166 MEDJENwissrnscha/i 2/2002 Alexander Kluge, Oskar Negt: Der unterschätzte Mensch Frankfurt/M.: Zweitausendeins 2001, Band I: 1022 S., Band II: 1245 S., ISBN 3-86150-427-8, € 50,~ Mit den beiden Bänden „Der unterschätzte Mensch" gibt der Verlag Zweitau- sendeins das Resultat einer dreißig Jahre währenden Kooperative der so unter- schiedlichen Autoren Alexander Kluge und Oskar Negt heraus: Öffentlichkeit und Erfahrung (1972), Geschichte und Eigensinn (1981) und Maßverhältnisse des Politischen (1992). Vorangestellt ist dem ersten Band eine Reihe von TV- Mitschriften von Kluges TV-Magazinen, ganz ähnlich wie sie der Verlag Vorwerk 8 in der Reihe ,Facts & Fakes' derzeit herausbringt. Die Texte wurden teilweise ergänzt und aktualisiert, die Autoren haben das Kapitel 9 der Maßverhältnisse geändert und diese um ein 16. Kapitel erweitert, das die Ereignisse um den 11. September 2001 zu verorten versucht, und sich außerdem gegenseitig in knappen Texten porträtiert. Viele der Änderungen sind unscheinbar und zeigen sich in Details, beispielsweise neuen Illustrationen, kurzen Selbstkommentaren und in Einschüben, die als ,Zwischenstücke' bezeichnet werden. Die Bände sind gut ausgestattet und mit Lesebändchen versehen. Nun lässt sich verfolgen, wie sich die Präsentationsform der Texte in den Jah- ren immer mehr ausdifferenzierte und komplexer wurde. Schon das 1972 geschrie- bene Öffentlichkeit und Elfahrung zerfällt in Fragmente und endet schließlich mit einem ausführlichen Kommentaranhang, der die Sekundärliteratur nicht mehr zitiert, sondern statt dessen seitenweise Textpassagen wiedergibt. In Geschichte und Eigensinn verwenden die Autoren Texte und Bilder anderer und setzen diese in eine umfangreiche Sammlung, welche sie mit Kommentaren versehen. Ziel des Vorhabens ist nicht das in sich geschlossene Werk, sondern die größtmögliche Offenheit, der Leser soll an das Dargelegte anknüpfen und es weiterdenken können, was die Autoren zum ,Hieronymus im Gehäuse' schreiben, gilt auch für ihren eigenen Text: ,,Es entsteht keine Ruhe, keine Theorie, sondern zahllose Anfänge." (Bd. II, S.1007). Selbst nach über zwanzig Jahren wirkt dieses Monta- geverfahren nicht manieriert. Anders als Jürgen Habermas in seiner Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit von 1962 setzen Negt/Kluge in Öffentlichkeit und Erfahrung die bürgerliche und die proletarische Öffentlichkeit in eine Dialektik zueinander. Sie zeigen, wie sehr die bürgerliche Öffentlichkeit strukturell zu verhindern versucht, dass es zu einer proletarischen Öffentlichkeit kommt und deuten Lösungswege an. Mit dem Begriff des ,Proletarischen' erschließt sich eine äußerst interessante Seite im gesamten theoretischen Werk von Negt und Kluge. Wo sie diesen Begriff zu definieren suchen, wandelt er sich zu einer Haltung, einer, die mit allen Mit- teln versucht, nichts auszugrenzen, welche Fragen nicht im Vorhinein auf ihre Beantwortbarkeit zurechtstutzt und die darauf vertraut, dass es ein Prinzip der Selbstregulation gibt, das die heterogenen Fragmente in einen Zusammenhang Medien/ Kultur 167 bringt: ,,Die Kategorie der proletarischen Öffentlichkeit lässt sich demnach so definieren: Sie bezeichnet nicht bestimmte Formen und Inhalte, sondern wendet die marxistische Methode dahingehend an, dass kein Stoff der gesellschaftlichen Umwälzung, kein konkretes Interesse ausgegrenzt und unaufgelöst bleibt, und sie sorgt so dafür, dass das Medium dieser Einlösung und Verwandlung der Interessen der gesamte wirkliche Produktions- und Vergesellschaftungszusammmenhang ist [. .. )" (Bd. I, S.570). Seine eigentliche Tragweite zeigt sich dort, wo das Proletari- sche als Resultat eines Verinnerlichungsprozesses kapitalistischer Verhältnisse gefasst wird, wo es alles Ausgegrenzte, Abgetrennte, Verdrängte meint und ~o diese Prozesse in Detailanalysen nachgewiesen werden. Die proletarische Offentlichkeit wäre das Medium, in welchem sich diese partikularisierte Erfah- rung organisieren könnte: ,,Öffentlichkeit besitzt dann Gebrauchswerteigenschaft, wenn sich in ihr die gesellschaftliche Erfahrung organisiert." (Bd. I, S.343). In einigen Passagen von Öfl'entlichkeit und Erfahrung führen die Autoren die ursprüngliche Bedeutung des ,Proletarischen' als Substanzbegriff, als Bezeich- ~ung einer gesellschaftlichen Klasse, diesem ersten Begriff parallel, setzen also Offentlichkeitsformen der Arbeiterbewegung mit ,proletarischer Öffentlichkeit' gleich. Die Spannungen und Vagheiten, die dadurch entstehen, wurden 1972 nicht ausgeräumt, aber die Klärung des Verhältnisses vom Proletariat als Klasse zur Eigenschaft ,proletarisch' dürfte ein Grund für die Arbeit an Geschichte und Eigensinn gewesen sein. Es geht in diesem Buch um ebenjene Trennungs- und Verinnerlichungsprozesse einer mehr als zweitausendjährigen Produktions- geschichte (!) und um das Verhältnis der Geschichte zum individuellen Lebens- lauf. In dem nach dem zweiten Golfkrieg entstandenen Text Mafiverhältnisse des Politischen fragen die Autoren Begriffen wie Gesamtarbeiter, Krieg, Politik nach und explizieren den Vorrang von Unterscheidungsvermögen. Letztere Analysen wirken am konventionellsten, vielleicht deshalb, weil einige von ihnen getrennt abgefasst wurden. Obwohl sich die Medienlandschaft seit den siebziger Jahren grundlegend verändert hat, was vor allem auf die technischen Entwicklungen und die Einführung des dualen Systems zurückzuführen ist, haben die dreißig Jahre alten Analysen von Öffentlichkeit und E,.fahrung solch eine prognostische Kraft, dass sie einer Neulektüre durchaus standhalten. Begriffe wie Medienverbund, Gegenöffentlichkeit, die Einbeziehung der triebökonomischen Faktoren und die Kritik der Programmstruktur des Fernsehens gehören längst zum theoretischen Inventar jeder kritischen Medienanalyse. Die Unbeirrtheit, mit der Negt/Kluge die Inhalte und Formen von Sendungen aus den Produktionsbedingungen und der Verwaltungsstruktur herleiteten, half ihnen, erst Jahrzehnte später eintretende Veränderungen theoretisch vorwegzunehmen. Was damals wie eine provozierende Idee wirken musste, die vollständige „Aufgabe des Unterhaltungsbegriffs" (Bd. I, S.466) und die Lösung von einem in ein Programm eingebundenen Sendeformat, ist in Zeiten des Internet eine alltägliche Erfahrung. Die von Negt/Kluge heran- 168 ,\fE[)/l:'\',ris1T111cha/i :! :!Oll] gezogenen Beispiele, der Funk verkehr der Astronauten mit der Bodenstation, Werksmonitore. Generalstabsvideos und Verkehrsüberwachung machten schon damals deutlich, dass die Fernsehtechnik auch in der bürgerlichen Öffentlichkeit der siebziger Jahre durchaus nicht immer programmgesteuert eingesetzt wurde (Bd. 1, S.459f.). Diese Anwendungen aber fanden stets nicht-öffentlich und als .,Kontrollkommunikation ohne Rückäußerung" statt. sie dienten also nie eman- zipatorischen oder gar die Gesellschaft verändernden Zwecken, weil ihr Zugang bereits sanktioniert werden musste. An diesen Beispielen wird ex negativo erahn- bar. was nicht-programmgesteuerte Kommunikation heißen könnte. Anknüpfend an Brechts Überlegungen zur Radiotheorie wäre das die Idee einer nicht-distri- butiven und auf dem Prinzip der Selbstorganisation beruhenden Öffentlichkeit. Es ist nur konsequent, wenn die Entwicklung der elektronischen Medien in einer N~chbemerkung von den Autoren in ihr dreißig Jahre altes Modell integriert und positiv belegt wird, weil nämlich vor allem das Internet eine Öffentlichkeit darstellt, die bereits durch ihre Organisationsform die klassischen ,Programmin- dustrien' kritisiert: ,,Kennzeichen der Programmindustrie ist die Zeitarmut. [ ... ] Dagegen ist das Kennzeichen der neuen e-Mcdien, dass eine riesenhaft wachsende Zahl von Zuschauern mit ,aktiven Interessen' neu hinzutritt. Der von ihnen ein- gebrachte Rohstoff lässt sich ausdrücken als: mehr Interesse, mehr Zeit. Von daher verbreitert sich die materielle Basis, es geht um eine Revolutionierung des Bewusstseinsapparats; dieser hat jahrhundertelang die meiste Zeit geträumt. Jetzt beginnt er zu arbeiten.[ ... ]" (Bd. L S.515-516). Mit den e-Medien wird zum ersten Mal technisch realisiert, was lange Zeit als Utopie galt, eine Form nicht- hierarchischer Öffentlichkeit, in der sich Erfahrung ohne Direktive nach dem Prinzip der Assoziation organisieren kann. Die mündliche Diktion der Texte befremdet zunächst, und Wendungen wie .,Rohstoff Lebenszusammenhang" (Bd. I. S.338) oder „Block wirklichen Lebens" (Bd. I, S.407) drücken einen Schulterschluss mit der Praxis aus, der nur bei ,Projektemachern' wie Kluge noch glaubhaft wirkt. Kompositorisch ist Geschichte und Eigensinn das interessanteste und komplexeste Werk. Es versucht nicht, wie noch Ö.f/entlichkeit und Erfährung, den Untersuchungsgegenstand als Ganzen zu erfassen, geht spielerischer mit ihm um, zerlegt ihn und holt durch die Mon- tage den Konjunktiv in den Text hinein. Die Marx-, Kafka-, und Freud-Zitate, die Relektüre Grimm'scher Märchen und die zeitgeschichtlichen Kommentare machen das Buch zu einem Resonanzkörper von Geschichte. Und die Bilder und Illustrationen weiten den assoziativen Spielraum benjaminisch bis hin in die Verästelungen des Wissens aus. Es gibt zahlreiche Ungenauigkeiten und sogar Fehler. welche die Autoren hätten redigieren können. So wurde der letzte Artikel von Rosa Luxemburg. ,,Die Ordnung herrscht in Berlin". am 14. Januar 1919 veröffentlicht. jedoch nicht am 18. Januar 1919. wie uns die Geschichte „Grammatik der Revolution·' glauben machen will (Bd. I. S.886). oder gar 1918, wie es im Fragment „Dialektik ist ,'vledien / Kultur 169 ungrammatisch" (Bd. 11, S.711) heißt. Man sollte diese Einsprengsel als Wink an den Leser verstehen, das hier Dargestellte als Teil einer Praxis aufzufassen und es kritisch zu prüfen, es also mit diesen Büchern zu machen wie mit Leibnizens Bockmühlen in der Geschichte „Lob der Plumpheit": Sie wurden „am richtigen Ort" auf ihre Brauchbarkeit getestet (Bd. II, S.450-452). Andreas Becker (Frankfurt/M.)