Thomas Waitz Repräsentationspolitiken des Unheimlichen. Joel Sterfeld, ›Tatorte‹ DOI https://doi.org/10.25365/phaidra.36 Original Thomas Waitz: »Repräsentationspolitiken des Unheimlichen. Joel Sterfeld, ›Tatorte‹«, in: Florian Lehmann (Hg.): Ordnungen des Unheimlichen. Kultur – Literatur – Medien. Würz- burg: Königshausen & Neumann 2016, S. 247-262. Kontakt t.waitz@univie.ac.at Hinweis Diese Textfassung weicht in geringfügigen Details von der Druckfassung ab. Thomas Waitz http://www.thomaswaitz.at/ ORCID https://orcid.org/0000-0002-0137-515X Dieses Werk ist unter Creative Commons Namensnennung - Keine kommerzielle Nutzung - Keine Bearbeitungen 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0) l izenziert. Um die Lizenz anzuse- hen, gehen Sie bitte zu: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/legalcode.de Thomas Waitz Repräsentationspolitiken des Unheimlichen Joel Sternfeld, »Tatorte« I. Das Unheimliche als Problematisierung Angesichts der vielfältigen Bezugnahmen auf den Begriff des Unheimlichen in der Kunst und Kulturtheorie der letzten 100 Jahre, denen der vorliegende Band und dieser Text weitere hinzufügen, drängt sich berechtigter Zweifel auf – Zweifel, der auf der Frage gründet, ob die unterstellte Prägnanz des dahinterliegenden Konzeptes (sofern es sich denn überhaupt um ein Konzept handeln mag) nicht längst verloren gegangen ist. Ein Hinweis auf eine solche Einschätzung findet sich bereits bei Sigmund Freud selbst, der darauf verweist, dass »dies Wort nicht immer in einem scharf zu bestimmenden Sinne gebraucht wird«.1 Möglicherweise ist es jedoch gerade die Verwendungs- und Bezugsoffenheit, die Vielschichtigkeit und Polyvalenz der Rede vom Unheimlichen, die dessen anhaltende kulturelle Konjunktur zu erklären vermag. Das Ziel der folgenden Untersuchung soll daher weder sein, einer Begriffsarbeit, die diesen Status zu überwinden suchte, nachzugehen, noch, eine Genealogie der Denkfigur des Unheimlichen zu betreiben, geschweige denn, eine Auslotung der theoretischen Angemessenheit und Explikationskraft von Freuds Konzept unternehmen. Die Absicht besteht vielmehr darin, den Begriff des Unheimlichen dem kulturellen Diskurs zu entnehmen und mittels einer Gegenstandsanalyse nach seiner Produktivität zu fragen, also nach der Leistung, die von seiner Anführung, seinem Einsatz, seinen Bezügen in einem konkreten Fall ausgeht. Dies impliziert, eine grundlegende Trennung zu überwinden. Diese Trennung – die nur eine vermeintliche ist, eine, die einer bestimmten, machtvollen Konstruktion des aussagenden Subjekts geschuldet ist – beruht auf der Vergegensätzlichung des ›Unheimlichen als Phänomen‹ auf der einen Seite, und dem ›Unheimlichen als analytischem Konzept‹ auf der anderen Seite. Und obwohl dieser Trennung ein heuristischer Wert nicht abzusprechen ist, scheint es, sobald es darum geht, die Produktivität der Anführung des Begriffes zu befragen, hilfreich, die Rede vom Unheimlichen anders zu konturieren. So ließe sich mit Michel Foucault das Unheimliche als eine spezifische Problematisierung fassen. Foucault schreibt, »Problematisierung bedeutet nicht die Repräsentation eines präexistenten Objekts und auch nicht die diskursive Erschaffung eines nichtexistierenden Objekts. Es ist das Ensemble diskursiver und nichtdiskursiver Praktiken, das etwas ins Spiel des Wahren und Falschen eintreten lässt und es als Gegenstand des Denkens konstituiert.«2 1 Sigmund Freud: »Das Unheimliche«. In: Ders.: Studienausgabe in zehn Bänden mit einem Ergänzungsband. Hrsg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey. Bd. 4: Psychologische Schriften. Frankfurt a.M. 1970, S. 241-274, hier: S. 243. 2 Michel Foucault: »Geschichte der Sexualität. Gespräch mit François Ewald«. In: Ästhetik und Kommunikation, 57/58, 1985, S. 157-164, hier: S. 158. 1 Das Unheimliche ist aus dieser Perspektive also weder ausschließlich eine rein analytische Kategorie, noch bloß ein Phänomen, es ist weder ausschließlich eine Objekteigenschaft, noch allein eine bestimmte Ästhetik, die kulturellen Texten, sozialen Praktiken oder Verhältnissen anhaftete oder ihnen zugeschrieben werden könnte. Das Unheimliche verweist weder auf ein präfiguriertes Objekt, es markiert kein stabiles oder auch nur geklärtes Verhältnis der Referenz, es ist aber auch selber als Rede, als Technik, als Wahrnehmung oder als medialer Effekt nicht unveränderlich: Es ist doppelt kontingent (was etwas anderes ist als ›beliebig‹), es ist, wenn man diese Pointe machen möchte, selbst unheimlich.3 Offenkundig ist allerdings, dass das Unheimliche eine Problematisierung darstellt, die ermöglicht, kulturelle Erscheinungen und gesellschaftliche Gefüge in einer bestimmten Weise als Gegenstandsbereiche zu formieren, lesbar zu machen und – letztlich – zu bearbeiten. Worin aber besteht die Produktivität dieser Problematisierung? Oder: Was zeichnet diese ›bestimmte Weise‹ aus? II. Repräsentationspolitiken des Unheimlichen Wenn im Folgenden vom Unheimlichen die Rede ist, dann steht also nicht die Repräsentation eines vorgängigen Objektbereichs zur Debatte. Das Ziel ist vielmehr, nach den Politiken solcher Repräsentationen zu fragen – und damit immer auch nach der Konstitution des Objekts selbst. Dies bedeutet, diejenigen Formen und Prozesse in den Blick zu nehmen, mittels derer das als jeweils unheimlich Identifizierte im Wechselspiel materieller Strukturen, sozialer Bedingungen und der symbolischer Gefüge für die Formierung, Verhandlung und Bearbeitung politischer, gesellschaftlicher und kultureller Aspekte produktiv wird – so etwa, zu fragen, welche Bedingungen und Verfahren dem Erscheinen eines Unheimlichen notwendigerweise vorausliegen. Dieses Erscheinen wird so begriffen als »Gegenstand, Schauplatz und Resultat von Regulierungen, Einschränkungen, Ausschlüssen und Umarbeitungen, von Machtprozessen also, die man den Bildern keinesfalls ansieht, geschweige denn auf den ersten Blick. Vielmehr sind gerade die Verfahren des Vor-Augen-Stellens, der Evidenzstiftung, selbst Teil der Prozeduren, auf die Grenzen der Sichtbarkeit einzuwirken und Ausschlüsse als solche zu verunsichtbaren und zu naturalisieren.«4 Eben solche »Strategien und Taktiken«, die »Regulierungen, Einschränkungen, Ausschlüsse und Umarbeitungen«, welche der scheinbar unhintergehbaren Evidenz der Rede und der Bilder des Unheimlichen vorausliegen, werden im Begriff der Repräsentationspolitiken gefasst.5 So verstanden, kann das Unheimliche – oder das, was eine Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt unter diesem Begriff zu fassen bereit ist – nicht als Ausdruck einer ahistorischen, fraglos gegebenen Ontologie des Sicht- und Sagbaren verstanden werden, sondern wird als Formulierung einer wechselvollen kulturellen Einbettung und vor dem Hintergrund 3 Zur unscharfen Kontur des Konzepts in der Kulturtheorie vgl. Anneleen Masschelein: »A Homeless Concept. Shapes Of The Uncanny In Twentieth-Century Theory And Culture«. In: Image & Narrative, 5, 2003, http://www.imageandnarrative.be/inarchive/uncanny/anneleenmasschelein.htm. 4 Wilhelm Voßkamp u. Brigitte Weingart: »Sichtbares und Sagbares. Text-Bild-Verhältnisse«. In: Dies. (Hrsg.): Sichtbares und Sagbares. Köln 2005, S. 7-22, hier: S. 11. 5 Zum Begriff der ›Repräsentationspolitiken‹ vgl. ausführlicher Thomas Waitz: Bilder des Verkehrs. Repräsentationspolitiken der Gegenwart. Bielefeld 2014, S. 9ff. 2 spezifischer gesellschaftlicher Kontexte und Praktiken beschreibbar. Das Erscheinen des Unheimlichen, seine Konjunktur, seine Un/Sichtbarkeit sind damit stets »ein Produkt diskursiver, institutioneller, kultureller und historischer Vorbedingungen«6 und »nie umstandslos gegeben«7. Dieser Zusammenhang soll im Folgenden beispielhaft – das heißt, keineswegs umfassend oder gar erschöpfend – und anhand eines konkreten Gegenstandsbezuges betrachtet werden. Dieser Gegenstand entstammt der amerikanischen Landschaftsfotografie der 1990er Jahre – doch gäbe es sicher zahlreiche andere mögliche Gegenstände, und je nach Wahl würden diese konträre oder auch völlig divergierende, nicht mit den hier gemachten Überlegungen in Einklang zu bringende Erkenntnisse vermitteln. Es geht also nicht schlechthin um die Repräsentationspolitik des Unheimlichen, noch um deren gleichbleibende Produktivität, sondern um eine spezifische, historisch gebundene und an zu bestimmenden Interessen und Aussageweisen geknüpfte Repräsentationspolitik. Am Beginn ihrer Analyse steht die Betrachtung eines konkreten Bildes. III. Ein Bild der Leere Abb. 1 — Joel Sternfeld, »Tatore«-Serie Abbildung 1 zeigt eine Farbfotografie. Auf den ersten Blick wird deutlich, dass es sich nicht um einen Schnappschuss handelt. Der genaue Bildaufbau, die exakte Belichtung, Schärfe und Geometrie lassen uns das Bild als komponiert lesen. Wir sehen eine Straße, die im linken Bildmittelgrund in einer Kurve am Betrachtersubjekt vorbeiführt, und an deren Rand Strommasten eine Vielzahl von Leitungen führen. Am linken Bildrand sind Siedlungsstrukturen zu erkennen. Der Hintergrund des Bildes ist bestimmt durch den das obere Drittel der Fotografie einnehmenden Himmel sowie einen am Horizont sich erstreckenden Hügel. Die rechte Hälfte des Bildes zeigt im Bildmittelgrund und Vordergrund einen leeren, unbefestigten Platz, auf dem Reifenspuren zu erkennen sind, und der deshalb als unbelebter Parkplatz zu erkennen ist. Nach hinten wird dieser Raum durch eine lange Reihe dicht beieinanderstehender Bäume abgeschlossen. In ihrem Schatten finden sich einzelne, geparkte Fahrzeuge. Bestimmend an der medialen Fassung dieser Szenerie ist der Eindruck, dass das ›Eigentliche‹ des Bildes abwesend ist: Die Betrachterin oder der Betrachter erblickt, so scheint es, ein Moment der Leere. Dieser Eindruck fußt auf einer kulturell eingeübten Sichtweise (denn tatsächlich ›zeigt‹ die Fotografie ja etwas und ist keineswegs ›leer‹): Das betrachtende Subjekt vermag den Raum im Bildmittelgrund als scheinbar ›leer‹ zu identifizieren, weil eine Erwartungshaltung existiert, der zufolge bedeutsame Bildinhalte mittig kadriert werden, und zwar umso mehr in der Mitte, je bedeutsamer sie sind. Zudem – und dies steigert die so formierte Wahrnehmung – zeigt die Fotografie keine menschlichen Figuren: Der vormediale Raum, ein Parkplatz am Rande einer durch eine Siedlung führenden Straße, ist unbelebt. Der 6 Sabine Maasen, Thomas Meyerhauser u. Cornelia Renggli: »Bild – Diskurs – Analyse«. In: Dies. (Hrsg.): Bilder als Diskurse – Bilddiskurse. Weilerswist 2006, S. 7-27, hier: S. 18. 7 Tom Holert: »Bildfähigkeiten. Visuelle Kultur, Repräsentationskritik und Politik der Sichtbarkeit«. In: Ders. (Hrsg.): Imagineering. Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit. Köln 2000, S. 14-33, hier: S. 20. 3 durch die fotografische Anordnung erzeugte Eindruck einer vormedialen ›Leere‹, so wird deutlich, kann daher primär als medialer Effekt, der die Wahrnehmung des Bildes bestimmt, beschrieben werden. Die hier betrachtete Fotografie hat von der amerikanische Fotograf Joel Sternfeld angefertigt. Sie entstammt einer zwischen 1993 und 1996 entstandenen und als Buch veröffentlichten Serie, die den Titel On this Site. Landscape in Memoriam trägt; die deutsche Ausgabe hat den Titel Tatorte. Bilder gegen das Vergessen.8 Unter einem Titel, der seine spezifische Lesart bereits vorwegnimmt – »Haunting Grounds« –, beschreibt der Kritiker A. M. Homes in Artforum International die Wirkung der Serie. An ihrem Beginn steht die Aufzählung ausgewählter Motive: »A tree in a park, a section of road, a little girl's bedroom, a billboard. All of them eerily familiar. Looking at these sites, I think: I have been here before, I know this place. But where is it? What is it? I have the uncanny sensation that something is missing.«9 Sternfeld zählt neben William Eggleston und Stephen Shore zu den wichtigsten Vertretern der sogenannten New Color Photography, denen es in den 1970er Jahren gelang, die Farbfotografie für den Kunstkontext zu nobilitierten. 2011 präsentierte das Museum Folkwang in Essen Sternfelds erste europäische Retrospektive – seinen kommerziellen Durchbruch erfuhr der Fotograf jedoch bereits 1987 mit der Fotoserie American Prospects, eine Werkgruppe, die sich mit den Erscheinungsweisen einer durch die Eingriffe des Menschen bestimmten und von der technischen Moderne gekennzeichneten Landschaft befasst.10 Sternfelds Bilder zeigen auf den ersten Blick öde, ausgezehrte und als ›gewöhnlich‹ konstruierte Räume, die in ihrer gescheiterten Funktionalität ausgestellt werden. Diese Fotografien, mit der Großformatkamera angefertigt, erinnern aus einer dezidiert europäischen Perspektive zugleich – und dies eint sie mit vielen anderen Beispielen der amerikanischen Landschaftsfotografie –an die Gemälde Edward Hoppers, ist das Setting der Bilder beider Künstler doch häufig an den durch die Infrastruktur markierten Nahtstellen zwischen Landschaften und Siedlungsorten zu finden.11 Auch die Fotografien der Tatorte-Serie kennzeichnet, dass sie auf den ersten Blick belanglose Räume zeigen – Räume, die sich kaum als ›Orte‹ in einem emphatischen Sinne bezeichnen ließen; es sind oftmals urbane und suburbane, städtische Topografien, die sich durch ein hohes Maß an Austauschbarkeit und Gewöhnlichkeit auszeichnen. Mehr als der deutsche Titel Tatorte verweist der amerikanische Originaltitel On this Site auf die symbolische Aufladung dieser Räume, zitiert er doch eine beliebte Einleitungsformel von Schrifttafeln, die zum Zwecke des historischen Gedenkens an Häusern und Plätzen zu finden sind. Doch in der medialen Rahmung, die sich durch die Präsentation der Fotografien innerhalb des Buches ergibt, stehen die Bilder nicht alleine. Jede Doppelseite wird durch einen der 8 Joel Sternfeld: Tatorte. Bilder gegen das Vergessen. München 1996; Originalausgabe: Joel Sternfeld: On This Site – Landscape In Memoriam. San Francisco 1996. 9 A. M. Homes: »Haunting Grounds: Joel Sternfeld’s Crime Sights«. In: Artforum International, 7, 1994. 10 Joel Sternfeld: American Prospects. New York 1987. 11 Zur Nähe der amerikanischen Fotografie zum Werk Edward Hoppers vgl. Georg-W. Költzsch u. Heinz Liesbrock (Hrsg.): Die Wahrheit des Sichtbaren. Edward Hopper und die Fotographie. Köln 1992. 4 Fotografie gegenübergestellten Text, durch den das Dargestellte erst scheinbar verständlich wird, komplettiert. Es ist dieser Text, der für die Betrachterin oder den Betrachter das, was die Bilder zeigen (oder, genauer gesagt, das, was sie eben nicht zeigen, sondern mittels medialer Verfahren als Leerstelle aufrufen) kontextualisiert. Auch im Falle der eingangs betrachteten Fotografie verortet ein Text das Gezeigte. Die Aufnahme, so erfahren wir, entstand 1993 in Los Angeles, der genaue Ort ist präzise vermerkt: »Gegenüber dem Anwesen 11777 Foothill Boulevard, Lake View Terrace, Los Angeles, California, November 1993«. Weiter heißt es, »Rodney King, ein schwarzer Autofahrer, wurde in den frühen Morgenstunden des 3. März 1991 von vier weißen Polizeibeamten zusammengeknüppelt«. Der Text fährt fort, indem er in nüchterner Sprache den Ablauf des Übergriffes schildert, die Folgen für das Opfer benennt und mit den Worten schließt, »In einem Strafprozeß wurden die vier Polizisten von einer weißen Jury von sämtlichen Anklagen freigesprochen«. Der durch einen Videoamateur dokumentierte Übergriff auf Rodney King ist in das kulturelle Gedächtnis der USA eingegangen. Als Konsequenz des Vorfalls kam es zu einem Aufruhr empörter Bürgerinnen und Bürger, der in gewaltsame Unruhen mit über 50 Toten und über 2.000 verletzten Menschen mündete. Einer breiten Öffentlichkeit legte der Fall exemplarisch den strukturellen, tief verwurzelten Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft offen. Vor dem Hintergrund dieser Kontextualisierung scheint die Fotografie in ihrer Nüchternheit und ihrer medialen ›Leere‹ wirkmächtig determiniert. Diese Wirkung beschreibt der Kunsthistoriker Steven Jacobs vor allem in Bezug auf die eben nur scheinbare ›Austauschbarkeit‹ und ›Gewöhnlichkeit‹ der Landschaft, die sich alles andere als »unschuldig« erweise: »The banality of the sites, however, is misleading. Each photo is accompanied by a text which reveals that the specific, ordinary-seeming place we are shown once became the site of a dramatic or even gruesome event. Sternfeld captures these places, banal and insignificant in themselves, long after press photographers have gone. By doing so, he questions the notion of collective memory as well as its relation to place. In addition, he comments on the alleged innocence of the landscape.«12 IV. Unheimliche Referenzen Wenn wir auf jene Diskurse blicken, mittels derer den Bildern Sternfelds kultureller ›Sinn‹, künstlerische ›Bedeutung‹ und ökonomischer ›Wert‹ zugesprochen wird – Rezensionen, Verlagsankündigungen, journalistische und kuratorische Beiträge, wissenschaftliche Analysen –, dann fällt auf, dass es zahlreiche Attribute des Unheimlichen sind, die in den entsprechenden Texten aufgerufen werden. Auf einer privat betriebenen Website, die sich mit Fotografie befasst, kennzeichnet Walter Reinthaler, der Betreiber, die Absicht Sternfelds wie folgt: »Mit der fotografischen Darstellung einzelner Schicksalsorte« hole dieser, so heißt es, »verdrängte, verborgene oder auch bewusst 12 Steven Jacobs, »Blurring The Boundaries Between City And Countryside In Photography«. In: CLCWeb Comparative Literature And Culture, 14.3, 2012, http://docs.lib.purdue.edu/clcweb/vol14/iss3/6. 5 verdeckte Geschehnisse ins kollektive Gedächtnis zurück«.13 Auch die Kunstwissenschaftlerin Susanne Holschbach hebt in einer Einführung zur Tatorte-Serie auf eine Erinnerungs- und Gedächtnisdimension der fotografischen Werkgruppe ab. Sie schreibt, »Die fotografischen Ansichten von öffentlichen Plätzen, Grünanlagen, Wohnsiedlungen, Ladenlokalen, Motels, Büroräumen etc. können, anders als polizeiliche Tatortfotografien, keine Indizien des Geschehens mehr liefern, das oft schon weit in der Vergangenheit liegt. Erst der begleitende Text stellt den Zusammenhang zwischen ›Tat‹ und ›Ort‹ her und nimmt letzterem seine Harmlosigkeit. Die Geschehnisse erhalten durch die Fotografien eine erneue Aktualität – sie werden dem Gedächtnis in mnemotechnisch wirksamer Koppelung wieder eingeschrieben. Mit diesem Verfahren ›antwortet‹ Sternfeld gewissermaßen Walter Benjamin, der in der Schlusspassage seiner ›Kleine[n] Geschichte der Photographie‹ fragte: ›Aber ist nicht jeder Fleck unserer Städte ein Tatort? Nicht jeder ihrer Passanten ein Täter?[…]‹«14 Andere Autorinnen und Autoren, die sich mit der Tatorte-Serie auseinandersetzen, führen den Begriff des Unheimlichen explizit an. In einem Beitrag für den archäologischen Blog archaeolog schreibt etwa der Archäologe Alfredo González-Ruibal, »In On this site Sternfeld (1996) shows photographs of apparently innocent, dull places and writes a short caption telling the terrible story linked to those places. Truth, in the Heideggerian sense, is disclosed. The world and the earth are at fight in these images that are uncanny because they conceal as much as they reveal.«15 Die Diagnose, derzufolge Sternfelds Fotografien unheimlich seien, findet sich bei Steven Jacobs noch zugespitzt. Aus seiner Sicht ist es die amerikanische Landschaft selbst, die sich als »unheimlich« erweise; er spricht von »uncanny aspects of the US-American landscape«, für die sich Sternfeld in seinen fotografischen Arbeiten interessiere – was durch die Gestaltung der Tatorte-Serie belegt werde.16 Solche Einlassungen – viele weitere ließen sich nennen – zeigen zweierlei. Sie verdeutlichen erstens, dass es sekundäre Bild/Text-Verhältnisse sind, mittels derer den Fotografien der Status, ›Kunst‹ zu sein, zugeschrieben wird. Dies geschieht, indem ihnen eine gesellschaftliche Bedeutung zugewiesen wird, welche die Interessen, Anliegen und Fragestellungen von Kulturtheorie und Kulturkritik zu spiegeln scheint – ein Verfahren, von dem die expliziten Bezugnahmen auf Walter Benjamin und Martin Heidegger jeweils Ausdruck sind. Die angeführten Beispiele stellen aber auch vor Augen – und dies ist entscheidend –, dass es explizit Attribute des Unheimlichen sind, denen für dieses Verfahren Produktivität beigemessen zu werden scheint. Die Anführung des Unheimlichen macht, so scheint es, Bilder in einer bestimmten und möglicherweise sehr naheliegenden Weise ›lesbar‹, und zwar primär deshalb, weil das Unheimliche als psychoanalytisches Konzept im Alltag eingeübt ist 13 Walter Reinthaler: »Joel Sternfeld, amerikanischer Fotograf«, Bilderreisen.at, http://www.bilderreisen.at/portraets/portraets-fotografie-sternfeld.php (18. April 2015). 14 Susanne Holschbach: »Joel Sternfeld, ›Tatorte‹«, Medienkunstnetz.de, http://www.medienkunstnetz.de/werke/ on-this-site/ (18. April 2015). 15 González-Ruibal, Alfredo (2005): »Heideggerian Technemataology«. In: archaeolog, http://web.stanford.edu/dept/archaeology/cgi-bin/archaeolog/?p=15 (22. Juli 2015). 16 Jacobs, Blurring The Boundaries. 6 und die sich so formierenden Bild/Text-Verhältnisse ein ganzes Arsenal an Sinnstrukturen und Bezügen aufzurufen und zu aktualisieren in der Lage sind. So kann die Evidenz des Unheimlichen nicht zuletzt auf die Tatsache rekurrieren, dass das Vokabular und das Wissen der Psychoanalyse die sogenannten ›westlichen‹ Kulturen zutiefst prägen. Begriffe wie ›Verdrängung‹, ›Verarbeitung‹, ›Übertragung‹ und viele mehr sind im Alltag virulent, ohne dass die ursprünglichen Konzepte noch in ihrer Genese und ihren Implikationen bekannt wären. Viel weniger als eine wissenschaftliche Kategorie im engeren Sinne, die in Begriffen von ›wahr‹ oder ›falsch‹, ›angemessen‹ oder ›nicht-angemessen‹, ›produktiv‹ oder ›nicht-produktiv‹ zu beurteilen wären, kommt dem damit verbundenen Feld in seiner kulturtheoretischen Semantik eine Signifikationskraft zu, die gerade darauf beruht, dass das, was es bezeichnet, eigentümlich unbestimmt und vage bleibt. Doch wäre es verkürzt, allein in der alltagsweltlichen Anschlussfähigkeit die Produktivität des Unheimlichen zu verorten. Gerade für die Kulturtheorie und Kulturkritik – Feldern, denen eine entscheidende Bedeutung für die Fabrikation kulturellen Sinns zukommt – lässt sich ein Diskurs nachzeichnen, dessen Wuchern zu jenem Zeitpunkt, an dem Sternfeld die Tatorte-Serie veröffentlicht, entlang von Konzepten und Denkfiguren des Unheimlichen stattfand. Freud kennzeichnet das Unheimliche bekanntlich als Verhältnis in sich widersprüchlicher und disparater Eindrücke – es sei, haben Martin Doll und Rupert Gaderer festgehalten, durch eine »Vielzahl an schwer zu fassender Eigenschaften« charakterisiert: »Es bezeichnet eine seltsame Nähe zwischen Wissen und Nichtwissen, erscheint als etwas Vertrautes in fremder Gestalt oder als etwas Fremdes mit vertrauten Eigenschaften.«17 Für die kulturtheoretische Inanspruchnahme der Rede vom Unheimlichen ist zunächst ein sich im 18. Jahrhundert veränderndes Geschichtsverständnis bestimmend, so Doll und Gaderer. Dieses bewirke, »dass ›die‹ Vergangenheit (im Kollektivsingular) im aufklärerischen Denken auf der individuellen wie auf der historischen Ebene zum Schauplatz der Alterität wird, zu etwas, das eben ›im Verborgenen hätte bleiben sollen und hervorgetreten ist‹. Anders gesagt: Weil die Vergangenheit ab einem bestimmten Zeitpunkt – im Gegensatz zum früheren ›zeitlosen‹ Geschichtsverständnis – als Andersheit im Verhältnis zum ›Hier und Jetzt‹ konstruiert worden ist, kann sie als Fundus von Bruchstücken und Überresten dienen, in denen etwas Anderes nachlebt und die Gegenwart heimsucht: etwa in Form des ausgedienten und unzeitgemäßen Dings, des zum Leben erweckten Gegenstands, des archäologischen Fundstücks, des Symptoms eines vergangenen traumatischen Ereignisses, des Déjà-vu-Erlebnisses, des geisterhaften Wiedergängers, des widerständigen sozial Ausgegrenzten oder der politisch-ethischen Verfügung.«18 In den 1990er Jahren – zugleich inmitten des Entstehungszeitraums der Tatorte-Serie und der Konjunktur dessen, was Martin Jay »The Uncanny Nineties« bezeichnet hat19 – behauptet demgegenüber eine Reihe von Autorinnen und Autoren, dass sich die moderne Lebenswelt und ihre Verkörperung in Formen der zeitgenössische Architektur als zunehmend unheimlich erweise. Vor allem die Schrift The Architectural Uncanny: Essays In The Modern 17 Martin Doll u. Rupert Gaderer: »Geister versammeln«. In: Dies. (Hrsg.): Phantasmata. Techniken des Unheimlichen. Wien 2011, S. 9-18, hier: S. 9. 18 Ebd., S. 11. 19 Martin Jay: »The Uncanny Nineties«. In: Salmagundi, 108, 1995, S. 20-29. 7 Unhomely des amerikanischen Architekturtheoretikers Anthony Vidler ist hier an erster Stelle zu nennen.20 Die Verwendung in den 1990er Jahren kennzeichnet dabei, so hat Martin Jay in seiner Analyse gezeigt, dass sie den psychoanalytischen Diskurs verlässt, den Begriff entgrenzt und ihn für ein weites Feld kultureller Erscheinungen in Anschlag zu bringen sucht. Die Freudsche Lesart des Begriffes aufnehmend und eine spezifisch ›postmoderne‹ Erfahrung der Entfremdung konstatierend, geht es etwa Anthony Vidler darum, aufzuzeigen, dass sich das Unheimliche gerade an die Gewöhnlichkeit urbaner und suburbaner Räume binde; es erscheine »auf leeren Parkplätzen, in der Umgebung verlassener oder heruntergekommener Shopping Malls, an den verödeten Rändern und in den Oberflächenerscheinungen der postindustriellen Kultur«21. Wenn Vidler in seiner sprachlichen Beschreibung Bilder urbaner und suburbaner Räume aufruft, dann geschieht dies nicht allein mit Blick auf die Beschreibungen und Analysen einer am Unheimlichen interessierten Kulturtheorie und Kulturkritik. Tatsächlich existiert in der künstlerischen Fotografie seit längerem eine Repräsentationspolitik, auf die Vidler hier Bezug nehmen kann und die seine Behauptungen zu plausibilisieren vermögen. V. »Oberflächenerscheinungen« Die künstlerische Fotografie weist eine lange Tradition auf, innerhalb derer die von Vidler angeführten »Oberflächenerscheinungen der postindustriellen Kultur« in spezifischer Weise motivisch geworden sind – insbesondere Bilder ›leerer‹ Parkplätze sind einschlägig.22 Zu denken wäre dabei nicht nur an Edward Ruschas Künstlerbuch Thirtyfour Parking Lots in Los Angeles23, dessen Konzept bis in die Gegenwart von anderen Künstlerinnen und Künstlern appropriiert und medientechnisch aktualisiert worden ist.24 Vor allem mit den sogenannten New Topographics25 der 1970er Jahre, die Motive, Stil und Praxis der amerikanischen Landschaftsfotografie bis in die Gegenwart maßgeblich prägten, haben sich Tankstellen, Rastplätze, Motels oder eben Parkplätze als oftmals präferierte Motive erwiesen. Bei Stephen Shore etwa, der den von der Minimal und Concept Art kommenden Ruscha als Einfluß nennt,26 finden sich in dessen 1982 veröffentlichtem Fotobuch Uncommon Places und in den bereits zuvor entstandenen Fotografien der später publizierten Werkgruppe American Surfaces eine Vielzahl von Bildern »of neglected architecture, parking lots, and street 20 Anthony Vidler: unHEIMlich. Über das Unbehagen in der modernen Architektur. Hamburg 2002. 21 Ebd., S. 21. 22 Bei dem Parkplatz, den Joel Sterfelds Bild zeigt, handelt es sich um den Baugrund des später errichteten und mittlerweile geschlossenen Children’s Museum of Los Angeles, das sich im Rücken des Betrachtersubjekts befindet. An selber Stelle befindet sich heute ein Wissenschaftsmuseum. 23 Edward Ruscha: Thirtyfour Parking Lots in Los Angeles. Künstlerbuch, 1967. 24 Vgl. etwa Hermann Zschiegner: Thirtyfour Parking Lots on Google Earth. San Francisco 2006 sowie Travis Shaffer: Thirtyfour Parking Lots in Los Angeles via Google Maps, New York 2008. 25 New Topographics. Pictures Of A Man-Altered Landscape ist der Titel einer wirkmächtigen, von William Jenkins im Jahr 1975 kuratierten Ausstellung, die im International Museum of Photography des George Eastman House in Rochester, New York, gezeigt wurde. 26 Vgl. Susanne Lange: »A Conversation With Stephen Shore«. In: Bernd und Hilla Becher. Festschrift, Erasmuspreis 2002. München 2002, S. 47-50, hier: S. 47f. 8 intersections«27. Beide Serien bilden eine Gruppe von Fotografien, die typische Erscheinungsweisen amerikanischer Landschaft in einer Weise fassen, die für die Landschaftsfotografie stilbildend geworden ist. Der leere – das heißt: der menschenleere – Parkplatz, dessen Leere mittels medialer Verfahren wirkungsvoll verfertigt wird, ist ein Gemeinplatz der Fotokunst der letzten vierzig Jahre. Diese Tradition bildet jene Folie, jene Referenz, vor der Sternfelds Repräsentationspolitik der Tatorte ihre Wirkung und Logik entfaltet. Seine Fotografien lassen sich – indem sie das, was sie thematisieren, offenkundig abwesend lassen – nicht unmittelbar einer dokumentarischen Verwendungsweise des fotografischen Mediums zurechnen. Mit Blick auf die Strategien und Verfahren einer solchen Form der Landschaftsfotografie lässt sich ablesen, wie die künstlerische Fotografie allgemein daran arbeitet, als eigenständige Reflexion von gesellschaftlichen Verhältnissen erkennbar zu werden – von Verhältnissen, die über einen kulturellen Kontext (etwa Bezüge zur Kulturtheorie) und mittels der Referenz fotografischer Vor-Bilder (so jenen der New Topographics) thematisch werden, und das heißt, mittels medialer und intertextueller Verfahren, weniger über solche der Darstellung oder Repräsentation. Sternfelds Bilder bringen nichts ›Verdrängtes‹ zur Erscheinung, sondern das Verdrängen, das Vergessen selbst wird medial thematisch: In der Ausstellung einer Lücke, einer Leerestelle, die politisch verstanden wird. Demgegenüber deutet Anthony Vidler – der sich freilich nicht explizit auf die künstlerische Fotografie bezieht – die Hinwendung und Ästhetisierung ›gewöhnlicher‹ oder zumindest als ›gewöhnlich‹ konstruierter Räume sowohl in der Kulturtheorie als auch der Kunst in den 1990er Jahren als ein offenkundig werdendes »Interesse am Unheimlichen als Metapher für eine im Grundsatz unerträgliche moderne Lebensbedingung«28. Eine solche Aussage muss in den zeitabhängigen Kontext gerückt werden – die Erfahrung einer ›postmodernen‹, ›postfordistischen‹ Wirklichkeit nach dem vermeintlichen »Ende der Geschichte«. Unter diesem wirkmächtigen Schlagwort fasst Francis Fukuyama 1989 eine Diagnose, derzufolge es mit dem Ende des Kalten Krieges zu einer »end of history« gekommen sei. Nicht nur habe der Kapitalismus und die ihm zugrundeliegende liberal-demokratische Ordnung weltweit gesiegt; in Folge gebe es auch keinen Anlass mehr zu einem Wettbewerb der politischen und wirtschaftlichen Systeme. Mehr noch: Der Anbruch der »Posthistoire« verunmögliche jedwede widerständige Position, es bleibe nur die Anpassung und Bejahung des Bestehenden.29 Doch Sternfelds Fotografien eignen sich nicht, primär Diagnosen einer Entfremdung oder dem Versiegen politischer Utopien stark zu machen, sondern etablieren eine ganz anderen Repräsentationspolitik: Eine politische Kritik, für die Attribute des Unheimlichen produktiv werden. Dabei geht es gerade um eine politische Aufladung des Gezeigten, nicht um die Ausstellung einer ›Leere‹ der Bilder, die sinnbildlich für einen ›postmodernen‹ Verlust der 27 Crair, Ben: »›Then I Found Myself Seeing Pictures All the Time‹«. In: The New Republic, 22.10.2013, http://www.newrepublic.com/article/115243/stephen-shore-photography-american-surfaces-uncommon-places (22. Juli 2015). 28 Quellenangabe fehlt 29 Vgl. Francis Fukuyama: »The End Of History?«, in: The National Interest, 2, 1989, S. 4-16. 9 Tiefendimension stünde, sondern, im Gegenteil, um ein in das Betrachtersubjekt verlagertes Auffüllen des fotografischen Bildes mit ›Bedeutung‹, ›Sinn‹ und ›Semantik‹. Wie viele andere Gewaltexzesse, ist auch der Übergriff auf Rodney King durch die Videoaufzeichnung des Geschehens ein Fernsehereignis gewesen; die Bilder der Tat stellen alles andere als eine Leerstelle dar, sondern bilden einen fast schon emblematischen Ausdruck rassistischer, staatlicher Gewalt. Die unheimliche ›Leere‹ des eingangs betrachteten Tatortbildes ist somit nicht nur der Verweis auf die prinzipiell ›spukhafte‹ Epistemologie fotografischer Praxis, seine Lesart als unheimlich nicht nur Ausweis der psychoanalytischen Imprägnierung von Wahrnehmung oder der Hinweis auf eine immer schon gegebene, anthropologische Entfremdungskonstante – auch, wenn möglicherweise all diese Aspekte zutreffend sein mögen. Die Fotografie und die Serie, der sie entstammt, problematisieren eine alltägliche, und daher umso unheimlichere, abwesende Präsenz der Gewalt in der amerikanischen Gegenwartsgesellschaft. Entscheidend dafür ist auch, dass der Begriff der ›Gewalt‹ in Sternfelds Bildern weit gefasst ist, so dass insbesondere strukturelle Gewalt, eine rassistische Polizei- und Justizpraxis, klassenförmige und genderbezogene Ausschlüsse stets aufgerufen sind. Zugleich kennzeichnet Sternfelds Fotografien, dass sie trotz – oder gerade wegen – ihrer Unheimlichkeit zumindest einem bestimmten Publikum, nämlich Intellektuellen, ästhetisches Vergnügen zu bereiten imstande sind. Die Wirkung der Bilder folgt somit einer ambivalenten Logik: Schrecken und ästhetischer Genuss, Verunsicherung und ökonomischer ›Wert‹ oder die Abwesenheit von Sinnstrukturen und künstlerische ›Bedeutung‹ wären demzufolge keine sich wechselseitig ausschließender Gegensätze, sondern bildeten eine eigene, eben unheimliche Spannung aus. VI. Einhegung des Unheimlichen Abb. 2 — »Stern Crime«, Ausgabe 1/2015 (Titel) Im Juni 2015 erscheint die erste Ausgabe der Publikumszeitschrift stern crime – Wahre Verbrechen. Im Mittelpunkt der zukünftigen Heftreihe, so der Verlag, »stehen wahre Verbrechen aus allen Bereichen, die entlang der Tatsachen spannend und empathisch erzählt werden«30. Das künftig alle zwei Monate erscheinende Magazin richte sich, so eine Pressemitteilung, »an neugierige, gebildete Männer und Frauen ab 25 Jahren, die sich gern in qualitativ hochwertige Kriminalgeschichten vertiefen«. Der Titel der ersten Ausgabe zeigt die Fotografie einer regennassen Straße, die, zentralperspektivisch kadriert und auf die Bildmitte zulaufend, durch einen Nadelwald führt und in schließlich in einer Kurve verschwindet. Im Hintergrund ist eine bewaldete Anhöhe zu erkennen; die Bergspitze verschwindet in einem dichten Nebelfeld, das die gesamte obere Hälfte des Bildes einnimmt. Neben dem verwaschenen Grau des Nebels ist die Fotografie, die durch den Fotoreporter Guillaume Herbaut angefertigt wurde, von blauen und dunkelgrünen Farben geprägt; eine düstere Stimmung liegt über der so gestalteten Szenerie. Die Aufnahme könnte, so suggerieren schemenhaft erkennbare Reflexe von Wassertropfen auf einer Scheibe, 30 N.N.: »Gruner+Jahr: stern gründet neues True-Crime-Magazin: stern Crime – Wahre Verbrechen. Wahre Geschichten« Pressemitteilung, http://www.guj.de/presse/pressemitteilungen/stern-gruendet-neues-true-crime- magazin-stern-crime-wahre-verbrechen-wahre-geschichten/ (22. Juli 2015). 10 aus einem die Straße passierenden Fahrzeug gemacht worden sein. Auf der unteren Bildhälfte ist die Titelzeile montiert: »Spurlos«, heißt es dort, und im Untertitel weiter: »Ein Highway in Kanada. 43 Frauen sind hie verschwunden. Und es hört nicht auf«. In seinem 1925 beendeten Text Der Detektiv-Roman vermerkt Siegfried Kracauer die Abwesenheit einer gesellschaftlichen Utopie im Detektivroman seiner Zeit: »Ohne Kunstwerk zu sein, zeigt doch der Detektiv-Roman einer entwirklichten Gesellschaft ihr eigenes Antlitz reiner, als sie es sonst zu erblicken vermöchte.«31 – und zwar deshalb, so Kracauer, weil Kriminalerzählungen das »Prinzip der falschen Realität« rein darstellten: »Was sie sämtlich verbindet und prägt, ist die Idee, von der sie zeugen und von der heraus sie gezeugt sind: die Idee der durchrationalisierten zivilisierten Gesellschaft, die sie mit radikaler Einseitigkeit erfassen und in der ästhetischen Brechung stilisiert verkörpern.«32 Im Detektivroman, so Kracauer, gehe es darum, ein Verbrechen aufzulösen, indem es Schritt für Schritt nachvollzogen werde. Dabei werde eine falsche Sicherheit vorgegaukelt, indem die anfänglich »Unheimlichkeit« des Verbrechens durch den Detektiv gebannt werde, der es als bloße Störung der rationalen Ordnung der Dinge aufdecke, die damit wieder hergestellt sei. Und so sei der Detektivroman deshalb affirmativ, weil er die gegebene Realität als vernünftig setze und so tue, als könne man ihre Störungen allein durch logischen Nachvollzug wieder in Ordnung bringen. Kaum stichhaltiger ließe sich dieses Prinzip verdeutlichen, als am Beispiel des Titels von stern crime. Der sich lichtende Nebel verweist dabei sinnbildlich auf die ›aufklärerische‹ Arbeit des Detektivs, der hier in als Figur einer journalistisch tätigen und reportierenden Figur in Erscheinung tritt – einer Figur, die sich anschickt, zugleich Lust an der Gewalt des Verbrechens zu bereiten als auch die Einhegung und Begrenzung dieses Unheimlichen im rationalen Zugriff in Aussicht zu stellen. Vielleicht sind sich dieses Bild und Joel Sternfelds unheimliche Tatorte-Serie in dieser Hinsicht ähnlicher, als zunächst scheint: Im Hinblick auf eine Rationalität, die ästhetisch oder journalistisch das Unheimliche immer wieder zu begrenzen beabsichtigt, ohne es jemals gänzlich zu bannen. Während die Fotografie auf dem Titel von stern crime einen romantischen Diskurs aufruft ist, bestimmen Sternfelds Fotografien die ästhetischen Bezüge auf die Konventionen und die Geschichte der amerikanischen Landschaftsfotografie, ihren ›sachlichen‹, scheinbar unbeteiligten Stil, die immer wieder in medialen Verfahren erzeugte ›Leere‹ des fotografischen Bildes und eines »Blickes von Nirgendwo«33. In der Möglichkeit einer nicht-abschließenden Einhegung und scheinbaren ›Beherrschung‹ der Gewalt in einer Repräsentationspolitik des Unheimlichen – die sich ästhetisch bei Sternfeld und im Beispiel von stern crime durchaus divergent darstellt –, in einer grundlegenden Transformation des Inkommensurablen der Gewalt in eine ästhetische Erfahrung, die sich kulturtheoretisch und kunstgeschichtlich ›deuten‹ oder journalistisch ›einordnen‹ lässt, und die konsumierbar wird, liegt eine wesentliche Leistung und Produktivität der Bezüge auf das Unheimliche. 31 Kracauer, Siegfried: Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat. Frankfurt a. M. 1979, S. 22. 32 Ebd., S. 9. 33 Thomas Nagel: Der Blick von Nirgendwo. Frankfurt a. M. 1982. 11 Die grundlegende Gewaltförmigkeit von Gesellschaft erscheint so im Falle der Fotografien Joel Sternfelds zugleich als nicht zu fassen – in ihrer bildlichen Abwesenheit – als auch – in ihrer strukturellen Einbindung in die Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft – als permanent gegenwärtig, worin sich gerade ihre Unheimlichkeit begründet. Im Nachwort der Publikation beschreibt Sternfeld diesen Zusammenhang mit den Worten, »Die Erfahrung hat mich immer von neuem wieder gelehrt, daß man nie wissen kann, was sich unter einer Oberfläche oder hinter einer Fassade verbirgt«34. Unausgesprochen, aber umso nachdrücklicher geht diese Behauptung mit dem Glauben daran einher, dass es gerade die Fotografie sein könnte, welche die Leistung, »hinter eine Fassade« zu blicken, erbringen könnte – oder, im Falle von stern crime, der investigative Journalismus. Was aber, wenn die Gewaltförmigkeit von Gesellschaft nicht zu fassen, ja, nicht einmal unheimlich wäre? 34 Joel Sternfeld, »Nachwort«, in: Ders: Tatorte. 12 Kurzbiografie Thomas Waitz (Dr.); Studium der Film- und Fernsehwissenschaft und Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum, 2013 Promotion an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. Vertretungs- und Gastprofessuren an der HBK Braunschweig und der Universität Wien. Seit 2015 Senior Scientist und Studienprogrammleiter am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Ästhetik, Theorie und Politik der Medien, Medien der Kontrollgesellschaft, Mediale Verfahren, Medienwissenschaft und Kapitalismuskritik. Wichtigste Publikationen: Bilder des Verkehrs. Repräsentationspolitiken der Gegenwart (Bielefeld: Transcript 2014); als Mithrsg. Überwachung und Kontrolle, Zeitschrift für Medienwissenschaft, 13, 2/2015; als Mithrsg. Klassenproduktion. Fernsehen als Agentur des Sozialen (Münster: Lit 2014); Medienwissenschaft – Eine politische Praxis?, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, 9, 2/2013, S. 168-173. 13