Petra Löffler [rezens.tfm] 2009/2 Rezension zu Annette Bitsch, Gespenster des Digitalen. Die Genealogie des Unbewussten aus der Medientheorie und Philosophie der Zeit. Bielefeld: transcript 2008. ISBN 978-3-89942-958-9. 544 S. Preis: € 42,80. von Petra Löffler Mit erheblichem theoretischem Aufwand versucht die umfangreiche Studie von Annette Bitsch, die ge‐ meinsame Herkunft des psychoanalytischen Den‐ kens sowie der Vorstellung einer diskreten Zeit zu rekonstruieren, die von Diskursen, Medien und Techniken geprägt wurde. Nicht nur die Psychoanalyse Sigmund Freuds und Jacques Lacans wird daher einer eingehenden medi‐ entheoretisch informierten Relektüre unterzogen, sondern gleichfalls philosophische Konzepte des Subjekts, des Seins und der Zeit von Descartes bis Heidegger werden herangezogen, um eine Genealo‐ gie vom Denken des Unbewussten zu entwickeln. zuletzt durch die neue Zeit der neuen Medien for‐ Zeitlich reicht die Untersuchung von den Experi‐ matiert" (S. 44). Ihre Auswahl begründet die Autorin mentalwissenschaften des ausgehenden 19. Jahrhun‐ etwa im Falle der Wechselstromphysik durch deren derts bis zur Kybernetik des 20. Jahrhunderts. The‐ Beitrag zur "Genealogie der elektrischen und elektro‐ matisch umfasst sie so unterschiedliche Wissensge‐ nischen Medien" und ihre "entscheidende Rolle für biete wie Wechselstromphysik, Psychophysik, Ky‐ den die Zeit und das Gedächtnis betreffenden epis‐ bernetik, Strukturalismus und strukturale Linguis‐ temologischen Wechsel" (S. 43f). Auf diesen als zen‐ tik. Das ist zweifelsohne ein ebenso umfangreiches tral angesehenen Wechsel der Zeitvorstellung baut wie (wissensgeschichtlich und methodologisch ge‐ die gesamte Argumentation des Buches auf. Im Kern sprochen) anspruchsvolles Programm, das Wechsel‐ lautet sie: "Die Vorstellung von Zeit als lineare Folge wirkungen zwischen der Vorstellung einer Diskreti‐ von Momenten wird zutiefst verstört durch die dis‐ on zeitlicher Momente und den von der Psychoana‐ krete Zeit der elektromagnetischen Resonanzen, die lyse beobachteten Divergenzen zwischen Subjekt schließlich zur technischen Realisierung des digita‐ und Objekt, zwischen Subjekt und Sein behauptet. len Takts eines jeden Computers werden, irreversibel Die operationalen Subjekt- und Seinskonzepte der in seinem realen Ablauf und rekursiv in seiner sym‐ Psychoanalyse werden, so lautet die These, "nicht bolischen Form" (S. 44). Bitschs Studie arbeitet mit Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2009/2 | Veröffentlicht: 2009-11-17 URL: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/r76 Petra Löffler [rezens.tfm] 2009/2 einem Begriff des Digitalen, der von seiner finalen die Wissenschaften revolutioniert, der andere, weil Implementierung und Ausformulierung im Medium er die Implikationen der "operationalen Klüftung" Computer entscheidend geprägt ist. Unversehens von Sein und Nicht-Sein als "in der Notation des Di‐ bekommt das genealogische Projekt einen telelogi‐ gitalcomputers verschlüsseltes Thema" erkannt habe schen Anstrich – Genealogie hört da auf, wo (Medi‐ (S. 58). Dabei setzt Lacans Konzeption des Unbe‐ en-)Teleologie anfängt! Zugleich strebt die Studie wussten als Korpsifizierung der Autorin zu Folge die "eine Revision der Geschichte des Strukturalismus" Vermessung und Verdrahtung der Seele oder Psyche (S. 45) an, die nicht erst im beginnenden 20. Jahr‐ des Menschen in den experimentalphysiologischen hundert, sondern bereits früher, nämlich mit der und psychiatrischen Laboren voraus. Wechselstromphysik des 19. Jahrhunderts eingesetzt habe. Diese Revision ist der Autorin allein schon des‐ Der eigentlichen Untersuchung ist ein Präludium halb wichtig, weil sie den Begriff des Unbewussten genanntes Kapitel vorangestellt, in dem Freuds The‐ selbst einer Reformulierung unterzieht. Gegen seine orie des Unbewussten als Theorie der Wiederholung Vereinnahmung durch den Strukturalismus und die vorgestellt wird. Dieses Unbewusste ist prädestiniert einseitige Betonung der sprachlichen Verfasstheit (um nicht zu sagen: verflucht) zur endlosen Wieder‐ des Unbewussten setzt sie dessen unvordenklich Re‐ holung, da es keinen Ursprung, keine Ursache ales. Diese zwei Seiten werden auch terminologisch kennt, die anders als verstellt zugänglich ist. Ein Ob‐ im Wortungetüm "das-Freud'sche-und-wie- eine Spra‐ jekt wieder finden bedeutet daher, wie Bitsch betont, che-strukturierte-Unbewusste" (S. 55) gefasst. es überhaupt erst zu erzeugen. In diesem Zusam‐ menhang kommt auch der Traum, den Freud als be‐ Die Autorin geht dabei von der Beobachtung aus, sondere Denkform bezeichnet hat, zum Zuge. An dass in der Episteme der Moderne nicht nur die Un‐ diesem berühmten anderen Schauplatz, an dem das terscheidung zwischen Subjekt und Objekt kollabiert Subjekt ganz bei sich sei, ereignen sich jene Ausfälle ist, sondern dass die modernen Wissenschaften des Ich, Unfälle des Bewusstseins und Zustände des durch "Erfahrungen des Diskontinuierlichen, des Di‐ Kontrollverlusts, die Bitsch als "diskrete Gespenster" vergenten, der Stockung, des Traumas und der Dif‐ (S. 17), als Dissonanz zwischen dem Denken und ferenz" (S. 58) gekennzeichnet sind. In diesen Hori‐ dem 'Ich denke', jener cartesianischen Formel der zont rückt sie das Freudsche Unbewusste, das als Selbstgewissheit, als "die Erfahrung eines anderen, "Bereich der absoluten Unerfahrbarkeit oder Unbere‐ post-cartesianischen Seins" (S. 18) bezeichnet. Mit chenbarkeit" (ebd.), als das Reale im Sinne Lacans Freuds "Revolution des Subjektbegriffs", die zugleich fungiert. Das Unbewusste schließt Bitsch darüber eine "Revolution des Gedankens" (S. 19) zur Folge hinaus mit Wolfgang Hagens Konzept des 'medialen gehabt habe, sei eine andere Logik als die des Be‐ Realen' kurz, um den Konnex zwischen Psychoana‐ wusstseins installiert worden – die der vollkommen lyse und Medienwissenschaft medienarchäologisch artikulierten "Kausalität des Unbewussten" (S. 20). abzusichern, denn die Rolle der Medienwissenschaft Kern dieser Kausalität sei die unwiderrufliche Tren‐ für die Genealogie des Unbewussten erweist sich in nung des Bewusstseins vom "fortlaufenden Gedan‐ ihren Augen "systematisch wie historisch und inhalt‐ ken des Unbewussten" (S. 20), dem die Wiederho‐ lich wie methodisch als fundamental" (S. 57). Das lung als Takt eingeschrieben sei: "Denken ist Wieder‐ Anliegen des Buches sei es deshalb, "die Theorie und holung" (ebd.), lautet ein Kernsatz des Buches. Wie‐ Praxis der Wiederholung als eine Medientheorie, derholung ist auch für Bitsch gleich bedeutend mit präziser: eine Medienontologie zu denken und zu Differenz und damit stets Aufschub ihrer selbst. rekonstruieren." (S. 57) Als Gewährsmänner einer Hartnäckigkeit, Abgründigkeit und Unheimlichkeit solchen Lehre vom Sein der Medien kommen für der Wiederholung erscheinen in dieser Perspektive Bitsch nur Freud und Lacan in Frage – der eine, weil als Fluch des Subjekts (insbesondere der Wissen‐ er "das in eine unaufhörliche und ursprungslose schaft) – ein Fluch, den die Autorin durchaus ernst Wiederholung versetzte Sein" 'sich entdeckte', das nimmt. Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2009/2 | Veröffentlicht: 2009-11-17 URL: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/r76 Petra Löffler [rezens.tfm] 2009/2 Dementsprechend lässt sich der über das Buch ver‐ wie gegen eine Vereinahmung des Freudschen und streute und an sich selbst gerichtete Fragenkatalog Lacanschen Unbewussten durch die strukturale Lin‐ (auch) als Beschwörungsformel verstehen: "Wie eine guistik. An dieser Stelle sei noch einmal daran erin‐ Geschichte über die Theorie und Praxis einer Wie‐ nert, was Michel Foucault unter Genealogie versteht. derholung wiederholen? Wie anfangen und wo auf‐ Diese stehe im Gegensatz zur teleologisch argumen‐ hören mit der Sekundärliteratur? Wie, wo, wann tierenden Historie, schreibt er in Nietzsche, die Genea‐ den Einstieg finden in diese Zirkulation von Wieder‐ logie, die Historie, wie zur Suche nach dem Ursprung holungen, in die Spirale, die Schwindel erzeugt und selbst. Darüber hinaus führe die Analyse der Her‐ das Bewusstsein verlieren macht?" (S. 25) Das Buch kunft zu den Orten und Plätzen, wo all die Irrtümer zelebriert zwanghaft das Wiederholungsprinzip und und Abweichungen oder totalen Umschwünge sich macht es zur Textmaschine. Bitsch teilt darin Lacans ereignet haben und den Faden der Herkunft zer‐ Auffassung, wonach das Subjekt des Unbewussten streuen. Solche verstreuten Irrtümer, Abweichungen im Prinzip des Wiederholungszwangs anzusiedeln und totalen Umschwünge kommen in Bitschs Studie sei. Dabei bringt sich die Autorin selbst in die Gefahr gewiss zu kurz. des Selbstverlusts, in die Gefahr, keine Stoppregel, kein Ende finden zu können: "Wie ein Buch über die Unweigerlich stellt sich daher die Frage, ob sich der Geschichte der Psychoanalyse schreiben ohne nega‐ immense theoretische Aufwand lohnt. Man muss tive therapeutische Reaktion?" (S. 34) Bitsch be‐ schon einen langen Atem mitbringen, um Bitschs schwört (diskrete) Gespenster, ohne sich sicher zu Untersuchung in vollem Umfang erschließen zu sein, sie auch bannen zu können. Dies offen auszu‐ können – oder sich durch die endlosen Kreisläufe sprechen, kann man der Autorin als Chuzpe anrech‐ und litaneihaften Wiederholungen der Argumentati‐ nen, als Unverfrorenheit gegenüber den Gepflogen‐ on in Trance versetzen lassen. In jedem Fall bleibt je‐ heiten des akademischen Diskurses, als bewusst ge‐ doch der Eindruck haften, der ganze argumentative setzte Zäsur gegen ein wissenschaftliches Denken, Aufwand dient letztlich dem (eingangs abgewiese‐ das sich mit vermeintlichen Gewissheiten und nen) Nachweis der Sonderstellung von Freud als Selbstgewissheit gegen (wiederkehrende) Zweifel zu Meisterdenker des 20. Jahrhunderts, der nicht nur armieren sucht. Diese freiwillige Indiskretion lässt die strukturalistische Unterscheidung zwischen Si‐ sich aber auch als (durchschaubare) rhetorische gnifikat und Signifikant vorgedacht, sondern auch Strategie betrachten, die sich, indem sie die unsiche‐ die gesamte Logik des Digitalen vorweggenommen re Position des eigenen Sprechens offen bekundet, habe. Das Gespann Freud-Lacan bildet das eigentli‐ nur umso mehr den Zuspruch des Lesers, der Lese‐ che Gravitationszentrum der Untersuchung: immer rin sichern will. wieder kreisen die Kapitel um dessen Beitrag zur Theorie des Unbewussten. Das ist nicht nur unbe‐ Vor diesem, dieser liegt ein vom Umfang her ge‐ friedigend, sondern gemessen am erhobenen An‐ wichtiges Buch, dessen Titel allerdings etwas irre‐ spruch der Studie auch ärgerlich. Sie schwört die führend ist. Es geht weniger um die Medientheorie Ereignisse, um die es doch im Sinne der Genealogie und Philosophie der Zeit als um die besondere me‐ Foucaults eigentlich gehen sollte, eher (und oft im dientheoretische Fundierung der psychoanalyti‐ Zitat) herauf, als sie im Abseitigen und Zufälligen schen Theorien von Sigmund Freud und Jacques La‐ aufzusuchen und für die Analyse zu sichern. Dem can. Die Studie richtet sich dabei insbesondere ge‐ eigenen Anspruch, mehr als nur eine weitere, wenn gen medienanthropologische Ansätze in der Kultur- auch medientheoretisch ambitionierte Lektüre der und Medienwissenschaft, die das Verhältnis zwi‐ Psychoanalyse Freuds und ihrer Geschichte zu lie‐ schen Körpern und Medien für homogen halten, so‐ fern, wird Bitsch nicht gerecht. Eine Genealogie des Unbewussten im Sinne Foucaults steht noch aus. Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2009/2 | Veröffentlicht: 2009-11-17 URL: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/r76 Petra Löffler [rezens.tfm] 2009/2 Autor/innen-Biografie Petra Löffler Dr. Petra Löffler ist seit 2008 Universitätsassistentin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. 2000-2005 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Interuniversitären Forschungskol‐ leg Medien und kulturelle Kommunikation an der Universität zu Köln und 2005-2008 am Institut für Medien-, In‐ formations- und Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Publikationen: (Auswahl) Petra Löffler, "Licht, Spur, Messung. Kritik des fotografischen Bildes", in: Bernhard Dotzler (Hg.), Bild/Kritik, Berlin: Kadmos 2009, S. 83-114. –, "Schwindel, Hysterie, Zerstreuung. Zur Archäologie massenmedialer Wirkungen", in: Marcus Hahn, Erhard Schüttpelz (Hg.), Trancemedien und Neue Medien um 1900, Bielefeld: transcript 2009, S. 373-399. –, Gesichter des Films, Bielefeld: transcript 2005. –/Joanna Barck, Affektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik, Bielefeld: transcript 2004. –/Albert Kümmel, Medientheorien 1888-1933. Texte und Kommentare, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2009/2 | Veröffentlicht: 2009-11-17 URL: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/r76