EXPLORATIVE STUDIE: WEBMIGRATION Wie deutsch-türkische Meinungsführer das Internet für sich gewinnen1 V O N E S R A K Ü Ç Ü K , H A N N E S K U N S T R E I C H U N D C H R I S T I A N S T R I P P E L Vor über zehn Jahren wurde die erste repräsentative Erhebung zur Online- Nutzung in Deutschland durchgeführt. Verhalten attestierten die Autoren der ers- ten ARD-Online-Studie im Jahr 1997 dem „Daten-Highway“ positive Zukunfts- aussichten: „Unter bestimmten Bedingungen“ könne das Internet zum „dritten elektronischen Medium“ heranwachsen. Mit mehr als zehn Prozent Nutzungspo- tential um die Jahrtausendwende sei aber nicht zu rechnen.2 In den folgenden zehn Jahren stiegen die Nutzerzahlen des Internets jedoch mit einer unvergleichli- chen Schnelligkeit an. So hatten im Jahr 2000 bereits 28,6 Prozent der Deutschen einen Internetanschluss3, nur sieben Jahre später waren es schon 62,7 Prozent. „Kein anderes Medium hat sich so dynamisch entwickelt wie das Internet“, be- ginnt deshalb auch die ARD/ZDF-Online Studie 2007 rückschauend.4 Derart schnell und dazu komplex vollziehen sich auch die zugehörigen tech- nischen, medialen und sozialen Umbrüche, sodass die Wissenschaft mit der Ent- wicklung nur schwer Schritt halten kann. Noch immer sind Kernfragen in der Me- thodik der Online-Forschung unzureichend beantwortet. So manche Studie ist zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung bereits veraltet, wenn zwischenzeitlich neue kommunikative Aktionsräume und Nutzungsrealitäten entstanden sind. Er- staunlicherweise widersetzt sich noch heute dieses Forschungsfeld hartnäckig sys- tematischen Analyseversuchen; allein mit dem Fehlen forschungsleitender Theo- rien kann dies allerdings nicht begründet werden. Schon frühzeitig gab das Internet in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen neue theoretische Impulse. In den Sozialwissenschaften entfachte die Geburt des IP-Netzes einen polarisierten Diskurs, dessen Spektrum sich in die Perspektiven des Cyberoptimismus und Cyberpessimismus spaltet. Der amerikanische Informatiker Nicholas Negroponte ist einer der bekann- testen Vertreter des Netz-Positivismus. Er schrieb dem Internet ein revolutionä- 1 Die vorliegende Untersuchung wurde 2008 im Rahmen eines studentischen Projektse- minars am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster unter der Leitung von Dr. Kathrin Kissau und Dr. Uwe Hunger als Teil des Forschungsprojektes „Politisches Potential des Internet. Die virtuelle Diaspora der Migranten aus Russland und der Türkei in Deutschland“ durchgeführt. (http://ppi.uni-muenster.de). 2 Vgl. van Eimeren u.a.: „ARD-Online Studie 1997“. 3 Vgl. van Eimeren/Gerhard: „ARD/ZDF-Online Studie 2000“. 4 Vgl. van Eimeren/Frees: „ARD/ZDF-Online Studie 2007“. NAVIGATIONEN Ö F F E N T L I C H K E I T ( E N ) ESRA KÜÇÜK, HANNES KUNSTREICH UND CHRISTIAN STRIPPEL res Demokratisierungspotential zu. Ihm zufolge gebe die beginnende Digitalzeit berechtigten Anlass zum Optimismus: Genau wie eine Naturgewalt kann auch das Digitalzeitalter weder ig- noriert noch gestoppt werden. Denn es besitzt vier mächtige Eigen- schaften, die letztendlich zu seinem Triumph führen werden: Dezent- ralisierung, Globalisierung, Harmonisierung und Befähigung zum Han- deln.5 Damit zielt Negroponte auf die normativ-politische Theorie eines herrschaftsfrei- en Diskurses im Sinne Habermas’ ab. Diese stützt sich auf die Vorstellung einer direkten und deliberativen Demokratie, quasi eines digitalen Kommunitarismus, in dem jeder Einzelne ubiquitär vernetzt ist und gleichberechtigt am gesellschaftli- chen Diskurs teilnehmen kann. Die Vertreter der kulturpessimistischen Perspektive beklagen hingegen die „Zerfaserung des öffentlichen Raumes in unverbundene Teilöffentlichkeiten“.6 Das Internet trage maßgeblich zur Fragmentierung der Gesellschaft bei, sodass die Verbindlichkeit des öffentlichen Raumes und die Legitimität der klassischen demokratischen Institutionen als Basis politischer Willensbildung abhanden kom- men könnten. Diese makrotheoretischen Extrempositionen sind nicht zuletzt aufgrund der Geschwindigkeit, mit der das Internet zur Kulturtechnik avancierte, zugunsten pragmatischerer Theorien mittlerer Reichweite in den Hintergrund getreten. So beschäftigt sich die Wissenschaft heute vorrangig mit Konzepten wie etwa der Di- gitalen Spaltung („Digital Divide“), dem E-Government oder der technologischen Transformation vom Web hin zum viel beachteten „Web 2.0“. Das Forschungsprojekt „WebMigration – Wie deutsch-türkische Meinungs- führer das Internet für sich gewinnen“ geht im Rahmen dieser Überlegungen nun explorativ der Frage nach, welche Rolle das Internet für die politische Meinungs- bildung türkischer Migranten in Deutschland spielt. Dabei wird der Fokus der Un- tersuchung vor allem auf die Informations- und Meinungsvermittlung durch so ge- nannte Meinungsführer gelegt. Es wird davon ausgegangen, dass der Prozess poli- tischer Kommunikation und damit auch politischer Meinungsbildung nicht allein von Journalisten und den im politischen System etablierten Akteuren (Politiker, Verbände etc.) abhängt. Die Tatsache, dass türkische Migranten sich in der Öf- fentlichkeit nicht adäquat repräsentiert fühlen7, führte zu der Annahme, dass ge- rade gesellschaftliche Minderheiten nach Möglichkeiten der Informations- und Meinungsvermittlung oder -beschaffung suchen, die außerhalb der etablierten Strukturen der Mehrheitsgesellschaft liegen. Im Falle der türkischen Migranten in 5 Negroponte: Total Digital, S. 277. 6 Leggewie/Barber: Internet und Politik, S. 19. 7 Vgl. Butterwegge u.a.: Medien und multikulturelle Gesellschaft, und Geißler: „Einwande- rungsland Deutschland“. NAVIGATIONEN 94 Ö F F E N T L I C H K E I T ( E N ) WEBMIGRATION Deutschland könnten also gerade „neue Meinungsführer“ eine maßgebliche Rolle für die politische Meinungsbildung spielen. DAS KONZEPT DER MEINUNGSFÜHRER Nachdem die monokausale Perspektive des von Harold Dwight Lasswell 1927 konzipierten Stimulus-Response-Modells die Massenkommunikations- und Me- dienwirkungsforschung lange Zeit prägte, bahnte sich 13 Jahre später ein Para- digmenwechsel an. Mehr oder weniger zufällig stießen der amerikanische Sozio- loge Paul F. Lazarsfeld und seine Kollegen Bernard Berelson und Hazel Gaudet in ihrer Wahlkampfstudie zum amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf von 1940 auf den erheblichen Einfluss interpersonaler und unvermittelter Kommunikation sowie selektiver Wahrnehmung der Menschen während ihres Meinungsbildungs- prozesses: Wenn immer die Befragten aufgefordert wurden, alle möglichen In- formationsquellen über den Wahlkampf zu nennen, denen sie in letz- ter Zeit ausgesetzt waren, wurden politische Diskussionen häufiger genannt als Rundfunk und Presse. […] Wir stellten ebenfalls fest, daß die weniger interessierten Personen sich mehr auf Unterhaltungen und weniger auf Massenmedien als Informationsquelle verließen.8 In der 1944 unter dem Titel „The People’s Choice“ publizierten Studie kamen die Forscher unter anderem zu dem Ergebnis, „daß es auf jedem Gebiet und für jede öffentliche Frage ganz bestimmte Personen gibt, die sich um diese Probleme be- sonders intensiv kümmern, sich darüber auch am meisten äußern.“ Diese Perso- nen identifizierten sie empirisch mit den beiden Interviewfragen: „Haben Sie neu- lich versucht, irgend jemanden von Ihren politischen Ideen zu überzeugen?“ und „Hat neulich irgend jemand Sie um Rat über ein politisches Problem gebeten?“. Diejenigen, die auf mindestens eine dieser Fragen mit „Ja“ antworteten, nannten Lazarsfeld und seine Kollegen „Opinion Leaders“, also Meinungsführer. Diese Meinungsführer, die die Forscher als Schaltstelle der interpersonalen Kommunika- tion begriffen („Relaisfunktion“), zeichneten sich im Vergleich zu dem Rest der Befragten durch größeres politisches Interesse, häufigere Teilnahme an politi- schen Diskussionen sowie stärkere und intensiver Mediennutzung aus. Gleichwohl seien sie „nicht mit den besonders prominenten Personen der Gemeinde, nicht mit den reichsten Personen und auch nicht mit den führenden Köpfen der Stadt identisch“, sondern fänden sich in allen sozialen Gesellschaftsschichten und Be- rufsgruppen wieder.9 Diese Meinungsführer gaben nun im Gegensatz zu dem Rest der Befragten in ihren Interviews nach der Präsidentschaftswahl an, bei ihrer Wahlentscheidung 8 Lazarsfeld u.a.: Wahlen und Wähler, S. 190f. 9 Ebd., S. 85. NAVIGATIONEN Ö F F E N T L I C H K E I T ( E N ) 95 ESRA KÜÇÜK, HANNES KUNSTREICH UND CHRISTIAN STRIPPEL stärker von den Massenmedien als von persönlichen Beziehungen beeinflusst worden zu sein, was die drei Kommunikationsforscher zu der Überlegung führte, „daß Ideen oft von Rundfunk und Presse zu den Meinungsführern hin und erst von diesen zu den weniger aktiven Teilen der Bevölkerung fließen“.10 Das daraus ent- standene Modell ist als „Two-Step-Flow of Communication“, als „Zweistufenfluss der Kommunikation“, in die Geschichte der Kommunikations- und Medienwir- kungsforschung eingegangen. Abb. 1: Das Modell des zweistufigen Kommunikationsflusses (eigene Darstellung)11 Neben den bisher genannten Aspekten waren für die Entwicklung des Modells je- doch auch weitere Beobachtungen und Überlegungen der Forscher von entschei- dender Bedeutung. So fanden sie während ihrer Untersuchungen „wiederholt Hinweise dafür, daß ,in Gruppen‘ gewählt wurde“12 und „die Mehrzahl der Wäh- ler, die überhaupt wechseln, ihre Meinung zugunsten der in ihren sozialen Grup- pen herrschenden Wahlabsicht“13 ausrichtet. Den Erfolg der interpersonalen Kommunikation erklären sich die Wissenschaftler mit drei psychologischen Vor- teilen gegenüber massenmedial vermittelter Kommunikation: 10 Ebd., S. 191. 11 Nach ebd., S. 191. 12 Ebd., S. 176. 13 Ebd., S. 178. NAVIGATIONEN 96 Ö F F E N T L I C H K E I T ( E N ) WEBMIGRATION Daß persönliche Kontakte die Meinungen beeinflussen können, liegt paradoxerweise in ihrer größeren Nachlässigkeit und fehlenden Zweckbezogenheit in politischen Angelegenheiten14; Der unmittelbare Kontakt kann dem Widerstand entgegenwirken und ihn besiegen, denn er ist viel flexibler15; und Wenn jemand bei seiner Entscheidung einem persönlichen Einfluß nachgibt, ist die Belohnung unmittelbar und persönlich.16 Trotz ihrer bahnbrechenden Entdeckungen wurde die Studie von Lazarsfeld, Be- relson und Gaudet in der Folgezeit vielfach kritisiert und ausgehend von dieser Kritik in mehreren Folgestudien um wichtige Aspekte erweitert. In der ersten bedeutsamen Folgestudie mit dem Titel „Patterns of Influence: A Study of Interpersonal Influence and of Communications Behavior in a Local Community“, besser bekannt als „Rovere-Studie“, fand Robert King Merton 1943 heraus, dass sich Meinungsführer in so genannte „Locals“ und „Cosmopolitans“ differenzieren lassen. Locals interessierten sich seinen Erkenntnissen zufolge mehr für ortsbezogene Probleme, hätten sehr viele lokale Kontakte und könnten dieses ausgedehnte Beziehungsnetzwerk nutzen, um Einfluss auf die verschiedensten Problembereiche zu nehmen (polymorphe Meinungsführer). Cosmopolitans hin- gegen seien zwar auch an lokalen Problemen interessiert, richteten ihr Interesse jedoch eher an der Außenwelt aus. Ihre persönlichen Kontakte seien nicht so zahlreich wie die der Locals, dafür jedoch qualitativ selektiert. Ihr Einfluss beruhe in erste Linie auf ihrer Expertise in bestimmten Problembereichen und dem damit verbundenen Prestige in der Bevölkerung (monomorphe Meinungsführer).17 Ein weiterer Kritikpunkt an der Studie „The People’s Choice“ war, dass La- zarsfeld und seine Kollegen in ihrem Kommunikationsmodell nicht zwischen der Weitergabe von Information (Transmission) und einer möglichen Beeinflussung (Persuasion) unterschieden. So wurden dem Meinungsführer zwei gleichrangige Funktionen unterstellt: die Multiplikator- und Relaisfunktion (Information) und die Reinforcement-Funktion (Einfluss).18 Mehrere Studien, darunter wichtige Unter- suchungen von Paul J. Deutschmann und Wayne A. Danielson gegen Ende der 1950er Jahre, kamen jedoch zu dem Ergebnis, dass die Massenmedien bei der „reinen“ Informationsverbreitung die Bevölkerung teilweise auch direkt – also ohne die Einwirkung von Meinungsführern – erreichen. Lediglich bei außerge- wöhnlichen Ereignissen mit sehr hohem Nachrichtenwert war die interpersonale Kommunikation von signifikant höherer Bedeutung als die massenmedial vermit- 14 Ebd., S. 192. 15 Ebd., S. 193-194. 16 Ebd., S. 194. 17 Vgl. Eurich: Politische Meinungsführer, S. 23ff. 18 Vgl. ebd., S. 32. NAVIGATIONEN Ö F F E N T L I C H K E I T ( E N ) 97 ESRA KÜÇÜK, HANNES KUNSTREICH UND CHRISTIAN STRIPPEL telte. Bei Ereignissen mit sehr niedrigem Nachrichtenwert spielte sie hingegen so gut wie keine Rolle.19 Dies führte zu der Annahme, dass der Zweistufenfluss der Kommunikation – so wie ihn die Forscher um Lazarsfeld 1944 konzipierten – nicht haltbar sei. Auch mit Blick auf Personen, die durch interpersonale Kommu- nikation gar nicht erreicht werden („non-discussants“, „Meinungsmeider“ oder „opinion avoider“), muss das Zweistufenflussmodell um die Annahme erweitert werden, dass es neben den Meinungsführern auch noch andere Bevölkerungsteile gibt, die unmittelbar von den Massenmedien erreicht und beeinflusst werden.20 Andererseits, das haben weitere Folgestudien wie die Elmira- oder die Deca- tur-Studie von Elihu Katz und Lazarsfeld in den 1960er Jahren gezeigt, ist Kom- munikation auch über mehr als zwei Stufen möglich. Gerade in Untersuchungen zum Persuasionsprozess hat sich herausgestellt, dass auch Meinungsführer ihre Meinungsführer haben21, dass sich Meinungsführer mit anderen Meinungsführern austauschen und dass während dieses Austausches die Rollen des Meinungsgebers („opinion giver“) und des Meinungsempfängers („opinion receiver“) situations- und diskussionsbedingt wechseln.22 Claus Eurich sieht dies als „Beleg für einen mehrphasig, mehrstufig verlaufenden Kommunikationsprozeß“23. Im Jahr 1982 beschäftigte sich schließlich Weimann mit der Netzwerkkon- zeption von Meinungsführerschaft. In einem israelischen Kibbuz führte er eine Kommunikationsnetzwerkanalyse durch, die ihn zu der Unterscheidung von Mei- nungsführern und so genannten „Brücken“ führte. Während Meinungsführer zen- tral in einer Gruppe verankert seien und innerhalb dieser Gruppe (vertikal) Ein- fluss nähmen, seien Brücken, die eine weniger zentrale, gar randständige Position zu der Gruppe einnähmen, fast arbeitsteilig für die (horizontale) Transmission von Informationen zwischen verschiedenen Gruppen zuständig. So ergänzte Weimann das bis dato bereits modifizierte Zweistufenmodell auch um eine weitere Unter- scheidung zwischen Intragruppenfluss, der auf starken, intensiven und dauerhaften Beziehungen („strong ties“) beruht, und Intergruppenfluss, der durch schwache Beziehungen („weak ties“) zustande kommt.24 Die folgende Abbildung greift die genannten Kritikpunkte noch einmal auf und versucht, die theoretischen Überlegungen, empirischen Erkenntnisse und die daraus entwickelten Modifikationen des zweistufigen Kommunikationsmodells grafisch darzustellen. Die unterschiedlichen Stärken der Pfeile sollen dabei die un- terschiedlich starken Beziehungen der beteiligten Akteure zueinander darstellen. 19 Vgl. ebd., S. 31ff., und Schenk: „Meinungsbildung im Alltag“, S. 144. 20 Vgl. ebd., S. 144f. 21 Vgl. Eurich: Politische Meinungsführer, S. 27. 22 Vgl. Schenk: „Meinungsbildung im Alltag“, S. 144f. 23 Ebd., S. 46. 24 Vgl. ebd., S. 147f. und ders.: Finanz-Meinungsführer, S. 64. NAVIGATIONEN 98 Ö F F E N T L I C H K E I T ( E N ) WEBMIGRATION Abb. 2: Modifiziertes Modell des n-stufigen Kommunikationsflusses (Eigene Darstellung) MERKMALE UND EIGENSCHAFTEN VON MEINUNGSFÜHRERN Aus den bisherigen Überlegungen zum Meinungsführerkonzept und dem Zwei- stufenfluss der Kommunikation lassen sich, mit ergänzenden Aspekten aus der Fachliteratur, konkrete Merkmale und Eigenschaften von Meinungsführern ablei- ten. Verallgemeinerungen sind jedoch problematisch. Die hier aufgezeigten Merk- male politischer Meinungsführerschaft umschreiben vielmehr ein theoretisches Konstrukt. Vorab zeichnen sich Meinungsführer vor allem durch eine besondere Soziabi- lität (größeres Netzwerk) und kommunikative Aktivität, konkreter durch einen gehobenen sozioökonomischen Status, ein überdurchschnittlich hoch entwickel- tes Interesse, größere Kompetenz in politischen Fragen sowie stärkere Medien- nutzung aus. Bemerkenswert dabei ist, dass diese Merkmale in Widerspruch zu der Annahme stehen, dass Meinungsführerschaft unabhängig von Gesellschafts- schicht und sozialem Status stattfindet. Michael Schenk bietet für diesen Wider- spruch einen möglichen Lösungsansatz: „Meinungsführer bilden nicht etwa ein be- stimmtes sozio-demografisches Bevölkerungssegment, sie sind jedoch den Perso- nen, die sie beeinflussen, in soziodemografischer Hinsicht ziemlich ähnlich.“25 25 Schenk: Finanz-Meinungsführer, S. 69. NAVIGATIONEN Ö F F E N T L I C H K E I T ( E N ) 99 ESRA KÜÇÜK, HANNES KUNSTREICH UND CHRISTIAN STRIPPEL Nach Schenk greifen Meinungsführer neue Themen schneller auf als andere, passen sich diesen thematischen Trends auch schneller an, bündeln und struktu- rieren alle relevanten Informationen dann entsprechend ihres sozialen Umfelds. Dabei würden sie nicht nur als ein zu den Medien komplementärer Kommunika- tionskanal agieren, sondern zudem auch als Ratgeber auftreten.26 Je größer dabei die Verhaltensunsicherheit der Meinungs- und Ratsuchenden sei, so Jörg Aufer- mann, desto größer sei auch die Einflussmöglichkeit der jeweiligen Meinungsfüh- rer.27 Elihu Katz kam in seiner Studie im Jahr 1957 zu dem Schluss, dass sich die Ei- genschaften eines Meinungsführers durch die drei Charakteristika: Persönlich- keitsmerkmale („Wer man ist“), Fachkompetenz („Was man weiß“) und die Kon- taktfähigkeit bzw. soziale Platzierung („Wen man kennt“) zusammenfassen las- sen.28 MEINUNGSFÜHRER IM INTERNET – MEHR ALS NUR ALTER WEIN IN NEUEN SCHLÄUCHEN? Im theoretischen Konzept der Meinungsführerschaft wird die Wirkung der Mei- nungsführer unter anderem dadurch begründet, dass ihnen, in Abgrenzung zu massenmedialen Informationen, mehr Vertrauen entgegengebracht bzw. Glaub- würdigkeit zugeschrieben wird. Im Internet gibt es erstmals Dienste, die sowohl multidirektionalen und interaktiven Charakter haben als auch gleichzeitig persön- lich und massenverfügbar sind. Diese Ähnlichkeit mit interpersonaler Face-to- Face-Kommunikation macht die Übertragung des beschriebenen Meinungsführer- konzepts in die Sphäre des Internets möglich. Anhand des Blogformats29 soll dies verdeutlicht werden: Blogs wurden lange Zeit in ihrer Bedeutung unterschätzt. Für viele waren sie (und sind sie noch im- mer) nicht mehr als „digitale Tagebücher“ oder Linksammlungen, die von „mittei- lungsbedürftigen Amateuren“ ins Netz gestellt werden. Formate wie „Coporate Blogs“30 und politische „Watchblogs“31 sind mittlerweile jedoch ein fester (wenn auch schwer fassbarer) Bestandteil der deutschen Medienlandschaft. 26 Vgl. ebd., S. 60. 27 Vgl. Aufermann: Kommunikation und Modernisierung, S. 72. 28 Vgl. Schenk: „Meinungsbildung im Alltag“, S. 143f. 29 Die Verfasser sind sich bewusst, dass sich Weblogs in ihren Ausprägungen unterschei- den. Allgemeingültige Aussage über Blogs sollen nicht getroffen werden. Der Verzicht auf Differenzierung dient der Fokussierung auf das eigentliche Thema. 30 Darunter fallen Weblogs von Unternehmen sowie Organisationen oder Parteien; vgl. dazu Röttger/Zielmann: „Weblogs“. 31 Watchblogs zeichnen sich dadurch aus, dass sie bestimmte Organisationen, Unterneh- men oder Themen kritisch beobachten. Zu den bekanntesten deutschen Watchblogs gehören der Bildblog, der INSM Watchblog sowie der für den Grimme Online Award 2008 nominierte Blog netzpolitik.org. NAVIGATIONEN 100 ÖFFE N TL I CHKE I T (E N ) WEBMIGRATION Ein Grund für die gestiegene Nachfrage vieler Meinungssuchender nach Blogs liegt dabei im Bedürfnis nach Orientierung begründet. Blogs sind journalistischen Qualitätsstandards nicht in dem Maße verpflichtet wie etablierte Medien, was je- doch keineswegs nur als Nachteil zu verstehen ist. Gerade in ihrem (unbewussten oder kalkulierten) Verzicht auf Objektivität, Ausgewogenheit und/oder Wahr- heitstreue sind Blogger in der Lage, die Bedürfnisse nach Meinung und Orientie- rung zu befriedigen. Insofern können Blogs als virtuelle Personifizierung aufgefasst und deren Betreiber in ihrer Funktion als „neue“ Meinungsführer untersucht werden. Die Möglichkeit der direkten Rückmeldung über Kommentare, die per- sönliche Färbung der Beiträge und die weitgehenden Einblicke in die (privaten) Lebenswelten der Verfasser überwinden bisherige Distanzen zwischen Produzen- ten und Rezipienten. Das Projekt „WebMigration – Wie deutsch-türkische Meinungsführer das In- ternet für sich gewinnen“ überträgt die Theorie der Meinungsführerschaft also auf das Internet. Es folgt den Annahmen, dass innerhalb der türkischen Teilöffentlich- keiten in Deutschland 1) ein hoher Identifikationsgrad durch unterstellte gemein- same Migrationserfahrung besteht, 2) ein Informations- und Orientierungsdefizit aufgrund mangelnder bzw. als verzerrt empfundener Berichterstattung der etab- lierten Medien zu konstatieren ist und 3) Migranten so Empfehlungen aus der „ethnischen Öffentlichkeit“32 eher Folge leisten. METHODE Um der Funktion von deutsch-türkischen Meinungsführern im Internet nachzuge- hen, wurde für die Untersuchung ein exploratives Forschungsdesign gewählt. In die gezielte Stichprobe fielen Personen mit Migrationhintergrund, die dauerhaft in Deutschland leben und das Internet aktiv nutzten – insbesondere zu politischen Themen und in deutscher Sprache. Journalisten, die sich in ihrer Themensetzung vornehmlich an türkische Migranten richten, fielen dabei ebenso in die Auswahl, wie Politiker und Vertreter von Migrantenselbstorganisationen mit türkischem Migrationshintergrund. Ein besonderes Gewicht bekamen Privatpersonen, die als Blogger die interaktiven Potentiale des Internets nutzen und sich zu politischen Themen äußern. Sie wurden in der Auswertung als neue Meinungsführer den „al- ten“ Meinungsführern, also den Akteuren, die aufgrund ihrer beruflichen Funktion öffentliche Meinungen prägen, gegenübergestellt. 32 Vgl. Hunger: „Wie können Migrantenselbstorganisationen den Integrationsprozess be- treuen?“. NAVIGATIONEN Ö F F E N T L I C H K E I T ( E N ) 101 ESRA KÜÇÜK, HANNES KUNSTREICH UND CHRISTIAN STRIPPEL Dr. Yavuz Özoguz Portalbetreiber http://muslim-markt.de Ekrem Senol Blogger http://jurblog.de Cem Basman Blogger http://sprechblase.wordpress.com Kadir Yücel Blogger http://migrantenkind.net Abdul-Ahmad Rashid Journalist http://forumamfreitag.zdf.de Nebahat Güçlü Politikerin — Tab. 1: Die bisher befragten Personen Bisher wurden sechs Personen mittels eines offenen Leitfadeninterviews be- fragt.33 Dieser gliederte sich in die sechs Fragedimensionen: 1) Grad der Mei- nungsführerschaft, 2) Art des politischen Einflusses, 3) Integrationsverständnis, 4) Persönliche Motivation, 5) Vernetzungsstruktur und 6) Rückmeldungen der Nut- zer. Ergänzt wurde dieser Leitfaden durch einen standardisierten Fragebogen, der demografische Daten zum sozioökonomischen Status, zu Mediennutzungsverhal- ten und Integrationsverständnis abfragte sowie empirisch bewährte Kontrollfra- gen zur Bestätigung der Meinungsführerrolle enthielt. AUSWAHL Dr. Yavuz Özoguz betreibt seit 1999 (gemeinsam mit seinem Bruder) das „Portal zum Islam für deutschsprachige Gläubige“34 muslim-markt.de. Dort bietet er pri- mär praktische Alltagsinformation für Muslime in Deutschland an und veröffent- licht implizit und explizit politische Botschaften, die als kontrovers zu bezeichnen sind. So wird Özoguz aufgrund seiner Tätigkeit vom Verfassungsschutz beobach- tet und musste sich mehrfach vor Gericht verantworten. Mit durchschnittlich 100.000 Besuchern pro Monat gehört muslim-markt.de zu den am häufigsten be- suchten Angeboten für strenggläubige Muslime. Ekrem Senol ist Jurist aus Köln und betreibt seit dreieinhalb Jahren den jurblog.de. Als „Blog der dritten Generation“ startete er Anfang 2005 aufgrund der Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft ein Informationsangebot für die Betroffenen. Heute widmet er sich hauptsächlich aus juristischer Perspektive der Integrationsfrage. Cem Basman zählt zu den festen Größen der deutschen Bloggerszene. Seit etwa sieben Jahren betreibt der Hamburger mit schwedisch-türkischem Migra- tionshintergrund Weblogs, heute vor allem sprechblase.wordpress.com. Als er- folgreicher Firmengründer berichtet er mehr über IT, Software und „Netzthe- 33 Weitere Interviews sind geplant, wurden zum Zeitpunkt der Veröffentlichung jedoch noch nicht durchgeführt bzw. ausgewertet. Weiterführende Informationen über das Projekt gibt es im Internet unter www.webmigration.de. 34 Selbstdarstellung auf der Website http://muslim-markt.de. NAVIGATIONEN 102 ÖFFE N TL I CHKE I T (E N ) WEBMIGRATION men“ als programmatisch und dezidiert über Politik, dennoch enthalten seine Bei- träge durchaus gesellschaftspolitische Standpunkte. Kadir Yücel ist ein Softwareentwickler aus Hamm und Betreiber der Seite migrantenkind.net, ein „Blog über Integration, Migration, Islam, Gott und die Welt.“ Den Blog betreibt er eigenen Aussagen zufolge „nur so nebenher“, was sich auch in der niedrigeren Frequenz der Veröffentlichungen sowie der fehlen- den Fokussierung auf einen Themenschwerpunkt äußert. Der Journalist und Islamwissenschaftler Abdul-Ahmad Rashid produziert ge- meinsam mit seinem Kollegen Kamran Safiarian die ZDF-Online-Sendung „Forum am Freitag“, die im Internet unter forumamfreitag.zdf.de und im ZDF Infokanal ausgestrahlt wird. Als Sohn eines Afghanen und einer Deutschen hat er keinen türkischen Hintergrund; sein Angebot, das im Durchschnitt 170.000 Mal im Mo- nat aufgerufen wird, richtet sich aber durchaus an die türkische Bevölkerung in Deutschland. Außerdem bietet die Seite ein Diskussionsforum, das sich zum wich- tigsten deutschen Onlineangebot im interkulturellen Dialog entwickelt hat. Nebahat Güçlü, Vizevorsitzende der Hamburgischen Bürgerschaft, ist Fach- sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen zum Thema Migration, Frauen und Sozia- les. Eine persönliche Homepage hat sie (noch) nicht. Ihre Einschätzung zum Po- tential des Internets bildet einen Kontrast zum Engagement der Online-Meinungs- führer und veranschaulicht somit die Unterschiede zwischen neuen und alten Meinungsführern. BLOGS ALS ALTERNATIVE ZU ETABLIERTEN MEINUNGSFÜHRERN Interessanterweise gab es vielfach fast wörtliche Übereinstimmungen in der Selbstwahrnehmung der Befragten. So entspricht das Selbstbild der „neuen“ Mei- nungsführer zwar keineswegs dem professioneller Journalisten, dennoch legen sie bei ihrer Arbeit offenbar Standards an. So sieht es Dr. Yavuz Özoguz beispiels- weise als seine Pflicht an, umfassend zu informieren: „Von der Rede von Erdoğan [am 12. Februar 2008, Anm. d. Verfas- ser] gab es in den gesamten deutschen Medien nur einen Satz. […] Weder der Gesamtzusammenhang noch worum es in der Rede über- haupt ging wurden erläutert. Der Muslim-Markt nimmt so ein Thema auf und redet dann über den Gesamtzusammenhang.“35 „Meinungsmache“ ist allen Befragten zufolge nicht Ziel ihrer jeweiligen publizisti- schen Tätigkeit. Vielmehr sehen sie ihre Angebote als komplementär, als Alterna- tiven zum etablierten Mediensystem. So vermutet Senol, sein Erfolg sei eben auch darauf zurückzuführen, dass etablierte Massenmedien die Gruppe der türkischen Migranten in Deutschland nur unzureichend berücksichtigen. 35 Rede Erdoğans am 12.02.2008 in der KölnArena. Gemeint ist das Zitat: „Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ NAVIGATIONEN Ö F F E N T L I C H K E I T ( E N ) 103 ESRA KÜÇÜK, HANNES KUNSTREICH UND CHRISTIAN STRIPPEL Um die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge in Deutschland verstehen zu können, sei, so betonen die Befragten, die Nutzung deutscher Medien unab- dingbar. Oftmals könnten diese jedoch die Bedürfnisse der Migranten nicht be- friedigen, da es ihrem Blickwinkel am spezifischen Mehrwert einer bikulturellen Lebenswelt fehle. Darüber hinaus sei die Berichterstattung über Migranten ten- denziell negativ konnotiert und verzerrt. Tatsächlich lässt sich diese Empfindung auch empirisch nachweisen. So schreibt der Soziologe Rainer Geißler: Inhaltsanalysen zum Bereich Nachrichten und Information kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass Migranten und ihre Proble- me vergleichsweise selten und dabei häufig in negativen Zusammen- hängen dargestellt werden – z.B. als Kriminelle oder als Belastung für das soziale Netz oder die öffentlichen Haushalte.36 Die Defizite der deutschen Medienlandschaft können von den etablierten türki- schen oder Ethnomedien nicht ausgeglichen werden. Zwar erfüllen türkische Me- dien in Deutschland eine wichtige Ergänzungsfunktion in der deutschen Medien- landschaft und schlagen eine „Brücke zur Heimat“. Allerdings sind sie, Geißler zu- folge, oft nationalistisch geprägt und türkeizentriert, teilweise islamistisch.37 Dies gelte besonders für die in der Türkei produzierten Medien. Doch unabhängig vom konkreten Inhalt ist vor allem der Fokus dieser Medienprodukte derart auf die Türkei verengt, dass ihr praktischer Nutzwert für Türken in Deutschland äußerst gering ist. Pointiert drückt Yücel seine Skepsis gegenüber türkischen Medien aus: Es ist schade, dass so viele Türkischstämmige zwar körperlich hier sind, aber mit ihrem Hirn in der Türkei. Sie verfolgen die türkischen Medien viel stärker als die deutschen und verschlafen, während sie Türksat schauen, was hier in Deutschland eigentlich abläuft. Sowohl die befragten Blogger als auch der ZDF-Journalist Abdul-Ahmad Rashid stimmen darin überein, dass in Deutschland zu wenig Migranten aktiv als Medien- schaffende tätig sind. Somit hat das Bild der Mehrheitsgesellschaft über sie einen blinden Fleck. Rashid kritisiert, „dass in den Medien viel über Migranten gespro- chen wird, sie selber aber kaum zu Wort kommen“, und sieht darin explizit ein ernstzunehmendes Integrationshemmnis. Das Problem bestünde aber auch darin, so Rashid, dass der Islam nach wie vor in Deutschland keine staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft sei und somit kein Anrecht auf einen Sendeplatz im öffent- lich-rechtlichen Rundfunk habe. Aus diesem Grund nutze das Onlineformat „Fo- rum am Freitag“ das Internet, um „für Muslime und Nicht-Muslime eine Plattform zum Miteinanderreden zu schaffen“. Auch Nebahat Güçlü fordert eine Alternative zur TV-Berichterstattung: „Fernsehen und Radio bleiben einem veralteten Muster 36 Geißler: „Einwanderungsland Deutschland“, S.13. 37 Vgl. ebd. NAVIGATIONEN 104 ÖFFE N TL I CHKE I T (E N ) WEBMIGRATION verhaftet. Nach wie vor stehen die Integrationsprobleme, anstatt der Erfolge im Mittelpunkt des Mainstreams.“ Özoguz hingegen distanziert sich nicht nur von der deutschen Medienlandschaft. Er kritisiert auch die Arbeit der türkischen Medien und insbesondere der Migrantenselbstorganisationen: „Alleine vier große türki- sche Dachverbände können sich gerade mal eben so auf einen Sprecher einigen. […] Wir haben gesagt, es gibt doch eine ganze Reihe von Dingen, wo wir [die Muslime, Anm. d. Verfasser] kooperieren können?“ Den Interviewten zufolge erzeuge diese Selektivität der deutschen Medien ein Vakuum. Bezugnehmend auf Aufermann wissen wir, dass die Einflussmöglich- keiten der Meinungsführer mit der Verhaltensunsicherheit der nach Meinung und Rat Suchenden ansteigen. Es lässt sich demnach vermuten, dass gerade im Zu- sammenhang mit kontrovers diskutierten Themen wie der Integration von Migranten dieses Vakuum von weniger stark institutionell eingebundenen Akteu- ren ausgefüllt werden kann. ROLLE UND DIFFERENZIERUNG DER NEUEN MEINUNGSFÜHRER Die Neigung, im Internet nach Öffentlichkeit zu suchen und sich demnach über den sozialen Kontext hinaus Reichweite verschaffen zu wollen, ist ein wichtiges Bestimmungskriterium der neuen Meinungsführer. Der Identifikationsfaktor des gemeinsamen ethnischen Kontextes reicht dabei allein nicht aus, um eine dauer- hafte Bindung der Rezipienten zu erreichen. Wie oben bereits beschrieben, lassen sich Meinungsführer in Cosmopolitans (hohe Reichweite, monomorphe Expertise, Brückenfunktion, weak ties) und Locals (lokale Orientierung und Verankerung, polymorphe Ausrichtung, strong ties) differenzieren. Es spricht nun vieles dafür, dass die Blogger als neue Meinungsführer überwiegend der Gruppe der Cosmo- politans zugeordnet werden können. Ekrem Senol ist mit jurblog.de monomorpher Experte38 für die türkische und zugleich juristische Perspektive auf die Integrationsproblematik. Während der Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft wurde er von seinem Umfeld um Orientierung gebeten. „Es gab damals sowohl gesellschaftlich immense Probleme für viele Betroffene, als auch juristische, die insbesondere in den Medien falsch dargestellt wurden.“ Ein Blog im Internet sei ihm zu dieser Zeit als einzige Mög- lichkeit erschienen, sich über die Ratsuchenden im Bekanntenkreis hinaus „Gehör zu verschaffen“. Denn das Ziel bestand darin, möglichst viele „Betroffene davor zu warnen, eine falsche Entscheidung zu treffen“. Heute nutzen etwa 15.000 Le- ser pro Monat den Jurblog. Der kosmopolitische Meinungsführer zeichnet sich aber auch dadurch aus, dass er sich nicht ausschließlich an seiner Peergroup orientiert (weak ties), son- 38 Im Beschluss 2 BvR 1339/06 vom 8.12.2006 nennt ihn das Bundesverfassungsgericht. Damit bezieht sich das Gericht zum ersten Mal auf einen Blog im Internet als zitierfähige Quelle. NAVIGATIONEN Ö F F E N T L I C H K E I T ( E N ) 105 ESRA KÜÇÜK, HANNES KUNSTREICH UND CHRISTIAN STRIPPEL dern eine breitere Öffentlichkeit ansprechen möchte (hohe Reichweite, Brücken- funktion). Neben Ekrem Senol lassen sich auch Yavuz Özoguz und Cem Basman exem- plarisch als Cosmopolitans beschreiben. Özoguz’ Fachgebiet manifestiert sich in seiner Fähigkeit, islamische Vorstellungen mit rational logischen Erklärungsansät- zen und praktikablen Ratschlägen für einen muslimischen Alltag in Deutschland zu koppeln. Auf seiner Seite kann jeder strenggläubige Muslim politische Positionen nachlesen, die laut Betreiber im Einklang mit der religiösen Weltanschauung ste- hen. Das macht sein Angebot zu einer nachgefragten Online-Quelle. Cem Basman hingegen thematisiert in seinem Blog vor allem das Internet sowie dessen Potential in ökonomischer, sozialer und auch politischer Hinsicht. Obwohl er sich nicht primär als Migrant positioniert, mache die kulturelle An- dersartigkeit einen Migranten automatisch zum politisch denkenden Menschen: „Natürlich bin ich Hamburger und auch Deutscher geworden, aber eigentlich bin ich immer noch Immigrant. Und so ist man politisch, man muss es sein.“ In seinem Blog dominieren daher keine programmatischen Artikel, sondern eher die Zwi- schentöne. Dazu ist er im und über das Internet außerordentlich gut vernetzt. Mit einer Vielzahl lokaler Kontakte ausgestattet, richtet sich der so genannte Local direkt an sein Umfeld. Kadir Yücel ist dafür das passende Beispiel. Sein Blog ist, wie er sagt, „nicht mein Hauptschwerpunkt, der läuft eher nebenbei“. In sei- ner Heimatstadt Hamm ist der 28-Jährige stark verankert (strong ties). Seit meh- reren Jahren ist er ehrenamtlich tätig, zum Beispiel als Mitglied des Integrationsra- tes seiner Stadt. Innerhalb der Gemeinde hat er eine gefestigt Stellung, besonders unter den Jugendlichen. Seine Motivation den Blog zu betreiben, sei „eher tech- nisch, also von Berufs wegen“. Sein politisches Interesse äußert sich hingegen nur sekundär über die publizistische Tätigkeit. Im direkten Vergleich mit Ekrem Senol schätzt er sich als weniger professionell ein. Er trennt das konkrete soziale Um- feld vom dispersen Publikum des Internets, auf das er im Vergleich zu den ande- ren Bloggern nicht abzuzielen scheint. FAZIT UND AUSBLICK In Deutschland aufgewachsen und mit hohem Bildungsgrad verstehen sich viele „Deutsch-Türken“ nicht mehr vorrangig als türkische Migranten, sondern als deutsche Staatsbürger mit deutsch-türkischer Identität. Sie verlangen nach Me- dien, die dieser Pluralität und ihrer Lebensrealität Rechnung tragen, die verbin- den, umfassend informieren und einen dauerhaften Diskurs zwischen Mehr- und Minderheitsgesellschaft herstellen (Brückenfunktion). Der neue Meinungsführer füllt eben diese Lücke, die Medien, Politik und Verbände offenbar nicht füllen können. Er nutzt das Internet, um selbst als Kommunikator aufzutreten – aus- schließlich in deutscher Sprache. So betont Yavuz Özoguz: „Dass wir auf deutsch publizieren, widerspricht ja der Behauptung, dass wir eine Parallelgesellschaft bil- den wollen. Wir wollen ein Teil dieser Gesellschaft sein.“ NAVIGATIONEN 106 ÖFFE N TL I CHKE I T (E N ) WEBMIGRATION Kritische Distanz sowohl zur Mehrheits- als auch zur Minderheitsgesellschaft, Fachkompetenz und eine hohe Glaubwürdigkeit sind entscheidende Faktoren, um den Austausch an Information und Meinung zwischen Personen und damit auch zwischen Gruppen zu ermöglichen. So beschreibt Cem Basman den Intergrup- penfluss: „Mir liegt am Herzen, eine Brücke zu halten, indem man aus der ande- ren Welt erzählt und erklärt, manchmal auch spielerisch. Das ist vielleicht noch nicht direkt Politik, aber es dient dazu, einen Dialog aufrecht zu erhalten.“ Diese Brückenfunktion der neuen Meinungsführer scheint eine nicht uner- hebliche Zahl an Lesern anzuziehen: interessierte Menschen sowohl mit als auch ohne Migrationserfahrung. Ekrem Senol betont: Mir liegt viel daran, nicht nur dem Ausländer etwas mitzuteilen, son- dern auch die Mehrheitsgesellschaft zum Nachdenken zu bringen. […] Ich möchte vermitteln, dass man sich für das Leben in Deutschland aufrichtet, man aufhört zwischen den Stühlen zu sitzen. Trotz der hohen Nutzerzahlen darf der gesamtgesellschaftliche Einfluss der neuen Meinungsführer nicht überschätzt werden. Sie erreichen per se weder den Groß- teil der „Offline-Gesellschaft“ noch die Meinungsmeider und Unterhaltungssu- chenden. Außerdem zeigen die theoretischen Ausführungen zur Meinungsführer- schaft, dass sich ihr Einfluss tendenziell auf Meinungssuchende aus dem gleichen sozioökonomische Milieu beschränkt. Doch besonders nach Ansicht der vor- nehmlich netzaktiven Befragten wandelt das Internet öffentliche Willensbildung schon heute. Unterrepräsentierte Standpunkte und kontroverse Ansichten kön- nen im Internet vertreten werden – und finden dort Rezipienten. Unstrittig ist die Tatsache unter den Befragten, dass im Internet heute schon Themen gesetzt wer- den und Impulse der politischen Willensbildung gesellschaftliche Diskurse beein- flussen, wenn sie von Teilöffentlichkeiten schließlich in d ie etablierten Medien dif-fundieren und dann in der Bürgeröffentlichkeit und der Öffentlichkeit des politi- schen Systems sichtbar werden.39 Nur ein Bruchteil der Leute bezieht heute Informationen aus dem In- ternet. Man darf aber nicht vergessen, dass dieser Bruchteil größten- teils aus jungen Leuten besteht. Das sind vielleicht die Meinungsma- cher [und/oder Meinungsführer, Anm. d. Verf.] von morgen. Insofern mag das Internet jetzt noch keine so große Rolle spielen, aber in Zu- kunft wird es ein wesentlicher Bestandteil der Meinungsbildung sein. So fasst Ekrem Senol seinen Optimismus in Bezug auf die Zukunft von Gegenme- dien im Internet zusammen – Gegenmedien, die eine pluralistische Gesellschaft bereichern können. 39 Vgl. Leggewie: „Demokratie auf der Datenautobahn“. NAVIGATIONEN Ö F F E N T L I C H K E I T ( E N ) 107 ESRA KÜÇÜK, HANNES KUNSTREICH UND CHRISTIAN STRIPPEL LITERATURVERZEICHNIS Aufermann, Jörg: Kommunikation und Modernisierung. Meinungsführer und Ge- meinschaftsempfang im Kommunikationsprozeß, München-Pullach u.a. 1971. Bonfadelli, Heinz: „Keine Belege für die Ghetto-These. Aktuelle Studien zur Me- diennutzung von Migranten“, in: Journalistik Journal, Jg. 10, Nr. 2, 2007, S. 18-19. Butterwegge, Christoph u.a. (Hrsg.): Medien und multikulturelle Gesellschaft, Opladen 1999. Eurich, Claus: Politische Meinungsführer. 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