56 MEDIENwissenschaft 01/2025 Sammelrezension: Zensur Nikola Roßbach (Hg.): Zensur: Handbuch für Wissenschaft und Studium Baden-Baden: Nomos 2024, 611 S., ISBN 9783848785889, EUR 58,- Harry Lehmann: Ideologiemaschinen: Wie Cancel Culture funktioniert Heidelberg: Carl-Auer 2024, 147 S., ISBN 9783849705459, EUR 19,- Die Herausgeberin Nikola Roßbach hat das vorliegende Handbuch der Zensur in fünf Abteilungen gegliedert, die von insgesamt 24 Beiträgen gefüllt werden. Vorangestellt ist ihnen eine kurze Einführung Roßbachs, in der sie den „Anspruch“ (S.9) des Bandes darlegt. Er besteht darin, „den Stand der Forschung abzubilden und so ein Standardwerk für Wissenschaft und Studium zu schaffen“ und sich zugleich „in politisch und gesellschaftlich hochaktuelle[n] Konstellationen [zu] positionieren“ (ebd.). Neue Forschungs- ergebnisse will der sich an „Forschende und Studierende aus den Philologien, Geschichte und Theologie, Soziologie und Politikwissenschaften, Rechts- und Medienwissenschaft“ (ebd.) richtende Band hingegen nicht präsentieren. Die erste der jeweils mit einer „ebenso programmatische[n] wie zusammenfassende[n] Präambel “ (ebd.) eröffneten Abteilungen legt sinn- Medien / Kultur 57 vollerweise „begriff lich-theoretische Grundlagen“ (S.11) dar und ist damit vielleicht die wichtigste, jedenfalls aber erhellendste Sektion. Zunächst umreißt Roßbach in einem instruktiven Text die Historie zensierender Maß- nahmen und erläutert Definitionen des (wissenschaftlichen) Zensurdiskurses. Dabei betont sie, dass es sich bei Zensur um ein ebenso „vielschichtig[es]“ wie „vieldeutig[es] Phänomen“ handelt, das zwar von jeher „ubiquitär“ verbreitet ist, ohne jedoch „durch einen einheitlich- homogenen Begriff abbildbar“ (ebd.) zu sein. Als „Erkenntnis der modernen Zensurforschung“ (S.16) hält Roßbach fest, dass es sich bei Zensur um ein „komplexes funktionales und struktu- relles Element kollektiver Ordnungen handelt, das in binären Gegensätzen nur unzureichend beschreibbar ist“ (S.16f.). Ebenfalls sehr erhellend ist Nor- bert Bachleitners Beitrag zu „Theorien literarische[r] Zensur und Zugänge[n] zu ihrer Erforschung“ (S.31) sowie Thomas Keiderlings Erläuterungen zur „Funktionsweise und Wirkung von Zensur“ (S.51). Dass, wie Bachleitner erklärt, Zensur „per Definition der Meinungskontrolle“ (S.35) dient, greift allerdings in Bezug auf die Zensur von Pornografie oder auch von Gewalt- darstellungen zu kurz (zur Zensur von Pornografie vgl. S.149). Treffend ist hingegen Keiderlings Anmerkung, dass es Zensur „im Kern um Kontrolle der öffentlichen sowie der medial ver- mittelten Kommunikation“ geht und somit „ein Großteil der menschlichen privaten Kommunikation“ (S.51) so gut wie nicht zensiert wird. Auch geht der Autor auf „unerwünschte und para- doxe Effekte“ von Zensur ein, wie etwa „Sichtbarkeit und Werbeeffekt des Zen- sierten“ (S.71). In der zweiten Abteilung „Akteure und Handlungsfelder“ wird das Phä- nomen ‚Zensur‘ in Politik, Religi- onen, Medien, fiktionaler Literatur und Wirtschaft beleuchtet. Die beiden anschließenden Abteilungen widmen sich dem Thema historisch von den „Zensurphänomenen in der Antike“ bis hin zum „Zeitalter der Digitalisierung“ beziehungsweise geografisch, wobei die Kontinente Afrika (mit Schwerpunkt auf dem subsaharischen Teil), Asien (namentlich China und Indonesien) sowie Australien in jeweils einem Bei- trag thematisiert werden, zudem findet sich ein Beitrag zu Mittel- und Süda- merika, und ein weiterer Text befasst sich mit Nordamerika. Ebenfalls in zwei Beiträgen wird Europa behan- delt. Wolfgang Stephan Kissel schaut auf Ost-, Jörg Requate auf Westeuropa. Ganz überwiegend befassen sich die Texte des Bandes ebenso informativ wie konzis mit ihrem jeweiligen Thema. Ein merkwürdiges Ungleichgewicht besteht allerdings darin, dass das in der UdSSR erlassene Verbot der Schriften Imma- nuel Kants im Jahre 1923 Erwähnung findet (vgl. S.503), nicht aber die gegen ihn gerichteten Zensurmaßnamen in Deutschland. Am 19. Dezember 1788 hatte der kurz zuvor von Friedrich Wilhelm II. eingesetzte Minister für kirchliche Angelegenheiten Johann 58 MEDIENwissenschaft 01/2025 Christoph von Wöllner ein Zensure- dikt erlassen, das die Publikation aller Schriften untersagte, die von der christ- lichen Orthodoxie abwichen. Sechs Jahre später, am 1. Oktober 1894 sandte er Kant einen sogenannten Spezialbe- fehl, in dem er ihm bei fortgesetzter „Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christentums […] unfehlbar unangenehme[.] Verfügungen“ (In: Kühn, Manfred: Kant: Eine Biografie. München: C.H.Beck, 2024, S.438f.) androhte. Konzentrierten sich die ersten vier Abteilungen des Buchs auf das erste der beiden von der Herausgeberin genann- ten Ziele, den Stand der Forschung abzubilden, widmet sich die fünfte Abteilung hingegen ganz dem zweiten Ziel, sich „in politisch und gesellschaft- lich hochaktuelle[n] Konstellationen [zu] positionieren“ (S.9). Diese den Band beschließende Abteilung steht unter der Überschrift „Aktuelle Kontrover- sen und Polemiken“, wobei zumindest einer der drei dort rubrizierten Bei- träge selbst kontrovers und polemisch ist. Während sich Lars Distelhof dem Themenbereich „Identitätspolitik und kulturelle Aneignung“ noch recht diffe- renziert widmet, indem er zwar erklärt, die „Zensurvorwürfe mit Blick auf Identitätspolitik und kulturelle Aneig- nung erweisen sich […] überwiegend als verzerrte Darstellungen aktueller politischer Debatten“, aber immerhin einräumt, dass jedoch auch „zensurnahe Dynamiken erkenntlich [sic] werden“ (S.565), so scheinen die Ausführungen von Mathias N. Lorenz eher politisch als wissenschaftlich motiviert zu sein. Schon der Titel seines Beitrags „Das ‚Cancel Culture‘-Narrativ“ insinuiert, Cancel Culture gebe es gar nicht, sondern nur ein Narrativ, das dessen Existenz behauptet. Im Aufsatz selbst wird sodann explizit gesagt, dass dem im Titel genannten Narrativ „objektiv betrachtet keine zensorische Praxis zugrunde liegt“ (ebd.), sondern viel- mehr „Anpassungsschwierigkeiten“ (S.557) und eine „Trotzhaltung“ (S.559) eines „privilegierten, tendenziell weißen und älteren Ausschnitt[s] der Gesell- schaft“ (S.558), der in „moralische Panik“ (S.557 u.ö.) verfalle und einen „Elitendiskurs“ (S.558) führe. „Befeu- ert“ werde die „Fama“ zudem „in erster Linie durch bürgerlich-konservative bis rechtspopulistische Organe der westlichen Medienlandschaft des 20. Jahrhunderts (Fernsehen, Radio, Mas- senpresse)“ (S.546). Tatsächlich aber sei der „Vorwurf […] angeblich bewirkter Ausschlüsse“ schlichtweg „abwegig“ (S.548) und die hierfür angeführten Beispiele durch „Esoterik“ und „Spe- zifik“ (S.546) geprägt. Überdies tut Lorenz sie als „durchweg anekdotisch“ und „alarmistisch aufgebauscht“ (S.559) ab. Seine Behauptung, dass „über eher sporadische und essayistische Einlas- sungen hinaus bislang kaum Forschung zum Begriff ‚Cancel Culture‘ […] bzw. zum Phänomen ‚Cancel-Culture‘-Nar- rativ existiert“ (S.545), zeugt von einer mangelhaften Rezeption der einschlä- gigen Forschungsliteratur. Nun mag Harry Lehmanns profunde Untersu- Medien / Kultur 59 chung Ideologiemaschinen aufgrund der zeitlichen Nähe der Veröffentlichung beider Bücher noch nicht verfügbar gewesen sein, dies gilt jedoch nicht für die zahlreichen dort zitierten Untersu- chungen zur Cancel Culture. Lorenz‘ zentraler und fast einziger Gewährs- mann ist jedoch Adrian Daub, aus dessen Buch Cancel Culture Transfer: Wie eine moralische Panik die Welt erfasst (Berlin: Suhrkamp, 2022) er auch den Topos der ‚moralischen Panik‘ entnom- men hat. So fallen auch die Befunde in Leh- manns Ideologiemaschinen gänzlich anders aus als bei Lorenz: „Wissen- schaftsfreiheit, die Lehrfreiheit und Kunstfreiheit“ werden „von Hoch- schulen, Akademien, Museen, The- atern und Kultureinrichtungen […] freiwillig preisgegen“ (S.7). Mehr noch, sie „verwandeln sich in Ideologiemaschi- nen“ (S.8), also in „Maschinen, die nicht länger an ihrer Funktion orien- tiert sind, sondern anstelle von Kunst, Wissenschaft oder Bildung beginnen, Ideologie zu produzieren“ (S.42). Leh- manns Anspruch ist es, die Ursachen hierfür herauszufinden. Dabei betont er, dass seine „Theorie der Ideologie- maschinen vom Ansatz her politisch neutral“ (S.43) sei. Seine Kritik ziele „weder auf die aktivistischen Bewe- gungen, noch auf ihre konkreten Werte und Ziele“ (S.27). Vielmehr gehe es „um die Selbstverstärkungseffekte politischer Kommunikation und ihre Kipppunkte, an denen Funktionssy- steme ihre Funktionstüchtigkeit ver- lieren“ (ebd.). Der Autor betont zwar, „dass noch vor mehr als einem guten Jahrzehnt die Cancel Culture von rechts bei weitem die Cancel Culture von links in den USA übertroffen hat“ (S.96) Dass sich sein Buch „primär mit linker Cancel Culture beschäftig[t]“, habe aber einen „einfachen Grund: die rechte Cancel Culture braucht keine Theorie“, da sie „auf einer simplen rhe- torischen Festung [beruht]“ (S.98), die „das Argumentieren überflüssig macht“ (S.94), indem sie „Fakten, Argumente und Einwände pauschal […] ignorier[t], zurück[.]weis[t] oder zu Fake News […] erklär[t]“ (S.95). Darum habe sie „zumindest bislang, keine Ideologiema- schinen aus[gebildet]“ (S.98). Auf jeweils wenigen Seiten stellt Lehmann acht „Erklärungsmodelle der Cancel Culture“ (S.53) konzis vor und würdigt sie kritisch. So etwa das phi- losophische (S.55-61), das soziologische (S.64-67), das ökonomische (S.68-70) und das juristische (S.70-85). Letzteres „besitzt“ dem Autor zufolge „sicherlich die größte Explikationskraft, zumal es viele Aspekte der anderen Theorie- ansätze selbst noch einmal begrün- den und perspektivieren kann“ (S.80). Große Plausibilität spricht er jedoch auch dem „rhetorische[n] Modell“ zu, da sich „radikale Ideologie[n]“, um die es diesem Modell geht, „in einer rhe- torischen Festung [verbarrikadieren]“ (S.92) (vgl. S.92-98). Zu ihren „her- vorstechendsten Merkmalen“ gehöre, dass sie sich Ad-hominem-Argumente bedienen, um die „Sprecherposition“ ihnen widersprechender Menschen „zu delegitimieren“ (S.93). 60 MEDIENwissenschaft 01/2025 Lehmanns eigenes Erklärungsmo- dell besagt, dass sich „Gruppenpolari- sierungsprozesse […] in einer digitalen Medienwelt exponentiell verstärken“ (S.37) und „viele Institutionen, die in einer analogen Welt geschaffen wur- den“, wie etwa Universitäten und Kul- tureinrichtungen, „in der neuen digitalen Medienwelt dysfunktional [werden], weil sie auf politische Kommunikation extrem empfindlich reagieren“ (S.112). „Digi- tal forcierte Gruppenpolarisierung[en]“ haben daher über kurz oder lang zur Folge, „dass mehr und mehr politische Ziele in die Leitbilder der Institutionen aufgenommen werden, so dass es in Konfliktfällen nahezu unmöglich wird, für deren systemspezifische Eigenwerte zu streiten“ (S.41), im Falle der Universi- täten also, Wissen zu generieren. Als mögliche Lösung schlägt Lehmann etwas vage vor, „Ideolo- gieunterbrecher in die Institutionen einzubauen“ (S.8) und „Ideologisie- rungsprozesse auszubremsen, welche den offenen argumentativen Wettstreit beschränken“ (S.124). Außerdem plä- diert er für „eine robuste free speech culture“ (S.98). Während das Zensur-Handbuch abgesehen von seiner letzten Abteilung seinen eigenen Ansprüchen gerecht wird, ist Lehmanns Werk uneinge- schränkt als ausgewogen, stringent, genau und wissenschaftlich zur Lek- türe zu empfehlen. Für weitere For- schungen anschlussfähig sind beide Bände. Rolf Löchel (Herzogenrath)