Jg. 17 H.2 2017 € 13,- NAVI GATIONEN ä Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften Christoph Ernst / Jens Schröter (Hrsg.) MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN Ernst: Medien und Implizites Wissen ä Distelmeyer: An/Leiten ä Kaerlein: »Walking for Design« ä Bächle/Re- gier/Bennewitz: Sensor und Sinnlichkeit ä Ring: Wearable Technologies und implizites Wissen ä Ernst: Implizites Wissen, Kognition und die Praxistheorie des Interfaces ä Wirth: »the unnatural scrolling setting« ä Schröter: Der Markt, das implizite Wissen und die digitalen Medien NAVI GATIONEN ä MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN Jg. 17 H.2 2017 Jg. 17, H.2, 2017 NAVI GATIONEN ➤ Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften Christoph Ernst / Jens Schröter (Hrsg.) MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN NAVI GATIONEN ➤ Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften IMPRESSUM HERAUSGEBER: TITELBILD: Prof. Dr. Jens Schröter Robert Stults Media Space Concept Lehrstuhl für Medienkulturwissenschaft Drawing [1982] (Public Domain) MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN Lennéstr. 1 53113 Bonn (Hauptherausgeber) DRUCK: Dr. Pablo Abend UniPrint, Universität Siegen DFG-Graduiertenkolleg Locating Media Herrengarten 3 Erscheinungsweise zweimal jährlich 57072 Siegen universi – Universitätsverlag Siegen J.-Prof. Dr. Benjamin Beil Am Eichenhang 50 Institut für Medienkultur und Theater 57076 Siegen Meister-Ekkehart-Str. 11 50937 Köln Preis des Einzelheftes: € 13,- Preis des Doppelheftes: € 22,- REDAKTION FÜR DIESE AUSGABE: Jahresabonnement: € 20,- PD Dr. Christoph Ernst Jahresabonnement Prof. Dr. Jens Schröter für Studierende: € 14,- UMSCHLAGGESCHALTUNG ISSN 1619-1641 UND LAYOUT: Nina Adams (für diese Ausgabe) Christoph Meibom und Susanne Pütz (Originaldesign) Christoph Ernst / Jens Schröter (Hrsg.) MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN INHALT Christoph Ernst Medien und implizites Wissen Einleitende Bemerkungen zu einer vielschichtigen Beziehung in der Ära des ubiquitous computing ...............................................................7 Jan Distelmeyer An/Leiten Implikationen und Zwecke der Computerisierung ....................................... 37 Timo Kaerlein »Walking for Design« Zur Evokation impliziten Wissens im Interaction Design für die mobile Mediennutzung ...................................................................... 55 Thomas Christian Bächle, Peter Regier und Maren Bennewitz Sensor und Sinnlichkeit Humanoide Roboter als selbstlernende soziale Interfaces und die Obsoleszenz des Impliziten .............................................................. 67 Regina Ring Wearable Technologies und implizites Wissen .............................................. 87 Christoph Ernst Implizites Wissen, Kognition und die Praxistheorie des Interfaces ..............................................................99 Sabine Wirth »the ›unnatural‹ scrolling setting« Don Ihdes Konzept der embodiment relations diskutiert am Beispiel einer ubiquitären Touchpad-Geste ......................... 117 Jens Schröter Der Markt, das implizite Wissen und die digitalen Medien ........................ 131 Aut or_innen ...................................................................................................... 145 Abstracts............................................................................................................ 147 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN MEDIEN UND IMPLIZITES WISSEN Einleitende Bemerkungen zu einer vielschichti- gen Beziehung in der Ära des ubiquitous compu- ting V O N C H R I S T O P H E R N S T 1 1. STICHPUNKTE ZUM VERHÄLTNIS VON IMPLIZITEN WISSEN UND MEDIENTHEORIE Die Frage nach der erkenntnistheoretischen Relevanz von implizitem Wissen ge- hört zu den klassischen Debatten innerhalb der Philosophie und der Sozialtheorie. Implizites Wissen gilt als ein zentraler Bestandteil des Vollzugs sozialer Praktiken. Die unterschiedlichen Theorien der sozialen Praxis kommen, so die Einschätzung von Andreas Reckwitz, nicht ohne die Annahme einer »›impliziten‹, ›informellen‹ Logik des sozialen Lebens« aus.2 In der Medienwissenschaft wurde diese Form des Wissens lange eher stiefmütterlich betrachtet. Angesichts des Fachprofils ist das ein wenig überraschend. Claus Pias vermerkt: »Ein medienwissenschaftlicher Ansatz widmet sich Repräsentationsweisen, Apparaten, Institutionen und Praxen die an der Konstitution, Zirkulation, Verarbeitung und Speicherung von Wissen beteiligt sind [...].«3 Trotz der Bedeutung, die dem Verhältnis von Medien und Wissen zu- kommt, ist das implizite Wissen bisher nur in verstreuter Form zum Gegenstand der Diskussion geworden.4 Die Gründe dafür liegen allerdings nicht in den Gegenstandsfeldern der Me- dienwissenschaft. Sie sind der Binnendynamik akademischer Theoriedebatten ge- schuldet. Dass das Thema ›implizites Wissen‹ für das Fach von großer Bedeutung ist, stand nie wirklich außer Frage. Hartmut Winkler stellt in seinem Buch Basiswis- sen Medien unmissverständlich fest: »Medien arbeiten immer und grundsätzlich mit 1 Die Ideen dieses Textes sind Gegenstand eines Forschungsprojektes zur Geschichte der Beziehung zwischen Interface-Design, Verständnis des Computers als Medium und im- plizitem Wissen, das an der Universität Bonn beantragt wird. Für wertvolle Hinweise zu diesem Text danke ich Jens Schröter. 2 Vgl. Reckwitz: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken«, S. 291ff. An Kritik am Begriff des ›impliziten Wissens‹ mangelt es allerdings auch nicht. Vgl. Schmidt: »The Trou- ble with Tacit Knowledge«. 3 Vgl. Pias: »Was waren Medien-Wissenschaften?«, S. 16. 4 An dieser Stelle ist es unmöglich, die Vielzahl von Einzelbeobachtungen, etwa aus der Filmtheorie, systematisch aufzuarbeiten. Einen Einblick in die aktuelle Theoriedebatte zum impliziten Wissen geben Bromand/Kreis: Was sich nicht sagen lässt; Loenhoff: Im- plizites Wissen; Neuweg: Könnerschaft und implizites Wissen; ders: Das Schweigen der Könner; Adloff u.a.: Revealing Tacit Knowledge; Collins: Tacit and Explicit Knowledge; Gascoigne/Thornton: Tacit Knowledge. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 7 CHRISTOPH ERNST impliziten Wissensbeständen.«5 Inwiefern implizites Wissen in einer solchen ›grund- sätzlichen‹ Weise mit Medien verbunden ist, erläutert Winkler, indem er die Fra- ge des impliziten Wissens als Problem sozialer Konventionalisierung begreift und feststellt: Implizites Wissen ist einerseits Voraussetzung aller Medienprozesse; und gleichzeitig bauen die Medienprozesse am Aufbau und Umbau des impliziten Wissens mit. Das Problem des impliziten Wissens ist – theo- retisch wie praktisch – alles andere als trivial, dies musste u.a. die For- schung zur künstlichen Intelligenz erfahren. Denn woher weiß man, dass es keine Äpfel mit 1,50 m Durchmesser gibt? Dass Türen immer bis zum Boden gehen oder dass Autos keine Masern kriegen? Das Pro- blem impliziten Wissens reicht bis in körpergebundene Wissensbestän- de hinein.6 Implizites Wissen wird von Winkler in einem ›nicht-trivialen‹ Konstitutionsverhält- nis mit ›Medienprozessen‹ gesehen. ›Medienprozesse‹ hängen von implizitem Wis- sen ab, prägen aber auch das implizite Wissen.7 Mit dem Hinweis auf die Domäne des ›körpergebundenen Wissens‹ spielt Winker auf die oft als paradigmatisch be- trachtete Form von implizitem Wissen an.8 Michael Polanyis Verweis auf die Fähig- keit, Fahrrad fahren oder Schwimmen zu können, nicht aber in der Lage zu sein, die Bedingungen und Regeln dieser Fähigkeit sprachlich ausdrücken zu können, gehört zu den Schlüsselformulierungen der Forschung.9 Auf Polanyi geht auch die kanoni- sche Bezeichnung tacit knowledge zurück.10 Allerdings ist implizites Wissen mehr als ›nur‹ personales Körperwissen.11 Auch verschiedene Formen des Kontext- und Weltwissens müssen zur tacit dimension gerechnet werden.12 An dem Zitat von Winkler ist noch ein zweiter Aspekt wichtig. Winkler asso- ziiert das implizite Wissen zwar mit ›Medienprozessen‹ insgesamt. Er hebt aber einen Medienprozess hervor. Ausdrücklich wird das Problem der Formalisierung 5 Winkler: Basiswissen Medien, S. 262. 6 Ebd. 7 Angenommen wird damit, dass implizites Wissen den Medien nichts ›Immanentes‹ ist, sondern aus einer Interaktion mit den Medien hervorgeht. Inwiefern implizites Wissen ein Teil eines ›Wissens der Medien über sich selbst ist‹, wäre allerdings reizvoll. Vgl. Engell: »Medientheorien der Medien selbst«. 8 Vgl. unter Bezugnahme auf eine Theorie der »Transmedialität« etwa Schmitz/Groninger: »Über projektives Denken und Machen«, S. 22ff. 9 Polanyi: »Tacit Knowing«, S. 601, ders.: Personal Knowledge, S. 49. Vgl. zu Polanyi um- fassend Neuweg: Könnerschaft und implizites Wissen; eine sehr kritische Auseinander- setzung mit Polanyi findet sich bei Schmidt: »The Trouble with ›Tacit Knowledge‹«, hier S. 187ff. 10 Vgl. Polanyi: The Tacit Dimension, ders.: Personal Knowledge, ders.: »The Logic of Tacit Inference«. 11 Vgl. hier auch die Beiträge in Loenhoff: Implizites Wissen. 12 Vgl. zur Auseinandersetzung mit embodiment-Begriffen auch Loenhoff: »Tacit Know- ledge«. NAVIGATIONEN 8 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN MEDIEN UND IMPLIZITES WISSEN von implizitem Wissen im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz genannt.13 Die Implikationen dieser Bemerkungen werden klarer, wenn man sich vor Augen führt, dass implizites Wissen zumeist als ein ›Überschuss‹ gefasst wird, der aus dem Voll- zug von menschlichen Praktiken hervorgeht. Ein Großteil der Überlegungen zum impliziten Wissens kann – mit einer Formulierung von Georg W. Bertram gesagt – als »Praxis-Überschuss-Theorie« charakterisiert werden.14 Im Rückgriff auf Gilbert Ryles Unterscheidung versteht man implizites Wissen als ein praktisches »knowing how«, das dem »knowing that« gegenüber vorgängig ist und zumeist als ›prärefle- xiv‹ oder ›nicht-propositional‹ angesehen wird.15 Zwar bergen Metaphern wie ›Überschuss‹ die Gefahr der begrifflichen Ver- klärung von implizitem Wissen zu einer ›sich entziehenden‹ oder ›uneinholbaren‹ Größe.16 Dennoch ist die Theoriefigur wichtig. Sie führt vor Augen, dass implizites Wissen nur im Horizont des Problems der Explikation – oder, mit Ludwig Jäger gesagt, einer medial realisierten »Transkription« –, überhaupt als ein eigenständiges Phänomen in Erscheinung tritt.17 Um positive Merkmale des impliziten Wissens zu bestimmen, forscht man infolgedessen nach Momenten und Gründen der Nicht- explizierbarkeit von Wissen.18 Behauptet werden dabei unterschiedliche ›Stärke- grade‹ des impliziten Wissens. Die Spannbreite reicht von »fundamentalpragma- tischen« Begriffen des impliziten Wissens,19 die eine Nichtexplizierbarkeit des im- pliziten Wissens annehmen, bis zu Theorien, die eine Artikulation von impliziten Wissen für möglich halten, nicht aber seine Kodifizierung und Formalisierung.20 Jens Loenhoff charakterisiert diese zwei Perspektiven so: Ein starker Begriff von implizitem Wissen geht [...] nicht nur davon aus, dass vorprädikatives Wissen primär ist gegenüber einem expliziten propositionalen Wissen, einem reflexivem Bewusstsein mithin keine fundierende Funktion zukommt, sondern er nimmt darüber hinaus an, dass implizites Wissen weder repräsentierbar noch vollständig expli- 13 Vgl. hier auch Bächle u.a.: »Selbstlernende autonome Systeme?«. Vgl. zur Formalisierung auch Krämer: Symbolische Maschinen. 14 Vgl. Bertram: »Im Anfang war die Tat«, insb. S. 213-220. 15 Ryle: »Knowing How and Knowing That«. Zu den anderen genannten Attributen vgl. u.a. die Beiträge in Bromand/Kreis: Was sich nicht sagen lässt, insb. Abel: »Knowing How«. Vgl. kritisch auch Schmidt: »The Trouble with Tacit Knowledge«, S. 209ff. 16 Vgl. ebd., hier S. 163: »However, the very notion of ›tacit knowledge‹ is a conceptual muddle in its own right. Firmly anchored in the dichotomy of ›tacit‹ versus ›explicit‹ know- ledge, it mystifies the concept of practical knowledge and skillful work practices.« 17 Vgl. Jäger: »Transkriptivität«, S. 32f.; Collins: »Drei Arten impliziten Wissens«, S. 94ff. Col- lins vertritt die Ansicht, dass nicht das implizite, sondern das explizite Wissen erklärungs- bedürftig ist. Vgl. ebd., S. 94. 18 Vgl. auch ebd. Klassisch ist das Beispiel der Sprache, also die Fähigkeit, eine unendli- che Menge grammatikalisch richtiger und situativ angemessener Sätze produzieren zu können, nicht aber die Regeln dieser Fähigkeit zu beherrschen. Vgl. Stetter: »Implizites Sprachwissen«. 19 Vgl. Loenhoff: »Einleitung«, insb. S. 11-17. 20 Vgl. Gascoigne/Thornton: »Tacit Knowledge«, hier S. 192: »While we hold, that tacit knowledge can be articulated without remainder, it cannot be codified without loss.« NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 9 CHRISTOPH ERNST zierbar ist. Ein schwacher Begriff räumt implizitem Wissen zwar eine fundamentale Funktion ein, hält aber die These der Nichtexplizierbar- keit für vorläufig und einer empirischen Prüfung zugänglich. Hinsichtlich der Transformation eines praktischen Könnens in Sätze mit propositio- nalem Gehalt nimmt der schwache Begriff impliziten Wissens folglich eine optimistische Position ein.21 Akzeptiert man die Basisunterscheidung zwischen einem in Praktiken situierten im- pliziten Wissen und den Typen ihrer defizitären Explikation, dann haben Theorien des impliziten Wissens vorrangig zu klären, wie der Übergang als solcher zu denken ist und welche Überschussphänomene auftreten, die es erlauben, die Zuschreibung zu treffen, Wissen sei ›implizit‹.22 Die damit häufig einhergehende Annahme, dass implizites Wissen nur im praktischen Vollzug von Praktiken existiert, führt zu einer Reihe auch für die Medientheorie interessanten Konsequenzen. Zu diesen Konsequenzen gehört die These, implizites Wissen könne nur über Interaktionen unter Anwesenden in der Art einer »›Wissenskrankheit‹« weitergege- ben werden.23 Während explizites Wissen als ein Wissen angesehen wird, das über raumzeitliche Distanz übertragbar ist, soll gleiches für implizites Wissen nicht gel- ten. An diesem Punkt schließt die Diskussion zum Problem der Formalisierung auf. Implizites Wissen wird als etwas verstanden, das innerhalb eines Kontinuums aus Praktiken gegebenen Bedingungen der Angemessenheit genügt, die aufgrund ih- rer Kontextgebundenheit nicht in explizite Regeln und formale Codes transkribiert werden können.24 Evoziert ist somit auch das bei Ludwig Wittgenstein diskutier- te Problem der Regelfolge, das zu den großen philosophischen Themen innerhalb der Debatte um implizites Wissen gehört. Die korrekte Anwendung expliziter Re- geln kann in der sozialen Realität nicht explizit begründet werden. Explizite Regeln legen das Regelfolgen nicht fest und garantieren es nicht. Regelfolgen ergibt sich nach impliziten Kriterien einer gemeinschaftlichen Praxis.25 Über implizites Wissen zu verfügen, zeichnet sich demnach durch eine bestimmte Art aus, Sachverhal- te situativ zu identifizieren, zu verstehen, und an sie anzuschließen. Robert Bran- dom und Joachim Renn beschreiben die Art und Weise dieser Anschlüsse auch als »Übersetzungen«.26 21 Loenhoff: »Zur Reichweite von Heideggers Verständnis impliziten Wissens«, S. 62. Die dritte Position ist die der Negation von implizitem Wissen: Demnach ist implizites Wissen ein Phantom und z.B. durch den Begriff ›praktischen Wissens‹ ersetzbar. Vgl. Schmidt: »The Trouble with Tacit Knowledge«, S. 209-215. 22 Vgl. unter Bezug auf den Pragmatismus Fingerhut u.a.: »Einleitung«, S. 35-43. 23 Collins: »Drei Arten impliziten Wissens«, S. 92, vgl. auch ders.: »What is Tacit Know- ledge?«, S. 115ff., ders.: Tacit and Explicit Knowledge. 24 Vgl. Gascoigne/Thornton: Tacit Knowledge, hier S. 3. 25 Vgl. Renn: Übersetzungsverhältnisse, hier insb. S. 255ff. Vgl. zudem Abel: »Knowing How«, insb. S. 328-334; Bloor: »Wittgenstein and the Priority of Practice«; Gascoigne/ Thornton: Tacit Knowledge, S. 81-106. 26 Vgl. Brandom: »Freiheit und Bestimmtsein durch Normen«, insb. S. 72ff. Vgl. auch ders.: Expressive Vernunft. Vgl. zudem die Grundlegung einer pragmatistischen Sozialtheorie auf Grundlage des Übersetzungsbegriffs bei Renn: Übersetzungsverhältnisse. NAVIGATIONEN 10 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN MEDIEN UND IMPLIZITES WISSEN Gleichwohl kann eine Differenz zwischen ›amedialem‹ implizitem Wissen und ›medialem‹ explizitem Wissen nicht konsistent aufrechterhalten werden. Wenn implizites Wissen als ein Überschuss in der Interaktion unter Anwesenden lokali- siert wird, dann sind – auf Ebene des Vollzugs dieser Praktiken – auch Medien wie die Sprache und ihre jeweiligen ›Logiken‹ zu beachten. In jeder Realisierung oder Präsentifikation von implizitem Wissen sind bereits komplexe mediale Verhältnisse gegeben, die mit zunehmender Verflechtung von computerbasierten Medien und sozialen Praktiken in den Fokus der medientheoretischen Debatte rücken.27 2. IMPLIZITES WISSEN, uBiquitouS coMputing, INTERFACES Theoriegeschichtlich gehören Praxis-Überschuss-Theorien in das Umfeld des Prag- matismus – sei es mit ausdrücklicher Referenz auf die angloamerikanische Tradition, sei es aus Perspektive des latenten Pragmatismus in (sozial-)phänomenologischen Ansätzen der kontinentaleuropäischen Denkschulen.28 Weitere wichtige Bezugs- theorien zum impliziten Wissen sind sprachphilosophische Positionen, die in der linguistischen Pragmatik fortgeführt und empirisch geprüft werden, techniktheo- retische Überlegungen, die den Umgang mit der materiellen Umwelt als primäres Phänomen ansetzen, und kognitionswissenschaftliche Ansätze, die Überlegungen hinsichtlich eines situierten und erweiterten Geistes postulieren.29 Innerhalb der Theoriediskurse der Medienwissenschaft ist das implizite Wissen gegenwärtig in Bezug auf nicht-menschliche Akteure innerhalb (medien-)technischer Umwelten eine zunehmend wichtige Größe. Damit rückt das Problem in das Zentrum der zeitgenössischen Theoriediskussion des Faches. Das Programm der Medienwissenschaft, den Einfluss von Medien und ihrer je spezifischen Materialität als soziale und kulturell spezifische Bedingungen des Wis- sens zu beschreiben, wurde lange Zeit unter strukturtheoretischen Gesichtspunk- ten verfolgt.30 Seien diese Einflüsse semiologischer, strukturalistischer, neomarxisti- scher, ideologiekritischer, poststrukturalistischer, diskursanalytischer oder system- theoretischer Art – der Blick auf die strukturelle und systemische Verfasstheit von Medien bildete den Rahmen für die Formulierung der Medialität des Wissens. Vor dem Hintergrund der Medienentwicklung haben sich die Grundprämissen inzwi- schen nachhaltig verschoben. ›Praxis‹ und ›Technik‹ sind die neuen Leitbegriffe der Theoriedebatte.31 Mit der der Weiterentwicklung von Computern zum »ubiquitous 27 In diesem Kontext steht die These, zwischen Präsenz und implizitem Wissen einen Zu- sammenhang zu sehen. Vgl. Ernst/Paul: Präsenz und implizites Wissen; Adloff u.a.: Re- vealing Tacit Knowledge. 28 Vgl. Bertram: »Im Anfang war die Tat«. 29 Einen sehr guten Überblick über die genannten Ansätze geben Fingerhut u.a.: »Einlei- tung«. 30 Vgl. auch Pias: »Was waren Medien-Wissenschaften?«. 31 Es ist keine gewagte These, davon auszugehen, dass die Aktualität des Themas ›implizites Wissen‹ durch den Umstand begünstigt ist, dass der practice turn inzwischen Einzug in die Medienwissenschaft (und darüber hinaus) gehalten hat. Vgl. Schatzki u.a.: The Practice Turn in Contemporary Theory. Vgl. die Beiträge in Bräuchler/Postill: Theorising media NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 11 CHRISTOPH ERNST computing«32 sowie des Internets der Dinge sind digitale Medien zu einem Teil des ›Gewebes‹ des Alltags geworden. Die medialen ›Akteure‹ haben eigene, ›smarte‹ Fähigkeiten entwickelt und agieren als eigenständige »kognitive Systeme«.33 Bei Florian Sprenger und Christoph Engemann heißt es: Programmiert und konstruiert wird weiterhin von Menschen, doch un- terlaufen die zeitlichen und operativen Prozesse im Internet der Dinge deren Kapazitäten. Dies ist zwar bei jedem zeitgenössischen Computer der Fall, doch basieren die Berechnungen, die die Grundlage des Inter- nets der Dinge sind, auf umgebungsbezogenen Sensordaten, auf der Vernetzung verteilter Bestandteile und auf ausgelagerter Rechenkraft. Deshalb liegt es durchaus nahe, von einem perzeptiven und einem ko- gnitiven Vermögen dieser nicht zufällig smart genannten Technologien auszugehen. Damit verändert sich, so der Tenor der einschlägigen De- batten, der Status der Dinge in der Welt und zugleich die Handlungs- perspektive des Menschen. Während auf technischer Ebene das Para- digma des Computers dabei ist, eine neue Relation von Mensch und Maschine anzunehmen, sind die sozialen und epistemologischen Folgen dieses Wandels bislang noch kaum durchdacht.34 Die Verortung des impliziten Wissens ist im Kontext der neueren Praxis- und Tech- niktheorien allerdings eine Herausforderung.35 Vor allem ist implizites Wissen für die Diskussion der ›humanistischen‹ und der ›posthumanistischen‹ Anteile der je- weiligen Praxis- und Techniktheorien ein Schlüsselthema. Andreas Reckwitz stellt bereits Anfang der 2000er-Jahre fest: Die Diskussion zwischen einer ›starken‹, post-humanistischen und ei- ner ›schwachen‹, post-wittgensteinianischen Theorie der Artefakte hat gerade erst begonnen [...] – ein Kernproblem für eine post-humanisti- sche Artefakttheorie dürfte darin bestehen, inwiefern es ihnen gelingt auch die Konzepte des praktischen Wissens und Verstehens nicht nur auf humane Träger von Praktiken, sondern auch auf nicht-humane Trä- ger anzuwenden [...].36 and practice; Dang-Anh u.a.: Medienpraktiken. Vgl. zudem Schüttpelz: »Elemente einer Akteur-Medien-Theorie«, S. 23f., hier insb. S. 49f. Vgl. auch schon Böhme u.a.: »Mediale Praktiken«; Winkler: Basiswissen Medien, S. 16. 32 Vgl. Weiser: »The Computer for the 21st Century«, S. 94. 33 Vgl. der Begriff der kognitiven Systeme wird in der Kognitionswissenschaft für die kogni- tiven menschlicher und nicht-menschlicher Akteure gebraucht. Vgl. Walter: Kognition. 34 Sprenger/Engemann: »Im Netz der Dinge«, S. 8. 35 Vgl. für eine Kritik von Thesen einer starken Praxeologie am Beispiel des Medium Geldes Schröter: »Die Verdrängung des Geldes in der Akteur-Netzwerk-Theorie«; vgl. auch die philosophischen Hinweise zu den Einseitigkeiten der Praxistheorien bei Bertram: »Im An- fang war die Tat«, S. 216-220. 36 Vgl. Reckwitz: »Grundelemente einer Theorie der Praxis«, S. 298. NAVIGATIONEN 12 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN MEDIEN UND IMPLIZITES WISSEN Das Verhältnis von implizitem Wissen zum Gebrauch von Computern im Alltag war schon in den ersten Entwürfen zum ubiquitous computing ein Leitmotiv. In seinem viel zitierten Aufsatz the computer for the 21st century konzipiert Mark Weiser den Umgang mit ›ubiquitären‹ Computern als eine Praxis, die analog zum Lesen und Schreiben zu verstehen sei. Einher geht damit eine ›implizite‹ Art des Umgangs mit diesen Medien: Computer scientist economist and Nobelist Herbert A. Simon calls this phenomenon ›compiling‹; philosopher Michael Polanyi calls it the ›tacit dimension‹; psychologist J. J. Gibson calls it ›visual invariants‹; philoso- phers Hans Georg Gadamer and Martin Heidegger call it the ›horizon‹ and the ›ready-to-hand‹; John Seely Brown of PARC calls it the ›peri- phery.‹ All say, in essence, that only when things disappear in this way are we freed to use them without thinking and so focus beyond them on new goals.37 Weisers Ideen sind durch Michael Polanyis Beschreibung des impliziten Wissens inspiriert.38 Zugleich lässt sich mit Weisers Bemerkung eine Schnittstelle benennen, an der sich der Problemgehalt von ›implizitem Wissen‹ im Kontext der gegenwär- tigen Medienkultur manifestiert. Implizites Wissen ist unhinterfragtes, nicht voll- ständig explizierbares, aber abrufbares Wissen – ein Wissen, das im ›Hintergrund‹ bleibt und in Momenten der Störung auffällig wird.39 In ähnlichem Fahrwasser bewegt sich Mark Weiser. Als Idealfall der Herstellung der ›Transparenz‹ des ubiquitous computing sieht Weiser die unreflektierte Wahr- nehmung eines Straßenschildes an – also das Befolgen eines sozialen Regelsystems, das zwar eine Menge expliziter Regeln kennt, die Akte der praktischen Befolgung aber nicht determiniert.40 Das Handeln mittels konventionalisierter Zeichen ma- nifestiert sich in einer unhinterfragten Gewohnheit (habit).41 Allerdings ist auch zu 37 Weiser: »The Computer for the 21st Century«, S. 94. Vgl. zu den philosophischen Ein- flüssen bei Weiser hier Sprenger: »Die Vergangenheit der Zukunft«, S. 73-76 sowie S. 82f. Vgl. zu Heideggers Rolle im Kontext von Theorien impliziten Wissens Loenhoff: »Zur Reichweite von Heideggers Verständnis impliziten Wissens«. 38 Vgl. Polanyi: The Tacit Dimension, S. 9f. Polanyis Buch ist die erste Empfehlung, die Wei- ser als »Further Reading« gibt. Und es ist die einzige Referenz auf ein philosophisches bzw. sozialtheoretisches Werk in dieser Liste. Vgl. Weiser: »The Computer for the 21st Century«, S. 104. 39 Vgl. Jäger: »Störung und Transparenz«; Renn: »Wissen und Explikation«. Der Begriff des ›Hintergrunds‹ gehört zu den Schlüsselbegriffen in zeitgenössischen Theorien des impli- ziten Wissens. Die genaue Diskussion kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Vgl. Gascoigne/Thornton: Tacit Knowledge, S. 107-132. Vgl. zudem die Beiträge in Maeder u.a.: Ambient. 40 Weiser: »The Computer in the 21st Century«, S. 94; vgl. Collins: »Drei Arten impliziten Wissens«, S. 106. 41 Theodore Schatzki versteht Praktiken als »nexus of doings and sayings« (zit. nach Reck- witz: »Grundelemente einer Theorie der Praxis«, S. 290). In Abwandlung dieser bekann- ten Formulierung kann man hier auch von einem ›schematischen Nexus aus Semiose und Praxis‹ sprechen, wobei die historische Anspielung an die Bedeutung des Schemabegriffs NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 13 CHRISTOPH ERNST bedenken, dass solche Medienprozesse in Zeiten des ubiquitous computing, wie es bei Florian Sprenger und Christoph Engemann heißt, »kaum noch von Endgeräten her verstanden werden«, sondern in ihrer »infrastrukturellen, umgebenden und temporalen Dimension durchdacht werden« müssen.42 Um im Bild zu bleiben: Die an das Schild gebundenen Realisierungen einer Handlungsregel sind in Szenrien all- gegenwärtiger Computer mit einer Infrastruktur verbunden, in der eine möglichst große Zahl von Aspekten dieser Realisierungen registriert, ausgewertet und in zu- künftigen Operationen des Netzwerks berücksichtigt werden. Um dieses Spannungsverhältnis zwischen Endgerät, implizitem Wissen und in- frastrukturellem Netzwerk in seinem Bezug zum impliziten Wissen zu verstehen, ist die neuere Debatte um Interfaces hilfreich.43 Ausgehend vom Verständnis des In- terfaces als graphical user interface (GUI) sind im Kontext von Interface-bezogenen Diskursen, etwa im Interface-Design, die praktischen und kognitiven Implikationen von impliziten Wissen vielfältig diskutiert worden.44 Interfaces sind dabei aber eben nicht nur ›Endgeräte‹, sondern im weitesten Sinne ›Anordnungen‹ zwischen Praxis und digitaler Medieninfrastruktur.45 Zwar tendiert der Diskurs zum ubiquitous com- puting in seiner Fokussierung auf die Infrastrukturen dazu, den Interface-Begriff für obsolet erklären.46 Allerdings ratifiziert dieser Vorbehalt nur den Idealzustand, den Interfaces anstreben. Interfaces versuchen, einen Medienprozess ›natürlich‹ oder ›bruchlos‹ erscheinen zu lassen.47 Sie können als die ›Regulatoren‹ derjenigen ›infra- strukturellen‹ Relationen aufgefasst werden, die das ubiquitous computing und auch das Internet der Dinge allererst kennzeichnen.48 Interfaces sind Umschlagpunkte, an denen die computerbasierte ›Umwelt‹ und das in Praktiken verkörperte implizi- te Wissen interagieren. Somit aber ist man wieder auf die Frage zurückverwiesen, wie implizites Wissen und Medien zusammengehen. ausdrücklich gewünscht ist. Charles S. Peirce hat seinen pragmatistischen Zeichenbegriff in Auseinandersetzung mit Immanuel Kants Schemabegriff entwickelt. Vgl. Eco: Kant und das Schnabeltier; vgl. zu habits als strukturierten Schemata im implizitem Wissen Määt- tänen: Mind in Action, insb. S. 29-51. Vgl. medientheoretisch auch Winkler: »Schemabil- dung«. 42 Sprenger/Engemann: »Im Netz der Dinge«, S. 11. 43 Vgl. Hookway: Interface, zum impliziten Wissen insb. S. 123-129. 44 Zum implizitem Wissen im Verhältnis zum Design generell vgl. Mareis: Design als Wis- senskultur, S. 247-276, dies.: Theorien des Designs, S. 184-197. Die Forschungsliteratur zum Verhältnis von Interface und implizitem Wissen findet sich in den Beiträgen des vor- liegenden Heftes. 45 Vgl. Distelmeyer: Machtzeichen. Auch bietet der Begriff die Möglichkeit, den Rückbezug zu anderen medialen Kontexten, insbesondere der Analyse der AV-Medien wie dem Film, aber auch Phänomenen im Bereich Computerspiel, Medienkunst und allgemeiner Ästhe- tik zu wahren. Vgl. exemplarisch die Beiträge in Grabbe u.a.: Bild und Interface, dies.: Bildkörper; zum Film weiterführend auch Jeong: Cinematic Interfaces. 46 Vgl. Sprenger: »Die Vergangenheit der Zukunft«, S. 78ff. 47 Vgl. dazu auch Distelmeyer: Machtzeichen. 48 Hier sind relationale und dynamische Interface-Begriffe hilfreich, die das Interface als ›Prozess‹ oder ›Effekt‹ beschreiben, vgl. etwa Distelmeyer: Machtzeichen, Galloway: The Interface-Effect; Hookway: Interface. NAVIGATIONEN 14 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN MEDIEN UND IMPLIZITES WISSEN 3. IMPLIZITES WISSEN IM KONTExT MEDIENWISSENSCHAFTLICHER THEORIEBILDUNG Für die Medientheorie ist es sehr dankbar, dass Mark Weiser die Habitualisierun- gen, die er als Effekte des ubiquitous computing im Sinne kognitiver Entlastungung als ›Transparenz‹ und ›Unsichtbarkeit‹ fasst, als eine neue Praxis des Lesens und Schreibens verstehen will. Das Handeln in diesen computerisierten Umgebungen wird als eine Art von Kulturtechnik erachtet.49 Schwierig zu bestimmen, wie der Begriff der Kulturtechnik auch sein mag, ist er für die Schnittstelle zwischen Me- dientheorie und implizitem Wissen grundlegend wichtig.50 Man kann in diesem Zu- sammenhang an Marcel Mauss’ Begriff der Körpertechniken erinnern.51 Für den vorliegenden Kontext ist die neuere, kumulative Bestimmung von Kulturtechniken von Sybille Krämer und Horst Bredekamp aber zweckdienlicher. Der Differenz zwischen implizitem und explizitem Wissen fällt dabei eine Schlüsselrolle zu: Kulturtechniken sind (1) operative Verfahren zum Umgang mit Dingen und Symbolen, welche (2) auf einer Dissoziierung des impliziten ›Wis- sen wie‹ vom expliziten ›Wissen dass‹ beruhen, somit (3) als ein kör- perlich habitualisiertes und routinisiertes Können aufzufassen sind, das in alltäglichen fluiden Praktiken wirksam wird, zugleich (4) aber auch die aisthetische, material-technische Basis wissenschaftlicher Innovatio- nen und neuartiger theoretischer Gegenstände abgeben kann. Die (5) mit dem Wandel von Kulturtechniken verbundenen Medieninnovatio- nen sind situiert in einem Wechselverhältnis von Schrift, Bild, Ton und Zahl, das (6) neue Spielräume für Wahrnehmung, Kommunikation und Kognition eröffnet. Spielräume, (7) die in Erscheinung treten, wo die Ränder von Disziplinen durchlässig werden und den Blick freigeben auf Phänomene und Sachverhalte, deren Profil mit den Grenzen von Fach- wissenschaften gerade nicht zusammenfällt.52 Kulturtechniken werden in diesem Passus als querlaufende, nicht an Systemdiffe- renzierungen (Fachgrenzen) gebundene Praktiken gedacht.53 Sie sind kreativ und können relativ zum Medienwandel und zu semiotischen Basismedien bestimmt werden. Überdies dienen sie als Rahmenbedingung für das Erscheinen von neuar- tigen Phänomenen. Die Formulierung einer »Dissoziierung«, also eines ›Trennens‹ und ›Auseinanderfallens‹ von implizitem und explizitem Wissen (oder sogar ›Auf- 49 Vgl. auch Weiser/Seely Brown: »Das kommende Zeitalter der calm technology«, S. 63ff. 50 Vgl. Siegert: »Kulturtechnik«; Maye: »Was ist eine Kulturtechnik?«; Winthrop-Young: »The Kultur of Cultural Techniques«; Schüttpelz: »Die medienanthropologische Kehre der Kul- turtechniken«. 51 Vgl. Mauss: »Die Techniken des Körpers«; dazu Schüttpelz: »Körpertechniken«; Maye: »Was ist eine Kulturtechnik?«; Schüttpelz: »Elemente einer Akteur-Medien-Theorie«, S. 59f. 52 Krämer/Bredekamp: »Kultur, Technik, Kulturtechnik«, S. 18. 53 Vgl. auch Schüttpelz: »Elemente einer Akteur-Medien-Theorie«, S. 49-56, S. 59f. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 15 CHRISTOPH ERNST lösens‹ der Unterscheidung selbst), bezieht sich auf den Moment einer kognitiven ›Auslagerung‹: Kulturtechniken erlauben ein Denken und Handeln mit »Dingen und Symbolen«, in dessen Vollzug keine Reflexion stattfindet, aber komplexe Inferen- zen und Problemlösungen möglich sind.54 Die ›Operativität‹ dieses Effektes besteht darin, dass Medien wie die Schrift ausgehend von Erkenntnisprozessen gedacht werden, die aus der Relation zwi- schen Materialität und zeichenhafter Inskription heraus ›selbsttätig‹ verfahren.55 Beispielsweise können im Fall der Schrift aus dem Zusammenspiel von notationa- ler Struktur des Zeichensystems, der praktischen Handhabbarkeit von Schrift (als räumlichem Objekt) und der technologischen Prozessierbarkeit der Schriftzeichen Erkenntniseffekte beobachtet werden, die sich nicht an ein subjektives Bewusstsein rückbinden lassen. Angewendet auf das implizite Wissen geht mit Kulturtechniken zwar der Effekt der Selbstwahrnehmung einer Kompetenz oder Fertigkeit einher. Jenseits der Erklärung als eines persönlichen ›Vermögens‹ liegen jedoch gegenüber einem intentionalen Subjekt autonom generierte Erkenntnisleistungen vor. Was als implizite ›Kompetenz‹ oder ›Fertigkeit‹ auf Ebene des impliziten Wissens vom Bewusstsein erfahren wird, ist aus Sicht der Kulturtechnikforschung nie in einem ›innerlichen‹ Sinn persönlich, auch wenn es eine kognitive Komponente gibt.56 Die- ser ›Überschuss‹ im Vollzug eines ›operativen‹, praktischen Erkenntnisprozesses wird – aufbauend auf einer langen Tradition – auch als ›Exteriorität‹ der Kognition gefasst.57 Der Kulturtechnikbegriff bezieht sich auf das Zusammenspiel von ›Techniken‹ im Sinne von Praktiken wie auch als Technik im Sinne von eingesetzter medien- technischer ›Hardware‹.58 Im Feld der Diskussion um implizites Wissen bildet sich diese Doppelung ebenfalls ab. Begriffe des impliziten Wissens wie ›Automatisie- rung‹ oder ›Regel‹ sind schillernd, weil sie beide Bedeutungsebenen enthalten.59 Im Fall der ›Regel‹ ist etwa auf die Ambiguität von Regelfolgen (als sozialer Praxis) 54 Vgl. zur semiotischen Dimension der Medien auch Winkler: »Zeichenmaschinen«. 55 Vgl. Maye: »Was ist eine Kulturtechnik?«, S. 125f. Vgl. Sybille Krämers Arbeiten zur Schrift- bildlichkeit, u.a. Krämer: »Operationsraum Schrift«. Vgl. zudem Grube u.a.: Schrift; Za- netti: Schreiben als Kulturtechnik; Siegert: »Kulturtechnik«, S. 107-112. Vgl. zum Begriff ›Prozessieren‹ und seinen Problemen Winkler: Prozessieren. 56 Vgl. mit der umgekehrten Perspektive, also der Rückbindung des ›Überschusses‹ an die Erfahrung des Menschen, Böhme u.a.: »Mediale Praktiken«, S. 201f. Vgl. zur Vorgängigkeit normativer (nicht materieller) Bedingungen des impliziten Wissens auch Loenhoff: »Ein- leitung«. 57 Vgl. zur »Exteriorität des Geistes« etwa die Beiträge in Koch/Krämer: Schrift, Medien, Kognition sowie neuerdings Fingerhut u.a.: Philosophie der Verkörperung. 58 Vgl. Winkler: Basiswissen Medien, S. 91. 59 Gemeint ist hier die Begriffsverwendung von ›Automatisierung‹ im Sinne ›automatisch‹ abrufbarer Handlungsmuster. So liest man in einschlägigen Kampfsport-Publikationen: »Mit dem 2. Dan verfestigt sich der Meister. Seine Techniken und erkennbar besser auto- matisiert und freier verfügbar als in der Prüfung zum 1. Dan.« Vgl. DJJV: Ju-Jutsu 1x1, S. 220. Vgl. zum impliziten Wissen im Kampfsport die Studie von Schindler: Kampffertigkeit. Vgl. weiterführend die verschiedenen Publikationen des DFG-Graduiertenkollegs 1479: ›Automatismen – Kulturtechniken zur Reduzierung von Komplexität‹. NAVIGATIONEN 16 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN MEDIEN UND IMPLIZITES WISSEN und Regularität (als kausaler Ereigniskette) hingewiesen worden.60 Unter Lizenz eines essayistischen Wortspiels kann man derartige Doppeldeutigkeiten ausbauen. Implizites Wissen ist als ein Geschehen verständlich, in dem sich Regelfolgen und Regularität in einem Verhältnis der ›Regulierung‹ derjenigen Relation befinden, in der beide Prozesse stehen. Dieser Gesamtprozess ist – je nach Einschätzung der kognitiven und sozialen Merkmale des Regelfolgens – potenziell kybernetisch mo- dellierbar (oder auch nicht...) und wird über Interfaces vermittelt.61 Aus Sicht der Kulturtechnikforschung kann der mit implizitem Wissen assozi- ierte ›Überschuss‹ mithin über die alt bewährte medientheoretische Argumentati- onsfigur einer ›konstitutiven Vorgängigkeit‹ erklärt werden. Theoretisch lässt sich diese Figur wiederum sehr unterschiedlich begründen. An ihre (jüngere) theorie- geschichtliche Genese muss hier stichpunktartig erinnert werden, weil die Kultur- technikforschung ein Bindeglied zwischen verschiedenen Varianten des Denkens jener ›Vorgängigkeit‹ darstellt: 1 Materialität und Kommunikation – Prozesse der medialen Konstitution von Be- deutung sind auf ihr materielles Außen bezogen. Sie können nicht einer subjek- tiven ›Innerlichkeit‹ zugerechnet werden. Es existiert eine ›Vorgängigkeit‹, die unter dem Eindruck poststrukturalistischer Theorien lange Zeit als das ›mate- rielle Außen‹ zeichenhafter Strukturen gefasst wurde.62 2 performativität und operativität – Dieses ›Außen‹ bzw. das ›Offene‹ der Struk- tur lässt sich im Rahmen eines erweiterten Performativitätsbegriffs als die Nichtfestgelegtheit von Strukturen beschreiben. Performativität gilt als ›Her- vorbringung‹, die Strukturen durch Wiederholung festschreibt und verändert. Begriffe wie ›Operativität‹ deuten diese Perspektive (kultur-)technisch um: Re- präsentation, Hervorbringung und Ausführbarkeit werden in einer ›Operation‹ zusammengezogen.63 3 Kulturtechnik und praxis – Durch die Operativität kommt die ›Vorgängigkeit‹ von Praktiken der Konstitution des Verhältnisses von Kultur, Medien und Technik unter praxistheoretischen Vorzeichen in Reichweite. Im Rahmen der Kulturtechnikforschung stehen nicht länger das materielle ›Außen‹ oder das ›Offene‹ einer Struktur im Fokus, sondern die ›Operationsketten‹ des prak- tischen Umgangs mit materiellen Dingen, die sich unter anderem im Prozess 60 Vgl. Schmidt: »The Trouble with Tacit Knowledge«, S. 187. 61 Vgl. als Anschlussmöglichkeit im medientheoretischen Diskurs die Ausführung zur Regu- lierung in Sprenger/Engemann: »Im Netz der Dinge«, S. 21f., S. 33. Vgl. für eine kritische Diskussion kybernetischer Ordnungsmodelle und anhängiger posthumanistischer Tech- niktheorien Mersch: Ordo ab Chao. 62 Vgl. u.a. Gumbrecht/Pfeiffer: Materialität der Kommunikation; Mersch: Was sich zeigt. 63 Vgl. Wirth: Performanz. Vgl. Kertscher/Mersch: Performativität und Praxis; vgl. zudem Krämer: Performativität und Medialität. Vgl. zur Operativität bzw. Operationalität insb. Koch/Krämer: Schrift, Medien, Kognition; Krämer/Bredekamp: Bild, Schrift, Zahl. Vgl. auch Maye: »Was ist eine Kulturtechnik?«, S. 125f. Vgl. kritisch zum Operativitätsbegriff Mersch: »Kritik der Operativität«, der u.a. auf die Unterschiede zwischen Praxis, Perfor- mativität und Operativität hinweist. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 17 CHRISTOPH ERNST der nachträglichen Verfestigung einer familienähnlichen Gruppe von Praktiken zu einem Typ von Medium (›Bild‹ etc.) verfolgen lassen.64 4 Akteure, netzwerke, umweltlichkeit – Diese ›Vorgängigkeit‹ wird allerdings nicht mehr nur aus Körpertechniken abgeleitet, sondern schließt die ›Agency‹ nicht- menschlicher Akteure sowie einen Begriff verteilter Handlungsmacht ein, die im Rahmen einer Akteur-Medien-Theorie oder im Kontext einer technikphi- losophisch inspirierten Theorie der ›Umweltlichkeit‹ der Medien in der Ära des ubiquitous computing und des Internets der Dinge ausformuliert werden.65 Implizites Wissen ist spätestens mit der Performativitätsdiskussion in den Theo- riebildungen unterschwellig präsent. Vom sozialen Regelfolgen, dem Beherrschen von skills bis hin zu den Effekten verteilter Wissensprozesse stellt ein Denken der tacit dimension eine Aufgabe einer Medientheorie dar, die in ihren jeweiligen Wen- dungen die ›Auslagerung‹ und ›Äußerlichkeit‹ von Wissen und die Vorgängigkeit von Medienpraktiken beschreibt. Viel hängt dabei von der Einschätzung der bei Jens Loenhoff charakterisierten ›starken‹ oder ›schwachen‹ Fassung des Begriffs von im- plizitem Wissen ab. Eine medienwissenschaftliche Auseinandersetzung mit implizitem Wissen fin- det im Verständnis von Medien als Instanzen der Explikation einen guten Start- punkt. Allerdings folgt dieser Ansatz Polanyis häufig ›stumm/sagbar‹-Differenz.66 In dieser Perspektive droht die Gefahr, den ›starken‹ Begriff von implizitem Wissen als ›amedialen‹ – weil nicht-explizierbaren – Begriff zu veranschlagen, auf Seiten des Menschen zu lokalisieren und in eine Frontstellung gegen Medienprozesse zu manövrieren, die diesen ›stummen‹ Überschuss nicht auflösen können. Implizites Wissen wird nicht selten mit einem neuen Fundamentalismus des Körpers verbun- den. Außen vor bleibt, dass implizites Wissen auch ein relationaler und kollektiver Sachverhalt ist.67 Die Vielschichtigkeit der Beziehung zwischen Medientheorie und Theorien des impliziten Wissens besteht aus Sicht der Kulturtechnikforschung dagegen dar- in, dass Medien nicht nur in allen Bereichen impliziten Wissens relevante Größen sind, sondern dass – ausgehend von einem starken Begriff von implizitem Wissen gedacht – das starke implizite Wissen ein Wissen um mediale ›Auslagerung‹ ist. Die 64 Vgl. u.a. Macho: »Zeit und Zahl«; Schüttpelz: »Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken«; Maye: »Was ist eine Kulturtechnik?«; Siegert: »Kulturtechnik«; Win- throp-Young: »The Kultur of Cultural Techniques«. Vgl. kulturanthropologisch auch Wulf: Vom Menschen. Vgl. weiterführend die präzise Kritik der Vorgängigkeitsfigur am Beispiel des Begriffs der Operationskette bei Heilmann: »Zur Vorgängigkeit der Operationskette«; vgl. dazu auch die Replik von Schüttpelz: »Die Erfindung der Twelve-Inch«, im vorliegen- den Kontext insb. die Ausführungen zur »Abspaltung menschlicher ›skills‹ von technischen Werkzeugen und Medien« (ebd., S. 227f.). 65 Vgl. Maye: »Was ist eine Kulturtechnik?«; Siegert: »Kulturtechnik«. Vgl. Thielmann/Schütt- pelz: Akteur-Medien-Theorie; Hörl: Die technologische Bedingung, insb. ders.: »Die tech- nologische Bedingung«; Sprenger/Engemann: Internet der Dinge, vgl. insb. dies.: »Im Netz der Dinge«, S. 24-29. 66 Vgl. hierzu auch Ernst: »Präsenz als Form einer Differenz«. 67 Vgl. Collins: »Tacit and Explicit Knowledge«; ders.: »Drei Arten impliziten Wissens«. NAVIGATIONEN 18 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN MEDIEN UND IMPLIZITES WISSEN Medientheorie zeigt, dass eine Begründung eines starken Begriffs von implizitem Wissen mediale ›Exteriorität‹ voraussetzt. Was bei Sybille Krämer und Horst Bre- dekamp als »Dissoziierung« des impliziten und des expliziten Wissens beschreiben, beginnt in den Praktiken des Alltags. Und es ist die darauf aufbauende medientheo- retische Frage, wie reibungslos sich die Effekte dieses Vorgangs über die Perfor- mativität des Zeichenhandelns hinaus in materielle Operativität, Operationsketten und posthumane Akteursperspektiven fortsetzen lassen. Umso wichtiger ist es, in Bezug auf das Denken der zeitgenössischen Medien- formationen wie des ubiquitous computings diejenigen Theorieentwürfe nicht unter den Tisch fallen zu lassen, die posthumanistische Alternativen zur Unterscheidung implizit/explizit im Kontext einer Theorie von Umweltbeziehungen schon lange vorgelegt haben. Zu erinnern ist hier an Niklas Luhmanns Verwendung des Be- griffs der »strukturellen Kopplung«. Luhmann versteht die strukturelle Kopplung expressis verbis als einen Alternativbegriff zur Unterscheidung ›implizit/explizit‹ im Sinne von Michael Polanyis tacit knowledge.68 Die Unterscheidung ›implizit/expli- zit‹ gilt Luhmann als eine Zuschreibung eines Beobachters, der aus Perspektive zweiter Ordnung in einem psychischen oder sozialen System die »faktisch immer mitwirkenden Voraussetzungen von korrespondierenden (synchronen und deshalb nicht miterfaßbaren) Umweltereignissen mit in das Wissen hinein[sieht]« – der also erkennen kann, dass das jeweilige System »mehr weiß, als es weiß.«69 Verknappt gesagt, denkt Luhmann implizites Wissen als Begriff für nicht-thematische, aber für die Entwicklung eigener Operationen vorausgesetzte Umweltbeziehungen ei- nes psychischen oder sozialen Systems. Dabei finden sich jeweils auch Verhältnisse medialer Transkription, etwa als »Umformung« »analoge[r] in digitale Verhältnisse« durch das Medium der Sprache, die ein »kontinuierliches Nebeneinander in diskon- tinuierliches Nacheinander verwandelt.«70 Auch wenn man einer systemtheoretischen Abwicklung des Begriffs des im- pliziten Wissens nicht folgen will – wofür es, wie Joachim Renn gezeigt hat, gute Gründe gibt71 – sollte man die auf Kommunikation gestützte systemtheoretische Perspektive nicht vorschnell zu den Akten legen. Beispielsweise zeigt sich anhand der durch Interfaces regulierten strukturellen Kopplungen, dass die Attributierung ›implizit/explizit‹ ein Schema ist, das – je nach Kontext – weitere Unterscheidun- gen wie ›praktisch/reflexiv‹, ›transparent/intransparent‹ oder ›analog/digital‹ an- schlussfähig macht.72 Dies wiederum deutet indirekt nochmals auf den wichtigen Umstand hin, dass die Karriere des Konzeptes des impliziten Wissens diskursge- 68 Vgl. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 34-44, insb. S. 41ff.; ders.: Die Gesell- schaft der Gesellschaft (Bd. 1), S. 92-120. Vgl. zu Luhmanns struktureller Koppelung im Kontext von Medientheorie und implizitem Wissen auch Ernst: »Präsenz als Form einer Differenz«. 69 Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 42. 70 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (Bd. 1), S. 101; Polanyi: The Tacit Dimension, S. 4. 71 Vgl. Renn: Übersetzungsverhältnisse, hier insb. S. 149-160. 72 Vgl. Jäger: »Störung und Transparenz«, S. 63ff. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 19 CHRISTOPH ERNST schichtlich parallel zur Mediengeschichte des Computers verlaufen ist73 – bis hin zu der Tradition, an die Luhmann anknüpft, also die der second order cybernetics.74 Ein kurzes Beispiel aus den Anfangstagen sowohl der Theorie des impliziten Wissens wie auch des Computers vermag dies schlaglichtartig zu veranschaulichen. 4. HISTORISCHES SCHLAGLICHT: EINE DEBATTE ZWISCHEN ALAN TU- RING UND MICHAEL POLANYI Am 27. Oktober 1949 fand am philosophischen Seminar der Universität Manches- ter eine von Dorothy M. Emmet organisierte Debatte zum Thema »The Mind and the Computing Machine« statt.75 Beteiligt waren neben Geoffrey Jefferson, Max- well H. Newman und der Organisatorin auch Alan Turing und Michael Polanyi. Po- lanyi war von 1933 bis 1948 in Manchester zunächst Professor für physikalische Chemie und übernahm ab 1949 einen Lehrstuhl für Sozialwissenschaften. In dieser Zeit stand Polanyi auch in engerem Kontakt mit Alan Turing.76 Von der Debatte aus dem Jahr 1949 existiert ein fragmentarisches Typoskript, an dessen Bedeutung der Turing-Biograph Andrew Hodges erinnert hat. In der Fachforschung zu Michael Polanyi hat diese Quelle – dank der Arbeiten von Paul R. Blum – ebenfalls Aufmerk- samkeit auf sich gezogen.77 Im vorliegenden Zusammenhang lässt sich das Dokument als Prätext der Dis- kussion um die Relevanz von Theorien des impliziten Wissens im digitalen Zeital- ter lesen.78 Zu Beginn des Textes werden die Grundpositionen der Diskutierenden wiedergegeben. Bezugnehmend auf Kurt Gödels Unvollständigkeitssatz dreht sich die Debatte um das Problem, wie die Mensch/Maschine-Unterscheidung in Zeiten der ›universellen Maschine‹ problematisiert werden kann. Maxwell Newman for- muliert als die eigentlich interessante Frage dabei diese Ausgangsproblematik: 73 Dieser Umstand ist Gegenstand des oben erwähnten Forschungsprojektes, das eine Auf- arbeitung dieser Zusammenhänge am Beispiel der Ausdifferenzierung des Interface- und Interaction-Designs bis in heutige, körperbezogene Verständnisse von computing anstrebt. 74 Vgl. dazu auch Mersch: Ordo ab chao, S. 33-42. 75 Vgl. die Aufarbeitung in Blum: »Michael Polanyi«. 76 Vgl. Hodges: Alan Turing, S. 414f.; Polanyi hatte Turing ein Paper über Scientific Beliefs zukommen lassen, in dem es um die Grenzen der Objektivität und universellen Validität geht. Vgl. Blum: »Michael Polanyi«, S. 42. 77 Vgl. Blum: »Michael Polanyi«; ders.: »The Immortality of the Intellect Revived«. 78 Ich zitiere das Typoskript hier als Turing u.a.: »The Mind and the Computing Machine«. Eine gründliche Aufarbeitung des Typoskripts mitsamt editorischen Notizen findet sich bei Blum: »Michael Polanyi«. Dort findet sich (S. 52-55) auch eine ca. zwei Wochen später entstandene, ausführliche Zusammenfassung Polanyis zu der Debatte. Polanyi erwähnt die Debatte auch in seinen Schriften. Vgl. Polanyi: Personal Knowledge, S. 261ff. Das Typoskript ist an verschiedenen Stellen online zur Verfügung gestellt worden. Es hat fünf Seiten, wobei die ersten beiden Seiten im Digitalisat auf einer Seite wiedergegeben wer- den. Daraus ergibt sich die hier verwendete Paginierung nach dem Muster 1/2, 3, 4, 5. NAVIGATIONEN 20 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN MEDIEN UND IMPLIZITES WISSEN […] The interesting thing to ask is whether a machine could produce the original Gödel paper, which seems to require an original set of syn- theses. Direkt im Anschluss – also in Reaktion auf Newmans Einschätzung – heißt es dann zu Turings und Polanyis Positionen: TURING emphasises the importance of the universal machine, capable of turning itself into any other machine. POLANYI emphasises the Semantic Function, as outside the forma- lisable system.79 Turing betont die Anpassungsfähig- und Wandelbarkeit der universellen Maschine, an dieser Stelle wohl als Vermerk für ihre noch nicht vollständig beurteilbare, aber absehbare Leistungsfähigkeit. Polanyi dagegen bleibt unter Verweis auf semanti- sche Funktionen, die nicht formalisierbar sind, skeptisch. Im weiteren Verlauf der Diskussion stehen dann charakteristische Typen des Regelfolgens im Fokus der De- batte. Was sind die Regeln, denen Maschinen folgen, im Kontrast zu Regeln, denen Menschen folgen? Existiert ein Unterschied zwischen den kognitiven Kapazitäten den Menschen und der universellen Maschine? Wenn ja, welche Konsequenzen hat dieser Unterschied für die Konzeption und das Verständnis des Verhältnisses von Menschen und Computern? Als entscheidend gilt die Frage, was aus der Denkfigur der Unvollständigkeit formaler Systeme, wie Gödel sie beschreibt, abzuleiten ist.80 Die Grundfrage hat sich bis heute gehalten. Sybille Krämer bemerkt: Die Pointe der Gödelschen Beweisführung, die darin besteht, einen Satz über das formalisierte System innerhalb des Systems abzubilden, so daß dieser Satz seine eigene Unbeweisbarkeit behauptet, ohne da- bei in die logischen Fehler der Richardschen Antiomie zu verfallen, setzt Phantasie voraus. [...] Die Grenzen der Formalisierbarkeit sind die Grenzen des mechanisch verfahrenden, phantasielosen Verstandes. Die Auszeichnung unserer Vernunft liegt nicht nur darin, einer Regel folgen, sondern auch darin, eine Regel gegebenenfalls außer Kraft set- zen zu können. Ohne diese Fähigkeit zur Außerkraftsetzung könnten die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit wir formalisierte Syste- me aufbauen können, überhaupt nicht erfüllt werden.81 79 Turing u.a.: »The Mind and the Computing Machine«, S. 1/2. 80 Vgl. zu näheren Erläuterung von Gödels Gedanken hier Krämer: Symbolische Maschinen, S. 146-157. 81 Krämer: Symbolische Maschinen, S. 181. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 21 CHRISTOPH ERNST Das menschliche Bewusstsein gilt den Diskutanten als wesentlicher Unterschied in der Art, wie Menschen und wie Computer Regeln befolgen.82 In Bezug auf den Problemhorizont, der auch in späteren Debatten um das implizite Wissen wieder- kehrt, ist daran insbesondere aufschlussreich, wie Polanyi und Turing diese Diskus- sion aufnehmen und unter Klärung ihrer jeweiligen Positionen weiterführen. Das Typoskript enthält dazu den folgenden Austausch von Argumenten: TURING declares he will go back to this point: he was thinking of the kind of machine which tasks problems as objectives, and the ru- les by which it deals with problems are different from the objective. Cf. Polanyis’s distinction between mechanically following rules about which you know nothing, and rules about which you know. POLANYI tries to identify rules of the logical system with rules which determine our own behaviour, and these are quite different.83 Im Fokus steht hier der Status ›impliziter‹ Regeln für das menschliche Verhalten, der wiederum mit dem Problem des Bewusstseins für diese Regeln verknüpft wird. Inwiefern existiert ein Bewusstsein für Regeln innerhalb eines kognitiven Systems? Polanyi verwehrt sich gegen Turings Verweis, dass das ›mechanistische‹ Regelfol- gen nicht im gleichen Sinn ›implizit‹ ist, wie bei einer Maschine. Dies läuft auf eine wichtige Unterscheidung hinaus: Es gibt implizite Regeln im Sinne mechanischer Automatismen, die unbewusst ablaufen, und implizite Regeln, die zwar ›implizit‹ wirksam sind, Menschen dank ihres Bewusstseins aber ein Verständnis dieser im- pliziten Dimension haben. Doch wenn ein Bewusstsein für implizite Regeln – und damit potenziell für im- plizites Wissen – existiert, das nicht einfach nur automatisiertes oder unbewusstes Wissen ist, inwiefern ist es dann als Regelwissen spezifizierbar, mithin in the long run formalisierbar?84 Der entscheidende Dialog zwischen Turing und Polanyi, der sich um diese Frage dreht, folgt auf dem Fuß: TURING: a machine may act according to two different sets of rules, e.g. if I do an addition sum on the blackboard in two different ways: (a) by a conscious working towards the solution (b) by a routine, habitual method then the operation involves in the first place the particular method by which I perform the addition – this is conscious: and in the second place the neural mechanism is in operation unconsciously all the while. These are two different things, and they should be kept separate. 82 Turing u.a.: »The Mind and the Computing Machine«, S. 4. 83 Ebd. 84 Vgl. zum Begriff der Formalisierung auch Blum: »Michael Polanyi«, S. 41f. NAVIGATIONEN 22 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN MEDIEN UND IMPLIZITES WISSEN POLANYI interprets this as suggestion that the semantic function can ultimately be specified; whereas in point of fact a machine is fully speci- fiable, while a mind is not. TURING replies that the mind is only said to be unspecifiable because it has not yet been specified; but it is a fact that it would be impossible to find the programs into quite a simple machine – and we are in the same position as regards to the brain. The conclusion that the mind is unspecifiable does not follow. POLANYI says that this should mean that you cannot deicide logical problems by empirical methods. The terms by which we specify the operations of the mind are such that they cannot be said to have spe- cified the mind. The specification of the mind implies the presence of unspecified and pro-tanto unspecifiable elements. TURING feels that this means that my mind as I know it cannot be compared to a machine. POLANYI says that the acceptance as a person implies the acceptance of unspecified functions.85 Blickt man auf die Argumentationslinie zwischen Turing und Polanyi, so spitzt sich die Debatte gegen Ende auf den Punkt zu, inwiefern eine nicht-festgelegte Dimen- sion des Bewusstseins bzw. der ›Person‹ oder des personalen Erlebens existiert, die als unhintergehbar gegenüber einer programmierbaren Maschine angesehen wer- den muss. Relevant für die Interpretation ist im vorliegenden Kontext aber erst ein- mal nur, dass Polanyis Argument die Rolle eines ›Überschuss‹-Arguments annimmt. Polanyi behauptet, dass eine auf das Bewusstsein bzw. die Person und das personale Erleben bezogene Dimension der Nichtfestgelegtheit existiert.86 Diese Nichtfest- legbarkeit, die sich als eine Nichtfestgelegtheit gegenüber Regeln manifestiert und ihrer formalen Explikation sperrt, sieht er als eine unhintergehbare Bedingung von allen Praktiken der Formalisierung an.87 Sein Begriff einer ›semantischen Funktion‹ 85 Turing u.a.: »The Mind and the Computing Machine«, S. 4f. 86 Vgl. Polanyi: Personal Knowledge, S. 258: »[...] a formal system of symbols and operati- ons can be said to function as a deductive system only by virtue of unformalized supple- ments, to which the operator of the system accedes: symbols must be identifiable and their meaning known, axioms must be understood to assert something, proofs must be acknowledged to demonstrate something, and this identifying, knowing, understanding, acknowledging, are unformalized operations on which the working of the formal system depends.« 87 Vgl. Blum: »The Immortality of the Intellect Revived«, S. 173ff. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 23 CHRISTOPH ERNST beschreibt diesen Umstand.88 Assoziiert ist diese Nichtfestgelegtheit dabei eng mit dem menschlichen Bewusstsein. Die Rolle des Bewusstseins sieht Polanyi in einer, wie Paul R. Blum erläutert, »primordial capability of reflection on rules which itself is not bound to those rules.«89 In Notizen zu der Debatte, die Polanyi zwei Wochen nach der Debatte angefertigt hat, präzisiert er diese Leistung einer Reflexion (re- flection), indem er sich der Differenz informal/formal bedient: The ›informal‹ (non-formalisable) procedure by which we can generate an indefinite number of new axioms may be described as a process of reflection. For it starts from a contemplation of a mental process of our own and leads thence to new conclusions which lie beyond the previously defined range of our mental operations.90 Und einige Zeilen später heißt es: A parallel distinction that can be drawn between ›rules‹ and ›interpreta- tion of rules‹ can be perhaps more successfully established by informal argument. We are constantly applying in many fields of life, rules that cannot be applied according to any exact formal criteria.91 Während Polanyi die Nichtfestgelegtheit menschlichen Regelfolgens an die Fähig- keit zur Reflexion auf diese Regeln – und folglich der Voraussetzung eines impli- ziten Bewusstseins für diese Regeln – knüpft, fällt Turing auf Grundlage der bis- her zitierten Passagen die undankbare Rolle des Advokaten einer vorbehaltlosen Formalisierbarkeit zu. Diese Einstellung Turings drückt sich in seiner Feststellung aus, dass das Bewusstsein nur ›noch nicht‹ spezifiziert sei, aber – gegeben einer hypothetischen Weiterentwicklung der Möglichkeiten von Computern – in Zukunft spezifizierbar werde. Dennoch gibt es auch auf Turings Seite auch erhebliche Zwischentöne. Paul R. Blum stellt in seiner Diskussion des Typoskripts fest: Therefore it now also becomes clear what is at stake between Turing and Polanyi. They agree that a mathematical interpretation of thought is not all there is. Yet, Turing tries to find in thinking as much mathematical procedure as possible, while Polanyi aims at capturing with philosophi- cal precision that what remains.92 88 In Personal Knowledge (S. 258) schreibt Polanyi zu derartigen semantischen Funktionen: »These are performed by a person with the aid of the format system, when the person relies on its use.«; dazu Blum: »Michael Polanyi«, S. 41f. 89 Vgl. ebd., S. 40. 90 Vgl. Blum: »Michael Polanyi«, S. 52-55, hier S. 53. 91 Ebd., S. 54. 92 Ebd., S. 40. NAVIGATIONEN 24 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN MEDIEN UND IMPLIZITES WISSEN Um Blums Einschätzung nachzuvollziehen, ist zu bedenken, dass Turing in dieser Diskussion keineswegs sagt, dass mit der Spezifizierbarkeit von Bewusstseinspro- zessen auch das Problem des Selbsterlebens des Bewusstseins auf die Maschine bzw. den Computer übertragen werden kann. So jedenfalls kann man seinen Ein- wand gegenüber Polanyi verstehen, dass sich die Unspezifizierbarkeit nur auf das eigene Bewusstsein und das Wissen um das ›Selbst‹ bzw. ›Selbstwissen‹ bezieht. Auf Turings Seite deutet das auf eine differenziertere Position hin, als es die Aussage einer ›nur noch nicht‹ vollzogenen, prinzipiell aber vollziehbaren Spezifikation des Bewusstseins vermuten lässt. Denkt man diese etwas schwächere Position weiter, dann hat sie eine ent- scheidende Konsequenz. Man kann Turing nämlich auch so verstehen, dass das, was in seinen Augen nur vermeintlich ›nicht spezifizierbar‹ bzw. ›formalisierbar‹ ist, nicht ausschließlich auf das Bewusstsein im Sinne eines ›internen‹ Verständnisses von Wissen oder einer spezifischen, dem Bewusstsein immanenten, Fähigkeit zur ›Reflexion‹ zugerechnet werden kann, wie es bei Polanyi angedeutet wird.93 Der Unterschied zwischen Polanyi und Turing liegt dann nicht in dem Umstand, dass – wie auch Paul R. Blum betont – es prinzipiell ein ›Mehr‹ auf Seiten des Menschen gibt, sondern vielmehr in der Frage, wie dieses ›Mehr‹ verortet werden soll und in welcher Beziehung es zur universellen Maschine steht. Turing streitet also nicht ab, dass es eine kognitive Komponente eines Wissens gibt, die sich als ›nichtfestgelegt‹ beschreiben lässt. Wogegen Turing aber Vorbehalte hat, ist, dass diese Eigenschaf- ten als ein Merkmal für das menschliche Bewusstsein behauptet werden und dass das ›Mehr‹ genuin aus dem Bewusstsein hervorgeht. Turing spricht keiner bedin- gungslosen Formalisierbarkeit das Wort, sondern stellt, wenn auch unterschwellig, die Bedeutung des Bewusstseins als dem genuinen Trägermedium jenes ›Mehr‹ in Frage. Ausgehend von der Differenz Bewusstsein/Computer schließt, zumindest die- ser Lesart nach, Turing keineswegs aus, dass implizites Wissen als ein an Strukturen und Praktiken gebundener Sachverhalt in Erscheinung treten kann, dann aber in der bei Polanyi latent vorhandenen Übergeneralisierung als personales Wissen dem Be- wusstsein zugerechnet wird. Wenn aber Turing der Idee kritisch gegenüberstand, dass die ›semantische Funktion‹ als etwas ursächlich aus dem Bewusstsein Entste- hendes behauptet wird, dann verlagert sich das von Turing prinzipiell anerkannte Problem eines ›Überschusses‹ auf die Sphäre der sozialen Dimension des Vollzugs von Erkenntnisprozessen. Das macht aus Turing nun beileibe keinen Praxistheoretiker. Aber man sollte bedenken, dass die Idee der Spezifizierbarkeit und Formalisierung eine ist, die aus einer konkreten Praxis, nämlich dem Symbolgebrauch der Mathematik, hervor- geht. Sybille Krämer und Horst Bredekamp vermerken zu Turings Denken: Turing erschließt eine kognitive Dimension mit seinem Anspruch, dass sein Formalismus Explikation dessen ist, was ein menschlicher Rechner 93 Vgl. auch Polanyi: Personal Knowledge, S. 216f. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 25 CHRISTOPH ERNST tut, sobald er mit Papier und Bleistift, also schriftlich rechnet. [...] Turing führt also vor inwieweit (formale) Texte zugleich Maschinen sein kön- nen – und umgekehrt.94 Auf den vorliegenden Zusammenhang bezogen heißt das, dass Turing innerhalb seines Formalisierungsbegriffs die Seiten der sozialen Praxis im Auge hat, die ih- rerseits in Gestalt von Zeichensystemen selbst zur Formalisierung neigen. Genau diese Perspektive aber verschiebt auch sein Verständnis für die Frage nach impli- zitem Wissen. Implizites Wissen ist nur sekundär ein Problem des Bewusstseins. Es entspringt primär – dies würde dann auch für die ›Reflexion‹ gelten, die Polanyi stark macht – der Praxis des Umgangs mit Zeichen und Dingen, einer Praxis, die ihrerseits hochgradig habitualisiert und mithin ›automatisiert‹ sein kann. Einen Hinweis, dass Turing im Kontext der Debatte einen Begriff für implizites Wissen in diesem praktischen und sozialen Sinn hatte, findet sich gleich auf der ersten Seite des Typoskripts. Dort ist ein Statement von Turing wiedergegeben, in dem es unzweideutig heißt: TURING: One may ›play about‹ with a machine and get the desired result, but not knowing the reason; an element of this kind enters both into engineering and operating it.95 Turing beschreibt die Situation, dass sowohl auf Ebene des ›Herstellens‹ als auch des ›Operierens‹ mit Maschinen eine gelingende Interaktion eben nicht notwen- digerweise ein vollständiges, explizites Wissen um die Funktionsweise einer Ma- schine voraussetzt. Der Umgang mit der Maschine kann Ergebnisse erzielen, ohne dass man alle Bedingungen und Regeln kennt. Die Interaktion mit einem Computer besteht in einer Praxis des ›Herumspielens‹, die Ergebnisse produziert, ohne dass man weiß, warum. Es gibt Praktiken des Umgangs mit dem Computer, die an ei- ner ›Oberfläche‹ bleiben, selbst aber kein Verständnis für die ›Tiefe‹ der Maschine haben – oder anders: Jedes Verständnis für die ›Tiefe‹ manifestiert sich immer auch in einem Set von Praktiken, für die man eben in der Praxis keine expliziten Regeln angeben kann.96 Zweifelsohne: Man muss dieser Interpretation von Turings Statement nicht folgen. Mit guten Gründen kann man sich zum Beispiel gegen meine Verwendung der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe verwehren. Dennoch bleibt die von Turing klar auf den Punkt gebrachten Möglichkeit eines gelingenden, auf einen epi- stemischen Zweck (»get the desired result«) ausgerichteten Handelns ohne ge- nauere Kenntnis oder gar Explikationsfähigkeit der tieferliegenden Zusammenhän- ge. Deutlich sagt Turing, dass eine Unterscheidung zwischen gelingendem Handeln – und seinen impliziten Bedingungen – sowie explizitem Wissen um die Operati- 94 Krämer/Bredekamp: »Kultur, Technik, Kulturtechnik«, S. 13. 95 Turing u.a.: »The Mind and the Computing Machine«, S. 1/2. 96 Dies setzt, wie oben erwähnt, voraus, dass man die Differenz ›implizit/explizit‹ mit der Differenz ›Oberfläche/Tiefe‹ und ›Transparenz/Intransparenz‹ verrechnen kann. NAVIGATIONEN 26 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN MEDIEN UND IMPLIZITES WISSEN onsweise der Maschine existiert, die sowohl auf Seiten der Nutzung als auch auf Seiten der Herstellung der Maschine relevant ist, also in der sozialen Sphäre des praktischen Umgangs mit der Maschine. Der Kontext stützt die Interpretation, dass es Turing an dieser Stelle tatsächlich um implizites Wissen in einem praktischen, sozialen Sinn ging und eben nicht um implizites Wissen als genuine Leistung des Bewusstseins. Das Statement schließt an die oben bereits angeführten Zitate an, in denen Turing die Transformierbarkeit der universellen Maschine betont und Polanyi auf der Eigenständigkeit der seman- tischen Funktion außerhalb formalisierbarer Systeme beharrt. Turing antwortet auf einen Diskussionsbeitrag des Neurochirurgen Geoffrey Jefferson, der auf dem nicht-mechanistischen Charakter des Bewusstseins im Unterschied zu mechanisti- schen Körperfunktionen beruft, in dem er die Automatismen des »respiratory sys- tem« anführt.97 Dass aber in der Diskussion eine Differenz zwischen körperlichen Automatismen, die mit den Leistungen der universellen Maschine verglichen wer- den, und Bewusstseinsleistungen, die nicht spezifizierbar und formalisierbar sind, zur Debatte standen, gibt der Deutung von Turings Statement Plausibilität.98 Wenn die Logik eines menschlichen Regelfolgens nicht mechanistisch ausgelegt werden kann und der Computer nicht einfach über sie verfügt, dann ist die Exi- stenz dieses Wissens an die Dimension des praktischen Umgangs mit der Maschine gebunden. Implizites Wissen ist demnach gerade kein genuines Phänomen des Be- wusstseins, sondern stets ein Effekt der Praktiken in der sozialen Sphäre. Obwohl Turing also eine kompatible Beobachtung zu implizitem Wissen macht und ja auch auf Polanyis Argument referiert, dass es Regeln gibt, denen man mechanisch folgt und solche Regeln, von denen man etwas weiß, bleibt er gegenüber den bei Polanyi vertretenen Schlussfolgerungen kritisch. In Polanyis enger Assoziation der später so genannten ›stummen‹ Dimension des Wissens mit dem Bewusstsein erkennt Turing keine Gründe, die seinen eigenen Ansatz gefährden. Ob daraus auch folgt, dass die von Turing andeutungsweise beschriebene implizite Dynamik sozialer Praktiken selbst formalisierbar ist, steht auf einem anderen Blatt.99 Selbstredend ist diese Debatte nur ein Ausschnitt. Aber Polanyi und Turing haben ihre Positionen unter direktem Bezug aufeinander entwickelt. Folgt man der Darstellung von Paul R. Blum, dann hatte die Debatte aus dem Herbst 1949 direk- ten Einfluss auf Alan Turings Text computing Machinery and intelligence und Michael Polanyis Buch personal Knowledge. Und selbst wenn Turing, idealtypisch gesagt, der 97 Turing u.a.: »The Mind and the Computing Machine«, S. 1/2. 98 Paul R. Blum argumentiert in eine ganz ähnliche Richtung, wenn er den wechselseitigen Einflüssen zwischen Polanyi auf Turing nachgeht. Vgl. Blum: »Michael Polanyi«, S. 43f. In der Forschung zum impliziten Wissen werden automatisierte Körperfunktionen unter- schiedlich bewertet. Während etwa Jens Loenhoff (vgl. »Einleitung, S. 16) sozial vermit- telte Praktiken und ihre Normativität zum zentralen Phänomen erklärt, betrachtet Harry Collins (vgl. »Drei Arten impliziten Wissens«, S. 92) auch automatisierte Reiz-Reaktions- Mechanismen von Tieren als implizites Wissen. 99 Die Debatte zeigt, dass die Frage nach implizitem Wissen schon damals komplexer war als die Differenz von Geist und Maschine, Bewusstsein und Computer, die sich über die Jahre tradiert hat. Vgl. auch Mersch: Ordo ab chao, S. 72f., hier insb. Anm. 73. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 27 CHRISTOPH ERNST Idee der Formalisierbarkeit gefolgt ist, Polanyi hingegen seine Idee des personalen Wissens entwickelt hat, scheinen sich beide in der Existenz einer Dimension des impliziten Wissens prinzipiell einig gewesen zu sein. Was divergiert, ist die Ein- schätzung hinsichtlich der bedingenden Faktoren und der Auflösbarkeit von impli- zitem Wissen in formale Codes. Die Fragen, die später unter der Überschrift tacit knowledge bzw. ›implizites Wissen‹ prominent geworden sind, sind ein wichtiger argumentativer Kontext auch der Bestimmung der Leistungen des Computers als universeller Maschine.100 Differenzen wie die zwischen informal dimension und for- mal dimension der Praxis gehören jedenfalls bis heute zu den grundlegenden Span- nungen in der Debatte um Medien und implizites Wissen.101 5. DIE BEITRÄGE DES HEFTES Die Beiträge des vorliegenden Heftes sind größtenteils im Kontext des Workshops interfaces & implizites Wissen der AG Interfaces der Gesellschaft für Medienwis- senschaft (GfM) am 09.06.2017 an der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn entstanden. Sie greifen die oben skizzierten Problemstellungen rund um das Verhältnis von Medien und implizitem Wissen insofern auf, als sie an die bereits er- wähnte Bedeutung des Interface-Begriffs für eine Verhältnisbestimmung zwischen diesen beiden Größen in Zeiten der Digitalisierung anschließen. Jan Distelmeyer versteht Interfaces in seinem Beitrag als ›anleitende‹ Insze- nierungen, welche die universelle Maschine im Geflecht des impliziten Wissens je spezifischer Praktiken verankern. Ausgehend vom Begriff ›operativer Bilder‹ geht er der Frage nach, inwiefern Interfaces im Kontext von Diskursen zum ubiquitous computing als ›derepräsentativ‹ zu verstehen sind. Der Text zeigt, dass diese Tech- nologien nicht als Auflösungen von technischen Zweck/Mittel-Relationen angese- hen werden können. Vielmehr werden im Interface die spezifischen Zwecke der ›universellen‹ Maschine im Rückgriff auf das implizite Wissen durch Derepräsenta- tionen verdeckt und realisiert. timo Kaerlein widmet sich in seinem Beitrag einem Beispiel aus dem Feld des Interaction-Designs, nämlich dem Design von Anwendungen, die auf die Körper- technik des Gehens in städtischen Umgebungen abgestimmt sind. Diskutiert wird insbesondere der Geltungsanspruch der sogenannten non-representational-theory, die postuliert, für das entsprechende Interaktions-Design nutzbare Einsichten lie- fern zu können. Mit Blick auf die ›evokativen‹, jeder Explikation gegenüber skep- tischen, Postulate dieser Theorie wird gezeigt, dass dadurch die Gefahr besteht, einer unkritischen Funktionalisierung von implizitem Wissen ins Wort zu reden. Die Frage, inwiefern humanoide Roboter über implizites Wissen verfügen können, steht im Zentrum des Textes von thomas Bächle, peter Regier und Maren Bennewitz. Auf Grundlage von Fallbeispielen aus der Robotik wird argumentiert, 100 Blum: »Michael Polanyi«, ders.: »The Immortality of the Intellect Revived«, S. 178ff. 101 Vgl. zur Formalisierbarkeit/Nichtformalisierbarkeits-Differenz hier auch Mersch: »Kritik der Operativität«, S. 40f., mit Bezug zur Kybernetik auch ebd., S. 45ff. NAVIGATIONEN 28 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN MEDIEN UND IMPLIZITES WISSEN dass Roboter dank maschinellen Lernens inzwischen – ansatzweise – über Wissens- formen verfügen, die funktional äquivalent zu implizitem Wissen sind. Eine anthro- pozentrisch-humanistische Definition von implizitem Wissen erscheint im Lichte aktuellen Forschung in der Informatik und speziell der Robotik als eine zunehmend problematische Position. Den Ausgangspunkt von Regina Rings Beitrag zu Wearables bildet die Überlegung, dass das Wissen um Kleidung ein implizites Wissen um die ›Schnitt- stelle‹ zwischen Körper und sozialer Umwelt ist. Am Beispiel von Interface-De- sign-Diskursen zu Wearables wird dargelegt, dass sich dieses implizite Wissen um Kleidung durch Wearables einerseits in Richtung von Selbstoptimierung verändert. Andererseits kaschieren körpernahe Interface-Effekte wie etwa haptisches Feed- back den Umstand, dass hier die Normativität formalisiert-expliziten Wissens am Werk ist. In Auseinandersetzung mit Donald Normans Begriff des conceptual models, der sich im Interface-Design großer Beliebtheit erfreut, fragt dann der Text von chri- stoph Ernst nach einer praxistheoretischen Einschätzung hinsichtlich der kognitiven Verankerung derartiger conceptual models im impliziten Wissen. Im Seitenblick auf eine misslingende Steuerungsgeste in natural user interfaces wird die Differenz zwi- schen Praktiken und Medienpraktiken diskutiert – eine Differenz, die wesentlich von der Einschätzung des Bezugs zur ›Exteriorität‹ der Kognition abhängig ist. Mit der ›Natürlichkeit‹ von Gestensteuerung befasst sich auch Sabine Wirth. Unter Rückgriff auf Don Ihdes technikphilosophische Reformulierung der herme- neutisch-phänomenologischen Tradition wird Ihdes Begriff von embodied relations für die Analyse von Interfaces erschlossen. Im Fokus stehen die oft widerstreiten- den Wahrnehmungen der ›Natürlichkeit‹ einzelner Steuerungsgesten in graphical user interfaces. Anhand der Diskussion dieser verschiedenen Wahrnehmungen illu- striert der Text die Möglichkeiten und Grenzen eines hermeneutisch-phänomeno- logischen Ansatzes für zeitgenössische Medienumgebungen. Den Abschluss bildet Jens Schröters Text zu Friedrich August von Hayeks Idee, den Markt als ein Medium zu verstehen, das nicht zentral gesteuert werden kann, weil es keinen Zugriff auf die impliziten Wissensbestände der MarkteilnehmerInnen gibt. Dieser Gedanke wird von Schröter mit der Überlegung verschränkt, dass die mobilen digitalen Technologien der Gegenwart zunehmend als Zugriffsmedien auf implizites Wissen verstanden werden können und auf diese Weise eben doch eine Rückkopplung des Marktes mit implizitem Wissen stattfindet. Der Text diskutiert, welche Konsequenzen hieraus für eine denkbare ›post-monetäre Gesellschaft‹ er- wachsen. Die Herausgeber danken Peggy Denda und Luisa Glees für ihre tatkräftige und äußerst zuverlässige Unterstützung bei Recherche und Redaktion des vorliegenden Heftes. Nina Adams gilt großer Dank für die Erstellung des Drucksatzes. Redaktioneller Hinweis: Den AutorInnen des Heftes wurden die verschiedenen Möglichkeiten einer geschlechtersensiblen Schreibweise freigestellt. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 29 CHRISTOPH ERNST LITERATURVERZEICHNIS Abel, Günter: »Knowing How. Eine scheinbar unergründliche Wissensform«, in: Bromand, Joachim/Kreis, Guido (Hrsg.): Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht- Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin 2010, S. 319-340. Adloff, Frank u.a. (Hrsg.): Revealing Tacit Knowledge. Embodiment and Explication, Bielefeld 2015. Bächle, Thomas Christian u.a.: »Selbstlernende autonome Systeme? – Medientech- nologische und medientheoretische Bedingungen am Beispiel von Alphabets ›Differentiable Neural Computer (DNC)‹«, in: Engemann, Christoph/Sud- mann, Andreas (Hrsg.): Machine Learning – Medien, Infrastrukturen und Tech- nologien der Künstlichen Intelligenz, Bielefeld 2017. 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Bocellis letzter Satz soll dann die besondere Beziehung zwischen dem als Kind erblindeten Sänger und »dem Netz« ausweisen: »Man kann es nicht sehen – aber man kann es fühlen.« Der Zusammenhang von Technik und Magie ist traditionell besonders ausge- prägt, wenn Computer ins Spiel kommen.2 Etwas läuft im Verborgenen ab, das als ein Anderes wahrnehmbar wird – ganz im Sinne der Erklärung zum Computer als Maschine der »Verdoppelung«,3 die Frieder Nake Mitte der 1980er stark gemacht hatte. Wie wir als Mensch gegenüber einer Maschine sein können, die, so Nake (1984), »Mensch-Maschine-Kommunikation« erlaubt, impliziert ein Modell von uns als Gegenüber: »Und was einerseits Werkzeug, ist andererseits oder auch gleich- zeitig wieder Partner, der ein inneres Modell nicht nur von sich selbst sein eigen nennt, sondern auch über den Menschen, seinen Partner, aufbaut.«4 Hier, von diesem historischen Theoriemodell einer Modellbildung, mag die nächstliegende Verbindung der zwei Konzepte »implizites Wissen« und »Interface« ausgehen. Ich möchte ihr in einem ersten Schritt folgen, um mit einem zweiten zu jener Aktualität des Unsichtbaren als ›Gegenwart und Zukunft‹ zu kommen, die auch als »Post-Interface«5 beschrieben wird. Interfaces, so mein Plädoyer, bilden als Bezeichnungen diverser Prozesse des Leitens und Verbindens einen Komplex, der zu wesentlichen Fragen der Ausbreitung computerbasierter Technologie und Verhältnisse führt. 1 Telekom: »Telekom Europa«. 2 Vgl. dazu: Kaerlein: »Die Welt als Interface«. 3 Nake: »Die Verdoppelung des Werkzeugs«, S. 47ff. 4 Nake: »Schnittstelle Mensch-Maschine«, S. 115. 5 Andreas u.a. »Technik | Intimität«, S. 12. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 37 JAN DISTELMEYER 2. DEPRÄSENTATIV UND OPERATIV Was Frieder Nake mit der Doppelung und inneren Modellen beschrieben hat, wur- de zwei Jahrzehnte später von Wendy Chun und Alexander Galloway als ideologi- sche Qualität von Software weiter gedacht.6 Das »human computer interface«, so kam Branden Hookway 2014 darauf zurück, »is not only defined by but also actively defines what is human and what is machine«.7 Zwischen der internen Prozessua- lität, deren Signalströme das Funktionieren von Computern ausmacht, und dem, was wir als Konsequenz zu sehen, hören, klicken, wischen, fühlen und verstehen bekommen, ist zu vermitteln. Es kommt darauf an, wie sich die erwähnten Modelle in einem Gebrauch zei- gen, der sie einübt, indem er etwas ausübt, um gewünschte Ergebnisse zu erzielen. Dabei lässt sich im Rekurs und Setzen auf jenes innere Leitbild ›über den Menschen‹ auch fragen, unter welchen Bedingungen diese eingestellte Vorstellung als ein impli- zites Wissen verstanden werden könnte. Was weiß Windows 10? Unabhängig davon, ob in Computern überhaupt Wissen wirkt, kann diese sich je im prozessualen Gebrauch erweisende und wirkende Einstellung prinzipiell jederzeit expliziert werden. Das im Rechner implizite Modell vom Menschen als ›Gegenüber‹ kann also nur mit mehreren Einschränkungen als eine spezielle Form jenes Wissens verstanden werden, das in Michael Polanyis Überlegungen zum »ta- cit knowing«8 insofern als implizit beschrieben worden ist, als es unausgesprochen wirkt. Implizites Wissen, das wissen gerade die Wirtschaftswissenschaften, ist Wis- sen, das sich im Handeln erweist. Es »dient als Hintergrundwissen beim Treffen von Entscheidungen und Ausüben von manuellen Tätigkeiten«.9 Wirkend und stumm zugleich: »Die Diskrepanz zwischen dem tatsächlich vorhandenen und dem be- schreibbaren Wissen eines Wirtschaftssubjekts bezeichnet demzufolge das implizi- te bzw. tazite Wissen.«10 Wie eine unausgesprochene Regel stellt es so z.B. Unter- nehmen vor die Frage, wie dieses Wissen scheidender Angestellter weitergegeben werden kann. Was implizites Wissen für das Umgehen mit Computern so interessant macht, hat mit ihren Vermittlungsleistungen zu tun. Interface-Inszenierungen leiten an, wie sich die universelle Maschine im je speziellen Gebrauch erweisen kann – was sie ist und wer ich im Verhältnis zu ihr bin. In diesem Sinne bilden insbesondere Graphical User Interfaces immer schon Kontroll- und Weltbilder aus. Secret Service: Sie rea- lisieren sich performativ und prozessual, treten durch unseren Umgang mit ihnen in Erscheinung und Aktion, wobei eine Vielzahl weiterer Interface-Formen (nicht zuletzt unser Umgang mit Hardware) immer schon im Spiel ist. 6 Vgl. Chun: »On Software«; Galloway: »Language Wants To Be Overlooked«. 7 Hookway: Interfaces, S.12. 8 Polanyi: The Tacit Dimension, S. 7. 9 Blümm: Die Bedeutung impliziten Wissens im Innovationsprozess, S. 26. 10 Freiling: Ressourcenorientierte Reorganisation, S. 112. NAVIGATIONEN 38 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN AN/LEITEN Christoph Ernst und Heike Paul haben auf den performativen Charakter des impliziten Wissens hingewiesen. Es sei »in einer Weise ›nicht-explizit‹, in der die Art der ›Explikation‹ nicht diskursiv, sondern als präsentativ anschaulich wird.«11 Weil es hier um die Formen einer »in-Szene-gesetzten Zur-Schau-Stellung«12 geht und »implizites Wissen nicht in der sprachlichen Reflexion objektiviert wird, sondern in den (gelingenden und misslingenden) Praxen seiner performativen Präsentationen«,13 liegt die Übertragung auf Human Computer Interfaces so nah: auf jene Praxen also, in denen sich die Funktionen von Computern für und mit uns realisieren. interface-inszenierungen: Bilderfolge aus dem Windows 10-Werbespot (Microsoft, 2015) copyright: Microsoft Zu den verlässlichen Größen der ›in-Szene-gesetzten Zur-Schau-Stellung‹ von Hu- man Computer Interfaces gehören bis heute Zeichen und Bilder, mit denen wir es zu tun bekommen. Eine eigene Operativität zeichnet sie aus – dank und mit ihnen machen wir »unser Ding« (vgl. Abb. 1). Ich wende damit das Konzept der operati- ven Bilder, mit dem sich Harun Farocki seit Ende der 1990er Jahre immer wieder auseinandergesetzt hat, in Richtung von Interface-Inszenierungen. Diese computerisiert-operativen Bilder wirken nicht nur als Zeichen, die iko- nisch oder symbolisch etwas zur Darstellung bringen. Vielmehr sind sie auch an ei- ner Realisierung des Angezeigten/Versprochenen beteiligt, indem sie immer schon indexikalisch sind. Wie Indizes nach Peirce »etwas über Dinge zeigen, weil sie phy- sisch mit ihnen verbunden sind«,14 sind diese Interface-Zeichen physisch mit der in- ternen Prozessualität des Computers verknüpft, die den angezeigten Dienst leisten soll. Nur dadurch können sie gewährleisten, was Interaktion mit dem Computer genannt wird: befehlen und gehorchen. Als inszenierte Schwellen vermitteln sie u.a. zwischen uns und einem Pro- zessor, dessen arbeitsteilig funktionierende »Schaltnetze« von einem Programm »auf das zu lösende Problem« eingestellt werden.15 Wie sie dabei die »relativ echte 11 Ernst/Paul: »Präsenz und implizites Wissen«, S. 14 (Herv. im Orig.). 12 Ebd. (Herv. im Orig.) 13 Ebd. 14 Peirce: »Die Kunst des Räsonierens«, S. 193. 15 Winkler: Prozessieren, S. 259. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 39 JAN DISTELMEYER Form des Index«16 (als Verweis physikalischer, »tatsächlicher« Zusammenhänge wie beim Wetterhäuschen) mit dem »degenerierten Index«17 (wie der deutende Zeige- finger als bloß assoziiert und nicht »tatsächlich« verbunden) kurzschließen, macht ihre Besonderheit aus.18 Diese operativen Bilder depräsentieren. Operativ werden sie, die uns z.B. als App-Zeichen in den omnipräsenten Ra- steranordnungen der Homescreens von Smartphones und Tablets, als Launchpad in Mac-Betriebssystemen seit 2011, als die Kacheln von Windows 8 (2012) und Win- dows 10 (2015) oder als Activities overview im Linux-Interface gnome 3 seit 2011 erwarten, durch Operationen, die auf unser Zutun angewiesen sind. Harun Farocki hatte operative Bilder als solche Bilder beschrieben, »die im technischen Vollzug aufgehen, die zu einer Operation gebraucht werden«.19 Bilder, die z.B. »industrielle Produktionsabläufe kontrollieren, die architektonische Vermessungsdaten in Algo- rithmen umwandeln, die Autos, Roboter oder Drohnen steuern«20 und also »zu operativen Zwecken […] und zu keiner Erbauung oder Belehrung«21 entstanden sind.22 Im letzten Punkt jedoch unterscheiden sich die operativen Bilder der Inter- face-Inszenierungen. Auch wenn sie nicht im klassischen Sinne zur ›Erbauung‹ die- nen und vielleicht auch darum bis heute so erstaunlich wenig Analysen der Kunst-, Kultur- und Medienwissenschaften oder der Feuilletons provozieren,23 weil sie eben im Sinne des funktionalen Realismus24 als Werkzeuge unterschätzt werden, dienen sie dennoch in gewisser Weise einer ›Belehrung‹. Sie leiten an, zeigen und bestätigen in Aktion, was als implizites Wissen handelnd zu erlernen ist. »Usability«, der Erfolg im nur vermeintlich intuitiven Umgang mit Computern, pocht auf die un- zweifelhafte Abrufbarkeit eben dieser speziellen Wissens- und Umgangsformen.25 16 Peirce: »Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus«, S. 364. 17 Ebd. 18 Für diesen Hinweis danke ich Christoph Ernst. 19 Farocki: »Quereinfluss / Weiche Montage«, S. 61. 20 Eschkötter/Pantenburg: »Was Farocki lehrt«, S. 207. 21 Farocki: »Quereinfluss / Weiche Montage«, S. 61. 22 Hierin unterscheiden sich operative Bilder von der »operativen Bildlichkeit«, die Sybille Krämer im Rahmen der Diagrammatologie mit dem Fokus auf »Schriften, Diagramme bzw. Graphen sowie Karten« bestimmt hat. Operative Bilder meinen bei Harun Farocki durchaus eben jene »Gebrauchsbilder« im »Kontext ferngesteuerten Bildhandelns«, die Sybille Krämer »nicht zum Phänomen der operativen Bildlichkeit« (Krämer: »Operative Bildlichkeit«, S. 95) zählt. 23 Ausnahmen bilden hier u.a. die Veröffentlichungen von Christian Ulrik Andersen und Søren Pold (Interface Criticism), Margarete Pratschke (»Interacting with Images«), Lev Manovich (Software Takes Command), Marianne van den Boomen (Transcoding the Digi- tal) sowie Florian Hadler und Joachim Haupt (Interface Critique). 24 Vgl. Pold: »Interface Realisms«. 25 Für Wendy Chun ist die Einübung solcher Umgangsformen durch permanente Wiederho- lung zentral für das Habituelle computerbasierter Medien, deren Kampfname new Media die ewige Aktualität gepachtet hat. Durch die Wiederholung entsteht, was Chun (Up- dating to Remain the Same, S. 86) »implicit memory« nennt und als dezidiert unbewusst beschreibt. NAVIGATIONEN 40 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN AN/LEITEN to help you do your thing: Das Besondere dieser operativen Bilder liegt somit gerade darin, dass sie Aktivitäten (an-)leiten, mit denen sie im Peirceschen Sinne ›genuin‹ verbunden sind, während ihre (An-)Deutungen zugleich ›degeneriert‹ in- dexikalisch sind. Denn während uns diese Inszenierungen in die Funktionalität des Computers einweisen und die universelle als eine je spezifische Maschine in Szene setzen, die wir genau so zu bestimmten Zwecken bedienen können, indem opera- tive Bilder mit der inneren Prozessualität des Rechners verbunden sind, verschlei- ern diese Präsentationen freilich genau das: die Prozessualität des Rechners. Darauf hat Marianne van den Boomen mit dem großartigen Begriff der Deprä- sentation reagiert. Depräsentieren changiert zwischen Anzeigen und Verbergen, ist beides zugleich: »[T]he icons on our desktops do their work by representing an ontologized entity, while depresenting the processual and material complexity involved. This is the way icons manage computer complexity, this is the task we as users (in tacit conjunction with designers) have delegated to them.«26 Darum wird die von Christoph Ernst und Heike Paul beschriebene ›präsentative‹ Explikation impliziten Wissens im Hinblick auf Computer eine depräsentative. Depräsentation v/erschließt. Sie erlaubt eine Form von Steuerung und Kontrolle, die einen großen Teil des Steuerns und Kontrollierens für sich behält. 3. INTERFACES LEITEN Mich interessiert dieser Begriff des Depräsentierens, weil er einer Komplexität auf der Spur ist, die zu diversen Formen und Aspekten von Interfaces führt, deren Kombination die Gegenwart des Computers auszeichnet. Sie umfassen Verbindun- gen und Vermittlungsprozesse, die sowohl die beschriebenen Interface-Inszenie- rungen bedingen als auch über sie hinausgehen. Diese Erweiterung des Interface-Begriffs ist jedoch keine zeitgemäße Reaktion auf sich verändernde Erscheinungsformen des Computers – auf z.B. die »Verschie- bungen hin zu einem invisible user interface und zu übergangslosen Schnittstellen«27 oder auf das techno-ökologische Modell von twenty-First-century-Media.28 Eher schon ist diese Erweiterung eine Rückbesinnung. Was als Interface derzeit zugunsten einer neu verstandenen Ökologie, Inte- gration und Intimität unter Druck gerät, betrifft mit Distanz assoziierte Human Computer Interfaces. »No longer a delimited temporal object that we engage with focally through an interface such as a screen,« so Marc Hansen, »media become an environment that we experience simply by being and acting in space and time«.29 Vermittelnde Abstandshalter: Diese Form vorgesehener Subjekt-/Objekt-/ Technik-Beziehung, so argumentieren z.B. Michael Andreas, Dawid Kasprowicz und Stefan Rieger, werde den neuen unmerklichen Vernetzungen und der Auto- 26 van den Boomen: Transcoding the Digital, S. 36. 27 Andreas u.a.: »Technik | Intimität«, S. 13. 28 Vgl. Hansen: Feed Forward. 29 Hansen: »Ubiquitous Sensation«, S. 73. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 41 JAN DISTELMEYER nomie agierender Apparate nicht gerecht. Der durch »digitale Medien« betriebene »Distanzabbau« und deren »Unscheinbarkeit in Form sensorischer Umgebungen und intuitiver Usability« hänge mit der »zunehmenden Auflösung des historischen Konzeptes des Interface als klar definierbarer Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine« zusammen:30 »Die Medialität einer paradoxalen Nähe – die nie unmittel- bar, sondern verkleidet oder verbaut ist, aber im Design und in der Semantik eine Unmittelbarkeit suggeriert – lässt sich unter Berücksichtigung der Unschärfe des Begriffs Interface zunächst heuristisch als Post-Interface bezeichnen.«31 Es gibt natürlich Gründe, die sich verändernden Interface-Prozesse mit dem Wunderpräfix »post« so zu flankieren, wie auch Kim Cascone32 (2000) und Nico- las Negroponte33 (1998) von »postdigital« gesprochen haben. »We’ll live in them, wear them, even eat them«,34 so Negroponte zur kommenden Gleichzeitigkeit von Allgegenwart und Unmerklichkeit des Computers. Die damit kritisierte Unschärfe des Interface-Konzepts hängt gleichwohl an einem alltagssprachlichen Gebrauch, der dem Begriff und seinen heuristischen Möglichkeiten nicht ganz gerecht wird. Interfaces stellen in unterschiedlicher und miteinander wirkender Form Ver- bindungen her zwischen (a) Hardware und Mensch/Körper, (b) Hardware und Hardware35, (c) Hardware und Software, (d) Software und Software sowie (e) Soft- ware und Mensch. Es ist diese fünfte Form von Interfaces, die nach der Zählung und Einschätzung von Florian Cramer und Matthew Fuller als Graphical User In- terface so oft mit dem komplexeren Interface-Begriff verwechselt wird: »symbolic handles, which, in conjunction with (a), make software accessible to users; that is, ›user interfaces‹, often mistaken in media studies for ›interface‹ as a whole«.36 Die Einführung und Förderung der Bezeichnung »interface« durch die Physi- ker James und William Thomson seit Ende der 1860er Jahre folgte dem Wunsch, Formen von Verbindungen in Natur und Industrie zu beschreiben.37 Der Interface- Begriff ihres Forschungszusammenhangs, der auch für die Geschichte der Telegra- phie wichtig wurde, bezog sich auf Verbindungen, die Transmissionen von Ener- gie ermöglichen. Hinsichtlich solcher Fragen von Leitfähigkeit, Fließvermögen und Übertragung verband William Thomson, der spätere Lord Kelvin, in einem Brief an George Gabriel Stokes vom 9. Dezember 1884 den Begriff des Interface mit dem des Mediums: »By ›interfacial wave‹ I mean a wave which runs along the interface, 30 Andreas u.a.: »Technik | Intimität«, S. 11f. 31 Ebd. S. 12. 32 Cascone: »The Aesthetics of Failure«. 33 Negroponte: »Beyond Digital«. 34 Ebd. 35 Formen des Embedded computing wie etwa computerisierte und vernetzte Haushaltge- räte des begehrten internet of things formen in diesem Sinne Hardware-Interfaces aus, die nicht-computerisierte Hardware mit computerisierter Hardware verbinden, wobei letztere freilich wiederum auf weiteren Hardware- und Software-Interfaces basiert. 36 Cramer/Fuller: »Interface«, S. 149. 37 Vgl. Schaefer: »Interface: History of a Concept«; Hookway: Interfaces, S. 59-88. NAVIGATIONEN 42 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN AN/LEITEN and of which the amplitude diminishes logarithmically according to distance from the interface in each or either medium.«38 Von den Prozess(or)en: Mit dem Interface-Begriff kann daher viel erschlossen werden, was die historische, aktuelle und auch künftige Gegenwart von Compu- ter-Technologie ausmacht. Er hilft zunächst die internen Prozessualitäten zu be- schreiben, das Fließen von Energie und Organisieren von Schaltzuständen, deren Gesamtheit Hartmut Winkler als die »innere Telegraphie«39 des Computers be- zeichnet hat. Davon ausgehend und diese Prozesse erweiternd führt die Frage nach Interfaces zu Vermittlungsprozessen zwischen Computern, zwischen Mensch und Maschine und zu jenen Vernetzungen, die – unmerklich oder nicht – Computer und Dinge verbinden. Wo Computer wirken und vernetzt sind, wirken Interfaces. Die von Florian Sprenger untersuchte Dimension und Problematik der Mikroentscheidungen, die »den Strom der Daten« unterbrechen, »um ihre Verteilung zu kontrollieren«, ist – wie könnte es bei der Frage »digitaler Übertragung« anders sein – an Interfaces gekoppelt.40 Wenn Dietmar Kammerer und Thomas Waitz »die gesellschaftliche Durchsetzung der Computertechnologie« und die damit ermöglichten Kontroll- mechanismen auf ihre »materielle Infrastruktur« zurückführen, »die aus Untersee- kabeln, Satellitenverbindungen und Netzknoten besteht«, ist hier eine Interface- Struktur angesprochen.41 Auch der Weg zur Medialität des Computers führt über Interface-Fragen.42 Der große Vorteil des Interface-Begriffs ist dabei, dass er bei allem Wirken von Programmierung auf der Grundlage von Elektrizität stets auch an die Materialität von Verbindungen gemahnt, die es dazu braucht. Anders gesagt: Interfaces ernst zu nehmen, bedeutet auf mehreren Ebenen, nach den Bedingungen der Gegenwart des Computers zu fragen. Zu diesen Bedingungen gehören weiterhin auch jene Verbindungen, die wir operativ mit den diversen Formen des Computers eingehen. Mark Hansens Be- schreibung von »today’s ubiquitous computional environments«43 benennt es: Thus, well before we even begin to use our smart phones in active and passive ways, the physical devices we carry with us interface in complex ways with cell towers and satellite networks; and preparato- ry to our using our digital devices or our laptops to communicate or to acquire information, the latter engage in complex connections with wireless routers and network hosts.44 38 Zit. nach Wilson: The Correspondence Between Sir George Gabriel Stokes and Sir Willi- am Thomson Baron Kelvin of Largs, S. 575. 39 Winkler: Prozessieren, S. 294. 40 Sprenger: Politik der Mikroentscheidungen, S. 19f. 41 Kammerer/Waitz: »Überwachung und Kontrolle«, S. 13f. 42 Vgl. Distelmeyer: Machtzeichen, S. 33-45. 43 Hansen: Feed Forward, S. 99. 44 Ebd., S. 62. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 43 JAN DISTELMEYER So wichtig der Verweis auf die »stille« Arbeit von Hard- und Software ist, die eben Interface-Prozesse sind, so wichtig ist auch der zweite Aspekt: dass und wie wir ›our smart phones‹ oder ›our laptops‹ benutzen. Die gegenwärtige Intensivierung gleichsam eingebetteter Interfaces, die mich z.B. dank RFID-Chips und »the ›underwearable computer‹ (›underwearable‹ for short)«45 nicht mehr als »User« anrufen (aber gleichwohl einplanend konstruieren), läuft parallel zu einer Extensivierung der Präsenz von User Interfaces, die genau das tun: mich adressieren und im Vollzug unterrichten, was ich wie (nicht) tun kann und wie dadurch mein Verhältnis zur computerisierten Welt zu verstehen ist. Beide Prozesse hängen an Interfaces. Und beide Prozesse gilt es gleichermaßen zu ver- folgen, um den Einfluss und die Steuerungsfragen einer Technologie zu diskutieren, die im Kern und in den äußersten Verzweigungen auf Prozesse des Leitens und Verbindens angewiesen ist – und darauf, dass jemand/etwas diese Prozesse anleitet. User Interfaces, von der Gesten- über die Sprachsteuerung bis zu graphischen Gebrauchsoberflächen von dem Radar einer Medienwissenschaft zu nehmen, der es um die Beschreibung, Analyse und Kritik einer Kybernetisierung der Welt geht, wäre mehr als voreilig. Nicht nur weil die Inszenierungen von Mensch-Computer- Welt-Verhältnissen qua User Interfaces andauert und auch Programmieren (durch Menschen) ein Interface-Agieren ist und infolgedessen der Unterschied »between users and programmers« nicht zuletzt »an effect of software«.46 Wichtig bleiben Interface-Inszenierungen zudem, weil ihre Analyse Grundsätzliches zu erschließen hilft. Die Auseinandersetzung mit ihnen kann dabei helfen, eine Eigenschaft zu ver- handeln, die Computertechnologie besonders auszeichnet: Programmierbarkeit. Von ihr ist der Status des »general-purpose computer«47 abhängig, darauf hin sind diese Maschinen als »wenig spezifische – da programmierbare und zu programmie- rende, weil sonst funktionslose – Computer«48 entworfen. Darauf, auf »program- mierbare[] Zweckbestimmung«49, setzen rechnerbasierte Vernetzungen, die wie z.B. das »Citizen Sensing« in programmierten Umgebungen und Partizipationsfor- men »smarter« Städte50 Teil hat an der »environmentalen Kontrollkultur«.51 Und genau das, programmierbare Zweckbestimmung, zeigte sich als Problem und »Ver- wundbarkeit« einer »Gesellschaft [...], die sich zunehmend digitalisiert«52, als der Hackerangriff mit dem Verschlüsselungstrojaner Wannacry Mitte Mai 2017 etwa 200.000 Computersysteme in 150 Ländern neuen Zwecken unterstellte. 45 Mann: »Eudaemonic Computing«, S. 177. 46 Chun: »On Software«, S. 38. 47 Haley: »Deuce«, S. 6. 48 Schröter: »Von grafischen, multimedialen, ultimativen und operativen Displays«, S. 36. 49 Coy: »Aus der Vorgeschichte des Mediums Computer«, S. 19. 50 Gabrys: »Programmieren von Umgebungen«, S. 633-637. 51 Hörl: »Die Ökologisierung des Denkens«, S. 36. 52 Jansen: »Im Griff der Hacker«. NAVIGATIONEN 44 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN AN/LEITEN 4. MAGISCHE UMWELTEN Aktuelle Beschreibungen zur Gegenwart des Computers in »our world« der »net- works and media environments«53 oder »der Technosphäre«54 betonen eine spezi- elle Gleichzeitigkeit von An- und Abwesenheit. Während einerseits eine machtvolle Allgegenwart vorbereitet, angelegt und diskutiert wird, was in Begriffen wie ubi- quitous computing, internet of things, Ambient intelligence oder Smart Environments zum Ausdruck kommt, wird zugleich auf eine Unmerklichkeit eben jener Techno- logie gesetzt, die diese Omnipräsenz ausmacht. Diese Form der gleichzeitigen An- und Abwesenheit, die Kombination von »Unsichtbarkeit und Zuhandenheit«55, ist insbesondere seit der Entwicklung soge- nannter calm technologies bekannt. Vielleicht lässt sich dies als eine diskursive De- präsentation von Computertechnologie verstehen. Ein besonders schönes Beispiel für die Rhetorik der Unmerklichkeit des Allmächtigen lieferte Steve Jobs mit seiner Abschiedsvorstellung. Als er am 6. Juni 2011 in seinem letzten öffentlichen Auf- tritt als Apple-Vorstandsvorsitzender den Service icloud in San Francisco vorstellte, pries Jobs die Autonomie einer Technik, die wir nicht zu verstehen und nicht mal zu bedienen brauchen: Because all these new devices have communications built into them. They can all talk to the cloud whenever they want. […] And now everything’s in sync with me not even having to think about it. I don’t even have to take the devices out of my pocket. I don’t have to be near my Mac or PC. […] And so everything happens automatically and there’s nothing new to learn. It just all works. It just works.56 Von den ersten Plänen eines ubiquitous computing bis zu aktuellen Vorstellungen »intelligenter« Umgebungen wirkt – gerade in »den Texten der Entwickler« – die »Betonung von Allgegenwart und Unsichtbarkeit«.57 Diese Rhetorik führt vor, wie der Zusammenhang von Omnipräsenz und Verschwinden hier keineswegs als ver- störender Widerspruch wirkt. Er wird vielmehr als Garant einer bestimmten Effek- tivität gedacht und vorangetrieben. Man kann es nicht sehen – aber man kann es fühlen: Dieses Hoffen auf eine Technologie, die nicht auf unser Beobachten oder -greifen angewiesen sein, son- dern deren Funktionalität sich gerade durch die Abwesenheit etablierter Zugänge und Subjekt-Objekt-Verhältnisse auszeichnen soll, ist nicht allein in einer Industrie präsent, die mit einem nachvollziehbaren Interesse an solchen Hoffnungen identi- fiziert werden kann. Im medienwissenschaftlichen Diskurs wird dieses Denken mit Fragen der Techno-Ökologie verhandelt: insbesondere bei Erich Hörl und Marc 53 Hansen: Feed Forward, S. 24. 54 Hörl: »Die Ökologisierung des Denkens«, S. 43. 55 Sprenger: Politik der Mikroentscheidungen, S. 115. 56 EverySteveJobsVideo: »Steve Jobs introduces iCloud & iOS 5«. 57 Adamowsky: »Vom Internet zum Internet der Dinge«, S. 245. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 45 JAN DISTELMEYER Hansen in der »Sinnverschiebung des Ökologischen«, bei der die Technosphäre als »Explosion umweltlicher Handlungsmacht« nunmehr »das absolute Jenseits al- len Zwecks« offenbare58, und die Abschaffung eines objektzentrierten Modells von Medien zugunsten eines »environmental one«59 dieser (Sinn-)Verschiebung durch twenty-first-century-media entspricht. Mein Problem beginnt mit dieser Frage: Arbeitet die Durchsetzung jener Be- tonung von Allgegenwart und Unmerklichkeit nicht dem Eindruck zu, mit dieser Form des Technischen eine Art Naturgewalt, eine magische oder göttliche Instanz, vor oder um sich zu haben? Dazu möchte ich noch einmal auf die Bedeutung der Programmierung zurückkommen – und auf die Frage, wie sie mit implizitem Wis- sen verbunden werden kann. Hier werden Schnittstelleninszenierungen erneut interessant. Die operativen Bilder graphischer Gebrauchsoberflächen, deren Depräsentation sich eben nicht im Zeigen oder Verbergen erschöpft, sondern erst in leitenden Aktionen entfaltet, folgen einer besonderen Dynamik, die ich als Machtspiel verstehe. Worüber wir dabei verfügen, z.B. die Auswahlordnung gegebener Optionen eines Smartphone- Homescreens für »unser Ding« (vgl. Abb. 1), ordnet im doppelten Sinne etwas an. Optionen sind hier stets zugleich – und in besonderer Weise – Regeln. Weil Interface-Inszenierungen auf den verschiedenen Interface-Anlagen einer programmierbaren Maschine basieren, wirkt deren »Ästhetik der Verfügung«60 gleichzeitig ermächtigend wie restringierend. Jede Interface-Inszenierung realisiert sich als eine Kombination von Software und Hardware, die auf Programmierung beruht. Letztere hat überall dort, wo ich in und mit Interfaces aktiv sein will, so- wohl Wege als auch Mittel eindeutig an- und festgelegt, Interface-Prozesse vor- bereitet. Der Spielraum, der damit eingerichtet ist, ist ein Regelrefugium und die »Menge möglicher Interaktionen […] durch mathematisch festgelegte Regeln voll- ständig definiert«61. Darum ist die Verfügung über das, was Computer bieten, stets an ein Sichfügen gebunden. Doch dieses Sichfügen – und das ist wesentlich – ist nicht als Effekt unab- dingbarer Herrschaft oder als Einbahnstraße der Macht misszuverstehen. Es gibt vielmehr Aus- und Seitenwege, durch die sich Verhältnisse ändern können. Gerade weil diese Art des Regelns auf Grundlage von Programmierbarkeit läuft, kann sie auf genau dieser Basis auch verändert werden – als Aktualisierung von Herrschafts- technik. Jede Praktik des Hackens bezeugt, es bei dieser Form von Vorschrift stets zugleich mit einem Einfallstor des Widerspruchs unter freilich unveränderten Be- dingungen zu tun zu haben. Dass wir uns im Akt des Verfügens stets in die damit vorgesehene und vor- gegebene Ordnung des Kalküls fügen müssen und gleichwohl Veränderungen auf gleicher Basis möglich sind, ist eine Erfahrung, die im Umgang mit Computern je- derzeit zu machen ist. Auch unsere Widerspruchsoptionen sind stets abwesend 58 Hörl: »Die Ökologisierung des Denkens«, S. 44. 59 Hansen: Feed Forward, S. 210. 60 Vgl. Distelmeyer: Machtzeichen, S. 65-126. 61 Maresch: »Virtualität«, S. 280. NAVIGATIONEN 46 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN AN/LEITEN und präsent zugleich. Sie sind es, indem im ausgestellt Universellen des Computers genau diese Flexibilität mitschwingt, die nicht zuletzt im Update-Zwang konkret wird. Im Nachweis ihrer Flexibilität als universelle Maschine summen Computer die jederzeit mögliche Rejustierung durch neue Vorschriften andauernd mit. que sera, sera. Mit Interface-Inszenierungen umzugehen, kann darum besonders deutlich die Besonderheit vor Augen, Ohren und Finger führen, die Computertechnik von anderen Formen des Technischen unterscheidet: die Programmierbarkeit einer universellen Rechenmaschine, die einen Unterschied macht zwischen »Daten und Display«62 oder zwischen Daten und dem, was auf der Grundlage ihrer Interpreta- tion für Befehle an vernetzte Maschinen gegeben werden. Formt diese Erfahrung, diese Frage drängt sich mir demzufolge auf, also auch ein implizites Wissen der Programmierbarkeit von Computern? Leiten Oberflä- cheninszenierungen, diese spezielle, merkwürdig ziel- und irreführende Form von Interfaces, die von allen anderen Aspekten (den Hardwareschnittstellen, Softwa- reschnittstellen, Hardware-Software-Schnittstellen und Mensch/Ding-Maschine- Schnittstellen) so sehr abhängig ist, eine Art Hintergrundwissen davon an, dass die Machtfrage der general-purpose computer an Programmierbarkeit gekoppelt ist? In jedem Fall ergibt sich daraus eine Chance für Analyse und Kritik: Sich mit der Präsenz von User Interfaces zu beschäftigen ist nicht nur wegen ihrer ideologi- schen Bedeutung, wegen ihrer je unterschiedlichen und sich historisch wandelnden Inszenierungen von Mensch-Maschine-Welt-Verhältnissen, interessant. Die Analyse von User Interfaces kann auch ein Weg zur Frage sein, mit was für einer Form von Technik Menschen da eigentlich Kontakt aufnehmen und vernetzen Dingen die be- sagte Autonomie einräumen. 5. DIESSEITS DER ZWECKE Zurück in die gegenwärtige Zukunft, zu der »beängstigende[n] technische[n] Vervollkommnung gegenwärtiger mobiler Medien und allgegenwärtiger Computervorrichtungen«63: Gerade hier werden wir die Frage nach der Program- mierung nicht los. Was uns im Umgehen mit angelegten User Interfaces offensiv angeht – die programmierten Bedingungen und die Bedingungen der Programmie- rung –, geht uns auch im Modus der vernetzten Einbettung etwas an: The more regulated by software everyday things become, the less ac- cessible they are to sensory perception in our everyday dealings with them. However, the fact that they are vanishing from sight does not mean that they are not there. On the contrary: the increasingly pro- grammed world surrounding us means that rules, conventions and re- 62 Pias: Computer Spiel Welten, S. 51. 63 Hansen: »Medien des 21. Jahrhunderts, technisches Empfinden und unsere originäre Um- weltbedingung«, S. 372. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 47 JAN DISTELMEYER lationships, which are basically changeable and negotiable, are being translated into and fixed in software.64 Indem die Projekte von ubiquitous computing und »intelligenter« Umgebungen wie einer »Smart City« immer wieder »the programming of autonomous agents of va- rious kinds«65 voraussetzen, stellen sich mehrere Fragen zugleich. Was ist das für eine Autonomie, mit der sich »the question of the in- or ahuman, the question of our inexistence«66 stellt? Was sind das für Programmierungen, und von wem oder was werden sie zu welchem Zweck vorgenommen? Wenn es bei der Program- mierung dieser »selbstständig« handelnden Softwareagenten »für den Program- mierer und den Betreiber unmöglich [wird], sämtliche Situationen im Vorhinein zu erfassen und mit spezifischen Handlungsanweisungen zu verknüpfen«67, welche Verantwortung kommt dann den abstrakten Regeln zu, die diese Programmierung vorschreibt? Weil die computerbasierte Vernetzung von Dingen – also die Expansion von Interfaces – neue Formen von Handlungsmacht erzeugt, indem »Dinge zu Stellver- tretern werden und somit über Agency verfügen«68, stellt sich die Frage nach den Bedingungen desto dringlicher. Florian Sprenger und Christoph Engemann weisen zu Recht darauf hin, dass es hier um »kontrollierte[] und kontrollierende[] Hand- lungsmacht in industriellen Infrastrukturen«69 geht. Das »Environment des Internets der Dinge« ist eben kein ubiquitärer Raum, »sondern an konkrete Infrastrukturen und Praktiken gebunden«, die auch »von den Verteilungsnetzen für Energie, Mate- rie und Information her«gesehen werden müssen.70 Gerade für diese Perspektive bietet sich der Interface-Begriff an, weil er nach den Verbindungen fragt, ohne die materielle, elektrifizierte Dimension dieser Ver- teilungsnetze auszublenden. Er stellt Bezüge her zwischen den merklichen, z.B. »interaktiven« Verbindungen zu Computern und jenen Verhältnissen, in denen Computer mit Computern, Dingen und Menschen/Körpern auf andere, »intimere« Weise verbunden sind. Zu diesen Bezügen gehört, wie wir im Umgang mit Com- putern ein Wissen um sie und unsere Möglichkeiten ein- sowie ausüben, das nur deshalb implizit sein kann, weil es von expliziten Anordnungen festgelegter (und veränderbarer) Konstellationen von Hardware und Software bedingt wird. Die Frage nach den Bedingungen zielt somit sowohl auf die Infrastruktur als auch auf die Programmierung. Beides ist mit der Frage nach einem Zweck verbun- den, die heute desto unaufdringlicher werden mag, je mehr Computerverhältnisse nicht mehr jene User Interfaces inszenieren (müssen), die das Zweckmäßige als wesentlichen Teil dieser Inszenierungen verstehen. Nicht nur für Mark Weiser soll- 64 Arns: »Transparent World«, S. 257. 65 Ekman: »Complexity and Reduction«, S. 199. 66 Ekman: »Introduction«, S. 21. 67 Hofmann/Hornung: »Rechtliche Herausforderungen des Internets der Dinge«, S. 355. 68 Sprenger/Engemann: »Im Netz der Dinge«, S. 54. 69 Ebd. 70 Ebd., S. 48. NAVIGATIONEN 48 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN AN/LEITEN ten User Interfaces die Aufmerksamkeit auf das zu erreichende Ziel – und eben nicht auf »the machine itself«71 – lenken. Hinzu kommt, dass auch die neu zugestandene Handlungsmacht der compu- terisierten Dinge die Frage nach dem Zweck zu verabschieden scheint. Vor der aktuellen Technosphäre, so Erich Hörl, diente die Technik stets gegebenen und zu gebenden Zwecken, ge- horchte sie unablässig einer instrumentellen Logik von Mittel-Zweck- Relationen und schien sie diese zu implementieren, eine – wenn auch zunehmend verzweigte und verschlungene – ›Strukturierung von Zwecken‹ darzustellen und damit jedenfalls Teil und Träger einer ganz bestimmten, nämlich eben teleologischen Rationalität zu sein. Sondern umgekehrt wird nun gerade das Fehlen jeglicher gegebener Zwecke unabweisbar, zeigt sich die Technik als der absolute Agent dieses Feh- lens, beginnt Natur genau darin offensichtlich der Technik zu unterste- hen, zeichnet sich schließlich sogar eine wesentliche Technizität von Natur ab, die fortan je schon aller Zwecke bar gewesen sein wird.72 Tatsächlich aber muss eine Aufmerksamkeit für die Infrastrukturen dieser Entwick- lung unweigerlich Fragen nach den Zwecken und Wunschkonstellationen stellen. Das gilt für umfassende oder kleinteilige Aktivitäten, wie z.B. Serverparks zu be- treiben, Kabelnetze zu verlegen, Hardware-Rohstoffe abbauen zu lassen, Geräte zu konstruieren und zu verschrotten, Netzwerke anzulegen, Hard- und Software mit Menschen und Dingen zu verbinden und Programme aufzusetzen, die sich dann anleitend »verselbstständigen«. All dies gehört zu den Politiken der Interfaces, die das Wirken der gegenwärtigen Computertechnologie in seinen diversen Formen, Einsätzen und Verbindungen ermöglichen. Gerade der bewilligte Abschied von der Frage nach dem Zweck also könnte dem (Ein-)Verständnis zuarbeiten, mit diesem spezifisch Technischen eine Kraft vor und um sich zu haben, die wie eine magische oder göttliche Größe Unergründlich- keit beanspruchen darf. it just all works. it just works. Im Gegensatz dazu scheint mir gerade die Erinnerung an die Bedeutung der Programmierbarkeit, die z.B. depräsentierende Interface-Inszenierungen als Ästhe- tik der Verfügung anstoßen, zur Unausweichlichkeit der Zweck-Frage zu führen. Computer, auch wenn sie im Modus und Diskurs der Einbettung/des Verschwin- dens derzeit selbst eine Form von Depräsentation erfahren, sind an diese Frage gebunden. Das Universelle dieser programmierbaren Maschinen besteht darin, umfassenden (erträumt: allen) Zwecken zu dienen. Wie diese programmatische Zweckoffenheit mit der Rhetorik des Magischen zusammengeht, hat Ted Nelson gezeigt: »The surprise and magic is that the Computer has no nature at all. Intrisi- 71 Weiser: »Building Invisible Interfaces«. 72 Hörl: »Die Ökologisierung des Denkens«, S. 34. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 49 JAN DISTELMEYER cally it does nothing; somebody decided what it is to do and what are to be detailed steps for it to follow when it does.«73 general purpose bleibt das Versprechen; und zwar ausgehend von der Eigen- schaft – »ein umfassender Zweck« – zu rechnen, »weil diese semiotische Maschine im Prinzip alles berechnen kann, was im mathematischen Sinne berechenbar ist«.74 Dass sie für »jede Anwendung passend programmiert« werden können, so hat es 1950 Alan Turing formuliert, macht die »spezielle Eigenschaft digitaler Computer« aus.75 Die Variabilität der Zwecke war und ist untrennbar mit den Funktionswei- sen und Wunschkonstellationen von Computertechnologie verbunden. Die Frage, welchen Zwecken die gegenwärtige Computerisierung der Welt dient, ist auch aus diesem Grund unvermeidlich. Desto dringlicher wird sie, je stärker die Politiken der Interfaces von Unmerklichkeit ausgehen: je offensiver die Zwecke der univer- sellen Zweckmaschinen und ein implizites Wissen um sie nicht nur durch Deprä- sentationen angeleitet werden, sondern – ›unverzichtbar und unsichtbar‹, ›with me not even having to think about it‹ – auf Vertrauen gesetzt wird. LITERATURVERZEICHNIS Adamowsky, Natascha: »Vom Internet zum Internet der Dinge. Die neue Episteme und wir«, in: Sprenger, Florian/Engemann, Christoph (Hrsg.): Internet der Din- ge. Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durch- dringung der Welt, Bielefeld 2015, S. 231-265. Andersen, Christian Ulrik / Pold, Søren (Hrsg.): Interface Criticism. Aesthetics Bey- ond Buttons, Aarhus 2011. Andreas, Michael u.a.: »Technik | Intimität. Einleitung in den Schwerpunkt«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 15, Nr. 2, 2016, S. 10-17. Arns, Inke: »Transparent World. 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NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 53 »WALKING FOR DESIGN« Zur Evokation impliziten Wissens im Interaction Design für die mobile Mediennutzung V O N T I M O K A E R L E I N 1. URBANE MOBILITÄT UND IMPLIZITES WISSEN Wenn man nach den »Wahrnehmungsstilen, Körpertechniken und Wissensformen der digitalen Kultur«1 fragt, rückt das Gehen als Praxis in den Blick, die nicht le- diglich ein somatisches, sondern auch ein kollektives implizites Wissen um urbane Etikette, Orientierung, Navigation und die Choreographien von Körpern in Bewe- gung umfasst. Im Sinne Harry Collins’ muss hier sogar von einem starken impliziten Wissen ausgegangen werden, insofern es in Gänze prinzipiell nicht explizierbar ist, sondern nur durch Sozialisation und wiederholte Praxis erworben werden kann.2 Der auf Mauss zurückgehende Begriff der Körpertechniken betont insbesonde- re, dass der Gebrauch des eigenen Körpers eine kulturelle Variable darstellt, also beispielsweise abhängt von gruppenspezifischen Konventionen und medialen Re- präsentationen.3 In medienanthropologischer Hinsicht erscheint das Gehen seit Leroi-Gourhans Beobachtung des prähistorischen Zusammenhangs von bipedaler Fortbewegung und Werkzeuggebrauch zudem immer schon als hybride Praxis, die sich nicht auf anatomische Gegebenheiten reduzieren lässt, sondern weitere Tech- niken miteinbezieht – vom jeweiligen Schuhwerk über den getragenen Beutel oder Rucksack bis hin zu semiotischen und logistischen Systemen wie Straßenschildern und urbanen Infrastrukturen.4 In der medien- und kommunikationswissenschaftlichen Forschung zu mobi- ler Mediennutzung ist gerade die Körpertechnik des Gehens häufig thematisiert worden. Ein Sammelband zu Kulturen der Mobiltelefonie trägt den Titel personal, portable, pedestrian: Mobile phones in Japanese Life5, und für die aktuelle Forschung zu mobilen Medien ist vor allem die Phänomenologie des Zu-Fuß-Gehens ein zen- trales Thema.6 Insbesondere interessieren dabei das Verhältnis zwischen Augen, 1 Baxmann u.a.: »Ein Vorwort in zehn Thesen«, S. 14. 2 Vgl. Collins: Tacit and Explicit Knowledge, S. 119-138 zum sogennanten collective tacit knowledge, in dem u.a. das Beispiel des Straßenverkehrs diskutiert wird: »Negotiating traf- fic is a problem that is different in kind to balancing a bike, because it includes understand- ing social conventions of traffic management and personal interaction.« (ebd., S. 121) 3 Vgl. Mauss: »Die Techniken des Körpers«. 4 Vgl. Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Für die Adaption des Begriffs der Körpertechniken im Sinne einer Medienanthropologie vgl. Schüttpelz: »Körpertechniken«. 5 Vgl. Itō u.a.: Personal, Portable, Pedestrian. 6 Vgl. Wilken: »Mobilizing Place« und Richardson/Wilken: »Haptic Vision, Footwork, Place- making«. Hier wird u.a. auf Mauss, Merleau-Ponty und Don Ihde Bezug genommen. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 55 TIMO KAERLEIN Händen und Füßen und die Relationen von Körpern zu ihren jeweiligen Umwelten. Der gegenwärtige Fokus auf der Körpertechnik des Gehens oder Laufens markiert eine interessante Differenz zur Geschichte der Mobiltelefonie selber, die zunächst in engen Kopplungsverhältnissen zum Automobil auftrat.7 Dass gerade das Gehen mit dem Smartphone in der Hand zum Forschungsschwerpunkt werden konnte, verdankt sich veränderten Praktiken, bei denen der Gerätegebrauch parallel zu einer anderen Tätigkeit erfolgt und diese im Zuge dessen verändert.8 Der von ihrem Umfeld häufig als problematisch eingestuften Blindheit der Smartphone-FußgängerInnen steht die Generierung von neuen Sichtbarkeiten und Kontrollmöglichkeiten entgegen: So dient das mobile Endgerät beispielsweise der Navigation in einer fremden Stadt oder es liefert Informationen zur Anzahl täg- lich zurückgelegter Schritte und den dabei verbrannten Kalorien. Außerdem erhält es die Verbindung zu einem Netzwerk von sozialen Kontakten auch während der Bewegung aufrecht. In veränderter Perspektive lässt sich die Zuschreibung von Blindheit also umkehren und betrifft dann die mangelnde Verortung nicht-vernetz- ter Fußgänger in einem soziokulturellen Koordinatensystem: »To not have a keitai [Kurform von keitai denwa – tragbares Telefon, T. K.] is to be walking blind, discon- nected from just-in-time information on where and when you are in the social net- works of time and space.«9 Wer ohne mobiles Endgerät unterwegs ist, wäre in die- ser Perspektive von essenziellen Informationen über die Umgebung abgeschnitten. Der vorliegende Beitrag macht Designdiskurse zum Thema, die sich mit der Medialisierung der Körpertechnik des Gehens befassen. Zwar kann man ausge- hend vom Begriff der Körpertechniken bereits von einer grundlegenden Medialität des Gehens ausgehen, insofern kulturell geprägte Wissens- und Praxisformen sich zu »tacit mobility cultures«10 zusammenfügen, die beispielsweise das angemessene Verhalten beim Überqueren einer Straße oder die nonverbale Kommunikation mit Anderen im öffentlichen Raum betreffen. Doch in den hier thematisierten Design- diskursen steht noch anderes auf dem Spiel: Die Choreographien urbaner Mobi- lität umfassen längst mehr als ein verkörpertes Wissen um die Fortbewegung im Raum der Großstadt, sondern sie schließen zunehmend auch Abwesendes mit ein, zum Beispiel nicht ko-präsente Gesprächspartner mitsamt deren spezifischen Kon- texten, aber auch direkt von technischen Infrastrukturen bestimmte Größen wie Netzabdeckung, Stromversorgung und die Verfügbarkeit digital codierter Informa- 7 Vgl. Agar: Constant Touch, S. 46 und ausführlich mit Blick auf sich wandelnde Mobilitäts- kulturen Weber: »Mobile Electronic Media«. 8 Das trifft nicht nur auf das Gehen zu. Die Kulturkritik hat ein weites Feld von problemati- schen Umfeldern der Smartphonenutzung identifiziert und mit Schlagworten vom distrac- ted partying (die erste Reihe der Konzertbesucher beschäftigt sich demonstrativ mit dem Smartphone) bis distracted doctoring (der Chirurg wird durch Kurznachrichten auf seinem Gerät von der Arbeit abgelenkt) belegt. 9 Itō: »A New Set of Social Rules for a Newly Wireless Society« Vgl. in diesem Sinne auch Gordon/de Souza e Silva: Net Locality, S. 89: »Traditional metropolitan public space is perhaps becoming like the small town, where pure physically co-present social circles seem oppressively small. Not being connected to a network, not having access to infor- mation about where you are, is tantamount to being closed off to a space’s potential.« 10 Jensen: »›Facework‹, Flow and the City«, S. 161. NAVIGATIONEN 56 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN »WALKING FOR DESIGN« tionen zu den zurückgelegten Strecken und besuchten Orten. Die Wahrnehmung des urbanen Raums und ein sinnvolles Handeln darin hängen also ganz wesentlich von der erfolgreichen Nutzung mobiler Medien ab. Wie die verschiedenen Rele- vanzstrukturen jeweils situationsadäquat und sozial vertretbar aufeinander bezo- gen werden können, ist erklärte Aufgabe des Interaction Designs für die mobile Mediennutzung. 2. DIE KÖRPERTECHNIK DES GEHENS ALS GEGENSTAND VON DESIGN- DISKURSEN Spätestens als im September 2014 die zentralchinesische Stadt Chongqing den er- sten Gehweg für SmartphonenutzerInnen eröffnet, ist klar, dass die Körpertechnik des Gehens sich im Wandel befindet.11 Auf den eigens markierten Spuren darf man sich ins Display vertieft langsamer fortbewegen als üblich und die Benutzung erfolgt auf eigene Gefahr, weil entgegenkommende Smartphone-FußgängerInnen erwar- tungsgemäß nur im Ausnahmefall beim Gehen den Blick von den Geräten lösen. Grundlegender sind die Körpertechniken der urbanen Mobilität vor dem Hinter- grund ihrer historischen Genese zu verstehen, die in diversen Modernetheorien – unter anderem bei Simmel – ein zentrales Motiv darstellt.12 Die Begegnung mit einer großen Anzahl von Fremden auf gedrängtem Raum, wie sie für die Großstadt- erfahrung typisch ist, machte die Ausbildung veränderter Bewegungs- und Körper- haltungstechniken sowie Blickstrategien erforderlich, um jeweils lokal spezifisch ein sozial angemessenes Verhältnis von Nähe und Distanz, Öffentlichkeit und Privat- heit, etc. herstellen zu können. Zu diesem Set von adäquaten Verhaltensweisen sind auch noch bestimmte Interaktionen mit dem Smartphone zu rechnen, wäh- rend die Präsenz digitaler Geräte im städtischen Raum andererseits die ungeschrie- benen Regeln sozialer Etikette immer wieder aufs Neue herausfordert.13 Zur urba- nen Raumerfahrung von FußgängerInnen gehört der umherschweifende Blick, der in Kombination mit einer Reihe von Gesten eine erfolgreiche Navigation und die Vermeidung von Kollisionen erlaubt. Vor diesem Hintergrund sind Überlegungen dazu entstanden, ob die Nutzung von Mobilgeräten während des Laufens zu einer 11 Vgl. Anonymus: »China testet den Smartphone-Bürgersteig«. 12 Vgl. Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben« und Jensen: »›Facework‹, Flow and the City« für eine Zusammenfassung von Simmels Argumentation. Zentral bei Simmel ist der Begriff der ›Blasiertheit‹, der ein Ensemble von Strategien bezeichnet, durch selektive Aufmerksamkeitssteuerung mit der Reizüberflutung der Großstadt fertig zu werden. Vgl. auch Höflich: Mobile Kommunikation im Kontext, S. 103f. 13 Insbesondere der Kommunikationswissenschaftler Joachim Höflich hat sich mit den Ver- schiebungen sozialer Arrangements, Erwartungsmuster und Umgangsregeln vor dem Hintergrund der Diffusion mobiler Telefongeräte beschäftigt. Vgl. Höflich: »An mehreren Orten zugleich« und ders.: Mobile Kommunikation im Kontext, insbesondere S. 73-80, wo das »Gehen als grundlegendes soziales Geschehen« (ebd., S. 73) in den Blick genom- men wird. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 57 TIMO KAERLEIN Störung dieser Raumerfahrung führen und den Fluss koordinierter Bewegungen in der Großstadt beeinträchtigen könne.14 Das Interaktions- und Interface-Design für mobile Endgeräte steht somit vor der besonderen Herausforderung, eine ambulante Nutzung zu gestatten, wobei es unweigerlich zu einer Auseinandersetzung mit der sozialen und kulturellen Kom- plexität fluider alltäglicher Bewegungsabläufe kommt. Noch 2013 stellen Joe Mar- shall und Paul Tennent vom Mixed Reality Lab der University of Nottingham ernüch- tert fest: »Mobile Interaction Does Not Exist«, weil NutzerInnen zur Interaktion mit ihren mobilen Endgeräten in aller Regel stehenbleiben, um sich und andere nicht in Gefahr zu bringen.15 Ausgehend von dieser unbefriedigenden Situation ei- nes »zur Kollision tendierenden Verhältnis[ses] von Mensch-Maschine-Einheit und Umwelt«16 findet sich in anwendungsorientierten Disziplinen ein jenem der Kultur- wissenschaften vergleichbares Interesse an Körpertechniken und den »bodily ways of kowing and being in the world«17, die zur fußläufigen Fortbewegung notwendig sind, aber kaum oder gar nicht expliziert werden können. Dabei wird verstärkt da- rauf abgezielt, den Mediengebrauch als soma-ästhetische Praxis zu modellieren, die dynamisch in alltägliche Verhaltensweisen eingebunden werden und keine Störung etablierter Routinen verursachen soll.18 Die Forschung zur human-computer interaction (HCI) bewegt sich insgesamt weg von einem an formalisierbaren Arbeitsabläufen ausgerichteten Fokus auf Er- gonomie und effiziente Aufgabenbewältigung hin zur Betonung körperlicher Er- fahrungen. In der Wirtschaftsinformatik machte dafür bereits 2010 das Schlagwort vom experiential computing die Runde, worunter »digitally mediated embodied ex- periences in everyday activities through everyday artifacts with embedded computing capabilities« verstanden werden.19 Gegenüber dem Einsatz von Computern in in- stitutionellen Settings mit einem klar definierten Aufgabenprofil soll mit dem ex- periential computing die Betonung auf das Computing als Verb gelegt werden, als Betätigung, die häufig an der Aufmerksamkeitsperipherie stattfindet und simultan zu anderen Praktiken erfolgt.20 Die Gestaltung von Artefakten tritt gegenüber dem Interaktionsraum – oder, wie es in einem konzeptionellen Artikel heißt: der in- teraction gestalt21 – in den Hintergrund, was diese neueren Ansätze in die Nähe eines medienwissenschaftlichen Verständnisses von Interfaces rückt, in dem eben- falls Relationen und Prozesse anstelle statischer Eigenschaften von Objekten betont werden.22 14 Vgl. Wilken: »Mobilizing Place«, S. 44. 15 Marshall/Tennent: »Mobile Interaction Does Not Exist«. 16 Thiele: »Cellulars on Celluloid«, S. 307. 17 Eslambolchilar u.a.: »Ways of Walking«, S. 9. 18 Vgl. Shusterman: Body Consciousness. 19 Yoo: »Computing in Everyday Life«, S. 215. 20 Vgl. ebd., S. 217. 21 Vgl. Lim u.a.: »Interaction Gestalt and the Design of Aesthetic Interactions«. 22 Vgl. z.B. Hookway: Interface, S. 139: »[A]n interface theory describes the relations and events through which a system is produced and by which it operates, and so only secon- darily pertains to the entities constituting that system.« NAVIGATIONEN 58 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN »WALKING FOR DESIGN« 3. RHYTHMEN UND TExTUREN DES ALLTAGS: INTERACTION DESIGN UND NON-REPRESENTATIONAL THEORY Sogar sehr rezente Theorieentwicklungen innerhalb der Kulturwissenschaften werden von DesignerInnen aufgegriffen: So bezieht sich ein Aufsatz in einer Son- derausgabe der Zeitschrift Human technology vom Mai 2016 zum Thema »Human- Technology Choreographies: Body, Movement, & Space« auf Ansätze der non-re- presentational theory (NRT), die qualitative Beschreibungen gelebter körperlicher Erfahrungen möglich machen sollen, welche wiederum als Inspiration für das Inter- action Design körpernaher Technologien dienen können.23 Das Gehen wird dabei ausgehend von anthropologischen und ethnografischen Studien als soziotechnische Praxis begriffen. An die Stelle eines gängigen stop-to-interact-Modells bei der Inter- aktion mit mobilen Endgeräten soll künftig eine »rich, social, sustained, and graceful interaction with the artifacts« treten, die sich an ästhetischen Vorbildern wie Sur- fen, Skaten oder Golfen ausrichtet.24 Die AutorInnen versuchen zu diesem Zweck zunächst die Aufmerksamkeit auf die nur schwer zu verbalisierenden Qualitäten eines verkörperten In-der-Welt- Seins zu lenken: »Our intent is that these qualities can inspire designers to consider ways of walking as means of framing design problems associated with increasingly widespread mobile, embodied digital equipment.«25 Dazu bedienen sie sich unge- wöhnlicher Methoden wie dem Anlegen von Protokollen zu Geherfahrungen, der Sensibilisierung für das eigene Körperschema durch Barfußlaufen – »one needs to awaken the feet as a vital way of knowing about the world«26 – und der dialogisch- biographischen Reflexion körperlicher Erfahrungen in Form kurzer Vignetten. Sol- che an theoretischen und methodischen Prämissen der NRT ausgerichteten Ex- perimente gehen bereits über den Rahmen eines Verständnisses des Gehens als Körpertechnik hinaus, weil das Gehen gerade nicht als repetitive Alltagshandlung verstanden wird, sondern als sinnlich-affektive Praxis, die bestimmte Formen des Wissens über die begangene Umgebung miteinschließt.27 Die AutorInnen des Artikels beenden ihre Ausführungen mit einem Appell, der unmittelbar auf die Praxis des Designprozesses zielt: »We believe that designing for mobility, wearability, or walkability can usefully be improved by walking for design. Designers of mobile technology should walk more.«28 Wie an den zitierten For- mulierungen deutlich geworden sein dürfte, greift hier eine Achtsamkeitsrhetorik, also eine auf Momente von ›Präsenz‹ ausgerichtete Konzentration von Aufmerk- 23 Vgl. Eslambolchilar u.a.: »Ways of Walking«. Herangezogen werden unter anderem Lori- mer: »Cultural Geography«; Thrift: »The 27th Letter« und Vannini: »Non-Representatio- nal Ethnography«. 24 Eslambolchilar u.a.: »Ways of Walking«, S. 9 mit Verweis auf ethnografische Arbeiten zu den genannten Bewegungsformen. 25 Ebd., S. 13. 26 Ebd., S. 11. 27 Vgl. ebd., S. 12-25 für eine nach verschiedenen Aspekten wie Sinnlichkeit, Rhythmus und Kreativität aufgeschlüsselte Diskussion der gelebten Erfahrung des Gehens. 28 Ebd., S. 27. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 59 TIMO KAERLEIN samkeit auf die Textur der jeweiligen Situation, unter Einschluss von für gewöhnlich unbewusst verbleibenden Anteilen. Christoph Ernst hat gezeigt, dass sich aktuell die nahezu universell diskursiv anschlussfähige Forderung nach einem achtsame- ren Handeln in alltäglichen Kontexten mit dem ebenso weitgehend habitualisierten Gebrauch mobiler Medien verbindet.29 Im hier diskutierten Fall zielt die Anrufung von Achtsamkeit auf eine Erweiterung der Weltverhältnisse von NutzerInnen mo- biler Medien in dem Sinne, dass ihre situational awareness auf Aspekte ausgedehnt werden soll, die sich traditionellerweise der Wahrnehmung gerade entziehen, z. B. die Affordanzen digitaler Infrastrukturen, das Hinterlassen von digital footprints, kollektive Bedeutungszuschreibungen an besuchte Orte oder die Dispositionen ab- wesender Anderer. Was könnte das nun konkret für das Interaction Design bedeuten? Der hier im Mittelpunkt der Betrachtung stehende Beitrag macht dazu eher Andeutungen als dass direkt umsetzbare Designansätze geliefert werden. Leitidee scheint aber eine kohärente Neugestaltung des Verhältnisses von Organismus, Werkzeug und Um- welt mit dem Ziel der Einbeziehung unsichtbarer Affordanzen zu sein. Zur Umwelt sind neben den technischen Rahmenbedingungen der Konnektivität beispielsweise auch immaterielle Größen wie Erinnerungen, Atmosphären und mit bestimmten Orten verknüpfte Assoziationen zu rechnen.30 Diese im Zuge des Gehens realisier- ten Qualitäten lassen sich, so die AutorInnen, nicht auf die per Pedometer erfasste Anzahl zurückgelegter Schritte reduzieren, tragen aber fundamental dazu bei, wie der urbane Raum erlebt wird. Die Nutzung mobiler Medien müsse jedenfalls dy- namischer Bestandteil von Rhythmen und Texturen der Alltagserfahrung sein: »To accomplish a genuine sense of hybridity, human-technology relations should create a sense of ›being one‹ […] rather than being a layer abstracted from the practice.«31 Im Resultat lässt sich festhalten, dass die sozial synchronisierte Praxis des Gehens durch die Inklusion digitaler Nahkörpertechnologien weiter hybridisiert wird, was auch bedeutet, dass sich der design space zunehmend auf unsichtbare Größen wie Netzabdeckung und Daten-Infrastrukturen – der Designer Anthony Dunne spricht von einer »›Hertzian‹ landscape«32 – erweitert, die in den Choreographien der ur- banen Mobilität eine immer wichtigere Rolle spielen. Warum bietet sich für dieses Projekt nun gerade die NRT an und welche Rolle spielt in diesem theoretisch-methodischen Rahmen der hier im Vorder- grund stehende Aspekt des impliziten Wissens, ein »Wissen an den Grenzen der Beschreibbarkeit«?33 Unter der NRT wird ein recht disparates Feld mit Wurzeln in der Humangeographie verstanden, das weniger als homogene Theorie denn als »style of engagement with the world that aims to attend to and intervene in the taking-place of practices«34 auftritt. Ausgangspunkt des Ansatzes ist eine Kritik am 29 Vgl. Ernst: »Achtsames Ambient«. 30 Vgl. Eslambolchilar u.a.: »Ways of Walking«, S. 22f. 31 Ebd., S. 21. 32 Ebd., S. 23 sowie Dunne: Hertzian Tales. 33 Baxmann u.a.: »Ein Vorwort in zehn Thesen«, S. 15. 34 Anderson: »Non-Representational Theory«, S. 503. NAVIGATIONEN 60 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN »WALKING FOR DESIGN« sog. Repräsentationalismus in den Sozial- und Kulturwissenschaften, der – beispiels- weise in den vielen Spielarten sozialkonstruktivistischer Ansätze – ein Verständnis von Kultur als zu entzifferndem Text befördere. Statt symbolischen Vermittlungen und (textuellen) Repräsentationen gilt das Interesse der NRT folglich dem ereignis- haft-ephemeren und radikal dynamischen »›onflow‹ […] of everyday life«.35 Dieser lasse sich nicht auf bedeutungstragende Zeichen reduzieren, sondern kann – und an dieser Stelle lassen sich Aporien kaum mehr vermeiden – im Grunde nur evo- ziert werden, indem das Schreiben selbst als affektiv-performative Praxis aufgefasst wird, die bestimmte Empfindungen beim Leser hervorrufen soll.36 Dazu bedienen sich viele der NRT nahestehende AutorInnen experimentellen Ansätzen mit Vor- bildern in der Performance-Kunst und ihre Texte haben einen deutlichen literari- schen Einschlag. Während es traditionelleren wissenschaftlichen Ansätzen gerade um Distanzierung, intersubjektive Nachvollziehbarkeit, Abstraktion und Generali- sierung geht, strebt die NRT nach größtmöglicher Involviertheit der Forschenden mit ihrem Gegenstand, die sich nicht zuletzt als Betonung einer Dimension des ›unmittelbaren‹ körperlichen Erlebens artikuliert. Auffällig ist, wie sich das Selbstverständnis der NRT im Laufe der Jahre gewan- delt hat. Noch 2005 spricht Hayden Lorimer ihr die besondere Rolle eines »particu- larly effective lightning-rod for disciplinary self-critique«37 zu, d.h. an der Kritik der NRT aus unterschiedlichen Richtungen sei der Status der Theoriebildung innerhalb der Humangeographie und verwandter Felder abzulesen. Phillip Vannini spricht da- gegen 2015 bereits von einer »increasing acceptance of non-representational ideas across the field«38, während die Einleitung zu einem im gleichen Jahr veröffentlich- ten Methodenband vollmundig verkündet: »Non-representational theory is now widely considered to be the successor of postmodern theory, the logical develop- ment of poststructuralist thought, and the most notable intellectual force behind the turn away from cognition, symbolic meaning, and textuality.«39 Im Kern der NRT stehen jedenfalls »other ways of knowing«40 und dies sowohl auf Ebene der interessierenden Gegenstände, die von affektiven Resonanzen über Relationen, Er- eignisse, Körper und Praktiken hin zu Atmosphären und ›Hintergründen‹ reichen, als auch der eigenen methodischen Herangehensweise.41 Die Grenze zur Esoterik wird dabei mehr als nur gelegentlich überschritten: So ist beispielsweise in Vanninis Versuch, aus der NRT einen ethnografischen Ansatz abzuleiten, die Rede von »a sense of wonder and awe with a world that is forever escaping, and yet seductively demanding, our comprehension«.42 Darüber hinaus ist zu fragen, welche Möglich- keiten zur Kritik ein Ansatz bietet, der sich auf ein ›witnessing‹ bzw. ein »tuning- 35 Thrift: Non-Representational Theory, S. 5. 36 Vgl. Vannini: »Non-Representational Research Methodologies«, S. 12. 37 Lorimer: »Cultural Geography«, S. 83. 38 Vannini: »Non-Representational Ethnography«, S. 317. 39 Vannini: »Non-Representational Research Methodologies«, S. 2. 40 Vannini: »Non-Representational Ethnography«, S. 319. 41 Vgl. Vannini: »Non-Representational Research Methodologies«, S. 6-10. 42 Vannini: »Non-Representational Ethnography«, S. 320. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 61 TIMO KAERLEIN in to the event-ness of the world«43 verlegt statt beispielsweise die verborgenen Machtdimensionen zu thematisieren, die jede Form von Wissen mitbestimmen. Und dennoch: Die Faszination der NRT für das Nicht-Sagbare, stumm Voraus- gesetzte und notwendig implizit Bleibende im Vollzug alltäglicher Praktiken wird von Michael Polanyi geteilt, der von der Prämisse ausgeht: »we can know more than we can tell«44 und mit diesem Postulat eine grundlegende Wissenschaftskritik verbindet. So behauptet Polanyi, dass eine auf vollständige Beschreibbarkeit zie- lende Wissenschaft grundsätzlich ihren Gegenstand verfehlen müsse: »We can see now how an unbridled lucidity can destroy our understanding of complex matters. Scrutinize closely the particulars of a comprehensive entity and their meaning is effaced, our conception of the entity is destroyed.«45 An die Stelle einer epistemisch distanzierten Subjekt-Objekt-Relation setzt Polanyi den Gedanken eines subjekti- ven »indwelling«46 als Wissensbeziehung, die sich nicht nur im Alltag, sondern auch im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess wiederfinde. Auf vergleichbare Weise zielt die NRT auf ein lebensweltliches, intuitives und verkörpertes Wissen, wobei sie – methodisch fragwürdig – ebenjene Leerstelle zum erkenntnisleitenden Prin- zip erhebt, die Polanyi noch als blinden Fleck szientistischer Ansätze identifiziert hatte.47 4. EVOKATION STATT ExPLIKATION: IMPLIZITES WISSEN IM INTERACTION DESIGN FÜR DIE MOBILE MEDIENNUTZUNG Was heißt das nun für das Interaction Design für die mobile Mediennutzung? Heu- ristisch lassen sich zwei Herangehensweisen unterscheiden, wie DesignerInnen mobiler Interfaces mit implizitem Wissen umgehen: Während die Ansätze der be- havioristisch ausgerichteten mobile data science generell auf ein möglichst umfängli- ches Capturing und Mapping von Verhalten durch digitale Nahkörpertechnologien setzen, um letztlich auf statistischer Ebene Aussagen über Regularitäten und dies- bezügliche Optimierungspotenziale treffen zu können, wählen die DesignerInnen in Human technology einen anderen Weg. Statt ein positives Wissen über alltägliche Praktiken und Arten des Mediengebrauchs aus aggregierten Datenbeständen zu extrahieren und quantifizierenden Verfahren zu unterziehen, wird eher der Ver- such einer ›Einfühlung‹ in bestimmte Praktiken unternommen, von der ausgehend dann ›geschmeidigere‹, ästhetischere und besser auf die wechselnden Anforderun- gen der Umgebung abgestimmte Interfaces und Interaktionen zu gestalten sind.48 43 Ebd., S. 321. 44 Polanyi: The Tacit Dimension, S. 4. 45 Ebd., S. 18. Vgl. in diesem Zusammenhang Thrift: Non-Representational Theory, S. 2: »[P]erhaps too much in the way of clarity should not necessarily be counted as a good thing.« 46 Polanyi: The Tacit Dimension, S. 17. 47 Vgl. für die Diskussion eines Zusammenhangs zwischen Polanyi und der NRT Dirksmeier/ Helbrecht: »Time, Non-Representational Theory and the ›Performative Turn‹. 48 Zur Setzung von »suppleness« (Geschmeidigkeit) als erstrebenswerter Nutzungsqualität vgl. Isbister/Höök: »On Being Supple«. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausfüh- NAVIGATIONEN 62 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN »WALKING FOR DESIGN« Steht bei der Frage nach dem Zusammenhang von Interfaces und implizitem Wis- sen üblicherweise das Problem der Explizierung von relevantem Kontextwissen im Vordergrund, soll im hier betrachteten Fall der Designprozess mit Hilfe performati- ver Schreibpraktiken mit einem Wissen um die nicht-repräsentierbaren Dimensio- nen alltäglichen Medienhandelns angereichert werden. Es geht mithin also um eine applizierte Theorie der Lebenswelt, die vermittelt über die diskutierten Designdis- kurse an einer Neugestaltung ebenjener Lebenswelt mitwirkt. Damit wiederholen die DesignerInnen auf aktualisierter theoretischer Grund- lage ein epistemisches Manöver, das Nigel Thrift – selbst zentraler Protagonist der NRT – bereits für das Verhältnis von Softwaredesign und Leibphänomenologie beschrieben hatte: »[M]ore and more software and ergonomics is derived from models of embodied knowledge which arise precisely out of the critique of informational models put forward by authors like Merleau-Ponty […] (which is now, ironically, being written into the software that surrounds us)«.49 Die aktuellen Versuche, die NRT für das Interaction Design zu mobilisieren, sind eine Wiederho- lung dieses Vorgangs, der im Resultat dazu führen könnte, dass die Körpertechnik des Gehens, ganz ähnlich wie es Thrift für das Fahren in der Stadt beschrieben hat, zunehmend von technischen Mediatoren durchwirkt wird, sodass es zu einer weitgreifenden und schwer zu durchschauenden Amalgamierung menschlicher und technischer Agenturen kommt. Die Besonderheit des sich eröffnenden design space liegt gerade darin, dass er auf der Ebene impliziten Wissens angesiedelt ist, Interventionen dort aber das Potenzial haben, als »subliminal stimuli«50 zu wirken, also auf Verhalten einzuwir- ken, ohne dass das Bewusstsein sich davon Rechenschaft ablegen kann. Jenseits der Vorstellung autonomer UserInnen, die sich an klar definierte Aufgaben begeben, wird das über Interfaces und gestaltete Interaktionen vermittelte Mensch-Technik- Verhältnis in diesen neueren Design-Ansätzen u.a. als Affektgefüge angeschrieben: »Affect theories […] provide an alternative account of human-technology entan- glement and materiality, suggesting that technologies are not merely entangled in human reasoning, deliberate practices, or discourses, but constitute a force that registers in corporeal and pre-cognitive ways.«51 Eine medienwissenschaftliche In- terface-Forschung, so mein Plädoyer, kann dazu beitragen, dieses ›technologische Unbewusste‹ kritisch daraufhin zu befragen, welche unausgesprochenen Prämis- sen, Interessen und Macht-Asymmetrien in ihm versammelt werden und sich zu einem »new background to everyday life«52 verdichten. rungen Hookways (Interface, S. 66) zu einer »fluidity of behavior« als Effekt von Inter- faces. 49 Thrift: Non-Representational Theory, S. 86. 50 Polanyi: The Tacit Dimension, S. 14. 51 Bødker/Chamberlain: »Affect Theory and Autoethnography in Ordinary Information Sys- tems«, S. 2. 52 Thrift: Non-Representational Theory, S. 85. 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NAVIGATIONEN 66 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN SENSOR UND SINNLICHKEIT Humanoide Roboter als selbstlernende soziale Interfaces und die Obsoleszenz des Impliziten V O N T H O M A S C H R I S T I A N B Ä C H L E , P E T E R R E G I E R U N D M A R E N B E N N E W I T Z 1. EINLEITUNG Computerisierbares Wissen ist notwendigerweise explizit: Die Eindeutigkeit al- gorithmischer Anordnungen von Operatoren und Zeichen lässt keinen Platz für Bedeutungen, die sich außerhalb der determinierten formalen Sprache – als eben implizites Wissen – befinden. Tatsächlich scheint sich die Notwendigkeit für eben jene Unterscheidung impliziten und expliziten Wissens auch durch die Verbrei- tung des Computers zu Beginn des 20. Jahrhunderts konsolidiert zu haben. Für die Bezeichnung desjenigen Wissens, das sich »der Möglichkeit der Repräsenta- tion« und der »Vermittlung von Fähigkeiten« über strukturierte Abbilder entzog, benötigte man eine eigene Beschreibungskategorie: »Dieser Terminus hieß ›impli- zites Wissen‹«1. Akzeptiert man zunächst diese eng an die Computerisierung ge- bundene Unterscheidung, entsteht mit der Entwicklung von Computersystemen in humanoider körperlicher Gestalt eine besondere Beziehung zwischen diesem impliziten Wissen und Interfaces als Orten komplexer Vermittlungsleistungen zwi- schen Menschen, sozialer Realität und Technologie. Die Besonderheit rührt daher, dass diese Computersysteme mit einem mechanischen Körper ausgestattet und auf diese Weise dazu befähigt sind, ihre Umwelt nicht nur passiv zu erfassen oder mit Wissen über diese programmiert zu werden. Sie können vielmehr aktiv auf sie einwirken und mit Objekten, Menschen oder Tieren interagieren. Dies über- antwortet das Computersystem der Sphäre des impliziten, praktischen Wissens, eines »stummen« Wissens,2 das sich qua Definition nur schwer formalisieren lässt, sondern vielmehr körperlich eingeübt werden kann. Neben dieser ganz wesentlichen kategorialen Verschiebung ergibt sich dar- aus auch ein zunächst unauflösbar erscheinender Widerspruch: Allen Handlungen oder Interaktionen eines Roboters in Menschengestalt muss notwendigerweise eine Vermittlung zwischen dem Computersystem und der es umgebenden Umwelt vorangehen. Ein nicht algorithmisch ausdefiniertes, implizites Wissen (wie soziale Normen oder kollektive Praktiken) muss mit anderen Worten stets in eine explizite Form überführt werden, was ganz grundsätzlich in Frage stellt, ob – der Roboter- Körperlichkeit zum Trotz – ein computerisierbarer Zugang zu diesem impliziten 1 Collins: »Drei Arten impliziten Wissens«, S. 95. 2 Polanyi: Implizites Wissen. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 67 THOMAS CHRISTIAN BÄCHLE / PETER REGIER / MAREN BENNEWITZ Wissen (z.B. als angemessen erachtete Skripte sozialen Verhaltens) überhaupt vor- stellbar ist. Vor diesem Hintergrund wird im vorliegenden Beitrag die These verfolgt, dass soziale, humanoide Roboter zusammen mit neuen Rechenverfahren der Künstliche Intelligenz-Forschung wie jüngeren Ausprägungen des maschinellen Lernens (Deep Learning oder Deep Reinforcement Learning) dazu in der Lage sind, auch mit den Di- mensionen impliziten Wissens umzugehen. Nach einer einführenden Betrachtung des sensoriellen Weltbezugs (Kap. 2) werden in einem nächsten Schritt humano- ide Roboter als soziale Interfaces betrachtet, die auch auf implizite Formen des Wissens zugreifen können (Kap. 3). Zwar ist die Körperlichkeit des humanoiden Roboters kategorial von einer menschlichen verschieden. Wie aber argumentiert werden soll, lässt sich eine funktionale Äquivalenz zu einem embodied knowledge feststellen (Kap. 4). Die mit einem Körper ausgestatteten humanoiden Roboter können sich mithilfe der Verfahren des maschinellen Lernens prinzipiell auch impli- zite Wissensformen autonom erschließen (Kap. 5). Lässt sich folglich ein implizites Wissen von einer expliziten Ausprägung überhaupt (noch) sinnvoll unterscheiden?3 2. ROBOTER UND IHR BEZUG ZUR WELT: SENSOREN, INTERFACES, UMWELT Allgemeine Definitionen für Interfaces begreifen dieses üblicherweise als Grenzli- nie zwischen zwei voneinander unabhängigen Systemen. In einem computertech- nischen Sinn verläuft diese dabei entweder zwischen menschlicher Nutzerin und Betriebssystem (user interface als Tastatur, Maus oder graphical user interface, GUI), zwischen Software-Anwendungen oder Soft- und Hardware (software interface als Code) oder schließlich als Technik zwischen unterschiedlichen Geräten (hardware interface als Verbindungskabel, Stecksysteme etc.). Human/robot interfaces zwi- schen Mensch und Maschine sind selbstverständlich von besonderem Interesse bei der Entwicklung humanoider Roboter, da durch diese eine Interaktion erst möglich wird. Über dieses Verständnis hinausgehend kann auch die grenzlinie zwischen um- welt und computersystem, die mithilfe von Sensoren überwunden wird, als Interface gedeutet werden. Diese Perspektive ist in der Informatik nicht gängig: Physikalische Sensoren werden in der Regel in einem instrumentellen Sinn als Lieferanten neutra- ler Informationen verstanden, die ihrerseits in einer Abbildbeziehung zur Umwelt stehen. Doch versteht man den sensoriellen Input der Informationsverarbeitung in Analogie dazu als Wahrnehmung, dann stellen sowohl user interfaces als auch Sensoren funktionale Schnittstellen zur Umwelt dar, in der sich der Roboter orien- tieren kann. 3 Die VerfasserInnen des Beitrags danken Christoph Ernst für die hilfreichen Anmerkungen bei der Erstellung des Manuskripts. NAVIGATIONEN 68 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN SENSOR UND SINNLICHKEIT Das Interface ist, in einer allgemeineren Lesart, ebenjene Form dieser funktio- nalen Beziehung zwischen der informationsverarbeitenden Einheit und ihrer Um- welt: the interface is a form of relation that obtains between two or more distinct entities, conditions or states such that it only comes into being as these distinct entities enter into an active relation with one another […]. [The] interface is that form of relation which is defined by the simultaneity and inseparability of its processes of separation and aug- mentation, of maintaining distinction while at the same time eliding it in the production of a mutualism that may be viewed as an entity in its own right, with its own characteristics and behaviors that cannot be reduced to those of its constituent elements.4 Das Interface als Form ist Resultat und gleichzeitig Ergebnis eines hochgradig dyna- mischen Prozesses des Trennens und Verbindens, der Beschränkung und Öffnung, der Disziplinierung und der Befähigung, der Exklusion und Inklusion.5 Deutlich wird in dieser Definition, dass das Interface kein neutraler Ort ist, sondern Öffnen und Verbinden, Beschränkung und Versagung jeweils von materiellen oder semiotischen Strukturen geprägt werden. Dies betrifft selbstverständlich GUIs, indem diese bestimmte Handlungs- und Kommunikationsweisen zur Auswahl stellen, die dadurch die Interaktion von menschlichen Akteuren mit Robotern nachhaltig prägen.6 Für das hier verfolgte Argument entscheidender ist jedoch die Herstellung einer das Roboter-System um- gebenden Welt als Resultat aus einer hochgradig selektiven Konstruktionsleistung. Sensoren stellen die erste wichtige Übersetzungsleistung von implizitem in expli- zites Wissens dar: In einem solchen »Sensor-Interface« werden aus elektrischer Spannung Daten konstruiert, die Grundlage für eine Interpretation der das System umgebenden Umwelt nach Maßgabe modellhafter Vorüberlegungen sind (z.B. wird ein fotoelektrischer Effekt in Farbwerte übersetzt). Daraus ergibt sich ein explizit definiertes Abbild der Umwelt. Eine zweite Übersetzungsleitung erfolgt dann in- nerhalb dieses Abbilds, indem Muster (z.B. Objektstrukturen) darin erkannt wer- den. Fundamental können in diesem Übersetzungsschritt auch anthropologische Grundannahmen explizit codiert sein, was insbesondere in performativen Prozes- sen zum Ausdruck kommt, indem etwa menschliche Mimik, Gesten und Bewegun- gen als Zeichen erkenn- und reproduzierbar werden (s. Kap. 3).7 4 Hookway: Interface, S. 4. 5 Hookway (ebd.) beschreibt das Interface als »coupling of the processes of holding apart and drawing together, of confining and opening up, of disciplining and enabling, of exclu- ding and including«. 6 Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang bei Technologien und Interfaces, die be- stimmte gewünschte Bedienweisen und Entscheidungen durch ein entsprechendes In- terface-Design durchsetzen. Zu diesen Formen des »Digital Nudging« siehe Mirsch u.a.: »Digital Nudging«. 7 Die anthropologischen Grundannahmen werden auch über die angestrebte Menschen- NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 69 THOMAS CHRISTIAN BÄCHLE / PETER REGIER / MAREN BENNEWITZ Der humanoide Roboter ist ausgerüstet mit den menschlichen Sinnen nach- empfundenen Sensoren. Neben der Erfassung akustischer Reize durch Mikrofone wird dies besonders deutlich mit der binokularen Stereo Vision8, bei der zwei Farb- kameras eine räumliche Wahrnehmung ermöglichen. Heute ist dafür eine Kom- bination aus Farb- (RGB), Tiefensensor und Infrarot-Kamera9 gebräuchlich. Auch haptische Wahrnehmung wird als körperspezifischer Sinn in der Robotik simuliert, indem »taktile Sensoren« an einer anthropomorphen Hand10 Druckempfindungen messen – eine »künstliche Haut«, die insbesondere bei »sozial interaktiven Robo- tern« Anwendung findet.11 Entwickelt werden auch Wege der Objekterkennung durch den olfaktorischen Sinn »riechender Roboter«12. Die spezifischen technischen, materiellen oder symbolischen Eigenschaften ei- nes »Sensor-Interface« definieren und prägen dabei ganz zentral das Wissens über die dadurch konstruierte Welt. Allein die Erwägungen, welche Sensoren zum Ein- satz kommen (ist eine visuelle Orientierung ausreichend oder bedarf es zusätz- lich einer haptischen Ergänzung?) sowie deren Platzierung spielen eine wichtige Rolle. Hinzu kommen modellhafte Vorstellungen, die explizit aus einer informa- tionsökonomischen Sicht gestaltet sind: Der Sensor und die durch ihn erhobenen Daten werden so definiert (beispielsweise die Struktur eines Objekts), dass sie der Erfüllung einer bestimmten Aufgabe dienlich sind (zum Beispiel der Lokalisation desselben). Ein Abbild der physischen Umgebung kann etwa konstruiert werden, indem die Reflektion eines ausgesandten Lichtpulses und seiner Laufzeit gemessen wird, woraus die Entfernung zu materiellen Strukturen berechnet werden kann. Innerhalb dieses Übersetzungsprozesses werden Daten zunächst fabriziert, um in einem zweiten Schritt nach Maßgabe der modellhaften Überlegungen interpretiert zu werden.13 Dargestellt werden kann dies mithilfe eines Tiefenbilds – einer Punk- tewolke, die elektrische Spannung visualisiert: ähnlichkeit humanoider und sozialer Roboter manifest, indem beispielsweise ein ›natürli- ches‹ Sozialverhalten explizit codiert wird, das Lern- oder Wahrnehmungsprozesse ein- schließt. 8 Murray/Little: »Using Real-Time Stereo Vision for Mobile Robot Navigation«. 9 Das RGB-D-Bild ist eine Repräsentation der Umwelt, die einerseits aus einem zweidi- mensionalen, additiven Farbraum der Grundfarben Rot, Grün und Blau besteht, die an- dererseits mit räumlichen Informationen einer dritten Dimension (»Tiefe«, depth, D) an- gereichert werden. Jedem Pixel als kleinster Einheit dieses Bildes wird die Distanz zum jeweils Dargestellten zugeordnet. Dies ist die Grundlage für die Repräsentation der Um- welt als einer sogenannten Punktewolke. 10 Jamone u.a.: »Highly Sensitive Soft Tactile Sensors for An Anthropomorphic Robotic Hand«. 11 Silvera-Tawil u.a.: »Artificial Skin and Tactile Sensing for Socially Interactive Robots«; Mit- tendorfer u.a.: »Realizing Whole-Body Tactile Interactions with a Self-Organizing, Multi- Modal Artificial Skin on A Humanoid Robot«. 12 Loutfi u.a.: »Object Recognition«. 13 Latour: Die Hoffnung der Pandora. NAVIGATIONEN 70 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN SENSOR UND SINNLICHKEIT Abb. 1: tiefenbild/punktewolke – Visualisierung der umwelt des Roboters (Humanoid Robots Lab, universität Bonn). Dass diese ›Wahrnehmung‹ der Umwelt eine geschlossene und durch die Model- lierung der Daten determinierte Konstruktion ist, wird deutlich, wenn diese Per- zeption gestört ist. Der Bezug zur Welt wird in den Sensoren nur als elektrische Spannungsänderung erfasst. Ein »Sensorfehler« ist damit kein primärer Fehler der Schnittstelle zur Welt, sondern auch hier einer der Modellierung von Welt als po- sitiv ausformuliertem Referenzsystem. Bereits die Messgröße »Distanz« ist selbst schon eine Modellierung, eine Interpretation der durch Sensoren gewonnenen Da- ten, denn die Laufzeit des Lichtimpulses ist in unterschiedlichen Trägermedien (z.B. bei Smog) variabel. Der Sensorfehler ist ein Modellfehler. Physikalische Sensoren und Welt-Modelle sind nicht nur geschlossene und explizit ausdefinierte Referenzsysteme, sondern in der Regel auch mit einer Ziel- orientierung gestaltet und damit nicht in einer Weise, die auch ›überschüssiges‹, implizites Wissen effektiv für das ganze Robotersystem verwendbar macht. Doch in den sozialen Fähigkeiten humanoider Roboter, so soll sich zeigen, kann sich diese Beschränkung lösen. 3. HUMANOIDE ROBOTER ALS SOZIALE INTERFACES UND IHR ZUGANG ZU IMPLIZITEM WISSEN »We can’t really talk about Artificial Intelligence with Nao« – die Webseite des Un- ternehmens Softbank Robotics ist bei der Beschreibung seines 58 cm großen huma- noiden Roboters auf beinahe ernüchternde Weise deutlich.14 Umso erstaunlicher ist es, dass er serienmäßig mit der Funktion »Autonomous Life« ausgestattet ist, die bereits viel weniger bescheiden klingt: »Autonomous Life is the key element making NAO alive and responsive«.15 Das »autonome Leben« meint in den Basis- einstellungen – die nach Belieben an- oder ausgeschaltet werden können –, dass der humanoide Roboter seinen Kopf Menschen zuwendet und auf Stimuli wie Ge- räusche, Bewegungen oder Berührungen reagiert. Elaborierter erscheinen dann die verbalen oder non-verbalen Interaktionen, in denen (vordefinierte) Fragen be- antwortet werden können und der Eindruck eines Dialogs entsteht. Diese ›spon- 14 SoftBank Robotics: »Find out more about Nao«. 15 Aldebaran Documentation: »Understanding Autonomous Life Settings«. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 71 THOMAS CHRISTIAN BÄCHLE / PETER REGIER / MAREN BENNEWITZ tanen‹ Aktionen werden simuliert durch einen Zufallsalgorithmus: Nao gibt nicht immer identische Antworten, sondern variiert beispielsweise aus drei program- mierten Optionen. Dieses Theater, dem ein sehr abstraktes und vereinfachtes Mo- dell menschlicher Interaktionsformen zugrunde liegt, wird nach kurzer Zeit als ein solches durchschaubar. Es handelt sich aber trotz seiner hochgradigen Formalisie- rung um eine sehr effektive Performance. Schnell – und keinesfalls unberechtigt – wäre aus dieser etwas banalen An- wendung des humanoiden Roboters der Vorwurf eines »ontologischen Theaters«16 abzuleiten, eines Wissens, das aufgeführt wird, aber keines ist.17 Doch mit dem humanoiden, sozialen Roboter geschieht mehr als bloße Performance. Die kate- goriale Trennung zwischen einer performativen und einer epistemologischen, auf Bedeutung und Verstehen basierten Kybernetik wird mit den Fähigkeiten sozialer Roboter aufgehoben, da es sich um ein Wissen handelt, dass eng an Körperlichkeit und Performance gebunden ist. Der Anschein einer ›natürlichen‹ Interaktion wird nur dadurch möglich, dass auch implizites Wissen modellhaft erfasst werden kann. Entscheidend sind hierfür die ästhetischen und funktionalen Eigenschaften eines humanoiden Roboters, die diesen zu einem sozialen Interface machen, das – zumin- dest prinzipiell – einen Zugang zu sozialen Normen oder Emotionen menschlicher Gesprächspartner aufbauen kann und dadurch in der Lage ist, neue Wissensformen zu erschließen. Dies basiert vor allem auf kommunikativen Fähigkeiten, die einen social robot nach funktionalen (durch die Möglichkeit eines sozialen Kommunikati- onsverhaltens in bestimmten Kontexten) und formalen (durch seine anthropomor- phe Erscheinung) Kriterien möglichst eindeutig als potentiellen Interaktionspartner für Menschen codieren: […] it needs specific communicative capabilities to become a social ro- bot. First, it implies the robot to behave (function) socially within a context and second, it implies the robot to have an appearance (form) that explicitly expresses to be social in a specific respect to any user. From this point of view, a social robot contains a robot and a social interface […]. A social interface encloses all the designed features by which a user judges the robot as having social qualities. In principle, it is a metaphor for people to interact naturally with robots.18 Zu den sozialen Interaktionsformen des Roboters gehört neben der humanoiden Gestalt insbesondere ein Gesicht: »with a face the robot is able to send social sig- nals, i.e. non-verbal signals like displays of emotion and the robot is able to be 16 Pickering (The Cybernetic Brain, S. 21) beschreibt damit die frühen Modelle einer auf Performativität gegründeten Kybernetik. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang auch derzeit in der sozialen Robotik gängigen »Wizard of Oz«-Experimente, in denen der mit menschlichen ProbandInnen interagierende Roboter ferngesteuert wird. Die Interak- tionspartner entwerfen dennoch eine Realität, in der sie dem Roboter soziale Kompeten- zen und Autonomie zuschreiben. 17 Bächle: Mythos Algorithmus, S. 250ff. 18 Hegel u.a.: »Understanding Social Robots«, o.S. NAVIGATIONEN 72 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN SENSOR UND SINNLICHKEIT attentive just by looking at something or someone«19. Die sozialen Funktionen umfassen etwa artificial emotions, die Simulation einer geteilten Aufmerksamkeit oder Spracherkennung und -produktion. Insbesondere der Etablierung einer non- verbalen Kommunikationsebene durch die Codifizierung von Emotionen wird in der Informatik eine stetig wachsende Aufmerksamkeit zuteil (affective computing).20 Die funktionalen, formalen und kontextspezifischen Eigenschaften eröffnen der Technologie mit Menschen geteilte soziale Kommunikationsebenen und da- durch zugleich den Zugang zu vormals unsichtbaren Dimensionen des Weltbezugs. Dieses Unsichtbare ist ein implizites Wissen, das per Definition »nicht explizit ge- macht werden kann«: Die ganze Idee impliziten Wissens existiert nur, weil wir einiges Wissen explizit machen können und so ist die Idee impliziten Wissens immer schon eine Reflexion der idee expliziten Wissens […]. ohne explizites Wissen kann es auch keine Vorstellung von einem impliziten Wissen ge- ben.21 Collins hebt – wie einleitend bereits erwähnt – ausdrücklich die Rolle des Compu- ters hervor, der die Notwendigkeit einer begrifflichen Bezeichnung für Wissens- formen, die sich einer computation entziehen, augenscheinlich nötig machte. Diese Beobachtung setzt sich, allgemeiner gesprochen, in einer »medientheoretischen Implikation«22 fort, die insbesondere bei der (versuchten) Übersetzung des implizi- ten Wissens in andere mediale Formen relevant wird. Auffällig ist, dass die Unterscheidung zwischen impliziten und expliziten For- men des Wissens in der KI-Forschung emphatisch genutzt wird, um ein Differenz- kriterium zwischen einer menschlichen und einer artifiziellen Intelligenz zu un- terstreichen. What computers can’t Do lautet hier der bekannte Schlachtruf von Dreyfus,23 der mit dem Begriffspaar knowledge/skills symbolisch formalisierbares und abstrakt erlernbares Wissen von kontext- und praxisbezogenem (Handlungs-) Wissen unterscheidet. Was Computer nicht können ist auch hier: implizit. Was ändert sich mit sozialen Robotern? In den oben ausgeführten Eigenschaf- ten kann er als ein umfassendes soziales interface gelten24, das prinzipiell zu verba- len, non-verbalen und paraverbalen Kommunikationssystemen einen Zugang hat und damit funktional offen für die Überschüsse impliziten Wissens ist. Dies wird möglich, indem im Allgemeinen von menschlichen Interaktionspartnern ein durch diese erlerntes Modell des Sozialen auf die ›anthropomorphisierte‹ und ›sozialisier- te‹ Entität projiziert wird: 19 Ebd. 20 Picard: »The Promise of Affective Computing«. 21 Collins: »Drei Arten impliziten Wissens«, S. 95 (Herv. im Orig.). 22 Vgl. den Beitrag von Christoph Ernst im vorliegenden Heft. 23 Dreyfus: What Computers Can’t Do. 24 Ishiguro: »Interactive Humanoids and Androids as Ideal Interfaces for Humans«. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 73 THOMAS CHRISTIAN BÄCHLE / PETER REGIER / MAREN BENNEWITZ If the robot’s observable behavior adheres to a person’s social model for it during unconstrained interactions in the full complexity of the human environment, then we argue that the robot is socially intelligent in a genuine sense. Basically, the person can engage the robot as one would another socially responsive creature, and the robot does the same. At the pinnacle of performance, this would rival human-human interaction.25 Je nach Komplexität des Roboterdesigns erlaubt dieses unterschiedliche Grade, sich den sozialen Modellen menschlicher Interaktionen und sozialen Umwelten zu nähern. Zu den komplexesten Formen zählt die Empfänglichkeit für soziale Markierungen: socially receptive robots also benefit from interactions with people. Such examples often involve robots that learn from interacting with people through human demonstration (following a training model), such as acquiring motor skills […] or a proto-language [...]. Interactions with people affect the robot’s internal structure at deeper levels, such as organizing the motor system to perform new gestures, or associating symbolic labels to incoming perceptions. People can shape the robot’s behavior through other social cues, such as using gaze direction or head pose to direct the robot’s attention to a shared reference.26 Die Wahrnehmung von social cues, die Nachahmung menschlicher Verhaltenswei- sen oder die Internalisierung motorischer Routinen, befähigen den Roboter zu ei- ner sozialen Adaptionsleistung, die explizit sprachlich codierte Wissensformen weit übersteigen. Er wird dadurch zu einem Interface zwischen explizitem und (vor- mals) implizitem Wissen, da die Beziehung seines materiellen (Roboter-)Körpers zu seiner Umwelt, ein erlerntes »angemessenes« Verhalten oder gruppenspezifische Interaktionspraktiken zum Teil seiner Adaptionsfähigkeit werden. Noch deutlicher wird dieser Bezug bei der höchsten Stufe – »sociable« –, einer maschinellen »Ge- selligkeit«, bei der der Roboter nicht länger sozial passiv ist, sondern innere Ziel- setzungen erfüllt: Sociable robots are socially participative ›creatures‹ with their own internal goals and motivations. They pro-actively engage people in a social manner not only to benefit the person (e.g., to help perform a task, to facilitate interaction with the robot, etc.), but also to benefit itself (e.g., to promote its survival, to improve its own performance, to learn from the human, etc.) […]. Hence, social interactions with people are valued not just at the interface, but at a pragmatic and functional 25 Breazeal: »Toward Sociable Robots«, S. 168 (Herv. T.C.B. u.a.). 26 Ebd., S.169. NAVIGATIONEN 74 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN SENSOR UND SINNLICHKEIT level as well. Such robots not only perceive human social cues, but at a deep level also model people in social and cognitive terms in order to interact with them. The design of the robot maps the human’s social model for it to underlying computational entities. Hence the robot’s social behavior is a product of its computational social ›psychology‹.27 Es wird in diesen Ausführungen zugleich deutlich, dass die Beschreibung der »so- zial« genannten Technologie aus einem Entwicklungszusammenhang selbst einen anthropomorphisierenden Beitrag zu deren Wahrnehmung leistet.28 Treffend er- scheint daher eine Einschränkung: »A social robot is an autonomous or semi-auton- omous robot that interacts and communicates with humans by following the behav- ioral norms expected by the people with whom the robot is intended to interact«.29 Soziale Roboter müssen selbstverständlich immer zugleich als technologische Ar- tefakte mit definierter sozialer Rolle angesehen werden, in denen Vorannahmen über anthropologische Bedingungen und soziale Ordnungen eingeschrieben sind und reartikuliert werden. Auch die Rolle des Körpers – und des Körperwissens – bedarf einer kritischeren Einordnung (Kap. 4). Dennoch ist die Besonderheit dieser sozialen Interfaces, dass nicht nur die expliziten Wissensstrukturen in der Technik fortgesetzt werden. »Sozialisation« nennt Collins bezeichnenderweise auch denje- nigen »Prozess, durch den implizites Wissen verbreitet wird.«30 Der sociable robot ist hierfür ein ideales Interface und da er lernfähig ist, werden auch implizite Wis- sens-, Normen- und Wertesysteme zum Teil der Technologie (Kap. 5). 4. EMBoDiED RoBot KnoWLEDgE? KÖRPERLICHKEIT ALS MATHEMATISCHE FUNKTION Wie also nimmt der Roboter-Körper sich selbst wahr? In der Unterscheidung von Set-up (einer konkreten materiellen Realumgebung) und Simulation, ihrer modell- haften physikalischen Abbildung, die bei der experimentellen Entwicklung huma- noider Roboter üblich ist (z.B. Perzeption und Lokalisierung von Objekten), wird die Rolle eines Weltbezugs als Übersetzungsleistung besonders deutlich. In der simulierten – visuellen – Welt können beispielsweise Bewegungsabläufe erprobt werden, die ›realer‹ Bewegungen des Körper-Interface zunächst überhaupt nicht bedürfen: Körperlichkeit und körperlicher Weltbezug des Roboters sind selbst le- diglich Teil der Simulation und auch seine Umwelt wird nur sehr selektiv in Katego- 27 Ebd. 28 In einer anderen Definition sozialer Roboter heißt es etwa, bei ihnen handele es sich um »embodied agents [as] part of a heterogenous group […]. They are able to recognize each other and engage in social interactions, they possess histories (perceive and interpret the world in terms of their own experience), and they explicitly communicate with and learn from each other« (Fong u.a.: »A Survey of Socially Interactive Robots«, S. 144). 29 Bartneck/Forlizzi: »A Design-Centred Framework for Social Human-Robot Interaction«, S. 592. 30 Collins: »Drei Arten impliziten Wissens«, S. 92. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 75 THOMAS CHRISTIAN BÄCHLE / PETER REGIER / MAREN BENNEWITZ rien erfasst. Ausprägungen eines impliziten Wissens – Perzeption von materiellen Objekten und realen sozialen Akteuren oder gar die Interaktionsmuster mit diesen – bleiben vollständig unsichtbar. Die simulierte Umwelt ist ausschließlich das Resul- tat einer ex ante-Definition: Aus den darin differenzierten Parametern wird anhand der ebenfalls auf der Simulation basierenden Sensordaten die Realumgebung als Repräsentation einer in-vitro-Welt generiert, eines positiv – explizit – ausformulier- tem Referenzsystem. Es stellt die Voraussetzung für eine sensorielle Erschließung der realen Welt dar. Mit anderen Worten bleibt auf dieser Grundlage auch die reale Welt, wird sie durch die Körperlichkeit des humanoiden Roboters erschlossen, eine sekundäre, der Simulation nachrangige Repräsentation. Dies hat zwei wichtige Konsequenzen: Erstens liegt im Übersetzungsprozess zwischen Realumgebung und Simulation ein quasi-zirkulärer, rein semiotischer Loop vor. Von der modellierten Umgebung ausgehend, werden Sensordaten – wie etwa Objekte, Akteure und deren physikalische Eigenschaften – simuliert. Diese Simu- lation ist letztlich wiederum die Grundlage für die Modelle der Realumgebung. Die explizite in silico-Welt ist eine erweiterte Simulation, deren Annahmen scheitern, sich aber nicht selbst korrigieren können.31 Es gibt in der Simulation kein implizites Wissen. Abb. 2: Realweltliche umgebung (links) und ihre Abbildung in einer Simulation, die auf grundla- ge von Sensordaten der umgebenden umwelt erstellt wurde. Ziel dieser Arbeit ist es, diejenigen positionen zu bestimmen, von denen aus der Sensor die meisten verwertbaren informationen über seine umwelt generieren kann, zum Beispiel um die Suche nach einem objekt möglichst effektiv zu gestalten. Dargestellt sind drei ganzkörperposen, die der Roboterkörper erreichen kann, um einen Raum möglichst vollständig beobachten zu können. Die Körperlichkeit spielt da- bei auch hier eine entscheidende Rolle, da berechnet werden muss, welche positionen für die in- tegrierte Kamera überhaupt erreichbar sind (quelle: Humanoid Robots Lab, universität Bonn). 31 Gramelsberger: Computerexperimente. NAVIGATIONEN 76 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN SENSOR UND SINNLICHKEIT Abb. 3: dynamische Simulation der Schrittfolge eines humanoiden Roboters bei beweglichem Hindernis (jeweils links: on-board Kamera, jeweils rechts: Visualisierung der objekte in der umwelt und der Simulation möglicher Schritte) (Karkowski u.a.: «Real-time Footstep planning in 3D Environments«, S. 74). Die Visualisierung der Simulation (Abbildungen 2 und 3) scheint die Wahrnehmung des Roboters zu zeigen und wird in Bezug auf die abgebildete Realität selbst zu einem entscheidenden Werkzeug bei der Entwicklung der Weltmodelle. Die ex- plizite ›Welt-Definition‹ wird dabei noch zusätzlich durch ästhetische und visuelle Ordnungen geprägt.32 Zweitens determiniert dies auch den Bezug zur Körperlichkeit des Roboters. Der Körper ist hier nur eine Repräsentation in Form einer mathematischen Funk- tion. Sie braucht keinen tatsächlichen Bezug zur Welt, die mathematische Sprache genügt sich selbst. Zwar verspricht der humanoide Roboter als soziales Interface einen Zugang zu impliziten Formen des Wissens. Wie sich allein am Beispiel der computer Vision zeigt, würden auch diese aber als mathematische Funktion wieder explizit – und damit kategorial verschieden von menschlichem Körper und Kör- perwissen, die in jüngeren kognitionswissenschaftlichen Ansätzen als wichtige Vor- aussetzung für Erkenntnis, Erkenntnisfähigkeit und Informationsvera rbeitung be- trachtet werden, was zugleich eine Absage an exklusiv repräsentationale Ansätze darstellt.33 32 Dazu zählen etwa die Vorstellung eines verlustfreien wechselseitigen Austauschs zwi- schen Simulation und physischer Welt in der Augmented Reality-Ästhetik, Point-of-View Shots oder anthropomorphe Elemente. 33 Kognition ist »nicht auf repräsentationale Berechnungsprozesse beschränkt«, sondern entsteht »auch und vor allem im Rahmen der reziproken Echtzeitinteraktion eines kör- perlich auf bestimmte Weise verfassten Systems mit seiner Umwelt« (Walter: »Situierte Kognition«, S. 28). Vielmehr ist Kognition situiert, indem sie an »körperliche Verfasstheit gebunden« (embodied), »situativ eingebettet« (embedded), durch externe Faktoren er- weitert (extended), auf andere Akteure oder Ressourcen verteilt (distributed) oder über- haupt erst in der Interaktion mit der Umwelt entsteht (enacted) (ebd., S. 30f.). NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 77 THOMAS CHRISTIAN BÄCHLE / PETER REGIER / MAREN BENNEWITZ Abb. 4: Simulation aller möglichen positionen der in den Roboter-Körper integrierten Kamera (und damit indirekt auch des Kopfes) bei unver änderter Fußposition im in Abb. 1 dargestellten Kontext. Der Körper als Repräsentation in Aktions- und Zustandsraum ist Zeichen zwischen Aktualität und Virtualität (den in der Möglichkeit vorhandenen positionen), die beide teil der Körper-Simulation sind (quelle: Humanoid Robots Lab, universität Bonn). Lindemann und Matsuzaki betonen ausdrücklich (und zurecht), dass sich das »selbst- bewusste« Wissen menschlicher (sozialer) Akteure fundamental von den rekursi- ven Rechenoperationen des mit einer Sensor/Effektor-Dynamik ausgestatteten Ro- boters unterscheiden. Während beim Menschen ein implizites Wissen in Relation zu seiner Körperlichkeit entworfen wird (ein präreflexives embodied knowledge als Leib-Sein), muss es für die Körperlichkeit des Roboters – etwa in der komplexen autonomen Navigation im Raum – ausdrücklich definiert sein.34 Voraussetzung und Referenzgröße in dieser Argumentation ist jedoch ein (menschliches) Selbst, das als Doppelaspekt Körper/Leib, Intention oder Bewusstsein selbstverständlich bei humanoiden Robotern nicht vorliegt. Die Bewertung des Roboter-Wissens erfolgt dabei selbst nicht ohne einen erheblichen Anthropozentrismus. Doch bedeutet ein funktional verschiedener Zugang zu Welt, der über kein menschliches leibliches Wissen verfügt, auch notwendigerweise den vollständigen Ausschluss impliziter Ausprägungen des Wissens? Die »Grenze der Explizierbarkeit des Wissens«, betont Collins, »ist keine epistemologische, sondern eine unserer eingeschränkten wissenschaftlichen Fähigkeiten.«35 Implizite Wissensüberschüsse 34 Lindemann/Matsuzaki: »Constructing the Robot’s Position in Time and Space«, S. 85ff. 35 Collins: »Drei Arten impliziten Wissens«, S. 104. NAVIGATIONEN 78 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN SENSOR UND SINNLICHKEIT und -performanzen lassen sich durchaus in unterschiedlichen Kontexten immer auch als normative Skripte angemessenen Verhaltens beschreiben.36 Dass sie nicht als positives Regelsystem vorliegen bedeutet keinesfalls, dass sie nicht effektiv als Regelsystem wirken. Beispiele finden sich etwa als habituelle Formen37, körper-38 oder sprechaktbasiert-performative39 Inszenierung von Subjektivität oder regel- geleiteten Körperpraktiken40. Es handelt sich um präreflexive codes, die jedoch in ihrer Regelhaftigkeit – beispielsweise durch Trial-and-Error – abstrahiert werden können. Auch menschliche Interaktionen, die sich auf implizites Wissen stützen, sind hochgradig formalisiert. In der Interaktion zwischen Mensch und humano- idem Roboter werden darüber hinaus eigene soziale oder kollektiv geteilte Re- geln etabliert – soziale Roboter und Menschen lernen wechselseitig voneinander. Zwar besteht ein kategorialer, aber nicht notwendigerweise auch ein funktionaler Unterschied beim Management impliziter Wissensformen. Funktional betrachtet verfügt auch der human oide Roboter über ein leibliches Wissen, indem Informatio- nen über Positionen, Bewegungen oder den Schwerpunkt des Körpers eine Form von »Selbst-Bewusstsein« konstituieren. Die Lokalisierung und Beweglichkeit von Gelenken etwa lässt Rückschlüsse über die Beschaffenheit der Welt (z.B. Hinder- nisse oder Bewegungsräume) zu.41 Das Halten der Körperbalance, die effektive Positionierung eines Fußes oder der Prozess des Gehens sind Aktivitäten, die beim Menschen als ein präreflexives und damit implizites Körperwissen gelten, dessen Muster sich jedoch klar differenzieren lassen. Der funktionale Zugang zu impliziten Formen des Wissens und die Fähigkeit zur Reproduktion dieser sind also prinzipiell für soziale Roboter gegeben. Es bleibt schließlich die Frage, ob sich diese auch grundsätzlich durch das Sys- tem erlernen lassen, ohne in einer expliziten Ausprägung als Regeln vorgegeben zu werden. Neuere Verfahren des maschinellen Lernens, die Computersysteme zu einer eigenständige(re)n Abstraktion und Kategorisierung großer Datenmengen befähigen und verstärkt auch in der Robotik zum Einsatz kommen, legen dies zu- mindest nahe. 5. MASCHINELLES LERNEN UND DAS IM-/ExPLIZITE WISSEN DES ROBOTERS Wie die Diskussion bisher gezeigt hat, erlaubt der humanoide Roboter mit seiner Körperlichkeit einen eigenständigen Bezug des Computersystems zur Welt durch 36 Bächle: Mythos Algorithmus. 37 Bourdieu: Sozialer Sinn. 38 Goffman: The Presentation of the Self in Everyday Life. 39 Butler: Gender Trouble. 40 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. 41 Eine besondere Form des Körperwissens entsteht etwa durch einen Drucksensor am Fuß, wodurch – in Analogie zum menschlichen Gehprozess – Körperwissen zur Reprä- sentation der Welt beiträgt (Neigungswinkel der Gehfläche); siehe Suwanratchatamanee u.a.: »Haptic Sensing Foot System for Humanoid Robot and Ground Recognition With One-Leg Balance«. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 79 THOMAS CHRISTIAN BÄCHLE / PETER REGIER / MAREN BENNEWITZ Interaktion mit dieser, was verbale und non-verbale Kommunikationsebenen ein- schließt. Als soziales Interface scheint auch ein prinzipieller Zugang zu den Formen des impliziten Wissens möglich, die Künstliche Intelligenz-Systemen üblicherweise als verwehrt gelten. Collins zufolge gibt es »drei Arten von Gründen, warum impli- zites Wissen nicht expliziert werden kann und entsprechend drei Formen implizi- ten Wissens.«42 Zu diesen zählt er 1 das relationale implizite Wissen, das »allein über sozialen Kontakt vermittelt werden kann«, aber »jeder Bestandteil relationalen impliziten Wissens explizit gemacht werden könnte«; 2 das somatische implizite Wissen, das »verkörpert« ist (»Fertigkeiten«, skills), das aber nur »aufgrund der begrenzten Kapazitäten menschlicher Gehirne und Körper implizit bleibt«; und 3 ein kollektives implizites Wissen, das erworben wird, indem man sich eine gewisse Zeit in einer Gemeinschaft aufhält und deren spezifische Praktiken aneignet (z.B. Sprechweisen). Letzteres entzieht sich Collins zufolge als ein- ziges einer Abstraktion von Regeln, da es sich orts- und zeitspezifisch immer innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft erst konstituiert.43 Folgt man nun der oben entwickelten These, so haben humanoide Roboter als soziale Interfaces einen kommunikativen Zugang zu den für die impliziten Wissens- formen grundlegenden sozialen Wege ihrer Tradierung. Das maschinelle Erlernen und die Adaption zumindest näherungsweise formalisierbarer sozialer Regelsyste- me in allen drei Dimensionen des impliziten Wissens (Körperlichkeit, Relationalität und Kollektivität) lassen sich in einer funktionalen Analogie (funktional, da ohne ein Bewusstsein, eine Intention, ein Selbst) zu menschlichen Lernprozessen44 begrei- fen – »from implicit skills to explicit knowledge«45. Damit würde folglich neben der eigenständig erlernten Wahrnehmung und Erkennung nicht explizit definierter Ob- jekte46 auch das implizite Wissen um soziale Interaktionsmuster – Umarmungen, Händeschütteln, Skripte angemessenen Verhaltens etc. – durch komplexe Modelle eigenständig und ohne Supervision erschließbar.47 Die gängigsten Rechenarchitekturen, die das Computersystem und damit auch den Roboter zu einer eigenständigen Problemlösungskompetenz und Abstraktion von Handlungs- und Wahrnehmungsmustern befähigen, sind reinforcement learning respektive künstliche neuronale netzwerke. Der Begriff reinforcement learning (RL) 42 Collins: »Drei Arten impliziten Wissens«, S. 95f.; Ders: Tacit and Explicit Knowledge. 43 Collins: »Drei Arten impliziten Wissens«, S. 100-106. 44 So wie sie etwa als Zusammenspiel zwischen Motorium und Sensorium in konstruktivisti- schen oder kybernetischen Ansätzen begriffen wird (»Feedback-Loops«). 45 Sun u.a.: »From Implicit Skills to Explicit Knowledge«. 46 Dazu zählen auch Problemlösungsverfahren im Kontext von Wahrnehmungen (z.B. die Evaluation von Sensordaten oder so genannter »Sensorfehler«, s. Kap. 2) oder Erkennt- nishandlungen wie das »Be-greifen« unbekannter Objekte. 47 Die Fähigkeit eines eigenständigen »Lernens« könnte in Analogie zu menschlichen Fähig- keiten somit als die prinzipielle Voraussetzung für die Autonomie eines KI-Systems gelten; siehe Bächle u.a.: »Selbstlernende autonome Systeme?«. NAVIGATIONEN 80 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN SENSOR UND SINNLICHKEIT fasst eine Menge von Algorithmen zusammen, die zur Lösung ganz unterschiedli- cher Problemstellungen in der Robotik genutzt werden. Sie können den Aufwand der Ingenieurleistung und Entwicklungsdauer besonders im Bereich komplexer Aufgaben erheblich verringern, da die einzelnen Schritte zur Lösung eines Problems nicht explizit beschrieben und definiert werden müssen. RL bietet den Entwickler- innen die Möglichkeit, das System selbst die optimale Handlung durch Interaktion mit seiner Umwelt erlernen zu lassen (»Trial-and-Error«). Die Problemstellung wird dann reduziert auf die Vorgabe einer Belohnungs- oder auch Zielfunktion, die die Handlung des Roboters beurteilt. Anschaulich wird dies bei der Betrachtung der Anforderungen, die sich an einen »Tischtennisroboter« stellen. Sein Ziel ist, den Ball erfolgreich über das Netz zurückzuschlagen. Die Informationen, die dem Agenten zur Verfügung stehen, werden einerseits durch sensorielle Perzeption der Umwelt generiert, wie etwa die Position oder die Geschwindigkeit des ankommenden Balls. Andererseits wird auch aus den internen Zuständen und Zustandsveränderungen des Agenten, wie etwa die Konfiguration der Gelenke des Roboters zueinander, Wissen gewonnen. Der Aktionsraum wird definiert durch die Beschleunigung oder das Drehmoment der Motorgelenke. Die Aufgabe des Roboters besteht darin, eine Funktion zu finden, die für jeden Zustand im Zustandsraum (ankommender Ball und aktuelle Konfiguration des Roboters) eine näherungsweise optimale Aktion im Aktionsraum auswählt, wodurch die Langzeitbelohnung (den Tennisball erfolgreich auf die andere Seite zu bringen) maximiert wird.48 Ein künstliches neuronales netzwerk (KNN) beschreibt eine Rechenarchitektur, die derzeit etwa beim maschinellen Erlernen visueller Repräsentationen Anwen- dung findet. Die Netzwerke bestehen aus vielen miteinander verbundenen Pro- zessoren, die in diesem Zusammenhang als »künstliche Neuronen« (KN) bezeich- net werden. Ein KN am Eingang eines neuronalen Netzwerks wird typischerweise von Daten aus einem perzeptiven Sensor aktiviert. Durch die probabilistisch ge- wichteten Verbindungen zwischen einzelnen Neuronen werden abhängig von der Gewichtung Folgeneuronen innerhalb des Netzwerks aktiviert – oder auch nicht. Lernen bezeichnet hierbei das Auffinden der richtigen Kombination der Gewich- tungen, um ein gewünschtes Verhalten zu erzielen. Verschiedene Handlungen ei- nes Systems können dann durch unterschiedliche KN am Ausgang des Netzwerks ausgelöst werden. Das gewünschte Verhalten des Systems muss dabei, anders als bei RL, vorher bekannt sein. Es handelt sich nicht um ein bestärkendes, sondern ein überwachtes Lernen. Mit anderen Worten müssen Daten der verschiedenen Eingangsmuster und des dazugehörigen gewünschten Ausgangsmusters vorliegen, zuvor also explizit gekennzeichnet werden. Ein mehrschichtiges Knn ist dann gege- ben, wenn sehr viele strukturell verschiedene Ebenen zwischen der Eingangs- und der Ausgangsebene der KNN vorliegen. Bei KNN mit einer sehr umfangreichen Binnenstruktur aus zahlreichen Zwischenschichten, die in der Lage sind, auch sehr 48 Mülling u.a.: »Learning to Select and Generalize Striking Movements in Robot Table Ten- nis«. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 81 THOMAS CHRISTIAN BÄCHLE / PETER REGIER / MAREN BENNEWITZ komplexe Repräsentationsmuster zu verarbeiten und zu erlernen, spricht man von Deep Learning.49 In der aktuellen Robotik-Forschung wird zum Beispiel das Auffinden einer passenden Greifpose einer Roboterhand durch zweischichtige KNN umgesetzt.50 Dem Eingangslevel eines KNNs wird ein RGB-D-Bild zugeführt, das nicht nur Farb- information eines typischen Fotos, sondern auch die Entfernung des Sensors zum jeweiligen, in Pixel segmentierten und repräsentierten Ausschnitt der Umwelt ent- hält. Die Greifpose wird als ein Viereck im Bild dargestellt, wobei zwei Kanten des Vierecks die Position der Greifplatten des Roboterarms darstellen. Die Wahr- scheinlichkeit, dass ein Viereck zur erfolgreichen Greifpose führt, wird durch ein separates KNN gelernt. Die Menge der Vierecke aus dem ersten KNN, wird dann der Eingangsebene eines zweiten KNNs übergeben, das dann das beste Viereck auswählt. Zwar könnte auch RL prinzipiell dazu genutzt werden, Greifvorgänge selbstständig zu lernen. Der dazugehörige Zustandsraum51 und der Aktionsraum, der von der Komplexität des Roboters abhängt52, würden eine Anwendung auf- grund der erheblichen Datenmenge (derzeit) unmöglich machen. Wenn Systeme mit enorm großen Zustands- und Aktionsräumen entwickelt werden sollen, ohne dabei Vorkenntnisse über den richtigen Ausgang oder die Lö- sung einer Aufgabe zu haben oder diese zuvor explizit zu definieren, werden bei- de Verfahren kombiniert. Hierbei werden die Komponenten eines RL-Verfahrens durch KNN repräsentiert, was dazu dient, die Komplexität zu reduzieren. Dieses deep reinforcement learning (DRL) erlaubt Anwendung von RL auf hochkomplexe Probleme wie das so genannte »autonome Fahren« oder das strategische Spielen von »Go«53. Mithilfe dieser neuen Verfahren kann auch bei komplexen und dynami- schen Aufgaben eine Performance auf menschlichem Niveau erreichen werden.54 Ein DRL-System kann beispielsweise auch »Gehen lernen«: Dabei wird die Fähig- keit zur Bewegung in einem dreidimensionalen Raum von einem simulierten zwei- beinigen Roboter autonom erworben. Er beherrscht es auch, aus einer liegenden Position heraus aufzustehen. Entscheidend ist, dass der dafür genutzte Algorithmus völlig ohne Modelle auskommt (»fully model-free«).55 Gehen – ein praktisches Kön- nen und oft zitiertes Beispiel für ein implizites Wissen bei Menschen – kann somit 49 LeCun u.a.: »Deep Learning«, S. 436. 50 Lenz u.a.: »Deep Learning for Detecting Robotic Grasps«. 51 Der Vektor aller möglichen Zustände der Umgebung. Im Beispiel des Tischtennisroboters wären dies alle möglichen Positionen und Geschwindigkeiten des Tischtennisballs. Für ein RGB-D-Bild sind es alle möglichen Bilder im Farb- und Tiefenraum. 52 Der Vektor aller möglichen diskretisierten Aktionen des Roboters. 53 Silver u.a. »Mastering the Game of Go with Deep Neural Networks and Tree Search«. 54 Für eine Übersicht der mithilfe von DRL-Verfahren erworbenen Fähigkeiten – darunter Gehen und Autofahren – siehe Lillicrap u.a.: »Continuous Control with Deep Reinforce- ment Learning«. Gezeigt werden konnte dies auch an den komplexen Aufgaben, die sich beim Spielen von Computerspielen an ein selbstlernendes System stellen, siehe Mnih u.a.: »Playing Atari with Deep Reinforcement Learning«; Mnih u.a.: »Human-Level Control through Deep Reinforcement Learning«. 55 Schulman u.a.: »High-Dimensional Continuous Control Using Generalized Advantage Estimation«. NAVIGATIONEN 82 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN SENSOR UND SINNLICHKEIT autonom erlernt werden, ein implizites Körperwissen wird explizierbar. Zwar wird in diesem Beispiel der Körper als Entität vollständig simuliert, wie oben gesehen (Kap. 3) ist die Übertragbarkeit auf einen materiellen Roboterkörper und eine In- teraktion mit einer realen Umwelt aber ohne weiteres denkbar. KNN werden als Modell der Umwelt gesehen, die mit RL-Verfahren trainiert werden. Die Anforde- rung explizit gekennzeichneter und definierter Daten wird damit umgangen. Sie erlauben ein körperliches Können, das einer expliziten Form nicht bedarf. Es ist zusammen mit den funktionalen Eigenschaften eines sozialen Interface Vorausset- zung und Möglichkeitsbedingung auch für Aspekte des relationalen und kollektiven Wissens, die beide in sozialer Interaktion erworben werden. 6. FAZIT Mit Hilfe dieser neuen Formen des maschinellen Lernens sind humanoide Roboter als soziale Interfaces prinzipiell befähigt, auch implizite Wissensformen eigenstän- dig zu erkennen und zu reproduzieren – abseits explizit definierter Zielvorgaben. Zwar wäre es auch hier ein Leichtes die Absenz von Intentionalität und Bewusst- sein zu monieren, die in fast schon selbstvergewissernder Manier gern als anthro- pozentrische Differenzmarker hinzugezogen werden, um die Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine aufrechtzuerhalten. Betrachtet man die effektiven Rechenverfahren hingegen als funktionale Äquivalente zu menschlichem Lernen, verschwimmen diese Demarkationslinien. Soziale Interaktionen werden als im- plizite Regel-, Norm- und Wertesysteme erlernt – durch Trial-and-Error, soziale Sanktionierung, Belohnung, Bewertung, Erziehung, Mimikry oder kontextspezifi- sche Verbote. Bei sozialen Robotern ist dies nicht anders. Auch das am komplexe- sten geltende implizite Wissen kollektiver Prägung lässt sich als Einschreibung einer sozialen Ordnung verstehen, die durch menschliche Akteure üblicherweise nicht reflektiert wird. Dem sozialen Roboter sind diese präreflexiven Strukturen zu- gänglich, ihre Regelsysteme lassen sich abstrahieren und machen auch diese Form impliziten Wissens zumindest prinzipiell explizierbar.56 Sozialisierung und Habitua- lisierung sind komplexe, aber durch Adaptionsfähigkeit, Datenreichtum und Auto- nomie lösbare Aufgaben des Roboters. Die Vorstellung von implizitem Wissen in Kollektiven – Voraussetzung und Effekt einer sozialen Realität – erscheint dadurch regelhafter als bisher angenommen und in autonomen Lernsystemen berechenbar. Mit Computern war die Differenzierung zwischen impliziten und expliziten Formen des Wissens eine recht eindeutige. Doch gibt es immer noch Gründe für die Annah- me einer prinzipiell unmöglichen Explizierbarkeit? Die Prämisse für die Kategorie eines impliziten Wissens scheint genommen und dadurch obsolet. What computers can’t do, robots can. 56 Dies wird von Collins (»Drei Arten impliziten Wissens«, S. 107) (ebenfalls prinzipiell) aus- geschlossen. 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ÜBERBLICK Wir verhalten uns anders, wenn wir Kleidung tragen.1 Wie verhalten wir uns dann, wenn Kleidung sich mit Technologie verwebt, und mit sogenannten »Wearable Technologies«2 »intelligent« wird? Unabhängig von ihrer Computerisierung und Di- gitalisierung nimmt der Beitrag zum Ausgang, dass alltägliche Kleidung als Schnitt- stelle fungiert und zwischen uns (unserem Körper, aber auch unserem Bewusst- sein) und der materiellen und sozialen Umwelt vermittelt. Dabei sind diese Ver- mittlungsprozesse meist implizit. An den Körper gebunden bleiben sie verborgen und werden im Umgang mit Kleidung nur praktisch erfahrbar. Mit Wearable Tech- nologies verändert sich diese Schnittstellenbeziehung von Körper/Bewusstsein und Umwelt und scheint neu beurteilbar: Welche Implikationen lassen sich durch die neu definierte(n) (digitalen) Schnittstelle(n) ableiten? Und wie verändert sich das implizite Wissen um Kleidung? Um den Unterschied von Kleidung als Schnittstelle im Allgemeinen, zu den »Interfaces« von Wearable Technologies im Besonderen, zum Argument einer Analyse zu machen, seien zu Beginn die impliziten Funkti- ons- und Wirkweisen von alltäglicher Kleidung kurz skizziert und für eine weitere Ausarbeitung vorgeschlagen. 1 Der thematische Einstieg übernimmt die an den performativen Theorien ausgerichtete Perspektive auf Kleidung von Gertrud Lehnert, deren Forschungsarbeiten in der deutsch- sprachigen Forschungslandschaft wegweisend sind. Vgl. Lehnert: Mode, Theorie, Ge- schichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis, S. 34. 2 Nahe am und auf dem Körper getragene kleidsame Technologien, die der Beitrag für eine Analyse vorschlägt, werden im industriellen und werblichen Kontext häufig als »Smart Clothes« oder »Wearable Technologies«, kurz »Wearables«, bezeichnet. Susan Ryan, die sich in diesem Forschungsfeld besonders für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand ausspricht, und auch Alexander Ornella verweisen beispielsweise darauf, dass der Begriff der »Wearable Technologies« dabei eher als Sammelbegriff zu verstehen ist. Neben dem Begriff der »Wearable Technologies« zirkulieren auch weitere Begriffskon- strukte, die das Verhältnis von Mensch, Kleidung und Technologie jeweils anders betonen und entweder den Stellenwert der Technologie oder Ästhetik, oder den Stellenwert der Trägerinnen und Träger bzw. Anwenderinnen und Anwender besonders hervorheben. Vgl. Ornella: »Kommunikations(t)räume«, S. 203; Ryan: Garments of Paradise, S. 96. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 87 REGINA RING 2. KLEIDUNG UND IMPLIZITES WISSEN Die kulturelle Praxis des »sich Kleidens« war schon immer untrennbar von den theoretischen Überlegungen zum impliziten Wissen. Denn kaum einem alltägliche- ren Phänomen liegt implizites Wissen so sehr inne wie dem Umgang mit Kleidung. Dabei lässt sich das Verhältnis von Kleidung und implizitem Wissen auf vielfältige Weise untersuchen. Das zeigen beispielsweise die Überlegungen der neueren kul- turwissenschaftlichen Analysen zur Thematik, die einerseits häufig das ästhetische Wissen um Mode mit Theorien des impliziten Wissens erklären, implizites Wissen aber auch an der Schnittstelle des Körpers und des Kleides verorten. Implizites Wissen wird häufig als theoretische Kategorie genutzt, um ein äs- thetisches Wissen um Mode zu erklären, das kein explizit vermitteltes Wissen ist, sondern praktisch durch Beobachten, Erkennen und Aneignen von »Modischem« erworben wird, und sich im Umgang mit Kleidung zeigt.3 An dieser Stelle ist das Wissen der Trägerinnen und Träger gemeint, die Kleidung als aktuell, neu und mo- disch – oder dem entgegen als unmodisch oder gar verkleidet – beurteilen (kön- nen). Dabei verbirgt sich hinter ihrem mit Mode assoziierten Wissen ein implizites Verständnis über (globale und lokale) kulturelle Identitäten, über die eigene soziale und individuelle Identität, und zugleich auch ein implizites Verständnis über die ge- sellschaftlichen und persönlichen Werte und Normen.4 Der Umgang mit Kleidung verweist also auf vorangegangene Erkenntnisprozesse (über das eigene Selbst und seine Umwelt), die meist unbewusst sind und sich intuitiv und routiniert im Alltag zeigen. So erscheint »Kleiden« zwar als bewusste Praxis, ist aber vielmehr im Sinne einer »be-wussten«, mit Wissen angereicherten, Praxis zu lesen. Implizites Wissen verbirgt sich dem folgend einerseits in der Ästhetik des materiellen Artefakts, also in der Oberfläche, und andererseits im modischen Handeln mit Kleidung, das heißt im Handeln mit dem Wissen um diese Oberflächen. Katja Weise versucht eine alternative Betrachtung auf dieses Verhältnis von Kleidung und implizitem Wissen zu geben.5 Sie verortet in ihren Überlegungen im- plizites Wissen vorrangig an der Schnittstelle von Körper und Kleid und fragt kon- kret danach, ob »Berührung« gewusst werden kann.6 Die »taktile Dimension« der Kleidung nimmt in ihrer aktuellen Forschung eine entscheidende Rolle ein. Neben dem »Berühren« und »Berührt-Werden« sind »Bewegung« und »Bewegt-Werden« für sie zentral, um für eine völlig eigenständige Wissensform von Kleidung zu argu- mentieren.7 3 Vgl. Entwistle: »Globale Ströme, lokale Begegnungen«; Lehnert: Mode, Theorie, Ge- schichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis; Weise: »Kleider, die berühren«. 4 Vgl. bspw. Lehnert: »Mode, Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis«. 5 Weise: »Kleider, die berühren«. 6 Ebd., S. 267. 7 Vgl. dazu das Dissertationsprojekt von Katja Weise mit dem Arbeitstitel »Das gezähmte Kleid, der gebändigte Körper – Taktilität und implizites Wissen der Kleidermode in zeitge- nössischen Ausstellungsinszenierungen«; DFG-Graduiertenkolleg 1539 ›Sichtbarkeit und Sichtbarmachung – Hybride Formen des Bildwissens‹: »DoktorandInnen«. NAVIGATIONEN 88 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN WEARABLE TECHNOLOGIES UND IMPLIZITES WISSEN Um implizites Wissen im Kontext von Kleidung ganzheitlich zu betrachten, liegt es nah, beide Ansätze für eine Analyse theoretisch zusammenzuführen. So lässt sich (1) das implizite Wissen um den modischen Gehalt von Kleidung zusammen mit (2) dem impliziten Wissen um die taktilen Erfahrungen von Kleidung zu (3) einem impliziten Wissen um einen »Modekörper« verbinden. Lehnert benennt den Begriff des »Modekörpers«, um eine Körpertechnik zu fassen, bei dem der Körper und das Kleid in einem performativen Verhältnis stehen.8 Sie sieht im Prozess des »sich Kleidens« ein sich veränderndes Selbstbild, Selbstgefühl und Selbstbewusstsein bei den Trägerinnen und Trägern: Denn Kleidung, so Lehnert, präge sich nicht nur auf ihr Aussehen, sondern auch auf ihren Körper, ihre Haltungen, ihre Bewegungen, ihr Verhalten und ihre Ausstrahlung aus.9 Bezieht man ihre Thesen zum »Modekörper« auf die Theorien des impliziten Wissens, ist es ein nicht zu benennendes Wissen, das sich an dieser Stelle als ein implizites Wissen um die ganzheitliche persönliche Erfahrung von Kleidung herleiten lässt. Es ist ein Wissen um die Funktions- und Wirkweisen von Kleidung, auf den skizzierten zwei Ebenen, die die Trägerinnen und Träger praktisch erfahren, aber nicht explizit benennen können. Allein in dieser kurzen Skizze verweisen der Umgang mit und die Erfahrung von alltäglicher Klei- dung auf innere Prozesse und Erkenntnisvorgänge, die darauf deuten, dass Kleidung als Schnittstelle fungiert. Der an dieser Stelle noch nicht spezifisch genug definierte Begriff der »Schnittstelle« lässt sich – auch in Absicht einer Gegenüberstellung von Kleidung und Wearable Technologies – mit neueren Ansätzen der Interface-For- schung, die sich auf die Untersuchung von »Computerinterfaces« ausrichten, noch weiter spezifizieren. 3. INTERFACE-PROZESSE, INTERFACE-EFFEKTE UND EMBODIMENT Interfaces, wie sie in den neueren Medientheorien als kulturelle Form verstanden werden,10 bieten sich als »abstrakte Kategorie«11 in diesem Kontext an, um sich dem gezeichneten Verhältnis von Mensch und Kleidung12 – losgelöst von, aber gleicher- maßen auch verwoben mit Technologie – zu nähern. Denn Interfaces im Verständ- nis einer kulturellen Form vermitteln nicht nur zwischen Mensch und Materialität, sondern verweisen auch darauf, dass sie als Schnittstellen am Wahrnehmen und Handeln in der Welt teilhaben,13 und im Beispiel von alltäglicher und digitalisierter 8 Lehnert: Mode, Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis. 9 Lehnert (ebd., S. 58) stützt sich hier auf performativ orientierte Identitätstheorien und besonders auch auf Pierre Bourdieus Konzept des »Habitus« und argumentiert: »Pierre Bourdieu […] konzipiert ›Habitus‹ als […] nicht bewusste Grundlage bewusster Hand- lungen. Habitus ist ein dynamisches Ergebnis der Vermittlung gesellschaftlicher Normen mit der Rezeption und Anverwandlung durch einzelne Subjekte.«; vgl. ausführlich ebd., S. 57f. und zum »Habitus« Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen und ders.: Die feinen Unterschiede. 10 Andersen/Pold: Interface Criticism; Manovich: The Language of New Media. 11 Wirth: »Between Interactivity, Control, and ›Everydayness‹«. 12 Vgl. Manovich: »Friendly Alien: Object and Interface«. 13 Andersen/Pold: Interface Criticism, S. 7. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 89 REGINA RING Kleidung ein bestimmtes kulturelles Verständnis über das Soziale mit entwickeln. Es wäre daher verkürzt, Kleidung in dieser Lesart nur als »Oberflächen-Phänomen« zu betrachten und zum Bezugspunkt einer Diskussion um seine Interface-Ästhetik zu machen. So folgt die Analyse stattdessen Alexander Galloways und Branden Hook- ways Thesen zum Interface als Prozess.14 Galloway und Hookway betonen die Prozessualität, über die sich Interfaces definieren lassen.15 Mit der Wende der Betrachtung des Interfaces als »Objekt« hin zur Betrachtung des Interfaces als »Prozess« weisen sie besonders auf die implizi- ten Operationsweisen hin, die das Interface als dynamisch und sich wandelnd aus- zeichnen. Neben dem Begriff des Interface-Prozesses nutzt Galloway zugleich aber auch den Begriff des Interface-Effekts, den er auch zum Titel seiner gleichnamigen Publikation macht.16 Galloway setzt den Interface-Prozess mit einem Interface- Effekt gleich: »[…] an interface is not a thing, an interface is always an effect. It is always a process or a translation«.17 Um diesbezüglich zu unterscheiden, sei vorge- schlagen die Begriffe – zumindest für den Augenblick – voneinander zu trennen und den Effekt auszuformulieren. Zum Effekt selbst sagt Galloway konkret nur in seiner Einführung Näheres: »Interfaces themselves are effects, in that they bring about transformations in material states. But at the same time interfaces are themselves the effects of other things, and thus tell the story of the larger forces that engender them«.18 Dadurch, dass Galloway sich auf den Prozess-Charakter von Interfaces stützt, ist der Interface-Effekt den Interface-Prozessen implementiert. So lässt sich annehmen, dass Interface-Effekte durch bestimmte Interface-Prozesse hervorge- rufen werden und wirken, das heißt sichtbar oder wahrnehmbar werden. Der Versuch einer Ausformulierung des Interface-Effekts kann an dieser Stelle durch eine aktuelle Beobachtung von Jan Distelmeyer ergänzt werden. Denn Di- stelmeyer verweist darauf, dass das Interface bei Galloway »[…] selten als konkrete Erscheinungsform ins Zentrum [rückt]«.19 Er argumentiert aber, dass gerade die Arbeit des Interfaces ein »Konkret-Werden« ist.20 Im Rückgriff auf Computer und graphische Interfaces macht Distelmeyer darauf aufmerksam, dass so »[…] unbe- obachtbar die einzelnen Arbeitsschritte des jeweiligen PC, Tablets, Smartphones etc. auch sind, [und] so abstrakt sie für uns bleiben mögen (und sollen), so konkret soll ihre Leistung gerade durch die visuellen Interfaces […] werden«.21 Sein Hin- weis darauf, dass die Arbeit eines Interfaces »konkret« wird, ist hilfreich, um den Interface-Effekt als ein solches »Konkret-Werden« auch außerhalb der Betrachtung des Computers zu begreifen. Auf Kleidung übertragen ließe sich die These zum Interface-Effekt auf das anwenden, was die kulturwissenschaftliche Perspektive auf Kleidung schon diskutiert hat, nämlich dass Vermittlungsprozesse den Trägerinnen 14 Galloway: The Interface Effect; Hookway: Interface. 15 Ebd. 16 Galloway: The Interface Effect. 17 Ebd., S. 33. 18 Ebd., S. vii. 19 Distelmeyer: Machtzeichen, S. 31. 20 Ebd. 21 Ebd. NAVIGATIONEN 90 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN WEARABLE TECHNOLOGIES UND IMPLIZITES WISSEN und Trägern verborgen bleiben, aber wiederum praktisch erfahrbar werden. Wenn sich Kleidung als Schnittstelle nun wandelt und über Technologien nicht nur als eine einzige Schnittstelle fungiert, sondern unterschiedliche (digitale) Interfaces hinzu- kommen und sich miteinander verschränken, wie verändert sich mit ihnen dann diese »praktische« Erfahrung des Kleidens? 4. EMBODIMENT, IMPLIZITES WISSEN UND WEARABLE TECHNOLOGIES Was zu Beginn mit der kulturwissenschaftlichen Betrachtung zum »Kleiden« und dem impliziten Wissen schon umschrieben wurde, und was Lehnerts Verständnis des Modekörpers meint,22 wird auch mit Theorien des Embodiments gefasst. Hier ist unter anderem Don Ihde zu nennen,23 der mit seinem technik-philosophischen Verständnis und phänomenologisch-hermeneutischen Ansatz einen ganzen Diskurs begründet.24 Im Verständnis von Ihde richtet sich Embodiment auf eine Beziehung von Mensch und Technologie, bei der der Bezug von Mensch und Welt im Leib verkörpert wird.25 Embodiment meint folglich die erweiterte Wahrnehmung und Erfahrung durch Technologien (oder in diesem Beispiel Artefakte), die wiederum reflexiv und in symbiotischer Relation Teil des eigenen Selbst werden. Verkörpe- rung wird hier mit einer Erweiterung erklärt, die implizit ist. Technologien (oder hier zunächst Artefakte) werden Teil einer leiblichen Verkörperung, die in diesem Zusammenhang aber nicht nur die leibliche Körpererfahrung meint. Körperliches Wissen greifen auch die Diskurse um implizites Wissen auf. So wird implizites Wissen häufig in Relation zum menschlichen Körper formuliert und auf Polanyi rückbezogen, der in the tacit Dimension sagt: »[…] we can say that when we make a thing function as the proximal term of tacit knowing, we incorpo- rate it in our body – or extend our body to include it – so that we come to dwell in it«.26 Polanyi geht auf die Rolle des Körpers ein, verwendet aber den Begriff des Embodied Knowledge selbst nicht in seinem Werk (wie ihn auch Ihde nicht in technics and praxis nennt).27 Konkret von Embodied Knowledge spricht aber bei- spielsweise Michael Hubrich, der den Begriff wie folgt ausformuliert: »Following Michael Polanyi, embodied knowledge should not be conceived of as propositional knowledge, but rather as prereflexiv ›tacit knowledge‹ i.e. as a bodily competence to act and as a skill of perception«.28 Die »präreflexive« Eigenschaft, auf die sich Hubrich, und auch andere, wie beispielsweise Ernst und Paul,29 für eine Definition impliziten Wissens stützen, scheint in diesem Zusammenhang entscheidend und liegt auch Ihdes Verständnis von Embodiment inne. 22 Lehnert: Mode, Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis. 23 Ihde: Technics and Praxis. 24 Kogge: »Verkörperung – Embodiment – Körperwissen«, S. 43. 25 Ihde: Technics and Praxis. 26 Polanyi: The Tacit Dimension, S. 16. 27 Ihde: Technics and Praxis. 28 Hubrich: »Embodiment of Tacit Knowledge«, S. 42. 29 Ernst/Paul: Präsenz und implizites Wissen. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 91 REGINA RING Vor allem Ihdes technologische Perspektive auf diesen Zusammenhang eignet sich, um das implizite Wissen des Kleidens auf das implizite Wissen des Kleidens mit Technologie zu lenken. Denn mit der Herausbildung neuer Technologien, wie Wearable Technologies, die nahe am und auf dem Körper getragen werden und einen kleidsamen Charakter aufweisen, verändert sich der Diskurs des impliziten Wissens um Kleidung mit seiner Neuausrichtung auf Technologie und macht sei- ne Fragestellung konkreter: Welche Rolle spielen Technologien, die nahe am und auf dem Körper getragen werden und zugleich kleiden, für die Verkörperung von Wissen? Und was verändert sich für den Bezug von Mensch und Welt, der im Leib verkörpert wird? Erste Aufschlüsse geben hier die frühen Entwürfe kleidsamer Technologien, die zwar einerseits den theoretischen Linien des Embodiments fol- gen, andererseits aber auch die Anbindung an große Medien- und Datensysteme konkret ausformulieren, und damit gleichermaßen diejenigen Prozesse und Ope- rationen technologischer Kleidung explizieren, die verkörpert werden. Daher sei im Folgenden eine Auswahl von Diskursen zum Interface-Design von Wearable Technologies im historischen Kontext näher betrachtet. 5. ExPLIZITES WISSEN UND WEARABLE TECHNOLOGIES In der Entwicklungsgeschichte der Wearable Technologies sind medienwissen- schaftlich besonders die frühen Forschungsarbeiten des Media Laboratory am Massachusetts Institute of Technology (MIT) der 1990er Jahre zentral. Obwohl die ersten Prototypen von Wearable Technologies schon zuvor entwickelt wurden,30 setzte die »Wearable Computing Group« des MIT einen entscheidenden Meilen- stein für das Forschungsfeld. Geprägt von den Forschungsarbeiten des kaliforni- schen xerox Palo Alto Research Center (PARC) und Mark Weiser zum »Ubiqui- tous Computing«,31 konzentrierte sich die Forschergruppe des MIT erstmals auf die Standardisierung von Wearable Technologies, ihre Einbettung und konstante Anbindung an das Internet und umgebende »intelligente« Netzwerke und damit auch auf die übergangslose und dauerhafte Vernetzung der Userinnen und User.32 Steve Mann, Mitbegründer der MIT Wearable Computing Forschergruppe, publizierte hierzu detaillierte Forschungskonzepte,33 die den Charakter der da- maligen Wearable Technologies beschreiben. So werden sie als »[…] a seamless extension of the body and mind«34 entworfen, die den Computer, seine Funktio- nen und seine Bedienung in den Hintergrund rücken: »Wearable Computing al- lows […] functionality […] to ›disappear‹ into clothing and be integrated in a more natural manner«.35 Das, was so unbemerkt »funktioniert« und implizit ist, wird 30 Vgl. die Entwicklungsgeschichte von Wearable Technologies z.B. bei Ryan: »Garments of Paradise«, S. 53ff.; MIT Media Lab: »A Brief History of Wearable Computing«. 31 Vgl. Sprenger/Engemann: Internet der Dinge. 32 Ryan: Garments of Paradise, S. 69ff. 33 Vgl. Mann: »WearTech, WearComp, and WearCam«; Eyetap: »Publications«. 34 Mann: »Smart Clothing«, S. 21. 35 Ebd. NAVIGATIONEN 92 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN WEARABLE TECHNOLOGIES UND IMPLIZITES WISSEN in den frühen Forschungsarbeiten zugleich genauer ausformuliert und explizit als »Intelligenz«36 oder »intelligente Agenten«37 ausgewiesen, die mit der Userin oder dem User verschmelzen: »What is now proposed is a new form of ›intelligence‹ whose goal is not only to work in extremely close synergy with the human user, rather than as a separate entity, but more importantly to arise, in part, because of the very existence of the human user«.38 Diese in den frühen Entwürfen ausgewie- sene »Intelligenz«, an die Wearable Technologies gebunden sind bzw. die ihnen inne liegt, findet sich als Idee auch noch in den aktuellen Designs von Wearable Techno- logies wieder, so zum Beispiel bei der »smarten« Yoga-Hose »Nadi x«39 oder dem »smarten« »SUPA powered Sports Bra«,40 deren Funktionsweisen im Folgenden kurz skizziert werden. Nadi x (mit vollständigem Produktnamen »Nadi x Pant & Pulse«) wird offiziell als »activated yoga apparel«41 beschrieben: »Using vibrational feedback, the pants guide the wearer with the touch of a yoga instructor«.42 Die »smarte« Yoga-Hose identifiziert die Yoga-Pose der Trägerin oder des Trägers während der Ausübung und gibt ihnen mit einem haptischen Feedback über sanfte pulsartige Vibrationen an den Hüften, Knien und Knöcheln, die über die in den Stoff eingebetteten Tech- nologien funktionieren, Rückmeldungen zu ihrer Körperhaltung. Dabei lenken un- terschiedliche Vibrations-Rhythmen, die in der Häufigkeit und Intensität wechseln, ihre Aufmerksamkeit auf die »angesprochenen« Körperstellen. Die integrierten Vibrationstechnologien der »smarten« Yoga-Hose, die über eine Batterie namens »Pulse« aufgeladen werden, sind mit einer ihr zugehörigen App verknüpft und wer- den über sie synchronisiert.43 (Die App ist zum Zeitpunkt der Verfassung des Bei- trags online noch nicht verfügbar. So sind ihre konkreten Funktionen noch nicht offiziell beschrieben. Das Fashion-Tech Unternehmen Wearable x deutet aber an, dass ihre App Auswahloptionen für Anfänger bis »Gurus« bietet.)44 Das Beispiel zeigt, dass die Anbindung von Nadi x an Datennetzwerke und Algorithmen mit der Metapher einer »Künstlichen Intelligenz« umschrieben wird, die als »intelligenter Yoga-Lehrer« charakterisiert ist. Als »intelligenter Yoga-Leh- 36 Mann: »Humanistic Computing«, S. 2123. 37 Starner u.a.: »Augmented Reality Through Wearable Computing«, S. 386. 38 Mann: »Humanistic Computing«, S. 2123. 39 Im Mai 2017 hat Wearable x, ein australisches und nun in New York City ansässiges Fashion-Tech Unternehmen, das Hardware, Software und Bekleidung miteinander kom- biniert und dessen Fokus seit seiner Gründung im Jahr 2013 auf Mensch-Computer-Inter- aktionen und speziell auf »Berührung« liegt, offiziell sein erstes konsumentenadressiertes Produkt »Nadi x« im Markt eingeführt: eine »smarte« Yoga-Hose, die online für 299 US- Dollar zu erwerben ist; vgl. Wearable x: »Wearable x launches first Product, Nadi x«; ders.: »About Wearable x«; ders.: »Nadi x Pant & Pulse«. 40 Der »SUPA powered Sports Bra« ist ein Produkt des von Sabine Seymour gegründeten Unternehmens SUPASpot, das künstliche Intelligenz und Bekleidung miteinander verbin- det. Seymour forscht im Bereich von Wearable Technologies; vgl. Seymour: »Fashionable Technology«; dies.: »Functional Aesthetics«; SUPASpot: »Hi, We’re SUPA«. 41 Wearable x: »Nadi x Pant & Pulse«. 42 Wearable x: »Wearable x launches first Product, Nadi x«. 43 Ebd. 44 Ebd. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 93 REGINA RING rer« agiert die »Künstliche Intelligenz« unmittelbar am Körper der Trägerinnen und Träger und verschränkt damit über die Kleidung ihr persönliches und praktisches Erfahrungswissen mit dem spezifischen Wissen ganzer Mediensysteme. Der SUPA powered Sports Bra, die zweite genannte kleidsame Technologie, beschreibt in seinem Entwurf die gleiche Idee: einen »Bot«, der sich mit einem Kleidungsstück, dem BH, verschränkt. Unsichtbare Herzfrequenz-Sensoren, die nahtlos in den Stoff des »smarten« SUPA powered Sports Bra verwoben sind, erfassen die biometrischen Daten der Trägerinnen und Träger. Über den sogenannten »SUPA Reactor«, ein zusätzlich in die Kleidung einsetzbares technisches Gerät, werden alle Sensordaten aggregiert und an die der Bekleidung zugehörigen App gesendet. Die App wird als »Plattform künstlicher Intelligenz« verstanden, die die gewonnenen Daten über (nicht näher definierte) »environmental sensors« mit Daten der Umgebung korreliert und »in- telligent« interpretiert.45 Gleichermaßen wird die Plattform als »SUPA«, eine hoch- personalisierte »Lifestyle-AI« charakterisiert, die sich mittels maschinellem Lernen gemeinsam mit der Trägerin oder dem Träger weiterentwickelt46: »It learns about you, your behavior, the data you input, the environment you live in, and gives you recommendations«.47 6. SCHLUSSFOLGERNDE IMPLIKATIONEN ZU DEN INTERFACE-DESIGNS VON WEARABLE TECHNOLOGIES Mit der zu Beginn vorangestellten Perspektive auf Kleidung als generelle Schnitt- stelle (im Verständnis eines sehr weit gefassten Interface-Begriffs), die als Ort der Vermittlung zwischen uns selbst (unserem Körper, aber auch unserem Bewusst- sein) und der materiellen und sozialen Umwelt funktioniert, verdeutlichen die bei- den Beispiele in der Gegenüberstellung, dass sich mit der Computerisierung und Digitalisierung der Schnittstelle durch Wearable Technologies der Umgang mit und die Erfahrung von Kleidung zwar nicht grundsätzlich, aber doch qualitativ verän- dern. Die Schnittstelle von Körper/Bewusstsein und Umwelt wird neu beurteilbar, was aus Sicht eines nicht auf einen Graphical User Interface (GUI) festgelegten Interface-Begriffs, wie dem des Interface-Prozesses, weitreichende Implikationen hat. Unser »praktisches (verkörpertes) Erfahrungswissen« wandelt sich: Denn die präreflexiven Relationierungen des Körpers werden durch Wearable Technologies expliziert. Die »inneren Erkenntnisprozesse« (um die kulturelle und soziale bzw. individuelle eigene Identität, das heißt Erkenntnisprozesse um die gesellschaftlichen und persönlichen Werte und Normen), die für die Trägerinnen und Träger im Um- gang mit und in der Erfahrung von alltäglicher Kleidung implizit ausgehandelt wer- den und implizit bleiben, werden mit »intelligenter« Kleidung in konkrete Daten 45 SUPASpot: »Hi, We’re SUPA«. 46 SUPASpot: »SUPA AI«; ders.: »Hi, We’re SUPA«; She’s Mercedes: »Am Puls der Zeit«, vgl. hier insb. auch den visionären Kurzfilm »Alter Ego«, der die Verschmelzung von Wearable Technologies und Künstlicher Intelligenz thematisiert. 47 SUPASpot: »Hi, We’re SUPA«. NAVIGATIONEN 94 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN WEARABLE TECHNOLOGIES UND IMPLIZITES WISSEN überführt. So wird das Verhältnis von Körper, Bewusstsein und Kleidung nun nicht mehr durch die individuelle eigene Erfahrung erschlossen, sondern durch die An- bindung an große Medien- und Datensysteme (vor-) definiert und dadurch objekti- viert. An die Stelle des impliziten Wissens tritt mit Wearable Technologies ein »ex- plizites«, formalisiertes Wissen: die »smarte« Yoga-Hose entscheidet beispielsweise über die richtige Körperhaltung und der »smarte« BH über die persönlichen Ge- fühle, wobei sie verstärkt Möglichkeiten zur Selbstreflexion und Selbstoptimierung in den Vordergrund rücken. Dabei ist entscheidend, dass dieses »explizite« Wissen den Trägerinnen und Trägern über unterschiedliche (digitale) Interfaces – über neue haptische, akustische und visuelle – zurückgespiegelt wird, die unmittelbar (und direkt am Körper) wirken. So scheint das »explizite« Wissen den Trägerinnen und Trägern bzw. Userinnen und Usern durch die Unmittelbarkeit der Technologie, parallel zur alltäglichen Kleidung, immer noch als »praktisches (verkörpertes) Er- fahrungswissen« implizit. LITERATURVERZEICHNIS Andersen, Christian U./Pold, Søren B. (Hrsg.): Interface Criticism: Aesthetics bey- ond Buttons, Aarhus/Kopenhagen 2011. Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen, übers. v. Wolfgang H. Fietkau, Frankfurt a. M. 1974. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteils- kraft, übers. v. Bernd Schwibs/Achim Russer, Frankfurt a. M. 1987. DFG-Graduiertenkolleg 1539 ›Sichtbarkeit und Sichtbarmachung – Hybride For- men des Bildwissens‹: »DoktorandInnen«, http://www.sichtbarkeit-sichtbar- machung.de/mitglieder/doktorandinnen/, 19.06.2017. Distelmeyer, Jan: Machtzeichen. Anordnungen des Computers, Berlin 2017. Entwistle, Joanne: »Globale Ströme, lokale Begegnungen«, in: Lehnert, Gertrud u.a. (Hrsg.): Modetheorie. 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Perspektiven für eine Mo- dewissenschaft, Bielefeld 2015, S. 265-287. Wirth, Sabine: »Between Interactivity, Control, and ›Everydayness‹ – Towards a Theory of User Interfaces«, in: Hadler, Florian/Haupt, Joachim (Hrsg.): Inter- face Critique, Berlin 2016, S. 17-35. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 97 IMPLIZITES WISSEN, KOGNITION UND DIE PRAxISTHEORIE DES INTERFACES V O N C H R I S T O P H E R N S T 1. HINTERGRUND – IMPLIZITES WISSEN UND MEDIENPRAKTIKEN Als ein konstitutiver Bestandteil sozialer Praktiken hat das implizite Wissen eine Schlüsselrolle für den menschlichen Weltbezug.1 In Differenz zum expliziten Wis- sen bezieht sich ›implizites Wissen‹ auf Interaktionen von kognitiven Prozessen mit der materiellen und sozialen Umwelt und wird als unhinterfragtes und spontan ab- rufbares Wissen in sozialen Praktiken vorausgesetzt. In der Forschung werden, so etwa bei Harry Collins, folgende Dimensionen als typische Bereiche des impliziten Wissens genannt: • Körperlichkeit – z. B. implizites Wissen um die Beziehung des Körpers zur ma- teriellen Umwelt. • Relationalität – z. B. implizites Wissen im Sinne des (unbewusst) angemesse- nen Verhaltens in einer Situation. • Kollektivität – z. B. implizites Wissen in Bezug auf geteilte Praktiken auf Grup- penebene.2 ›Implizit‹ ist dieses Wissen, weil es nicht bruchlos ›expliziert‹ werden kann.3 Oft wird übersehen, dass der ›Überschuss‹, der sich auf Seiten des impliziten Wissens ergibt,4 eine medientheoretische Implikation aufweist. Bereits Michael Polanyis Formulierung, »daß wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen«,5 illustriert, dass die Frage nach implizitem Wissen mit der Übersetzbarkeit epistemologischer Leistun- gen in ein anderes Medium (bei Polanyi: die Sprache) verknüpft ist.6 Auf personaler Ebene kann das ›Implizite‹ an einer typischen Beziehung zwi- schen Kognition und Praxis festgemacht werden: Implizites Wissen betrifft einer- seits die Etablierung und Stabilisierung der Interaktionen eines Akteurs in einer ›Umwelt. Es sorgt für eine kognitive Entlastung der Aufmerksamkeit im Sinne nicht weiter reflexionsbedürftiger Wahrnehmungs-Handlungs-Schemata. Andererseits 1 Eine Theorie sozialer Praxis kommt nicht ohne Annahmen über implizites Wissen aus. Vgl. Reckwitz: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken«. 2 Vgl. Collins: Tacit and Explicit Knowledge; Ders.: »Drei Arten impliziten Wissens«. 3 Klassisch ist hier Polanyi: Implizites Wissen. Vgl. auch Renn: »Wissen und Explikation«. 4 Vgl. Bertram: »›Im Anfang war die Tat‹«, hier S. 214-220, der verschiedene philosophische Zuschnitte von Theorien der Praxis diskutiert und dabei auch eine Gruppe der »Praxis- Überschuss-Theorien« identifiziert. 5 Polanyi: Implizites Wissen, S. 14. 6 Das wird am Beispiel des Begriffs der strukturellen Kopplung in der Systemtheorie disku- tiert in Ernst: »Präsenz als Form einer Differenz«. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 99 CHRISTOPH ERNST ist implizites Wissen ein ›Wissen-in-der-Praxis‹.7 Die Möglichkeiten, implizites Wis- sen in vermittelbare Repräsentationen zu übersetzten bzw. zu formalisieren, sind begrenzt. Gleiches gilt für Versuche, implizites Wissen über einen situativen Kon- text hinaus in Raum und Zeit auszudehnen.8 2. INTERFACEDESIGN ZWISCHEN KOGNITIONSWISSENSCHAFT UND ME- DIENTHEORIE Zwei paradigmatische Bereiche, in denen implizites Wissen im Kontext von »Medi- enpraktiken« auffällig wird,9 sind das User-Interface-Design und das Interaktionsde- sign.10 Beide Bereiche können als Versuche betrachtet werden, Interfaces als Medi- en innerhalb einer Relation zu Computertechnologie auszugestalten.11 Parallel zur Entwicklung der entsprechenden Technologien ist in diesen Diskursen seit rund 15 Jahren eine Ausweitung des Praxisbegriffs zu beobachten.12 Definierten lange Zeit die Dialogmöglichkeiten der Graphical-User-Interfaces das Verhältnis zwischen Ko- gnition und Computer, bildet heute die gesamte Erfahrungswelt des Körpers und der sozialen Interaktion den Gegenstand ›guten‹ Interaktionsdesigns.13 Eine Aufgabe von Interaktionsdesign besteht darin, die prinzipiellen Möglich- keiten der Interaktion mit der Interfacetechnologie und die Nutzung des Interfaces in der sozialen Realität miteinander abzustimmen.14 Als dafür elementar wichtig wird das Generieren eines »conceptual models« angesehen – eines Wahrnehmungs- und Handlungsschemas, das als mentales Modell Vorstellungen über mögliche Ope- rationen des Systems und über mögliche Handlungen mit dem System enthält.15 7 Vgl. weiterführend zu den Facetten insb. auch der praxistheoretischen, pragmatischen und pragmatistischen Theoretisierung des impliziten Wissens die Beiträge in Loenhoff: Implizites Wissen, vgl. zudem Bertram: »Im Anfang war die Tat« sowie Reckwitz: »Grun- delemente einer Theorie sozialer Praktiken«. 8 Vgl. exemplarisch für derartige Problemlagen Collins: Tacit and Explicit Knowledge; Ders.: »Drei Arten impliziten Wissens«. 9 Vgl. programmatisch zur Theorie der Medienpraxis Couldry: »Theorising Media as Prac- tice«; Postill: »Introduction«; Dang-Anh u.a.: »Medienpraktiken«; Schüttpelz/Gießmann: »Medien der Kooperation«; Schüttpelz/Meyer: »Ein Glossar zur Praxistheorie«. Den Te- nor dieser Forschung fasst präzise Couldry: »Theorising Media as Practice«, S. 35, wenn er schreibt: »This new paradigm sees media not as text or production economy, but first and foremost as practice.« 10 Die Begriffe werden häufig synonym verwendet. Will man sie abgrenzen, dann kann Inter- aktions-Design als speziellerer Fall des übergreifenden User-Interface-Designs aufgefasst werden. 11 Vgl. Wirth: »Between Interactivity, Control and ›Everydayness‹«, S. 27-33. 12 Vgl. etwa Cooper u.a.: About Face; Preece u.a.: Interaction Design. 13 Als Parameter gelten z.B. »effectiveness«, »efficiency«, »saftey«, »utility«, »learnability« und »memorability«. Vgl. Preece u.a.: Interaction Design, S. 19. 14 Vgl. ebd., S. 1-6. 15 Vgl. Norman: The Design of Everyday Things, S. 25-32. Ich beziehe mich im Folgenden auf Normans Begriff. Vgl. auch Distelmeyer: Machtzeichen, S. 67f., der dies im Rahmen ei- ner »Ästhetik der Verfügung« diskutiert. Abweichend von diesem Verständnis bezeichnet der Modellbegriff im Kontext des User-Interface-Designs oft ganze Design-Paradigmen, etwa das »Game Model«. Vgl. Murray: Inventing the Medium. NAVIGATIONEN 100 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN IMPLIZITES WISSEN, KOGNITION UND DIE PRAxISTHEORIE DES INTERFACES Fragt man sich jetzt, wie ein solches conceptual model, zumal als mentales Modell, beschrieben werden kann, dann ist zu bedenken, dass die Diskurse zum Interaktionsdesign – wenn auch oft unterschwellig – durch kognitionswissenschaft- liche Ansätze informiert sind, die den Körper (embodiment) und die Situierung von Kognition (situated cognition) voraussetzen.16 In diesen Theorien werden mentale Zustände als in die materielle Realität ausgedehnt gedacht.17 Kognitive Leistungen entstehen in einer nicht auf das Gehirn reduzierbaren Verflechtung mit der mate- riellen Umwelt. Dies öffnet eine Dialogmöglichkeit mit der Medientheorie, vertritt sie doch in verschiedenen Varianten ebenfalls Konzepte einer ›externalisierten‹ Ko- gnition.18 Der Beziehung zwischen Interfaces und implizitem Wissen fällt in diesem Zu- sammenhang eine Schlüsselrolle zu. Verengt man den Begriff des Interfaces auf die graphischen und haptischen User-Interfaces,19 dann sind Interfaces Schnittstellen, an denen auf Grundlage kulturell und sozial präformierten Praxiswissens die Ope- rationsmöglichkeiten mit einem technischen System ausgelotet werden. In Inter- faces finden Übergänge zwischen situierter Kognition und dem impliziten Regelwis- sen von Praktiken statt. Wie aber entsteht ein solches conceptual model? Und was sind die Prämissen seiner medienwissenschaftlichen Theoretisierung? 3. CONCEPTUAL MODELS ZWISCHEN INTERFACES UND IMPLIZITEM WIS- SEN Sowohl aus Sicht der genannten kognitionswissenschaftlichen Theorien als auch aus Sicht der Medientheorie ist klar, dass im Fall ›menschlicher‹ autonomer Systeme das conceptual model nicht als eine kodifizierte, explizite, interne Repräsentation gedacht werden kann. Bereits die Konstitution dieses Modells muss aus Bedingun- gen der Verkörperung und der Situierung heraus erklärt werden. Doch was soll das heißen? Etwas deutlicher wird dies im Kontext des Interaktionsdesigns. Im Ganzen be- trachtet, formuliert man in Bezug auf die Konstitution eines conceptual models drei zusammenhängende Annahmen: • Kontextspezifische Affordanzen – Wahrnehmungen und Handlungen werden in Interfaces durch situations- und kontextspezifische Aktionsoptionen in der materiellen Umwelt aktiviert.20 16 Vgl. überblickend über das kognitionswissenschaftliche Feld Stephan/Walter: Handbuch Kognitionswissenschaft. Exemplarisch zum Interface-Design vgl. Norman: The Design of Everyday Things, S. 74-122; Murray: Inventing the Medium, S. 12-21. 17 Vgl. einführend Walter: »Verkörperlichung und situative Einbettung«. 18 Die These gehört zu den Grundfiguren der Medientheorie. Der Bogen kann von der älteren, aber immer noch wichtigen Debatte um die Materialität der Kommunikation, die Performativitäts- und Kulturtechnikforschung bis hin zur neueren Diskussion um eine Theorie der Medienökologie gespannt werden. 19 Eine bereitere Definition, die auch Hardware/Hardware-Schnittstellen und API’s beach- tet, findet sich in Cramer/Fuller: »Interface«. 20 Vgl. im Anschluss an James J. Gibsons Affordanz-Begriff Norman: The Design of Everyday NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 101 CHRISTOPH ERNST • Verkörperte Repräsentationen – Diese Affordanzen werden unter Rückgriff auf das Körperschema abstrahiert, also unter Rekurs auf ein Wissen um körperli- che Handlungsmöglichkeiten. • Symbolische inferenzen – Ein ausagierbares Vorstellungsbild über die Nutzungs- möglichkeiten des Interfaces entsteht durch semiotische »signifiers«, die für begriffliche Schlussfolgerungen über mögliche Aktionen, die Struktur und das Verhalten des Gesamtsystems entscheidend sind.21 Das aus diesen Faktoren generierte conceptual model kann zwar artikuliert werden, seine vollständige Form bleibt userseitig aber implizit. Dementsprechend wird ein Zustand angestrebt, in dem das conceptual model auf Ebene des impliziten Wissens – mit Michael Polanyi gesagt – in der Aufmerksamkeit als unhinterfragter »proxi- maler« Term fungiert. Dank des conceptual models kann sich die Aufmerksamkeit einer im Fokus stehenden »distalen« Aufgabe zuwenden.22 Polanyi spricht auch von »Hintergrundwahrnehmungen« bzw. »subsidiary awareness«. Er stellt fest: »Was dieses nur nebenher registrierte Wissen auszeichnet, ist die Funktion, die es erfüllt; es kann jeden Grad von Bewußtheit haben, solange es als Schlüssel zum zentralen Objekt unserer Aufmerksamkeit dient.«23 Meine These lautet jetzt, dass conceptual models als situationsspezifische For- men von »kontextabhängigen und handlungsbezogenen Repräsentationen« aufzu- fassen sind,24 die als implizites Wissen im Modus ›subsidiärer Aufmerksamkeit‹ vor- liegen. Dies kann man auch mit dem Begriff der ›Relevanz‹ zum Ausdruck bringen: conceptual models werden nur insoweit im impliziten Wissen konstituiert, als sie im konkreten Umgang mit einem Interface, also im Vollzug einer Praxis, für die epistemische, z.B. problemlösende, Bewältigung einer Situation kognitiv ›relevant‹ sind.25 Obwohl es also ein mentales Modell ist, kann die Frage nach einem concep- tual model nicht ausschließlich in naturalistischen Begriffen diskutiert werden, son- dern schließt soziale und kulturelle Bedingungen ein. Wenn das conceptual model als Teil von implizitem Wissen verstanden wird – und das ist im Interface-Design unzweideutig der Fall –, dann ist das conceptual model in Praktiken verankert und unterliegt gesellschaftlichen Regeln.26 Things, S. 10-13. Einen anderen Affordanz-Begriff vertritt Murray: Inventing the Medium, S. 51-85. Dort sind Affordanzen eher soziale Sinndimensionen digitaler Medien. 21 Vgl. Norman: The Design of Everyday Things, S. 13-20. »Symbolisch« ist hier im breitest möglichen Sinn zu verstehen, also etwa auch unter Einschluss von Metaphern wie der der ›Desktop‹-Metapher. 22 Polanyi: Implizites Wissen, S. 18f. Vgl. auch den Bezug auf Polanyi bei Hookway: Interface, S. 125. 23 Polanyi: Implizites Wissen, S. 86. Diese Theorie ist in Überlegungen zur »Transparenz« von Medien entscheidend. Vgl. Jäger/Kim: »Transparency and Opacity«, S. 49-53. 24 Vgl. Walter: »Verkörperlichung und situative Einbettung«, S. 188. 25 Vgl. Jäger/Kim: »Transparency and Opacity«, S. 52; dazu Ernst: »Achtsames Ambient«. 26 Zur Rolle des Bewusstseins und der Kognition in Praktiken äußert sich ähnlich Reckwitz: »Toward a Theory of Social Practices«, S. 251f. Diese soziokulturelle Seite wird in der Rezeption der Kognitionswissenschaft in Diskursen zum Interface-Design mitunter über- sehen. NAVIGATIONEN 102 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN IMPLIZITES WISSEN, KOGNITION UND DIE PRAxISTHEORIE DES INTERFACES 4. NATURAL USER INTERFACES UND KÖRPERLICHES WISSEN Während die Medienwissenschaft angesichts der Ubiquität digitaler Medien derzeit bemüht ist, auf Mediendifferenz gegründete Theorien – top down – durch weit gefasste Medialitätskonzepte zu ersetzen und zum Beispiel eine technikphiloso- phisch begründete ›Medienökologie‹ zu entwickeln,27 arbeiten sich Theorien des Interface-Designs – bottom up – in Richtung eines natural interface designs vor.28 Unter solchen ›natürlichen‹ Interfaces versteht man unter anderem touch-gestures oder air-based gestures.29 Das Ziel des entsprechenden Interaktionsdesigns lautet, die ›natürliche‹ Situation der Interaktion mit der materiellen und sozialen Umwelt zum Maßstab von Interfaces zu machen. Allerdings: Weder gibt es eine vom Sozi- alen abstrahierte, ›natürliche‹ Situation der gestischen Interaktion noch lässt sich das, was in den Diskursen als das ›Natürliche‹ der gestenbasierten Interaktion ver- standen wird, so ohne Weiteres in explizite Formalsprachen übertragen.30 Was hat das für Folgen? Ich möchte knapp ein einfaches Beispiel referieren.31 In dem Beispiel geht es um Computerspiele im bewegungssensitiven Interface von Nintendos Wii-Platt- form. User-Experience-Diskurse preisen die Möglichkeiten dieser Plattform. So heißt es in Ausführungen zur User Experience von Gelegenheitsspielern in Bezug auf Spiele wie Tennis und Bowling zuversichtlich: The Wii takes this idea of real-world analog to game action to a further extreme. The success of Wii Sports with retirement homes is an unde- niable sign of that game’s success with a deeply non-gamer audience. But what Wii Sports provides is a very close mapping to the real-world activity it simulates. So to bowl a ball in Wii Bowling, the player must make a motion with the Wiimote that emulates bowling (an underhand toss of the ball); in Wii Tennis, the player swings the Wiimote like a tennis racket. The comparison between the real sport and simulated one does not stop there. The movements detected by the Wiimote for the Wii Sport games are mapped to what creates successful moves in the real sport. For example, if a player does not follow through with a 27 Vgl. einführend Löffler/Sprenger: »Medienökologien«. Im weiteren Kontext die Beiträge in Hörl: Die technologische Bedingung. 28 Vgl. Preece u.a.: Interaction Design, S. 219ff. Den Begriff »natural interfaces« verwendet Norman: »Natural interfaces are not natural«. 29 Siehe dazu auch den Beitrag von Sabine Wirth in diesem Heft. 30 Vgl. Distelmeyer: Machtzeichen, S. 10-22. Die Idee, den Interface-Begriff auf die sozi- ale Interaktion auszudehnen, verläuft komplementär zur Entwicklung der »natural inter- faces«. Kritisiert wird die Kategorie eines »social interface« bei Cramer: »What Is Interface Aesthetics«, hier S. 126. 31 In Jäger/Kim: »Transparency and Opacity«, S. 54-58, insb. S. 56, werden Beispiele aus dem Bereich von sog. »Hyperinstruments« und ihren Interfaces in der Medienkunst diskutiert, in denen es ebenfalls um ein »(mental) image« geht, das aus intermedialen Transkriptionen in einem Interface erzeugt wird und dabei auf kulturspezifischen Semantiken und Praxis- kenntnissen beruht. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 103 CHRISTOPH ERNST swing in Wii Tennis, the ball will go wide, just as it does in actual tennis when a player fails to follow through. Similarly, the exact position of the player’s wrist in Bowling or the precise speed and angle of a player’s swing in Wii Golf is factored into the success of the move. What this means is that a player with real experience in one of these sports can bring that experience directly into the game and excel after only a short adjustment period. The player’s familiarity with the movements and the resulting intuitiveness of the play allowed the game to reach an entirely new market of non-digital game players that were versed in the real-world versions of these sports.32 Hier noch einmal die Paraphrase des Zitates: Konzeptionell wird das Interface der Wii als Möglichkeit angesehen, eine ›deeply non-gamer audience‹ anzusprechen. Als Argument führt man ein ›very close mapping to the real-world activity it simu- lates‹ an. Die Konsequenz, die aus diesem Argument gezogen wird, lautet, ›that a player with real experience in one of these sports can bring that experience directly into the game and excel after only a short adjustment period‹. Der Schlüssel dafür ist die ›familiarity with the movements‹ – also die Vertrautheit der Bewegungsprak- tiken. Soweit die Idee, die offenkundig auf eine möglichst reibungslose Interaktion zwischen bekannten (familiar) Praktiken abzielt.33 Ganz aufgegangen ist das Kon- zept allerdings nicht. Donald Norman hat einige Probleme solcher bewegungssensitiver, ›natürli- cher‹ Interfaces und darauf bezogener Interaktionspraktiken diskutiert.34 Dabei kommt er auch auf das Beispiel des Bowling-Spielens im Rahmen des Wii-Interfaces zu sprechen. Tatsächlich tendierten Menschen, die in Nintendos Wii eine Bowling- kugel durch Schwingen des Arms und Drücken eines Controller-Buttons ›werfen‹ sollten, dazu, in der Wurfbewegung vor dem Fernseher nicht nur den Button zu drücken, sondern die Hand zu öffnen und den ganzen Controller in den Fernseher zu schleudern. Scheinbar ist dies so oft geschehen, dass Nintendo explizite War- nungen herausgeben musste, in denen auf die Notwendigkeit von Armschlaufen für die Controller hingewiesen wurde.35 Was aber geht auf Ebene der ›familiarity with the movements‹, also der auf Vertrautheit beruhenden Ähnlichkeit zwischen den Praktiken, vor sich? 32 Fortugno: The Strange Case of the Casual Gamer, S. 150f. 33 Vgl. Jäger/Kim: »Transparency and Opacity«, S. 52, die auf die Bedeutung des Begriffs »fa- miliarity« für die Herstellung medialer Transparenz hinweisen. 34 Vgl. Norman: »Natural Interfaces are not Natural«. 35 Vgl. ebd., S. 9. NAVIGATIONEN 104 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN IMPLIZITES WISSEN, KOGNITION UND DIE PRAxISTHEORIE DES INTERFACES 5. DIFFERENZEN ZWISCHEN PRAKTIKEN Offenbar ist Nintendos Lösung, die Bowling-Kugel durch den Controller zu simu- lieren, nicht überzeugend.36 Es kommt zu einer Überidentifikation, in der die Diffe- renz zwischen Praxis und Medienpraxis – und damit die ›Verankerung‹ des concep- tual models im impliziten Wissen – situativ außer Kraft gesetzt wird. Problematisch ist die Rückkoppelung des Interfaces mit der ›familiarity‹ respektive der Vertraut- heit mit dem bekannten Bewegungsmuster. Schematisch betrachtet, sind für das Interaktionsdesign jetzt zwei Wege denk- bar. Eine Möglichkeit ist es, auf die Steigerung der mimetischen Ähnlichkeit zwi- schen den Praktiken hinzuarbeiten, etwa durch eine Gestaltung des Controllers als wirkliche Bowlingkugel, die am Arm festgemacht wird. Eine andere Möglichkeit deutet Donald Norman an, wenn er nahelegt, dass bei Gestensteuerung in na- tural user interfaces die ›unnatürlichere‹ und ›konventionalisiertere‹, also weniger ›direkte‹ und ›natürliche‹ Repräsentation einer Aktion im Rahmen des conceptual models nötig sein könnte.37 Besteht also eine Lösungsmöglichkeit in einer Strate- gie, die man als mimetische Subsumtion der Medienpraxis unter eine Oberklasse ›Bowling Spielen‹ nennen könnte,38 so könnte man als andere Lösungsmöglichkeit auf die Verstärkung der Möglichkeiten zur Differenzierung zwischen Praxis und Medienpraxis hinarbeiten – also auf eine differenzierende Subtraktion einer Praxis aus einem Feld von möglichen Praktiken. Geht es im ersten Fall um mimetische Ähnlichkeit, die auf eine Einheit der Praktiken abzielt, so geht es im zweiten Fall um kontrastierende Differenzen zwischen den Praktiken.39 Medientheoretisch sind beide Typen interessant. Ich konzentriere mich hier aber auf die zweite Form, weil sie im Kontext körperlicher Praktiken wie sportspe- zifischen Handlungen nicht unbedingt zu erwarten ist. Diese Variante zeigt, dass ein Bewusstsein für die Medialität des Mediums nicht zwingend einen Bruch mit der ›Transparenz‹ des Mediums darstellen muss. Die Möglichkeit, dies zu theore- tisieren, gibt Branden Hookway an die Hand, der für den Interfacegebrauch von einer »enacted experience of the interface as a form of augmentation«40 spricht. Durch die Art der »Transkription« (Ludwig Jäger) der Praktiken im Interface bleibt das Bewusstsein für die ›augmentation‹, die ein Teil des conceptual models ist,41 36 Vgl. die Beiträge in Seifert u.a.: Paradoxes of Interactivity, insbesondere den Beitrag von Jäger/Kim: »Transparency and Opacity«, in dem (ebd., S. 49) ebenfalls der Begriff der ›In- terferenz‹ verwendet wird. 37 Vgl. Norman: »Natural User Interfaces are not natural«, S. 10. 38 Mit Harry Collins und Martin Kusch kann man auch von einer ›mimeomorphischen‹ Struk- tur der Praxis sprechen. Das Interface Mensch/Maschine ist in der Weise relationiert, dass die Handlung so automatisiert ist, dass sie in eine Formalsprache übersetzbar ist und, theoretisch, auch von einer Maschine ausgeführt werden kann. Vgl. Collins/Kusch: The Shape of Actions, insb. S. 36-75. 39 Solche Hierachisierungs- und Abhängigkeitsverhältnisse von Praktiken werden bei Couldry: »Theorising Media as Practice« als Schlüsselbestandteil einer Theorie der Medi- enpraxis betrachtet. 40 Vgl. auch Hookway: Interface, S. 12. 41 Hat man ein conceptual model ›vor Augen‹, ergeben sich Querbezüge zu dem, was im NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 105 CHRISTOPH ERNST als Bedingung der ›Transparenz‹ des Mediums in seinem Gebrauch erhalten.42 Sein ›Außen‹ sind die Dimensionen der Realität von Praktiken im Rahmen materieller und sozialer Strukturen sowie der Einbettung des Interfaces in die Struktur eines Gesamtmediums.43 Übersetzt in die vorliegende Problemstellung folgt daraus, dass die Unter- scheidung zwischen Ähnlichkeit und Differenz in Bezug auf Praxis und Medienpra- xis im Fall von Interfaces auf allen Ebenen des impliziten Wissens bedeutsam ist.44 Wenn Interfaces als Zonen der Überlagerung verschiedener Praktiken betrachtet werden, die nicht ineinander aufgelöst werden können, dann lautet eine erste Kon- sequenz des Beispiels, dass Interaktionsdesign nicht nur zwischen Praktiken diffe- renzieren muss, sondern auch den Mehrwert einer an das Interface gebundenen Medienpraxis zu vermitteln hat.45 Dieser Mehrwert tritt als Effekt des Medienge- brauchs in der Weise ein, als in einem Interface etwas ›getan‹ wird, dies aber so getan wird, dass implizit klar ist, dass das Interface gegenüber ›Außen‹ abgegrenzt ist –, dass also die Differenz zwischen Praxis und Medienpraxis, in Anlehnung an Michael Polanyi gesagt, im Modus ›subsidiärer Aufmerksamkeit‹ gegenwärtig bleibt. Anstatt dies jetzt spezifischer zu fassen, möchte ich zu dem Gesagten eine theoretische Parallele herausarbeiten, die zugleich die Möglichkeit zu einer Erwei- terung und, in zukünftigen Überlegungen, gegebenenfalls auch Generalisierung der vorliegenden Perspektive bietet. Zurückgegriffen werden soll dafür auf Hans-Jörg Rheinbergers knappe Bemerkungen zur Theorie impliziten Wissens. Kontext der Diagrammatik-Forschung ein »Denkbild« genannt werden kann. Vgl. Ernst: Diagrammatische Denkbilder. 42 Man kann dies als epistemologisches Argument für die Interface-politische Kritik am ›Ver- schwinden‹ der Interfaces bzw. der ›Natura-User-Interfaces‹ lesen. Vgl. Andersen/Pold: »Manifesto for a Post-Digital Interface Criticism«. Hier lohnt sich die Auseinandersetzung mit Ludwig Jägers Arbeiten, vgl. im vorliegenden Kontext insb. Jäger/Kim: »Transparency and Opacity«. Dort heißt es (ebd., S. 53): »So the thesis which is advanced here is that the transparency of the medium is not a ›property‹ of the medium, but an aggregate state in which the mediatised semantics as silent knowledge is not communicatively ›disturbed‹.« Vgl. im erweiterten Kontext auch die Argumentation in Ernst: »Explikation und Schema«. 43 Innerhalb dieses Mediums ist das Interface ein spezifisches Medium, das bestimmte Ope- rationen ausführen kann und andere nicht. Ähnlich argumentiert Distelmeyer: Machtzei- chen, in Bezug auf das Verhältnis von Interface und (Medium) des Computers. Kritisch gegenüber einer ›Medium im Medium‹-Perspektive bzw. Remediations-Theorien äußern sich Galloway: The Interface-Effect, S. 30-33; Wirth: »Between Interactivity, Control and ›Everydayness‹«, S. 20-27. 44 Dies gilt auch mit Blick auf die sehr prominente Verrechnung von Martin Heideggers ›Zuhandenheits‹-Begriff mit einer als ›Usability‹ bezeichneten ›Unsichtbarkeit‹ im Ge- brauch eines Mediums. Vgl. etwa Distelmeyer: Machtzeichen, S. 79f.; Wirth: »Between Interactivity, Control and ›Everydayness‹«, S. 29-33. 45 Vgl. interfacetheoretisch Galloway: The Interface-Effect, S. 25f. sowie das Beispiel ebd., S. 30-39. NAVIGATIONEN 106 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN IMPLIZITES WISSEN, KOGNITION UND DIE PRAxISTHEORIE DES INTERFACES 6. ERWEITERUNG: IMPLIZITES WISSEN UND ExTIMES RÄSONIEREN Die Grundkoordinaten von Rheinbergers Theorie sind bekannt: Experimentalsy- steme bringen Wissen hervor, indem sie materielle Spuren generieren, die als »epi- stemische Objekte« zu wissenschaftlichen Sachverhalten avancieren.46 Um sowohl die Irritation von kulturellen und sozialen Faktoren durch Technik und Materialität zu erfassen wie auch den Umgang mit Technik und Materialität durch soziale Prak- tiken zu beschreiben, ist eine Theorie des impliziten Wissens notwendig.47 Auf Linie der Science and Technology Studies (STS) wird diese Theorie von Rheinberger als Bestandteil einer übergreifenden »Pragmatogonie« ausgewiesen.48 Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine Theorie dessen, was an Wissen aus den materiellen Dingen und Sachen selbst entsteht und durch die Dinge objektiviert wird.49 Implizites Wissen existiert dabei nur »im Akt der Durchführung« eines Ex- periments; es ist ein »in actu« angeeignetes und abgerufenes Regelwissen, dessen Explikation für das Gelingen des Experiments riskant ist.50 In diesem Kontext lehnt sich Rheinberger nun an Michael Polanyis oben bereits erwähnte Theorie der Auf- merksamkeit an.51 Er schreibt: Danach hat das stumme Wissen des Subjekts seine äußere Form und seinen Ort in der technischen Apparatur des Experimentalsystems, während die subsidiäre Aufmerksamkeit umgekehrt diese Apparatur mit ihren Werkzeugen auf der Seite des Subjekts verkörpert. Diese duale Struktur reziproken Ein- und Ausgreifens will ich das Augenmerk nennen.52 Rheinberger geht davon aus, dass implizites Wissen eine duale Struktur hat: Einer- seits ist es materiell in der »technischen Apparatur des Experimentalsystems« ein- gelagert, andererseits besteht es im Feld der »subsidäre[n] Aufmerksamkeit« des Subjekts.53 Näher ausgezeichnet werden sollen die Merkmale dieser dualen Rela- tion durch den Rückgriff auf den (Lacan’schen) Begriff der ›Extimität‹: Akteure, die über implizites Wissen verfügen, sind in einer ›inneren Ausgeschlossenheit‹ in das Experimentalsystem eingebunden. Einerseits ist die implizite Vertrautheit mit dem 46 Vgl. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge; vgl. überblickend Hall: »Hans-Jörg Rheinberger«, hier insb. S. 222-226 sowie vertiefend Pernkopf: Unerwartetes erwarten, S. 73-77. 47 Vgl. auch Reckwitz: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken«, S. 284f. 48 Vgl. überblickend über das Feld Lengersdorf/Wieser: Schlüsselwerke der Science & Tech- nology Studies. 49 Vgl. Hall: »Hans-Jörg Rheinberger«, S. 223f., dort insb. die genaue Erklärung des Begriffs in Anm. 4. 50 Rheinberger: Iterationen, S. 65. 51 Ursächlich sind Rheinbergers Überlegungen einem Beitrag zu einer (poststrukturalisti- schen) Theorie der Aufmerksamkeit entnommen. Vgl. Haas: Aufmerksamkeit. 52 Rheinberger: Iterationen, S. 64. 53 Ebd. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 107 CHRISTOPH ERNST Experimentalsystem ein Faktor dafür, dass das System immer besser funktioniert und damit beginnt, selbstständig Ergebnisse zu liefern. Andererseits entzieht sich das Experimentalsystem genau deshalb in immer stärkerem Maße der Verfügung derjenigen, die mit ihm implizit gut vertraut sind.54 Rheinberger bezeichnet dieses, im Modus impliziten Wissens informierte, Um- gehen mit dem Experimentalsystem als die Erkenntnisqualität eines »[e]xtime[n] Räsonierens«. Die Aufgabe dieses Räsonierens ist es, die »pragmatogone Dimen- sion des epistemischen Prozesses gegenwärtig zu halten«.55 Das Subjekt ist in der Weise in die Eigenlogik eines technischen Systems eingebunden, als auf Ebene des impliziten Wissens ein Bewusstsein für die Eigenlogik – und damit für die Erkennt- nismöglichkeiten – des Systems erhalten bleibt. Die Aufgabe der Experimentalan- ordnung, als ein »experimentelles Spinnennetz« zu dienen und »›sehen‹« zu können – also neue Erkenntnisse zu liefern –, hängt von diesem Wissen ab.56 Entscheidend ist daran im vorliegenden Kontext, dass der ›innere Ausschluss‹ – das ›extime Räsonieren‹ – von Rheinberger als implizites Bewusstsein für die un- scharfen und unklaren Ränder des Netzes der Experimentalanordnung aufgefasst wird. Der Ansatz versteht das implizite Wissen als ein Wissen um die grenzen der Anordnung, die zugleich die Grenzen jenes »experimentelle[n] Spinnennetz[es]« sind, das für das Gewinnen neuen Wissens in Experimenten so entscheidend ist. Pointiert wird formuliert: »Der Augenwinkel ist der Ort des Augenmerks«.57 Rheinberger liefert eine Theorie impliziten Wissens, welche die Bedingungen der Verteilung impliziten Wissen sowohl in einem bestimmten technischen System- zusammenhang als auch in einem bestimmten sozialen Feld beschreibt. Man muss die poststrukturalistische Grundierung des Arguments dabei nicht goutieren. Auf- schlussreich ist es aber allemal, dass es am Ende gerade das Wissen um die Gren- zen und das Außen sind, mit denen implizites Wissen assoziiert ist.58 Für den Wii- Controller heißt das, dass ein praktisches Verständnis für die ›Extimität‹, also die innere Distanz zur Eigenlogik des technischen Systems, offenbar schon auf Ebene der praktischen Interaktion mit dem System als epistemischer Rahmen etabliert werden kann. Für das Verständnis der formativen Technizität von fälschlich als ›na- 54 Vgl. Pernkopf: Unerwartetes erwarten, S. 75f. 55 Rheinberger: Iterationen, S. 65. 56 Rheinbergers Beobachtungen zum impliziten Wissen decken sowohl die Dimension des körperlichen als auch des relationalen impliziten Wissens ab. Auch Harry Collins nimmt die experimentelle Praxis in der Wissenschaft als Beispiel für relationales Wissen. Aller- dings steht bei dem entsprechenden wissenschaftlichen Praxiswissen mehr das Wissen im Vordergrund, von dem man gar nicht weiß, dass man es hat. Vgl. Collins: »Drei Arten impliziten Wissens«, S. 101f. Dennoch: Streng genommen muss das von Rheinberger af- firmierte »extime Räsonieren« zwischen personalem und sozial verteiltem – jeweils aber ›veräußerlichtem‹ – implizitem Wissen unterscheiden. Vgl. Scholz: »Soziale und verteilte Kognition«. 57 Rheinberger: Iterationen, S. 67. 58 Vgl. hier weiterführend auch die Zurückweisung von poststrukturalistischen Positionen bei Renn: »Eine rekonstruktive Dekonstruktion des Konstruktivismus«. Auf diese Diskus- sion kann ich im vorliegenden Rahmen nicht näher eingehen. NAVIGATIONEN 108 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN IMPLIZITES WISSEN, KOGNITION UND DIE PRAxISTHEORIE DES INTERFACES türlich‹ etikettierten natural user interfaces scheint dieser Umstand sehr wichtig zu sein. 7. FAZIT, DISCLAIMER UND AUSBLICK Medientheoretisch ist die Frage, inwiefern das Interface als Teil eines ›größeren‹ Mediendispositivs des Computers angesehen werden kann, das nicht erfasst wird, wenn man bei der Betrachtung der Interfaces als ›oberflächlicher‹ grafischer User- Schnittstelle stehen bleibt, viel diskutiert worden.59 Die Kritik lautet, dass in In- terfaceanalysen die Eigenlogik der nicht-sinnlichen Tiefenstruktur der vernetzten Computer verloren gehe. Die Frage ist allerdings, ob diese Kritik berechtigt ist. User-Interfaces sind für die Medientheorie allein deshalb wichtig, weil sie als Kontaktpunkte zwischen den Einschreibungen von ubiquitärer Datenverarbeitung in soziale Strukturen zu betrachten sind, die in Praktiken aktualisiert und damit fortgesetzt werden, gleichzeitig aber als verfügbare Strukturen die individuellen Praktiken anleiten.60 Das implizite Wissen hat dafür eine hohe epistemologische und analytische Relevanz. Es ist diejenige Wissensgröße, die für die Fortsetzung von Praktiken – und damit für das zentrale Problem, das durch soziale Strukturbildung bearbeitet wird – irreduzibel ist.61 Irreduzibel ist dann aber auch die Notwendig- keit, die Kognition zu berücksichtigen, etabliert sich hier mit dem conceptual model doch ein Verständnis für das System. Medientheoretisch sind User-Interfaces also als epistemologische und ästhetische Schnittstellen zu personalem Wissen von Be- deutung. Aus diesen Assoziationen kann man einige generelle Gedanken für die Diskus- sion um natural user interfaces und die Bedeutung des Interface-Begriffs ableiten: • Der erste Aspekt betrifft den Umstand, dass ein Teil des Interfaces – hier der Wii-Controller – offenkundig zum Brennpunkt eines Konfliktes zwischen der Praxis des Bowling-Spielens und der Medienpraxis des Bowling-Spielens wird. Interfaces etablieren und markieren Differenzen der praktischen Integration der Kognition.62 Eine Beschreibung der sozialen Konsequenzen digitaler Medi- en, die explizit oder implizit auf praxistheoretische oder pragmatistische Ideen referiert, wird man ohne eine Theorie des Interfaces nicht haben. 59 Zusammengefasst wird die Kritik am Interface als reiner ›Oberfläche‹ bei Distelmeyer: Machtzeichen, S. 25-40 sowie bei Wirth: »Between Interactivity, Control and ›Every- dayness‹«, S. 18-21. 60 Vgl. zum Verhältnis Praxis/Struktur hier auch die Theorie der Dualität der Struktur bei Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft, insb. S. 51-90; dazu Göbel: »Die Kulturwis- senschaft zwischen Handlungs- und Systemtheorie«, S. 198-202. Vgl. philosophisch auch Bertram: »Im Anfang war die Tat«, S. 223-227. Vgl. zum »ubiquitous computing« einfüh- rend auch Wirth: »Between Interactivity, Control and ›Everydayness‹«. 61 Vgl. hier auch Göbel: »Die Kulturwissenschaft zwischen Handlungs- und Systemtheorie«. 62 In diesem Zusammenhang ist auch auf Alexander Galloways Theorie des »Intrafaces« hin- zuweisen. Vgl. Galloway: The Interface-Effect, S. 24-53. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 109 CHRISTOPH ERNST • Ein zweiter Aspekt betrifft den Umstand, dass embodiment und extended cogni- tion auch medientheoretisch auseinandergehalten werden müssen. Während die als ›natürlich‹ angesehene Geste der verkörperten Repräsentation (embo- diment) zuzurechnen ist, ist der Umgang mit einem technischen Artefakt ein Beispiel für erweiterte Kognition (extended cognition). Die Geste hat, zumal in sozialen Interaktionssituationen, eigene kognitive Qualitäten, die nicht mit dem Erkenntniswert durch den Gebrauch von technischen Artefakten dek- kungsgleich sind.63 • Der dritte Aspekt betrifft den Umstand, dass implizites Wissen situationsspezi- fisches Wissen ist. Kognitive Verankerungen werden in Praktiken als verfügba- re Ressourcen realisiert. In einer Situation wird nicht einfach nur etwas getan, sondern im Vollzug der Situation weiß man auch um die Möglichkeiten, was es bedeutet, etwas ›tun‹ zu können.64 Dieses Wissen wird – etwa im Rahmen der Theorie des conceptual models, teils in kognitiven, teils in ästhetischen Begrif- fen beschrieben.65 Als Disclaimer sei gesagt, dass die Position, auf einer solchen, durch das Interface markierten, Differenz zu beharren – also zu postulieren, dass ein Bewusstsein für die Grenze der ›augmentation‹ vorhanden sein muss – kein Plädoyer für eine Wie- dereinführung des Körper-/Geist-Dualismus ist. Im Gegenteil: Das ganze Argument hängt ja davon ab, dass das conceptual model konstitutiv an die performative Si- tuation des Interfacegebrauchs gebunden ist. Ohne Interaktion mit dem Interface entsteht kein conceptual model. Das conceptual model ist verkörpert und situiert. Damit ergibt sich die Bedeutung der Praxis nicht aus einer präexistierenden Eigen- leistung des Geistes, sondern entsteht nur durch die Verstrickung in die materielle und die soziale Umwelt.66 63 Vgl. auch Walter: »Erweiterte Kognition«. Kulturtechniken, die auf einem weit gefassten Technikbegriff beruhen, können als Prozesse der kulturellen Vermittlung zwischen ›em- bodiment‹ und ›extented cognition‹ verstanden werden. Vgl. u.a. Krämer/Bredekamp: »Kultur, Technik, Kulturtechnik«, S. 14f. 64 Joachim Renn spricht hier von »second order tacit knowledge«. Dabei handelt es sich um ein implizites Wissen darum, was es heißt, implizites Wissen zu haben. Vgl. ausführlich Renn: »First and Second Order Tacit Knowledge«. Das erinnert nicht zufällig an das Regel- folge-Argument von Ludwig Wittgenstein. Ausführlich wird dieses Argument diskutiert in Gascoigne/Thornton: Tacit Knowledge, S. 81-106. Vgl. auch die Beiträge in Loenhoff: Im- plizites Wissen. Meines Erachtens kann man Renns Gedanken als Grundlage für die Kon- stitution der – für die Theorie der Medienpraxis als zentral angesehenen – »praktische[n] Reflexivität« betrachten. Vgl. Schüttpelz/Gießmann: »Medien der Kooperation«, S. 33-39. 65 Donald Norman weist darauf hin, dass das conceptual model den Charakter einer »story« habe. Vgl. Norman: The Design of Everyday Things, hier S. 57: »Conceptual models are a form of story, resulting from our predisposition to find explanations. These models are essential in helping us understand our experiences, predict the outcome of our actions, and handle unexpected occurrences.« Es gibt einen Unterschied zwischen dem Vollzug einer Handlung und dem Wissen darum, wie diese Handlung einen ›Sinn‹ ergibt. 66 Dies ist auch eines der zentralen Argumente der ›Mediensemantik‹, die Ludwig Jäger entwickelt hat. Vgl. zu Interfaces speziell Jäger/Kim: »Transparency and Opacity«. NAVIGATIONEN 110 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN IMPLIZITES WISSEN, KOGNITION UND DIE PRAxISTHEORIE DES INTERFACES Die »separation« durch das Interface, wie Branden Hookway das nennt, ist nicht nur eine zwischen menschlicher Kognition, kulturellen Praktiken und Um- welt.67 Sie betrifft auch die Relation zwischen Praktiken und den parallel zur Nut- zung des Interfaces ablaufenden Kalkulationen der vernetzten Computer, die ih- rerseits sozialstrukturelle Konsequenzen haben, die also mögliche Anschlusshand- lungen beeinflussen.68 Doch wo könnte eine medientheoretische Diskussion dieser hier am Beispiel von körperlichem impliziten Wissen diskutierten Problematik an- setzen? In der Kognitionswissenschaft ist der Begriff des ›kognitiven Systems‹ seit lan- gem gängig. Kognitive Systeme sind im Bereich der distribuierten Kognition sozial- kooperative und technisch-autonome Informationsverarbeitungsprozesse, die als ›kognitiv‹ angesprochen werden können, ohne eine Theorie der Leistungen eines individuellen Geistes voraussetzen zu müssen. Edwin Hutchins hat – unter Rück- griff auf Arbeiten von Donald Norman69 – zum Beispiel argumentiert, dass die An- ordnung in einem Cockpit als ›kognitives System‹ verstanden werden kann.70 Um seine Theorie verteilter Kognition zu postulieren, sind »material media in which re- presentations are embodied«71 die wesentliche Bezugsgröße. Was Hutchins unter dem Dach dieser Formulierung empirisch beobachtet, sind Anzeigen und Displays – also Interfaces. Wenn das aber so ist, dann ist es kein großer Argumentationssprung, gleiches für komplexe Computersysteme zu behaupten (die ja auch für Cockpits zentral sind). Zwar sollte in einem Cockpit das für Experimentalsysteme kennzeichnendes »›Prinzip gemäßigter Schlampigkeit‹« eher nicht herrschen (was nicht ausschließt, dass es in abgeschwächter Form nicht doch die Alltagspraxis ist).72 Aber das »Au- genmerk« als ein Bewusstsein für die Grenzen und das Außen der Anordnung ist auch hier von zentraler Bedeutung für gelingende Medienpraktiken. Diesen Ge- danken wiederum kann man für die Interfacetheorie adaptieren, weil keine der- artige systemische Ordnung heute ohne eine Vielzahl von unterschiedlichen Inter- faces und mit ihnen evozierte Praktiken auskommt. In Interaktionen mit Interfaces konstituiertes implizites Wissen ist die Nahtstelle, über die sich computerbasierte Operationsprozesse – via User-Interface-Design und Interaktionsdesign – in das ›Gewebe‹ oder, wie Robert Brandom sagen würde, das »Netz der sozialen Prakti- ken« einschreiben.73 67 Vgl. dazu umfassend Hookway: Interface. 68 Das ist die klassische Bedeutung des Strukturbegriffs in der Soziologie. Vgl. Göbel: »Die Kulturwissenschaften zwischen Handlungs- und Systemtheorie«. 69 Vgl. etwa Norman: Things That Make Us Smart. 70 Auch in dieser Hinsicht gibt es Parallelen zwischen dem wissenschaftstheoretischen An- satz bei Rheinberger und den kognitionswissenschaftlichen Theorien, etwa in den Tex- ten von Edwin Hutchins. Vgl. exemplarisch Hutchins: »How a Cockpit Remembers Its Speed«. 71 Ebd., S. 266. 72 Rheinberger: Iterationen, S. 66. 73 Brandom: »Freiheit und Bestimmtsein durch Normen«, S. 74. 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(...)« Andere Nutzer_innen des Forums pflichten bei und erklären, dass sie die neue Standardeinstellung gerne umgehen: so z.B. ^̂ BigMac: »I’ve always switched to the ›unnatural‹ scrolling setting. Ha.« Oder maflynn: »I guess I’m old school, but I swap the scrolling direction to unnatural as I think its more intui- tive to me.«1 Der Diskussionsstrang, der unter der Themenüberschrift »Natural/ Unnatural Scroll Direction« archiviert worden ist, bezieht sich auf die Einführung des Betriebssystems Mac OS 10.11/El Capitan und verdeutlicht, wie heterogen die Wahrnehmung einer ›intuitiven‹ Einstellung der Scrollbewegung unter den Nut- zer_innen ist. Davon abgesehen, dass die Wortwahl des Herstellers Apple – genauso wie die Werbe- und Selbstbeschreibungsrhetorik anderer Hersteller sowie die Präsenz dieser Begriffe im User Interface Design – eine eigene Abhandlung wert wäre und die Zuschreibung ›natürlich‹ zudem bereits von der Community im Forum kritisch hinterfragt wird, soll hier in erster Linie die Frage behandelt werden, wie es über- haupt zu diesem Irritationsmoment kommt. Obwohl es sich bei solch vermeintlich einfachen User Interface-Operationen wie dem Scrollen nicht um eine besonders körperbetonte Handlung handelt, ist eine Ausrichtung des Körpers und ein be- stimmtes Körperwissen an der Aktion beteiligt. In beiden Fällen – aufseiten der Standardscroller und der Anti-Standardscroller – besteht eine bestimmte Erwar- tungshaltung: ein inkorporiertes Wissen um den Ablauf einer Interface-Geste, die sich in das alltägliche Operieren mit Computertechnologie eingeschrieben hat. 1 Der vollständige Diskussionsstrang »Natural/Unnatural Scroll Direction« ist unter https://forums.macrumors.com/threads/natural-unnatural-scroll-direction.1956588/ zu finden (vgl. MacRumors.com: »Natural/Unnatural Scroll Direction«). Ähnliche Diskussio- nen finden sich auch für andere Betriebssysteme, wie beispielsweise Microsoft Windows 10, wo die Standardeinstellung ebenfalls dem vermeintlich ›natürlichen‹ Scrolling folgt. (vgl. Superuser.com: »How can I invert touchpad scroll direction on Windows 10?«). NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 117 SABINE WIRTH Um die Frage nach der Körperlichkeit solcher Interface-Gesten besser be- schreiben zu können, greife ich im Rahmen dieses Beitrags auf das aus der phäno- menologischen Techniktheorie entlehnte Konzept der embodiment relations zurück und werde dieses auf seine Produktivität für User-Interface-Analysen hin befragen. Terry Winograd und Fernando Flores betonen aus der Designperspektive bereits in den späten 1980er Jahren, dass der Computer nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern wie jedes Kommunikationsmedium im Kontext eines jeweils größe- ren Netzwerks von Dingen (»equipment«) und Praktiken gedacht werden muss, in dem jede User Interface-Aktion situiert ist.2 Wie wichtig die phänomenologische Techniktheorie als Inspirationsquelle für den Bereich des User Interface Design ist, verdeutlicht auch Paul Dourish, der sich in Where the Action is für die Herleitung seines Konzepts der embodied interaction explizit auf Autoren wie Husserl, Heideg- ger, Merleau-Ponty (und am Rande auch Ihde) bezieht. Auch aus Designperspektive habe man die Situiertheit von Interaktionen begriffen, so Dourish, und stütze sich daher auf Konzepte des embodiment oder Impulse aus der Anthropologie,3 um all- tägliches Nutzerverhalten in den Designprozess miteinzubeziehen. Während Autoren wie Gilbert Ryle und Michael Polanyi, die den Begriff tacit knowledge ab Mitte des 20. Jahrhunderts maßgeblich im wissenschaftlichen Diskurs publik gemacht haben, implizites Wissen als »vorreflexive, erfahrungsgebundene, in körperlichen Praxen routinisierte Wissensform«4 fassen und damit z.B. aufzei- gen, inwiefern das Wissen der Wissenschaft nicht rational und objektiv, sondern vielmehr eingebettet in soziale Kontexte und folglich abhängig von dem impliziten Wissen der jeweiligen Akteur_innen ist,5 versuchen Technikphilosophen wie Don Ihde sich an einer Theorie der Technik im Gebrauch. Da es hier nicht primär um die Frage des Wissens gehen soll, sondern um die Frage des Agierens mit User Interfaces, bleibt der Begriff des impliziten Wissens im Folgenden zwar eher im Hintergrund, bildet aber einen wichtigen Referenzrahmen. Am Beispiel des Scrol- lens und der Frage nach der ›richtigen‹ oder ›natürlichen‹ Scroll-Richtung soll hier einerseits diskutiert werden, inwiefern das von Don Ihde vorgestellte Konzept der embodiment relations für die Analyse alltäglicher User Interfaces nutzbar gemacht werden kann. Andererseits sollen auch die Grenzen und Problematiken einer phä- nomenologischen Perspektive auf Interface-Praktiken deutlich gemacht werden. 2. EMBoDiMEnt RELAtionS Mit dem Begriff der embodiment relations, welchen Don Ihde in seinen beiden grundlegenden Monographien technics and praxis (1979) und technology and the Lifeworld (1990) entwickelt, stellt er ein Konzept vor, das in (post-)phänomenolo- gisch-technikphilosophischer Tradition in Anknüpfung an Husserl, Heidegger und 2 Vgl. Winograd/Flores: Understanding Computers and Cognition, S. 5f. 3 Vgl. Dourish: Where the Action Is, S. 19. 4 Ernst/Paul: »Präsenz und implizites Wissen«, S. 12. 5 Vgl. Adloff u.a.: »Locations, Translations, and Presentifications of Tacit Knowledge«, S. 9. NAVIGATIONEN 118 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN »THE ›UNNATURAL‹ SCROLLING SETTING« Merleau-Ponty die alltäglichen Relationen zwischen Mensch und Technik zu be- schreiben versucht. Grundsätzlich lässt sich Ihdes Ansatz, wie Stefan Beck prägnant zusammenfasst, als Versuch einer Synthese aus Phänomenologie, Pragmatismus und dialektisch-materialistischen Philosophietraditionen lesen. Als Vertreter der phänomenologisch und praxistheoretisch orientierten US-amerikanischen Technik- philosophie interessiert sich Ihde insbesondere für die Tätigkeit der Akteur_innen und die embeddedness von Technik im Alltag.6 Es geht ihm also um ein Verständnis des alltäglichen Umgangs mit technischen Geräten, welchen er z.B. von einem re- flexiv-analytischen (›hermeneutischen‹) Verhältnis unterscheidet.7 Ihde selbst ver- ortet seinen Ansatz rückblickend als post-phänomenologisch, da er mit Referenz auf Merleau-Ponty und Dreyfus nicht auf eine Phänomenologie als Philosophie des Bewusstseins abzielt, sondern die zentrale Bedeutung des ›Körperseins‹ für alle Erfahrung hervorheben will.8 Ihde unterscheidet in seiner Phänomenologie der Technik vier Arten von Mensch-Technik-Relationen: embodiment relations, hermeneutic relations (z.B. Lese- oder Schreibtechniken bzw. technisches Design, das sich durch seine Kapazität als lesbarer ›Text‹ auszeichnet und bestimmte Wahrnehmungsmuster anspricht)9, alte- rity relations (die Wahrnehmung von Technologie als Anderes)10 und background re- lations (semi-automatische Technologien, die im Hintergrund als eine Art ›absente Präsenz‹ tätig sind, aber dennoch die unmittelbare Umwelt gestalten)11. Die hier im Fokus stehende Kategorie der embodiment relations bezieht sich auf die Art und Weise, wie Technologien in Bezug auf die Körperlichkeit der menschlichen Verwenderin eine »position of mediation«12 einnehmen und so spe- zifische Weisen des Wahrnehmens und Erfahrens ermöglichen. Am Beispiel einer Brille beschreibt Ihde, wie die Sehhilfe zum elementaren Bestandteil der Wahr- nehmung der Umgebung wird. Die Brille selbst tritt dabei für den Brillenträger in den Hintergrund, indem durch sie etwas gesehen wird. Diesen Prozess bezeichnet Ihde als »symbiosis of artifact and user within a human action«13. Eine ähnlich sym- biotische Verbindung geht Ihde zufolge eine Fahrerin mit dem von ihr gesteuerten Fahrzeug ein, was eine Erweiterung ihres Verkörpertseins (embodiedness) bedeu- tet. Von Merleau-Ponty übernimmt Ihde die Beobachtung, dass die Erfahrung und Wahrnehmung der Welt durch die Körperlichkeit und Materialität eines Artefakts wie z.B. einer Hutfeder oder eines Blindenstocks, erweitert werden kann.14 In diesen Fällen wird die symbiotische Verbindung mit dem Körper des Verwenders besonders deutlich: der Blindenstock etwa wird zum integralen Bestandteil der Körpererfahrung, er wird in das Körperschema und das implizite Wissen um dieses 6 Vgl. Beck: Umgang mit Technik, S. 248f. 7 Vgl. Ihde: Technics and Praxis, S. 11f. 8 Vgl. Ihde: Embodied Technics, S. 38-43. 9 Vgl. Ihde: Technology and the Lifeworld, S. 88. 10 Vgl. ebd., S. 97ff. 11 Vgl. ebd., S. 108ff. 12 Ebd., S. 73. 13 Ebd. 14 Vgl. ebd., S. 40. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 119 SABINE WIRTH Schema inkorporiert.15 Auch am Beispiel des Gebrauchs einer Computertastatur beschreibt Ihde, dass das Bewusstsein beim Schreiben nicht auf das Anschlagen der einzelnen Tasten fokussiert ist, sondern vielmehr auf den auf dem Bildschirm zu sehenden Text. Die Tastatur, auf der sich die Finger der geübten Maschinenschrei- berin quasi automatisch bewegen, ist Teil der nun erweiterten Körpererfahrung der Schreibenden geworden:16 »I may describe these relations as embodiment re- lations, relations in which the machine displays some kind of partial transparency in that it itself does not become objectified or thematic, but is taken into my experi- encing of what is other in the world.«17 Die Frage nach der Transparenz bzw. Intransparenz der technischen Prozesse ist eng verknüpft mit der im Rahmen dieser Ausgabe behandelten Frage nach im- plizitem bzw. inkorporiertem Wissen: d.h. ein Wissen, das sich in den Körper des Verwenders durch Habitualisierung eingeschrieben hat und im Technikgebrauch wirksam ist. Dieses Wissen bleibt in der Regel im Gebrauch implizit. Nur im Fall der Störung, des Nichtfunktionierens – wenn etwas aufhört, Zeug zu sein und zum bloßen Ding wird –, fällt die vorherige Zuhandenheit des Werkzeugs auf und es zeigt sich in seiner dinglichen Vorhandenheit. In diesem Sinne ließe sich auch die zu Beginn geschilderte Diskussion um die Scrolleinstellung des Apple-Trackpads lesen: Für einige Nutzer_innen führt die Standardeinstellung zu Irritationen und folglich zu Dysfunktionalität, da sie sich entweder aufgrund des Umgangs mit vorherigen Betriebssystemen oder anderen Geräten bereits an eine andere Regelung und Funktionalität gewöhnt haben oder es ihnen schlichtweg nicht intuitiv erscheint. Heidegger folgend interessiert sich Ihde insbesondere für das Zuhandensein, das Zurücktreten des technischen Artefakts im Gebrauch: Dieses Grundprinzip des Entzugs des Mediums im Gebrauch ist auch in der Medientheorie vielfach refe- renziert und z.B. in Ansätzen einer negativen Medientheorie herausgestellt wor- den.18 Die beispielhaft genannten embodiment relations können, so Ihde, auch schon anhand simpler Werkzeugverwendungen wie dem Schreiben mit Kreide auf einer Tafel beobachtet werden: Durch die Kreide erfahre ich die Tafel auf eine bestimm- te Weise, indem spezifische Eigenschaften ihrer Materialität im Schreiben mit der Kreide hervorgehoben werden, d.h. ich erfahre die Tafel durch die Kreide anders als ich sie z.B. durch meine bloße Hand erfahren würde.19 So folgert Ihde: »the em- bodiment relation is one in which I do experience otherness through the machine, but […] the experience through the machine transforms or stands in contrast to my ordinary experience in the ›flesh‹.«20 15 Vgl. Brey: »Technology and Embodiment in Ihde and Merleau-Ponty«, S. 51f. 16 Vgl. Ihde: Embodied Technics, S. 39. 17 Ebd., S. 8; für weitere Beispiele wie z.B. das Fahrrad, mit dem die Fahrerin eine embodi- ment relation eingeht und somit die Straße und das Umfeld anders wahrnimmt und erkun- det als zu Fuß vgl. ebd., S. 43. 18 Vgl. Mersch: Medientheorien zur Einführung, S. 219-228 sowie ders.: Posthermeneutik, S. 148-169. 19 Ihde: Technics and Praxis, S. 7ff. 20 Ebd., S.9. NAVIGATIONEN 120 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN »THE ›UNNATURAL‹ SCROLLING SETTING« 3. GRENZEN DES KONZEPTS Die körperliche Extension durch Technik ist für Ihde demnach nicht nur Erfahrung von etwas durch etwas, sondern zugleich eine Form der Reduktion im Vergleich zur Dichte der ›direkten‹ körperlichen Erfahrung. Was anhand des Vergleichs von Telefongespräch und Face-to-Unterhaltung noch recht einleuchtend erscheint, wird jedoch durch Beispiele komplexerer wissenschaftlicher Instrumente wie dem Gebrauch eines Teleskops oder auch den von Ihde »media instruments«21 genann- ten medialen Erfahrungsangeboten in Radio, Fernsehen oder Kino zunehmend problematischer. Denn wenn diese Medien etwas zugänglich und erfahrbar ma- chen, was ohne sie schlicht nicht erfahrbar wäre, wie lässt sich dann überhaupt ein Unterschied zwischen der technisierten Erfahrung und »the naked perceptions of earthbound man«22 ausmachen? Im Grunde übernimmt Ihde hier von Heidegger ein Verständnis von Technik, welches die zunehmende Komplexität von technischen Geräten als Verlust eines ehemals unmittelbaren Zugriffs deutet, über welchen das Handwerk noch verfügte. So ist Heideggers Vorwurf an die Schreibmaschine beispielsweise darin begründet, dass diese Maschine »die Schrift dem Wesensbereich der Hand [entreiße]«,23 indem sie sich zwischen die Hand der Schreiberin und die Buchstaben auf dem Papier schiebt. Und dabei ist die Schreibmaschine, so Heidegger, »noch nicht einmal eine Maschine im strengen Sinne der Maschinentechnik [...], sondern ein ›Zwischending‹ zwischen einem Werkzeug und der Maschine, ein Mechanismus.«24 Dieses ›Zwi- schending‹, das die Schrift zu etwas Getipptem macht und den Zug der Hand ver- missen lässt, markiert laut Heidegger einen befremdlichen Abstand. Die Maschine entfernt den Schreiber von der Tätigkeit des Schreibens und damit – so Heideggers Ausführungen sehr verknappt wiedergegeben – entfernt sie den Menschen von seiner Wesensauszeichnung. Denn die Handschrift befindet sich für Heidegger wie anderes ›Hand-Werk‹ näher an der Wesensauszeichnung des Menschen, der durch die Hand handelt.25 Dagegen ließe sich einwenden, dass auch das Schreiben per Hand nicht in einem Vorraum der Technik geschieht, auch dort gibt es Instrumentalität, ist das Technische am Werk. Derrida weist z.B. darauf hin, dass das Schreiben mit der Maschine auch ›manuell‹ und das Schreiben per Hand auch ›technisch‹ ist.26 Weder der Buchdruck noch die Schreibmaschine, noch der Computer verzichten auf die Hand, sondern bringen Derrida zufolge eine andere Form der manuellen Steuerung ins Spiel. Der Medienwechsel ist also keine Geschichte von der »Unterbrechung ei- 21 Ebd., S. 11. 22 Ebd., S. 10. 23 Heidegger: Parmenides, S. 119; vgl. hierzu auch Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 290ff. 24 Heidegger: Parmenides, S. 127. 25 Vgl. ebd., S. 118. 26 Derrida: Maschinen Papier, S. 141f. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 121 SABINE WIRTH ner manuellen Geste oder vom Ereignis einer abgeschnittenen Hand«,27 sondern es geht eher um »eine andere Geschichte der Hand«28: um eine neu perspektivierte Geschichte der Manipulation, die ein anderes Verhältnis zum Technischen vorstellt, die Hand und Auge über User Interfaces, Eingabe- und Ausgabevorrichtungen er- neut zueinander positioniert. Einer Regressionsgeschichte der Hand folgend ließen sich User Interfaces und ihre jeweiligen Programme und Anwendungen lediglich als Remediationen älterer Medien beschreiben. Alexander Galloway hat jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass das Remediationsmodell in die Irre führen kann, da di- gitale Computer besser als Markierung eines Medienumbruchs zu verstehen seien: Sie funktionieren nach einer völlig anderen Logik und remediatisieren daher nicht vorgängige Medien, sondern simulieren lediglich deren (physische) Effekte.29 Abgesehen von dieser Regressionsgeschichte, die sich nur schwer für die Be- schreibung von User Interfaces nutzbar machen lässt, ist an Ihdes Weiterführung der phänomenologischen Technikphilosphie vor allem der Fokus auf eine Gruppe von technischen Objekten interessant, die im Alltag nicht als ebensolche wahrge- nommen werden, sondern vielmehr unmerklich in alltägliches Tun eingebunden sind. Doch es ist auffällig, dass Ihde sich zur Ausdifferenzierung des Konzepts der embodiment relations nicht primär auf einfache Werkzeuge wie Heideggers obliga- torischen Hammer bezieht, sondern Merleau-Ponty folgend vielmehr eine Grup- pe spezifischer technischer Objekte wie Sehhilfen, Gehhilfen, Hörgeräte oder den Blindenstock in den Blick nimmt – Artefakte also, die explizit dazu eingesetzt wer- den, um mit ihrer Hilfe die Umwelt wahrzunehmen. Philip Brey zufolge lässt sich an Ihdes Konzeptualisierung der embodiment relations genau dieser Aspekt kritisieren: Ihde deutet die möglichen Mensch-Technik-Relationen zu sehr auf ihre Wahrneh- mungsfunktion hin aus und vernachlässigt dabei die Frage, wie sich diese Relationen überhaupt erst konstituieren.30 Wie Brey ergänzt, lassen sich nicht alle technischen Geräte als Mittel der Wahrnehmung begreifen31 – vielmehr gibt es embodiment re- lations mit technischen Geräten oder Werkzeugen, die einen bestimmten Habitus oder schlicht motorische Fähigkeiten ausdrücken.32 4. MOVE THE MATERIAL/MOVE THE WINDOW Wie Donald Norman in seinem Artikel gesture Wars von 2011 zusammenfasst, gab es in der frühen Phase der Display- und Computerentwicklung regelrechte Dispute um das ›korrekte‹ »user model for scrolling«. Das grundlegende Problem der User Interface Designer im Hinblick auf das Scrollen beschreibt Norman folgenderma- ßen: 27 Ebd., S. 143. 28 Ebd. 29 Vgl. Galloway: The Interface Effect, S. 20f. 30 Vgl. Brey: »Technology and Embodiment in Ihde and Merleau-Ponty«, S. 46f. 31 Vgl. ebd., S. 47f. 32 Vgl. ebd., S. 51f. und S. 55. NAVIGATIONEN 122 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN »THE ›UNNATURAL‹ SCROLLING SETTING« Consider the simple paradigmatic case of material on a screen where not all can fit within the available space. The bottom of the visible win- dow is not the end of the material. Imagine that the material is actually located on a long vertical roll with the only part visible being that which is visible through the window. To see material not visible, there are two choices: move the material or move the window. If the material is being moved, then scrolling up moves the material up. But if it is the window that is moved, then scrolling down makes the text appear to move up. Both models are correct in the sense that both make logical sense. The ›correct‹ answer is that the method of scrolling should match the user‘s conceptual model of the activity (usually called the user‘s mental mo- del). Whichever method is adopted then requires that all people learn to see the world through that particular conceptual model.33 Interessant ist, dass eine ähnliche Debatte auch schon zu Flugzeugen und ihrer Darstellung auf dem Display im Cockpit geführt wurde. Letztendlich wurden beide Modelle, die Perspektive des Piloten im Flugzeug (›inward-out‹) und die Perspek- tive eines Außenstehenden (›outward-in‹) übernommen, was Norman zufolge für Irritationen gesorgt hat, wenn etwa ein Pilot von einem auf das andere System um- steigen musste. Das Problem der konkurrierenden und ko-existierenden Modelle löste sich dann quasi von selbst als ›head-up displays‹ (HUDs) eingeführt wurden, bei denen die Anzeige auf die Windschutzscheibe des Cockpits projiziert wird und die Piloten also gleichzeitig durch das Fenster nach draußen und auf die Displaya- nzeige schauen, weshalb nachvollziehbarer Weise nur noch die ›inward-out‹ Per- spektive gezeigt werden konnte. Für Betriebssysteme setzte sich der Scrollbalken (scroll bar) als Navigations- prinzip durch. In allen gängigen Betriebssystemen wurde das ›move-the-window‹- Prinzip zum Standard, d.h. bewegt man den Scrollbalken mit dem Mauszeiger nach unten, so ›zieht‹ es den Inhalt des Fensters nach oben, als würde man mit den Fingern oder dem Mauszeiger ein Sichtfenster manövrieren, das durch das Ver- schieben (nach oben oder unten) den Blick auf einen unendlich langen beschrifteten Papierstreifen freigibt. In Textverarbeitungsprogrammen wie Microsoft Word bei- spielsweise bleibt der Mauspfeil beim Scrollen standardmäßig an einer Bildschirm- position stehen, während die einzelnen Seiten mit dem Text bewegt werden. Eine Ausnahme zu dieser Regel stellten laut Norman Grafikprogramme dar, die es den Nutzer_innen ermöglichten, Inhalte/Objekte mit dem Mauszeiger zu ›greifen‹ und zu bewegen. Der Mauscursor wird hier also nach oben geschoben und mit ihm das Bildschirmobjekt. Mit der Verbreitung von Multi-Touch-Screens bei Smartphones und Tablets tritt das Prinzip des Scrollbalkens zugunsten der Möglichkeit in den Hintergrund, die Bildschirmobjekte mit dem Finger auf dem Screen zu berühren und nach dem ›move-the-material‹-Prinzip zu verschieben. Es bewegt sich also das einzelne Objekt und nicht das Fenster. Da die Objekte auf dem Bildschirm auf den 33 Norman: »Gesture Wars«. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 123 SABINE WIRTH Multi-Touch-Screens ›direkt‹ berührt werden können, liegt es nahe, das Prinzip der Beweglichkeit des Objekts für das Interaktionsmodell zu übernehmen, zumal bei Geräten wie Smartphones mit sehr kleiner Bildschirmfläche meist keine Fenster verwendet werden und eine App oft die gesamte Bildschirmfläche einnimmt.34 So- weit, so intuitiv. Ein Irritationsmoment tritt nur dann auf, wenn Alltagsnutzer_innen die Logik der Beweglichkeit des Fensters (via Scrollbalken) mit der Logik der Beweglichkeit des Materials verwechseln oder aufgrund der schon bestehenden Habitualisierung bestimmter Funktionalitäten und Interface-Interaktionen anders erwarten. Norman führt als Beispiel für einen solchen Irritationsmoment Apples Änderung der Standardeinstellungen mit der Einführung des Betriebssystems Lion/ OS 10.7 an: »Apple wants everyone to move the material with a two-finder gesture, moving the two-fingers down the screen (on a touch screen) or on a trackpad.«35 Die veränderte Rolle des Scollbalkens, der nun nur noch auftaucht, wenn mit zwei Fingern gescrollt wird und ansonsten versteckt bleibt, sieht Norman als Zei- chen dafür, dass die Operationsweisen sich in Zukunft sehr flexibel ändern werden. Zwar gibt es einerseits innerhalb der Nutzerschaft lautstarken Widerstand gegen solche Änderungen eines mentalen Operationsmodells und es kommt zu Konflik- ten und Verunsicherung, wenn etwa einige Nutzer_innen sowohl mit Apple- als auch mit Microsoft-Rechnern arbeiten, wo noch am ›move-the-window‹-Prinzip festgehalten wird. Doch andererseits sei auch zu erwarten, so Norman, dass sich die mentalen Modelle schnell ändern und Nutzer_innen sehr flexibel reagieren können.36 Dies betont beispielsweise auch ein Nutzer namens leman im bereits erwähnten Forum auf Macrumors.com: »In the end, it doesn‘t really matter. I am not aware of any benefits of this or other scrolling methods. It takes less then few hours for your brain to ›flip‹ the expectations this or other way.«37 Obwohl diese Flexibilität sicherlich nicht auf alle Nutzergruppen zutrifft, bleibt zu fragen, ob es nun eigentlich einen Unterschied macht, ob wir das Material oder das Fenster beim Scrollen bewegen? Während die erstgenannte Option die Greifbarkeit des Mate- rials betont und für einen vermeintlich direkteren Zugriff stehen könnte, betont die zweite Option die Aufteilung des Interface in Fenster – wobei es schwerfällt, die feinen Unterschiede der Objektvorstellungen, die mit diesen zwei Operatio- nen verknüpft sind, herauszustellen, da diese auch individuell variieren können und nicht explizit reflektiert werden. An Debatten wie diesen lässt sich hauptsächlich ablesen, dass auch vermeint- lich kleine Entscheidungen in der Design-Logik eine starke Normierungskraft ent- falten können. Es zeigt sich, wie im Fall der Störung die starke embodiment relation von User-Interface-Gesten explizit wird. Wenn sich das Fenster oder der Inhalt in die gefühlt ›falsche‹ Richtung bewegt, dann ist das nicht nur irritierend, sondern auch dysfunktional. Die Möglichkeit, die Einstellungen flexibel und nach individuel- len Vorlieben anzupassen, wie im Beispiel der Scrollrichtung, ist jedoch nicht für alle 34 Vgl. ebd. 35 Ebd. 36 Vgl. ebd. 37 MacRumors.com: »Natural/Unnatural Scroll Direction«. NAVIGATIONEN 124 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN »THE ›UNNATURAL‹ SCROLLING SETTING« User Interface Navigationsmodi gegeben. Wie Søren Pold hervorhebt, werden die Präferenzlisten und Einstellungsoptionen zum Schlüsselloch zur »backstage area« des User Interface: »The preferences palette gives a glimpse of the staging of the software interface. In order to make some defaults changeable, the software has to make them explicit.«38 5. USER INTERFACES ALS INTERAKTIONSUMGEBUNGEN Der Versuch, Anschlussmöglichkeiten an die phänomenologische Technikphiloso- phie aufzuzeigen, soll keinesfalls eine Rückkehr zu einem Verständnis des Compu- ters als Werkzeug markieren. Das Hauptargument für den Anschluss der Interface Studies an die (post-)phänomenologische Techniktheorie findet sich in ihrem Fokus auf den Gebrauch, das Machen und Tun, das Handhaben. Die Besonderheit von Computerinterfaces liegt in der Komplexität der Oberfläche: Steuerung funktio- niert hier nicht mehr über mechanische Kopplung, sondern über das Ausführen von Programmen. Populäre User Interfaces, so könnte man mit Vilém Flusser ar- gumentieren, eröffnen eine neue Stufe in der Kulturgeschichte des Handhabens. Eine Handhabung, die nicht in der Analogie zum Gebrauch eines Werkzeugs auf- geht, sondern eine darüberhinausgehende Auseinandersetzung fordert. Und selbst wenn man nicht gleich wie Flusser die These formulieren möchte, dass das Medium Computer die Welt- und Selbstverhältnisse des Menschen fundamental verändert hat, so bietet doch die Frage nach den »Mitteln, die es erlauben, etwas handhaben zu können, etwas hin und her zu wenden«39, mit Blick auf kommerziell vertriebe- ne User Interfaces, die Generationen von Nutzer_innen einen abgesteckten Raum möglicher Aktionen bieten, genügend Ansatzpunkte. Generell stellen (User) Interfaces eine Reihe von Herausforderungen an ein Konzept wie das der embodiment relations und zeigen damit auch Grenzen einer (post-)phänomenologischen Betrachtungsweise auf. Wie Ihde bereits bemerkt, kommen im Umgang mit Computern häufig alterity relations zum Tragen, wenn beispielsweise im Fall des Nicht-Funktionierens oder der nicht durchschaubaren Eigenheit von Programmen (Ihde wählt hier Textverarbeitungsprogramme als Bei- spiel) die ›andere Seite‹ der Funktionsweise des Computers zum Vorschein kommt und eine Erfahrung der Fremdheit und des Unverständnisses auslöst.40 Diese Al- teritätserfahrung lässt sich vielleicht damit erklären, dass nicht nur Nutzer_innen über implizites Wissen (tacit knowledge) verfügen, sondern auch Computer. Hier kommt ins Spiel, was Hookway als »deamon« des Interface bezeichnet: Der Begriff referiert auf den berühmten Maxwellschen Dämon, der in einem thermodynami- schen Gedankenexperiment unterschiedlich schnelle Moleküle durch eine Öffnung zwischen zwei getrennten Kammern nach und nach hindurchlässt und so dafür sorgt, dass schließlich zwei Bereiche mit unterschiedlichen Temperaturen entste- 38 Pold: »Preferences / settings / options / control panels«, S. 222. 39 Karpenstein-Eßbach: »Vilém Flusser (1920-1991)«, S. 196. 40 Vgl. Ihde: Technology and the Lifeworld, S. 106. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 125 SABINE WIRTH hen, was dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik jedoch widerspricht und deshalb zahlreiche Erklärungsversuche provoziert hat.41 Dieser Begriff, der sich in der Thermodynamik auf einen Entropiezustand bezieht, wurde im Bereich der Computerprogrammierung mit expliziten Bezug auf Maxwell eingeführt, um ein Hintergrundprogramm oder eine Subroutine eines Programms zu beschreiben.42 Der Interface-Dämon bezeichnet demnach ein Programm im Hintergrund, das ak- tiv wird und Instandhaltungsaufgaben übernimmt, sobald dies z.B. durch einen Feh- ler eines anderen Programms notwendig wird. Somit stellt sich die Frage nach der Transparenz hier gleich auf mehreren Ebenen. Ihdes Konzept ließe sich produktiver machen, wenn man es weniger auf er- weiterte Körper- und Wahrnehmungserfahrung als vielmehr auf eine erweiterte Operativität, d.h. einen bestimmten Handlungsspielraum, hin perspektiviert.43 Denn durch das Scrollen auf dem Trackpad erfahre ich Inhalte anders, verfüge an- ders über sie als durch die Maus oder durch Tastaturbefehle. Agency ist im Fall von computerbasierten Interaktionen nicht nur abhängig von der Routine der Nutzerin im Umgang mit dem technischen Artefakt, so wie das Radfahren zunächst erlernt werden muss, bevor wir von einer embodiment relation zwischen Fahrer und Fahr- rad sprechen können, in der nicht das Fahrrad in seiner Materialität und Eigenheit thematisch wird, sondern vielmehr eine Umwelt radfahrend erschlossen wird. Wie komplex die Situation für computerbasierte embodiment relations ist, verdeutlicht Branden Hookway in seinem Buch interface, welches er als theoretische Vorarbeit zu seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte des Flugzeugcockpits versteht: »The cockpit is at once a space of inhabitation, an ergonomics of use, an assemblage of mechanical articulations directed toward control surfaces and the materiality of the air flow, and a threshold between human and machine whose mediation is ex- pressed in a trajectory of flight.« Im Fall des alltäglichen Gebrauchs von Touchscreens und Trackpads als Naviga- tions- und Eingabeform von User Interfaces, müsste man zudem als Konstitutions- bedingung einer embodiment relation nicht nur die gestiegene Sensibilität der Nut- zer_innen für die Interface-Gesten und die Habitualisierung als Körpertechniken beschreiben, sondern auch die gestiegene Sensibilität der Trackpads berücksichtigen. Zuhandenheit ist hier ein wechselseitiger Prozess von wachsender technischer Messbarkeit – bis hin zu komplexen Multi-Touch-Oberflächen, die sehr differen- zierte Berührungen registrieren können –, normierender Faktoren wie der Fest- setzung von Standardeinstellungen, user conceptual models im Interface Design und sich verfestigender Routinen der Nutzer_innen im Umgang mit diesen User Inter- faces. 41 Einen versierten Überblick geben Maruyama u.a.: »Colloquium«. 42 Vgl. Hookway: Interface, S. 86. 43 Zum Computer als Operationsraum im Rahmen der Kulturtechnik-Forschung vgl. Bauer/ Ernst: Diagrammatik, S. 167 sowie Krämer: »Operative Bildlichkeit«. Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Verwendung des Operativitätsbegriffs in den Medien- und Kulturwissenschaften vgl. Mersch: »Kritik der Operativität«. NAVIGATIONEN 126 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN »THE ›UNNATURAL‹ SCROLLING SETTING« Aufgrund ihrer Multifunktionalität, Vielgestaltigkeit und funktionalen Komple- xität lassen sich User Interfaces nicht einfach als Medien der Wahrnehmung ei- ner Lebenswelt beschreiben. User Interfaces schaffen vielmehr selbst Umwelten bzw. Zugänge zu Umwelten44 und Funktionszusammenhängen – und das nicht nur auf der für die Nutzerin sichtbaren Oberfläche, sondern auch auf Ebene der Pro- grammabläufe sowie der Sammlung und Auswertung großer Datenmengen. Selbst in der Werberhetorik der Hersteller ist die Rede vom environment bereits ange- kommen: Die Apple Watch erklärt Kevin Lynch beispielsweise als »Ökosystem von Anwendungen«45. Mit der steigenden Mobilität und Vernetzung verschiedener Per- sonal Computing Geräte, der Durchdringung des privaten und öffentlichen Raums mit digitaler Technologie und der zunehmenden Digitalisierung von Alltagsdingen mithilfe von Chips, Tags oder Sensoren, ist seit der Jahrtausendwende eine Ent- wicklung des Computers vom Einzelgerät hin zu einer computerisierten, ›senso- risierten‹ Umwelt zu beobachten, in der Handlungsmacht nicht mehr so leicht zu lokalisieren ist.46 Doch selbst im Zeitalter des ubiquitous computing verschwinden User Interfaces nicht gänzlich, auch wenn sich die Frage stellt, inwiefern die wearab- les und smart environments den Nutzer_innen noch stärker ›auf den Leib rücken‹.47 Wie Mark Hansen betont, ist es wichtig, nach dem »Wesen der Teilhabe des Kör- pers an den heutigen atmosphärischen Medienumgebungen«48 zu fragen. Die Perspektivierung auf embodiment relations liefert daher – trotz der ihr inne- wohnenden Problematik – produktive Anschlüsse für eine Auseinandersetzung mit User Interfaces als Schnittstellen des alltäglichen Gebrauchs von Computertechno- logie: Das Konzept ermöglicht es, den Aspekt der Körperlichkeit von Interface-An- wendungen hervorzuheben, der insbesondere bei Alltagsanwendungen (wie dem Lesen von Emails, dem Surfen im Netz, dem Herumscrollen auf dem Smartphone, etc.) oft in den Hintergrund gerät. Nicht nur körpernah getragene wearables oder Computerspiele und VR-Anwendungen, die etwa mittels Avatar und entsprechen- den Eingabegeräte eine besonders auffällige embodiment relation erzeugen, lassen sich auf diese Weise befragen. Auch – und vielleicht gerade – die reduziert schei- nende Körperlichkeit, die sich in der alltäglichen Nutzung von Smartphones, Ta- blets, Laptops oder PCs zeigt, sollte analytisch nicht vernachlässigt werden, da es sich um ubiquitäre Mediengesten handelt, die als Kulturtechniken Alltag gestalten. 44 Zum Begriff des environments im Kontext der Beschreibung unserer ›technologischen Be- dingung‹ und zum Übergang des Computers vom Einzelgerät zur Umwelt vgl. Hörl: »Die technologische Bedingung«, S. 26. Ein weiterer Begriff, der die Umweltlichkeit von Com- putertechnologie hervorhebt, ist der Begriff der (Medien-)Ökologie. Wie Matthew Fuller erklärt, soll der Begriff der »ecology« die Materialität der elektronischen Medien und die Kontextualisierung aller Medienoperationen in einem dynamischen Netzwerk herausstel- len, vgl. Fuller: Media Ecologies, S. 2. 45 Vgl. hierzu Distelmeyer: Machtzeichen, S. 75. 46 Für einen fundierten Überblick zu den Debatten und Entwicklungen des ›Internets der Dinge‹ vgl. Sprenger/Engemann: »Im Netz der Dinge«. 47 Vgl. Andreas u.a.: »Technik|Intimität«. 48 Hansen: »Medien des 21. Jahrhunderts, technisches Empfinden und unsere originäre Um- weltbedingung«, S. 391. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 127 SABINE WIRTH LITERATURVERZEICHNIS Adloff, Frank u.a.: »Locations, Translations, and Presentifications of Tacit Knowledge. An Introduction«, in: dies. (Hrsg.): Revealing Tacit Knowledge: Embodiment and Explication, Bielefeld 2015, S. 7-17. Andreas, Michael u.a.: »Technik|Intimität. Einleitung in den Schwerpunkt«, in: Zeit- schrift für Medienwissenschaft, Jg. 15, H. 2, 2016, S. 10-17. Bauer, Matthias/Ernst, Christoph: Diagrammatik: Einführung in ein kultur- und me- dienwissenschaftliches Forschungsfeld, Bielefeld 2010. Beck, Stefan: Umgang mit Technik. 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Winograd, Terry/Flores, Fernando: Understanding Computers and Cognition: A New Foundation for Design, Reading, MA 51990. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 129 DER MARKT, DAS IMPLIZITE WISSEN UND DIE DIGITALEN MEDIEN V O N J E N S S C H R Ö T E R Es wird schon seit längerer Zeit etwa darüber diskutiert, ob die programmierba- ren (und darüber hinaus durch ›interaktive‹ Anpassung an lokale Situationen und Praktiken ›smarten‹) digitalen Medientechnologien nicht in Konflikt mit der kapitali- stischen Form der Gesellschaft geraten könnten. So steht in Frage, ob die digitalen Produkte überhaupt noch Warenform annehmen können1 – und die krisenhaften Erscheinungen der Musikindustrie scheinen das zu bestätigen. Auch wird diskutiert, ob die technologischen ›Revolutionen‹ der Robotik, der KI, des Internets der Dinge etc. nicht in einer ›Industrie 4.0‹ münden, in der (historisch erstmals) so viel Arbeit obsolet gemacht wird, dass eine Aufrechterhaltung der Arbeitsgesellschaft unmög- lich wird.2 Es scheint, als ob man bei digitalen Technologien »an den Marx’schen Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erinnert«3 würde. Die Probleme der Passung digitaler Medien zu einer auf Warentausch, Lohn- arbeit und damit auf Geld basierenden Gesellschaft weisen darauf hin, dass hier möglicherweise ein technologischer Umbruch auftaucht, der einen gesellschaftli- chen Umbruch sicher nicht deterministisch nach sich zieht, aber doch vielleicht erstens notwendig macht. Es könnte eben sein, dass digitale Medien und kapitalisti- sche Form einfach nicht zusammenpassen.4 Allerdings sagt das noch nicht zwingend etwas darüber aus, ob digitale Medien einen solchen Umbruch auch selber zweitens möglich machen. Die Frage ist: Können digitale Medien genutzt werden, um alter- native – sagen wir – Strukturen oder Mechanismen aufzubauen, die jene Koordina- tionsleistungen, die gegenwärtig Geld und Markt erbringen, ersetzen – was nicht heißen kann, sie einfach genauso zu verdoppeln, denn das wäre ja sinnlos. Daher sind im Übrigen manche gelegentlich zur Alternative aufgebauschten Phänomene wie Bitcoins und andere cryptocurrencies eben keine Alternativen, schlicht, weil Bit- coins immer noch ganz normales Geld sind, selbst wenn sie z.B. Zentralbanken überflüssig machten.5 Der Einwand, dass man einfach keinen Ersatz für die Koordi- 1 Vgl. Lohoff: »Der Wert des Wissens«; Meretz: »Der Kampf um die Warenform«. 2 Das ist jedenfalls ein Standardargument z.B. der wertkritischen Diskussion, siehe z.B. Lo- hoff/Trenkle: Die große Entwertung, S. 79-90. Siehe auch den Literaturbericht bei Schrö- ter: »Digitale (Medien-)Technologien und das Verschwinden der Arbeit«. 3 Winkler: Diskursökonomie, S. 29. 4 Dieser Konflikt zwischen digitalen Technologien und der kapitalistischen Form der Ge- sellschaft wirft letztlich verwirrende technik- und medienhistorische Fragen auf: Wieso können Technologien, die im Kapitalismus entstanden sind, am Ende mit ihm in Konflikt geraten? Weist das nicht auf eine Grenze aller sozialen Konstruktion von Technologie hin? Schwierige Fragen, die hier nicht weiterverfolgt werden können. 5 Vgl. Golumbia: »Bitcoin as Politics«; Ortlieb: »Bitte ein Bitcoin«. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 131 JENS SCHRÖTER nationsmechanismen bräuchte, weil alle Koordination in direkter Kommunikation stattfinden könne, ist keine realistische Antwort (s.u.). Um uns der Frage nach der Nutzung digitaler Medien als Substitut für markt- und geldgesteuerte Koordinations- leistungen anzunähern, sei an dieser Stelle Friedrich August von Hayek diskutiert, denn Hayek hat die Koordinationsleistung des Marktes in Begriffen des Wissens und vor allem des impliziten Wissens beschrieben. Im Folgenden soll seine Position dahingehend rekonstruiert und diskutiert werden, ob die von ihm beschriebene Operationalisierung des impliziten Wissens durch den Markt eventuell durch digi- tale Technologien substituiert und so eine post-monetäre Ökonomie denkbar wird. Nun also zu Hayeks Position: Die besondere Leistung des Marktes sei es, eine Art Medium zu sein, welches das disperse Wissen der Gesellschaftsmitglieder ak- tualisieren und koordinieren kann: »Auf welchen verschiedentlichen Wegen das Wissen, auf das die Menschen ihre Pläne gründen, zu ihnen gelangt, ist das ent- scheidende Problem für jede Theorie, die den Wirtschaftsprozeß erklären soll.«6 Doch niemand hat dieses Wissen in Gänze vorliegen, es ist verteilt. Und zudem ist es situiert, wie Hayek immerzu betont bzw. genauer: Er differenziert zwischen verschiedenen Formen des Wissens – grob kann man zwischen globalem, univer- sellem Wissen (dem naturwissenschaftlichen Wissen) und dem lokalen, situierten Wissen, das für die Durchführung ökonomischer Operationen erforderlich ist, un- terscheiden (auf den impliziten Charakter des Wissens bei Hayek gehe ich weiter unten ein).7 Hayek kritisiert insbesondere, dass das Modell des wissenschaftlichen Wissens auf ökonomische Prozesse projiziert worden ist und so die fälschliche Vor- stellung entstand, man könnte dieses Wissen gleichsam transparent an einem Ort zusammenziehen. Das ist Hayeks zentrales Argument gegen jede Form zentraler Wirtschaftsplanung. Er betont: Wenn wir darüber einig sind, daß das wirtschaftliche Problem der Ge- sellschaft hauptsächlich ein Problem der raschen Anpassung an die Ver- änderungen in den besonderen Umständen von Zeit und Ort ist, so scheint daraus zu folgen, daß die Entscheidungen schließlich den Leuten überlassen werden müssen, die mit diesen Umständen vertraut sind, die unmittelbar von den relevanten Veränderungen und von den sofort verfügbaren Mitteln wissen, die die Anpassung erfordert. Wir können nicht erwarten, daß diese Probleme dadurch gelöst werden können, daß zuerst all diese Kenntnis einer zentralen Behörde mitgeteilt wird, die, nachdem sie alles Wissen zusammengefaßt hat, ihre Anordnungen trifft. 6 Hayek: »Die Verwertung des Wissens in der Gesellschaft«, S. 58. Es gibt eine breite Literatur zur historischen Entwicklung von Hayeks Position im Rahmen der so genannten ›sozialisti- schen Kalkulationsdebatte‹, siehe dazu exemplarisch Vaughn: »Economic Calculation under Socialism«; Caldwell: »Hayek and Socialism« und Mirowski: Machine Dreams, S. 233-241. 7 Wegen der Betonung partieller und lokaler Wissensformen spricht Burczak (Socialism after Hayek, S. 17-37) auch von Hayeks ›postmoderner Ökonomik‹. Zur Definition impli- ziten Wissens vgl. Collins (»Drei Arten impliziten Wissens«), der interessanterweise auch feststellt, dass der »Unterschied zwischen implizitem und explizitem Wissen eine enorme ökonomische Bedeutung hat« (ebd., S. 92). NAVIGATIONEN 132 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN DER MARKT, DAS IMPLIZITE WISSEN UND DIE DIGITALEN MEDIEN Sie müssen durch irgend eine [sic] Form der Dezentralisation gelöst werden. Aber das beantwortet nur einen Teil unseres Problems. Wir brauchen Dezentralisation, weil wir nur so erreichen können, daß die Kenntnis der besonderen Umstände von Zeit und Ort sofort ausge- nützt wird. Aber der ›Mann vor Ort‹ kann nicht allein auf der Grundlage seiner beschränkten aber detaillierten Kenntnis der Tatsachen seiner unmittelbaren Umgebung entscheiden. Es bleibt noch das Problem, ihm jene weitere Information zu vermitteln, die er braucht, um seine Entscheidungen an die Veränderungsmuster der Gesamtwirtschaft an- zupassen.8 Diese ›Vermittlung von Information‹ – die offenkundig ein medialer Prozess ist, man denke nur daran, dass z.B. Friedrich Kittler9 Medien als Technologien der Speiche- rung, Prozessierung und Übertragung von Information definiert hatte –, geschieht nach Hayek eben über das Preissystem: »Wir müssen das Preissystem als einen solchen Mechanismus zur Vermittlung von Informationen ansehen.«10 Die Preise, ausgedrückt im Medium Geld, das gegen die Waren getauscht wird, signalisieren Produktionsnotwendigkeiten, Knappheit etc.11 Man kann aus medientheoretischer Sicht schon hier kritisch anmerken, dass Hayek den ›Preismechanismus‹ als transparentes Medium des verteilten und situ- ierten Wissens begreift, ohne eine Eigendynamik des Mediums anzunehmen.12 Die Idee, dass das Medium zum eigentlichen Zentrum der ganzen Veranstaltung wer- den könnte, scheint Hayek fremd zu sein. Für Hayek ist Geld tatsächlich und im Wortsinne ein, wie Marx sehr kritisch über ›die Ökonomen‹ anmerkt, »pfiffig aus- gedachtes Auskunftsmittel«13. Marxianische, z.B. wertkritische, Ansätze hingegen 8 Hayek: »Die Verwertung des Wissens in der Gesellschaft«, S. 63 (Hervorhebung J.S.). 9 Vgl. Kittler: »Vorwort«, S. 8. 10 Hayek: »Die Verwertung des Wissens in der Gesellschaft«, S. 65. Vgl. auch Lavoie: »Com- putation, Incentives, and Discovery«, S. 74: »[T]he price system is a crucial knowledge medium.« 11 Vgl. ebd., S. 73: »Economists largely agree that the price system is a vital source of infor- mation for decision making. Scarce resources, by which economists mean anything that is not so abundant as to be a free good, need to be allocated in regard to their relative scarcity, and this is at least approximately gauged quantitatively in money prices.« 12 Man müsste hierzu ausführlicher Hayeks Konzeption des Preissignals mit der These der Neutralität des Geldes, wie sie in eher neoklassischen Traditionen (welche von Hayek zunehmend kritisiert wurden) vorherrscht, in Verbindung bringen. Zur Kritik Hayeks aus Sicht der Informationstheorie vgl. Smith: »Hayek meets Information Theory«. 13 Vgl. Marx (»Zur Kritik der Politischen Ökonomie«, S. 36): »In andern Worten, unter dem Vorwand, den einfachen Tauschhandel zu betrachten, veranschaulichen sich die Ökono- men gewisse Seiten des Widerspruchs, den das Dasein der Ware als unmittelbare Einheit von Gebrauchswert und Tauschwert einhüllt. Andrerseits halten sie dann konsequent am Tauschhandel als adäquater Form des Austauschprozesses der Waren fest, der nur mit gewissen technischen Unbequemlichkeiten verknüpft sei, wofür Geld ein pfiffig ausge- dachtes Auskunftsmittel. Von diesem ganz flachen Standpunkt aus hat ein geistreicher englischer Ökonom daher richtig behauptet, Geld sei ein bloß materielles Instrument, wie ein Schiff oder eine Dampfmaschine, aber nicht die Darstellung eines gesellschaftlichen NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 133 JENS SCHRÖTER insistieren in Anschluss an Marx’ enigmatische Formulierung vom Kapital als ›auto- matischem Subjekt‹14 auf der Eigendynamik des im Geld verkörperten Werts – und darauf, dass es eben die selbstzweckhafte Akkumulationsbewegung dieses abstrak- ten Mediums ist, die zu den externen (ökologischen), wie internen (ökonomischen) Krisen des Kapitalismus mit letztlich katastrophalen Folgen führt.15 Jedenfalls sind manche ökonomische offenbar auch medientheoretische Fragen – und man kann und muss darüber streiten, ob die Medien transparente Kanäle sind oder eine Ei- gendynamik besitzen. Dass es bei Hayek ganz zentral um mediale Fragen geht, wurde insbesonde- re auch während und nach der so genannten ›sozialistischen Kalkulationsdebat- te‹ zwischen Mises, Hayek und ihren Kritikern deutlich. So bemerkte z.B. Oskar Lange später: »The market process with its cumbersome tatonnements appears old-fashioned. Indeed, it may be considered as a computing device of the pre-elec- tronic age.«16 Wenn also der Markt und sein Preissystem eine Art digitales Medium sind (insofern Preise digital sind – sie kennen kein Kontinuum, sondern nur diskre- te Abstufungen), was bedeutet dann eigentlich das Auftauchen digitaler Medien im engeren Sinne?17 Könnte das Preissystem durch diese digitalen Medien nicht nur gestört, wie bislang diskutiert, sondern womöglich im positiven Sinne ersetzt werden? Lange scheint das ja zu suggerieren: Wie später Peters18 oder Cockshott/ Cottrell19 scheint er anzunehmen, dass mit den modernen Computern nun doch eine Art zentraler Wirtschaftsplanung möglich sei (dabei behalten etwa Cockshott/ Cottrell geldähnliche, aber nicht akkumulierbare Arbeitszeitbescheinigungen bei). Lavoie nennt das computopia: »[A]n image of an economy being centrally planned by a massive computer. [...] Do the undeniably rapid advances in computer science suggest that even if this computopia is farfetched now, it might become a realistic Produktionsverhältnisses und folglich keine ökonomische Kategorie.« 14 Marx’ Formulierung findet sich in »Das Kapital I«, S. 169. Vgl. dazu Kurz: »Subjektlose Herrschaft«. 15 Vgl. Lohoff/Trenkle: Die große Entwertung. 16 Lange: »The Computer and The Market«, S. 402. Vgl. auch ebd.: »In other words, the market may be considered as a computer sui generis which serves to solve a system of simultaneous equations. It operates like an analogue machine: a servo-mechanism based on the feedback principle. The market may be considered as one of the oldest historical devices for solving simultaneous equations.« 17 Diese Digitalisierung des situierten und verteilten Wissens durch die geldförmigen Prei- se ähnelt auch Luhmanns Beschreibung der Explikation von Wissen, vgl. Ernst: »Präsenz als Form einer Differenz«, S. 61f. Schließlich bleibt als Problem benannt, dass der argu- mentative Übergang von dem digitalen, aber nicht binären Medium Geld (das zudem möglicherweise besser als ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium als ein technisches Medium verstanden ist, siehe kritisch dazu Ganßmann: »Money«) zu den bi- när-digitalen technischen Medien ein Sprung sein mag – vorläufig gerechtfertigt dadurch, dass die Preissignale als diskrete und quantitative Größen computable sind. Zur Rolle der Messung im Prozess der Verfertigung der digitalen Werte bzw. Preise (was nicht das glei- che ist) nach Marx, vgl. Schlaudt: »Marx als Messtheoretiker«. Zur Rolle des Kalkulierens vgl. auch Bryer: »The History of Accounting and the Transition to Capitalism in England«. 18 Peters: Computer-Sozialismus. 19 Cockshott/Cottrell: Towards A New Socialism. NAVIGATIONEN 134 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN DER MARKT, DAS IMPLIZITE WISSEN UND DIE DIGITALEN MEDIEN alternative in the future?«20 Doch die ganze Debatte dreht sich immer um die Frage Markt versus zentrale Planung, was die paradigmatische Rolle zentraler Mainframes unterstreicht. Doch schon bei Hayek hieß es interessanterweise: Der Streitpunkt ist nicht, ob geplant werden soll oder nicht; sondern ob die Planung zentral von einer Behörde für das ganze Wirtschaftssy- stem geschehen soll, oder ob sie unter viele Individuen aufgeteilt wer- den soll. Planen in dem speziellen Sinn, in dem es in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen gebraucht wird, bedeutet notwendigerweise zentrale Planung — Leitung des ganzen Wirtschaftssystems nach einem einheitlichen Plan. Konkurrenzwirtschaft andererseits bedeutet dezen- tralisiertes Planen durch viele getrennte Personen.21 D.h. die Marktordnung ist eine Art dezentrale planung (wobei es nicht einleuchtet, warum eine dezentrale Planung unbedingt über Konkurrenz stattfinden muss, ein wichtiger Punkt, auf den zurückzukommen sein wird), und um als solche zu funk- tionieren, muss ein System von Vermittlungen etabliert werden, das den Austausch des Wissens ermöglicht. Lavoie weist daraufhin, dass man ›Markt‹ auf drei verschie- dene Weisen verstehen kann, von denen eine, Markt als Motivator von Leistung, jetzt einmal ausgeklammert sei. Er unterscheidet erstens (im eben diskutierten Sin- ne) Markt als eine Art ›Computer‹, von Markt – mit Hayek – als eine Art ›Kommu- nikationssystem‹. Dass Hayek das »Preissystem als eine Art von Maschinerie zur Registrierung von Veränderungen [...] oder als ein System von Fernvermittlung« be- zeichnet hat,22 was etwa an das Telefonnetz erinnert, unterstreicht dies. Nochmal Lavoie zum Markt als Kommunikationssystem: »There is thus a bidirectional com- municative process that produces a kind of social intelligence that depends on but goes beyond, the individual intelligences of the system’s participants.«23 D.h. hier taucht ein ganz anderes mediales Muster auf: Nicht mehr ein zentraler Rechner, ein computer als Rechenmaschine, sondern – denn der ›bidirectional communicative process‹ erinnert natürlich nicht nur ans Telefonnetz – vernetzte Computer. Späte- stens seit Lickliders und Taylors legendärem Text von 1968 the computer as a com- munication Device, in dem sie explizit die Möglichkeit diskutieren, mit vernetzten Computern ›distributed intellectual ressources‹ zu koordinieren, löst das Leitbild des Computers als Kommunikationsmedium jenes des Computers als Rechenma- schine ab. So taucht die Frage auf, ob der so wichtige ›bidirectional communicative process‹ (oder sogar der ›multidirectional‹) unbedingt durch in Geld ausgedrückte Preissignale stattfinden muss. Oder nochmal Lavoie zum Markt: »What is crucial to its cognitive function, however, is that it provides a discovery process that by its very nature cannot be centrally directed but depends on a bidirectional communi- 20 Lavoie: »Computation, Incentives, and Discovery«, S. 75. 21 Hayek: »Die Verwertung des Wissens in der Gesellschaft«, S. 59. 22 Ebd., S. 66. 23 Lavoie: »Computation, Incentives, and Discovery«, S. 78. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 135 JENS SCHRÖTER cative interplay between its participants.«24 Die unausgesetzte Abwehr zentralisier- ter zugunsten verteilter Strukturen erinnert stark an die Diskussion in den 1960er Jahren über die Vorzüge verteilter Computernetze – da diese anders als zentrali- sierte Strukturen gegenüber Militärschlägen nicht so anfällig seien. Jedenfalls klingt folgende Beschreibung des Markts durch Hayek schon sehr nach einem Netzwerk: »Das ganze funktioniert als ein Markt, nicht weil irgend eines seiner Mitglieder das ganze Feld überblickt, sondern weil der begrenzte Gesichtskreis des Einzelnen den der anderen genügend überschneidet, so daß durch viele Zwischenglieder die re- levante Information allen übermittelt wird.«25 Spätestens jetzt kann man fragen, ob nicht jenseits der Alternativen: 1 Markt (= dezentrale Planung mit Geld, bzw. Preissystem als ›System von Fern- vermittlung‹) und 2 Staatsplanung (= zentrale Planung mit zentralem Rechner; je nach Ansatz noch mit Geld, angelegentlich aber auch ohne gedacht) 3 nicht eine dritte Alternative denkbar ist: nämlich eine dezentrale Planung, in der das ›System von Fernvermittlung‹ nicht über Preissignale, sondern über andere Kommunikationsformen hergestellt wird: z.B. vernetzte computer (das ähnelt der Fragestellung bestimmter Formen marxianischer Kritik, nämlich ob die indi- rekte Vermittlung durch Tausch an Märkten durch eine direkt kommunikative Steuerung der Produktion ersetzt werden kann, ich komme darauf zurück). Lavoie schreibt zum Markt: »This knowledge, as encapsulated in prices, serves in turn to guide the decisions of individual participants.«26 Man kann fragen, ob es – wenn der Wissenstransfer doch so wichtig ist – nicht noch viel besser wäre, wenn das Wissen nicht in ›Preisen eingekapselt‹, sondern vielmehr direkter zur Verfügung stünde (es sei denn, man könnte gesondert zeigen, dass diese ›Einkapselung‹ un- verzichtbar ist, z.B. als eine Art Komplexitätsreduktion). Mit Datennetzen könnte eine dezentrale Informationssammlung, -verarbeitung und -verteilung durchgeführt werden. Dabei ist gar nicht allein an Kommunikation im Sinne von natürlich-sprach- lichem Austausch zu denken, sondern vielmehr auch die Möglichkeit durch die Mo- bilisierung des Internets in mobilen und z.B. GPS-getrackten Geräten zu beachten. Diese mobilen Medien entsprechen der von Hayek so betonten ›Kenntnis der be- sonderen Umstände von Zeit und Ort‹. Mobile Medien sind heute wesentlich situ- ierte Medien, können also im Prinzip lokales Wissen abbilden und verarbeiten und so mit anderem lokalen Wissen vernetzen. Nicht identisch mit der Frage nach der raum-zeitlichen Situiertheit des Wissens ist ein weiterer bei Hayek anzutreffender Aspekt, der hier zentral ist: Die Frage nach implizitem Wissen oder ›tacit knowledge‹.27 Die These ist dabei: »The impos- sibility of conveying tacit knowledge of market participants to a higher authority be- 24 Ebd., S. 74. 25 Hayek: »Die Verwertung des Wissens in der Gesellschaft«, S. 65. 26 Lavoie: »Computation, Incentives, and Discovery«, S. 78. 27 Vgl. Oguz: »Hayek on Tacit Knowledge«. NAVIGATIONEN 136 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN DER MARKT, DAS IMPLIZITE WISSEN UND DIE DIGITALEN MEDIEN came central to his defense of decentralization and free market.«28 Mutmaßlich be- deutet dies, dass der Markt Wissen nutzbar macht, welches die Teilnehmer*innen selbst nicht artikulieren können – also kann auch kein zentrales Planungsinstitut dieses Wissen nutzbar machen. Wie kann ein implizites Wissen ausgerechnet und/ oder allein in dem durch Geld notierten Preissystem ausgedrückt werden? Ein Bei- spiel: Man könnte sich vorstellen, dass die Kaufentscheidung für ein Gut, auf das man z.B. einfach Lust hat (ohne zu wissen, warum) und die aus dieser Entscheidung folgende veränderte Nachfrage, die im Prinzip wiederum den Preis ändert, als Si- gnal interpretiert werden kann, das einen impliziten Wunsch (bzw. eine Vielfalt von diesem) lesbar macht. Wenn implizites Wissen oder ›tacit knowledge‹ per se nicht kommunizierbar ist, dann kann es keiner direkt kommunikativen Struktur zur Verfügung stehen. Allerdings zeigt die Annahme, dass das Preissystem das implizi- te Wissen ja nun irgendwie doch verfügbar macht (»communicative process«, wie Lavoie schreibt)29, dass es nicht gänzlich inkommunikabel ist, andernfalls könnte es auch für den Marktprozess keinerlei Relevanz besitzen30 (außerdem kann implizites Wissen, zumal, wenn es, wie oft betont, körperlich verfasst ist, ja offenbar gelehrt werden, ist also irgendwie vermittelbar). Wäre es daher nicht auch denkbar, dass nicht verbalisierbares Wissen anderweitig operativ gemacht wird?31 Und sind es nicht genau die Techniken der Profilbildung und des Trackings, die heute die be- zeichnend so genannten ›sozialen Medien‹ prägen, die exakt das machen? Deleuze sprach schon vor langer Zeit hellsichtig davon, dass die Kontrollge- sellschaften den »individuellen oder numerischen Körper durch die Chiffre eines ›dividuellen‹ Kontroll-Materials ersetz[en]«.32 So wird heute intensiv daran ge- forscht, das Verhalten der Nutzer*innen als Big Data zu sammeln und darin Muster zu erkennen, die im Falle von Amazon schon dazu geführt haben, dass man sich ein 28 Ebd., S. 146. Vgl. Lavoie: »Computation, Incentives, and Discovery«, S. 75: »If the cogni- tive function of markets were only computational, then very few elements of capitalistic markets would need to be borrowed to make socialism work.«. 29 Ebd., S. 78. 30 Vgl. Mirowski (Machine Dreams, S. 240f.), der zu Hayek bemerkt, dass dieser »on the one hand [...] sound[s] so very modern – ›the price and market system is in that sense a system of communication, which passes on (in the form of prices, determined only on the competitive market) the available information that each individual needs to act, and to act rationally‹ [...] – and yet, on the other, continue to treat this ›information‹ as something ethereal, impervious to all attempts at codification, analysis, and control, and in the end, fleetingly evanescent.« Sehr genau bemerkt Mirowski also die theoretische Spannung bei Hayek zwischen dem scheinbar unverfügbaren lokalen, situierten, impliziten Wissen und dessen eben dann doch möglicher Verfügbarmachung durch Preissignale. 31 Vgl. Ernst: »Präsenz als Form einer Differenz«. Schmidt (2012) verwirft den Begriff der ›tacit knowledge‹ nach Polanyi ganz und argumentiert, dass man stattdessen die lokalen didaktischen Praktiken beobachten muss – ein Ansatz, der offenbar auch davon ausgeht, dass das implizite Wissen (wenn es denn existiert) im Prinzip explikabel und also Hayeks Einwand gegen Formen der Planung unzutreffend ist (siehe ebd., S. 216f.). Im Übrigen zeigt Schmidts Rekonstruktion der Argumentation Polanyis sehr schön, wie ähnlich sie Hayeks Argumentation ist – und dass sie im Prinzip aus denselben ideologischen Motiven gespeist ist. Hayek wird dabei kurz erwähnt (ebd., S. 172). 32 Deleuze: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, S. 262. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 137 JENS SCHRÖTER Patent auf ›pre-shipping‹ oder ›predictive delivery‹33 gesichert hat: Die Ware wird ausgeliefert, bevor die Kund*innen etwas bestellt haben (das ist zumindest die Idee). Man kann das absurd finden, aber es zeigt sich, dass auch hier ›tacit‹ oder ›implicit knowledge‹ operativ gemacht werden soll – tatsächlich gibt es auch unabhängig von Amazon eine breite Forschung dazu, wie man Big Data nutzen kann, um ›tacit knowledge‹ zu operationalisieren; so haben etwa Nowshade Kabir und Elias Cara- yannis zu Big Data, tacit Knowledge and organizational competitiveness geforscht. Ohne irgendeiner reduktionistischen Technikeuphorie folgen zu wollen, ließe sich argumentieren, dass Big Data also, statt wie gegenwärtig nur für Werbung oder Überwachung genutzt zu werden, unter sehr veränderten gesellschaftlichen Be- dingungen (die u.a. einen stark verbesserten und transparenten Datenschutz ein- schlössen) eine Grundlage einer dezentralen und verteilten Planung sein könnte.34 Um dies kurz zu erläutern: In Märkten produzieren Produzent*innen als – wie man mit Marx sagen kann – getrennte Privatproduzent*innen, d.h. alle oder viele produzieren getrennt drauflos und dann schaut man, was am Markt verkauft wer- den kann. Durch eine (historisch obsolete) zentrale und eine (eben vielleicht nun mögliche) dezentrale bzw. verteilte Planung wird diese ex post- durch eine ex ante- Vermittlung ersetzt.35 D.h. die Mitglieder einer Gesellschaft sprechen sich vorher ab, was sie brauchen und wollen und entsprechendes wird dann produziert und verteilt. Es gibt heute diverse neuere Ansätze partizipativer Ökonomie, dezentra- ler und verteilter Planung, des commoning etc.36 Hier soll nicht auf die Ansätze en détail eingegangen werden – entscheidend ist nur die in verschiedener Form allen gemeinsame Idee, die ungesellschaftliche, da isolierte und dann über die Bewe- gung der Sachen (Waren- und Geldflüsse) koordinierte Produktion, durch eine ge- sellschaftliche, d.h. letztlich (irgendwie) kommunikativ koordinierte Produktion zu ersetzen. Eine solche Produktion benötigte logischerweise keine Märkte und kein Geld mehr, denn in ihr würde nicht getauscht. Man einigt sich (irgendwie) darauf, was produziert werden soll, teilt (irgendwie) die Arbeit auf, erstellt die Produkte und verteilt sie gemäß den anfänglich getroffenen demokratischen Beschlüssen. Es ist mithin keineswegs einzusehen, warum nur der Markt bzw. der Wettbe- werb als ein – wie Hayek in einem weiteren berühmten Aufsatz argumentiert –37 Entdeckungsverfahren funktionieren könne. Kann nicht auch Kooperation ein Ent- deckungsverfahren sein – was sowohl durch Entwicklungen im Software-Bereich 33 Lomas: »Amazon Patents ›Anticipatory‹ Shipping«. 34 Vgl. auch das Konzept post-monetärer Ökonomie bei Heidenreich/Heidenreich: Forde- rungen, S. 104-136. 35 Natürlich versucht man heute schon, etwa über Marktforschung, vorher in Erfahrung zu bringen, ob die angedachten Produkte wirklich benötigt werden – interessanterweise ist eine solche Vorausplanung schon ein Schritt in Richtung einer ex ante-Produktionsweise. 36 Vgl. die Kontroverse zwischen Adaman/Devine (»Participatory Planning as a Deliberative Democratic Process«) und Hodgson (»Socialism Against Markets?«; »The Limits of Parti- cipatory Planning«) um die Möglichkeiten dezentraler und partizipativer Planung, bei der es – nicht zufällig – zentral um die Frage der Explizierbarkeit des ökonomisch relevanten impliziten Wissens geht. Vgl. auch, ebenfalls Hayek diskutierend, Dyer-Witheforde: »Red Plenty Platforms«. 37 Hayek: »Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren«. NAVIGATIONEN 138 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN DER MARKT, DAS IMPLIZITE WISSEN UND DIE DIGITALEN MEDIEN (Stichwort: Open Source) als auch schon durch die klassische Großforschung in Militär, High Science und Industrie nahegelegt wird?38 In der Tat setzt die markt- gängige Entwicklung von Produkten, selbst wenn das ursprüngliche Movens dafür durch die Konkurrenz induziert ist, meist sehr umfängliche kooperative Prozesse voraus, Prozesse, die durch vernetzte Computersysteme erweitert und befördert werden, was heute Gegenstand des eigenen Forschungsgebietes des computer- Supported cooperative Work ist. Es ist bemerkenswert, dass Hayeks, wenn auch auf dem Markt zentrierte, Betonung der Selbstorganisation auch ein wichtiger Ein- fluss für die Bloomington School war, aus der die Forschungen Elinor Ostroms hervorgingen, die 2009 den ›Nobelpreis‹ für Ökonomie für ihre Forschungen zur Geschichte, Praxis und Theorie kooperativer Allmende bekam.39 Insbesondere in ihrem Vorwort zur deutschen Auflage ihres Hauptwerks zu den Commons betont Ostrom – dieser Aspekt kann hier nur angedeutet werden – die zentrale Rolle von Kommunikation für die Koordination von Kooperation.40 Erneut kann man fra- gen, ob nicht die (in westlichen Staaten zumindest gegebene) nahezu ubiquitäre Vernetzung mit mobilen Medien eine günstige infrastrukturelle Voraussetzung für Commons ›jenseits von Markt und Staat‹ ist, wie es im Untertitel eines bekannten Buches zum Thema heißt.41 Hayeks Ansatz, Dezentralisation und Selbstorganisation zu betonen und d.h. die Betonung des verteilten, situierten und impliziten Wissens und der Notwen- digkeit von Entdeckungsverfahren, schließt nicht aus, dass es andere Weisen ge- ben könnte als den Markt und d.h. den Tausch Ware gegen Geld, um Produktion, Allokation und Distribution zu organisieren. Insofern scheint immer noch nicht ausgemacht, dass Burczaks Behauptung richtig ist: »Post-Hayekian socialism is ne- cessarily market socialism. National economic planning, whether authoritarian or democratic, is a dubious ambition for the future of socialism.«42 Don Lavoie gibt ähnlich zu bedenken: Those nonmarket forms of socialism that used to argue for the ab- olition of money needed to be reminded that the cognitive function markets serve requires that profit-loss calculation take place in terms of a common denominator. There can be no systematic comparison of alternative production techniques without cost calculations in money units, and these at base involve matters of simple arithmetic.43 Lavoie argumentiert also, dass es ohne Geld keine ›profit-loss calculation‹ gäbe. Dieses Argument kann man als erschlichen zurückweisen – denn Geld ist eben 38 Vgl. zur Rolle der Kooperation auch Schüttpelz/Gießmann: »Medien der Kooperation«. 39 Vgl. Horn: Hayek für Jedermann, S. 228. 40 Vgl. Ostrom: Die Verfassung der Allmende, S. xviii und passim. 41 Vgl. Helfrich/Heinrich-Böll-Stiftung: »Commons«; vgl. zur Infrastruktur von Commons auch Marttila/Botero: »Infrastructuring for Cultural Commons«. 42 Burczak: Socialism After Hayek, S. 138. 43 Lavoie: »Computation, Incentives, and Discovery«, S. 75. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 139 JENS SCHRÖTER das Medium, das alles als ›profit‹/›loss‹ kalkulierbar macht, ja, dies erzwingt und natürlich kann diese Form ohne Geld nicht aufrechterhalten werden. Und das wäre vielleicht auch gut so, wenn nicht abstrakter Profit, sondern z.B. gemeinsame, de- mokratische, sachbezogene Erörterungen, die doch auch einen ›systematic compa- rison‹ zustande bringen können sollten, darüber entscheiden, ob eine von verschie- denen ›alternative production techniques‹ zum Einsatz kommt. Möglicherweise wäre – die unrühmliche Rolle von ›Externalitäten‹ im Blick – dies eben genau die bessere Weise, die besseren Technologien etc. auszuwählen. Lavoies Argument, »[m]arkets provide a cognitive aid, in this sense, without which economic activity would be prohibitively inefficient«,44 mag in dem Sinne unzutreffend sein, dass es vielleicht nicht immer darauf ankommt, ob etwas im Sinne abstrakter Akkumulation ef- fizient ist, sondern vielmehr darauf, was man stofflich produzieren und konsumieren will. Allerdings verweist Lavoie auf einen nicht-trivialen Punkt: Geld und die damit gegebene Darstellung von Produkten und Prozessen in Preisen macht diese ver- gleichbar und kalkulierbar (jedenfalls in bestimmten Hinsichten). Der ›systematic comparison‹ kann sich auf einen ›common denominator‹ berufen. Dies wirft eine wirklich zentrale Frage auf: Denn auch Big Data und mögliche andere Formen von Daten, die der gemeinsamen Koordination nach dem Geld zugrunde liegen, sind immer noch quantitative, mithin digitale Daten. Die Hinweise von Historikern wie Jacques Le Goff,45 dass es Geld schon vor dem Kapitalismus gab, wirft ja die Frage auf, ob es nicht auch Geld nach dem Kapitalismus geben kann – Geld, das dann vielleicht keines mehr ist. Jedenfalls kann eine Gesellschaft nach dem Geld nicht eine Gesellschaft nach der Mathematik sein. Statt, dass die Waren über Preissi- gnale kommunizieren und die Menschen nur die Medien dieser Bewegung sind (wie im Kapitalismus), müssen die menschlichen Akteure über ihre Produktion kommunizieren und sie werden immer noch abwägen müssen, was machbar und was nicht machbar erscheint – und das wird quantitative Vergleiche notwendig machen. Daher ist die Struktur und Operation dieses Zeichensystems, welches den Koordinationsprozess von der Zirkulation in die Produktion verschiebt, von zentraler Wichtigkeit. Es ist zu klären, in welchem Verhältnis dieses Zeichensystem zur Quantifizierung steht. Und es ist zu erklären, wie große Vorteile des Geldes – seine Anonymität, aber auch gerade seine extreme Reduktion der Information, die eben eine regionale und globale ökonomische Kommunikation ermöglicht – kompensiert werden können, wenn man eine postmonetäre und d.h. nach-tausch- und nach-marktförmige Produktion für erstrebenswert hält, was angesichts der massiven ökonomischen und ökologischen Verwüstungen durch den Kapitalismus doch zumindest einmal diskutiert werden sollte. Jedenfalls ist – im Prinzip – mit den mobilen und situierten, ›smarten‹ Medientechnologien die Basis für eine dezentrale und verteilte Planung von Ökonomie entstanden, die m.E. das verteilte, situierte und implizite Wissen mobilisieren kann, ohne auf die letztlich destruktive Form der abstrakten Akkumulation an Märkten setzen zu müssen. 44 Ebd., S. 74. 45 Le Goff: Geld im Mittelalter; siehe auch Kurz: Geld ohne Wert. NAVIGATIONEN 140 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN DER MARKT, DAS IMPLIZITE WISSEN UND DIE DIGITALEN MEDIEN LITERATURVERZEICHNIS Adaman, Fikret/Devine, Patrick: »Participatory Planning as a Deliberative Demo- cratic Process: A Response to Hodgson’s Critique«, in: Economy and Society, Jg. 30, Nr. 2, 2001, S. 229-239. Bryer, Robert A: »The History of Accounting and the Transition to Capitalism in England. Part One: Theory«, in: Accounting, Organizations and Society, Jg. 25, Nr. 2, 2000, S. 131-162. Burczak, Theodore: Socialism After Hayek, Ann Arbor, MI 2006. 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NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 143 AUTOR_INNEN AUTOR_INNEN Thomas Christian Bächle, Dr. phil., ist Medienwissenschaftler und arbeitet am In- stitut für Sprach-, Medien- und Musikwissenschaft (Abteilung Medienwissenschaft) an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Forschungsschwerpunk- te: Zusammenhänge zwischen Körper, Identität und Technologie; Mensch/Maschi- ne-Interaktion; mobile und digitale Medien sowie Techniken und Praktiken der Überwachung. Aktuelle Veröffentlichungen: Mithrsg.: Die Maschine: Freund oder Feind? Mensch und Technologie im digitalen Zeitalter, Wiesbaden 2017; Digitales Wissen, Daten und Überwachung zur Einführung, Hamburg 2016; Mythos Algo- rithmus. Die Fabrikation des computerisierbaren Menschen, Wiesbaden 2014. Maren Bennewitz, Prof. Dr. rer nat., ist seit 2014 Professorin für Humanoide Roboter am Institut für Informatik der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und leitet dort die gleichnamige Arbeitsgruppe. Sie entwickelt u.a. Methoden zur Umgebungswahrnehmung und Exploration, Aktionsplanung, Navigation sowie Interaktion mit mobilen Servicerobotern. Jan Distelmeyer, Prof. Dr. phil., ist Professor für Mediengeschichte und -theorie im Kooperationsstudiengang Europäische Medienwissenschaft der Fachhochschu- le Potsdam und Universität Potsdam sowie Gründungsmitglied des Brandenbur- gischen Zentrums für Medienwissenschaften (ZeM). Letzte Buchveröffentlichun- gen: Machtzeichen. Anordnungen des Computers, Berlin 2017; Katastrophe und Kapitalismus. Phantasien des Untergangs, Berlin 2013; Das flexible Kino. Ästhetik und Dispositiv der DVD & Blu-ray, Berlin 2012. Visit: www.emw.eu/personen_leh- rende_portrait.php?tid=48. Christoph Ernst, PD Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Medientheo- rie in der Abteilung Medienwissenschaft der Universität Bonn und vertritt derzeit ebenda die W3-Professur für Medienkulturwissenschaft. Forschungsschwerpunk- te: in den Bereichen Informationsvisualisierung, Diagrammatik und allgemeine Me- dientheorie; Theorien des impliziten Wissens und digitale Medien, insb. Interface- theorie; Ästhetik und Theorie audiovisueller Medien (Film, Fernsehen, Fotografie) sowie Kulturtheorie, insb. Interkulturalität und Fremdheit. Letzte Veröffentlichun- gen u.a.: Mithrsg.: Diagrammatik – Ein interdisziplinärer Reader, Berlin 2016; Dia- gramm, Metapher, Explikation. Theoretische Studien zur Medien- und Filmästhetik der Diagrammatik, (voraussichtlich) Bielefeld 2018. Timo Kaerlein, Dipl.-Medienwissenschaftler, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn. Forschungsschwer- punkte: digitale Nahkörpertechnologien; Theorie, Ästhetik und Kritik von Inter- NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 145 AUTOR_INNEN faces; Medienkulturen der Obsoleszenz und Social Robotics. Aktuelle Publikation: Mithrsg.: Gehäuse: Mediale Einkapselungen, Paderborn 2017. Peter Regier, M.Sc., hat sein Studium im Fach Maschinenbau mit Bachelor (B.Sc.) und Master (M.Sc.) an der Universität Duisburg-Essen abgeschlossen und ist seit 2014 als Doktorand am Institut für Informatik der Rheinischen Friedrich-Wilhelms- Universität Bonn in der Arbeitsgruppe »Humanoide Roboter« tätig. Forschungs- schwerpunkte: mobile Roboter-Navigation und maschinelle Perzeption. Regina Ring, M.A., studierte Kommunikationswissenschaft, Psychologie und Medi- enwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und ist dort seit April 2014 Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Medienwissenschaft am Institut für Sprach-, Medien- und Musikwissenschaft. In ihrem laufenden Promo- tionsprojekt beschäftigt sie sich mit Wearable Technologies. Forschungsschwerpunk- te: Interfacetheorien, Mensch-Computer-Interaktionen und Wearable Computing. Jens Schröter, Prof. Dr. phil., ist seit 2015 Inhaber des Lehrstuhls »Medienkul- turwissenschaft« an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. 2008 bis 2015 Professor für Multimediale Systeme an der Universität Siegen; 2008 bis 2012 Leiter der Graduiertenschule Locating Media an der Universität Siegen; seit 2012 Antragssteller und Mitglied des DFG-Graduiertenkollegs 1769 Locating Media, Uni- versität Siegen; 2010 bis 2014 Projektleiter (zusammen mit Prof. Dr. Lorenz Engell, Weimar): Die Fernsehserie als Projektion und Reflexion des Wandels; Sprecher des Projekts Die Gesellschaft nach dem Geld, VW Stiftung. April bis Mai 2014: John von Neumann-Fellowship an der Universität Szeged; September 2014: Gastpro- fessur an der Guangdong University of Foreign Studies, Guangzhou, VR China; WS 2014/15 Senior-Fellowship am DFG-Forscherkolleg Medienkulturen der Compu- tersimulation, Leuphana-Universität Lüneburg; SS 2017 Senior-Fellowship am IFK, Wien; WS 2017/18 Senior-Fellowship am IKKM, Weimar. Forschungsschwerpunk- te: Digitale Medien; Photographie; Fernsehserien; Dreidimensionale Bilder; Inter- medialität; Kritische Medientheorie. Visit: www.medienkulturwissenschaft-bonn.de. Sabine Wirth, M.A., ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am In- stitut für Medienwissenschaft der Universität Marburg sowie Koordinatorin der DFG-Forschergruppe Journalliteratur: Formatbedingungen, visuelles Design, Re- zeptionskulturen. 2011 bis 2013 assoziiertes Mitglied des DFG-Graduiertenkollegs Sichtbarkeit und Sichtbarmachung – Hybride Formen des Bildwissens an der Uni- versität Potsdam sowie Promotionsstipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. Aktuelle Publikation: »Between Interactivity, Control, and ›Everydayness‹ – Towards a Theory of User Interfaces«, in: Hadler, Florian/Haupt, Joachim (Hrsg.): Interface Critique, Berlin 2016, S. 17-35. NAVIGATIONEN 146 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN ABSTRACTS ABSTRACT CHRISTOPH ERNST ( I) Deutschsprachiges Abstract MEDIEN UND IMPLIZITES WISSEN – EINLEITENDE BEMERKUNGEN ZU EINER VIELSCHICHTIGEN BEZIEHUNG IN DER ÄRA DES uBiquitouS coMputing Der Einleitungstext skizziert das nicht immer einfache Verhältnis zwischen Medien- theorie und Theorien des impliziten Wissens. In der Ära des ubiquitous computing sowie des Internets der Dinge wird dieses Verhältnis für die aktuelle medientheo- retische Debatte immer wichtiger. Als zentrales Bezugsphänomen wird der Ge- brauch von Interfaces identifiziert. Der Text gibt einen Einblick in die medientheo- retischen Diskussionsmöglichkeiten des Verhältnisses von Medien und implizitem Wissen, insbesondere im Kontext der Debatten rund um die medienwissenschaft- liche Kulturtechnikforschung. Am Beispiel einer Debatte zwischen Michael Polanyi und Alan Turing aus dem Jahr 1949 wird zudem schlaglichtartig auf die historische Dimension des Themas hingewiesen. Englischsprachiges Abstract MEDIA AND TACIT KNOWLEDGE – INTRODUCTORY REMARKS ON A MULTILAYERED RELATION IN THE ERA OF uBiquitouS coMputing The introductory text comments on the complicated relation between media theory and theories of implicit knowledge. In the era of ubiquitous computing and the internet of things, this relationship is becoming increasingly important for the current debate in media theory. The use of interfaces is identified as the central reference phenomenon for this discussion. The text gives an insight into the possi- bilities of a media-theoretical description of this relation – especially in the context of the debates surrounding the debate on cultural techniques. Using the example of a debate between Michael Polanyi and Alan Turing from 1949 the text also draws attention to the historical dimension of those issues. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 147 ABSTRACTS ABSTRACT JAN DISTELMEYER Deutschsprachiges Abstract AN/LEITEN. IMPLIKATIONEN UND ZWECKE DER COMPUTERISIERUNG Die Verbindung der zwei Konzepte implizites Wissen und interface führt zu grundsätzlichen Fragen. Was ›wissen‹ Computer von jenen, mit denen sie in Kontakt kommen sollen? Wie wird ihr Gebrauch angelegt? Welcher Art ist das Wissen um diese Maschinen, das wir als Gebrauchende/Verbundene ein- und ausüben? Und welche Rolle spielt dabei die gegenwärtige Betonung einer Allgegenwart und Unmerklichkeit des Computers, einer Technosphäre jenseits etablierter Subjekt- Objekt-Verhältnisse und Zweckfragen? Interfaces sind dabei nicht als Gebrauchs- schnittstellen zu unterschätzen – sie bilden in Form diverser Prozesse des Leitens und Verbindens einen Komplex, der die Ausbreitung computerbasierter Technolo- gie und Verhältnisse leitet. Englischsprachiges Abstract CARRY (ON): IMPLICATIONS AND PURPOSES OF COMPUTERIZATION The connection between the concepts tacit knowledge and interfaces leads to fundamental questions. What do computers ›know‹ about those, they are con- structed to get in touch with? How is use structured and designed? What kind of knowledge about these machines is at work, that we exercise dealing with them? And how is this related to the current emphasis on ubiquitious as well as seamless computing, on a ›technosphere‹ of ›twenty first century media‹ and an absence of given purposes? Interfaces are not to be mistaken for just user interfaces – as a complex of manifold processes of connectivity and conduction, they do carry the promoted computerization of the world. NAVIGATIONEN 148 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN ABSTRACTS ABSTRACT TIMO KAERLEIN Deutschsprachiges Abstract »WALKING FOR DESIGN«. ZUR EVOKATION IMPLIZITEN WISSENS IM IN- TERACTION DESIGN FÜR DIE MOBILE MEDIENNUTZUNG Der Beitrag thematisiert das Gehen als Körpertechnik, die nicht lediglich ein soma- tisches, sondern auch ein kollektives implizites Wissen um urbane Etikette, Orien- tierung, Navigation und die Choreographien von Körpern in Bewegung umfasst. Das Interaktions- und Interface-Design für mobile Endgeräte steht vor der beson- deren Herausforderung eine Nutzung während des Gehens zu gestatten, sodass es dabei unweigerlich zu einer Auseinandersetzung mit der sozialen und kulturellen Komplexität fluider alltäglicher Bewegungsabläufe kommt. Vor diesem Hintergrund untersuche ich aktuelle Strategien für das Design mobiler Interfaces daraufhin, wie sie diese Dimensionen impliziten Wissens in den Entwurfsprozess miteinbeziehen. Angesichts der Unzulänglichkeit quantifizierender Verfahren der mobile data sci- ence greifen DesignerInnen u.a. auf Ansätze der non-representational theory zurück, um kaum zu explizierende Qualitäten der Fortbewegung zu Fuß zum Thema zu machen. Implizites Wissen wird damit zu einem zentralen Bezugspunkt kulturwis- senschaftlicher wie designorientierter Forschungsansätze zum Gehen als zuneh- mend medial aufgerüsteter Körpertechnik. Englischsprachiges Abstract »WALKING FOR DESIGN«. EVOCATIONS OF TACIT KNOWLEDGE IN IN- TERACTION DESIGN FOR MOBILE MEDIA The article addresses walking as a bodily technique which comprises not only a somatic but a collective implicit knowledge about urban etiquette, orientation, na- vigation and the choreographies of bodies in motion. The interaction and interface design for mobile devices is thus challenged to afford use while walking. For this reason, designers need to face the social and cultural complexity of fluid every- day motion sequences. Against this background I analyze contemporary mobile interface design strategies and ask how exactly dimensions of implicit knowledge are included in the design process. Given the inadequacy of quantifying approa- ches common in mobile data science, designers in the field draw on elements of non-representational theory to grasp qualities of bodily movement that are hardly explicable. As walking is increasingly mediated by mobile and environmental tech- nologies, implicit knowledge thus becomes a central concern in cultural theory and design research alike. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 149 ABSTRACTS ABSTRACT THOMAS BÄCHLE, PETER REGIER, MAREN BENNEWITZ Deutschsprachiges Abstract SENSOR UND SINNLICHKEIT – HUMANOIDE ROBOTER ALS SELBSTLER- NENDE SOZIALE INTERFACES UND DIE OBSOLESZENZ DES IMPLIZITEN Computerisierbares Wissen ist notwendigerweise explizit, da die Eindeutigkeit der algorithmenbasierten formalen Sprache keinen Platz für Bedeutungen lässt, die über die definierten Repräsentationen hinausgehen. Dies ändert sich scheinbar grundle- gend mit Computersystemen in humanoider Gestalt, da die Umwelt mithilfe eines mechanischen Körpers (re-)aktiv erschlossen werden kann: Diese Roboter haben neben einem sensoriellen Weltbezug als umfassende soziale Interfaces auch Zugriff auf eine paraverbale oder an eine körperliche Einübung gebundene Weitergabe von Wissen. Vor diesem Hintergrund wird im vorliegenden Beitrag die These ver- folgt, dass soziale, humanoide Roboter zusammen mit neuen Rechenverfahren der Künstliche Intelligenz-Forschung (reinforcement learning oder künstliche neuronale netzwerke) dazu in der Lage sind, auch die Dimensionen (kollektiven, relationalen oder körperlichen) impliziten Wissens autonom zu erschließen. Auch dieses lässt sich als Einschreibung soziokultureller Ordnungen verstehen, die als Regelsysteme abstrahiert und dadurch (zumindest prinzipiell) expliziert werden können. Die Prä- misse für die Kategorie eines impliziten Wissens scheint genommen und dadurch obsolet. Englischsprachiges Abstract SENSOR AND SENSIBILITY - HUMANOID ROBOTS AS SELF-LEARNING SOCIAL INTERFACES AND THE OBSOLESCENCE OF THE IMPLICIT Computational knowledge necessarily presents itself in an explicit form, as the dis- crete algorithm-based formal languages leave no room for ambiguity exceeding the pre-defined representations. This limitation seems to fundamentally change in computer systems equipped with a mechanical body in humanoid shape, which can be used to interact with the surrounding material and social worlds. Besides establishing a sensorial link to their environment, these robots operate as social in- terfaces, also capable of maintaining access to paraverbal or practical dimensions of knowledge. Against this background it is argued, that social, humanoid robots com- bined with innovative methods in the field of artificial intelligence (such as reinforce- ment learning or artificial neural networks) can autonomously access epistemological dimensions usually associated with (collective, relational or embodied) forms of NAVIGATIONEN 150 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN ABSTRACTS implicit knowledge. The latter’s intricacy is also based on complex systems of in- scribed socio-cultural orders, which (at least in principle) can be rendered explicit by abstracting them as formalised systems. As a result, the premise for the category of implicit knowledge seems obsolete. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 151 ABSTRACTS ABSTRACT REGINA RING Deutschsprachiges Abstract WEARABLE TECHNOLOGIES UND IMPLIZITES WISSEN Kaum einem alltäglicheren Phänomen liegt implizites Wissen so sehr inne, wie der kulturellen Praxis des »sich Kleidens«. Folgt man der kulturwissenschaftlichen For- schung, handelt es sich nicht nur um ein ästhetisches Wissen um Mode, das sich schwer explizieren lässt, aber im Umgang mit Kleidung zeigt, sondern auch um ein Wissen um »Berührung« und »Bewegung« von bzw. durch Kleidungsstücke, die die Trägerinnen und Träger praktisch am Leibe erfahren, aber nicht explizit benennen können. Allein in dieser kurzen Skizze verweisen der Umgang mit und die Erfah- rung von Kleidung auf innere implizite Prozesse und Erkenntnisvorgänge, die darauf deuten, dass Kleidung als Schnittstelle fungiert. Was verändert sich, wenn Kleidung mit sogenannten Wearable Technologies computerisiert und die Praxis des »sich Kleidens« digitalisiert wird? Interpretiert man Interfaces als Prozesse und Effekte, erschließen sich neue Implikationen für das Verhältnis von Kleidung und Körper, und damit auch für den Bezug von Mensch und Welt, der im Leib verkörpert wird. Englischsprachiges Abstract WEARABLE TECHNOLOGIES AND TACIT KNOWLEDGE The cultural practice of dressing oneself exemplifies what is discussed with »tacit knowledge«. Following cultural studies, it is not only an aesthetic knowledge about fashion, which is difficult to explain but appears in one’s own dress, but also a knowledge about »touch« and »movement« from or through garments, which the wearer can practically experience but not explicitly name. Therefore, interacting with garments and experiencing these point to implicit and cognitive processes, which indicate that garments function as interfaces. What changes if garments are computerized with Wearable Technologies and the practice of dressing is digitized? Taking interfaces as processes and effects opens new implications to the relation- ship between garments and the body, and thus also to the relationship between man and the world that is embodied. NAVIGATIONEN 152 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN ABSTRACTS ABSTRACT CHRISTOPH ERNST ( I I ) Deutschsprachiges Abstract IMPLIZITES WISSEN, KOGNITION UND DIE PRAxISTHEORIE DES INTERFACES Im Kontext von Theorien des situierten und verkörperten Wissens zeichnet sich seit einigen Jahren zwischen Medientheorie und Kognitionswissenschaft eine An- näherung in den theoretischen Grundprämissen ab. Dem Verhältnis von Interfaces und implizitem Wissen fällt in diesem Zusammenhang entscheidende Bedeutung zu. Der Beitrag zeigt, inwiefern im Feld des Interfacedesigns gängige, kognitions- wissenschaftlich fundierte Begriffe wie der eines conceptual models (Donald Nor- man) medientheoretisch umformuliert werden können. Am Beispiel einer spezi- fischen Medienpraxis der Interfacesteuerung in sog. natural user interfaces wird durchgespielt, welche Konsequenzen hieraus insbesondere für eine Theorie des Interfacegebrauchs aus medienwissenschaftlicher Sicht folgen. Englischsprachiges Abstract TACIT KNOWLEDGE, COGNITION AND THE PRACTICE THEORY OF THE INTERFACE With the expanding field of theories regarding situated and embodied knowledge, there has for some years been a convergence between cognitive sciences and me- dia theory. The relationship between interfaces and implicit knowledge is crucial in this context. The text shows in how far concepts deriving from field of interface design like the conceptual model (Donald Norman) can be reformulated in a me- dia-theoretic way. Using the example of a specific media practice in the context of so-called natural user interfaces, the theoretical consequences for a theory of the interface usage from media-scientific viewpoints are discussed. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 153 ABSTRACTS ABSTRACT SABINE WIRTH Deutschsprachiges Abstract »THE ›UNNATURAL‹ SCROLLING SETTING« – DON IHDES KONZEPT DER EMBoDiMEnt RELAtionS DISKUTIERT AM BEISPIEL EINER UBIQUITÄ- REN TOUCHPAD-GESTE Am Beispiel der Debatte um die ›intuitive‹ oder ›natürliche‹ Scroll-Einstellung bei Trackpads diskutiert der Beitrag, inwiefern Don Ihdes Konzept der embodiment re- lations für die Beschreibung von populären User-Interface-Interaktionen produktiv sein kann. Obwohl es sich bei Interaktionsprinzipien wie dem Scrollen nicht um eine besonders körperbetonte Geste handelt, scheint hier ein gewisses implizites und inkorporiertes Wissen am Werk zu sein. Zum einen werden die theoretischen Anschlussstellen zu Ihdes (post-)phänomenologischer Perspektive auf den Umgang mit Technik im Alltag erörtert. Zum anderen zeigt der Beitrag die Probleme einer technikphänomenologischen Betrachtungsweise auf, die angesichts der Entwick- lung von Computern als Einzelgeräten hin zu vernetzten digitalen Medienumwel- ten, in denen Handlungsmacht nur schwer zu lokalisieren ist, an ihre Grenzen stößt. Englischsprachiges Abstract »THE ›UNNATURAL‹ SCROLLING SETTING.« DON IHDE›S CONCEPT OF EMBoDiMEnt RELAtionS DISCUSSED USING THE ExAMPLE OF A UBI- QUITOUS TOUCHPAD GESTURE Following the debates about the ›intuitive‹ or ›natural‹ scrolling setting of trackpads the article discusses how Don Ihde’s concept of embodiment relations can be made productive for analyzing popular user interface interactions. Although media ge- stures like scrolling are not actions that explicitly expose physicality, they do apply incorporated forms of knowledge. Thus, the article explores on the one hand the productivity of Ihde’s (post-)phenomenological perspective on the everyday use of technology. On the other hand, the problems and shortcomings of a phenomenolo- gy of technology are reviewed by considering the shift from computers as singular devices towards networked digital media environments, where agency is hard to localize. NAVIGATIONEN 154 MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN ABSTRACTS ABSTRACT JENS SCHRÖTER Deutschsprachiges Abstract DER MARKT, DAS IMPLIZITE WISSEN UND DIE DIGITALEN MEDIEN In der ökonomischen Theorie war es Friedrich August von Hayek, der den Be- griff des impliziten Wissens einführte (auch wenn er ihn nicht explizit verwendete). Nach Hayeks Auffassung ist der Markt das Medium, welches die Koordination des verteilten, situierten und impliziten Wissens in der Gesellschaft ermöglicht. Eine zentrale Planung kann nicht an dieses Wissen gelangen und muss daher ineffektiv sein. Allerdings gibt es seit einiger Zeit verteilte und situierte digitale Medien, so- dass man die Frage stellen kann, ob das implizite Wissen der Gesellschaft nun nicht doch in Tracking und Profiling sichtbar wird. Damit könnten neue Formen dezen- traler Planung in den Blick rücken. Englischsprachiges Abstract THE MARKET, TACIT KNOWLEDGE AND DIGITAL MEDIA Friedrich August von Hayek introduced the term »tacit knowledge« to economic theory (even if he not used it explicitly). According to Hayek, the market is the medium that allows the coordination of distributed, situated and tacit knowledge in society. A centralized planning cannot extract this kind of knowledge and thus, has to be ineffective. For some time, there have been distributed and situated digital media which leads to the question whether the tacit knowledge of society becomes now explicable in e.g. tracking and profiling. In light of this approach, new concepts of decentralized planning could be taken into account. NAVIGATIONEN MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN 155 LIEFERBARE HEFTE Kulturen des Kopierschutzes I Herausgegeben von Jens Schröter, Ludwig Andert, Carina Gerstengarbe, Karoline Gollmer, Daniel Köhne, Katharina Lang, Doris Ortinau, Anna Schneider u. Xun Wang; weitere Beiträger: Stefan Meretz u. Martin Senftleben. 2010 Jg. 10 H.1 - 135 Seiten Kulturen des Kopierschutzes II Herausgegeben von Jens Schröter, Ludwig Andert, Carina Gerstengarbe, Karoline Gollmer, Daniel Köhne, Katharina Lang, Doris Ortinau, Anna Schneider u. Xun Wang; weitere Beiträger: Brian Winston, Till A. Heilmann u. Alexander Fyrin. 2010 Jg. 10 H.2 - 138 Seiten High Definition Cinema Mit Beiträgen von Jens Schröter, Marcus Stiglegger, Helmut Schanze, Ivo Ritzer, Jörg von Brincken, Benjamin Beil, und einem Nachruf für Gundolf Winter. Herausgeber: Jens Schröter, Marcus Stiglegger 2011 Jg. 11 H.1 - 111 Seiten Game Laboratory Studies Mit Beiträgen von Jens Schröter, Philipp Bojahr, Tobias Gläser, Lars Schröer, Gisa Hoffmann, Marlene Schleicher u.a. Herausgeber: Benjamin Beil, Thomas Hensel 2011 Jg. 11 H.2 - 149 Seiten Film Körper. Beiträge zu einer somatischen Medientheorie Mit Beiträgen von Kai Naumann, Julia Reifenberger, Irina Gradinari, Susanne Kappesser, Romi Agel u.a. Herausgeber: Ivo Ritzer, Marcus Stiglegger 2012 Jg. 12 H.1 - 145 Seiten I am Error - Störungen des Computerspiels Herausgeber: Benjamin Beil, Philipp Bojahr, Thomas Hensel, Markus Rautzenberg, Stephan Schwingeler, Andreas Wolfsteiner 2012 - Jg. 12 H.2 - 118 Seiten Der Medienwandel der Serie Mit Beiträgen von Gabriele Schabacher, Michael Cuntz, Nicola Glaubitz, Lorenz Engell, Herbert Schwab u. Isabell Otto. Herausgeber: Dominik Maeder, Daniela Wentz 2013 - Jg. 13 H.1 - 145 Seiten Vom Feld zum Labor und zurück Mit Beiträgen von Anna Brus, Juri Dachtera, Anja Dreschke, Katja Glaser, Matthias Meiler u.a. Herausgeber: Raphaela Knipp, Johannes Paßmann, Nadine Taha 2013 - Jg. 13 H.2 - 187 Seiten Pasolini - Haneke: Filmische Ordnungen von Gewalt Mit Beiträgen von Konrad Paul, Hans J. Wulff, Oliver Jahraus, Uta Felten, Marcus Stiglegger u.a. Herausgeber: Marijana Erstic, Christina Natlacen 2014 - Jg. 14 H.1 - 130 Seiten 50 Jahre Understanding Media Mit Beiträgen von Barbara Filser, Till A. Heilmann, Rembert Hüser, John D. Peters, Nina Wiedemeyer u. Marshall McLuhan. Herausgeber: Jana Mangold, Florian Sprenger 2014 - Jg.14 H.2 - 124 Seiten Medien der Kooperation Mit Beiträgen von Erhard Schüttpelz, Sebastian Gießmann, Susan Leigh Star, Heinrich Bosse, Kjeld Schmidt, Mark-Dang Anh, Ilham Huynh u. Matthias Meiler. Herausgeber: AG Medien der Koperation 2015 - Jg.15 H.1 - 148 Seiten Von akustischen Medien zur auditiven Kultur Zum Verhältnis von Medienwissenschaft und Sound Studies Mit Beiträgen von Rolf Großmann, Maren Haffke, Felix Gerloff, Sebastian Schwesinger, Lisa Åkervall, Sarah Hardjowirogo, Malte Pelleter u.a. Herausgeber: Bettina Schlüter, Axel Volmar 2015 - Jg.15 H.2 - 164 Seiten PLAYIN‘ THE CITY Artistic and Scientific Approaches to Playful Urban Arts Mit Beiträgen von Miguel Sicart, Martin Reiche, Michael Straeubig, Sebastian Quack, Marianne Halblaub Miranda, Martin Knöll u.a. Herausgeber: Judith Ackermann, Andreas Rauscher, Daniel Stein 2016 - Jg.16 H.1 - 182 Seiten Medienwissenschaft und Kapitalismuskritik Mit Beiträgen von Christian Siefkes, Christoph Hesse, Christine Blättler, Martin Doll, Jens Schröter, Till A. Heilmann, Andrea Seier u. Thomas Waitz. Herausgeber: Jens Schröter, Till A. Heilmann 2016 - Jg.16 H.2 - 165 Seiten Medienpraktiken Situieren, erforschen, reflektieren Mit Beiträgen von Anna Lisa Ramella, Christian Meyer, Christian Meier zu Verl, Raphaela Knipp, Christoph Borbach, Erhard Schüttpelz, Andreas Henze u.a. Herausgeber: Mark Dang-Anh, Simone Pfeifer, Clemens Reisner, Lisa Villioth 2017 - Jg. 17 H.1 - 169 Seiten Jg. 17 H.2 2017 € 13,- NAVI GATIONEN ä Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften Christoph Ernst / Jens Schröter (Hrsg.) MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN Ernst: Medien und Implizites Wissen ä Distelmeyer: An/Leiten ä Kaerlein: »Walking for Design« ä Bächle/Re- gier/Bennewitz: Sensor und Sinnlichkeit ä Ring: Wearable Technologies und implizites Wissen ä Ernst: Implizites Wissen, Kognition und die Praxistheorie des Interfaces ä Wirth: »the unnatural scrolling setting« ä Schröter: Der Markt, das implizite Wissen und die digitalen Medien NAVI GATIONEN ä MEDIEN, INTERFACES UND IMPLIZITES WISSEN Jg. 17 H.2 2017