»Eine Art Wahnsinn«
 
 
 
 
 
 
»Eine Art Wahnsinn«.
Intellektuelle Anschauung und
Goethes Schriften zur Metamorphose
Jocelyn Holland
1. Augen des Geistes
Im Zentrum von Goethes botanischen Forschungen steht eine Theorie
der Metamorphose. Diese soll empirische Beobachtungen, die kaum
auf einen Nenner zu bringen sind, auf ein und dasselbe Urphänomen
zurückführen, welches wiederum, wie Goethe sagt, nur mit »den Augen
des Geistes« zu sehen ist. Jene intellektuelle Anschauung, die die Illu-
sion einer Aufhebung der zeitlichen Natur und wirklichen Zeit gestat-
ten würde, ohne die natura naturans der natura naturata zu opfern, war
eine Vorstellung, mit der er schon seit der Zeit seiner ersten botani-
schen Abhandlung von 1790 nicht mehr vollauf zufrieden war. Dieses
theoretische Unbehagen machte sich im Laufe der Jahre mehr und
mehr geltend, bis Goethe 1828, in seinem letzten botanischen Aufsatz
zur Spiraltendenz, eingestand, wie schwierig, ja geradezu unmöglich es
für ihn sei, empirische Beobachtungen zum vertikalen und spiralförmi-
gen Wachstum in eine intellektuelle Anschauung umzusetzen.
      Für Goethe war die intellektuelle Anschauung eine im emphati-
schen Sinne poetische Tätigkeit: Wurde sie auf die rechte Weise aufge-
fasst, konnte einer vorgestellten Pflanze dieselbe Notwendigkeit zu-
kommen wie einer empirisch vorhandenen. Wie hinlänglich nachge-
wiesen wurde, erhielt Goethes Denken über eine mögliche Verbindung
von Kunst und Natur (oder Kunst und Wissenschaft) entscheidende
Anregungen durch Kants »Kritik der Urteilskraft« von 1790 (vgl. Förs-
ter 2002). Beispielsweise beschreibt Gottfried Körner in einem Brief an
Schiller (datiert auf den 6. Oktober 1790), wie er kürzlich während ei-
nes Besuchs bei Goethe mit ihm unvermutet einige »Berührungspunk-
te« mit Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft entdeckt habe und
wie sie ihr gemeinsames Interesse an Kant dazu genutzt hätten, »nicht
nur über die Natur«, sondern auch über die Kunst zu philosophieren
 
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(vgl. Schiller 1943f., 34.1: 32-33). Die aufs Engste miteinander verbun-
denen Tätigkeiten einerseits des Wissenschaftlers, der Beobachtungen
macht und den empirischen Augenschein arrangiert und interpretiert,
andererseits des Künstlers, der sich Pflanzen vorstellen kann, die nicht
weniger wirklich als die um ihn herum sind, diese beiden Tätigkeiten
umschreiben Goethes Zugang zur Natur. Die folgenden Seiten versu-
chen zu zeigen, wie eine unscheinbare, aber dennoch folgenreiche Dy-
namik in Goethes literarischen und wissenschaftlichen Schriften zur
Metamorphose der Pflanzen am Werke ist. Von der ersten botanischen
Abhandlung bis hin zum letzten Werk über die Spiraltendenz macht
sich auf unterschiedliche Weise ein Element der Kontingenz geltend.
Dieses Element ist als eine Art gegenläufige Kraft zu den vorhersehba-
ren Ergebnissen der Anschauung wirksam, wodurch der beständige
und gesetzmäßige Gang von Wandel und Entwicklung, so wie er sich
dem Auge des Geistes darbietet, bedroht wird.
      Goethes Aufsatz »Die Metamorphose der Pflanzen« (1790) ging aus
der »Entdeckung« der Urpflanze hervor. Die Urpflanze war keine be-
stimmte Pflanzenart, wie Goethe einst erhofft hatte, sondern vielmehr
ein Typus, der als Erklärungsmodell für die Pflanzenentwicklung he-
rangezogen werden kann.1 Goethes Theorie der Metamorphose hat
seit der Zeit ihrer Veröffentlichung bis heute völlig unterschiedliche
Reaktionen ausgelöst. Obwohl Goethe den Aufsatz auf Grundlage sei-
ner eigenen empirischen Beobachtungen erstellte, sind viele seiner Be-
griffe und Beobachtungen alles andere als neu.2 Das Werk ist nicht
insofern scharfsinnig, als hier die Metamorphose der Pflanzen selbst
entdeckt worden wäre, sondern vielmehr durch Goethes einzigartige
Weise, diese mit »den Augen des Körpers« und zugleich mit »den Au-
gen des Geistes« zu sehen (durch das also, was er bei Christian Wolff
noch vermisst hatte) (vgl. HA 13: 32-34), so dass das empirische Phä-
nomen trotz all seiner Vielgestaltigkeit dennoch mit der Idee der Pflan-
ze zur Deckung kommt. Goethes Begriff der Metamorphose verlangt,
dass das geistige und körperliche Auge zwischen dem empirischen
Phänomen und dem angeschauten Urphänomen hin und herwechseln.
Der Beobachter muss die einzelnen Erscheinungen des Phänomens in
      1.  Goethe versteht die Idee als unabhängig von Raum und Zeit; aus diesem
Grund sind »Simultanes und Sukzessives« in einer Idee »innigst verbunden, auf dem
Standpunkt der Erfahrung hingegen immer getrennt« (HA 13: 31).
      2.  Adolf Portmann weist darauf hin, dass der eigentliche Gedanke hinter Goethes
lakonischer Grundaussage zum Urphänomen, »Alles ist Blatt«, von dem englischen Natu-
ralisten Nehemiah Grew bereits im Jahr 1672 ausgesprochen wurde. Das wiederum heißt,
dass Grew unterschiedliche Pflanzenorgane mit einer einzigen Vorstellung vom Blatt ver-
band, dabei freilich nicht den Sprung vom empirischen Augenschein zu einer rein intel-
lektuellen Anschauung wagte (Portmann 1987: 135).
 
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einer Reihe, und dies vorwärts wie rückwärts, ablaufen lassen, so als
ginge es um einzelne Filmbilder, und er muss sie gleichzeitig in ihrer
Ganzheit erfassen.3 Ein solches Sehen, das den Übergang von der
empirischen Beobachtung zur theoretischen Behauptung des Meta-
morphosen-Aufsatzes umfasst, wird möglich, sobald man sich den
Übergang zwischen zwei aufeinander folgenden Stadien der Pflanzen-
entwicklung vorstellt, die nicht in Echtzeit zu beobachten sind.
      Als der Aufsatz zur Metamorphose veröffentlicht wurde, war Goe-
thes Konzeption des Sehens noch nicht gänzlich ausgearbeitet, auch
wenn sie für das Verständnis des Textes entscheidend werden sollte.
Erst in einem kleinen, drei Jahre später geschriebenen Aufsatz widmet
sich Goethe ausschließlich diesem Problem, das nichts Geringeres als
die Methode allen wissenschaftlichen Experimentierens betrifft. Mit
besonderer Berücksichtigung der Botanik und Optik zielt »Der Versuch
als Vermittler zwischen Subjekt und Objekt« (1793) auf das fundamen-
tale Problem, wie ein tätiges, sehendes Subjekt in seiner Konfrontation
mit dem Objekt des wissenschaftlichen Versuchs gedacht werden kann.
Goethe favorisiert hier den zusammengesetzten Versuch, der mehrere
»Reihen« kleinerer Versuche enthält, denn er »stellt die Formel vor,
unter welcher unzählige einzelne Rechnungsexempel ausgedrückt
werden« (HA 13: 18). Goethe betrachtet deswegen die mathematische
Erkenntnis als die höchste Erkenntnisweise, die zudem am besten die
Ergebnisse eines Versuchs auszudrücken vermag. Die diskursive
Funktion mathematischer Beweise versteht er eher als detaillierte Dar-
legungen denn als Argumente (vgl. HA 13: 19). Seine Beschreibung des
Versuchs, in dem der Beweis ein diskursiver Spiegel der ganzheitlichen
Anschauung ist, entspricht der Theorie der Metamorphose. Die Meta-
morphose wird also erst im synthetischen Überblick auf das Phänomen
anschaulich. Versuch wie Theorie hängen gänzlich von der Einheit
zwischen dem Ganzen und seinen Teilen ab, und die Notwendigkeit ei-
ner Wiederholung tut dieser Beziehung keinesfalls Abbruch. Die Wie-
derholung (re)produziert vielmehr das Phänomen im Geist des Beob-
achters und bestätigt ihm die Richtigkeit seiner Anschauung.4
      Goethes Gedicht »Die Metamorphose der Pflanzen« (1798) veran-
lasst den Leser zusammen mit dem lyrischen Ich und dessen Begleite-
rin zu einer ähnlichen gedanklichen Übung: »Werdend betrachte sie
      3.  Nach Eckart Förster kann eine erfolgreiche Anschauung nur folgendermassen
stattfinden: »First, we must follow a natural process completely, from beginning to end.
Second, this process must then be held together, as it were, and viewed as a whole, as a
single phenomenon« (Förster 2001: 92).
      4.  »When we are able to survey an object in every detail […] grasp it correctly
and produce it again in our mind […] we can say that we intuit it in a real and higher
sense« (Förster 2001: 93).
 
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nun, wie nach und nach sich die Pflanze, / Stufenweise geführt, bildet
zu Blüten und Frucht« (ebd.: 9-10). Konzipiert als ein pädagogisches
Gedankenexperiment zu den Etappen der Pflanzenentwicklung als
Manifestationen des Urphänomens, verhehlt es nicht, wie viel es den
Aufsätzen zur Metamorphose der Pflanzen und zum Versuch schuldet.
Auch wenn man die Elegie als ein Mittel des wissenschaftlichen Den-
kens zumeist nicht ernst genommen hat, war Goethe mit genau diesem
Problem beschäftigt. Ein Jahrzehnt vor Veröffentlichung der Elegie
wird in seinen Tagebüchern und Briefen mit Blick auf seine botani-
schen Studien die Frage aufgeworfen, welche Rolle die wissenschaftli-
che Theorie in der Dichtung spielen kann. In einem Brief an Charlotte
von Stein vom 17. Mai 1787, in dem Goethe den Wert der Urpflanze mit
dem »Geheimnis der Pflanzenerzeugung und Organisation« gleichsetzt,
legt er nahe, sie könne auch noch zu andere nützlichen Anwendungen
taugen. Beispielsweise könne, wer den »Schlüssel« zur Urpflanze ver-
stehe, Pflanzen erfinden, so dass
»die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische
oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Not-
wendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden las-
sen.« (LA 9A: 365)5
Goethes Vorstellung von der Urpflanze gleitet zwischen wissenschaftli-
chen und poetischen Diskursen hin und her und stellt zudem in Aus-
sicht, eine vorgestellte Pflanze, wenn sie nur dem richtigen Modell der
Zeugung und Organisation entspricht, könne dieselbe »Wahrheit« und
»Notwendigkeit« haben wie eine empirische. In den Aufsätzen »An-
schauende Urteilskraft« und »Einwirkung der neueren Philosophie«
erkundet Goethe, inwiefern seine Lektüre Kants, der ästhetische und
teleologische Urteile ein und demselben Urteilsvermögen zuschreibt,
sein älteres Vorhaben bestätigt, Kunst und Natur in ihrer Verbunden-
heit zu betrachten.6 Bereits im Aufsatz »Einfache Nachahmung der
      5.  Der Kommentar legt nahe, Goethe habe das Briefdatum fingiert, um sich auf
ein beigefügtes zusätzliches Dokument zu beziehen, und das eigentliche Datum des Ab-
fassung sei der 8. oder 9. Juni 1787.
      6.  Goethe entwarf diese beiden Aufsätze im Jahr 1817, veröffentlicht wurden sie
dann 1820 in einer Neuausgabe seiner morphologischen Schriften. In »Einwirkung der
neueren Philosophie« beschreibt er, welch Freude er empfand, als er bei Kant lesen
konnte, »Dichtkunst« und »vergleichende Naturkunst« seien eng verbunden und dersel-
ben Urteilsform zugehörig: »Hier sah ich meine disparatesten Beschäftigungen neben-
einandergestellt, Kunst und Naturerzeugnisse eins behandelt wie das andere, ästheti-
sche und teleologische Urteilskraft erleuchteten sich wechselweise« (HA 13: 27). In »An-
 
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Natur, Manier und Stil«, erschienen 1789 in der Februarnummer der
Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«, befürwortet Goethe mit besonderer
Berücksichtigung der Botanik das Ideal eines Künstlers als Wissen-
schaftler.7 Zur Frage steht daher, auf welche Weise wissenschaftliche
und poetische Sprache bei Goethe in Beziehung treten. Bei seiner Lek-
türe von Kants »Kritik der Urteilskraft« und während seiner nächtli-
chen Unterredungen mit Schiller kommt Goethe zu dem Ergebnis, die
beiden Sphären seien im Sinne begrifflicher und poetischer Probleme
miteinander verbunden.
      Die angeführte Elegie bringt eine wissenschaftliche Idee (oder An-
schauung) in eine poetische Form und erfindet eine Pflanze, die, weil
sie Goethes Theorie der Metamorphose (als »Schlüssel« zur Urpflanze)
folgt, tatsächlich »existieren könnte«, ohne dass man dabei »poetischen
Schatten und Illusionen« erliegen muss. Die Tagebucheinträge, in de-
nen Goethe die Daten zur Niederschrift der Elegie festhielt (17. und 18.
Juni 1798), weisen überdies darauf hin, dass er sich an Diskussionen
über die dichterische Darstellung wissenschaftlicher Theorien beteilig-
te.8 Die Briefe an Neuenhahn und Knebel, die er während der Folge-
monate schrieb, vertiefen zudem das Problem der Elegie. Seinem Brief
an Neuenhahn vom 14. September legte Goethe sowohl das Gedicht als
auch einen Hinweis auf dessen begriffliche Hintergründe bei:
»Vor einiger Zeit kam ich auf den Gedanken die Idee von Metamorphose der Pflanzen,
durch dichterischen Vortrag, noch weiter zu verbreiten und ich lege hier den Versuch
schauende Urteilskraft«, beschreibt Goethe, wie wir uns, »durch das Anschauen einer
immer schaffenden Natur, zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig« ma-
chen, weshalb ihn nichts mehr daran hindern konnte, Kants »Abenteuer der Vernunft« zu
bestehen (HA 13: 30-31). Eckart Förster widmet sich den weit reichenden Folgen von
Goethes Reaktion auf das »Abenteuer der Vernunft«, was sich auf die Paragraphen 80 und
81 in der »Kritik der Urteilskraft« bezieht.
      7.  »Es ist offenbar, daß ein solcher Künstler nur desto größer und entschiedener
werden muß, wenn er zu seinem Talente noch ein unterrichteter Botaniker ist: wenn er,
von der Wurzel an, den Einfluß der verschiedenen Teile auf das Gedeihen und den
Wachstum der Pflanze, ihre Bestimmung und wechselseitige Wirkungen erkennt; wenn er
die sukzessive Entwicklung der Blätter, Blumen, Befruchtung, Frucht und des neuen
Keimes einsiehet und überdenkt. Er wird alsdenn nicht bloß durch die Wahl aus den Er-
scheinungen seinen Geschmack zeigen, sondern er wird uns auch durch eine richtige
Darstellung der Eigenschaften zugleich in Verwunderung setzen und belehren« (HA 12:
33).
      8.  »18. Metamorphose der Pflanzen. Gedichte in Ordnung. Nachmittags bey Prof.
Fichte. Abends zu Schiller, über die Möglichkeit einer Darstellung der Naturlehre durch
einen Poeten«. Goethe: Tagebücher, Juni 1798, 20 (vgl. WA III: 2, 212).
 
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bey. Linne war liberal genug auch den Dichter unter denjenigen zu nennen welche der
Wissenschaft förderlich seyn könnten, ich wünsche daß mir diese gute Absicht nicht
ganz mißlungen seyn möge.« (WA IV:13, 271-272)
Der Brief weist der Elegie eine doppelte Rolle an: Zum einen soll sie
den Begriff der Pflanzenmetamorphose für ein breiteres Publikum ver-
ständlich machen, zum anderen soll sie der Wissenschaft nützlich sein.
Goethe, der zweifelsohne Linnés Glauben teilt, der Dichter könne bis
zu den Grundfesten der Wissenschaft vordringen, mutmaßt, der
schwedische Botaniker hätte seine Bemühungen mit Wohlgefallen zur
Kenntnis genommen.9
      Die Anschauung des Urphänomens gewährt dem lyrischen Ich eine
Wiederholung und Bestätigung seiner Erkenntnis, in der Elegie zur
Metamorphose der Pflanzen garantiert dies jedoch zunächst nur seine
weibliche Begleiterin: Ihre Initiation in die Geheimnisse der Pflanzen-
metamorphose ermöglicht und untermauert seine Erkenntnis. Das lyri-
sche Ich hält sie dazu an, sich eine Pflanze in der ganzen Spannweite
ihrer Entwicklung vorzustellen: »Werdend betrachte sie nun, wie nach
und nach sich die Pflanze, Stufenweise geführt, bildet zu Blüten und
Frucht« (9-10). Hierzu muss es jedoch diese Pflanze aus ihrem konti-
nuierlichen Werden lösen und die Fiktion eines Anfangs schaffen. Die
Einzigartigkeit geht daher mit dem unzeitlichen »ersten« zuende: mit
der »Gestalt der ersten Erscheinung« und dem ersten »Gebilde«, die
das metaphorische Pflanzenkind kennzeichnen. Der Pflanzenzyklus,
den sie beobachtet, wird zu einer Allegorie ihrer geistigen Erfahrung
und der Transformation, der mit ihr einhergeht.
      Freilich bringen die konjunktivischen Vorzeichen des Verses, in
dem von einer möglichen Einheit die Rede ist, die Elegie aus dem
Gleichgewicht:
      »Freue dich auch des heutigen Tags! Die heilige Liebe
      Strebt zu der höchsten Frucht gleicher Gesinnungen auf,
      Gleicher Ansicht der Dinge damit in harmonischem Anschaun
      Sich verbinde das Paar, finde die höhere Welt.« (HA 77-80)
      9.  In Goethes Brief an Knebel vom 22. März 1799 heißt es, er habe die Idee ei-
nes größeren Projekts noch nicht ganz aufgegeben: »Du hast den kleinen Versuch über
die Metamorphose der Pflanzen gut aufgenommen und Herder hat mir auch etwas be-
sonders freundliches darüber gesagt, welches mich sehr ermuntert an das größere Werk
zu denken« (WA IV: 14, 52-53). In seinem Antwortschreiben bringt Knebel abermals sei-
nen Beifall für Goethes umfangreiches Projekt zum Ausdruck und ermutigt ihn zu seinem
Plan.
 
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»Eine Art Wahnsinn«
Obschon es in Goethes Zeit nicht unüblich war, den Konjunktiv nach
der Konjunktion damit zu wählen, tritt mit ihm hier an die Stelle eines
»wird« ein »sollte« in die ansonsten unfehlbare Logik der Paareinheit.
Diese Idee von Kontingenz, die in der Elegie mit der behaupteten
»Wahrheit« und »Notwendigkeit« im Widerstreit liegt, kann der mögli-
chen Fehlbarkeit des Menschen zugeschrieben werden. Allgemein ge-
sprochen bezieht sie sich jedoch auf eine Tendenz, die Goethes Theo-
rie der Metamorphose, wie sie hier skizziert wurde, zu widersprechen
scheint. Tatsächlich bildet die Elegie hier keine wirkliche Ausnahme,
findet sich diese Gegentendenz doch bereits im Aufsatz von 1790 und
in Goethes dritter Kategorie der Metamorphose. Goethe beschreibt die-
se dritte Art als »zufällig«, wozu er einige Fälle von Metamorphose an-
führt, die durch Insekten »von außen« angestoßen werden und deshalb
der Idee der Metamorphose zuwiderlaufen, wie sie dem empirischen
Phänomen der Pflanze entspricht (HA 13: 65).10 Man sollte vielleicht
nicht gleich so weit gehen, zu behaupten, in Goethes Gedicht werde
tatsächlich diese Art von kontingenter Metamorphose für möglich er-
achtet, die in dem früheren Aufsatz bewusst beiseite gelassen wurde;
doch ist es auffällig, dass beide Modelle der Pflanzenmetamorphose
genügend Spielraum gewähren für eine Logik der Kontingenz. Wenn
auch aus unterschiedlichen Gründen, so könnte das, was der Begriff
der Metamorphose als notwendig postuliert, in beiden Fällen auch
nicht vorkommen. Darüber hinaus wird Goethes Aufsatz zur Spiralten-
denz ein neuerliches Interesse am Problem des Kontingenten enthül-
len, an dem, was in einer ansonsten vorhersagbaren Pflanzenentwick-
lung nicht »gesetzesmäßig« notwendig ist.
2. Die Spiraltendenz
Fast vierzig Jahre nach Veröffentlichung seines Aufsatzes zur Meta-
morphose der Pflanzen wurde Goethe durch eine neue Theorie auf
dem Feld der Botanik dazu ermutigt, abermals in dieser Disziplin tätig
zu werden und sein Frühwerk nochmals zu überdenken. Die betreffen-
de Theorie zielte auf die Spiralgefäße von Pflanzen und behauptete,
diese seien Teil einer umfassenderen Tendenz, welche die unter-
schiedlichen Pflanzenorgane dazu anregt, in Form einer Spirale um
eine vertikale Achse herum zu wachsen.
      10.  An diesem Punkt des Aufsatzes gibt Goethe seinen Lesern eine Anweisung, die
derjenigen des Gedichts geradezu widerspricht: Auf Goethes Geheiß hin werden wir von
dieser Art der Metamorphose »unsere Aufmerksamkeit wegwenden, weil sie uns von dem
einfachen Wege, welchem wir zu folgen haben, ableiten und unsern Zweck verrücken
könnte« (HA 13: 65).
 
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Jocelyn Holland 
      Einer der ersten Botaniker, die diese Theorie der Wissenschafts-
gemeinde vorstellen sollten, war Carl Friedrich von Martius, ein Pro-
fessor der Botanik und Kurator der königlich botanischen Gärten in
München. Martius präsentierte seine Beobachtungen bei Vorträgen,
die er in Berlin und in München für die Isis-Gesellschaft hielt, welche
dann 1828 und 1829 die Protokolle als einen zweiteiligen Artikel edier-
te. Ein Brief von Goethe an Martius vom 28. März 1829 enthält einen
ersten (wenn auch flüchtigen) Verweis auf Martius’ Entdeckung. Die
folgenden drei Jahre jedoch, bis zur Woche vor Goethes Tod im März
1832, zeugen von einer zusehends hektischen Betriebsamkeit. Goethes
Korrespondenz, seine zahlreichen Notizen und Tagebucheinträge und
nicht zuletzt die Veröffentlichung des Aufsatzes »Über die Spiralten-
denz« (1831) bezeugen allesamt seine anhaltende Faszination.11 In ei-
nem Brief an Ernst Heinrich Friedrich Meyer bringt er sein eigenes Er-
staunen über die Wende seines Schicksals zum Ausdruck: »Daß ich
nahe am Ende meiner Laufbahn noch von dem Strudel der Spiralten-
denz ergriffen werden sollte, war auch ein wunderlich Geschick« (WA
4,49: 251).
      Goethes Begeisterung für die Spiraltendenz kann teilweise dadurch
erklärt werden, dass sie zu seiner eigenen Auffassung der Metamor-
phose gut passt. Auch Martius unterstreicht diesen Zusammenhang
und zitiert Goethe explizit in seiner Rede von 1829, in der er Goethes
Konzeption der Metamorphose im Wesentlichen übernimmt und ihr
eine mathematische Ordnung unterlegt. Martius stellt hier zu den or-
ganischen »Bewegungen« der Blätter fest, dass sie die Blüte als kreis-
förmige Umläufe bilden und klassifiziert sie entsprechend ihrer Zahl
und Größe. In seinem Essay von 1831 bezieht sich Goethe auf die Spi-
raltendenz als das, »wodurch Blüte und Fruchtstand eigentlich gebildet
und bestimmt wird« und fasst Martius’ Auffassung zusammen: »Die
Konstruktion einer Blüte beruht […] auf einer, für jede Gattung eigen-
tümlichen Stellung und Anordnung einer gewissen Anzahl metamor-
phosierter Blätter« (LA I: 10, 339). Folgerichtig wagt es Martius, »eine
symbolische Bezeichnung für die Einzelnheiten zu unternehmen und
ein neues System darauf zu erbauen« (LA I: 10, 339-340). Er über-
nimmt Goethes Auffassung des Urphänomens, das ja entscheidend für
die Theorie der Metamorphose ist, sein Beharren auf der Spirale je-
doch legt dem botanischen Diskurs eine Figur zugrunde, deren meta-
phorische Provenienz nicht zu übersehen ist.12
      11.  Die Forschungsliteratur zu Goethe und der Spiraltendenz beschränkt sich bis-
lang auf ein paar vereinzelte Aufsätze (in erster Linie zur Spiraltendenz als einem litera-
rischen Motiv in Goethes Werk), auf Geschichten der Botanik wie diejenige von Sachs
und auf die Kommentare in den unterschiedlichen Goethe-Ausgaben. Vgl. hierzu Hans
Froebe (1969), Robert Stockhammer (1993) sowie Aeka Ishihara (2005: 169-197).
 
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»Eine Art Wahnsinn«
      Einmal vorausgesetzt, die Theorie der Spiraltendenz hänge von
eben jener Anschauung des Urphänomens ab, die schon für Goethes
Frühwerk grundlegend war, so könnte man davon ausgehen, Goethe
sollte sich ihr ohne größere Schwierigkeiten angepasst haben. Doch
bezeugen nicht nur Goethes Notizen und Briefen genau das Gegenteil.
Auch lässt sich behaupten, Goethe sei das anschauliche Denken dies-
bezüglich nicht besonders leicht gefallen. In »Bedenken und Erge-
bung« schreibt Goethe: »Eine Naturwirkung, die wir der Idee gemäß als
simultan und sukzessiv zugleich denken sollen, scheint uns in eine Art
Wahnsinn zu versetzen.« (HA 13: 31) Dieselbe Schwierigkeit kommt
wieder zutage, sobald Goethe mit der Aufgabe konfrontiert ist, sich die
Vertikal- und Spiraltendenzen in ihrer Gemeinsamkeit vor Augen zu
führen.13 Goethe stellt die Spiraltendenz der Vertikaltendenz entge-
gen; zusammen ersetzen sie die – im Aufsatz von 1790 ausgeführten –
Funktionen von »Wachstum« und »Zeugung«. Eine wichtige Unter-
scheidung besteht darin, dass das Frühwerk zu einer Logik der Alter-
nation neigte, während der Aufsatz zur Spiraltendenz lieber davon
spricht, eine Tendenz »herrsche« über die andere oder »überwältige«
sie, obwohl beide während der gesamten Pflanzenentwicklung wirksam
seien.14 Goethe gibt zu, es sei schwer – ja sogar »unmöglich« – das ge-
meinsame Wirken der Vertikal- und Spiraltendenzen in Form einer
intellektuellen Anschauung herbeizuzaubern.15 Er greift deshalb auf
      12.  Lediglich in Goethes Schriften kommt der Spirale auch außerhalb der Botanik
eine grundlegende Vorgeschichte zu. Im Bereich des Anorganischen dient sie als eine
»mechanische Erklärung« für den Magnetismus (LA II: 11, »Geschichte des Magnetis-
mus«), sie beschreibt mineralische Formationen (vgl. Goethes Tagebuch vom 6. Novem-
ber 1830 zur Vertikal- und Spiraltendenz im Reich der Mineralien [WA III: 12, 327]) und
beschreibt die Erdbewegung, die nach Goethe eine »lebendige Spirale« und »belebte
Schraube ohne Ende« ist (LA II: 12, Versuche einer Witterungslehre 1825). Überdies
spielt die Spirale als eine geognostische oder astronomische Figur auch in Goethes lite-
rarischer Poetik eine wichtige Rolle. Im Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre, wandelt
Makarie »seit ihrer Kindheit um die Sonne, und zwar, wie nun entdeckt ist, in einer Spi-
rale, sich immer mehr vom Mittelpunct entfernend und nach den äußeren Regionen hin-
kreisend« (HA 8: 449). Goethe behauptet, es sei der Weg aller »geistigen Wesen«, vom
Mittelpunkt weg zur Peripherie hin zu kreisen (HA 8: 449).
      13.  Eckart Förster zitiert diese Passage, wo er Goethes Begriff der Metamorphose
als ein Beispiel des »intuitiven Verstands« interpretiert, so wie er in den Paragraphen 76
und 77 der »Kritik der Urteilskraft« vorgeschlagen wird. Vgl. Förster 2002.
      14.  »[K]eins kann von dem andern abgesondert gedacht werden, weil nur eins
durch das andere lebendig wirkt […] Aber nötig ist, zur bestimmteren Einsicht […] sie
in der Betrachtung zu trennen und zu untersuchen: wie denn eins oder das andere wal-
tet, bald seinen Gegensatz überwältigt, bald von ihm überwältigt wird, oder sich mit ihm
ins Gleiche zu stellen weiß« (LA I: 10, 340).
 
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ein »Gleichniß« zurück:
»Man trete zur Sommerzeit vor eine im Gartenboden eingesteckte Stange, an welcher
eine Winde von unten an sich fortschlägelnd in die Höhe steigt, sich festanschließend
ihren lebendigen Wachsthum verfolgt. Man denke sich nun Convolvel und Stange, beide
gleich lebendig, aus einer Wurzel aufsteigend, sich wechselsweise hervorbringend und so
unaufhaltsam fortschreitend. Wer sich diesen Anblick in ein inneres Anschauen verwan-
deln kann, der wird sich den Begriff sehr erleichtert haben.« (LA 10: 355)
Der Vergleich, den Goethe nahe legt, setzt mindest drei Gedankengän-
ge voraus: Zunächst muss man sich vorstellen, dass die Gartenstange
ein lebendiges Wesen ist; alsdann muss man sich die Entwicklung der
Stange und – davor noch – der Weinrebe vorstellen, ehe man zu guter
Letzt dieses Bild in eine intellektuelle Anschauung transformiert, die
identisch ist mit der der Urpflanze. Doch selbst dann ist der Vergleich
noch nicht ganz passend, wie Goethe im Entwurf eines Briefes an Kas-
par von Sternberg erwähnt.16 Warum sich nun eine Anschauung der
Vertikal- und Spiraltendenzen für Goethe als derart schwierig erweist,
weshalb er auf einen Vergleich ausweicht, mit dem er nicht zufrieden
ist, und warum er fürchtet, dieses Problem der Spiralförmigkeit sei für
die künftigen Generationen eher ein »gordischer Knoten« als ein »lie-
bevoller Knaul«17, diese Fragen lassen sich am besten beantworten,
indem man die Theorie der Pflanzenmetamorphose, so wie sie sich vor
und nach Einfluss der Spiraltendenz gestaltete, genauer in Augen-
schein nimmt (vgl. WA IV: 49, 194).
      15.  »Die große Schwierigkeit jenes Zusammenwerkens der in Eins verbundenen
und verschlungenen Vertikalität und Spiralität dem Anschauen lebendig zu erhalten, die
Unmöglichkeit dieses zu leisten drängt mich neulich zu einem Gleichniß, sey es erlaubt
solches hier einzuschalten« (WA II: 7, 54).
      16.  In Bezug auf das Beispiel der Stange und der Winde schreibt Goethe: »Freylich
paßt dieses Gleichniß auch nicht ganz, denn im Anfang müßte die Schlingpflanze sich
um den sich erhebenden Stamm in kaum merklichen Kreisen herumwinden. Je mehr er
sich aber der oberen zartern Spitze näherte desto schneller müßte die Schneckenlinie
drehen um endlich in Einem Kreise, auf Einem Diskus sich zu versammeln, dem Tanze
ähnlich, wo man sich, in der Jugend, gar oft Brust an Brust, Herz an Herz mit den lie-
benswürdigsten Kindern, selbst wider Willen, gedrückt sah. Verzeihung diesem Anthro-
[po]morphism« (WA IV: 49, 446 – 447).
      17.  »Die Anzeige unsres werthen Carus von meinem letzten deutsch-französischen
Hefte wird mich höchlich erfreuen und fördern. Mit den neu hervortretenden Betrach-
tungen über die Spiralität übergeben wir den Nachkommen mehr einen gordischen Kno-
ten als einen liebevollen Knaul. Auf diesem Punct [sic] hab ich große Aufmerksamkeit
verwendet, andere mögen auch sehen wie sie zurecht kommen« (WA IV: 49, 194).
 
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»Eine Art Wahnsinn«
      Nicht anders als in seinem Aufsatz von 1790 gebraucht Goethe hier
eine Sprache der Geschlechtercodes, um das Pflanzenwachstum zu be-
schreiben, und sexuelle Begrifflichkeiten, um die Vertikal- und Spiral-
tendenzen zu beschreiben. Die Vertikaltendenz »äußerst sich von den
ersten Anfängen des Keimens an, sie ist es, wodurch die Pflanze in der
Erde wurzelt und zugleich sich in die Höhe hebt« (LA I: 10, 341). Sie
richtet die Achse der Pflanzenentwicklung aus, schafft Kontinuität und
umfasst »das männlich stützende Prinzip« (LA I: 10, 341). Die Spiral-
tendenz hingegen ist »das eigentlich Produzierende Lebensprinzip«
und »auf die Peripherie angewiesen« (LA I: 10, 341, 345). Goethe be-
schreibt die Spiraltendenz darüber hinaus als »das Fortbildende, Ver-
mehrende, als solches Vorübergehende, sich von jenem gleichsam iso-
lierend« und in einer überraschenden Wendung als »abschließend, den
Abschluß befördernd« (LA I: 10, 357).
      Goethe löst die Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit
aus ihrer besonderen Beziehung zu den Geschlechtsorganen und ver-
steht diese beiden Metaphern in einem weiteren Sinn, so dass sie sich
ohne Einschränkung auf sämtliche Stadien der Pflanzenentwicklung
erstrecken können. Der Aufsatz zur Spiraltendenz beschreibt die Was-
serpflanze Valisneria, in deren Fall männliche und weibliche Fort-
pflanzungsorgane unterschiedliche Pflanzen einbegreifen. Dieses Bei-
spiel erlaubt es Goethe, vom Besonderen zum Allgemeinen voranzu-
schreiten und spornt ihn zudem zum freimütigsten Gebrauch einer
geschlechterkodierten Sprache an:
»Kehren wir nun ins Allgemeinste zurück und erinnern an das, was wir gleich anfangs
aufstellten: das vertikal- so wie das spiralstrebende System sei in der lebendigen Pflanze
aufs innigste verbunden; sehen wir nun hier jenes als entschieden männlich, dieses als
entschieden weiblich sich erweisen: so können wir uns die ganze Vegetation von der
Wurzel auf androgynisch ingeheim verbunden vorstellen, worauf denn, in Verfolg der
Wandlungen des Wachstums die beiden Systeme sich im offenbaren Gegensatz auseinan-
der sondern, und sich entschieden gegeneinander überstellen, um sich in einem höhern
Sinne wieder zu vereinigen.« (LA I: 10, 362)
Der letzte Satz erinnert an den letzten Vers in der Elegie zur Metamor-
phose der Pflanzen – Sich verbinde das Paar, finde die höhere Welt. Und
in der Tat setzen sowohl der Essay zur Spiraltendenz als auch die Ele-
gie zur Metamorphose von Beginn an »männliche« und »weibliche«
Elemente voraus. In seinem Aufsatz zur Metamorphose der Pflanzen
von 1790 stellt Goethe die Entwicklung von Geschlechtsorganen wäh-
rend der Fortpflanzungsperiode vor dem Hintergrund des geschlechts-
losen Phänomens des Wachstums dar. Das neuere Modell der Vegeta-
tion hält an dem androgynen Rahmen fest und besetzt die Elemente
von Männlichkeit und Weiblichkeit neu. Obwohl das eine oder andere
zu einem gegebenen Augenblick beherrschend sein mag, sind doch so-
 
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Jocelyn Holland 
wohl die männlichen wie weiblichen Elemente unablässig präsent –
genauso, wie das Gedicht männliche und weibliche Präsenz durch den
Akt der Anschauung miteinander verbindet.
      Verglichen mit seinen früheren Beschreibungen zur Metamorphose
der Pflanzen ist der auffälligste Sprachwechsel, der Goethes Beschrei-
bung der Spiraltendenz charakterisiert, sein Beharren auf einem »Ab-
schluß«. Die fragliche Schlussfolgerung könnte empirisch sein (etwa
der »Tod« der Pflanze) oder einfach das vorgestellte Ende eines
Wachstumszyklus, und Goethes Sprachgebrauch bewahrt eben diese
Zweideutigkeit. Er definiert die Spiraltendenz als den »Abschluß des
Blütenstandes« (LA I: 10, 355) und weist an anderer Stelle darauf hin,
dass sie sich »am auffallendsten bei Endigungen und Abschlüssen«
enthüllt (LA I: 10, 342). Die Spiraltendenz ist zudem das, »wodurch die
Pflanze ihren Lebensgang vollführt und zuletzt zum Abschluß und
Vollkommenheit gelangt« (LA I: 10, 344). Und dennoch enthalten die
entsprechenden Passagen in der »Metamorphose der Pflanzen« (1790),
die die Bildung von Blüte und Frucht thematisieren, und der anschlie-
ßende Übergang zur Bildung des Samens und der neuen Pflanze kei-
nen Hinweis auf einen »Abschluß«. Das war freilich zu erwarten, weil
Goethe den Begriff der Metamorphose derart konzipiert hatte, dass je-
des Stadium der Pflanzenentwicklung in Begriffen der angrenzenden
Stadien beschrieben werden kann, was für Blüten ebenso stimmt wie
für die Frucht und den Samen. Auch kann es keinen Zweifel darüber
geben, dass Goethe seinen Begriff der Metamorphose zwischen 1790
und 1831 so angelegt hat, dass die Vorstellung eines Kontinuums zwi-
schen unterschiedlichen Pflanzengenerationen fragwürdig werden
musste. Mit seiner Vorstellung vom »Abschluß« führt Goethe, wie man
sagen kann, das Problem des Kontingenten wieder ein, ohne sein Ver-
ständnis des Metamorphosenbegriffs revidieren zu müssen. Nach 1831,
als Goethe von der Spiraltendenz am »Ende« oder »Abschluß« der
Pflanze spricht, wird das Ende des Lebenszyklus (so wie er dem
Wachstumszyklus entgegen steht) nicht ausgeschlossen. So benennt
etwa eine Anmerkung in den Paralipomena zum Spiraltendenz-Aufsatz
»Beyspiele der pathologischen Manifestationen der Spiral-Tendenz.
Alter, Absterben, Vollendung seines organischen Laufes« (WA II: 13,
94). Die Möglichkeit, die Spiraltendenz könne sich selbst als Pathologie
erweisen, erinnert an Goethes Beschreibung der »dritten« oder »zufäl-
ligen Metamorphose« im Aufsatz von 1790, wo er die Möglichkeit der
Kontingenz zur Sprache brachte. Das »pathologische« Potential der
Spiraltendenz steht deshalb, als ein empirisches Phänomen, im Gegen-
satz zu jener Anschauung der Spiraltendenz, die sie als »schaffend«,
»anhaltend« oder »vorübergehend« erfasst. Der Anschauung der Spi-
raltendenz als ein Übergang tritt unweigerlich ihre Wirklichkeit als ein
Endpunkt hinzu und entgegen.
 
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»Eine Art Wahnsinn«
      Goethes sämtliche bekannten Schriften zur Metamorphose – der
Aufsatz von 1790, die Elegie von 1798 und der spätere Aufsatz zur Spi-
raltendenz von 1831 – tragen der Möglichkeit eines Strebens Rechnung,
das der Theorie der Metamorphose zuwiderläuft. Dieses Gegenstreben
ist auf unterschiedlichen Ebenen wirksam. In Begriffen der Logik for-
muliert, ist es der Zufall oder die Kontingenz, dass die Metamorphose
nicht zustande kommt, wie es von ihr zu erwarten wäre, das heißt wie
es eine exakte Anschauung vergegenwärtigen würde. Dieses Element
von Kontingenz kann in der dritten Kategorie der Metamorphose ge-
funden werden, die »von außen« verursacht wird, aber auch als Geste
der Ermahnung in der Elegie, die zur künftigen Vereinigung des Paares
eher anstachelt als sie zu versprechen, und schließlich als eine Patho-
logie innerhalb der Spiraltendenz, die das Wachstum zum Erliegen
bringt. Das Problem liegt, wie man auch sagen könnte, weniger darin,
ob nun die erwünschte Metamorphose zustande kommt, als darin, eine
für sie angemessene Beschreibungssprache zu finden. Deshalb beklagt
der Aufsatz von 1790 den Mangel eines Worts, das von den empiri-
schen Elementen des wandelbaren Phänomens unterschieden und zu-
gleich, als Metapher, seine genaue Beschreibung ist. Auf dieselbe Wei-
se setzt auch die Elegie ein gleichwertiges »lösende[s] Wort«, voraus,
ohne seine Existenz zu verifizieren. Die Thematik der Spiraltendenz
kommt auf das Problem einer diskursiven Beschreibung jener An-
schauung zurück, die zwischenzeitlich an Komplexität zu gewonnen
haben scheint. Der Beobachter muss sich nicht nur die Pflanze in ei-
nem andauernden Zustand des Übergangs vergegenwärtigen, um eine
genaue Anschauung zu erlangen, sondern mit seinem geistigen Auge
auch der Doppelbewegung von Vertikal- und Spiraltendenz Rechnung
tragen: Der zweidimensionale »Film« ist zu einem Hologramm gewor-
den. Die Verbindungen, die zwischen diesen drei epochalen Augenbli-
cken in Goethes Denken hervorgetreten sind, zeitigen noch andere
Folgen für seine Auffassung von Form. Wenn man für gewöhnlich dazu
tendiert, von Goethes Form zu behaupten, sie entstehe stets aus einer
vorangehenden Form, um bruchlos in eine andere überzugehen, dann
stellt nach der hier vorgestellten Analyse die »Gegentendenz« eine
problematische Spannung dar. Diese Spannung besteht zumindest in
Goethes Spätwerk darin, dass die Form in der Tat ein Ende haben
kann, das sich von einer Teilung oder Trennung als wahrnehmbares
Phänomen – welches wiederum die Geburt eines getrennten Organis-
mus, einer getrennten organischen Form definiert – deutlich unter-
scheidet. Was aus alledem für das Formproblem in Goethes Spätwerk
folgt – und auf einer breiteren Materialbasis für seine poetischen Texte
untersucht werden könnte –, wäre die These, dass die Vorstellung von
einem »Ende« oder, provokanter, von einem »Tod« eine immanente
Komponente in Goethes Formbegriff darstellt, eine Komponente, die
 
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Jocelyn Holland 
die Forschung bisher übersehen hat. Mit der Einführung dieser endli-
chen Dimension ist auch die Anschaulichkeit der Goetheschen Form
selbst infrage gestellt. Vielmehr findet sie sich in der Spiraltendenz ei-
ner permanenten Metamorphose unterworfen, die Goethe nur noch als
›eine Art Wahnsinn‹ fassen kann.
Übersetzung: Burkhardt Wolf
Literatur
HA Goethes Werke: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, München: Beck,
1981.
LA Die Schriften zur Naturwissenschaft: vollständige mit Erläuterungen.
Weimar: H. Böhlaus Nachfolger, 1989f.
WA Goethes Werke, Weimarer Ausgabe. München: Deutscher Taschen-
buch Verlag, 1987f.
Förster, Eckhart (2001): »Goethe and the ›Auge des Geistes‹«. In: Deut-
sche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesge-
schichte 75(1), S. 87-101.
Förster, Eckart (2002): »Die Bedeutung von § 76, § 77 der Kritik der Ur-
teilskraft für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie«. In:
Zeitschrift für philosophische Forschung. 56(2): S. 169-190.
Froebe, Hans (1969): »Ulmbau und Rebe«. In: Jahrbuch des Freien Deut-
schen Hochstifts, Tübingen, S. 164-193.
Ishihara, Aeka (2005): Goethes Buch der Natur. Ein Beispiel der Rezep-
tion naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden in der Lite-
ratur seiner Zeit, Würzburg: Königshausen & Neumann.
Portmann, Adolf (1987): »Goethe and the Concept of Metamorphosis«.
In: Frederick Amrine/Francis Zucker/Harvey Wheeler (Hg.), Goethe
and the Sciences: A Reappraisal, Dordrecht: Reidel.
Schiller, Friedrich (1943f.): Werke. Nationalausgabe, Weimar: H. Böh-
laus Nachfolger.
Stockhammer, Robert (1993): »Spiraltendenzen der Sprache. Goethes
Amyntas und seine Theorie des Symbols«. In: Poetica 25, S. 129-154.
 
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