Filmblatt 51 / 2013 1 Editorial Stürmisch fallen sich die Verliebten in die Arme, die Freude am Wiedersehen ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Die Wangen aneinander gedrückt, die Augen geschlossen, die Münder zum Lachen und Küssen geöffnet: So sehen wir Xenia Desni und Willy Fritsch in Ein Walzertraum (1925) und auf der Vorderseite die- ser Ausgabe des Filmblatts. Das Glück des Liebespaares ist nicht von Dauer – das mächtige Fensterkreuz im Hintergrund lässt es erahnen. Dem Regisseur Ludwig Berger und seiner heiter-melancholischen Operetten- verfilmung ist der Aufsatz von Christian Rogowski gewidmet, der das vorlie- gende Heft eröffnet. Nimmt Berger durch seinen Einfallsreichtum, seine Grazie und seinen Humor eine Ausnahmestellung im Weimarer Kino ein, so weist sein Lebenslauf bei aller persönlichen Tragik doch auch typische Züge auf: Wie viele andere gefeierte Filmkünstler konnte sich Berger wegen seiner jüdischen Herkunft nach 1933 in Deutschland seines Lebens nicht mehr sicher sein und musste emigrieren. Sein Bruder Rudolf Bamberger, der an vielen seiner Filme mitgewirkt hatte, wurde in Auschwitz ermordet. Ein Walzertraum ist Teil der Geschichte einer deutsch-jüdischen Symbiose, die von Antisemitismus, Hass und Mord zerstört wurde. In zwei anderen Filmen, die Claudia Sandberg und Tobias Ebbrecht vorstellen, werden die Spuren der nationalsozialistischen Judenverfolgung manifest: Erwin Leiser und Peter Lilienthal, die beide im Kindesalter aus Deutschland fliehen mussten, setzen sich später in Eichmann und das Dritte Reich (1961) und David (1979) auf ganz unter- schiedliche Weise mit dem Holocaust auseinander. Während 1944/45 die Zulassung des von Babette Heusterberg behandelten „Überläufers“ Moselfahrt mit Monika möglicherweise durch Zweifel an der arischen Abstammung des Regisseurs Roger von Norman verhindert wurde, stammt der DEFA-Film Roman einer jungen Ehe (1952) von einem Regisseur, dessen jüdische Mutter von den Nationalsozialisten in den Selbstmord getrie- ben wurde und dem selbst die Arbeit beim Film verboten worden war. In einer Nebenhandlung des von Günter Agde untersuchten Films greift Kurt Maetzig, der 2012 im Alter von 101 Jahren starb, den Prozess gegen Veit Harlan auf, dessen Film Jud Süss den Holocaust mit angefacht hat. Die deutsche Filmgeschichte besteht nicht allein aus einer Vor- und Nachgeschichte der nationalsozialistischen Diktatur und des Holocaust. Gleichwohl  – und das zeigen die in diesem Filmblatt versammelten Aufsätze, ohne es eigens zu akzentuieren – sind die einst so verheißungsvolle deutsch-jüdi- sche Geschichte und ihre Zerstörung ein Thema, das Filmemacher und Forscher weiterhin herausfordert.   Die Redaktion, 4. April 2013 Filmblatt 51 / 2013 3 Christian Rogowski Ein Schuss Champagner im Blut Ludwig Bergers musikalische Filmkomödie Ein Walzertraum (1925) Wiederentdeckt 189, 6. Juli 2012 Sommer 1925. Bei der Ufa in Babelsberg wird in nebeneinander liegenden Studios an zwei wichtigen Filmen gearbeitet, beide von Erich Pommer produziert. Hier eine düstere Zukunftsvision, eine mit ungeheurem technischen Aufwand reali- sierte Science-Fiction-Dystopie; da eine heitere Wiener Operette, ein mit leich- ter Hand entfaltetes ironisch-nostalgisches Märchen. Der eine Film kommt erst Anfang 1927 mit immenser Verspätung in die Kinos; der andere wird zügig und problemlos fertig gestellt und feiert termingerecht im Dezember 1925 Premiere. Der eine bringt aufgrund wiederholter Überschreitungen der Produktionskosten die Ufa an den Rand des finanziellen Ruins; der andere wird, wie erhofft, im In- land ein großer kommerzieller Erfolg und erschließt als sensationeller Export- schlager der Ufa eine Reihe neuer internationaler Märkte. Der eine – Fritz Langs Metro polis – geht als Schlüsselfilm in die Filmgeschichte ein; den anderen –Ein Walzer traum von Ludwig Berger – kennen nur noch Spezialisten.1 „Gehet hin, seht, bewundert – und lernt!“ Nach der Premiere im Berliner Ufa-Palast am Zoo am 18. Dezember 1925 wird Ein Walzertraum mit Lob gerade- zu überschüttet. Erich Burger hebt zum Beispiel im Berliner Tageblatt die Musi- kalität und Leichtigkeit der Komödie hervor: „Alle guten Geister Wiens springen durch diesen Film, in vielen Schattierungen und wundervoll echt in ihrer Leben- digkeit und Daseinsfülle. Wiener Atmosphäre, dieser feine Duft aus Leichtigkeit und ‚a biß’l Schwermut‘, von diesem herrlichen Aroma ist der Film erfüllt, und die Menschen, die sich darin bewegen, atmen diese Luft. Ludwig Berger gibt ihnen Klang und Farbe; aus dem Geiste der Musik entwickelt er seinen Film, mit künst- lerischem Ernst und dabei mit fast improvisierter Heiterkeit, die als leise Melo- die den ganzen Film begleitet.”2 Wolffgang Fischer würdigt Ein Walzertraum als 1 Zur Entstehungsgeschichte siehe Ludwig Bergers Memoiren: Wir sind vom gleichen Stoff, aus dem die Träume sind. Summe eines Lebens. Tübingen 1953, S. 192–211 sowie – journalistisch – Curt Riess: Das gab’s nur einmal. Die große Zeit des deutschen Films. Frankfurt am Main u. a. 1985 (zuerst 1956), Bd. 1, S. 243–250; zu Metropolis siehe Bergers Memoiren, S. 204. 2 Erich Burger: Ein Walzertraum. In: Berliner Tageblatt, Nr. 601, 20.12.1925. Filmblatt 51 / 20134 „eine Glanzleistung der deutschen Filmindustrie“ und Willy Haas mahnt: „Gehet hin, seht, bewundert – und lernt!“3 Ebenso begeistert wie die Kritik reagiert das Publikum: „Der Erfolg des Films bei der Uraufführung war stürmisch. Begeistert klatschte man unzählige Male wäh- rend der Vorführung, und zum Schluß wollte der Jubel nicht enden!“4 Bergers Film bricht in Deutschland alle Kassenrekorde, in Wien, wo ein Großteil der Hand- lung spielt, läuft er im Oktober 1926 in nicht weniger als 16 Kinos gleichzeitig.5 Heute evoziert der Name Ludwig Berger wenig mehr als vage Assoziationen. In die internationale Filmgeschichte eingegangen ist er als einer der Regisseure, die an Alexander Kordas britisch-amerikanischem Mammut-Spektakel The Thief of Bagdad (1940) beteiligt waren. Im deutschsprachigen Bereich erinnert man sich an ihn allenfalls als Regisseur von Genrefilmen, insbesondere von Märchen- filmen  – wie die Aschenputtel-Adaption Der verlorene Schuh (1923)  – und Operetten filmen. Zu nennen wären neben Ein Walzertraum die beiden musika- lischen Tonfilmkomödien Ich bei Tag und Du bei Nacht (1932) und Walzerkrieg (1933) sowie der im Exil in Frankreich entstandene Episodenfilm Trois Valses (1938). Von Mainz nach Berlin. Berger hatte zunächst mit Filmen nichts am Hut. 1892 wird er als Ludwig Bamberger in eine prominente Mainzer Bankiersfamilie jüdi- scher Herkunft hineingeboren.6 Er wächst in einer musisch interessierten groß- bürgerlichen Umgebung auf, eingebettet in eine kosmopolitische und liberal ausgerichtete Hochkultur, die sich an den klassisch-humanistischen deutschen Bildungsidealen orientiert – der Vater Franz ist ein leidenschaftlicher Amateur- geiger, die Mutter Anna Klara eine von Clara Schumann ausgebildete Konzert- pianistin. Als jüngster von drei Brüdern zeigt Ludwig schon früh künstlerische Neigungen, ist ein begabter Cello-Spieler und möchte Maler werden. Der ältes- te Bruder, Ernst (1886–1959), folgt den Fußstapfen des Vaters und übernimmt das Bankgeschäft; der zweite, Rudolf (1888–1945), studiert Malerei und Archi- tektur und arbeitet später als Szenenbildner für viele von Ludwigs Bühnen- und Filminszenierungen. Als Gymnasiast begeistert sich Ludwig Berger für Literatur, insbesondere die deutschen Romantiker und Shakespeare. An der Münchner Universität beginnt er 1910 ein Studium der Kunstgeschichte, nimmt an den legendären Literatur- 3 Wolffgang Fischer: Ein Walzertraum. In: Deutsche Filmwoche, Nr. 1, 1926, S. 18; Willy Haas: Ein Triumph deutschen Filmschaffens. In: Film-Kurier, Nr. 298, 19.12.1925. 4 K. Glück: Ein Walzertraum. In: Berliner Morgenpost, Nr. 304, 20.12.1925. 5 Der Filmbote, Nr. 43, 9.10.1926, S. 26. 6 Zur Biografie Bergers siehe neben dem ersten Memoirenband Wir sind vom gleichen Stoff vor allem Walter Heist (Hg.): Ludwig Berger. Eine Würdigung. Mainz 1966 sowie Hans-Michael Bock: Ludwig Berger. In: CineGraph. Lexikon zum deutschsprachigen Film. München 1984 ff., Lieferung 19, B 1–B 10. Filmblatt 51 / 20136 im Sommer, also gleichsam nebenbei während der Theaterferien – Kostüm- und Märchenfilme, bei denen er sein filmisches Handwerk lernt. Schon seine ersten Filme bringen ihm in der Fachpresse Respekt und Anerkennung ein. Projekt: „Kassenerfolg“. Anfangs sträubt Berger sich gegen den Vorschlag, für die Ufa, die sich inzwischen die Decla-Bioskop einverleibt hatte, mit Ein Walzer- traum einen „Operettenfilm“ zu drehen. Zum einen sind es das ihm frivol und oberflächlich erscheinende Sujet und die vermeintliche Verlogenheit des Operet- ten-Genres, die ihm verdächtig vorkommen. Zum andern ist es Pommers explizite Vorgabe, einen „Kassenerfolg“ zu schaffen, was Berger wie ein Verrat an den eige- nen künstlerischen Interessen erscheint. Als Kompromiss beschließt Berger, die seichte Operettenhandlung in der Art eines ironisch gebrochenen Märchens zu be- handeln – orientiert an der deutschen Romantik und an Hans Christian Andersen.9 Ein Walzertraum ist mithin keine „Verfilmung“ einer Operette im engeren Sinne. Ein Walzertraum wird im In- und Ausland ein bemerkenswerter Erfolg. In Deutschland löst er eine wahre Welle von Operettenfilmen meist minderer Qua- lität aus, die den Markt überschwemmen.10 Bergers Film wird in dutzende Län- der exportiert und läuft beispielsweise mit großem Erfolg in den USA und Latein- amerika.11 Seinem Schöpfer bringt dieser Erfolg eine Einladung nach Hollywood ein, der er – wie 1922 schon Ernst Lubitsch, der andere große Meister der deut- schen Filmkomödie – im Jahre 1927 folgt. In Amerika allerdings fasst Berger im Gegensatz zu Lubitsch nie so recht Fuß. Ein anfänglicher Vertrag mit Fox Films zerschlägt sich, und auch die Zusammenarbeit mit Paramount verläuft für Berger wenig glücklich.12 Nachdem er über einen Zeitraum von rund vier Jahren zwischen Hollywood und Berlin hin- und hergependelt ist, kehrt Berger 1931 reichlich zermürbt nach Deutschland zurück. Hier kann er in Zeiten der Weltwirtschaftskrise und des po- litischen Umbruchs noch zwei große erfolgreiche musikalische Komödien rea- lisieren, Ich bei Tag und Du bei Nacht (1932) und Walzerkrieg (1933), beide wieder mit Willy Fritsch. Danach muss Berger als Jude vor der Naziherrschaft ins Ausland fliehen. Nach Zwischenstationen in Paris und London findet er Zuflucht 9 Berger: Wir sind vom gleichen Stoff, S. 190. 10 Kevin Clarke: Walzerträume: Wien als Setting in Bühnen- und Tonfilmoperetten vor und nach 1933. In: Rainer Rother, Peter Mänz (Hg.): Wenn ich sonntags in mein Kino geh’. Ton – Film – Musik 1929–1933. Berlin 2007, S.  106–123. Vgl. hierzu auch Michael Wedel: Der deutsche Musikfilm. Archäologie eines Genres. München 2007. 11 Vgl. Berger: Wir sind vom gleichen Stoff, S. 205. Ein Walzertraum läuft mehrere Wochen im Capitol Theater, dem größten Erstaufführungskino in New York (vgl. The New York Times, 1.8.1926), und im Forum Theater in Los Angeles (vgl. The Los Angeles Times, 27.8.1926). Zu Lateinamerika vgl. Walzertraum in Brasilien. In: LichtBildBühne, Nr. 147, 21.6.1927. 12 Vgl. die Kapitel „Der Biß der Kobra“ und „Zwischen den Welten“ in Berger: Wir sind vom gleichen Stoff, S. 212–241. Filmblatt 51 / 2013 7 in Amsterdam, wo er nach der deutschen Invasion untertaucht.13 1947 kehrt er nach Deutschland zurück und arbeitet als Regisseur: Am Theater konzentriert er sich auf Goethe und Schiller, für den Rundfunk realisiert er mehrere Shakespeare- Hörspiele, und beim Fernsehen ist er als Pionier tätig und inszeniert eine Reihe von Shakespeare-Komödien als Fernsehspiel. Schon vor Bergers Ufa-Film hatte es Versuche gegeben, die am 2. März 1907 mit außerordentlichem Erfolg im Wiener Carltheater uraufgeführte Operette Ein Walzertraum von Oscar Straus (1870–1954) für die Leinwand zu adaptieren. 1908 produziert Alfred Duskes eine Reihe von „Tonbildern“ mit Gesangsnummern aus Straus’ Operette, 1919 erscheint eine ungarische Filmversion, inszeniert von Mihály Kertész, der später als Michael Curtiz mit Filmen wie Casablanca (1942) in Hollywood Karriere macht.14 1922 versucht sich Ernst Lubitsch zusammen mit seinem Drehbuchautor Hanns Kräly am gleichen Stoff. Er gibt das Projekt je- doch wieder auf und realisiert erst nach Einführung des Tonfilms mit The smiling lieutenant (1931) seine Straus-Adaption, in der Maurice Chevalier, Miriam Hopkins und Claudette Colbert die Hauptrollen spielen.15 Berger übernimmt 1925 in seiner Stummfilmfassung nur einige zentrale Motive aus der Operette von Oscar Straus und aus deren Vorlage, der 1905 veröffentlich- ten Novelle Nux, der Prinzgemahl von Hans Müller (1892–1950).16 Er schafft eine eigenständige musikalische Komödie, deren Komik auf genuin filmischen Mitteln basiert. Die reichlich dröge Novelle beginnt zum Beispiel mit den Reiseplänen ei- nes deutschen Duodezfürsten, der im Ausland einen standesgemäßen Ehemann für seine nicht mehr ganz junge Tochter – ein Mauerblümchen – suchen will.17 Die mit gängigen Klischees arbeitende Operette setzt ihrerseits mit der Hochzeits- feier der ungleichen Partner ein und lässt die dramatischen Scheinkonflikte um den widerspenstigen Prinzgemahl sich erst später entfalten.18 Bergers Film hinge- gen beginnt in Wien vor der ersten Begegnung des spröden deutschen Prinzess- chens und des feschen österreichischen Leutnants, die auf Umwegen zueinander 13 Der älteste Bruder Ernst Bamberger überlebt die Kriegsjahre in London und übernimmt in den 1950er Jahren wieder das Mainzer Bankgeschäft. Rudolf Bamberger betreibt für einige Jahre eine Brauerei in Luxemburg. Im Sommer1944 wird er dort von den deutschen Besat- zungstruppen verhaftet, deportiert und vermutlich im Januar 1945 in Auschwitz ermordet. Siehe das undatierte, umfangreiche Typoskript von Hans Cürlis: Rudolf Bamberger. Seine Arbeit und sein Schicksal (Ludwig Berger Archiv, Akademie der Künste, Berlin, Mappe 2660). 14 Vgl. Film-Kurier, Nr. 34, 15.7.1919. 15 Vgl. Lubitschs Idee zum Walzertraum-Film. In: Kinematograph, Nr. 985, 3.1.1926, S. 15–16. 16 Die Novelle erschien in Hans Müllers Buch der Abenteuer. Berlin 1905, S. 159–205. 17 Ein früher Drehbuchentwurf stellt eine Bahnfahrt an den Anfang; vgl. Ein Walzertraum. Ausführliches Exposé, undatiert (Ludwig Berger Archiv, Akademie der Künste, Berlin, Map- pe 2059). 18 Ein Walzertraum. Operette in 3 Akten von Felix Dörmann und Leopold Jacobson. Musik von Oscar Straus. Klavierauszug mit Text. Leipzig, Wien 1907. Filmblatt 51 / 201310 lässt. Auch vermeidet Berger weitgehend sexuell-schlüpfrige Anspielungen, wie sie in Die Austernprinzessin und später in The smiling lieutenant (1931) in großer Fülle zu finden sind. Dominiert bei Lubitsch der satirische Biss, zeichnet sich Bergers Humor durch eine leise Zurückhaltung aus. Bei Berger herrscht ein spielerisch-märchenartiger Umgang mit dem Sujet vor, der an die „romantische Ironie“ der vom Regisseur verehrten literarischen Vorbilder der deutschen Ro- mantik erinnert, darunter Ludwig Tieck, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. Im technischen Stab hat Berger für seinen fünften Film eine Reihe namhafter Routiniers um sich versammelt. Das Drehbuch stammt von Robert Liebmann und Norbert Falk. Liebmann hat zu diesem Zeitpunkt bereits Dutzende Manuskripte für Genre-Filme geschrieben; er wird später für Welterfolge wie Der blaue Engel (1930) und Der Kongress tanzt (1931) mitverantwortlich zeichnen.19 Falk hat- te bereits zwischen 1918 uns 1921 an mehreren Filmen von Lubitsch mitgewirkt und ist später ebenfalls an Der Kongress tanzt beteiligt.20 Die Bauten stammen von Bergers Bruder Rudolf Bamberger – die Babelsberger Studioszenen hat Ber- ger hier geschickt mit vor Ort in Wien gedrehten Außenaufnahmen verknüpft. Die Musik bei der Uraufführung wird von Ernö Rapée zusammengestellt. Der damali- ge Chef des hauseigenen Kino-Orchesters im Ufa-Palast am Zoo verwendet dazu Musik aus Straus’ Operette, die er mit Melodien der Walzerkönige und Beinahe- Namensvettern Johann und Josef Strauß vermischt. Für visuelle Trickeffekte, die über die Arbeit des Kameramanns Werner Brandes hinausgingen, waren Eugen Schüfftan und Helmar Lerski zuständig, die zeitgleich auch bei Metropolis mit- wirken. Kitsch, Klischees und Ironie. Zeitgenössischen Berichten zufolge stand am Anfang von Ein Walzertraum eine charmante, in den überlieferten Kopien feh- lende Tricksequenz, welche das Wiener Schloss Schönbrunn als ersten Hand- lungsort einführt. Im Drehbuch heißt es dazu, es „entwickeln sich die Buchsta- ben des Wortes ‚Wien‘ zu schön geformten Damenbeinen und den zugehörigen Füßen, die sobald sie körperliche Form angenommen haben, in der Luft zu tanzen beginnen. Der i-Punkt über dem i in Wien beginnt zu rotieren, schwillt an, wächst dem Auge des Zuschauers entgegen zum Wiener Riesenrad, hinter dem die Füße langsam verschwinden. Das Gestell des Riesenrades, das leiterartig aufgestellt 19 Liebmann arbeitete später noch mehrmals mit Berger zusammen – als Mitautor von Der Meister von Nürnberg (1927), Ich bei Tag und Du bei Nacht (1932) und Walzerkrieg (1933). Nach 1933 fand Liebmann Arbeit beim Film in Frankreich und Amerika. Nach der Beset- zung Frankreichs wurde er verhaftet und vermutlich 1942 in Auschwitz ermordet. Vgl. Kay Weniger: „Es wird im Leben dir mehr genommen als gegeben …“. Lexikon der aus Deutschland und Österreich emigrierten Filmschaffenden 1933 bis 1945. Eine Gesamtübersicht. Hamburg 2011, S. 308. 20 Berger war offenbar zunächst als Regisseur von Der Kongress tanzt vorgesehen, lehnte das Angebot Pommers aber ab. Vgl. den Brief von Rudolf Bamberger an Ludwig Berger vom 7.10.1930 (Ludwig Berger Archiv, Akademie der Künste, Berlin, Mappe 72). Filmblatt 51 / 201312 chert durch die drei Interessenbereiche, die seinen künstlerischen Werdegang bestimmt haben: Aus seiner Musikalität ergibt sich ein sicheres Gespür für filmi- sche Erzählrhythmen; seine malerische Begabung ist an eleganten, hervorragend ausgeleuchteten Bildkompositionen zu erkennen; seine Erfahrung mit Theater und Literatur resultiert in einer feinfühligen Personenregie, die psychologische Nuancen aufdeckt, ohne die Figuren zu denunzieren. Alles wird mit einer Leich- tigkeit gehandhabt, die im deutschen Film der Weimarer Republik einzigartig bleibt, alles steht im Zeichen eines geistig hellwachen, souveränen, versöhnli- chen Humors. Den Deutschen, so soll Bismarck einmal gesagt haben, fehle „ein Schuß Cham- pagner im Blut“. Als Ein Walzertraum Ende 1925 uraufgeführt wird, zitiert Monty Jacobs in seiner überschwänglichen Besprechung in der Vossischen Zei- tung diesen Spruch und bemerkt voller Freude: „Offenbar hat das Schicksal uns den Filmschöpfer Ludwig Berger gesandt, um uns das Fehlende nachträglich zu bescheren.“23 Die Deutschen haben Berger und seinen Mitarbeitern – wie Berger selbst meist jüdischer Herkunft  – für dieses Geschenk eines geistreich-weltoffe- nen, souverän-versöhnlichen Humors keinen Dank erwiesen. Ein Walzertraum Deutschland 1925 / Regie: Ludwig Berger / Drehbuch: Robert Liebmann, Norbert Falk / Vorlage: Novelle Nux, der Prinzgemahl von Hans Müller; Operette Ein Walzertraum von Oscar Straus, Libretto von Leopold Jacobsohn und Felix Dörmann / Kamera: Werner Brandes / Bauten: Rudolf Bamberger / Musik: Ernö Rapée (unter Benutzung von Wiener Weisen) / Produktionsfirma: Universum-Film AG (UFA), Berlin / Produzent: Erich Pommer / Verleih: Decla-Bioscop / Darsteller: Willy Fritsch (Nikolaus „Nux“ Graf Preyn) / Mady Christians (Prinzessin Alix von Flausenthurn) / Xenia Desni (Kapellmeisterin Franzi Steingruber) / Lydia Potechina (Bassistin Steffi)  / Mathilde Sussin (Ehrendame Fräulein von Köckeritz)  / Carl Beckersachs (Prinz Peter Ferdinand)  / Julius Falkenstein (Oberhofmarschall Rockhoff von Hoffrock) / Jakob Tiedtke (Herzog Eberhard XXIII. von Flausenthurn) / Hans Brausewetter (Kellner)  / Dreharbeiten: Juli-Oktober 1925 in Neubabelsberg und Wien (Schloss Schön- brunn) / Zensur: Prüf.-Nr. B.11997 vom 15.12.1925, 6 Akte, 2.836 m, Jugendverbot / Urauffüh- rung: 18.12.1925, Ufa-Palast am Zoo, Berlin Kopie: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden, 35mm, s/w, 2.922 m (116 Minuten bei 22 Bildern/Sekunde) 23 Monty Jacobs: Ludwig Bergers Walzertraum. In: Vossische Zeitung, 20.12.1925. Filmblatt 51 / 2013 13 Babette Heusterberg Progress mit Kitschfilmen und alten Schmarren? Der Überläufer Moselfahrt mit Monika (1944) zwischen „Drittem Reich“ und DDR Wiederentdeckt 185, 2. März 2012 „Ein froher Film von jungen Menschen und sommerlichem Ferienglück.“ Mit die- sen Worten wird 1952 die Premiere von Moselfahrt mit Monika im Ost-Berliner Kino Babylon beworben.1 So unverfänglich der Stoff der Komödie, so seltsam ist doch ihre Produktions- und Rezeptionsgeschichte. Als der 1943/44 im „Dritten Reich“ gedrehte, aber nicht mehr herausgebrachte Film zehn Jahre später in der DDR ins Kino kommt, zeigt er nämlich touristische Bilder einer Region, die weit weg im anderen Teil Deutschlands liegt. Eine weitere Ironie der Geschichte ist, dass Roger von Norman, der Regisseur von Moselfahrt mit Monika, 1953 in der Bundesrepublik den antikommunistischen Kompilationsfilm Die Partei hat im- mer recht herstellt, der sich auf besonders bissige Weise mit der SED auseinan- dersetzt. Ganz im Zeichen des beginnenden Kalten Krieges hetzt der Regisseur gegen die DDR, indem er Wilhelm Pieck und Adolf Hitler auf eine Stufe stellt.2 Jahrzehntelang lag Moselfahrt mit Monika danach unbenutzt in den Bestän- den des Staatlichen Filmarchivs der DDR und des Bundesarchivs.3 2011 wurde dann im Bundesarchiv-Filmarchiv auf Grundlage des erhalten gebliebenen Origi- nalbild- und Tonnegativs eine neue Kopie hergestellt. Aus welchen Gründen aber wurde der Film im „Dritten Reich“ nicht veröffent- licht? Wie kam es, dass er sich einreihte in die Gruppe von etwa 100 Filmen, die bei Kriegsende fertig gestellt waren, aber nie aufgeführt wurden? Gründe dafür waren die immer schwieriger werdende Materiallage und die desolate Verleih- und Kinostruktur im letzten Kriegsjahr, aber auch die Verweigerung der Zulas- sung. Hatte die Nicht-Zulassung womöglich mit dem Regisseur zu tun, den die Nationalsozialisten 1944 als „Halbjuden“ einstuften, oder mit dem Verfasser der Liedtexte, Erich Knauf, der 1944 wegen „Wehrkraftzersetzung“ hingerichtet wur- de? Und was führte dazu, dass der Film 1952 schließlich doch noch in den Verleih kam? 1 Anzeige des Progress-Filmverleihs zur Premiere am 19.8.1952 im Filmtheater Babylon. Vgl. Bundesarchiv-Filmarchiv (BArch Film) B 119186. 2 Eine Kopie von Die Partei hat immer recht befindet sich im Bundesarchiv-Filmarchiv. 3 Eine kombinierte Filmkopie gelangte 1959 als Abgabe vom Deutschen Fernsehfunk der DDR in das Staatliche Filmarchiv. Ob es tatsächlich zu einer Fernsehverwertung kam, z. B. in „Willes Schwabes Rumpelkammer“, ließ sich nicht feststellen. Filmblatt 51 / 201314 Ein Nachwuchsfilm der Terra. Wie die anderen großen Produktionsfirmen im „Dritten Reich“ verfügte die Terra über ein Nachwuchsstudio, in dem etwa halb- stündige „Studio-Filme“ gedreht wurden. Moselfahrt mit Monika war der erste Versuch der Terra, einen abendfüllenden Film von ihrer Nachwuchsabteilung dre- hen zu lassen. Der Produktionschef Alf (Adolf) Teichs kam damit der Forderung von Propagandaminister Joseph Goebbels nach, der die „Nachwuchsschulung und die Heranziehung von besonders geeigneten Schauspielern und Schauspie- lerinnen […] mit Systematik betrieben“ wissen wollte.4 Der 1908 in Ungarn geborene Regisseur Graf Roger von Norman hatte nach ei- genen Angaben bis 1933 bereits an über 20 Filmen als Schnittmeister mitgewirkt. Mit seinem Regiedebüt Spiel im Sommerwind (1938) hatte die damals 16-jährige Hannelore Schroth ihren Durchbruch als Schauspielerin. Anschließend drehte von Norman für die Terra das Melodram Die fremde Frau (1939) und einen Film über die Flieger-HJ, Himmelhunde (1942), der von der Alliierten Militärzensur 1945 verboten wurde und heute als „Vorbehaltsfilm“ eingestuft ist. Nach Himmel- hunde lassen sich keine weiteren Filmangebote an von Norman nachweisen.5 In Moselfahrt mit Monika paddeln die Freunde Heiner (Jaspar von Oertzen) und Florian (Peter Martin Urtel), die sich nach langer Zeit wiedersehen, in ih- ren Faltbooten mit den Namen „Eheglück“ und „Solo“ in vier Tagen die Mosel 200 Kilometer flussabwärts. In Heiners Begleitung befindet sich statt seiner Gat- tin Nora seine Schwester Monika, die der Junggeselle Florian für Heiners Frau hält. Da Heiner und Monika das Missverständnis nicht aufklären und sich Florian in Monika verliebt, kommt es zu Täuschungsmanövern, die der Fahrt besondere Reize verleihen. Die Situation wird noch komplizierter, als mit Susanne und Tilo ein weiteres Paar dazu stößt und auch Nora anreist. Bevor das Happy End gleich drei glückliche Paare präsentieren kann, moderiert Albert Florath kleinere Strei- tigkeiten und Verwicklungen als kauziger Professor – stets mit einem guten Glas Wein in der Hand. Neben Florath, der bereits in den drei vorangegangenen Regiearbeiten von Norman mitgespielt hatte, agieren vor allem drei weibliche Nachwuchskräfte: Die damals gerade 20-jährige Eva Maria Meinecke spielt Monika; sie war danach in zahlreichen Kino- und Fernsehfilmen zu sehen. Dass sie am Anfang in gleich drei im „Dritten Reich“ verbotenen bzw. nicht aufgeführten Filmen mitspielte – Mit den Augen einer Frau (1942), Der verzauberte Tag (1943) und eben Moselfahrt mit Monika – tat ihrer Karriere keinen Abbruch. Während Ruth Buchardt – die Nora – nach 1945 in keinem deutschen Kinofilm mehr mitspielte, setzte Margit (auch Margrit Carmen) Debar, hier in der Rolle der Susanne, ihre Schauspiel- 4 Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Hg. von Elke Fröhlich. Teil II (Diktate 1941–1945), Bd. 1 (Juli–September 1941). München u. a. 1996. S. 500. 5 Vgl.  Bundesarchiv (BArch) VBS 234/2678000107, VBS 211/2652003749, VBS 236/ 2680000459, VBS 225/2667002311 und VBS 159/2600014805. Filmblatt 51 / 2013 17 karriere nach dem Krieg unter dem Namen Andrée Debar in ihrem Geburtsland Frankreich fort.6 Roger von Norman begann Mitte Juni 1943 mit den Vorarbeiten für Moselfahrt mit Monika; die Dreharbeiten starteten dann am 16. August 1943 bei Trier. Die Mosel war damals noch nicht als Wasserstraße für die Berufsschifffahrt ausge- baut; in einem Faltboot dahin zu gleiten, war noch ungefährlich. Bereits im Sep- tember machten die Herbstnebel jedoch weitere Außenaufnahmen, die vor allem in und bei Enkirch stattfanden, unmöglich. Mitte November drehte man dann in verschiedenen Dekorationen des Althoff-Ateliers in Babelsberg und zog gegen Ende 1943 noch einmal um. In der Ufa-Stadt Babelsberg wurden die Aufnahmen am 25. Februar 1944 offiziell beendet.7 Währenddessen begann schon die Produktion von Werbematerialien, von Pro- grammen und Aushangfotos. Daher wurde in einem Programm fälschlicherweise Wolfgang Zeller für die Musik angekündigt; tatsächlich hat sie Harald Böhmelt komponiert.8 Auch die Berichterstattung in der Presse lief seit Drehbeginn auf Hochtouren. Der Film-Kurier druckte am 23. September 1943 einen ersten Artikel; in der Ausgabe vom 4. Januar 1944 war dann zu lesen: „Bald werden die letzten paar Szenen gedreht sein. Und dann wird das harmlos-heitere Spiel mit flotten Paddelstößen dahinplätschern, allen denen zur angenehmen Unterhaltung, die jung genug sind oder sich die Gabe bewahrt haben, mit der Jugend heiter zu sein.“ „Bis auf weiteres zurückgestellt.“ Der nachfolgende Synchronisations- und Ablieferungstermin wurde mehrmals verschoben und der fertige Film erst nach weiteren sieben Monaten abgeliefert. Auch am 9. November 1944 war er Goebbels noch nicht vorgeführt worden.9 In einem Bericht der Reichsfilmintendanz vom 4. Dezember 1944 findet sich der Film in der Rubrik „Filme, die im Ministerium vorliegen, jedoch noch nicht zensiert sind“.10 Am 4. April 1945  – knapp zwei Wochen vor Beginn der Schlacht um Berlin – teilt der Reichsfilmintendant Hans Hinkelder der Deutschen Film Vertriebs GmbH (DFV), dem zentralen Filmverleih der UFI, auf Nachfrage mit, dass Moselfahrt mit Monika „[b]is auf weiteres zu- rückgestellt“ sei.11 Diese „Zurückstellung“ kam praktisch einem Verbot gleich. Die Gründe dafür sind bis heute unbekannt und lassen sich wegen der schlech- ten Quellenlage nicht mehr sicher klären. Auch Zeitzeugen wie der Kameramann 6 BArch VBS 159/2600003805 und http://fr.wikipedia.org/wiki/Andr%C3%A9e_Debar. (27.2.2012) 7 Vgl. Kraft Wetzel, Peter Hagemann: Zensur – Verbotene deutsche Filme 1933–1945. Berlin 1978, S. 95. 8 BArch FILMSG1/11768. 9 BArch R 109-II 5, 27. 10 BArch R 109-II/2, 4. 11 BArch R 109-II/31. Filmblatt 51 / 2013 19 Ein anderer Grund für die Zurückstellung des Films könnten Zweifel an der arischen Abstammung des Regisseurs gewesen sein, der es 1933 immerhin bis zum „Leiter der Sparte Schnittmeister“ in der Fachgruppe Film der Reichskultur- kammer gebracht hatte.15 Im März 1944 wurde bekannt, dass ein genealogisches Taschenbuch von 1914 Roger von Norman als „Halbjuden“ listete.16 Aber vielleicht wurde die Prüfung des Films auch aus ganz banalen Gründen zurückgestellt: Es gab wegen der Kriegszerstörungen immer weniger bespiel- bare Kinos, und Kopierwerks- und Rohfilmkapazitäten brachen weg, so dass eine Premiere schon aus rein objektiven Gründen in weite Ferne rücken konn- te. Womöglich wollte der zuständige Bearbeiter, der das bevorstehende Ende des „Dritten Reiches“ vorausahnte, den unerledigten Vorgang auch einfach nur vom Tisch haben und schloss die Akte Moselfahrt mit Monika nach allen Regeln der Behördenorganisation. Überläufer und Reprisen. Zahlreiche der unveröffentlichten Filme aus den letzten Kriegsjahren kamen erst nach 1945 unter neuen politischen und gesell- schaftlichen Vorzeichen in die Kinos; man nennt sie auch „Überläufer“.17 Einige mussten erst noch fertiggestellt werden. Das reichseigene Filmvermögen der Ufa Film GmbH (UFI), zu dem auch die Terra gehörte, wurde mit dem Military Govern- ment Law No. 52 vom 14. Juli 1945 beschlagnahmt. Filmproduktion, Verleih und Vorführung unterlagen strengen Lizenzierungsvorschriften der jeweiligen Besatzungsmacht. In der Praxis gab es große Unterschiede zwischen dem film- politischen Vorgehen in der amerikanischen, britischen und französischen und sowjetischen Besatzungszone. So forcierte die sowjetische Militärregierung mit Gründung der Deutschen Film-AG (DEFA) im Mai 1946 einen raschen Wiederauf- bau der Filmstrukturen, natürlich unter sowjetischer Aufsicht. Das Filmangebot der Kinos war dabei wesentlich – je nach Militärregierung – vom Import amerika- nischer, britischer, französischer und sowjetischer Filme geprägt. Bestimmt wurde das Programm der unmittelbaren Nachkriegszeit außerdem durch deutsche und österreichische „Altfilme“ und glich dadurch dem Filmange- bot vor der Kapitulation.18 Neu hinzu kamen die unvollendeten „Überläufer“. Der Rückgriff der Verleiher auf ältere deutsche Filme war zuweilen problematisch – aber nicht unmöglich.19 Die als „Reprisen“ bezeichneten Filme kamen, manchmal 15 BArch VBS 234/2678000107. 16 Weil Roger Graf von Norman, geb. Nervigyén, im Semigothaischen genealogischen Taschen buch aristokratisch-jüdischer Heiraten (1914) als „Halbjude“ geführt werde, wurde er am 26. März 1943 von der Reichsfilmkammer aufgefordert, den arischen Nachweis „nach jetzt gültigen Bestimmungen“ zu erbringen. Vgl. BArch VBS 159/2600014805. 17 Vgl. Holger Theuerkauf: Goebbels Filmerbe. Das Geschäft mit unveröffentlichten Ufa-Filmen. Berlin 1998. 18 Vgl. Kategorisierung in der Statistik „Filmrennen“ in Filmblätter, Nr. 53, 22.12.1952, S. 1158. 19 Vgl. http://www.filmportal.de/thema/der-umgang-mit-dem-filmerbe-der-ns-zeit (21.2.2012). Filmblatt 51 / 201320 mit neuem Verleihtitel, in allen vier Besatzungszonen und später in der Bundes- republik und der DDR zum Einsatz. Dass ein Film wie Moselfahrt mit Monika erst acht Jahre nach seiner Fertigstellung seine Erstaufführung in der DDR erlebte, war nicht ganz ungewöhnlich; tatsächlich gelangte auch in der Bundesrepublik Wolfgang Staudtes Tobis-Produktion Das Mädchen Juanita (1944; Arbeitstitel: „Frau über Bord“) erst im Mai 1952 zur Uraufführung – ein „Überläufer“ mit dem längst verstorbenen Heinrich George in der Hauptrolle. Im August 1952 betrug der Anteil solcher alten Filme im Kinoangebot von Ost-Berlin 8,4 % und in West- Berlin 5,5 %.20 Als in Ost-Berlin 1950 die Progress Film-Vertrieb GmbH gegründet wurde, die bis 1990 als Monopolistin das Kinoangebot in der DDR bestimmte, ge- hörten zu deren Verleihangebot allein 27 deutsche Filme aus der Zeit vor 1945.21 Zieht man DEFA-Filme ab, so bestand 1950 mehr als die Hälfte (55 %) des Kinoan- gebots aus Produktionen aus dem „Dritten Reich“. Auch 1952 liefen in der DDR zahlreiche NS-Filmproduktionen, was offenbar nicht jeder Kinogänger mit der antifaschistisch-demokratischen Ausrichtung des Landes für vereinbar hielt. Das einzige Branchenblatt in der DDR, Neue Film- welt, das sonst mit keiner Zeile über derartige Filme berichtete, druckte den Brief eines Lesers unter der Überschrift „Wiederholungen guter Filme sind besser als alte Kitschfilme“ ab: „Mit großer Betrübnis muß ich immer wieder feststel- len, daß wir fast jede zweite Woche einen ‚neuen‘ alten Schmarren aus der alten UFA-Traumfilmproduktion in unser Verleihprogramm aufnehmen […] Daß diese Spielplanpolitik falsch ist, darüber besteht wohl nirgends ein Zweifel, ebenso we- nig darüber, daß wir noch nicht genügend Filme haben, um einen planmäßigen Spielplanablauf zu gewährleisten“. Der Absender plädierte für die Wiederholung von Filmen „aus den ersten Jahren der DEFA-Produktion“, weil diese von vielen Menschen, die erst nach 1948/49 in die Republik gezogen oder aus Kriegsgefan- genschaft zurückgekehrt waren, noch gar nicht gesehen worden seien.22 Vom Bunker auf die Leinwand. Für Progress und zuvor schon für die DEFA er- wies es sich unter rein finanziellen Gesichtspunkten als Glücksfall, dass sich die Filmbunker des Reichsfilmarchivs in Babelsberg und diverser Kopieranstalten so- wie die Keller der Ufa-Zentrale Krausenstraße in Berlin-Mitte auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone befanden. Dadurch gelangte eine große Zahl von Filmkopien in die Hand von Progress. Christiane Mückenberger, Günter Jordan 20 Filmblätter, Nr. 38, 19.9.1952, S. 848. 1954 startete Progress noch acht NS-Spielfilme neu in der DDR, 1955 dann nur noch zwei. Vgl. Ausländische Spiel- und abendfüllende Dokumentar- filme in den Kinos der SBZ/DDR 1945–1966. Filmografie. Hg. vom Bundesarchiv-Filmarchiv und DEFA-Stiftung. Berlin 2001, S. 100–101. 21 Ralf Schenk: Kino in der DDR. In: http://www.filmportal.de/thema/kino-in-der-ddr (22.2.2012). Zur Organisation des Filmverleihs auch Günter Jordan: Film- und Lichtspielwesen in der DDR. Daten, Fakten Strukturen. Kleinmachnow, 2008, CD-ROM. 22 Neue Filmwelt, Heft 11, 1952, S. 29. Filmblatt 51 / 2013 23 Günter Agde Ambivalenzen zuhauf Kurt Maetzigs Spielfilm Roman einer jungen Ehe (1952) Wiederentdeckt Nr. 171, 7. Januar 2011 Zwei Wochen nach der Uraufführung seines Films Roman einer jungen Ehe am 18.  Januar 1952 veröffentlichte der Regisseur Kurt Maetzig den programmati- schen Text „Die Aufgaben des deutschen Films“ im politischen Leitmedium der jungen DDR, dem Zentralorgan der SED Neues Deutschland, ohne jedoch darin seinen Film zu erwähnen.1 Mit seinem Text startete Maetzig eine grundsätzliche Diskussion über das aktuelle Filmschaffen der DEFA, die zwei Monate lang in der Zeitung ausgetragen wurde. Er selbst beendete die Diskussion Anfang April 1952 mit dem wiederum programmatischen Text „Kritik und Selbstkritik brauchen wir in der DEFA“.2 Erst in diesem Text, also immerhin 10 Wochen nach der Urauffüh- rung, erwähnte er den eigenen Film Roman einer jungen Ehe, der eine Liebes- und Ehegeschichte zwischen zwei jungen Schauspielern im zweigeteilten Berlin jener Jahre erzählt. Und: er bezeichnete seinen Film als „Fehlschlag“. Maetzig verdeckte in seinen Artikeln das Eingeständnis des eigenen künstleri- schen Misserfolgs hinter einem apodiktischen Ton, der von keinerlei Zweifel oder gar Selbstzweifel gefärbt war. Die Resolutheit seiner Formulierungen überdeck- te auch, wie tiefgreifend die persönliche Irritation und Verunsicherung Maetzigs gewesen sein muss. Und von Selbstkritik, wie sie seinerzeit allenthalben als Mit- tel der Arbeitsverbesserung gefordert wurde, war bei Maetzig nichts zu lesen. Ihm schien sein Selbstbildnis gefährdet. In der Diskussion vertrat Maetzig so etwas wie eine forsche Vorwärts-Strategie, indem er die DEFA-Leitung attackierte und rigoros tiefgreifende Änderungen in deren Leitungs- und Entscheidungsstrukturen forderte. Ihm ging es um eine Stärkung aller literarischen Aktivitäten des Studios, sah er doch in dem unzurei- chenden Vorlauf bei der Entwicklung von Szenarien und Drehbüchern den Haupt- mangel der unbefriedigenden Filmproduktion. Dazu präsentierte er zugleich einen umfangreichen Katalog an Vorschlägen und deutete darin erste Überlegun- gen an, einzelne Produktionsgruppen innerhalb der alltäglichen DEFA-Arbeit so zu organisieren, dass ihnen eine (relative) operative Selbstständigkeit ermöglicht würde, mit der schneller bessere Drehbücher geschaffen werden könnten. Mit dieser rhetorisch-offensiven Strategie fand Maetzig offenbar auch individu- ell eine praktikable Möglichkeit, dem persönlich gewiss bitteren Eingeständnis 1 Neues Deutschland, 1.2.1952. 2 Neues Deutschland, 1.4.1952. Filmblatt 51 / 201324 eines künstlerischen Fehlschlags und eines tiefgreifenden ästhetischen Irrtums zu begegnen. Der Widerspruch zwischen dem Desaster seines Films und Maetzigs ostentativen Forderungen fiel niemandem auf oder wurde bewusst übersehen, möglicherweise wegen der großen öffentlichen Reputation Maetzigs. Auch andere Diskutanten im Neuen Deutschland, unter ihnen der Schriftsteller Kurt Stern als einziger Filmautor, monierten Disproportionen und Fehlentwick- lungen in den Leitungs- und Beratungsstrukturen der DEFA.3 Alle verbanden da- mit die Hoffnung, dass durch verbesserte Abläufe bei der Erarbeitung und Be- ratung von Drehbüchern die künstlerische Qualität der DEFA-Filme verbessert werden könne. Mit der Proklamation einer allseits straffen Planung entsprachen die Diskutanten auch einer kompakten, DDR-weiten Kampagne zur umfassenden Einführung der Planwirtschaft in allen Bereichen der Gesellschaft. Einige Künst- ler begriffen die Planbarkeit künstlerischer Prozesse als alleinige Methode und reduzierten den ästhetischen Reichtum auf eine einfache Ursache-Wirkung-For- mel. Da fehlte auch das berühmt-berüchtigte Diktum Stalins vom „Schriftsteller als Ingenieur der menschlichen Seele“ nicht, mit dem künstlerische Prozesse auf einen linearen Mechanismus reduziert wurden.4 Die Berufung auf diese Autorität sollte die Argumente stützen. Ein künstlerischer Absturz. Einen solchen künstlerischen Absturz wie mit Maetzigs Film hatte es in der jungen DEFA-Geschichte noch nicht gegeben. Er blieb folgenlos, ohne öffentlichen Aufruhr oder Widerspruch. Die genannte Pro- gramm-Diskussion sparte den Film völlig aus. Maetzig selbst bereitete in dieser Zeit intensiv sein nächstes Projekt, den ersten Teil des Thälmann-Films, vor. Roman einer jungen Ehe lief nur kurz in den Kinos, verschwand dann ohne Auf- sehen aus den Spielplänen und wurde 1956 definitiv aus dem Verleih genommen, „zurückgezogen“ umschrieb die Abteilung Filmkontrolle der Hauptverwaltung Film die Kassation.5 Der totale Missgriff des Films ist nicht zu begreifen  – weder aus der Sicht Maetzigs noch aus der der DEFA-Leitung. Und keiner der Beteiligten – auch DEFA- Studiodirektor Albert Wilkening nicht  – machte später einen Versuch, diesen Missgriff zu begründen. Gerechtfertigt hat ihn auch niemand. Wilkening bemerk- te, als er Jahrzehnte später eine erste Betriebsgeschichte der DEFA schrieb, dass „es nicht überzeugend [gelungen sei], die aktuellen Ereignisse, die u. a. im Bau der Stalinallee, der heutigen Karl-Marx-Allee, vor allem im ersten Hochhaus sich 3 Kurt Stern: Warum es keine Drehbücher gibt. In: Neues Deutschland, 13.3.1952. 4 Der genaue Stalin-Text ist nicht zu verifizieren. Er wurde stets nach der Wiedergabe durch Andrej Shdanow, einen führenden Politiker der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, zitiert. Vgl. Andrej Shdanow: Rede auf dem I. Unionskongress der Sowjetschriftsteller 1934. In: ders.: Über Kunst und Wissenschaft. Stuttgart 1952, S. 9. 5 Abt. Filmkontrolle der Hauptverwaltung Film, 25.6.1956, Bundesarchiv Berlin (BArch), DR 1–Z, Nr. 644, Bl. 2. Filmblatt 51 / 2013 25 widerspiegelten, in den Schicksalen der handelnden Personen zu reflektieren.“ Immerhin attestierte er dem Film Gültigkeit „als Zeitdokument“ und „als Versuch, den Prozess des geistigen Umbruchs Anfang der 50er Jahre sichtbar zu machen“.6 Das seltsame, desaströse Gesamtbild setzt sich aus disparaten Einzelteilen zu- sammen, ohne dass die Summe der Teile ein wirklich schlüssiges Verständnis er- möglicht. Aufklärung in der Sackgasse. Maetzig behauptete zeitlebens – und für jeden seiner Filme neu  – einen pädagogischen Impetus: Er wollte beitragen, die Zu- schauer aufzuklären und zu neuen Einsichten in gesellschaftliche Realitäten  – deutsche Geschichte inbegriffen – zu bringen. Zu Roman einer jungen Ehe legte er dafür mit einer Art Handreichung eine Lesart vor, die als Empfehlung an den Zuschauer adressiert war und die vor der Uraufführung veröffentlicht wurde. In „Unsere Absicht“ schreibt er, dass der Film den „künstlerischen Versuch“ mache, „Probleme […] zu gestalten“ und „den Sinn der Ereignisse […] mit den Mitteln der Kunst verständlich zu machen.“ 7 Der Ton des Textes war weithin apodiktisch und ließ kaum Differenzierungen zu. Trotz griffiger Formulierungen und einer gewissen, aktuell-politisch inten- dierten inneren Schlüssigkeit seiner Gedankenführung wurde deutlich, dass der Film ein gesellschaftliches, politisches Problem illustrieren sollte. Nicht eine Ge- schichte oder ein Konflikt standen im Mittelpunkt, sondern eine Beweisführung mittels Film. Folglich fehlten auch alle Hinweise auf Besonderheiten des Mediums Film. Zu den gesellschaftlichen Widersprüchen, wie Maetzig sie für diese Jahre und für seinen Schauplatz, das geteilte Berlin mit offener Grenze, sah, suchte er Szenen und Dialoge. Vom filmischen Eigenwert oder ästhetischen Besonderhei- ten war nirgendwo die Rede. Hier wird eine Crux der damaligen DEFA-Produktion sichtbar: Ein Thema soll- te per Film illustriert und dargeboten werden, zumeist ein Thema, das von den DDR-Oberen gewünscht wurde und das ihrer Meinung nach zeitgenössische ge- sellschaftliche Relevanz aufwies. Nicht zufällig nahm in jenen Jahren der soge- nannte thematische Plan, übrigens nach sowjetischem Vorbild, in den internen Produktionsüberlegungen der Studio-Leitung einen großen Raum ein. Der stu- dio-internen Methode entsprechend waren zu einem gesellschaftlichen oder his- torischen Thema eine Filmgeschichte zu fabulieren und dafür ein Autor und ein Regisseur zu gewinnen. Diese Art der Planung vernachlässigte die ästhetischen Besonderheiten des Mediums Film. Sie entsprach freilich unmittelbar der in der 6 Albert Wilkening: Die DEFA in der Etappe 1950 bis 1953. Betriebsgeschichte des VEB DEFA- Studios für Spielfilme, Teil 2. Hg. von der Betriebsparteiorganisation der SED im VEB DEFA Studio für Spielfilme, o. J., S. 65. 7 Kurt Maetzig: Unsere Absicht. In: DEFA-Pressedienst Nr.  12, 1951. Wiederabgedruckt in: Kurt Maetzig: Filmarbeit. Gespräche, Reden, Schriften. Hg. und mit einer Studie versehen von Günter Agde. Berlin 1987, S. 218 f. (Kursive Hervorhebung von mir). Filmblatt 51 / 201326 frühen DDR angestrebten Strategie, ausnahmslos alle gesellschaftlichen Prozesse zu planen. Sie übersah deshalb weithin wirkliche Bedürfnisse der Zuschauer, war soziologisch und ökonomisch orientiert, nicht ästhetisch. Die Furcht, als Formalist zu gelten. Während der Arbeit am Film tobte in der in- tellektuellen DDR-Öffentlichkeit eine heftige, mit scharfen Worten geführte Kunst- diskussion, die auch auf DEFA-interne Auseinandersetzungen abfärbte: die soge- nannte Formalismusdebatte. Sie war durch zwei programmatische Artikel in der Täglichen Rundschau, der Tageszeitung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland, ausgelöst worden, die als Meinungsäußerungen der Besatzungsmacht und insofern als richtungweisend angesehen wurden.8 DDR-Ideologen griffen die dort geäußerten Verdikte auf und führten sie weiter.9 In diesen Äußerungen wur- den Kunstwerke schematisiert und in formalistische und realistische aufgeteilt, die als einander ausschließende Gegensätze dargestellt wurden. Daraus wurde überdies abgeleitet, dass realistische Kunst und Künstler progressiv seien und formalistische konservativ, fortschrittsfeindlich. Diese konstruierte Polarität wurde gelegentlich auch politisch instrumentalisiert. Eine bedeutende Streitvokabel in diesen Ausei- nandersetzungen bildete der Begriff des „Typischen“, der sich auf eine Bemerkung von Friedrich Engels bezog und als ästhetisches Stereotyp eingesetzt wurde.10 Der Ruf nach dem Typischen wurde zu einer Hauptforderung und das Typische zum ab- soluten Kriterium fortschrittlicher, sprich guter Kunst. Die Formalismusdebatte war im Kern eine politische Diskussion und eine Stellver- treter-Diskussion zugleich: Mit ihr sollten die zentralen Anstrengungen der DDR- Führung um die Planbarkeit aller Prozesse mit strikten Regelungen der künstle- rischen Prozesse flankiert werden. Der Terminus „Diskussion“ war euphemistisch ausgelegt: die machtausübenden Apologeten gaben Ton und Vokabular vor, die Kontrahenten – oder besser die Angegriffenen – konnten darauf nur reagieren. Die Diskussionen nahmen zuweilen existentielle Formen an, weil die autoritä- ren Wortführer der realistischen Kunst ihre Attacken auf sogenannte formalisti- sche Werke scharf und kompromisslos vortrugen.11 Die Hauptfehden wurden auf den Gebieten der bildenden Kunst und des Theaters ausgetragen und berührten die Filmproduktion nur wenig. 12 8 N. S. Orlow: Wege und Irrwege der modernen Kunst. In: Tägliche Rundschau, 20. und 21.1.1951. 9 Vgl. Maike Steinkamp: Das unerwünschte Erbe. Die Rezeption „entarteter“ Kunst in Kunstkritik, Ausstellungen und Museen der Sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR. Berlin 2008, S. 255 ff. 10 „Realismus bedeutet, meines Erachtens, außer der Treue des Details die getreue Wie- dergabe typischer Charaktere unter typischen Umständen“, Friedrich Engels: Brief an Miss Harkness (April 1888). In: Marx / Engels: Werke. Bd. 37. Berlin 1967, S. 42. 11 Vgl. auch Steinkamp: Das unerwünschte Erbe, S. 255 ff. 12 Vgl. den Diskussionsbeitrag von Fred Oelsner und die Antwort Helene Weigels über die Aufführung von Brechts Die Mutter am Berliner Ensemble und die Attacken Ernst Hoffmanns Filmblatt 51 / 2013 27 Das Zentralkomitee der SED veranstaltete vom 15. bis 17. März 1951 eine eigene Tagung zum Thema, zu der auch parteilose Gäste eingeladen waren, die als Manö- vriermasse und Prestigeträger fungierten. Das oberste Parteigremium fasste die bisherigen Thesen zusammen und sanktionierte sie als von nun an geltende Be- schlüsse. Als einziger Filmkünstler beteiligte sich Maetzig an dieser Aussprache. Er versuchte einen rhetorischen Spagat zwischen den apodiktischen Thesen der Parteiführung und der eigenen Position, die er zugleich für das Filmschaffen der DEFA generell reklamierte. Er hantierte geschickt mit den Schlagworten der SED- Führung und mit der Polarisierung „Formalismus“ versus „Schematismus“, benutz- te jedoch für sich (und für die DEFA-Produktion) als Hilfswerkzeug die ästhetisch schwer und politisch gar nicht zu fassende Kategorie des Kitsches. Er griff die Ar- gumente zum „Typischen“ auf und legte mit leisem Widerspruch zur Parteiführung Wert auf eine Präzisierung: „Aber diese Forderung darf nicht verwechselt werden mit schematischer und sogar banaler Durchschnittlichkeit. Die realistische Kunst gestaltet lebende Menschen; sie ist immer blutvoll. Schematische Darstellungen des Arbeiters, des Bauern, des Kapitalisten, des Saboteurs usw. usw. sind kunst- feindlich und kunstfremd.“13 Maetzig bezog sich hier ausdrücklich auch auf DEFA- Filme, ließ aber keinen Zweifel an der Allgemeingültigkeit dieser Charakterisie- rung. Zugleich wies er behutsam einige zu offensichtliche Überspitzungen der SED zurück, indem er für die neue Kunst „das Suchen und Forschen nach der Wahr- heit“ und „die Gestaltung des Kunstwerks vom Inhalt her“ anmahnte und – erst als Folge daraus! – „die Entwicklung der diesem Inhalt gemäßen Formen“ setzte. Die Prozesshaftigkeit von Kunstprozessen, die Maetzig beschrieb, stand in deutlichem Gegensatz zu den Thesen und Politvokabeln der SED-Führung. Maetzigs Lavieren kann aus seiner Position heraus erklärt werden: Einerseits wollte er Schaden von der DEFA und von sich fernhalten, andererseits wollte er (und musste er  – nach seinem damaligen Parteiverständnis) den Forderungen der SED-Führung Genüge tun. Zudem wusste er aus internen Diskussionen in der Sektion Darstellende Kunst der Akademie der Künste, an denen er teilnahm, wie existentiell die Gefahren werden konnten, die eine „Verdammung“ als Formalist in sich bargen. Die dortigen Auseinandersetzungen um den DEFA-Film Das Beil von Wandsbek seines Studio-Kollegen (und kurzzeitigen künstlerischen Direk- tors der DEFA) Falk Harnack hatte er unmittelbar miterlebt.14 Und drei Wochen gegen den Rektor der Kunsthochschule Weißensee Mart Stam, die dessen Entlassung zur Folge hatten, in: Hans Lauter: Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur. Berlin 1951, S. 46 ff., 64 und 85 ff. 13 Maetzigs Diskussionsbeitrag in Lauter: Der Kampf gegen den Formalismus, S. 100, wiederabge- druckt in Maetzig: Filmarbeit, S. 231 ff. (kursive Hervorhebung von mir.). Das folgende Zitat ebd. 14 Vgl. Günter Agde: Die Wandsbek-Debatte. In: Zwischen Vormundschaft und künstlerischer Selbstbestimmung. Protokoll einer wissenschaftlichen Arbeitstagung vom 23. bis 24. Mai 1989 in Berlin. Hg. im Auftrag der Akademie der Künste zu Berlin von Irmfried Hiebel, Hartmut Kahn und Alfred Klein. Berlin 1989, S. 14 ff. Filmblatt 51 / 201328 vor jener ZK-Tagung war das großformatige Wandgemälde von Horst Strempel in der Eingangshalle des S-Bahnhofes Berlin-Friedrichstraße als formalistisch dif- famiert und übermalt worden – ein spektakulärer und viel bemerkter, jedoch öf- fentlich nicht reflektierter Eingriff in Kunstprozesse, der verheerende Folgen für den Maler hatte und der Maetzig nicht verborgen bleiben konnte.15 Betrachtet man Maetzigs taktische Balance im Kontext seiner eigenen Produk- tion, so wird deutlich, dass er befürchtete, in die Mühlen der Formalismus-De- batte zu geraten, darin zermahlen und in seiner künstlerischen Produktion er- heblich behindert zu werden. Die Ambivalenz seiner Argumentationen und sein Lavieren ermöglichten ihm die eigene Weiterarbeit und stabilisierten seine Repu- tation. Gleichzeitig minderte er den drohenden ideologischen Druck, der auf der gesamten DEFA-Produktion lag. Kürzestschluss zur Realität. Sein für Roman einer jungen Ehe propagiertes Ver- ständnis von Realitätsnähe sah Maetzig als Abspiegelung gesellschaftlicher Wi- dersprüche im geteilten Berlin. „Der Film basiert auf vielem Tatsachenmaterial“, erklärte er.16 Er habe die verwendeten Partikel der Realität „mit künstlerischer Freiheit verändert, vertauscht und zum Teil ganz frei gestaltet“. Seine enge Bin- dung an Zeitereignisse erwies sich jedoch als kurzschlüssig und verhängnisvoll. Schon bei Der Rat der Götter (1950) hatte Maetzig Zeitereignisse kurzge- schlossen: Zum Finale des Films montierte er das Sujet einer realen Friedensde- monstration aus einer aktuellen Ausgabe der DDR-Wochenschau Der Augenzeuge und stellte seinen Protagonisten mitten hinein. Die durch diese Schlussmontage gesteigerte Apotheose suggerierte, dass der Spielfilm direkt in Tagesauseinan- dersetzungen eingreifen könne. Diese schnelle Aktualität kalkulierte auch eine Art propagandistische Wiedererkennbarkeit ein. In Roman einer jungen Ehe ging Maetzig einen Schritt weiter, indem er zahlrei- che tatsächliche zeithistorische Episoden aus dem geteilten Berlin als wichtige Fabelteile benutzte: den Auftritt eines DDR-Chores in Westberlin, den Hambur- ger Prozess gegen den im Film nur leicht zur Figur Hartmann verfremdeten NS- Regisseur Veit Harlan, den West-Berliner Theaterregisseur Boleslaw Barlog und den Ost-Berliner Theaterregisseur Wolfgang Langhoff, beide auch Intendanten- Kollegen. Einen aktuellen Bezug haben auch die Distanzierung der weiblichen Hauptfigur, der Schauspielerin Agnes, von einem Rollenangebot in Jean-Paul Sartres Stück Schmutzige Hände (Les mains sales, 1948) und der Hinweis auf eine verfälschende Radioinszenierung des Stückes Der Prozess der Jeanne d’Arc zu Rou- en 1431 (1937) von Anna Seghers.17 15 Vgl. den (anonymen) Beitrag in Horch und Guck, Nr. 39, 2009, S. 6–8. 16 Maetzig: Unsere Absicht. Das folgende Zitat ebd. 17 Im Programmheft zu Roman einer jungen Ehe wurden unter der Überschrift „Kultur- kampf in Berlin“ weitere solcher Ereignisse aufgelistet. Das Pamphlet ohne Verfasseranga- be endete ultimativ: „An der Seite der Kämpfer für Frieden und Freiheit, an der Seite der Filmblatt 51 / 201330 ligen Stalinallee in Ost-Berlin. Maetzig hatte dieses Ereignis terminlich vor das tatsächliche Richtfest gelegt und das Gelände für die enorm aufwändigen Dreh- arbeiten besonders präparieren lassen.18 Er inszenierte ein bombastisches Volks- fest, auf dessen Höhepunkt die Protagonistin ein peinlich-pathetisches Loblied auf Stalin rezitiert.19 Damit entsprach Maetzig visuell dem damaligen DDR-weiten Byzantinismus gegenüber Stalin. Zugleich jedoch überdeckte die Apotheose rea- le Konflikte, die sich unter den Bauarbeitern zu entwickeln begannen. Während Maetzig nach der Uraufführung von Roman einer jungen Ehe mit sei- ner Vorwärtsstrategie eine Diskussion eröffnete und so vom Desaster seines Films (und auch von seiner Stalin-Eloge) ablenkte, drängten die Probleme der Bauarbei- ter an die Öffentlichkeit. Das Neue Deutschland publizierte einen groß aufgemach- ten Text, der im Gewand einer Baustellenreportage auf diese Konflikte hinwies.20 Der Beitrag erregte Aufsehen und wurde  – genauso groß aufgemacht  – von der Landesleitung Groß-Berlin der SED beantwortet.21 Beide Texte brachten die hefti- gen Widersprüche unter den Bauarbeitern der Stalinallee auf drastische Weise zur Sprache. Freilich wurden die wirklichen Ursachen der Probleme auf Mängel in der Partei- und FDJ-Arbeit auf der Baustelle reduziert. (Dieselben Bauarbeiter führten später den Streik am 17. Juni 1953 an.) Die Gärungsprozesse auf der Baustelle wur- den zwar angedeutet, jedoch nicht wirklich thematisiert. Maetzigs Apotheose im Film ging an den Widersprüchen in der Stalinallee voll- kommen vorbei. Beide Entwicklungs- und Interpretationslinien trafen sich nicht, der Sache nach hätten sie sich jedoch begegnen müssen. Von unerwarteter Seite wurde der Schluss des Films deutlich kritisiert: Der Vor- sitzende des Staatlichen Komitees für Film, Sepp Schwab, warf den Regisseuren Slatan Dudow bei Frauenschicksale und Maetzig bei Roman einer jungen Ehe auf der Filmkonferenz vom 18. und 19. September 1952 vor, „dass sie sich von An- fang an gewisser Schwächen ihrer Werke bewusst waren“. Das gehe „schon daraus hervor, dass sie große Ereignisse als Schluss ihrer Filme bringen, obwohl diese in dem dramatischen Ablauf der Handlung gar nicht oder so gut wie gar nicht zu verwenden waren. Sie benutzten diese großen Ereignisse unseres sozialistischen Aufbaus also sozusagen als Aufputz, weil sie von vornherein wussten, dass sie die 18 In der Produktionsakte des Films wimmelt es von Aktennotizen und Briefen, die auf die strikte Synchronisierung von Dreh- und Bauarbeiten hinweisen. Vgl. Produktionsakte Roman einer jungen Ehe, BArch, DR 117 / 33864, Teil 3 von 9, ohne Paginierung. 19 Das Gedicht Auf dieser Straße kam der Friede in die Stadt gezogen von Kuba (Kurt Bartel) wurde im Programmheft zum Film im Wortlaut abgedruckt. (Schriftarchiv, BA-FA) 20 Margot Pfannstiehl: Vom Klassenkampf auf der Weberwiese. In: Neues Deutschland, 24.1.1952. 21 Stellungnahme des Sekretariats der Landesleitung Groß-Berlin der SED zu dem Artikel „Vom Klassenkampf auf der Weberwiese“ im Zentralorgan der Partei vom 26. Januar 1952. In: Neues Deutschland, 16.1.1952. Filmblatt 51 / 2013 31 Wirkung, die bei den Zuschauern erreicht werden muss, mit der dramatischen Handlung ihrer Filme allein nicht erreichen konnten.“22 Die Frage wurde nicht gestellt, ob Schwab als oberster Dienstherr des DDR-Film- wesens diesen „Aufputz“ nicht schon im Drehbuch hätte bemerken müssen. Er hatte das Drehbuch genehmigt, hätte folglich den „Fehler“ beizeiten verhindern können. Maetzig selbst äußerte sich auf der Filmkonferenz vom September 1952 weder zu Roman einer jungen Ehe noch zu Schwabs Vermutung und nahm das herbe Wort vom „Aufputz“ hin. Er appellierte nur sehr allgemein an die DDR-Filmschaf- fenden, den Marxismus-Leninismus zu studieren.23 Die fatale Zeitnähe bescherte dem Film auch sein endgültiges, behördlich be- stätigtes Aus, nachdem der XX. Parteitag der KPdSU vier Jahre nach dem Kino- start den Personenkult um Stalin kritisiert hatte und die beginnende Entstalini- sierung auch in die DDR hineinwirkte. Als es bei Vorführungen von Roman einer jungen Ehe in der Thüringer Kleinstadt Worbis im Sommer 1956, kurz nach dem Parteitag, „zu Stalin-Diskussionen“ unter den Zuschauern kam, bat der Pro- gress-Filmverleih die HV Film darum, eine „Überprüfung und ggf. einen Schnitt durchzuführen:“24 Die HV Film reagierte sofort: „Der Film wird zurückgezogen […]. Begründung: In der Schlussphase des Films wird das gesellschaftlich Neue fast nur mit der Person des Genossen Stalin in Verbindung gebracht. Text, Bild und Musik sind streckenweise nur auf Stalin als den entscheidenden Mann des Krieges und Begründer des neuen Lebens abgestimmt. Die Szenen unterliegen sehr stark dem Personenkult und sind aus diesem Grund politisch schädlich.“25 Eine ähnliche taktische Volte konnte für ein Detail wahrgenommen werden. In einer kurzen Szene des Films wurde auf Sartres Theaterstück Schmutzige Hän- de verwiesen: Zu sehen war nur das Titelblatt des Bühnenmanuskripts, das die Hauptfigur Agnes las. In ihrer Reaktion spiegelte sich die entschiedene Ableh- nung des Stückes und seines Autors als „antikommunistisch“. In der Öffentlich- keit des zweigeteilten Berlins wurde um dieses – wie Sartres Vorgängerstück Die Fliegen – an einem West-Berliner Theater inszenierte Stück und die Person des Autors extrem kontrovers diskutiert.26 Für den Film war dies ein Nebenschau- platz. Allerdings weitete sich die Sartre-Kontroverse zu einer Grundsatz-Diskus- 22 Sepp Schwab: Diskussionsbeitrag auf der Filmkonferenz 17. und 18. September 1952. In: Für den Aufschwung der fortschrittlichen deutschen Filmkunst. Berlin 1953, S. 61. 23 Kurt Maetzig: Diskussionsbeitrag auf der Filmkonferenz. In: Ebd., S. 88. 24 Progress-Filmverleih an Hauptverwaltung Film, 23.6.1956, BArch, DR 1–Z, Nr. 644, Bl. 3. 25 Staatliches Komitee für Filmwesen, Zusatzprotokoll, neuer Entscheid, 25.6.1956, ebd., Bl. 2. 26 Ausführlich zur westdeutschen Sicht Joachim Werner Preuß: Theater im ost-/westpoliti- schen Umfeld. Nahtstelle Berlin 1945–1961. München 2004, S. 336 ff. und zur ostdeutschen Sicht Werner Mittenzwei (Hg.): Theater in der Zeitenwende. Bd. 1. Berlin 1972, S. 137 ff. Filmblatt 51 / 201332 sion über die Philosophie des Existenzialismus aus, die viele Intellektuelle in Ost und West beschäftigte. Auf diese Debatte nahm der Film am Rande Bezug. Im Herbst 1952 jedoch, ein dreiviertel Jahr nach der Uraufführung des Films, nahm Sartre öffentlich gegen die in den USA geplante Hinrichtung des Ehepaars Rosenberg Stellung und solidarisierte sich mit der weltweiten Protestbewegung da- gegen. Die dramaturgische Abteilung der DEFA veranlasste „[i]m Hinblick auf Sar- tres Eintreten für das Ehepaar Rosenberg und seine aktive Teilnahme an der Welt- friedensbewegung“, dass die betreffende Einstellung in Roman einer jungen Ehe geschnitten wurde. Und weiter: „Auch in den folgenden Szenen ist darauf zu ach- ten, dass nicht ersichtlich ist, wie das Stück heißt und wer es geschrieben hat.“27 Der falsche Autor. Es ist nicht mehr aufzuklären, von wem die Idee ausging, den Belletristen Bodo Uhse als Autor für das Szenarium zu gewinnen. Uhse selbst hat sich wohl nicht darum beworben. Seinem Tagebuch zufolge schrieb er sein erstes Szenarium unter großen Mühen – immerhin hatte er keinerlei Erfahrun- gen in der Filmarbeit. Welche genauen Verabredungen es zwischen Maetzig, der DEFA und Uhse über die Fabelkomposition gab und auf welche tatsächlichen ge- stalterischen Schwierigkeiten er im Einzelnen stieß, ist dem Tagebuch nicht zu entnehmen. Uhse monierte nur mehrfach, dass Maetzig sehr schnell nach seinen „Skizzen“ am Drehbuch gearbeitet und seine Entwürfe dialogisch ausgearbeitet habe: „Mir passte das an sich nicht. Ich war entsetzt, als ich sah, was dabei he- rausgekommen war.“28 Und später: „Es war falsch, die Dialogentwürfe gleich zu verarbeiten. Das Ganze mutet flach und schal an.“ Aber Uhse schrieb weiter. Offenbar stand Maetzig unter Zeitdruck, denn er hol- te sich einzelne, frisch geschriebene Szenen direkt bei Uhse von Hause ab. Der Autor verzweifelte „über die Leichtfertigkeit und unsolide Hast, mit der er [der Film] gearbeitet“ war.29 Und er resignierte schließlich: „Jetzt lässt sich davon kaum noch etwas retten.“ Noch viele Jahre später erinnerte sich Uhses Stiefsohn Joel an die Qualen, die Uhse das Schreiben von Filmszenarien bereitet hatte.30 Jedenfalls bildete die Wahl Uhses als Autor, verbunden mit seinen Schwierig- keiten beim Schreiben, keine gute Voraussetzung für das Filmprojekt – auch inso- fern, als Maetzig von einer vorgefassten ideologisch-pädagogischen Absicht aus- ging, die zu illustrieren sei, was Uhse dann auch tat. Und mehr eben auch nicht. Zur problematischen Autorenwahl kam ein gravierender Genre-Irrtum, den beide zu verantworten hatten: Absicht und Titel des Films evozierten eine 27 Aktenvermerk von (Anne) Pfeuffer und (Herbert) Pägelow, 10.12.1952, in BArch, DR 1–Z / 644, Bl. 2. 28 Eintrag vom 30.10.1950. In: Bodo Uhse: Reise- und Tagebücher. Bd. 2. Berlin 1981, S. 580 sowie Eintrag vom 24.12.1950, ebd., S. 583. 29 Eintrag vom 26.12.1950. In: Ebd., S. 584. Das folgende Zitat ebd. 30 Vgl. Joel Agee: Zwölf Jahre. Eine amerikanische Jugend in Ostdeutschland. München 1982, S. 331. Filmblatt 51 / 2013 33 belletristische Erzählweise, eben einen Roman. Dem widersprach jedoch die grundsätzlich dramatische Substanz des Mediums Film. Autor und Regisseur glaubten, diesen ästhetischen Widerspruch lösen zu können, indem sie Episo- den einer Liebes- und Ehegeschichte in lockerer Folge aneinander reihten und dazu einen Konflikt als einfachen Widerspruch zwischen Ost und West gestal- teten. Solche Aneinanderreihung von Episoden hatte Maetzig bereits in Die Buntkarierten (1949) praktiziert, jedoch war dort die Reihung konsequent nach der Biografie der Hauptfigur geordnet und dadurch plausibel. Bei Roman einer jungen Ehe funktionierte diese Struktur nicht. Der Kritiker Hans Ulrich Eylau sprach von „Erzählung“, von „erfundener und doch ganz realistischer Schilderung“, von „Schlüsselroman“ und schließlich von der „Zwangsjacke des Zurechtgemachtseins“.31 Und Wolfgang Joho mutmaßte, dass dem Film „mehr Ideen zur Verfügung gestanden [hätten], als er habe verarbeiten können.“ 32 Sehr Privates. Kurt Maetzig war nach der Trennung von seiner ersten Frau eine Verbindung mit der Schauspielerin Yvonne Merin eingegangen und hatte sie ge- heiratet. Er hatte sie als Elevin im DEFA-Nachwuchsstudio kennengelernt, hielt sie für eine starke schauspielerische Begabung und hatte die fotogene und gut aussehende junge Frau bereits in seinem Film der Rat der Götter (1950) in einer kleinen Rolle eingesetzt. Gegen die Besetzung Yvonne Merins in Roman einer jungen Ehe gab es erheb- liche innerbetriebliche Widerstände. Sogar der Besetzungschef der DEFA, Erwin Reiche, warnte Produktionsleiter Alexander Lösche: „Der Vorstandsbeschluss, auf den ich erneut hingewiesen worden und an den ich mich selbstverständlich bezüglich meiner eigenen Stellungnahme gebunden bin, ist ja auch Ihnen be- kannt: dass Regisseure in ihren Filmen ihre Ehefrauen und Lebensgefährtinnen nicht beschäftigen dürfen.“ 33 Aber Maetzig setzte sich durch. Später hat er sich nicht zu dieser Besetzung geäußert, was sicher auch dem Re- spekt gegenüber Yvonne Merin geschuldet war, die nach dem Misserfolg des Films den Beruf wechselte. Maetzigs Besetzungs-Irrtum hängt gewiss auch damit zu- sammen, dass er sich in der Beurteilung der schauspielerischen Potenzen Merins so drastisch vertan und sie so ungeheuer überschätzt hatte. Die Fehlbesetzung einer Hauptrolle mochte er nicht zugeben. Die Fehlbesetzung bescheinigte ihm auch die Kritik in sehr deutlichen Worten: „Yvonne Merin spielt die Agnes […] im Grunde gar nicht. […] Nichts geht aus von ihrer schauspielerischen Verwirklichung. Hier wurde eine junge Künstlerin, sicher nicht zum Vorteil ihrer Entwicklung, völlig außerhalb der ihr gemäßen 31 H.(ans) U. (Ulrich) Eylau: Zwei im Nachkriegsberlin. In: Berliner Zeitung, 22.1.1952. 32 Wolfgang Joho: Roman einer jungen Ehe. In: Sonntag, 27.1.1952. 33 Erwin Reiche an Produktionsleiter Alexander Lösche, „persönlich und vertraulich“, 12. Fe- bruar (ohne Jahresangabe), Produktionsakte, BArch, DR 117 / 30010, ohne Paginierung. Filmblatt 51 / 201334 Aufgaben und Möglichkeiten eingesetzt.“34 Und ein anderer Kritiker: „Yvonne Me- rin […] ist sicher ein Talent, aber ihre Fähigkeiten haben einfach nicht den not- wendigen Umfang. Weder in der Sprache noch in Geste und Bewegung entspricht sie ihrer großen Aufgabe, ein Mangel, der sich ebenfalls unheilvoll auswirkt.“35 Anekdoten. Zwei Anekdoten am Rande, die beide filmhistorisch nicht ohne Ironie sind: Der SED-Politiker und langjährige DDR-Filmfunktionär Hans Rodenberg spielt in Roman einer jungen Ehe einen amerikanischen Filmregisseur, der in einer Mini- Episode eine wüste Menschenentführungsszene an der Sektorengrenze dreht. Er wurde in den offiziellen Stablisten nicht genannt, hatte zwei Drehtage à 600 Mark.36 In seinen Lebenserinnerungen druckte er ein Szenenfoto der Episode ab, erwähnte sie aber ansonsten nicht.37 Nur zehn Monate nach der Uraufführung des Films über- nahm Rodenberg als Hauptdirektor die Leitung des DEFA-Spielfilmstudios. Und: Die großflächigen Bilder der fröhlich feiernden Menschen, die auf die hohen Baugerüste im Schlussbild „Fest in der Stalinallee“ gehängt wurden, stammten vom Maler Max Lingner, der 1951 auf jener Tagung des SED-Zentralkomitees wegen „For- malismus“ heftig kritisiert worden war.38 Maetzig hatte ihn vor dem gleichen Forum verteidigt und ihn nun für den Film engagiert.39 Gage: 3.000 Mark.40 Auch Lingners Arbeit für den Film wurde nirgends erwähnt. In Maetzigs Wohnung hing bis zu sei- nem Lebensende eine Variante von Lingners Gemälde „Mademoiselle Yvonne“. Grün- de für das Mini-Engagement Rodenbergs sind nicht erkennbar, während der Auftrag an Lingner durchaus als still-subversive Solidaritätsgeste akzeptabel erscheint. Fazit. Thomas Heimann beschreibt Roman einer jungen Ehe als eine Emanzi- pationsgeschichte und erklärt Maetzigs Position mit „Anpassungsdruck“.41 Ralf Schenk nennt den Film „ein künstlerisch hanebüchenes, politisch aber hochin- teressantes Zeitdokument“.42 Dagmar Schittly meint, dass der Film „auf so pla- 34 H.(ans) U. (Ulrich) Eylau: Zwei im Nachkriegsberlin. In: Berliner Zeitung, 22.1.1952. 35 Wolfgang Joho: Roman einer jungen Ehe. In: Sonntag, 27.1.1952. 36 Produktionsakte Roman einer jungen Ehe, BArch, DR 117 / 33864. 37 Hans Rodenberg: Protokoll eines Lebens. Erinnerung und Bekenntnis. Berlin 1980, S. 160. 38 Lauter: Der Kampf gegen den Formalismus, S. 27 f. 39 Diskussionsbeitrag Kurt Maetzigs. In: Lauter: Der Kampf gegen den Formalismus, S. 100, wie- derabgedruckt in Maetzig: Filmarbeit, S. 231. 40 Die Entwürfe Lingners sind nicht erhalten. 41 Thomas Heimann: DEFA, Künstler und SED-Kulturpolitik. Zum Verhältnis von Kulturpolitik und Filmproduktion in der SBZ / DDR 1945 bis 1959. Berlin 1994, S. 126. 42 Ralf Schenk: Mitten im Kalten Krieg. In: Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg. DEFA- Spielfilme 1946–92. Hg. vom Filmmuseum Potsdam. Berlin 1994, S. 61. Filmblatt 51 / 2013 35 kative Weise die Probleme einer Beziehung zwischen ungleich fortschrittlichen Partnern“ beschreibe, „dass hier von Qualität nicht mehr zu sprechen war.“43 Roman einer jungen Ehe war ein agitatorisches Pamphlet im Gewande eines Spielfilms. Maetzigs Film schlug zu einem frühen Zeitpunkt der ostdeutschen Nachkriegs-Filmentwicklung eine Visualisierung von Zeitgeschichte vor, die auf eine lineare Gegenüberstellung zweier einander ausschließender Pole zurechtge- stutzt war, eine kurzschlüssige Zeitnähe anstrebte und damit in einer Vulgari- sierung von Dialektik steckenblieb. Damit steht der Film in der deutschen Nach- kriegsfilmgeschichte allein da: ein Dokument der besonderen Art. Roman einer jungen Ehe DDR 1952 / Produktion: DEFA Deutsche Film-Aktiengesellschaft Potsdam-Babelsberg / Re- gie: Kurt Maetzig / Regie-Assistenz: Günter Reisch, Siegfried Hartmann, Karlheinz Bieber / Drehbuch: Bodo Uhse, Kurt Maetzig  / Kamera: Karl Plintzner  / Optische Spezialeffekte: Ernst Kunstmann / Standfotos: Erich Kilian / Bauten: Otto Erdmann, Franz F. Fürst / Kostü- me: Hans Kieselbach / Maske: Kurt Aust, Johanna Schwamborn, Gustav Zander / Schnitt: Lena Neumann / Ton: Adolf Jansen / Musik: Wilhelm Neef /Darsteller:Yvonne Merin (Ag- nes Sailer), Hans-Peter Thielen ( Jochen Karsten), Willy A. Kleinau (Dr. Ulrich Plisch), Hilde Sessak (Carla), Harry Hindemith (Burmeister), Martin Hellberg (Möbius), Hanns Groth (Lutz Frank), Alfons Mühlhofer (Ernst Winkler), Horst Preusker ( Jonas), Waltraud Kogel (Astrid Kern), Albert Garbe (Otto Dulz), Brigitte Krause (Brigitte Dulz), Gisela Rimpler (Felicitas Bach), Friedrich Gnaß (Hotelportier), Egon Borsig (Standesbeamter), Alwin Lippisch (Re- gisseur Hartmann), Ursula von der Schmidt (Frau Hartmann), Gertrud Paulun (Zeugin im Schwurgericht), Theo Shall (Staatsanwalt), Carlo Kluge (1. Verteidiger), Marianne Fahl (Rita Strobel), Ludwig Sachs (Gerichtsdiener), Arthur Schilsky (Amerikaner in der „Möwe“), Fre- de-Marie Dohna (BGL-Vorsitzende), Viola Recklies (junges Mädchen in der VVN-Gruppe), Hans Rodenberg (amerikanischer Regisseur), Robert Trösch (Aufnahmeleiter), Anna-Maria Besendahl (Garderobiere), Gustav Adolf Keune (1. Schauspieler am Westend-Theater), Conrad Pfennig (2. Schauspieler am Westend-Theater), Heino Winkler (3. Schauspieler am Westend-Theater), Lutz Götz (1. Versammlungsteilnehmer), Walter Schramm (2. Versamm- lungsteilnehmer), Nico Turoff (3. Versammlungsteilnehmer), Eva Stechow (Versammlungs- teilnehmerin) / Produktionsleitung: Alexander Lösche / Aufnahmeleitung: Werner Dau, Er- win Dräger / Uraufführung: 18. Januar 1952, Berlin (Ost), Kino Babylon Kopie: Bundesarchiv-Filmarchiv, Berlin, 35mm, s/w, Ton, 2.824 m (104 Minuten) 43 Dagmar Schittly: Zwischen Regie und Regime. Die Filmpolitik der SED im Spiegel der DEFA- Produktionen. Berlin 2002, S. 59. Für jüngere Beiträge zum Film siehe Seán Allan: „Sagt, wie soll man Stalin danken?“ Kurt Maetzig’s Ehe im Schatten (1947), Roman einer jungen Ehe (1952) and the Cultural Politics of Post War Germany. In: German Life and Letters, Bd.  64 (2011), Nr. 2, S. 255–271 und Anja Horbrügger: Aufbruch zur Kontinuität – Kontinuität zum Aufbruch. Geschlechterkonstruktionen im west- und ostdeutschen Nachkriegsfilm von 1945 bis 1952. Marburg 2007, S. 210–219. Filmblatt 51 / 2013 37 Claudia Sandberg Heimatlosigkeit als Überlebensstrategie Peter Lilienthals David (1979) Wiederentdeckt 184, 3. Februar 2012 David (BRD 1979) von Peter Lilienthal erzählt die Geschichte der Familie Singer, die im Holocaust auseinandergerissen wird. Zu Beginn des Spielfilms leben die Singers mit ihren Kindern David, Toni und Leo in Liegnitz in der Nähe von Bres- lau, wo der Vater Rabbiner der jüdischen Gemeinde ist. Diese Gemeinde wird nach 1933 durch die Ausgrenzung und Verfolgung von Juden in Nazi-Deutschland immer stärker bedroht. 1939 zieht die Familie nach Berlin. David drängt seinen Vater, Deutschland zu verlassen, doch dieser erfindet immer neue Ausreden, bis es für eine Ausreise zu spät ist und die Familienmitglieder einzeln untertauchen müssen. David lebt versteckt in Schränken und fensterlosen Räumen. Am Ende gelingt ihm mit Hilfe eines Fabrikanten die Flucht aus Deutschland – in Richtung Palästina. Eine Schlüsselszene spielt 1939 in Berlin. David sitzt in der Wohnung seiner El- tern, die gerade verhaftet worden sind. Einen Moment lang lässt er den Kopf auf den Tisch sinken, eine Geste der Trauer und Verzweiflung. Dann aber konzentriert sich der junge Mann aufs Durchhalten. Er markiert mit Kreisen quietschende Stel- len auf dem Parkettboden und lernt sich geräuschlos zu bewegen. Er klebt Zettel an die Wand, auf denen hebräische Wörter stehen. Er beobachtet im Spiegel, wie er ein Zigarettenpapier befeuchtet. Er spielt kleine Rollen. Es sind Überlebens- strategien in einer scheinbar hoffnungslosen Situation. Schon lange vor David hatte sich Lilienthal, der als Kind mit seiner Mutter aus Deutschland emigriert war, durch seine Arbeiten für den Südwestfunk und den Sender Freies Berlin sowie seine Spielfilme Malatesta (1969), Hauptlehrer Hofer (1974) und Es herrscht Ruhe im Land (1975) Anerkennung und Respekt verdient. Nun warteten Filmkritiker darauf, dass er sich Deutschlands Gegenwart und Vergangenheit deutlich und kritisch zuwenden würde. Mit David wagte es Lilienthal, das dunkelste Kapitel in der Geschichte der deutsch-jüdischen Bezie- hungen anzupacken. Er konsolidierte damit seinen Status als Filmemacher, der dem Projekt des Neuen Deutschen Films eng verbunden war. Gleichzeitig sorgte sein Film für Irritationen und Enttäuschungen. So wurde der Regisseur bei den Dreharbeiten ebenso enttäuscht wie später die Filmkritiker, die sich einen an- deren Film zum Thema Holocaust erhofft hatten. Die folgenden Ausführungen widmen sich den unterschiedlichen Ideen, Perspektiven und Erwartungen in der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Filmes, der den Konflikt zwischen Assimilation und Heimatlosigkeit zum Thema hat und – unausgesprochen – von Filmblatt 51 / 201338 einem bis dahin noch ausstehenden Dialog zwischen Juden und Deutschen han- delt. Irritationen und Enttäuschungen. David basiert auf Ezra Ben Gershoms, un- ter dem Pseudonym Joel König veröffentlichten autobiografischen Bericht Den Netzen entronnen (1967). An der Drehbucharbeit war neben Ulla Ziemann zu- nächst auch Jurek Becker beteiligt, dessen Roman Jakob der Lügner (1969) die Vorlage für den gleichnamigen DEFA-Film von 1974 gebildet hatte. Die Arbeit an David war Beckers erster Auftrag nach seiner Übersiedlung von der DDR in die Bundesrepublik im Jahr 1977. Die endgültige Version des Drehbuches beinhal- tet allerdings nicht mehr viele von Beckers ursprünglichen Ideen, mit denen sich Lilienthal nicht anfreunden konnte.1 Beckers Stil erschien ihm zu „ostdeutsch“, womit wohl eine etwas starre Umsetzung des Stoffes gemeint war. Gedreht wurde David 1978 mit Darstellern, die aus ganz Europa kamen und viel- fach jüdischer Herkunft waren. Für die Hauptrolle wurde der 20-jährige Laien- darsteller Mario Fischel engagiert, der Sohn eines orthodoxen Juden polnischer Herkunft und einer Österreicherin, der in Paris Wirtschaftswissenschaften stu- dierte. Dominique Horwitz, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten noch Schauspiel- schüler, spielte Leo, und die kroatische, damals in West-Berlin lebende Lyrikerin Irena Vrkljan spielte die Mutter. Der österreichische Theater- und Filmschau- spieler Walter Taub wurde für die Darstellung des Rabbi Singer mit dem Bun- desfilmpreis geehrt. Eva Mattes war vor ihrer Rolle als Toni bereits in Filmen von Michael Verhoeven, Rainer Werner Fassbinder und Werner Herzog aufgetreten. Die jugendlichen Nebendarsteller fand Lilienthal in den jüdischen Gemeinden Frankfurts und Münchens und am jiddischen Theater in Warschau. Ein Großteil der Dreharbeiten fand in den Straßen von West-Berlin statt, wo die Aufnahmen  – zum Beispiel der Marsch von Jugendlichen, die geschlossen und von Soldaten bewacht zu einer Polizeistation geführt werden – zu Lilienthals Be- dauern nicht das eigentlich erwartete Interesse der Öffentlichkeit erregten. Bei Dreharbeiten in Städten anderer Ländern gab es immer Passanten, die stehen- blieben und neugierig nachfragten, was dort eigentlich passierte. Beim Regisseur lösten die Gebäude und die Umgebung Emotionen aus, die er sich nicht erklären konnte. In einem Interview mit Egon Netenjakob äußerte er: „Es ist mir noch nie passiert bei einem Film, dass bestimmte Assoziationen oder Bilder auftauchten, von denen ich nicht wusste, wie sie entstehen: denn ich war ja nicht dabei gewe- sen. Und trotzdem musste ich mich nur auf die Straße stellen, ein Haus anschau- en, und plötzlich kamen mir Bilder und Ideen, bei denen ich mir sagte, du hast sie nicht in anderen Filmen gesehen, du hast es nicht erlebt, warum siehst du das plötzlich so?“2 1 Telefongespräch der Autorin mit Peter Lilienthal im Januar 2012. 2 Egon Netenjakob: In paradiesischen Zeiten. Interview mit Peter Lilienthal. In: Es geht auch anders. Gespräche über Leben, Film und Fernsehen. Berlin 2006, S. 113. Filmblatt 51 / 2013 39 Andere Vorkommnisse, die die Dreharbeiten ungünstig beeinflussten, waren eher bürokratischer Natur: Für Szenen auf einem landwirtschaftlichen Gut, in dem Juden handwerkliche Fertigkeiten lernten, um sich auf das Leben in Israel vorzubereiten, einem sogenannten Hachschara, fuhr die Filmcrew in ein Dorf in der Nähe von Oranienburg. Das tägliche Überqueren der deutsch-deutschen Grenze war laut Lilienthal mit Komplikationen und langen Wartezeiten verbun- den. Auch Ezra Ben Gershom (Joel König), der bei den Dreharbeiten anwesend war, empfand das als äußerst unangenehm: „Nun geht es hinaus aus Berlin in die DDR. Die Paß- und Visaformalitäten will ich nicht beschreiben. Wenn es während meiner Flucht im Jahre 1942 schon diese Grenze gegeben hätte, wäre ich wohl nie von Rathenow nach Berlin gelangt.“3 Heimatlosigkeit als Überlebensstrategie. David thematisiert Heimatlosig- keit als Konzept, die dem gleichnamigen Protagonisten letztendlich das Über- leben ermöglicht. Damit besitzt der Film eine persönliche Komponente, die sich in der Biografie des Regisseurs wiederfindet. 1929 in Berlin geboren, emigrier- te Lilienthal 1939 mit seiner Mutter und Großmutter nach Montevideo, wo seine Mutter eine Pension unterhielt. Während Uruguay dem Kind wie ein Paradies er- schien, blieb das Land für die Erwachsenen ein Ort des Exils und des sozialen Ab- stiegs. Diese Erlebnisse sind prägend für Lilienthals Filmarbeit. Figuren wie David trifft man insbesondere in den Werken an, in denen er sich mit der jüdischen Kul- tur beschäftigt, u. a. Gideon in Das Schweigen des Dichters (1986) und Noah in Angesichts der Wälder (1994). Die jungen Protagonisten dieser Filme besitzen eine Willensstärke, der sie sich noch nicht bewusst sind. Sie befinden sich ge- sellschaftlich eher an der Peripherie, gehören nie wirklich ganz zu einer Gruppe. „Letztlich weiß David auf das Schlimmste nur mit Zurückhaltung zu reagieren, er ist nie wütend oder zornig, nur verwundert“, schreibt Norbert Grob.4 Diese Position gibt den Figuren andererseits die Fähigkeit, sich an neue Um- gebungen und veränderte Lebensbedingungen anzupassen. Als Kontrast zu der Lebensakrobatik und Flexibilität der jungen Leute begegnet man in Lilienthals Filmen häufig älteren und reiferen Figuren, die in einer Gemeinschaft fest ver- ankert sind. Rabbi Singer, Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Liegnitz, verkör- pert die enge Verzahnung jüdischer Identität mit der deutschen Kultur. Daraus resultiert eine Hilflosigkeit gegenüber der sich nahenden Krise, die ihn, seine Familie und die jüdische Gemeinschaft bedroht. David porträtiert die Dichotomie zwischen nomadischer und verwurzelter Lebensweise in einer spannungsreichen, aber auch liebevollen Vater-Sohn-Beziehung. 3 Zitiert nach den Festivalinformationen zu David. Berlin: 29. Internationale Filmfestspiele Berlin, 20.2.–3.3.1979 (Pressearchiv der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“, Potsdam). 4 Norbert Grob: David. In: Ders., Hans Helmut Prinzler, Eric Rentschler (Hg.): Stilepochen des Films: Neuer Deutscher Film. Stuttgart 2012, S. 261–268, hier S. 265. Filmblatt 51 / 201340 Annette Insdorf hat die enge Beziehung zwischen David und Rabbi Singer und die darin aufscheinende Kontinuität jüdischer Traditionen und jüdischen Erbes so beschrieben: „Obwohl der Junge nach und nach Mitglieder seiner Familie ver- liert, lebt David den Geist, der ihn mit seinem Vater verbindet, und damit eine reiche, wenn auch gefährdete Tradition.“5 Was Insdorf als Geist bezeichnet, be- zieht sich auf Rabbi Singers fröhliche, fast unbedachte Art, mit der er der all- gegenwärtigen Bedrohung seiner Familie gegenübertritt. Auch Robert Liebmann sieht Davids lebensbejahenden Charakter in der jüdischen Religion begründet, die gleichzeitig eine Familientradition darstellt. Rabbi Singer sei für seinen Sohn ein Vorbild: „Sein Vater brachte ihm bei, dass man zu sich selbst beten kann und damit die Instanzen überlisten kann, die es einem verbieten. Sein Vater lehrte ihn auch, dass ein eingebranntes Hakenkreuz auf dem Kopf bedeutungslos wird, wenn man noch da ist, um darüber zu sprechen: ‚Ich bin hier, ich bin hier – nur das zählt.’“6 Liebmann verweist auf eine Szene, in der Singer nach Hause zurück- kehrt, nachdem er im Zuge der von den Nationalsozialisten organisierten Aus- schreitungen in der „Reichskristallnacht“ verhaftet worden war und eine Nacht in Polizeigewahrsam verbracht hatte. Von seiner Familie umringt, sitzt er am Tisch und erzählt auf beinahe humorvolle Art, dass er während des stundenlan- gen Stehens heimlich Gedichte aufgesagt und damit inneren Widerstand gegen diese Tortur geleistet habe. Als Singer jedoch langsam seinen Hut abnimmt, se- hen seine Kinder ein Hakenkreuz, das ihm auf die Kopfhaut tätowiert wurde. Sein Verhalten bringt zum Ausdruck, dass ihm selbst solch ein demütigender Akt die Würde als Mensch und als Jude nicht nehmen kann. Singer sieht den Antisemitismus in Deutschland als göttliche Prüfung. Zudem verkörpert er die Figur des emanzipierten jüdischen Bürgers, der mit der huma- nistischen Tradition in Deutschland aufgewachsen ist.7 Er wiegt sich im Glauben einer Gesellschaft, die ihn toleriert und akzeptiert und betrachtet demzufolge den Antisemitismus in Nazi-Deutschland als vorübergehendes Phänomen. In ei- ner Szene am Anfang des Filmes beobachtet Singer vorbeimarschierende Mitglie- der der Hitlerjugend, die lauthals „Juden raus“ schreien. Er hält dies für „Jugend raus“. Dieses Missverständnis verdeutlicht Singers Unwillen, sich mit den poli- tischen und sozialen Wandlungsprozessen in Deutschland auseinanderzusetzen, die die Juden bedrohen. „Der Antisemitismus ist Gottes Segen, der die Juden zwingt, zu reflektieren. Wer wird uns jetzt noch hassen?“, fragt Singer, der die ersten Anzeichen des Judenhasses ignoriert und nicht wahrhaben will, was um ihn herum passiert. Seine Ohnmacht, seine Passivität und Ratlosigkeit ergreifen 5 Annette Insdorf: Indelible Shadows. Film and the Holocaust. Cambridge 2003, S. 90 (meine Übersetzung). 6 Robert Liebman: Two Survivors. Lilienthal and his Film David. In: Long Island Jewish World, 30.10.1981, S. 21 (meine Übersetzung). 7 Vgl. David Ellenson: After Emancipation. Jewish Religious Responses to Modernity. Cincinnati 2004, S. 144. Filmblatt 51 / 201342 mehr und mehr Besitz von ihm. David dagegen nimmt seine Umwelt aufmerksam wahr und ist anpassungsfähig. Singers Vertrauen in Gott als ultimativer Ort der Hoffnung wird von David nicht geteilt. Anstatt sein Leben in die Hand des Schicksals zu geben, bestimmt er es selbst. Damit sehe ich David weniger in einer Kontinuität der jüdischen Kultur, sondern als Figur, die deren Um- und Aufbruch signalisiert. Für den Soziologen Avtar Brah ist das Konzept Heimat eng mit der Frage verbunden, wie Integra- tions- und Ausgrenzungsprozesse funktionieren und unter den gegebenen Um- ständen subjektiv erlebt werden.8 Diese Beobachtung trifft auch auf David zu, denn im Unterschied zu seinem Vater kann er eine Zugehörigkeit zu Deutschland nie ausbilden. Seine Kindheit ist von Erlebnissen überschattet, die ihn als Jude isolieren. In Liegnitz, wo die Familie vor ihrem Umzug nach Berlin ein Haus be- sitzt, wird er Opfer eines rassistischen Anschlages. Zwei Mitglieder der Hitlerju- gend titulieren ihn als „Judenschwein“ und schlagen ihm ins Gesicht. Der Film stellt Davids Heimatlosigkeit als produktiv dar. David ist schon als Kind sensibel genug, das Ausmaß der Gefahr zu erahnen, der er ausgesetzt ist. Er schaut erstaunt einem Straßenakrobaten zu, wie dieser aus eigener Kraft Ketten zerreißt, die um seinen Körper gewickelt sind. Dies kann als Metapher für Davids Beharrlichkeit gelesen werden, die ihn einengenden Ketten selbst zu zerbrechen. Eine halbnahe Einstellung wechselt zur Naheinstellung eines Dromedars, das neben dem Akrobaten steht  – als Assoziation zum Lebensraum dieser Tiere im trockenen Klima des Mittleren Ostens vielleicht ein Verweis auf Palästina als Ort, an dem eine Existenz unter Gleichgesinnten, wenngleich unter extremen Bedin- gungen, möglich scheint. Der erwachsene David wird dann auch die treibende Kraft der Bemühungen, nach Palästina auszuwandern; er bereitet sich darauf vor, Mitglied einer autono- men Gemeinschaft in Palästina zu werden. Dazu lernt er einen technischen Beruf und eignet sich landwirtschaftliche Kenntnisse an. Als Jude in Nazi-Deutschland ist ihm der Zugang zu höheren Bildungsstätten verwehrt; ungeachtet dessen de- monstriert seine Berufswahl, dass er die ihm verbleibenden Bildungschancen nutzt, anstatt zu resignieren. Er vereinbart einen Termin, um die Möglichkei- ten der Ausreise zu besprechen. Während David enthusiastisch zuhört und die Auswanderung positiv sieht, hat sein Vater Zweifel, weil die Reise nach Palästi- na nicht ungefährlich ist. Singer gibt der Beamtin die zuvor erhaltenen Bewer- bungsdokumente zurück, aber David überzeugt ihn, diese mitzunehmen. Dass der Auswanderungsplan am Ende nicht realisiert werden kann, liegt daran, dass Davids Vater zu lange zögert. Singer kann sich nicht mehr konzentrieren, er ist ungeduldig und verliert sei- nen Verstand. Seine Verzweiflung und bedingungslose Loyalität zu Deutschland werden ihn letztlich das Leben kosten. In einer Schlüsselszene des Filmes ste- hen David und sein Vater auf einer Straßenbahnbrücke und beobachten, wie ein 8 Vgl. Avtar Brah: Cartographies of Diasporas. Contesting Identities. London 1995, S. 192. Filmblatt 51 / 2013 43 Freund abgeholt wird, den sie gerade besuchen und um Hilfe bitten wollten. Es ist das Bild eines Mannes, der aufgegeben hat: Singer hat seinen Kopf nach un- ten gesenkt. Der Schal ist unordentlich um seinen Hals gewickelt und der gelbe Stern sichtbar an der Jacke festgemacht. David dagegen, seinen Vater überra- gend, steht aufrecht da. Er ist ein ungebrochener und stolzer Charakter. Diese Bildkomposition löst die Verbindung zwischen Vater und Sohn auf. Jeder ist nun für sich selbst verantwortlich. Trotz Davids Warnung besteht Singer darauf, mit der Straßenbahn nach Hause zu fahren – als wolle er sich selbst ausliefern, um der unablässigen Unsicherheit und Angst ein Ende zu bereiten. David versteht, dass Überleben nur durch Flucht möglich ist. Die Rezeption von DaviD in der Bundesrepublik. Der Kinostart von David im März 1979 fiel in eine Zeit, in der in der Bundesrepublik eine öffentliche Diskus- sion über die Frage einsetzte, ob die deutsche Bevölkerung an den Verbrechen im Holocaust mitschuldig war. Katalysator dafür war die von ungewöhnlich vie- len Zuschauern begleitete Ausstrahlung des amerikanischen Fernseh-Vierteilers Holocaust (1978) im WDR im Januar 1979, in dem es um das Schicksal einer jü- dischen Familie in Nazi-Deutschland ging. Holocaust wurde zu einem Mediener- eignis und löste eine Kontroverse über den Wert der Serie aus.9 Die Herausgebe- rin der Zeit, Marion Gräfin Dönhoff, äußerte sich beispielsweise positiv über die Serie, weil sie es ermöglichte, mit den jüdischen Opfern mitzufühlen und weil sie eine wichtige Diskussion in Deutschland angeschoben hätte.10 Von anderer Seite wurde bemängelt, dass das melodramatische Genre der Fernsehserie die Thema- tik einseitig abbilden würde. Namhafte deutsche Regisseure sahen Holocaust als amerikanische Version der deutschen Geschichte und fühlten sich deshalb um das Erzählen ihrer eigenen Geschichte betrogen. So kommentierte Edgar Reitz: „Autoren in der ganzen Welt [versuchen], sich in den Besitz ihrer eigenen Ge- schichte und damit der Geschichte der Gruppe zu bringen, der sie angehören. Aber oft machen sie die Erfahrung, daß ihnen ihre eigene Geschichte aus den Händen gerissen wird. Der tiefste Enteignungsvorgang, der passiert, ist die Ent- eignung des Menschen von seiner eigenen Geschichte. Die Amerikaner haben mit Holocaust uns Geschichte weggenommen.“11 David wurde im Februar 1979 auf der Berlinale uraufgeführt und mit dem Golde- nen Bären ausgezeichnet. Sicherlich war diese Ehrung eine politische Entschei- dung, die das damalige öffentliche Interesse an der Thematik attestierte. Aus Sicht der Filmkritik in der Bundesrepublik erschien Lilienthals Film als deutsche Antwort auf die Holocaust-Serie und sollte einen Beitrag zur Diskussion über 9 Vgl. Jeffrey Herf: The Holocaust Reception in West Germany. Right, Center and Left. In: New German Critique 19 (1980), S. 30–52. 10 Marion Gräfin Dönhoff: Eine deutsche Geschichtsstunde. In: Die Zeit, 2.2.1979. 11 Edgar Reitz: Unabhängiger Film nach Holocaust. In: ders.: Liebe zum Kino. Utopien und Gedanken zum Autorenfilm 1962–1983. Köln 1983, S. 102. Filmblatt 51 / 2013 45 ein Verhalten, das mit der Todesstrafe bedroht war? Wodurch ist die Haltung des Fabrikanten bestimmt? Menschenfreundlichkeit oder ein erster Akt der Rückver- sicherung? David läßt viele Fragen offen.”13 Ein häufig geäußerter Kritikpunkt betraf die Darstellung des Protagonisten David. Sein Charakter sei zu optimistisch angelegt. Man spüre keine Trauer bei ihm über den Verlust seiner Eltern. Auch könne man bei ihm nicht die Angst ab- lesen, die er aufgrund der ständigen Bedrohungen oder seiner totalen Isolie- rung haben müsste.14 Davids Überleben sei nicht „repräsentativ“ für das jüdische Schicksal. Sein Überleben berge sogar einen gefährlichen Gedanken: Wenn es für ihn möglich war sich zu retten, warum gelang es nicht auch Millionen anderer Juden?15 Kritisiert wurde auch die eigenwillige narrative Gestaltung des Filmes  – der Ortswechsel der Familie Singer von Liegnitz nach Berlin und der nur angedeute- te zeitliche Sprung von 1933 zu 1939. Man empfand es als unbefriedigend, dass David sich zwischen Zeiten und Orten hin- und her bewegte, ohne diese Verände- rungen anzuzeigen. Diese Kommentare erinnern mit ihrer Forderung nach einer klassisch angeleg- ten Erzählung und einer emotionalen Darstellung der jüdischen Bevölkerung als Opfer an Eigenschaften der amerikanischen Fernsehserie Holocaust. Auffallend ist, dass an der amerikanischen Produktion eine konventionell-melodramatische Ästhetik kritisiert worden war, dieselbe Ästhetik im Fall von David hingegen eingefordert wurde. Das deutet auf die spannungsreiche Beziehung des Neuen Deutschen Films zur amerikanischen Pop- und Filmkultur hin, innerhalb derer David als deutsches Gegenprodukt zu Holocaust punkten sollte. In der gerade heiss diskutierten Schuldfrage erwarteten Kritiker einen Film, der eine deutsche Perspektive einnimmt, und dies sollte durch eine leichter verständliche, weniger anspruchsvolle Ästhetik erreicht werden. Gerade das konnte und wollte der Film aber nicht leisten. Lilienthal hatte sich mit David an ein Kapitel der deutschen Geschichte her- angewagt, das in den Jahren zuvor nur in wenigen westdeutschen Filmen the- matisiert worden war.16 Rezeptionsgeschichtlich wurde Lilienthals Film dadurch eine Ausnahmestellung innerhalb des Diskurses um die Aufarbeitung des Holo- causts zuteil, der sich in der Bundesrepublik gerade formierte. Die Diskussion 13 Auf der Leinwand: David. In: Weser-Kurier (Bremen), 2.4.1979. 14 Vgl. Wolfram Schütte. Die zerstörte Leidenschaft der Liebenden. In: Frankfurter Rund- schau, 1.3.1979. 15 Vgl. Sabine Schultze: David, der durchkommt. In: Rhein-Neckar-Zeitung, 29.6.1979 und Michael Beckert: Wie David Goliath überlebte. In: Saarbrücker Zeitung, 24.5.1979. 16 In den Jahrzehnten davor befassten sich u. a. Filme von Artur Brauner mit dem Holocaust aus jüdischer Sicht; zu nennen ist auch der Fernsehfilm Das Haus in der Karpfengasse (1965) mit Walter Taub in einer Rolle als verfolgter Jude. Die Täterperspektive schildert zwei Jahre vor David etwa Aus einem Deutschen Leben (1977). Filmblatt 51 / 201346 um den Film deutete an, dass es recht klare Erwartungen gab, wer an der Debatte teilnehmen dürfe und wie dieser Diskurs aussehen sollte. Indem der Regisseur die Geschehnisse aus einer jüdischen Perspektive aufarbeitete, konterkarierte er die Erfahrungen der deutschen Zuschauer. Diese Sichtweise macht den Wert des Filmes aus. Er zeigt, wie sich die jüdische Gemeinschaft in der allgegenwärtigen Situation der tödlichen Bedrohung verhielt, ohne dass sie als passiv abwartend und nur als Opfer gesehen wird. David nimmt in Lilienthals Œuvre eine Ausnahmestellung ein. Die Spannungen bei der Entstehung und Rezeption des Films führten dazu, dass dies der letzte Film war, den Lilienthal in und über Deutschland drehte. Die Beschäftigung mit der jüdischen Kultur blieb fester Bestandteil seiner Arbeit, aber er fand für nach- folgende Filmprojekte Orte der jüdischen Existenz außerhalb Europas.17 David Bundesrepublik Deutschland 1979 / Produktion: Vietinghoff Filmproduktion München, Berlin; Project Filmproduktion GmbH im Filmverlag der Autoren, München, ZDF in Zusammenarbeit mit FFAT und Dedra Pictures / Produzent: Joachim von Vietinghoff / Regie: Peter Lilienthal / Drehbuch: Peter Lilienthal, Jurek Becker, Ulla Ziemann. Nach Motiven des Buches David – Auf- zeichnungen eines Überlebenden von Joel König / Kamera: Al Ruban / Schnitt: Sigrun Jäger / Szenenbild: Hans Gailling / Musik: Wojciech Kilar / Darsteller: Mario Fischel (David), Walter Taub (Rabbi Singer), Irena Vrkljan (Frau Singer), Eva Mattes (Toni), Dominique Horwitz (Leo) / Drehorte: Berlin (West), Berlin (Ost), Schwante (bei Oranienburg) / Uraufführung: 27.2.1979, Berlin, Internationales Filmfestival (Wettbewerb) Kopie: Deutsche Kinemathek, Berlin, 35mm, Farbe, 127 Minuten 17 Lilienthal drehte Dear Mr. Wonderful in New York. Das Schweigen des Dichters und Angesichts der Wälder entstanden in Israel. Filmblatt 51 / 2013 47 Tobias Ebbrecht Dokumentarfilm als Gerichtsverfahren Erwin Leisers Eichmann und das Dritte Reich (1961) FilmDokument 136, 10. Oktober 2011 Einige Monate nachdem der israelische Ministerpräsident David Ben Gurion die Ergreifung Adolf Eichmanns und dessen Entführung nach Israel verkündet hat- te, stellte der Berliner Filmproduzent Artur Brauner im Dezember 1960 ein neues Filmprojekt vor. Der Film trug den Arbeitstitel „Blut“ und sollte einem „breiten Publikum die tatsächlichen Geschehnisse um Eichmann […] vor Augen führen“.1 Das Projekt wurde nie realisiert. Ein zeitgleich in den USA begonnener Film – ver- mutlich Operation Eichmann (1961) von Robert G. Springsteen – hielt Brauner von der Realisierung ab.2 Stattdessen beteiligte sich Brauner, selbst ein Überle- bender des Holocaust, an einem Dokumentarfilmprojekt, das die Schweizer Fir- ma Praesens mit dem jungen Journalisten und Regisseur Erwin Leiser begonnen hatte.3 Ein Film über Adolf Eichmann. Im Herbst 1960 hatte der Schweizer Produzent Lazar Wechsler den Regisseur des vielbeachteten Dokumentarfilms Mein Kampf (Schweden 1959/1960) nach einer Vorführung in Dänemark angesprochen und ihm vorgeschlagen, zusammen einen Film über Eichmann zu realisieren.4 Eich- mann, der ab 1935 für die erzwungene Auswanderung von Juden aus Deutsch- land zuständig war, hatte nach dem „Anschluss“ Österreichs im Jahr 1938 die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Wien aufgebaut und ab 1940 die „Reichszentrale für jüdische Auswanderung“ im Reichssicherheitshauptamt ge- leitet. Als Leiter der Abteilung IV B 4 war er für die Organisation der Deporta- tionen von Juden aus allen Ländern Europas in die Vernichtungslager verant- wortlich. Nach Kriegsende tauchte Eichmann zunächst unter falschem Namen in einem niedersächsischen Dorf unter und floh dann mit Hilfe eines Netzwerks ehe- 1 Notiz im Spandauer Volksblatt, 23.12.1960. 2 Operation Eichmann startete im April 1961 parallel zum Beginn des Eichmann Prozesses in verschiedenen europäischen Ländern, u. a. in Frankreich, Schweden und Dänemark. In den USA war der Film bereits am 15. März, vier Wochen vor dem Prozessbeginn angelaufen. Im Mai kam er unter dem Titel Jagd auf Eichmann auch in die österreichischen Kinos. Für die Bundesrepublik ist kein Filmstart nachgewiesen. Vgl. http://www.imdb.com/title/tt0055261/ releaseinfo (20.1.2013). 3 Leiser stellt Eichmann-Film her. In: Kölnische Rundschau, 4.2.1961. 4 Erwin Leiser: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Meine Filme 1960–1996. Konstanz 1996, S. 32. Filmblatt 51 / 201348 maliger Nationalsozialisten nach Argentinien. Dort lebte er zusammen mit seiner aus Österreich zugezogenen Familie unter dem Namen Ricardo Clement, ehe er im Mai 1960 von israelischen Agenten entführt und nach Jerusalem gebracht wurde. Bevor Anfang 1961 der Prozess in Jerusalem eröffnet werden konnte, fanden in Israel umfangreiche Ermittlungen gegen Eichmann statt. Neben Dokumenten, die die Anklagebehörde unter anderem in der Anfang der 1950er Jahre in Jeru- salem gegründeten Gedenkstätte „Yad Vashem“ recherchiert hatte, bildete auch ein Interview Eichmanns mit dem Journalisten und ehemaligen SS-Mann Willem Sassen eine wichtige Grundlage der Anklageschrift. In diesem Gespräch, das eini- ge Jahre zuvor im Kreise ehemaliger Kameraden und Weggefährten geführt wor- den war, zeigte sich Eichmann als ungebrochener Nationalsozialist, der lediglich bedauerte, dass er die sogenannte „Endlösung“ nicht wie geplant ganz zu Ende bringen konnte und so ein Teil der europäischen Juden der Ermordung entgangen war. Im Gegensatz dazu versuchte sich Eichmann in Jerusalem als Befehlsemp- fänger und dienender Bürokrat