Fotografie und Film 501 Jan-Pieter Barbian, Werner Ruzicka (Hg.): Poesie und Politik. Der Dokumentarfilmer Joris Ivens (1898-1989) Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag, 2001 (Filmgeschichte International, Bd. 9), 124 S., 36 Abb., ISBN 3-88476-489-6, € 18,- Dass Joris Ivem zu den wichtigsten Autoren des Dokumentarfilms zu zählen ist, war bislang unbestritten. Fred Gehler verweist in seinem Artikel in dieser Sammlung von zehn Beiträgen, die auf eine Tagung in Duisburg zurückgehen. auf Georges Sadoul, der Vertov, Flaherty und Ivens als „die drei Schutzheiligen des Cinema Verite" (S.105) bezeichnet haben soll. Auch ohne diese Referenz dürfte die erstaunliche Fülle seines Lebenswerks hinreichen. Joris lvens gebührend zur Kenntnis zu nehmen, erstreckt sich doch sein Filmschaffen über die Jahrzehnte zwischen 1910 und 1988, über vier Kontinente und über viele filmästhetische Modi. Überdies hat sein Opus zentrale politische Wendungen auf dem Globus fokussiert, die ihm schon aufgrund der Wahl seiner Drehorte ein Privileg unter den Dokumentaristen einräumen müssen: Im Spiegel seiner Stationen könnte man nachgerade eine Geschichte der im 20. Jahrhundert aktiven anti-imperia- listischen Staaten und Bewegungen schreiben, von der Sowjetunion und DDR, vom Bürgerkrieg in Spanien, vom kommunistischen China und von Kuba unter Fidel Castro, vom Vietnamkrieg, von der Neuordnung Afrikas. Diese politische Orientierung springt ins Auge, was den Herausgebern offenbar großes Unbehagen bereitet hat. 502 MEDIENwissenschaji 4/2002 Konfrontiert mit der Tatsache, dass Joris Ivens aus seiner Sympathie für das sozialistische Ideal nie ein Hehl gemacht hat, spielt Jan-Pieter Barbian in seinem einleitenden Aufsatz den Trumpf des Faktischen gegen Joris Ivens aus. Er nimmt schlicht den Standpunkt des Status quo ein, der in der Auflösung des Ostblocks das „Ende einer Geschichte" (S.9) sehen will, womit Barbian die Filme von Ivens im Grunde ebenfalls für erledigt zu halten scheint. Jedenfalls ordnet er den Doku- mentarfilmer gleich unter dem Etikett „Leitfossil" (S. l) ein: ,,Jvens liegt nicht im Trend-weder seine Filme noch seine Weltauffassung" (S.10). Dieses parteiliche Präjudiz, das ex post „politische Irrungen" und „falsche Bewertung" (S.9) am Werke sieht, wo für den Filmemacher in der historischen Situation jeweils ein Hoffnungsschimmer für seine (im übrigen eher humanistische als dezidiert kom- munistische) Idee aufkeimte, wirkt, gelinde gesagt, überzogen in Anbetracht eines Gesamtwerkes von mehr als neunzig Filmen. Im Gegensatz zum Obertitel des Buches, der immerhin noch ein Wechselspiel zwischen „Poesie und Politik" signalisiert, arbeiten sich die meisten Aufsätze dieser Sammlung an der Vorgabe Barbians vom „Leitfossil" ab. Ausgerechnet Klaus Kreimeier, der vor 25 Jahren die überhaupt letzte deutsche Veröffentlichung über Joris Ivens geschrieben hat, und dies nicht ohne Sympathie für die geistige Grundhaltung seines Untersu- chungsgegenstandes, wurde das Thema „gestellt", eine „Revision einer Biografie" vorzunehmen. Ein Antrag auf Umwertung, bei dem ihm sichtlich unwohl war, da er den Begriff „Revision" für eine „nicht ganz unheikle Formulierung" (S.23) hält. In der Rückschau gibt allerdings auch Kreimeier der Kraft des Faktischen den Vorzug vor einer Filmanalyse und ordnet Ivens als den „fliegenden Holländer der Weltrevolution" (S.27) ein, dessen Biografie man „nach dem Zusammenbruch der Utopie einer endlich befreiten Menschheit [. .. ] in der Versenkung verschwinden lassen könnte" (S.24). Vorsichtiger in seinem Urteil verhält sich dagegen die Skizze von Fred Gehler, der unter dem Titel „Metamorphosen in Leipzig" aus den Chroniken der Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche zitiert und den darin manifesten Wandel der DDR-Kulturpolitik andeutet, die Ivens „von der Ikone (1963] zur Unperson" (S.99) im Jahre 1982 umgewertet habe. Noch vorsichtiger, aber leider auch nichtssagender wirkt der Beitrag von Hans Helmut Prinzler, der ,,Weltfilmgeschichten" und biografische Lexika „auf Ivens durchgesehen" (S.64) und herausgeschrieben hat, was diese zu Jvens gedruckt haben. Ihr Gegenstück findet diese Kompilationsmethode bei Manfred Dammeyer, der seinem Beitrag „Die Kamera als Waffe?" den erleichterten Kommentar voranstellt: ,,Zum Glück endet der Titel mit einem Fragezeichen." (S.87) Seine Zitatensammlung wirkt allerdings ungleich interessanter als der Gang durch die Filmhandbücher, weil er die längst vergriffene Autobiografie „Die Kamera und Ich" (Reinbek b. Hamburg, 1974) konsultiert. in der sich lvens offenbar vehement gegen die Trennung seiner Filme in eine „lyrische und politische" (S.93) Seite zur Wehr gesetzt hat. In dem einzigen Beitrag des Tagungsbandes, der sich explizit mit der „Poesie und Romantik in den Filmen von Joris Ivens" (S.79) befasst, klammert Peter Nau leider Fowgrafie und Film 503 genau die dezidiert politischen Werke über China oder den Vietnamkrieg aus und beschränkt sich auf den Versuch, lyrische Momente in Borinage (1934) und La Seine a rencontre Paris (1957) aufzuzeigen. Dezidierte Filmanalysen wird man in diesem Bändchen, das weniger Textseiten zählt als Ivens an Lebensjahren hatte, vergeblich suchen. Dasselbe gilt für eine Bibliografie, auf die die Herausgeber vollständig verzichtet haben, womit nicht nur die allein zehn Dissertationen über Ivens ignoriert, sondern auch weite Teile der internationalen Rezeptionsgeschichte ausgeblendet werden. Unausgewogen wollen die meisten Beiträge nicht sein, wie der des Ivens-Biographen Hans Schoots, der mit dem plakativen Verweis auf den Gebrauch von Inszenierung (S.72) seine These untermauert sieht, lvens sei eigentlich ein gescheiterter Regisseur, ,,ein Dokumentarist, der Spielfilme drehen wollte" (S.69), aber nicht konnte: die Politik habe ihn „künstlerisch gebremst und ist für ihn letztendlich eine Zwangsjacke geworden." (S.78) Wohltuend hebt sich dagegen der kenntnisreiche Beitrag von Bert Hogenkamp ab, der die „besondere Beziehung Joris lvens und die Niederlande" (S.35) im historischen Längsschnitt nachzeichnet. Er gelangt zu dem, wenn man den Beitrag seines Landsmanns Schoots gelesen hat, nachvollziehbaren Befund einer regelrechten „Anti-lvens- Lobby" (S.49). Bleibt zum Schluss der Hinweis, dass die Filmografie. die es immerhin gibt, in den meisten Angaben von der Version abweicht, die Kees Bakker in seinem Band Joris Ivens and the Documentary Context (Amsterdam University Press 1999) veröffentlicht hat. Annette Deeken (Trier)