genre gebotene Lösung. Strukturen der Fantasie All diese Probleme haben mit Geschlechtsidentität zu tun und könn- ten brauchbarer Weise als Genres der Geschlechterfantasie untersucht werden. Es wäre also angemessen, nicht nur nach den Strukturen der Perversion, sondern auch nach den Strukturen der Fantasie in jedem dieser Genres zu fragen. Dabei müssen wir uns über die Natur der Fantasie im Klaren sein. Denn Fantasien sind nicht, wie manchmal be- schrieben, wunscherfüllende, lineare Erzählungen über Beherrschung und Kontrolle, die zu Abschluss und Erfüllung des Begehrens führen. Vielmehr zeichnen sich Fantasien durch die Verlängerung des Begeh- rens und durch den Mangel an festgezurrten Positionen der Objekte und Ereignisse, die fantasiert werden, aus. In ihrem klassischen Text Urphantasie. Phantasien über den Ursprung, Ursprünge der Phantasie (1992 [1968*]) stellen Jean Laplanche und J.-B. Pontalis die These auf, dass Fantasie weniger ein Narrativ ist, das die Suche nach einem Begehrensobjekt inszeniert, sondern vielmehr ein Schauplatz des Begehrens, ein Ort, an dem Bewusstes und Unbewuss- tes, Selbst und Anderes, Teil und Ganzes, zusammenkommen. Fantasie ist der Ort, an dem Subjekte in ihrer «entsubjektivierten Form» zwi- schen Selbst und Anderem oszillieren und keinen fest zugewiesenen Ort in dieser Szene innehaben (1992, 58). In den drei hier besprochenen Körpergenres wurde die Rolle, wel- che die Fantasie spielt, bisher wohl am besten im Falle des Horror- films verstanden, ein Genre, das oft dem Fantastischen zugeordnet wird. * [Anm.d.Ü.:] Williams arbeitet mit der englischen Fassung des Textes «Fantasy and the Origins of Sexuality» (1968 in: The International Journal of Psycho-Analysis 49, S. 1–18), der 1964 auf Französisch in der Zeitschrift Les temps modernes erschienen ist. Die Ausgabe, der die deutsche Übersetzung aus dem Jahre 1992 zugrunde liegt (aus der die Referenzen für diesen Text entnommen sind), ist jene aus dem Jahr 1985, erschienen im Pariser Hachette Verlag. Filmkörper: Gender, Genre und Exzess 25 Was für eine Rolle der Fantasie in Porno und Melodram zukommt, wurde bisher weniger klar erfasst. Weil diese Genres weniger fantasti- sche Spezialeffekte benutzen und weil sie sich auf bestimmte Realis- muskonventionen stützen – das Aufrufen von sozialen Problemen im Melodram, die Repräsentation realer sexueller Handlungen im Por- no – scheint ihr Anteil am Fantastischen weniger offensichtlich. Doch die gewohnte Kritik, dass diese Formen unwahrscheinlich sind, dass es ihnen an psychologischer Komplexität und narrativer Schlüssigkeit mangle, und dass sie repetitiv sind, wird als Bewertungskriterium frag- würdig, wenn man bedenkt, dass diese Elemente ganz wesentlich für die Verbindung dieser Genres zur Fantasie sind. Es gibt also, anders gesagt, eine Verbindung zwischen der Faszina- tion dieser Formen und ihrem Vermögen, basale Probleme sexueller Identität anzusprechen, ohne diese nie wirklich zu «lösen». Ich würde an dieser Stelle gerne einen Zusammenhang zwischen Laplanche und Pontalis’ strukturellem Verständnis von Fantasien als Entstehungsmy- then, welche die Diskrepanz zwischen zwei Zeitpunkten zu überbrü- cken versuchen, und der spezifischen Zeitstruktur dieser drei Gen- res herstellen. Laplanche und Pontalis argumentieren, dass Fantasien, die Entstehungsmythen sind, unlösbare Probleme der Diskrepanz zwi- schen einem als real passiertem, unwiderruflichen Urerlebnis – wie es etwa bei der historischen Urszene der Fall ist – und der Unwägbarkeit seiner halluzinatorischen Wiederbelebung thematisieren können. Die Diskrepanz existiert, sozusagen, zwischen der faktischen Existenz des verlorenen Objekts und dem Zeichen, welches sowohl seine Existenz als auch seine Abwesenheit heraufbeschwört. Nach Laplanche und Pontalis sind die grundlegendsten Fantasien an der Kreuzung zwischen einem unwiederbringlichen wirklichen Ereignis, das irgendwann in der Vergangenheit stattgefunden hat, und einem völlig imaginären Ereignis, das niemals stattgefunden hat, ver- ortet. Das «Ereignis», dessen zeitliche und räumliche Existenz niemals genau bestimmt werden kann, ist somit, mit Laplanche und Ponta- lis, letztendlich das, «was das Individuum selbst ‹urspringt›» – ein Ur- sprung, der, so sagen es uns die Psychoanalytiker, niemals von der Ent- deckung der Geschlechterdifferenz zu trennen ist (1992, 42f). Das wesentlichste Charakteristikum der Fantasie ist diese wider- sprüchliche Zeitstruktur des Dazwischenseins, zwischen dem «zu früh» und dem «zu spät» jenes Wissens um Differenz, das für die Entstehung des Begehrens verantwortlich ist. Freud führte das Konzept der Ur- phantasie ein, um die mythische Funktion der Fantasien zu erklären, die Wiederholungen von und «Lösungen» für die größten Rätsel der 26 montage AV 18 /2 / 2009 Kindheit anzubieten scheinen (Freud 1999 [1915]). Diese Rätsel sind in drei Bereichen verortet: das Rätsel des Ursprungs des sexuellen Be- gehrens, ein Rätsel, das sozusagen «gelöst» wird durch die Verführungs- fantasie; das Rätsel der Geschlechterdifferenz, «gelöst» durch die Kas- trationsfantasie; und schließlich das Rätsel vom Ursprung des Selbst, «gelöst» von der Fantasie der Familienidylle oder der Rückkehr zum Ursprung (Laplanche/Pontalis 1992, 42). Man könnte sagen, dass jedes der drei von mir beschriebenen Kör- pergenres in wesentlicher Weise einer dieser Urfantasien entspricht: der Porno ist beispielsweise das Genre, das scheinbar endlos die Fan- tasien der Urverführung wiederholt, die Fantasien vom Zusammen- kommen mit dem Anderen, vom Verführen des Anderen und vom Ver- führtwerden in einem idealen Pornotopia, wo es, wie Steven Marcus das nennt, immer «Zeit fürs Bett» ist (1964/1974, 269). Horror ist das Genre, das scheinbar endlos das Kastrationstrauma wiederholt, als um über die wieder und wieder inszenierte Beherrschung der Kastrati- on das Urproblem der Geschlechterdifferenz zu «erklären». Und der melodramatische Weepie ist das Genre, das endlos unsere Melancholie über den Verlust des Ursprungs zu wiederholen scheint – das unmög- liche Hoffen darauf, an einen früheren Ort zurückkehren zu können, an einen Ort, der womöglich am Eindrücklichsten durch den Körper der Mutter repräsentiert wird. Selbstverständlich hat jedes dieser Genres eine Geschichte und ver- mag somit mehr als einfach nur «endlos zu wiederholen». Die Fan- tasien, die diese Genres aufrufen, sind wiederholend, jedoch weder festgelegt noch ewig gültig. Wenn wir die Ursprünge dieser Fantasien verfolgten, könnten wir wahrscheinlich zeigen, wie jede einzelne mit der Formierung des bourgeoisen Subjekts und der immer größeren Wichtigkeit, die dieses Subjekt für die Ausdifferenzierung der Sexu- alität einnimmt, einhergeht. Doch wir sollten über der Wichtigkeit, die diese Wiederholung für die drei Genres hat, nicht vergessen, dass sich die Zeitstruktur der Wiederholungen in den Fantasien gänzlich unterscheidet. Vielleicht ist es sogar so, dass diese unterschiedlichen Zeitstrukturen in jeder der drei Formen unterschiedliche utopische Komponenten des Problemlösens konstituieren. So funktioniert die typische (nicht-sadomasochistische) pornografische Verführungsfanta- sie als «Lösung» für das Problem des Ursprungs des Begehrens. In sei- nem Versuch einer Antwort auf die unbeantwortbare Frage danach, ob dem Subjekt das Begehren von außen durch die Verführung eines El- ternteils übergestülpt wird, oder ob es seinen Ursprung im Inneren des Selbst hat, stellt der Porno typischerweise eine Fantasie zur Verfügung, Filmkörper: Gender, Genre und Exzess 27 in der das Begehren aus dem Inneren des Selbst und von seinem Außen kommt. Nicht-sadomasochistischer Porno versucht die utopische Fan- tasie der perfekten zeitlichen Fügung: Die Darstellung eines Subjekts und eines Objekts (VerführerIn und VerführteR), die einander «recht- zeitig!» und «jetzt!» in geteilten Augenblicken gemeinsamer Lust tref- fen, stellt die besondere Herausforderung für das Genre dar. Im Gegensatz zum Porno entspricht die Fantasie des aktuellen Teen- ager-Horrorfilms einer Zeitstruktur, welche die Angst des Nicht-Fer- tig-Seins heraufbeschwört, des Problems vom «zu früh!». Einige der ge- walttätigsten und furchterregendsten Augenblicke des Horrorfilmgenres passieren in jenen unerwarteten Momenten, in denen das weibliche Op- fer auf ihr Psychokiller-Monster trifft, bevor sie gewappnet ist. Die weib- lichen Opfer, die nicht auf den Angriff vorbereitet sind, müssen sterben. Diese überraschende, zu frühe Begegnung, findet häufig in Augenbli- cken sexueller Vorfreude statt, in denen das weibliche Opfer eigentlich erwartet, ihren Freund oder Liebhaber zu treffen. Der gewaltsame An- griff des Monsters auf das weibliche Opfer verkörpert auf lebhafte Weise eine symbolische Kastration, die häufig als eine Art Strafe für das zeitlich schlecht platzierte Zeigen eines sexuellen Begehrens gilt. Diese Opfer werden von den Gewaltattacken überrascht, und diese Angriffe werden dann von den ZuschauerInnen (insbesondere von den heranwachsenden männlichen Zuschauern, die vom Slasher so angezogen sind) als intrin- sisch mit dem Wissen um die Geschlechterdifferenz verbunden wahrge- nommen. Wieder ist der Schlüssel zur Fantasie zeitliche Taktung – die Art und Weise, in der das Wissen um die Geschlechterdifferenz viel zu plötzlich sowohl die Figur als auch die ZuschauerInnen überkommt, lässt uns schließen, dass wir niemals für dieses Wissen bereit sind. Schließlich können wir im Gegensatz zum «rechtzeitigen!» Aufei- nandertreffen im Porno und zum «zu frühen!» Aufeinandertreffen im Horrorfilm das «zu spät!» des melodramatischen Pathos identifizieren. In diesen Fantasien wird der Wunsch nach der Rückkehr zum und nach der Entdeckung vom Ursprung des Selbst in den verschiedenen Formen des Melodrams manifest: in der Form der Freud’schen Fami- lienromanze manifestiert sich die Fantasie des Kindes, ideale Eltern zu haben, im mütterlichen oder väterlichen Melodram geht es um die El- ternfantasie vom Besitz des Kindes, und im romantischen Weepie wird sogar die Fantasie der Liebenden, einander zu besitzen, manifest. Der Wunsch nach Verbindung wird in diesen Fantasien immer durch die Melancholie des Verlusts getrübt. Ursprünge sind immer schon verlo- ren, man trifft einander zu spät, erst am Sterbebett oder am offenen Grab (Neale 1988). 28 montage AV 18 /2 / 2009 Nach dem italienischen Kritiker Franco Moretti funktioniert Li- teratur, bei deren Lektüre wir weinen, über eine besondere Manipu- lation der Zeitlichkeit: was unser Weinen auslöst, ist nicht einfach die Traurigkeit oder das Leiden einer Figur aus der Geschichte, sondern ein sehr genau bestimmter Augenblick, in dem die Figuren in der Ge- schichte ihren Wissenstand aufholen und dessen gewahr werden, was das Publikum schon längst weiß. Wir weinen, so Moretti, nicht nur weil die Figuren der Geschichte weinen, sondern in genau jenem Au- genblick der unwiederbringlichen Erkenntnis davon, dass das Begeh- ren aussichtslos ist. Der Spannungsabbau verursacht Tränen – die zu einer Art Hommage des Glücks werden, dem man Adieu sagen muss. Das Pathos besteht somit darin, sich der Realität unterzuordnen, doch handelt es sich hierbei um eine Unterordnung, die einem Ideal, das der Wirklichkeit trotzen wollte, Tribut zollt (Moretti 1983, 179). Moretti betont somit die subversive und utopische Qualität einer Komponen- te, die häufig für eine Form passiver Machtlosigkeit gehalten wurde. Die Fantasie vom stets zu späten Zusammentreffen mit dem Anderen basiert in diesem Sinne auf dem utopischen Begehren, dass es nicht zu spät sein möge, mit dem Anderen wieder aufzuerstehen, mit dem An- deren, der einst Teil des Selbst war. Es ist offensichtlich, dass wir viel Arbeit vor uns haben, die Form und Funktion dieser drei Körpergenres in ihren Bezügen zueinander zu verstehen, und die fundamentale Faszination, die sie als Urfantasien auf uns ausüben, zu begreifen. Offensichtlich ist auch, dass das Unter- fangen, diese Beziehungen zwischen Geschlecht, Genre, Fantasie und Strukturen der Perversion zu erklären, dann am schwierigsten wird, wenn wir versuchen, die Urfantasien mit dem historischen Kontext und der spezifischen Geschichte eines jeden Genres in Verbindung zu setzen. Dennoch scheint eines bereits jetzt klar zu sein: diese krassen Körpergenres, die für Frauen anscheinend soviel Gewalt und Feind- seligkeit übrig haben, können nicht einfach als Evidenz einer mono- lithischen und unveränderlichen Misogynie abgetan werden, als ent- weder reiner Sadismus für männliche oder Masochismus für weibliche Zuschauer. Ihre schiere Existenz und Beliebtheit hängt vom rapiden Wandel, in dem sich die «Geschlechter»-Beziehungen befinden, ab, und von den sich rapide verändernden Vorstellungen von Geschlecht – davon, was es heißt, ein Mann oder eine Frau zu sein. Sie als schlechten Exzess von Sex, Gewalt oder Gefühl abzutun, als schlechte Perversi- on masochistischer oder sadistischer Prägung, würde bedeuten, es sich zu vergeben, ihre Funktion als kulturelle Problemlösungsstrategien zu thematisieren. Schlussendlich leben Genres vom Fortbestand der Pro- Filmkörper: Gender, Genre und Exzess 29 bleme, die sie thematisieren; doch Genres leben auch davon, das Wesen dieser Probleme neu gestalten zu können. Abschließend möchte ich feststellen, dass, wie ich hoffentlich an dem aktuellen Beispiel des Tränen-Melodrams zeigen konnte, wir uns in der Annahme irren, dass die Körper der ZuschauerInnen einfach die Gefühlsregungen, die von den Körpern auf der Leinwand darge- stellt werden, reproduzieren. Sogar diese masochistische Lust, die mit der Machtlosigkeit des «zu spät!» assoziiert wird, kann nicht gänzlich zum Abjekten gezählt werden. Sogar der Tränendrüsendrücker wirkt nicht so, dass er einfach eine simple Nachahmung der Gefühlsempfin- dung, die wir auf der Leinwand sehen, erzwingt. So wirkmächtig die Gefühlsempfindungen des Drückers auch sein mögen, wir sind erst am Anfang zu begreifen, wie sie in generischen und vergeschlechtlichten kulturellen Formen eingesetzt sind. Aus dem Amerikanischen von Andrea B. Braidt Literatur Altman, Rick (1989) Dickens, Griffith, and Film Theory Today. In: South Atlan- tic Quarterly 88, S. 321–359. Bordwell, David/Staiger, Janet/Thompson, Kristin (1985) The Classical Hol- lywood Cinema: Film Style and Mode of Production to 1960. New York: Co- lumbia UP. Brooks, Peter (1976) The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melo- drama, and the Mode of Excess. New Haven: Yale UP. Clover, Carol J. (1987) Her Body, Himself: Gender in the Slasher Film. In: Rep- resentations 20 (Fall), S. 187–228. Deleuze, Gilles (1971) Masochism. An Interpretation of Coldness and Cruelty. Übers.v. 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