Stefan Böhme / Rolf F. Nohr / Serjoscha Wiemer (Hrsg.) Diskurse des strategischen Spiels Medien ’ Welten Braunschweiger Schriften zur Medienkultur, herausgegeben von Rolf F. Nohr Band 19 Lit Verlag Münster/Hamburg/Berlin/London Lit Stefan Böhme / Rolf F. Nohr / Serjoscha Wiemer (Hrsg.) Diskurse des strategischen Spiels Medialität, Gouvernementalität, Topografie Lit Bucheinbandgestaltung: Tonia Wiatrowski / Rolf F. Nohr unter Verwendung eines Screenshots aus Capitalism Lab (Expansion for Capitalism 2, 2001) © Enlight/Ubisoft, Buchgestaltung: © Roberta Bergmann, Anne-Luise Janßen, Tonia Wiatrowski http://www.tatendrang-design.de Satz: Rolf F. Nohr / Arne Fischer Lektorat: Myriam Pechan © Lit Verlag Münster 2014 Grevener Straße / Fresnostraße 2 D-48159 Münster Tel. 0251-23 50 91 Fax 0251-23 19 72 e-Mail: lit@lit-verlag.de http://www.lit-verlag.de Chausseestr. 128 / 129 D-10115 Berlin Tel. 030-280 40 880 Fax o30-280 40 882 e-Mail: berlin@lit-verlag.de http://www.lit-verlag.de/berlin/ Die Onlineausgabe dieses Buches ist deckungsgleich mit der 1. Auflage der Druckversion. Die Onlineausgabe ist lizenziert unter Creative Common (Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0) Unported Lizenz.(http://cre- ativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/deed.de) Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-643-12560-6 Printed in Germany Inhaltsverzeichnis Stefan Böhme, Rolf F. Nohr, Serjoscha Wiemer 7 Strategie Spielen Zu den Ergebnissen des Forschungsprojekts Rolf F. Nohr 19 »Du bist jetzt ein heldenhafter Stratege« Die Anrufung des strategischen Subjekts Ralf Adelmann / Hartmut Winkler 69 Kurze Ketten Handeln und Subjektkonstitution in Computerspielen Serjoscha Wiemer 83 Strategiespiele und das Medium-Werden des Computers. Computerschach als Faktor der Rekonzeptionalisierung des Computers als programmierbare Maschine zwischen 1945 und 1960 Harald Hillgärtner 113 Die Maschine im Medium: Strategiespiele als Perspektivierung des medialen Dispositivs Computer Mark Butler 135 Protoss-, Zerg- und Terraner-Werden. Das maschinelle Gefüge des (Echtzeit-)Strategiespielers Stefan Böhme 159 Das Spiel mit der Zahl Inhaltsverzeichnis 5 185 Ramón Reichert Government Gaming Gouvernementalität in Strategiespielen 205 Rolf F. Nohr Geopolitik 245 Britta Neitzel (Nicht-)Orte des Strategischen 268 Autorennachweis 271 Abbildungsnachweis 6 Inhaltsverzeichnis Stefan Böhme, Rolf F. Nohr, Serjoscha Wiemer Strategie Spielen Zu den Ergebnissen des Forschungsprojekts Wenn es um Zielerreichung, Effizienz und Effektivität geht, um Rationalität, Entscheidungsfindung oder Optimierung, um die neue Ausrichtung eines Un- ternehmens, den vielversprechendsten Weg zur persönlichen Karriere, die er- folgreichste Anlagemethode, das beste Vorgehen zur Lösung eines Konflikts oder das optimale Ergebnis eines Wettkampfes – dann befinden wir uns mit- ten in einem spezifischen und gegenwärtig hoch relevanten Rationalitätsty- pus, dem ›Strategischen‹. Traditionell wird der Begriff des Strategischen zu- nächst mit dem Feld des Hegemonial-Militärischen als dominantem Diskurs in Verbindung gebracht. Das Strategische wird dort als ein Steuerungs- und Ordnungssystem im Sinne einer spezifischen militärisch-politischen Rationa- lität konzeptualisiert. Spätestens im 20. Jahrhundert zeichnet sich jedoch eine Verschiebung ab, eine Transformation des Strategischen in den Bereich öko- nomischer Planung und Entscheidungsfindung. Der gegenwärtige Modus von Strategie scheint die Subjekte als Instanzen von Selbstoptimierungen zu ad- ressieren. Diese Veränderung wird begleitet durch eine Verallgemeinerung des Strategischen, das nun im Zuge seiner modernen steuerungslogischen Konzeptualisierung generell als ein Denken aufgefasst werden kann, das sich durch ein Abwägen von Möglichkeiten, Zweckgerichtetheit und das Verfolgen von definierten Zielsetzungen auszeichnet. Hinzu kommt das Profil eines pro- gnostischen Denkens, eines Denkens in Wahrscheinlichkeiten. Hierfür werden Verfahren der Modellbildung und der Umgang mit unterschiedlichen Hand- lungsentwürfen bedeutsam. Dem Spiel als Form solcher Modellbildungen und als Medium variabler Hand- lungsentwürfe kommt bei der Entwicklung des strategischen Denkens eine he- rausgehobene Bedeutung zu. Vor allem insofern das Spiel auf ideale Weise die Bedingungen für die Konstituierung eines Möglichkeitsraums strategischen Handelns bereitstellen kann, im Sinne eines materiellen, regelgeleiteten Arte- fakts, das anhand einer impliziten Modellbildung erlaubt Entscheidungen zu treffen. Diskurse des Strategischen materialisieren sich in Spielen insbesonde- re im Genre des Computerstrategiespiels. Grundsätzlich ziehen sich eine Viel- zahl unterschiedlicher gesellschaftlicher Diskurse durch das Computerspiel. Ergebnisse des Forschungsprojekts 7 Abb.1: Rolf F. Nohr / Serjoscha Wiemer (Hg.) (2008): Strategie spielen. Medialität, Geschichte und Politik des Strategiespiels. Münster: Lit-Verl. (Medien’Welten, 9). Rolf F. Nohr (2008): Die Natürlichkeit des Spielens. Vom Verschwinden des Gemachten im Spiel. Münster: Lit-Verl. (Medien’Welten, 10). Dass sich im Falle des Strategiespiels ein eigenständiges Genre konstituiert hat, ist ein Anzeichen für die außerordentliche Wirkmächtigkeit strategischer Diskurse in komplexen, funktional differenzierten Gesellschaften sowie der grundlegenden Affinität zwischen dem Strategischen, dem Spielerischen und dem Digitalen. Der Computer ist scheinbar ›wie gemacht‹ für das strategische Spiel. Der hier vorliegende Sammelband stellt den Abschlussband des Forschungs- projekts Strategie spielen. Steuerungstechniken und strategisches Handeln in populären Computerspielen (am Beispiel von Wirtschafts-, Militär- und Auf- bausimulationen)¯1 dar. Die vorliegenden Texte bündeln zusammen mit ei- ner Reihe anderer Publikationsprojekte aus dem Umfeld des Forschungspro- jekts (s. Abb.1) unsere Überlegungen und Analysen von Strategiespielen. Der Band versammelt ausgewählte Einzelstudien ebenso wie konzentrierte Zu- sammenfassungen der verfolgten Schwerpunktsetzungen des Forschungspro- jekts. Die einzelnen Artikel sind dabei auch Ergebnis eines fortgesetzten Dia- logs und Gedankenaustauschs mit zahlreichen KollegInnen. Naturgemäß kann 8 Stefan Böhme, Rolf F. Nohr, Serjoscha Wiemer Rolf F. Nohr / Stefan Böhme (2009): ›Die Auftritte des Krieges sinnlich machen‹. Johannn C. L. Hellwig und das Braunschweiger Kriegsspiel. Unter Mitarbeit von Gunnar Sandkühler. Braunschweig: Appelhans. Stefan Böhme / Rolf F. Nohr / Serjoscha Wiemer (Hg.) (2012): Sortieren, Sammeln, Suchen, Spielen. Die Datenbank als mediale Praxis. Münster: Lit-Verl. (Medien’Welten, 18). ein solcher Band, auch wenn er sich als Abschlussband begreift, nicht eine voll- ständige oder umfassende Perspektivierung auf einen Forschungsgegenstand, noch zumal einen so offenen wie ein Computerspiel, subsumieren. Vielmehr hoffen wir, dass in der Zusammenschau unser unterschiedlichen Positionie- rungen zum Gegenstand und seinen anhängigen Diskursen ein mehr oder we- niger konsistentes Bild dessen sich vermitteln kann, was uns in den Jahren der Projektlaufzeit als der ›Diskurs des strategischen Spiels‹ augenfällig wur- de.¯2 Der nun vorliegende Band konzentriert sich dabei in seiner Schwerpunkt- setzung auf die drei maßgeblichen Untersuchungsperspektiven, die dem For- schungsprojekt innewohnten: der Topografie des Strategischen, der Medialität des Strategischen und der Gouvernementalität des Strategischen. Aus der Perspektive der Topografie des Strategischen stellt sich insbesondere die Frage, was die Räume, Architekturen und Orte, aber auch die Repräsenta- tionen, Narrationen und Dramaturgien des Strategischen sind. Zu betrachten ist, wie Strategiespiele ihre Konflikträume entwerfen und wie sie den Begriff einer Politik als raum- und topografiezentrierten Handlungsnorm fortfüh- Ergebnisse des Forschungsprojekts 9 ren. Aus dieser Perspektive sind Strategiespiele eben auch Formen einer Probe- handlung von Geopolitik. Sie überformen mit Karten eine spezielle Repräsen- tationsform von Raum konsequent zu einem Konfliktraum und zu einem Raum der Sichtbarkeit, der Aneignenbarkeit und der Beherrschbarkeit. Das Wissen des Strategiespiels über den Raum ist hier vor allem ein geopolitisches Wissen. In die von Medien aufgespannten Handlungs- und Kommunikationsräume ge- hen hinsichtlich Strategiespielen dementsprechend auch ›strategische Erzäh- lungen‹ in die jeweilige Problemstellung und Konfliktsimulation ein. Diese richten sich dabei einerseits an den medial erzeugten Räumen des Computers und andererseits an realen Konflikten und deren ›Nacherzählung‹ aus. ›Die Strategie‹ selbst gibt es vielleicht nur im Modus eines (medialen, vermittelten) Konstrukts, weil kein singuläres Subjekt in der realen Welt einen solchen Mo- dus der Überschau und der Transparenz einnehmen kann, wie sie das Strategie- spiel generiert. Strategie ist so betrachtet eine Formation, die wesentlich über ihr eigenen, spezifischen Repräsentationen zu Materialität gelangt. Gleichzeitig generieren Computerspiele auch Medienräume für die eigentliche Spielhandlung (als virtueller Spielraum oder Spielfeld) und evozieren so spezi- fische Räume der Kognition, verstanden als ›kognitive Karten‹, mit deren Hilfe sich die Spielsubjekte in den Medienräumen orientieren und eigene Handlungs- konzepte entwerfen. Strategie materialisiert sich dann in Handlungsweisen, die stets hybriden Status haben, insofern Sichtbarkeiten, Handlungsweisen, Denkbewegungen, Problemlösen und Entscheiden nur im Zusammenspiel von menschlichen und technischen ›Instanzen‹ oder ›Akteuren‹ ihre Spezifität er- langen. Strategisches Denken und Handeln gehört nicht mehr ›dem Menschen‹ an, sondern ist eine Funktion hybrider Systeme geworden. Eine Entwicklung, die sich bis in die Vor-Entstehungszeit des Computers als Medium im Zweiten Weltkrieg zurückverfolgen lässt, als Rechenautomaten zum unwiderruflichen Bestandteil strategischer Handlungsoptionen innerhalb einer sozio-techno- kybernetischen Gemengelage wurden. Dass es eine dominante Funktion auch aktueller Strategiespiele insbesondere im Kontext eines »Militär-Unterhal- tungs-Komplexes«¯3 darstellt, Spielfelder und Kriegsschauplätze über ›Kar- ten‹ und Visualisierungstechniken paradigmatisch zu verknüpfen, unterstrei- cht, wie elementar der Begriff des Raumes für die Konzeptionalisierung und Beschreibung von Strategie ist. Das Strategische realisiert sich dabei spezifisch im Medium des Computers. Untersucht werden muss hinsichtlich der Medialität des Strategischen daher vor allem auch, wie sich die rechnende, regelrationale und algorithmisieren- de Maschine, die mit audiovisuellen Ausgabe-Einheiten und steuerungslogisch verknüpften taktilen Eingabegeräten zusammengeschaltet ist, als Medium der 10 Stefan Böhme, Rolf F. Nohr, Serjoscha Wiemer Darstellung, Handlung und Kalkulation auf die Spiele selbst aufprägt. Die Me- dialität des Strategischen im Computerspiel umfasst dabei sowohl die funkti- onalen Operationen algorithmisch formalisierter Strategeme als auch präzise das Wechselspiel und die Verschränkung von Funktionen, Wahrnehmungsmo- dalitäten und Oberflächen. Die verschiedenen Interfaces des Computers bilden dabei eine Ebene der sinnlichen Vermittlung zwischen dem Computer als Trä- gergestell und dem Spiel als Aufführungsumgebung und Einübungsort strate- gischen Denkens. Das Interface funktioniert in Strategiespielen als Teil einer kulturellen Grammatik, die Wahrnehmungen, Handlungen und Funktionen in der Kopplung von Mensch und Maschine konventionalisiert und diese wesent- lich raumbezogen codiert. Interfaces kombinieren Funktionalität, Sichtbarkeit und Verunsichtbarmachungen auf spezifische Weise miteinander. Für die Perspektive der Medialität des Strategischen sind insbesondere auch diejenigen Spielformen zu berücksichtigen, bei denen der Computer als Gegner fungiert. Hier vollzieht der Computer nicht nur die Regeln des Spiels als Code, sondern dient darüber hinaus als ›Stellvertreter‹ und Ersatz eines menschlichen Gegners. Die strategisch-informatorische Performanz des Computers zeigt sich hier darin, dass er als Spielmedium und -gegner zugleich fungiert. Spieler re- f lektieren diese mediale Verankerung und Performanz der Regeln und bau- en darauf ihr eigenes strategisches Handeln auf: Computerbasierte Strategie- spiele vollziehen sich nicht nur in einem Rahmen von Spielregeln, sondern in ihren spielerischen Strategien gegen die Regeln des Codes, indem die mensch- lichen Akteure die ›Logik der Maschine‹ und die Funktionsweise der verwende- ten Algorithmen abzuschätzen versuchen. Die Medialität des Computerspiels ist demnach nicht zu begreifen, ohne den Computer als programmierbare Ma- schine zu denken, deren vorprogrammierte Handlungs- und Entscheidungsop- tionen immer auch kulturell geprägt und diskursiv imprägniert sind. Für das Verständnis der den computerbasierten Strategiespielen zugrunde lie- genden Rationalität ist es daher notwendig, die maßgeblichen Steuerungs- techniken und Handlungsmodelle zu identifizieren, die deren innere und äu- ßere Form determinieren. In computerbasierten Strategiespielen ist für das Dispositiv des Strategischen dabei das Paradigma effizienter und rationaler Steuerung und Kontrolle komplexer ökonomischer, militärischer oder poli- tischer Prozesse grundlegend. Aus Perspektive der Gouvernementalität des Strategischen muss daher beispielsweise gefragt werden, ob sich der Spieler einer Wirtschaftssimulation politisch-ökonomischen Effektivitätsparadigmen unterwirft, inwieweit das Probehandeln an strategischen Wissensformen das Handeln des Subjekts stabilisiert und welche Paradigmen der Steuerung, der Selbstadaption und des ›unternehmerischen Selbst‹¯4 sich in strategischen Ergebnisse des Forschungsprojekts 11 Spielen implementieren. Dem folgend wären die Untersuchungsgegenstände für eine solche Kopplung gouvernementaler Praxen von Kontrolle und ›Selbst- steuerung‹ mit Strategiespielen nicht nur Spiele, die sich strategischer Hand- lungs- und Praxisformen bedienen und dabei explizit als Unterhaltungsange- bote vermarktet werden, sondern auch Ausbildungswerkzeuge und didaktische ›Tools‹ aus dem Bereich Management, Militär, Planung und Steuerung, Sport- schulung, Mensch-Maschine-Schnittstelle usf., die sich ›spielerischer‹ Metho- diken bedienen. Hier greifen dann die diskurstheoretischen Überlegungen der Gouvernementalitätsforschung, um aufzeigen zu können, wie die ›Infiltrati- on‹ von vorgeblich rein ludischen Praktiken durch spezialdiskursives Wissen zu Formen der Handlungsoptimierung, der Selbstadaption und des Selbstma- nagements führen kann. Für diese Monitoring-Funktion ist das Spiel als eine Form relevant, in der die ›Einübung‹ in ein gesellschaftlich wünschenswertes Bewusstsein nicht als Mühe und Arbeit, sondern als Form selbstgewählter Un- terhaltung und entspannender Freizeitgestaltung präsentiert werden kann. Darüber hinaus wird ein wichtiger Aspekt der Medialität des strategischen Spiels offensichtlich, nämlich die Eigenschaften des Computers, als eines tech- nischen Geräts, das für Datenprozessierung, Statistiken und Datenvisualisie- rung optimiert ist. Einleitend charakterisiert Rolf F. Nohr einen weit gespannten Rahmen des ›Strategischen‹. Ausgehend von dem Verhältnis von Brett-, Kriegs-, Plan- und Computerspielen analysiert er die Verschiebung des strategischen Diskurses vom Militärischen hin zum Ökonomischen, die Überführung des strategischen Denkens in einen mathematisch-statistisch kalkulierbaren Raum im Zuge der Spieltheorie bis hin zur Rolle des (strategischen) Subjekts in diesem Zusam- menhang. Nohr begreift Strategiespiele dabei grundlegend als Teil einer spe- zifischen Phantasie von Rationalität und Planbarkeit, die eine moderne, auf Machbarkeit und Kontrolle fixierte Gesellschaftsordnung kennzeichnet. Stra- tegiespiele sind dementsprechend nicht nur als Modelle für Regierungshan- deln, sondern selbst als Modus eines Regierens (im Sinne von Gouvernementa- lität) zu verstehen. Entscheidender als die im Spiel eventuell vorzufindenden konkreten Ideologien ist die dem Spiel vorausgehende Anpassung an einen spezifischen Rationalitätstypus. Der eigentliche Handlungskorridor im Spiel ist eng angesetzt, was das vermeintliche ›Regieren‹ auf das Abarbeiten von kleineren Entscheidungen begrenzt. Die entscheidende Konfiguration nimmt also nicht der Spieler an den Objekten des Spiels vor, sondern besteht in der Steuerung des Subjekts durch das Spiel. Das Subjekt wird vom Spiel nicht be- einflusst, sondern überhaupt erst hervorgebracht. Das Strategische ist damit 12 Stefan Böhme, Rolf F. Nohr, Serjoscha Wiemer kein Inhalt eines Mediums, sondern ein genereller Diskurs innerhalb der Ge- sellschaft. Die Frage nach der Konstitution von Subjekten wird von Ralf Adelmann und Hartmut Winkler aus einer weiteren Perspektive aufgegriffen. Sie weisen zu- nächst auf die Problematik des Handlungsbegriffs in den Game Studies hin, der Konzepte wie »Interaktivität« in den Mittelpunkt stellt, ohne diese ausrei- chend erklären zu können. Gleiches gilt für die damit einhergehende Unter- scheidung in (vermeintlich) ›passive‹ Medien wie Fernsehen und ›aktive‹ wie das Computerspiel. Diese spiegelt letztlich eine tiefgreifende Krise des zeitge- nössische Subjekt wider: Auf der einen Seite stehen die vielfältig geäußerten Ansprüchen an den Einzelnen, als Subjekt eigenverantwortlich und selbstbe- stimmt zu handeln; demgegenüber steht jedoch eine Alltagserfahrung, die stark durch Vorschriften und Vorgesetzte geprägt ist. Der Einzelne erlebt sich hier eher als Objekt. Zwischen einem angestrebten Ziel und der realen Um- setzung sind dadurch oftmals eine Vielzahl an Einzelhandlungen gestellt. Das Handlungsmodell des Computerspiels verkürzt diese Ketten von Handlungen nun erheblich und führt sie zurück zu einer direkten Ursache-Wirkung-Bezie- hung, die von den Spielern durchaus lustvoll erlebt werden kann. Im Medi- um des Spiels kommt es somit zu einer »Wiederaufführung« eines handlungs- mächtigen bürgerlichen Subjekts. Im strategischen Computerspiel zeigt sich damit deutlich die zeitliche Variabi- lität des Subjekts. Diese Variabilität ist jedoch nicht auf das Subjekt begrenzt. Auch die Medialität des Computers selbst ist nicht per se gegeben, sondern wird als spezifische historische Entwicklung und in Abhängigkeit zu wechseln- den diskursiven Konstellationen ›produziert‹. Dies ist Ausgangspunkt für Ser- joscha Wiemers Überlegungen zur Bedeutung von Strategiespielen für das ›Me- dium-Werden‹ des Computers. Insbesondere das Strategiespiel Schach nimmt innerhalb des frühen Computerdiskurses eine herausgehobene Stellung ein. Als Modellanwendung für die Programmierung des Computers fungiert es un- ter anderem bei Alan Turing und Claude Shannon als Kristallisationspunkt und exemplarische Problemstellung für die Formulierung von wegweisenden Ideen und Konzepten, die das vorwegnehmen, was später einmal ›Software‹ heißen wird. Das Schachspiel dient dazu, zukünftige Möglichkeiten und Herausforde- rungen der Computerentwicklung zu formulieren, die, das ist entscheidend, gerade nicht als Hardware-Verbesserungen gedacht werden, sondern als Pro- bleme der Programmierbarkeit formuliert werden. Strategiespiele stehen da- mit, medien- und diskursgeschichtlich betrachtet, nicht nur am Beginn von Software, sondern haben dadurch auch entscheidende Bedeutung für die Ent- wicklung des Computers vom Rechenautomaten zum ›Medium‹. Ergebnisse des Forschungsprojekts 13 In Hinblick auf die Medialität des Computers verweist Harald Hillgärtner in sei- nem Beitrag auf die medienkulturelle Signatur von Computerspielen, in denen ein Handeln mit Bildern eingeübt wird, das auf der Oberfläche zumeist als ein Handeln mit Versatzstücken aus dem Bilderfundus und Stereotypenrepertoire der Populärkultur erscheint. Mit Bezugnahmen zu Flussers Idee eines ›Schrei- bens im Modus der technischen Bilder‹ und in Anknüpfung an David Bolters und Richard Grusins Konzept von Remediatisierung stellt Hillgärtner die Frage nach dem Verhältnis von Transparenz und Oberfläche und nimmt Nutzungs- weisen des Computers zwischen Medium und Werkzeug in den Blick. Er schlägt vor, Strategiespiele im Unterschied zu den Shootern als eine Form der ›Hyper- mediacy‹ zu begreifen. Statt eines immersiven Eintauchens in virtuelle Reali- täten bieten sie vornehmlich Optionen für eine konfigurative Praxis, bei der die Spielenden die Rolle eines ›Maschinenarbeiters‹ übernehmen, um algorith- misch konstituierte Maschinen qua Spielinterface zu ›programmieren‹. Gera- de quelloffene Software wie die Game-Engine Spring (The Spring Community, seit 2005), bei der die Spielenden zu Mitproduzenten und Co-Autoren werden können, veranschaulicht dabei eindrucksvoll, wie sich in der gegenwärtigen di- gitalen Medienkultur ein konfiguratives Handeln an der Oberfläche der Bilder mit einer Kultur des Modifizierens und Programmierens verschränkt. Die hy- permediatisierte Ästhetik von Strategiespielen verweist insofern nicht nur auf die »Gemachtheit« medialer Repräsentationen, sondern ist Teil eines komple- xen Spiels von Oberfläche und Tiefenstruktur, das den Umgang mit dem Com- puter als Medium und Maschine kennzeichnet. Mark Butler diskutiert Strategiespiele exemplarisch anhand des populären Echtzeitstrategiespiels StarCraft (Blizzard Entertainment 1998) als »Wunsch- maschinen« im Sinne von Deleuze/Guattari und fragt nach den Differenzen von molarer und molekularer Ordnung. Deren Spannungsfeld sieht Buler zwi- schen dem (molaren) Disziplinar- und Kontrolldispositiv einer Spielanordnung, die auf Effizienz, Optimierung und einen »Funktionsimperativ« innerhalb vor- gegebener Möglichkeitsräume ausgerichtet ist und einer (molekularen) Ebe- ne individueller Handlungsmöglichkeiten und Wahrnehmungsmodalitäten, die über Internalisierung und kognitive wie körperliche Lernprozesse an die Körperlichkeit der Spielenden gebunden ist. Diese molekulare Ebene der Ver- körperung, in der die Körperlichkeit der Spielenden selbst als ›Medium‹ des Strategischen fungiert, lässt sich nach Butler nicht nahtlos unter das Kon- trolldispositiv spielerischer Konkurrenzsituationen subsummieren. Vielmehr fordern Strategiespiele die Theorie dazu heraus, die Multidimensionalität spielerischer Handlungen und Selbstzuschreibungen im Kontext von Subjek- tivierungen auf komplexe Weise in Relation zu den ökonomischen und utilita- 14 Stefan Böhme, Rolf F. Nohr, Serjoscha Wiemer ristischen Dispositiven der Kontrolle zu setzen, die sich in populären Unterhal- tungsspielen manifestieren. Das Beispiel StarCraft spielt auch im Beitrag von Stefan Böhme eine zentra- le Rolle. Er analysiert das Spiel in Hinblick auf numerische Praktiken wie Sta- tistiken, Datenbanken und Kennzahlen. Dabei wird deutlich, dass die Affinität zwischen dem Computer, als rechnende Maschine und Wunschkonstellation, und dem Strategischen, als Diskurs von Planung, Steuerbarkeit und Zielerrei- chung, eben auch in der Quantifizierung und damit einhergehender Dispo- sitive wie Normalität liegen. Die Herstellung einer numerischen Ordnung ist in vielen Strategiespielen eines der zentralen Spielprinzipien. Diese nume- rischen Praktiken sind dabei zugleich normalisierende und subjektivitätsstif- tende Praktiken, womit Strategiespiele auch als Einübungsform für die Aus- prägung und Stabilisierung des modernen, auf Optimierung ausgerichteten Subjekts dienen. Ramón Reichert unterstreicht die maßgebliche Rolle von Computerspielen, bei der Etablierung von politischer Planung und ökonomischer Effizienz im popu- lären Gedächtnis der Gegenwartskultur. Ausgehend vom Konzept der Gouver- nementalität analysiert er Strategiespiele aus machttheoretischer Perspekti- ve. Für die Wirksamkeit von Machtbeziehungen sieht er dabei die ref lexiven Möglichkeiten des »Self-Governments« als konstitutiv an. Dies spiegelt sich in den Interfaces von Strategiespielen wider, indem diese auch auf die Sub- jektivierung des Regierens abzielen. Computerspiele »recyceln« hegemoniale Ordnungsvorstellungen und beziehen sich darin auch auf rassistische Koloni- alphantasien, Gender-Stereotypen und mechanistische Steuerungsmodelle. Spielen ist damit in ein komplexes Machtverhältnis eingebunden, dessen theo- retische Analyse nicht auf einzelne Kategorien reduziert werden kann, sondern beständig neu verhandelt werden muss. Bei der Analyse von hegemonialen Ordnungsvorstellungen und Praktiken de Regierung spielt auch die Einschreibung geopolitischer Diskurse in Strategie- spiele eine zentrale Rolle. Rolf F. Nohr untersucht in seinem zweiten Beitrag spezifische geopolitische Setzungen in Strategiespielen und stellt die Räum- lichkeit des Strategiespiels in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Raum ist dabei sowohl Teil der Funktionalität des Spiels als auch Teil einer spezifischen Formation von Wissen. Strategiespiele beschreiben Politik als eine »Konfigu- ration von territorialen Strukturen«, deren Kern-Motivation die Beherrschung des Raums sowie der darin verteilten Ressourcen ist. Strategiespiele stehen damit im Gegensatz zur Dezentralität und Schwarmhaftigkeit eines tactical shooters. Ergebnisse des Forschungsprojekts 15 Die Räumlichkeit des Strategischen wird abschließend noch einmal von Brit- ta Neitzel aufgegriffen. Strategiespiele verorten die Spieler auf spezifische Art und Weise, die wiederum mit der Ideologie des Spiels korrespondiert. Spiele können einerseits aufgrund ihrer Grenzen und möglichen Verortung im phy- sikalischen Raum als Orte betrachtet werden, die sich andererseits jedoch im Sinne Marc Augés als Nicht-Orte darstellen; also als Raum, der keine Identi- tät besitzt und den man nur provisorisch betritt. In avatar-zentrierten Spie- len finden sich Orte dabei ausgehend »vom visualisierten Körper des Avatars«. Über diesen erschließt sich der Spieler oder die Spielerin den Raum des Spiels. Bei Strategiespielen dagegen fehlt diese Verortung per Avatar in den meisten Fällen. Visualisierung in Strategiespielen funktioniert kartografisch, wodurch der Spieler vom Ort des Geschehens distanziert bleibt. Diese Distanz ist dabei notwendige Bedingung für das ref lexive Moment des Strategischen und ver- hindert eine örtliche Präsenz des Spielers. In Strategiespiele ist die Position des Spielers dem Ort nicht »unterworfen«, wodurch sie auch keine Nicht-Orte sind. Vielmehr wird der Ort »auf seine Bedeutung als lokalisierbarer Punkt im Raum reduziert und für die Aneignung weiterer Punkte im Raum funktionalisiert.« Als Desiderat der bisher erfolgten Forschungen zeichnet sich ab, die im Titel des Projekts benannten Wirtschaftssimulationen weiterführend als eigenstän- digen Gegenstand zu untersuchen: Ein zentrales Ergebnis unseres Projekts ist es, dass speziell dieser Gegenstand als Schnittstelle unterschiedlichster dis- kursive Formationen eine grundsätzliche eigene Perspektivierung erfordert. Diese hoffen wir im nun anschließenden Forschungsprojekt Kulturtechnik Un- ternehmensplanspiel – Wissenstransformation und Handlungssteuerung an der Schnittstelle von Wirtschaft, Computerisierung und Medialität in den nächsten Jahren erarbeiten zu können und in gleicher Weise zur Diskussion zu stellen.¯5 Der Abschlussband eines Forschungsprojekts ist in tradierter Weise nicht nur der Ort, an dem Ergebnisse präsentiert und Diskurse gebündelt werden, son- dern auch der Ort, an dem Dank ausgesprochen werden muss. Dieser Dank soll nun naturgemäß zuallererst den Geldgebern eines solches Unterfangens gel- ten: hier natürlich vorrangig der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die die Hauptphase des Projekts von 2008-2011 finanziell großzügig unterstützt hat. Ebenso gilt unser Dank auch der Stiftung Nord-LB/Öffentliche, ohne deren Unterstützung die dem Projekt vorgeschaltete Explorationsphase ab 2006 nicht möglich gewesen wäre. Gleichermaßen danken wir den unterschiedlichen Trä- gern der Initiative Braunschweig – Stadt der Wissenschaft (2007), deren Engage- ment es möglich gemacht hat, im Rahmen des Forschungsprojekts das Braun- schweiger Kriegsspiel von Johann Ludwig Christian Hellwig (Versuch eines aufs Schachspiel gebaueten taktischen Spiels von zwey und mehreren Personen zu 16 Stefan Böhme, Rolf F. Nohr, Serjoscha Wiemer spielen, Leipzig 1780) zu rekonstruieren, zu analysieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dank gilt an dieser Stelle auch dem Computerspielemu- seum Berlin (namentlich Andreas Lange), das uns während des gesamten Pro- jekts zur Seite stand, vor allem aber durch die Archivierung des Braunschwei- ger Kriegsspiel zur Sicherstellung auch diesen Teils wissenschaftlicher Arbeit beigetragen hat. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), die HBK Braunschweig und das Haus der Wissenschaft Braunschweig haben ebenso fi- nanziell an Projektteilen mitgewirkt. Auch hierfür herzlichen Dank. Zu Dank verpflichtet sind wir auch den BeiträgerInnen der unterschiedlichen Publikationen, ohne deren Impulse und Perspektiven das Projekt nicht die Tragfähigkeit entwickelt hätte, von der wir annehmen, dass es sie hat. In einer Reihe von Workshops und Vorträgen war es möglich, Ideen und Konzepte in in- tensiver Auseinandersetzung mit KollegInnen zu diskutieren. Die in diesen ge- meinsamen Treffen präsentierten Positionen haben maßgeblich zu unserer Ar- beit beigetragen. Daher sei an dieser Stelle namentlich Ralf Adelmann, Ulrike Bergermann, Mark Butler, Stefan Günzel, Harald Hillgärtner, Julian Kücklich, Matthias Mertens, Britta Neitzel, Markus Rautzenberg, Ramón Reichert, Gun- nar Sandkühler, Markus Stauff, Sergej Stoetzer, Jochen Venus, Niels Werber und Hartmut Winkler aufs herzlichste gedankt. Das Forschungsprojekt war in eine Reihe von Kooperationen eingebunden, die ebenso produktiv und in gegenseitigem Austausch zur Ausgestaltung unseres Begriffs von Strategiespielen beigetragen haben. Ein herzlicher Dank geht da- her zunächst an die Game Studies-Gruppe der SWTX PCA/ACA-Konferenz in Albuquerque (hier vor allem Ken McAllister und Judd Ruggill), die uns wie- derholt herzlich aufgenommen und durch eine instruktive und inspirierende Arbeitsatmosphäre beflügelt haben. In gleicher Weise sind wir auch unseren ›DFG-Partnerprojekten‹, dem DIGAREC – Zentrum für Computerspielforschung (Potsdam) und dem Projekt Medienmorphologie – Mediennarrationen und Me- dienspiele (Siegen), zu Dank verpflichtet. Nicht zuletzt danken wir unseren KollegInnen an der HBK Braunschweig und im Institut für Medienforschung, der Hochschulverwaltung, explizit Frau Kosch, und den studentischen ProjektmitarbeiterInnen Frank Bandau, Sandy Werner und Stefanie Pulst. Ergebnisse des Forschungsprojekts 17 Anmerkungen 01˘ Bei der Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unter der Projektnummer NO 818/1-1 ge- führt. 02˘ Für eine vollständige Veröffentlichungsliste und eine ausführliche Dokumentation aller Projektschwerpunkte und durchgeführten Workshops, Veranstaltungen und flankierenden Projekte siehe das Projektarchiv unter [www.strategiespielen.de]. 03˘ Vgl. exemplarisch zur Verschränkung von Unterhaltungsspiel und Militär: Lowood, Henry E. / Lenoir, Tim (2003) Kriegstheater: Der Militär-Unterhaltungs-Komplex. In: Kunst- kammer, Laboratorium, Bühne: Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert. Hrsg. von Jan Lazardzig, Helmar Schramm & Ludger Schwarte. Berlin: Walter de Gruyter Publishers, S.432- 464. 04˘ Das ›unternehmerische Selbst‹ ist ein Begriff, den Ulrich Bröckling durch seine gleichnamige Publikation geprägt hat. Vgl. weiterführend Bröckling, Ulrich (2006) Das Unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt/M.: Suhrkamp. 05˘ Weiterführende Informationen unter [www.kulturtechnik.biz]. 18 Rolf F. Nohr »Du bist jetzt ein heldenhafter Stratege«¯1 Die Anrufung des strategischen Subjekts Dieser Text fungiert weniger im Sinne einer Einführung in einen Sammelband, sondern versucht vielmehr, Überlegungen und Perspektivisierungen, die im Rahmen des Forschungsprojekts diskutiert wurden, zu bündeln. Ziel ist es je- doch nicht eine umfassende und kohärente Definition des Strategiespiels zu leisten, sondern vielmehr eine spezifische Perspektive auf das Strategiespiel zu entwickeln, die vorrangig darauf abzielt, Strategiespiele als diskursive Konstel- lationen zu konzeptualisierten und damit auch (und vor allem) zu klären, das es ein ›distinktes Objekt Strategiespiel‹ in dieser Form nicht geben kann und eine Analyse von Strategiespielen immer vorrangig eins zu sein hat: eine Ana- lyse und Beschäftigung mit dem Diskurs des Strategischen. In diesem Sinne wird dieser einleitende Text eine Reihe von aufeinander auf- bauenden Thesen vorstellen, die zum besseren Verständnis hier schlagwortar- tig vorweggenommen werden sollen. Der Ausgangspunkt der Argumentation ist die Überzeugung, (1) dass Strategiespiele das Produkt und die Akteure in der Herausbildung einer spezifischen Phantasie von Rationalität und Planbarkeit darstellen, die sich als Kennzeichen einer modernen, ausdifferenzierten und auf technologische Machbarkeit und Kontrolle fixierten Gesellschaftsordnung verstehen lässt. (2) Auch wenn Strategie-Konzepte in ihrer Herkunft eng mit Militär und Politik verknüpft sind, ist spätesten im 21. Jahrhundert die Subjekt- Adaption an ökonomische Ideologeme das vordringliche Kennzeichen von Stra- tegie und Strategiespielen. (3) Ideologeme des Strategiespiels manifestieren sich vordergründig auf der inhaltlichen und Repräsentations-Ebene. Wesent- licher für ein Verständnis des Computer-Strategiespiels ist aber die spezifische Konfiguration des (Graphic- User-) Interfaces, dessen Analyse ein Verständnis der der Subjektivierung grundlegenden Steuerung von Handlungen (und Hand- lungsaufforderungen) ermöglicht. (4) die Funktionalität von Strategie spielen lässt sich in diesem Sinne auch über den Begriff der Interpellation beschreiben. Die diskursive Wirksamkeit von Strategiespielen entfaltet sich weniger in einer Rezeption von Strategiespielen oder ein Handeln an Strategiespielen sondern in einer Verschränkung, in der das Strategiespiel selbst das Subjekt konfigu- riert. (5) Eine solche Perspektivierung ermöglicht es, einen Modus der Regie- Die Anrufung des strategischen Subjekts 19 rung oder Machtausübung so zu konstituieren, dass Strategiespiele nicht nur Modelle für Regierungshandeln zur Verfügung stellen, sondern selbst in einen Modus des (gouvernementalen) Regierens eintreten. (6) Die Konsequenz ei- ner solchen Fokussierung ist die Auseinandersetzung mit der Produktion von Spielsubjekten, in der Strategiespiele die Spielenden nicht nur in einen abs- trakten Raum des regiert-werdens überführen, sondern auch ganz konkret (im Sinne des Marxschen Verständnisses erweiterter Arbeit) zu Subjekten der Pro- duktion machen. (7) Eine solche Argumentationskette kulminiert in einem Ver- ständnis, Strategiespielen als diskursive Formationen und Praktiken einer algo- rithmischen Kultur zu erkennen. Planspiele Zu den Klassikern etablierter kognitionspsychologischer, sozial-anthropolo- gischer oder verhaltenswissenschaftlicher Methoden gehört die Herstellung von Modellszenarien, in denen die Teilnehmenden im Rahmen eines Spiels eine vorgegebene, komplexe soziale Wirklichkeit bearbeiten müssen. Das Ausgangsszenario bildet dabei meist eine fiktive, klar abgegrenzte Gemein- schaft, die sich in einer defizitären Lage befindet. Die Spielenden entwickeln Verbesserungsvorschläge und können rundenbasiert die (In-) Effektivität der von ihnen implementierten Veränderungen überprüfen und gegebenen- falls nachjustieren. Ein beliebtes Szenario bildet dabei beispielsweise eine landwirtschaftlich orientierte Kultur eines fiktiven ›Dritte-Welt‹-Landes. Die Spieler haben die Möglichkeit über die Implementierung medizinischer Infra- strukturen, den Aufbau eines Bildungswesens aber auch durch konkrete infra- strukturelle Baumaßnahmen (Bewässerungssysteme, Dreifelder-Wirtschaft, Aufforstung etc.) oder die Veränderung ideologischer, religiöser oder ökono- mischer Paradigmen die Lebenswirklichkeit der simulierten Gemeinschaft zu verbessern.¯2 Solche Simulationsspiele werden gemeinhin nicht genutzt, um die Aufmerk- samkeit der Spielenden auf die Probleme von Schwellenländer zu lenken oder konkrete Entwicklungshilfe-Szenarien zu evaluieren – sie werden zumeist und zunächst als Trainingsformen für eine spezifische Rationalität eingesetzt. Das spielende Subjekt soll in der Erfahrung des Augenscheinlichen lernen, dass das Denken und Handeln in komplexen, vernetzten und dynamischen Handlungs- zusammenhängen einen spezifischen Denk- und Handlungsstil erfordert. Was die Spielenden in solchen Übungssituation erfahren, kulminiert zumeist in der Evidenz eines ›typischen‹ Misslingens. Anfänglich getroffene und festgelegte 20 Rolf F. Nohr Entscheidungen und Strategien erweisen sich als kurzfristig richtig – entwi- ckeln sich aber mittel- und langfristig desaströs. Der Lerneffekt solcher Spiele zielt darauf ab, dem Subjekt vor Augen zu führen, dass es seine Entscheidungen zumeist in einer verengten Perspektive der für eine Auswertung der zur Verfü- gung stehenden Informationen fällt, und dass die Kausalitäten von Ursachen und Wirkungen in der ›Realität‹ zumeist komplexer und interdependenter ›ver- schaltet‹ sind, als das Subjekt unterstellt. Wer zur Verbesserung des Ernteer- trags gegen Kleinsäuger mit Gift und Fallen vorgeht, um den Ertrag zu ver- bessern, erhält kurzfristig ein Umsatzplus in der Landwirtschaft – wird aber mittel- und langfristig damit zu leben haben, dass die Kleinsäuger nunmehr nicht mehr länger die Insekten im Zaum halten und damit eine TseTse-Fliegen- plage entsteht und die Landarbeiter an Malaria erkranken, dass hungrige Leo- parden, denen die Essensgrundlage entzogen ist, in den Nutztier-Viehbestand einfallen und Menschen fressen – dass am Ende eben ein kurzfristiger Effekt in einem Wirkungsbereich ein negatives Ergebnis in drei Wirkungsbereichen entfaltet. Im De-Briefing solcher Planspiele wird dem spielenden Subjekt dann nicht nur seine ›Unfähigkeit‹ zur Entscheidungsfindung in komplexen Interdepen- denz-Szenarien vor Augen geführt, es werden ihm auch seine eigenen Fähigkei- ten zur Handlungs- und Entscheidungsfindung verdeutlicht. Es geht hier also nicht nur um die Erfahrung des ›problem shifting‹. Die avancierteren solcher Projekte suchen danach, Handlungsmodalitäten der spielenden Subjekte zu qualifizieren und zu systematisieren. Die Auswertung solcher Spiele soll dem Subjekt den Lerneffekt ermöglichen, dass die Eigenwahrnehmung von Hand- lungsrationalität ein Trugschluss ist und dass die selbst angenommene Hand- lungsrationalität mehr Wunsch als Wirklichkeit sei. Exemplarisch liest sich die Auswertung eines solchen Modell-Szenarios beispielsweise wie folgt: »Nach der ersten Sitzung [im Sinn der ersten Runde (RFN)] verändert sich aber das Verhaltens- spektrum deutlich. Die relative Häufigkeit derjenigen Protokollelemente, die die Analyse der Si- tuation betrafen, wird immer geringer und die relative Anzahl der Protokollelemente, die un- mittelbar die Entscheidung betreffen, wird immer größer. Offensichtlich entwickeln sich die Versuchspersonen in den sechs Sitzungen von zögerlichen ›Philosophen‹ zu entscheidungsfro- hen ›Tatmenschen‹. Anscheinend glaubten die Versuchspersonen, durch ihre Nachfrage und durch das reflektieren über die Situation ein genügend genaues Bild von der Situation bekom- men zu haben, welches keine Korrektur durch weitere Erfahrungssammlung – sei es durch wei- tere Informationssammlung, sei es durch die analytische Reflexion der Geschehnisse – mehr bedurfte. Sie glaubten über die Methode zu verfügen, die für den Umgang mit [dem fiktiven Spielgebiet (RFN)] Tanaland notwendig waren – zu Unrecht!« (Dörner 2006, 29). Die Anrufung des strategischen Subjekts 21 Mit solchen Zuspitzungen rücken die Plan- und Modellspiele den Handlungs- begriff ins Zentrum ihres Erkenntnisinteresses. Sie markieren damit einen der wesentlichen subjektpolitischen Räume der Moderne: die Frage nach der Ope- rationalität, Effektivität, Steuerbarkeit und Regierbarkeit des subjektiven Han- delns. Die Modellspiele der Wissenschaft und der Unternehmensberatung zie- len in ihren Untersuchungen und ›evidenten Ergebnissen‹ nicht darauf ab, die Planlosigkeit und Unreflektiertheit menschlichen Handelns zu konstatieren, sondern sie verheißen in der Aufdeckung dieses Defizits natürlich auch die Option der Verbesserbarkeit, Effektivierbarkeit und Durchsetzbarkeit eines ›besseren Handelns‹. Alleine schon die Verwendung des Terminus ›Handlungs- rationalität‹ suggeriert hier, dass Handeln rationalisierbar sei und dass das subjektive menschliche Handeln durch eine Überführung in den Geltungsbe- reich intersubjektiver, epistemisch bestimmter Rationalität beherrschbar ge- macht werden kann.¯3 Strategie als (Handlungs-) Rationalität Innerhalb solcher Szenarien taucht irgendwann unweigerlich der Begriff des ›Strategischen‹ auf. Strategie bezeichnet hierbei meist einen Typus der Hand- lung zur Entscheidungsfindung, der sich durch das ›richtige‹ Maß an Kom- plexität, Operationalität, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit qualifiziert. Zumeist rekurriert der dabei verwandte Begriff des Strategischen auf die mathematische und ökonomische Spieltheorie und das Militärwesen. Stra- tegisches Handeln ist damit in solchen Zusammenhängen inhärent als ein Handeln gekennzeichnet, das sich mit einer szientistischen und epistemisch fundierten Rationalität imprägniert und sich somit von den Problematiken des ›entscheidungsblinden‹ und ›impulsiv‹ handelnden Subjekts abgegrenzt. Wer strategisch handelt, handelt wissenschaftlich-rational. In einer solchen, ersten Skizze wird deutlich, dass die Begriffe der ›Strategie‹ und des ›Strategischen‹ selbst variabel sind. Die Verwendung des Begriffs Stra- tegie als Verweis auf einen spezifisch rationalen Typus der Handlung grenzt sich latent von der etymologischen und historischen Herleitung (Rogers 2006) des Begriffs ab. Die Herkunft aus dem Griechischen¯4 verweist zunächst auf den militärischen (und folglich politischen) Ursprung von Wort und Wortge- brauch. Strategie bezeichnet hier zunächst eher allgemein die Planung eines grundsätzlichen und zielorientierten Lösungsrahmens, der eine spezifische Politikform (die Kriegsführung) kennzeichnet und somit als Zwischenebene 22 Rolf F. Nohr zwischen langfristiger Politikform und kurzfri- stiger militärischer Aktion (im Sinne der Taktik) zu verstehen ist.¯5 Eine solche Betrachtungsweise des Strate- gischen kulminiert für die westliche und euro- päische Kultur in der Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts entstehenden Kriegswis- senschaft. Diese ist zentral verbunden mit dem Werk Carl von Clausewitz (1832), bzw. mit der Konturierung einer spezifischen Rationalität des Krieges als einem politischen und streng funktionalen Handlungsraum. Speziell die Aus- einandersetzung um das Oppositionspaar von Strategie und Taktik, aber auch die Frage nach der Relation des Zufalls zur konstatierten Ratio- nalität des Kriegsgeschehens bilden hierbei we- sentliche Punkte der Debatte (vgl. Sandkühler Abb. 1: Strategie und Taktik in Akira Kurosa- 2008).¯6 was Kagemusha – Der Schatten des Krie- Die Kriegswissenschaft definiert den Strategen gers (J 1980). Ein Doppelgänger, der ei- als Feldherrn, der Krieger und Politiker in einem gentlich Taschendieb ist, kann die Rolle des ist. Sein Handeln orientiert sich an einem über- Feldherren einnehmen. Schon die Präsenz geordneten Meta-Rahmen (der langfristigen Er- des Doubles lässt die Soldaten Mut gewin- reichung von politischen Zielen) und definiert nen. untergeordnete, nicht von ihm ausgeführte konkrete Mikrohandlungen (zeitkritisch zu fäl- lende Einzel-Entscheidungen auf dem Schlacht- feld). Damit nimmt der Stratege – zumindest in diesem einfachen Bild – eine ambivalente, wenn nicht gar passiv zu nennende Rolle ein: er ist dem Kalkül eines höheren Prinzips unterworfen (dem Politischen) und unfähig, das sich tatsäch- lich vor seinen Augen entfaltende Szenario der Schlacht konkret zu beeinflussen. Er legt einen grundsätzlichen und zielorientierten Rahmen zu Erreichung eines militärischen Zieles fest, er befiehlt die Einheiten, er gruppiert und reorga- nisiert, gibt Befehle und nimmt diese zurück. Das letztendlich agierende Glied in der Schlacht, das kämpfende Subjekt, entzieht sich jedoch ei- Die Anrufung des strategischen Subjekts 23 ner konkreten Kontrollierbarkeit (eine Divergenz, die beispielsweise Kurosa- was Kagemusha pointiert auf den Punkt bringt, s. Abb. 1). So, wie das Wesen der Politik die Strategie ausrichtet, sucht die Strategie das Wesen der Hand- lung (die Taktik) zu bestimmen. Die Unterscheidung von Strategie und Taktik kulminiert bei Clausewitz insofern darin, Taktik als »die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht«, Strategie hingegen als »Lehre vom Gebrauch der einzelnen Gefechte zum Zweck des Krieges« zu fassen.¯7 Durch eine solche spe- zifische Konfiguration des Strategie-Begriffes wird die Strategie mit dem tra- ditionellen und dominanten Diskurs des Hegemonial-Militärischen in Verbin- dung gebracht. Das Strategische wird hier als abstraktes rationales Konzept und als basales Steuerungs- und Ordnungssystem im Sinne der militärisch-po- litischen Logik konzeptualisiert. Spielzeug In einer solchermaßen spezifischen Konturierung des (militärwissenschaft- lich) Strategischen erscheint es nur konsequent, dass sich das Konzept einer steuerungspolitischen Rationalität der Strategie an medial-technologische Formationen koppelt. Die Konstitution einer kriegswissenschaftlichen Rati- onalität, wie sie sich an den Arbeiten Clausewitz festmachen lässt, koppelt sich an eine spezifische Rationalität der spielerischen Subjektadaption. Als eine solche Adaptionsform kann das Spiel gelten, das damit in den Stellen- wert einer ›Technologie‹ versetzt wird. Es sind jedoch nicht mehr länger die ›nur‹ abstrakten Formen des Brettspiels (wie beispielsweise Schach), die so- wohl als kulturelle Metaphern wie auch als konkrete, ›didaktische‹ Formen für ein kriegswissenschaftliches Denken einstehen. Die mit der Ausdifferen- zierung einer handlungspolitisch operationalen Kriegswissenschaft entste- henden Wissensformationen materialisieren sich vielmehr in den zeitgleich entstehenden Kriegsbrettspielen bzw. Conflict Simulations (CoSims). Es wür- de an dieser Stelle zu weit führen, die Geschichte und Entwicklung der CoSims und Planspiele ausdifferenziert darzustellen (vgl. dazu bspw. Dunnigan 2000). Auch die konkrete Interrelation zwischen der jungen Kriegswissenschaft und den sich entwickelnden spezifisch militärischen Planspielen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts muss als relativ komplexes Mäandern differenter Diskursmuster begriffen werden (vgl. bspw. Lenoir/ Lowood 2003; Nohr 2008a). Gerade an diesem historischen Punkt erscheint es jedoch interessant, eine ›unidirektio- nale‹ Umsetzung der Clausewitzschen Kriegswissenschaft in historisch nach- folgende Spiele (bspw. das bekannte Spiel von Georg Leopold von Reisswitz (vgl. Hilgers 2000)) zurückzuweisen und vielmehr darüber zu spekulieren, inwie- weit sich innerhalb einer bestimmten historischen Konstellation ein vorhan- 24 Rolf F. Nohr denes Rationalitätsdispositiv sowohl im Kriegsbrettspiel als auch in der jungen Kriegswissenschaft verwirklicht. Dies erscheint auch insofern zwingend, da das Strategische als (variabler) Diskurs kontinuierlich immer neue Materiali- sierungen erfährt. Strategie als Wissensformation kann damit also nur schwer- lich auf einen ›Innovationspunkt‹ konzentriert werden. Strategie-Technologien in Spielform sind unabhängig von Autoren (wie bspw. Clausewitz). Dies lässt sich beispielsweise exemplarisch am Kriegsbrettspiel des Braunschweiger Ma- thematikers Johann Ludwig Hellwig besprechen, dessen Spiel 20 Jahre vor Clau- sewitz entwickelt wurde und dennoch eine Anzahl von durch Clausewitz spä- ter postulierten Thesen bereits ›spielerisch‹ vorwegnimmt (vgl. Nohr / Böhme 2009). Spiele materialisieren nicht nur Wissensformationen, sondern bringen selbst hervor, sind produktiv, ›denken mit‹ am Konzept des Strategischen. Entscheidend für ein Verständnis des Strategischen scheint es also, das Ver- hältnis von Brettspiel, Kriegsspiel, CoSim, militärischen Planspiel, und nach- folgend, dem Computer(strategie)spiel als ein komplexes Verhältnis gegen- seitiger diskursiver Druchdringung zu verstehen. Deterding (2008) macht in diesem Zusammenhang zwei Vorschläge: zum einen, bei einer solchen Archä- ologie und Genealogie der (militär-)strategischen Rationalität im Spiel nicht nur das Spiel selbst als Artefakt und Regel in Augenschein zu nehmen, son- dern auch Spielwelten, Spielerlebnisse, Spielgemeinschaften und Spielmecha- nismen im Rahmen solcher Untersuchungen zu berücksichtigen (ebd., 88). Zum anderen konzipiert Deterding das Verhältnis der unterschiedlichen Spiel- formen und -mechanismen im Sinne Bolter und Grusins (2000) als eine ›Reme- dialisierung‹. »Getreu McLuhans Diktum, ›dass der ‚Inhalt ‘ jedes Mediums immer ein anderes Medium ist‹ […] , wurde das strategische Brettspiel zunächst komplett in das Computerspiel hineinkopiert. […]. Und wie bei jedem solchen Prozess der Remediation (Bolter / Grusin 2000) braucht es eine Wei- le, bis das neue Medium obsolete Protokolle abgestreift, die Potentiale der eigenen Technologie ausgelotet und in eigenen Protokollen institutionalisiert hat« (Deterding 2008, 97). In einem offenen Gebrauch des Terminus ›Remedialiserung‹ kann dann jede weitere Transformation des Strategischen als eine solche, durch das ›dialek- tische Double‹ der Effekte der Verunsichtbarung und Offenlegung (»immedi- acy« und »hypermediacy«, Bolter / Grusin 2000) begriffen werden (vgl. dazu auch Nohr 2008b, 30ff.). Die Anrufung des strategischen Subjekts 25 Ökonomische Adaption Spätestens im 21. Jahrhundert zeichnet sich eine weitere Verschiebung ab, eine Transformation oder Erweiterung des strategischen Kalküls auch in den Be- reich ökonomischer Planung und Entscheidungsfindung. Es scheint aber spä- testens hier nicht mehr länger sinnvoll, diesen Prozess der Ausdifferenzierung des Strategischen mit einem medientheoretischen Begriff wie dem der Reme- dialisierung zu beschreiben. Das Strategische ist kein ›Inhalt‹ eines Mediums sondern ein Diskurs innerhalb der Gesellschaft, der sich in unterschiedlichsten Architekturen, Praktiken und Handlungsformen sowohl manifestiert und da- bei gleichzeitig wandelt, entfaltet und verschiebt. Es sind zwei wesentliche Entwicklungen, die eine solche Entfaltung vorantrei- ben. Zum einen ist dies sicherlich eine Entwicklung, die im Zuge der aufkom- menden neoliberalen Steuerungsrationalität die Episteme des Ökonomischen dominant macht und das Konfliktfeld nationaler und transnationaler Politiken vom Kriegerischen zum Ökonomischen verschiebt. Die taktisch konfigurierten Einheiten im Gefecht sind nun nicht mehr die Abteilungen und Schwadrone aufziehender Heere sondern Unternehmen und Interessensgruppen, die den freien Markt als politischen Konfliktraum ›okkupieren‹. Gesamtstrategien zie- len nicht mehr auf Feldzüge ab, die auf die politische Entmachtung des Gegners zielen, sondern müssen als Abfolge von ›Einzelgefechten‹ verstanden werden, die darauf abzielen, den freien Markt über die Planwirtschaft triumphieren zu lassen oder staatliche Interessen zu Gunsten des freien Unternehmertums ›zu- rückzuwerfen‹. Die zweite relevante Entwicklung dürfte sicherlich die Etablierung der ma- thematischen Spieltheorie durch Oskar Morgenstern und John von Neumann um 1944 darstellen. Diese mathematisch statistische Theorie erweiterte das Konzept der Strategie um eine zusätzliche Facette einer spezifischen Rationa- lität. Strategische Erwägungen werden nun in einen Raum mathematischer und statistischer Kalkulierbarkeit überführt – Strategie wird zu einer bere- chenbaren Größe. Das bei Clausewitz noch so prägnante Moment des Zufalls, ganz im Sinne der ›subjekt-unabhängigen Intervention‹, gerinnt in der Spiel- theorie zu einer weiteren kalkulierbaren, stochastischen Größe. Der so entste- hende Diskursrahmen des Strategischen konfiguriert spätestens ab Mitte des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt auch den Raum der Subjektpolitik. Neben einer Vielzahl an unterschiedlichen Wirkungen und Materialisierungen (auf die im Folgenden noch detaillierter eingegangen wird) ist eine Konsequenz eines so verfassten Strategiebegriffes auch seine Wirkmächtigkeit im Feld des Spiele- rischen. 26 Rolf F. Nohr In den 1950er Jahren taucht die Idee auf, Unter- nehmensspiele zur Entwicklung optimaler be- trieblicher Strategien zu verwenden. Kern die- ser Idee ist die Überzeugung, dass formale Spiellösungen, die sich durch wiederholte Spiel- Durchläufe stabilisieren und die auf der mathe- matischen Spieltheorie basieren, optimale Lö- sungsstrategien hervorbringen müssten. Bei solchen Versuchen, komplexe Unternehmenssi- tuationen und Modellierungen durch wieder- holte Spiel-Durchläufe zu lösen, ergeben sich aber zwei verschiedene Arten von Problemen. Zum einen die Erkenntnis, dass es in den sel- tensten Problemsituation einen one best way gibt, der durch einfache Wiederholung und sta- tistische Auswertung herauszuarbeiten ist. Zum anderen formulieren solche frühen ope- Abb. 2: Werner Schwanfelder (2004): Sun Tzu rationalen Umsetzungen von Strategie-Spie- für Manager: Die 13 ewigen Gebote der Stra- len die Hoffnung, das Element des Zufalls – das tegie. jede Idee einer formalen und stabilen strate- gischen Lösung unterminiert – zu ›zähmen‹, es also Mithilfe von Wahrscheinlichkeitsabschät- zungen und stochastisch-statistischen Verfahren zu ›bändigen‹ (vgl. Cohen/ Rhenmann 1974, 49).¯8 Die erste Euphorie in Bezug auf konkrete steuerungs- politische und prognostische Operationalisierungen durch und mit Planspie- len dämpfte sich nach einer ersten Phase in den 1950er bis 1970er Jahren. Der Zufall lässt sich nicht bändigen, und das hochrational und strategisch agie- rende Subjekt der neoklassischen Ökonomietheorie tut sich schwer damit, in prognostischen Spielen einen Idealweg zu etablieren und diesen anschließend aus dem Modellraum des Spiels verwerfungsfrei in den komplexen Raum ge- sellschaftlich-wirtschaftlicher Steuerungen zu überführen. Jedoch existieren die Unternehmensplanspiele weiter: Sie dienen aktuell weniger der konkreten Modellation von Entscheidungssituationen sondern – unser einführendes Bei- spiel des ›komplex verschalteten Systems‹ Tanaland legt dies nahe – haben we- sentlich mehr die Aufgabe, Subjekte an ein spezifisches rationales Denken und anhängige Diskurssysteme des Strategischen anzukoppeln. Zudem, und dies scheint nun als Fokus wesentlich sinnvoller für den vorliegenden Band, ›wan- dern‹ Unternehmensspiele aus dem hochspezifischen Ausbildungswesen und der rein wissenschaftlichen Prognostik in einen Bereich gesamtgesellschaft- Die Anrufung des strategischen Subjekts 27 licher Transformationen und koppeln sich verstärkt an das zeitgleich ›emergie- rende‹ Medium Computer. Das Genre der Aufbau- und Strategiesimulationen entwickelt sich zu einem der wichtigsten Marktsegmente aktueller Spielkul- tur. Prominente Beispiele hierfür finden sich in aktuellen Echtzeitstrategie- spiel-Reihen wie beispielsweise Command & Conquer oder StarCraft, die vor die kriegerische Auseinandersetzung eine Phase des wirtschaftlichen Auf- baus setzen und parallel zu den taktisch-militärischen Entscheidungen einen Schwerpunkt auf das Ressourcenmanagement legen, oder in Spielen wie Der Planer oder Cities XL, die (als reine Aufbausimulationen) einen Krieg um Res- sourcen und Marktstrategien aufrufen. Strategie- und Aufbausimulation: Ontologie Wie lässt sich ein solchermaßen genealogisch und archäologisch begründetes Spiel-Genre aber präziser fassen? Das Genre der Strategie- und Aufbausimu- lation kann betrachtet werden als die Gruppe computerbasierter Spiele, die im Einzel- oder Mehrspielermodus ihre Handlungsaufforderung dadurch her- stellen, dass sie den Spielenden die Möglichkeit geben, mit bestimmten Eigen- schaften versehene Objekte im Rahmen eines vorgesehenen Szenarios und mithilfe fest definierter Regeln in einem umgrenzten Spielraum so zu manipu- lieren, dass vorgegebene Siegbedingungen erfüllt werden können. Diese Sieg- bedingungen sind somit zumeist durch die korrekte Manipulation einer hohen Zahl von Objekten zu erreichen. Natürlich lässt sich mit dieser Definition so gut wie jedes Computerspiel fassen. Dies ist auch in zweierlei Hinsicht so inten- diert: zum einen macht eine solchermaßen offene Definitionen deutlich, wie wenig der Genrebegriff tatsächlich in der Lage ist, bestimmte Spielkonzepte trennscharf zu ordnen oder ausdifferenzierte Taxonomien von Computerspie- len zu etablieren.¯10 Zum anderen verweist diese basale Definition darauf, dass in einem weiteren Verständnis so gut wie jedes Computerspiel als strate- gisch zu qualifizieren ist. Trotzdem lassen sich möglicherweise einige Charak- teristika der Strategie- und Aufbausimulationen in einem ›engeren‹ Verständ- nis benennen, die, ganz im Sinne einer ad-hoc-Definition, geeignet sind, eine Art ›Ontologie des Strategiespiels‹ zu etablieren. Mark J. P. Wolf stellt in seiner Genrecharakteristik beispielsweise den ausba- lancierten Gebrauch limitierter Ressourcen zum Aufbau eines Environments in das Zentrum seiner Definition (ders. 2001, 126). Wiemer (2012) differenziert an- hand der unterschiedlichen Objekte strategischer Handlungsausübung (bspw. Armeen, abstrakte Ökonomien, konkrete Industriesektoren oder Infrastruk- 28 Rolf F. Nohr turen) in »Wargames, Realtime-Strategy-Games, Management-Games« und »God-Games« (ebd. 80). Ebenso grundsätzlich kann unterschieden werden in rundenbasierte Strate- giespiele und Echtzeit-Strategiespiele. In ersteren führen die Spieler ihre Züge in einzelnen Runden nacheinander und ohne Zeitdruck aus: den Spielenden ist hier eine genauere Planung der Aktionen möglich. Rundenbasierte Strate- giespiele sind meist komplexer als Echtzeit-Strategiespiele – sie decken oft As- pekte wie Diplomatie, Ökonomie, Urbanistik, Evolution, Exploration oder Poli- tik (mit) ab. Echtzeit-Strategiespiele sind demgegenüber meist (Multiplayer-) Strategiespiele, bei denen alle Spielenden ihre Handlungen gleichzeitig aus- führen. Die Komplexität von Spielabläufen ist hier zugunsten schneller Reakti- on reduziert (vgl. auch Nohr 2008a). ¯11 Insgesamt charakterisieren sich solche Spiele zudem durch eine weitere Zwei- teilung: Strategiespiele zerfallen zumeist in zwei Phasen. Vor das eigentlich (militär-) strategische Agieren mit den Spielobjekten schaltet sich eine Phase des Aufbaus: Klassischerweise setzt ein Strategiespiel darauf, dass zunächst Ressourcen gesammelt und Produktionskapazitäten aufgebaut werden müs- sen, die dann die spielentscheidenden Einheiten oder Figuren herstellen oder/ und weiter entwickeln. Diese Figuren treten dann in einer zweiten Phase gegen den (Computer-)Gegner an. Der Spieler beginnt eine Runde oder ein Level zu- meist mit minimaler Ausstattung und auf limitiertem Territorium. Er beginnt zunächst mit dem Sammeln von Ressourcen, die für den Auf- und Ausbau seiner Heimatbasis nötig sind. Darauf folgt die Ausdifferenzierung und Höherent- wicklung der Produktionsmöglichkeiten und/oder weiterer Einheiten und Ge- bäude. Erst wenn genügend Gebäude und Einheiten produziert sind, beginnt die zweite Phase des Spiels, der eigentliche Konflikt mit dem Gegner, die Explo- ration des Territoriums, die Aneignung weitere Ressourcen oder die Expansion des eigenen Territoriums. Das Szenario solcher Spiele (die dann auch zumeist unter dem Begriff ›Globalstrategiespiele‹ subsumiert werden) ist zumeist das des Konflikts bzw. des Krieges. Bekannte Spielserien wie beispielsweise die To- tal War-, Age of Empires-, Command & Conquer-, Anno- oder Die Siedler- Rei- hen entfalten dabei einen konkreten Raum des Krieges. Dadurch, dass aber die wirtschaftliche und/oder kulturelle Höherentwicklung und der Aufbau kom- plexer ökonomischer Produktionskreisläufe hier mit dem klassischen Muster strategischen Handelns im Rahmen von Konflikten oder Kriegsszenarien ver- schaltet sind, entsteht ein variiertes und ›offeneres‹ Paradigma des Strate- gischen im Spiel: Die Anrufung des strategischen Subjekts 29 »Dadurch, dass kriegsorientierte Strategiespiele zunehmend Anforderungen wie Ressourcen- management und militärische Logistik integrieren, bzw. Wirtschaftssimulationen oder Auf- baustrategiespiele territoriale Konflikte optional auch militärisch auszutragen erlauben, zeigt sich die Grenze zwischen Wirtschaftssimulation und Kriegsspiel zunehmend durchlässig. Dies wirkt sich unmittelbar auf das Anforderungsprofil aus, das sich in diesen Spielen manifestiert. Die ›strategische Aufgabe‹, die die Spieler bewältigen müssen, umfasst im Computerstrate- giespiel, gemäß dem Einfluss der Wirtschaftssimulation, die Adaption wirtschaftlichen Kal- küls bzw. das Verständnis und die Handhabung prozessorientierter ökonomischer Logik. Statt ›nur‹ Armeen zu befehligen, erfüllt der Spieler ein strategisches Paradigma, das die Einsicht in die Funktionsweise rückgekoppelter Prozessketten verlangt. Spielzüge erfordern Kosten-Nut- zen-Abschätzung und andauernde Systemoptimierung von Mikro-Wirtschaftsbeziehungen. Die langfristige Planung konzentriert sich in frühen Spielphasen auf Investitionsentscheidungen und das Management von Rohstoffen sowie die vorausschauende Kalkulation künftigen Res- sourcenbedarfs« (Wiemer 2008b, 224). Solche Globalstrategie-Spiele werden konsequenterweise auch als so genann- te ›4X-Games‹ charakterisiert. Der Terminus geht vermutlich auf eine Spiele- besprechung Anfang der 1990er Jahre zurück (Emrich 1993), als das Genre mit einigen, zwischenzeitlich als Klassiker gehandelten, Spielkonzepten zu sei- ner Charakteristik fand. ›4X‹ steht dabei für die vier charakteristischen Hand- lungsmodi: ›eXplore, eXpand, eXploit, eXterminate‹. Der Bewegung im Raum, die vorrangig ökonomisch begründet ist und die im Sinne geopolitischer Argu- mentation¯12 immer in den Konflikt führen muss, steht eine Bewegung in der Zeit zur Seite. Neben die Dynamik der räumlichen Expansion tritt die zeitliche Dynamik der Höherentwicklung, also das Durchschreiten und Durchlaufen von prädeterminierten Weiterentwicklungsoptionen (die von der Weiterentwick- lung kleinteiliger technischer Skills bis hin zum Durchmessen ganzer Zeitalter reichen können). Für dieses archetypische Muster der Aufbau und Simulationsspiele ist aber eine reiche Anzahl von Variationen auszumachen. Bestimmte Spiele und Spie- lereihen betonen zuvorderst den Konfliktteil und geben dem Aufbauteil eine untergeordnete Stellung (beispielsweise Supreme Ruler: Cold War), ande- re Spielkonzepte betonen vor allem den Part des Aufbaus komplexer und hö- her entwickelter Produktionsszenarien (beispielsweise die Railroad Tycoon- Spiele). Gerade der Konfliktteil variiert und kontinuiert im Spielvollzug dann die ›klassischen Begriffe‹ des strategischen Handelns – nebenstehender Text- kasten zeigt die Analogisierung von Sun Tzus militärstrategischen Schriften für zeitgenössische Strategiespiele durch ein Spiele-Magazin. 30 Rolf F. Nohr Die Grenzen des Gegenstandes werden durch Sun Tzu – Die KunST DeS KriegeS reine Simulations-Spiele markiert, die den Kon- »Wenn du ihm fünf zu eins überlegen bist, f liktteil komplett eliminieren, und den Aufbau- dann greife an.« teil zum alleinigen Spielprinzip erheben. Hier ist Für Starcraft. Gerade in der Anfangsphase es vor allem die bekannte Stadtsimulation der sollte man den Gegner dann Überrennen (ru- SimCity-Serie, die programmatisch für eine sol- shen), wenn er selbst mehr auf Technologie chermaßen gestaltete Aufbausimulation gelten denn auf Masse setzt. Diese Taktiken sind mag. Da aber gerade in der SimCity-Serie wesent- noch heute sehr beliebt und funktionieren liche Momente des ökonomisch-strategischen eigentlich in fast jedem Echtzeitstrategie- Handelns eine Rolle spielen, die als grundlegend spiel. Gerade wenn der Gegner keine starke für das Gesamtgenre gelten müssen, ist es nur Verteidigung aufgebaut hat, kann der Spieler sinnvoll, auch und gerade die reinen Aufbausi- so schnell eine Entscheidung herbeiführen. mulationen, ebenso wie die vielen Börsen- und Wer dabei zögert, gerät oft technologisch Industriesimulatoren, zum Gegenstandsbereich ins Hintertreffen und kann so am Ende ohne- mit hinzuzuzählen. So erweist sich das weit aus- hin nur verlieren. differenzierte Feld der reinen Simulationssoft- »Die schlechteste Strategie besteht darin, eine ware, wie sie durch Eisenbahn-, Rollercoaster-, befestigte Stadt anzugreifen.« U-Bahn-, Bauernhof-, Trecker- oder Laster-Simu- Für Age of Empire. In vielen modernen Stra- latoren dargestellt werden, zwar prinzipiell an- tegiespielen sind die Verteidigungsanlagen ders akzentuiert als die vorher besprochenen, zu stark, als dass ein Angriff ohne Problem konfliktträchtigen Strategiespiele. Über das durchführbar wäre. Es empfiehlt sich, wie Moment des ökonomischen Aufbaus, des stra- auch schon zu Zeiten Sun Tzus, starkes Be- tegisch-rationalen Handelns innerhalb vorgege- lagerungsgerät einzusetzen oder die Stadt bener Gewinnbedingungen bzw. der Definition auszuhungern. Übertragen auf moderne spezifisch rational-effektiver Handlungsmuster Echtzeitstrategiespiele muss der Spieler ver- durch das Genre müssen sie aber immer noch als suchen, den Gegner davon abzuhalten, wei- wesentliche Bezugspunkte für ein Nachdenken tere Ressourcen zu sammeln und selbst alle über Strategiespiele gelten. Nachschublager besetzen. So kann mit ei- Eingebettet sind die Strategie- und Aufbausi- ner überlegenen Armee die Stadt gestürmt mulation fast ausnahmslos in ein narratives werden. Setting. Anders als beim Schach, einem der klas- »Bist du dem Gegner nicht gewachsen, dann sischsten Strategiespiele überhaupt, bei dem fliehe, wenn du dazu in der Lage bist.« das Narrative nur in den vagen Konnotation der Für Panzers. Dieser Spruch gilt eigentlich bei Figurennamen implementiert ist, ist das Com- jedem Echtzeitstrategiespiel. Der Schaden, puterstrategiespiel mittels Paratext, Vorspann, den die eigene Armee an der überlegenen Ar- Film oder cut scenes stets in einen dezidierten mee ausrichtet, ist meist relativ gering. Die narrativen Handlungsrahmen eingebunden. beste Taktik ist hier also der Rückzug und da- Augenfällig ist dabei, dass – trotz unterschied- mit der Versuch, später mit einer stärkeren lichster Konzeptionen – solchermaßen verfasste Die Anrufung des strategischen Subjekts 31 Erzählungen in Strategiespielen immer einen Armee erneut anzugreifen. Nur wenn die Ar- Modus der Überformung des Abstrakten hin meen fast gleichstark sind, lohnt es sich viel- zu einem Konkreten darstellen. Strategiespiele leicht mit viel Micromanagement (Rückzug veranschlagen Figuren nie vollständig abstrakt, einzelner Truppenteile) die Überlegenheit sondern immer im Rahmen einer narrativen des Gegners wieder wett zu machen. Überformung: ›ein Dragoner reitet schneller als »Du vermeidest jede Konfrontation mit einem Infanteristen – ist aber auch anfälliger gegen Feind, dessen Banner in geordneten Reihen Gewehrfeuer‹ ist die klassische Les- und Argu- stehen und greifst keine Armee an, die in einer mentationsweise eines Strategiespiels. Spielin- ruhigen und zuversichtlichen Formation ist.« härent wird jedoch nie der abstrakte Modus des Für Rome. Auch bei modernen Echtzeltstra- ›Figur X hat gegenüber Figur Y eine 10 % erhöhte tegiespielen ist das Stellungsspiel von ent- Zuggeschwindigkeit, erleidet aber beim Be- scheidender Bedeutung. Wenn der Gegner schuss durch Waffentechnik A einen um 20 % hö- seine Armee gut sortiert hat und Fernkampf- heren Trefferschaden als Figur Y‹ aufgerufen.¯13 einheiten von starken Nahkampftruppen ge- Der narrativen Rahmung steht dabei ein spezi- schützt werden und keine Möglichkeit be- fisches Handlungskonzept des Strategiespiels steht diese Formation zu brechen, sollte man zur Seite. Strategiespiele verlangen von ihrem sich zurückziehen und versuchen von einer Spieler einen Modus der verteilten Aufmerk- anderen Seite anzugreifen. So können die samkeit und vor allem der verteilten Handlung. Unterstützungstruppen ungeschützt erwi- Je nach Spielkonzept, und abhängig vom Voran- scht werden. schreiten der innerspielischen Höherentwick- lung, muss der Spieler eine wachsende Anzahl Aus: [ple:] Computer- und Videospielkultur, von distinkten Einzeleinheiten nicht nur über- März-April 2006 blicken, sondern auch (und vor allem) steuern. Insofern richtet sich die Aufmerksamkeit des Spielenden nicht nur auf den Überblick und die Handlungssteuerung der verteilten Einzeloperatoren, sondern auch auf die Benutzeroberfläche, die dieser spezifischen Handlungsmodalitäten Rechnung trägt. Strategiespiele entfalten ihre Dynamik in einem kartographischen Raum, der dem Spielenden in der graphischen Repräsentation Überblick verspricht. Im Sinne Martin Jays (1993) kann diese okularzentristische Perspektive auch als »scopic regime« verstanden werden – was sich auch im genreüblichen Begriff des ›god mode‹ widerspiegelt. Globalsteuerung geschieht im Überblick, die dezidierte Steuerung einzelner Einheiten vollzieht sich (vor allem in zeitkri- tischen Situationen) demgegenüber in der Ausschnittsvergrößerung der mini- map. Raumcodierte Handlungsformen sind dabei vor allem das Bewegen und Umgruppieren von Einheiten, die zum Ressourcensammeln oder zur Bekämp- fung des Gegners gesteuert werden. Ein funktionales Handeln im Rahmen des 32 Rolf F. Nohr Abb. 3 Interface von Age of Empires III (2005) Strategiespiels ist aber nur möglich, wenn dem Spielenden eine Balance zwi- schen dem Blick auf das Detail und dem globalen Überblick gelingt: archety- pisch für diese verteilte Aufmerksamkeit und multi-tasking ist die Doppelung des kartographischen Raums im Spielinterface (s. Abb. 3), die zumeist durch die Co-Präsenz von Spielraum als Handlungskarte im Hauptbildschirm und der gleichzeitigen Darstellung der Überblickskarte im Interface (der so genannten ›mini map‹) hergestellt wird (vgl. Wiemer 2008b, 230ff.). Die Spezifik von aktuellen Computer-Strategiespielen stellt sich insofern also nicht nur durch ihre genealogische und archäologische Herkunft (Konflikt- und Strategieparadigma), ihre diskursive Konstitution (Transgression von Ökono- mie und Kriegswissenschaft), ihre ›dramaturgische‹ Regelhaftigkeit (4X-Konfi- guration), ihre narrative Rahmung (historische oder utopische Einbettungen), sondern auch durch ihre spezifische Konfiguration in Bezug auf ihre Steue- rung ein. Strategiespiele zeichnen sich in diesem letzten Punkt vor allem da- durch aus, dass sie eine höchst ambivalente Gleichzeitigkeit eines ›inner-di- egetischen‹ Raumes der Spielhandlung und eines ›quasi-extradiegetischen‹ Raums der Spielsteuerung entfalten, der sich in einer stabilen und kontinu- Die Anrufung des strategischen Subjekts 33 ierlichen Benutzeroberfläche manifestiert. Strategisches Handeln gerinnt im Strategiespiel zu einer Konfiguration von Einheiten und Gebäuden, Raum und Zeit, Karte und Interface. Strategie spielen In seiner Auseinandersetzung mit Computerspielen (und deren Vorbedin- gungen) entwickelt Claus Pias (2007) eine Einteilung von Computerspielen entlang der Gegenstandsgruppen ›Action‹, ›Adventure‹ und ›Strategie‹.¯14 Das Konzept des Strategischen qualifiziert er dabei als »konfigurationskritisch«. Dies findet sich auch ähnlich bei Aarseth (1997) und Eskelinen (2001), die eben- so in die drei möglichen Handlungsfunktionen der Spielenden differenzieren: explorativ, interpretativ und konfigurativ. Den Kern des strategischen Spie- lens bildet, Pias folgend, also die permanente und kontinuierliche konfigurie- ren von Werten im temporalen Voranschreiten. Das Konfigurative, auch und vor allem in seiner Anbindung an die Kybernetik, Simulation und Verfahren der Modellbildung, und somit auch an die Paradigmen von Berechenbarkeit und In- formatik, bilden für das strategische Spielen den Kontext, der die spezifische Verfasstheit des Strategiespiels und seine spezielle Anbindung an das Medium Computer ausweist. »Strategiespiele bilden diesbezüglich einen Sonderfall, denn der Begriff des Spiels ist hier – von den Schachvariationen des 17. Jahrhunderts über die Kriegsspiele des preußischen Gene- ralstabs, die Planspiele der Logistik, die ökonomische Spieltheorie bis hin zu den Simulationen des Kalten Krieges – immer anwesend, führt den Ernstfall als extrasymbolischen Horizont im- mer mit sich und kann im Information Warfare mit ihm zusammenfallen. Angesichts von Stra- tegiespielen als Computerspielen steht also weniger der Begriff des Spiels zur Disposition als vielmehr das Eintreten des Computers in eine historisch schon vorhandene Kopplung von Spiel und Ernst, von Simulation und Realem und die Frage nach einer qualitativen Veränderung durch diesen Eintritt« (Pias 2007, 196f.). Es ist naheliegend für eine solche Betrachtungsweise den Stellenwert des Schachs für das Verständnis des Strategiespiels zu betonen (vgl. Pias 2007; Wiemer 2008a). Schach stellt in dieser Betrachtungsweise nicht nur durch sei- ne spielhistorische Kontinuität sondern auch durch seine spezifische operati- onale Logik ein wesentliches Moment zum Verständnis dieses Konfigurativen dar.¯15 34 Rolf F. Nohr »Spätestens seit dem Zeitalter der Aufklärung wird das Schachspiel in einem engen Zusammen- hang zu logischer Notwendigkeit, Berechnung und Rationalität gesehen. Das Schachspiel in sei- ner räumlichen Fixierung auf 64 Felder und seiner strengen Abfolge einzelner Züge dient der be- rechnenden Vernunft als ideales Modell und als Schauplatz ihres kulturellen Siegeszuges. Die diskrete Abfolge endlicher Züge in Verbindung mit der überschaubaren Anzahl definierter Re- geln lassen das Schachspiel scheinbar zum idealen Exerzierplatz einer kalkulierenden Planung werden. Gerade das Schachspiel aber zeigt, kulturgeschichtlich betrachtet, dass ein Spiel nicht vollständig durch seine Regeln beschreibbar ist, sondern darüber hinaus immer auch durch so- ziale Konventionen bestimmt ist« (Wiemer 2008a, 136). Somit wird Schach als Spiel durch kontinuierliche epistemische Zugriffe und Verweise (Leibnitz, Wittgenstein usw.) zu einem paradigmatischen Modell- raum einer (ausgehandelten) spezifischen Rationalitätsform und vor allem als Handlungsraum strategischen Probehandelns konzeptualisiert. Dabei ist aller- dings zu berücksichtigen, dass eine solche konstatierte Rationalitätszuschrei- bung eminent abhängig von der zugrundeliegenden historischen Episteme ist, wie Wiemer am Beispiel der Elimination des Zufalls als vermeintlich ›irratio- nalem‹ Element im Schach nachzeichnen kann: »Die Reinigung des Schachs vom Zufälligen und seine Nobilitierung als Spiel der Vernunft kor- respondieren mit dem Aufstieg des wissenschaftlich-rationalen Denkens und dem zweckratio- nalen Kalkül. Das Zeitalter der Aufklärung arbeitete daran, diese Art des Denkens autonom zu setzen und von seiner Bindung an religiöse Legitimierung zu befreien. In gewisser Weise tritt die Vernunft sogar an die Stelle von Gott, denn sie empfängt ihre logischen Gesetze nicht län- ger von einer höheren Macht, sondern entwickelt sie selbst, bzw. findet sie im Verstand vor« (ebd. 149). Wenn wir versuchen den Kategorien der Konfiguration nachzuspüren, so kann dies im Zugriff auf einige Modalitäten des Strategiespiels erfolgen. So wäre insbesondere zu bedenken, inwieweit der Begriff der Konfiguration auf den Modus der Handlung, auf den Modus der Steuerung und den Modus des Raums anwendbar wäre. Handlungskonfigurationen Der im Genre der Strategie- und Aufbausimulationen prominente Spielent- wickler Sid Meier wird mit den Worten zitiert: »Ein gutes Spiel ist eine Reihe interessanter Entscheidungen. Sie müssen häufig und bedeutungsvoll sein« (zit. nach Lischka 2003, 1). Damit lässt sich eine Kernfunktionalität von (Stra- tegie-) Computerspielen benennen: Die Handlungsmodalitäten des Strategie- spiels generieren sich aus einer komplexen Hierarchie von Zielvorgaben und Die Anrufung des strategischen Subjekts 35 dementsprechend abzuarbeitender ›bedeutungsvoller‹ tasks. Zu vernachlässi- gen ist hierbei sicherlich die ›innerdiegetische‹ Zielvorgabe, also die durch das Narrativ des Spiels vorgegebene ›Lösung‹ eines Konflikts. Es scheint hier eben- so sinnvoller, eine grundsätzliche Disposition des spielenden Subjekts im Raum des strategischen Denkens als eigentliche Zielvorgabe zu benennen. Neben der Konfiguration und Festlegung optionaler und operationaler Parameter scheint im Weiteren die permanente Konfiguration von linearen Daten unter tempo- ralem Druck – verstärkt durch den Aufforderungscharakter unterschiedlichs- ter Spielobjekte – das Wesen des Strategiespiels in Bezug auf seine Handlungs- Dimension auszumachen. Somit tritt (neben der spezifischen Rationalität von Handlungs-Abwägung) das Prinzip permanenter Steuerung als eine ›Arbeit ge- gen Entropie‹ und Kontrollverlust als ein weiteres wesentliches Merkmal des Strategiespiels hinzu. Betrachten wir das Strategiespiel aus der Dimension der Handlung, so wird deutlich, dass Strategiespiele vor allem die Handlungsabfolge fokussieren und evozieren. Ein Strategiespiel gibt einen Ausgangszustand vor und defi- niert einen Endzustand als (im Imperativ formulierte) Sieg-Bedingung (›be- siege das feindliche Heer‹, ›vernichte die feindliche Heimatbasis‹, ›erobere al- les Land‹, ›produziere eine Summe X von Einheit Y‹). Zudem definiert es die Objekte, die zur Erreichung dieser Siegbedingung manipuliert und konfigu- riert werden können und eröffnet über seine Abfolge-Dimension den tempora- len Raum, in dem diese Konfigurationen vorgenommen werden müssen. Bevor der Spielende in eine konkrete Abfolge von konfigurativen Handlungsschritten eintritt, muss er (idealerweise) eine konzeptionelle Strategie entwickeln, die sein Handeln auf die Erreichung der Siegbedingung hin zurichtet. Diese stra- tegische Handlungsabwägung ist gekennzeichnet von den Strukturen der Op- tionalität und Operationalität: optional in dem Sinne, als der Spieler nicht mit Sicherheit wissen kann, ob die konzeptualisierten Handlungs-Abwägungen tatsächlich zum gewünschten Ziel führen werden, operational in dem Sinne, als die Handlungsabwägungen des Spielers möglichst effektiv und gerichtet auf die Erreichung des Ziels zugeschnitten sein müssen. »Das strategische Denken, so könnte man diesen Aspekt schärfer fassen, geht dem strate- gischen Handeln stets notwendig voraus. Strategisches Handeln zeichnet sich dadurch aus, dass es als ein Ergebnis der Abwägung verschiedener Handlungsmöglichkeiten und der Festle- gung eines Ziels auftritt. Die Konstitution des Strategischen ist somit gebunden an einen Den- kraum von Operabilität und Optionalität. Die Entwicklung einer Strategie setzt das Abwägen zwischen unterschiedlichen Entscheidungen voraus. Implizit wird die Strategie zudem auf vor- 36 Rolf F. Nohr entworfenen Zieldefinitionen aufbauen, aus denen ihre ›Gewinnbedingungen‹ abgeleitet wer- den können« (Nohr / Wiemer 2008, 7). Strategiespiele – als materielle und regelgeleitete Artefakte – stellen den Mög- lichkeitsraum zur Verfügung, den ein solches strategisches Denken benötigt (ebd. 8), einen Raum in dem strategisches Denken zu konfigurativem Handeln wird. Dieser Möglichkeitsraum ist im weiteren dadurch zu charakterisieren, dass er durch »affordance« (Gibson 1977)¯16 durchzogen ist, dass er also mit Gegenständen und Objekten gefüllt ist, die den Spielenden auffordern, be- stimmte Handlungen zu vollziehen. Bäume fordern ihn auf diese als Ressour- ce zu fällen, farblich markierte Grenzen fordern ihn auf diese zu überschreiten und feindliches Territorium zu erobern, ›vernebelte‹ Kartenabschnitte fordern ihn auf dieses Gelände zu explorieren. Eine Handlungskonfiguration im Stra- tegiespiel ist also nicht nur eine Subjektpraktik – im Sinne der Abwägung und strategischen Handlungsvorbereitung – sondern auch Ergebnis der Evokati- on des Spielsystems selbst: die vorgegebenen, dem Spielenden bekannten Re- geln – aber eben auch durch den spielerische ›Aufforderungscharakter‹, die den Spielenden zu einer kontinuierlichen Initiierung und kontinuierlichen Erweite- rung seines Handelns anreizt – und dieses zugleich auch begrenzt. Eine »affordance« anderer Natur ist das dem Strategiespiel immanente Beloh- nungssystem. Ohne hier im weiteren auf die (omnipräsente) gamification-De- batte abzielen zu wollen, muss doch konstatiert werden, dass die Handlungs- Konfiguration im Strategiespiel nicht nur durch eine definierte Siegbedingung, sondern auch durch eine in vielen Spieltiteln relativ stark ausdifferenzierte Qualität von zu erreichenden ›Zwischenzielen‹ charakterisiert ist. Vor allem durch Höher- und Weiterentwicklung, den Anreiz der Ausdifferenzierung und die Verheißung der Dominierbarkeit des Gegners wird der Spielende motiviert, nicht nur möglichst effektiv die Siegbedingung zu erfüllen, sondern dabei auch Handlungs-Modifikationen dahingehend vorzunehmen, das Handeln auf das Erreichen solcher Zwischenziele, selbst gesetzter Herausforderungen oder of- fen zu Tage tretenden Belohnungen abzustimmen.¯17 Strategiespiele sind vor allem durch eine zyklische Zeitstruktur charakterisiert, die vor allem aus einer verschränkten Dramaturgie von Ressourcen-Aufbau-, Management und der Etablierung von Verarbeitungszyklen gekennzeichnet ist. In manchen Fällen stoßen wir hier auf temporale Verläufe, die aus einem genuin verschachtelten System unterschiedlicher und komplexer Aufgaben und Organisations-Effek- ten bestehen, die also nicht eine lineare Höher- oder Weiterentwicklung veran- schlagen, sondern als vielfältige ausdifferenzierte Formationen miteinander verbundener kleinteiliger Aufgaben darstellen.¯18 ¯19 Insofern ist die Hand- Die Anrufung des strategischen Subjekts 37 lungs-Dimension des Strategiespiels durch eine Bandbreite von Belohnungs- systemen ›gerichtet‹: die (ökonomische) Belohnung quantitativen Zuwachses (Geld, Gold, Ressourcen, Einheiten), aber eben auch die Belohnung der Erstel- lung funktionaler Produktionsketten, der Erforschung kompletter Räume, oder schlicht der ästhetischen Gestaltung der aufgebauten Produktionsketten. Steuerungskonfigurationen Für das Strategiespiel ist der Begriff der Steuerung (nicht zuletzt solcher Pro- duktionsketten) existenziell. Eine Aufbausimulation zu spielen bedeutet, kon- tinuierlich Einfluss auf auflaufende Informationen räumlicher oder algorith- mischer Natur zu nehmen. Für ein Verständnis des Strategiespiels ist insofern eine Beschäftigung mit dem Interface (als dem symbolischen Ort der Steue- rung) unerlässlich. Dies zeigt sich schon ganz pragmatisch an der Tatsache, dass Strategie- und Aufbausimulationen zumeist in ihrer Spielmechanik an den Computer gebunden sind: verschiedentlich durchgeführte Adaptionen von Spielkonzepten an Konsolen oder Handheld-Geräte scheitern zumeist an der eingeschränkten Steuerbarkeit der Spiele durch Joysticks oder zu kleine Bildschirmsteuerungselemente. Die Konfigurationen der Steuerbarkeit von Strategiespielen forciert eine Auseinandersetzung mit ihren Interfaces. Wesentliches Element für einen solchen Eingriff ist das Interface, also bei- spielsweise die Wahl des Bildschirmausschnitts auf der Spielkarte mittels der Maus, die Auswahl und Aktivierung von Handlungs-Einheiten (wie beispiels- weise Gebäuden oder Figuren und Figurengruppen) durch Mausklick oder Tastatur-ShortCut, ebenso aber auch die Bedienung der Graphical-User-In- terface-Menüs. Das GU-Interface ist im Strategiespiel ein nicht nur visuell do- minantes symbolisches System, das in Form von Popup-Menüs die Konfigu- ration von Handlungsschritten steuerbar macht, sondern selbst funktionaler und existentieller Teil des Spielerlebens und der Spielmechanik. Insofern dop- pelt sich im Strategiespiel auf eine spezielle Weise der Begriff des Interface als Werkzeug oder ›kulturelle Grammatik‹ (vgl. dazu auch Wiemer 2012, 78ff.): In- terfaces wie Maus und Tastatur greifen auf das ›innerdiegetische Werkzeug‹ des Menüs zurück, interagieren aber auch auf der repräsentationalen Ebe- ne des Spiels mit den Figuren, Gebäuden und der Topographie. Das Interface bleibt, ganz im Sinne des Computerspiels in toto, mit dem eigentlichen Spiel- geschehen verschränkt. »Das Interface ist die Summe derjenigen technischen Gegebenheiten, welche dem Spieler ein Handeln im Spiel ermöglichen« (Sche- mer-Reinhard 2012, 54). Das GUI – in seiner Ausweitung auf das eher inner-diegetisch zu veranschla- gende Menü-Interface der Spielsteuerung, in Koppelung mit den eher extra- 38 Rolf F. Nohr diegenetisch zu veranschlagenden Eingabewerkzeugen Tastatur und Maus – stellt die ›Oberfläche‹¯20 wie auch die Funktionalität der Steuerungskonfi- guration der Strategiespiele zur Verfügung. Problematisch bleibt jedoch die so eingeführte (zumindest formal behauptete) Trennung von inner- und extra- diegetischer Ebene, die auf den ersten Blick sinnvoll erscheinen mag. Beispiels- weise ist das typische Interface der Aufbausimulation (im Sinne beispielsweise der Verdoppelung der Kartenansicht von ›Spielkarte‹ und mini-map¯21) in ho- hem Maße ambivalent angesiedelt, sodass nicht ›trennscharf‹ bestimmt wer- den kann, welches Element ein Element des Spiels selbst ist und welches Ele- ment zur Spielsteuerung zu veranschlagen wäre. Das Interface ist der ›Kopplungsort‹ zweier unterschiedlicher Sphären, die je nach theoretischer Konzeptualisierung unterschiedlich veranschlagt werden können. Im Interface berühren sich Mensch und Maschine, Hard-, Soft- und ›Wet‹-Ware, unterschiedliche informationsverarbeitende Systeme oder jeweils spezifisch zu veranschlagende symbolische Artikulationen (vgl. dazu ausführ- lich Wiemer 2008b, 224ff.). Wie auch immer hier en détail sinnvoll theoretisch zu argumentieren wäre, so ist dennoch klar, dass in jedem dieser Zugriffs- formen der für das Computerspiel existenzielle Steuerungsbegriff über das In- terface wesentlich konturiert wird. Deutlich wird in einer solchen Konzeptua- lisierung jedoch auch, dass das im Interface angelegte Moment der Steuerung keine ›monodirektionale‹ Handlungs-Formation ist. Vielmehr muss das Mo- ment der Steuerung in diesem Zusammenhang als eine Funktion gegenseitiger Beeinflussung verstanden werden. Nicht nur der Spielende steuert das Spiel, ebenso steuert das Spiel über seine Oberflächenstruktur das Handeln, Wahr- nehmen und Denken des Spielenden. Das Spiel konfiguriert seinen Spieler. Mensch und Technik formatieren sich gegenseitig um eine strukturelle Kopp- lung zu ermöglichen (vgl. auch Pias 2007). Die ›Verschaltung‹ von subjektivem und technologischem Handeln entsteht auf der Basis einer strukturellen Ähn- lichkeit. Das ›Intuitive‹ des Handelns am und im Computerspiel entsteht aus einer Isomorphie von Handlungs- und Aktionsformen (vgl. Schemer-Reimhardt 2012, 58). Interessanterweise – und dies stellt möglicherweise eines der Spezi- fika des Strategiespiels dar – entsteht aus dieser Isomorphie ein Widerspruch, der sich im Spiel dennoch aufzulösen scheint: die Darstellung eines inner-di- egetischen Objekts als steuerbar irritiert die behauptete Geschlossenheit der diegetischen Welt, ebenso wie beispielsweise das Ausbleiben von inner-diege- tischen Handlungen ein direkter Verweis auf die extra-diegetische Welt ist. So entsteht ein Kohärenzdruck des Spieles als Ganzem (ebd., 67). Für das Strate- giespiel meint das, dass beispielsweise die Rationalität der Höher- und Weiter- entwicklung, die den Objekten des Spiels inhärent beigegeben zu sein scheint, Die Anrufung des strategischen Subjekts 39 sich nur dann entfaltet, wenn der Spielende die Höherentwicklung durch eine Interface-Handlung ›triggert‹. Die Weiterentwicklung einer Figur oder einer Architektur ist nicht ›evolutionär‹ intendiert, sondern muss aktiv in Gang ge- setzt werden.¯22 Eine solche Handlungspraxis lässt sich vor allem im Zusammenhang mit Com- puterspielen mit dem Begriff der Ergodizität, wie er von Espen Aarseth (1997) eingeführt wurde, beschreiben. Aarseths Konzept der Ergodizität versucht zu- nächst interaktive Literatur zu beschreiben, die von ihrem Lesenden einen ›nicht-trivialen Aufwand‹ in der Auseinandersetzung mit dem Trägermedium erfordert. Eine solche Auseinandersetzung entfaltet sich vornehmlich in einer informatorischen Kopplung, die strukturell als kybernetisches System zu be- schreiben ist: »Ergodic phenomena are produced by some kind of cybernetic systems, i.e. a machine (or a human) that operates as an information feed- back loop, which will generate a different semiotic sequence each time it is engaged« (Aarseth 1997, 32f.). Es geht Aarseth dabei primär um die ›Arbeit‹, die ein Lesender aufwenden muss, um einen ›materialen‹ Text (wie einen Hy- pertext, aber eben auch ein Computerspiel) zu ›durchlaufen‹. Ein so gesetzter Begriff der Ergodizität ermöglicht die Analyse von Spielen mit einem starken Fokus auf die Kopplung von Spielenden und Spiel, Technik und Subjekt oder symbolischen Entwürfen und symbolischen Handlungen am Ort des Interfaces und unter Berücksichtigung eines Prozesses der Bedeutungsproduktion und Handlungs-/Steuerungskonfiguration in einer Verschränkung von subjektiver Aushandlung und vor-entworfenen Applikationsvorgaben (vgl. auch Wiemer 2008b, 224ff.).¯23 »Offenbar stabilisieren sich bestimmte Genrestrukturen in Computerspielen weniger über nar- rative Elemente als vielmehr über die Konventionalisierung von Interfaces und Formen gen- retypischer Ergodik. [So…] ist das Interface keine bloße Steuerungsoberfläche, sondern selbst Ort der Reproduktion bestimmter Bedeutungszusammenhänge und ›Ideologien‹. Unter ergo- dischen Gesichtspunkten ist das Interface zudem von großem Interesse, insofern es die effek- tiven Aktivitäten des Spielers gegenüber dem Spiel sowie die kybernetische Kopplung von Spie- ler und Apparatur definiert. Die vorläufige Analyse einiger Interface-Elemente deutet darauf hin, dass Echtzeitstrategiespiele durch ein bestimmtes räumliches Paradigma (›spatial regime‹) gekennzeichnet sind, […]« (ebd., 236). Mit dem Konzept der Ergodizität und am Beispiel des Interfaces lässt sich ein weiterer gewichtiger Punkt in der Durchdringung des Konzepts der Steuerung entwickeln. Es ist dies das (gewichtige) Moment der Selbst-Steuerung, also der Regierungspraxis, die das Strategiespiel in Bezug auf sein spielendes Subjekt entwirft. 40 Rolf F. Nohr Abb. 4: Populationsstatistik aus SimCity (2013) Wenn wir das Interface der Aufbau- und Strategiespiele betrachten, so ist au- genscheinlich, dass sich die Handlungsebene bzw. die Form der Konfiguration nicht nur auf die Steuerung von Spielobjekten und die Verwaltung von räum- lichen Formationen erstreckt.¯24 Gerade im Zusammenhang mit dem Ökono- mischen oder dem Aufbauteil des Strategiespiels fällt eine Interfaceebene ins Auge, die vorgeblich darauf abzielt, ein hohes Maß an statistischen Daten, Kur- venlandschaften und Effizienzmonitoren zur Verfügung zu stellen. Der Aufbau von Spielobjekten oder die Herstellung von Produktionskreisläufen, der Erwerb von Ressourcen oder auch die Einschätzung der Kampfkraft eigener Einheiten oder der Effizienzsteigerung von Instanzen setzt eine Auseinandersetzung mit einem ganz anderen Begriff von Steuerung in Gang. Das verborgene Curriculum von Aufbau- und Strategiespielen scheint oft- mals das »constant monitoring« (Starr 1994) ökonomisch relevanter Parame- ter in ›kybernetischen Regelkreisen‹ zu sein:¯25 »Der Computer gestattet sol- chen Spielen und Simulationen ein Format anzunehmen, in dem die Überfülle an Berechnungen, auf denen sie beruhen, an den Prozessor delegiert werden, während der Spieler ihren Fluss beaufsichtigt und lenkt« (Miklaucic 2007, 159). Gerade in einem solchermaßen verfassten Zusammenhang von Regelung, Steuerung und monitoring kann zweierlei deutlich gemacht werden: einerseits die Ambivalenz des Interfaces, auf die oben schon einmal hingewiesen wurde. Gerade die Konfigurationsarbeit an solchen ›immateriellen‹ Wissensformati- Die Anrufung des strategischen Subjekts 41 onen, die auf die Parametrisierung, die Etablierung von und Arbeit mit Kenn- zahlen in Bezug auf Handlungs-Effektivierung abzielen, werden im engeren Sinn weder als inner-diegetische oder gar narrative Elemente des Spiels begrif- fen werden können, noch werden sie andererseits als nicht als dem Spiel äußer- lich veranschlagt, also als strikt extra-diegetische Funktion begriffen werden können (vgl. dazu auch Nohr 2008b, 88ff.). Vielmehr ruft sich mit den Rege- lungsverfahren und den Steuerungsinterfaces das zugrunde liegende Medi- um (der Computer) in Erinnerung. Als symbolische Formation ist das ›Spiel mit der Zahl‹ wie keine andere angehalten, die Existenz von Algorithmen, des Re- gelkreises, kurz: des Computers selbst in das Spiel hineinzuführen. Diese Be- tonung des Algorithmischen findet sich auch in den Arbeiten Alexander Gal- loways (2006b). Sein methodischer Vorschlag zielt darauf ab, Computer (und Computerspiele) als Leittechnologien und Medien einer aktuellen »algorith- mischen Kultur« zu verstehen, deren Leitmetapher die deleuzianische Kontroll- gesellschaft darstellt (ebd. 87). Computerspiele wie beispielsweise Civilization fetischisieren den von Deleuze (1993) konturierten Modus der Kontrolle: dies sowohl narrativ (Expansionismus, Logozentrismus usf.) – vor allem aber durch die inhärente Logik der Informationen (Galloway 2006b, 102). Der Kern des Spiels ist nicht das sich entfaltende historische Bild einer Zivilisation, sondern die Arbeit des spielenden Subjekts am Algorithmus des Spiels – der kontinuier- liche Versuch, die Algorithmen des Spiels zu verstehen und diese richtig zu ›be- dienen‹, um das Spiel zu gewinnen.¯26 »Learning and winning (or, in the case of a non-competitive ›software toy‹, ›reaching one’s goals at‹) a computer game is a process of demystification: one succeeds by discovering how the software is put together. The player molds her or his strategy through trial-and-error expe- rimentation to see ›what works‹ – which actions are rewarded and which are punished« (Fried- mann 1999, 3f.). So wird ein Spiel wie Civilization zu einer perfekten Allegorie nicht nur der In- formationsgesellschaft im Allgemeinen, sondern der Kontrollgesellschaft im Speziellen Darüber hinaus wird daran deutlich, dass Steuerung und Führung im Zusam- menhang mit dem Strategiespiel nie nur die Manipulation von digital vorent- worfenen Objekten in Repräsentationsformen meinen kann. Gerade die Steu- erung und Konfiguration von Zahlenwerten, Effektivitäten und ökonomisch veranschlagten Funktionen verweist darauf, dass – ganz im Sinne des ergo- dischen oder des kybernetischen Regelkreises – das Subjekt sich hier in eine Formation der Führung, Regierung oder Selbst-Regierung hineinbegibt. Die naheliegende Weise, eine Aufbausimulation zu spielen, ist also ein ›balancing‹ 42 Rolf F. Nohr und ›monitoring‹ von statistischen, ökonomischen und steuerungspolitischen Informationen. Der Spieler tendiert dazu, durch ›trial and error‹ die Grenz- werte der inneren Logik des Systems zu evaluieren und sich an diese Grenz- werte zu adaptieren. Dabei kommt es weniger darauf an, den ›richtigen‹ Stell- Wert zu treffen, sondern einen im Spiel inhärent vermuteten Kipppunkt oder einen ›one best way‹. Das Subjekt tastet sich an einen Kanon von Toleranz- werten heran und internalisiert diese Werte als dem Spiel zugehörig (vgl. Nohr 2008b, 91f). Politik und Ökonomie des Strategiespiels Ein so gewendeter Begriff der Steuerung ist maßgeblich für die dem Strategie- spiel innewohnende Tendenz zur »Universalisierung des Strategischen« (vgl. Wiemer / Nohr 2008, 11), ihre Popularisierung und Entgrenzung (vgl. Abb. 2) verantwortlich. Mit den Konzepten des Konfigurationskritischen, des Steue- rungsparadigmas oder der spezifischen Situation der kybernetischen ›Hand- lungs-Verschaltung‹ etabliert (und integriert) das Strategiespiel eine diskursi- ve Formationen von Wissen, die in keinem Sinne mehr ›nur‹ spielinhärent ist. Diese Koppelung eines Begriffs von Strategie (als einem gesellschaftlichen Ra- tionalitätstypus) mit der spezifischen Formation des Spielerischen entsteht aus einer Konstellation, die für moderne Gesellschaftstypen als prägend gel- ten muss. Die ökonomische Spieltheorie, wie sie von John von Neumann und Oskar Morgenstern (2007 [1944]) etabliert wurde, liefert ein Verständnis bzw. eine habhafte Zugriffsform auf diese Rationalität. Die mathematische Spieltheorie begreift sich – wie oben schon angedeutet – als eine Form der Handlungssteuerung. Strategien werden in zielorientierten, also auf ›Gewinnsituationen‹ abzielenden Handlungsfeldern aufgerufen, in denen das Subjekt im Rahmen diskursiver Parameter versucht, sich mit vor- gegebenen oder selbstgesetzten Zielwertdefinitionen gegen sich oder andere in einen Wettbewerb zu versetzen (vgl. Nohr 2008b, 71ff.). Unter einer Strate- gie versteht man in der mathematischen Spieltheorie einen vollständigen Plan darüber, wie sich der Spieler in jeder denkbaren Spielsituation verhalten wird. Durch die Strategie wird das Spielverhalten eines Spielers vollständig beschrie- ben. Die Konfiguration eines ökonomischen oder (im Sinne Foucaults) neoli- beralen Subjektbegriffs im Spiel ist eng mit dem operationalen Charakter der Spieltheorie verbunden. So wie der Neoliberalismus das vernünftige, weil nach ökonomischen Abwägungen handelnde Subjekt konzeptualisiert, so konzeptu- alisiert die Spieltheorie ein Subjekt, das in ebensolchem Sinne ›handlungsrati- onal‹ veranschlagt ist. Regeln, Entscheidungsmöglichkeiten und Handlungsal- ternativen werden rational abgewogen, strategische Entscheidungen auf der Die Anrufung des strategischen Subjekts 43 Basis von Prognostik, Informationssammlung, -auswertung und der Adaption an ein ›Vernunftmodell‹ getroffen. Von Neumann und Morgenstern gehen da- von aus, dass Spieler und Mitspieler vollkommen rational – das heißt gewinno- rientiert – und in Bezug auf bedingungslose Maximierung des eigenen Vorteils handeln (vgl. Mérö 2007, 36ff.). Darin enthalten ist ein Menschenbild des homo oeconomicus, der durch eine Zweckrationalität im Sinne neoliberaler Optimie- rung angetrieben ist (vgl. Nohr / Wiemer 2008,14). Steuerung ist hier nicht mehr nur eine Frage der Regierung von Objekten, sondern auch der Operatio- nalisierung eine spezifischen Wissensformation einer kalkulatorischen Ratio- nalität: »Neben der Simulation von Herrschaftsinfrastruktur sind alle Government-Games weitgehend eingebettet in quantitative Wissenschaftsdiskurse. Es ist die in den 50er und 60er Jahren ent- wickelte Rational Choice Theory, welche die Grundlage sämtlicher Globalstrategiespiele der di- gitalen Ära bildet. Vor diesem theoretischen Hintergrund wurden zahlreiche spieltheoretische Strategiemodelle wie das […] ›Zwei-Personen-Nicht-Nullsummen-Spiel‹ (später bekannt unter dem Titel Prisoner’s Dilemma, […]) entwickelt« (Reichert 2008, 204f). Zwar ist das Nicht-Nullsummen-Spiel in Bezug auf das Strategiespiel eine Aus- nahme – der Gewinn einer Partei ist hier zumeist der Verlust der anderen Par- tei –, ebenso wie die idealisierten Annahmen der mathematischen Spieltheo- rie in ihrem Übertrag in eine gesamtgesellschaftliche Rationalität schnell an ihre Grenzen stoßen. Der innewohnende Wunsch der Spieltheorie bzw. derje- nigen Instanzen und Personen, die in ihr die Möglichkeit zum operativen und funktionalen Überformen der Gesellschaft hin zu rational und neoliberal ver- fassten Subjekten zu erkennen meinten (siehe Abb. 5), scheitert daran, dass in den seltensten Situationen dem spielenden Subjekt (oder dem Subjekt im frei- en Markt) alle zur Berechnung notwendigen Parameter zur Verfügung stehen. Dennoch ist die mathematische Spieltheorie (und ebenso das Strategiespiel) ein wesentliches Instrument zur Zirkulation einer spezifischen Denkungswei- se, die beständig auf die Möglichkeit der rationalen Beherrschbarkeit von Kon- tingenz und der Erarbeitung zielführender Lösungsmöglichkeiten als optima- ler Handlungsdirektive beharrt. Die ökonomische Hauptprämisse des Strategiespiels (wie der Spieltheorie) be- steht zu allererst darin, nicht zu verlieren. Diese ›Meta-Regel‹ des Spiels ist gleichzeitig aber konstituierend für das Verständnis aktueller Strategiespiele: die Unterwerfung des Gegners, die Eroberung des feindlichen Raums oder die Etablierung funktionaler Produktionsketten, die dem Spielenden als eigent- liche Gewinnbedingung aufscheinen, sind nur dann zu erreichen, solange das Spiels selbst in Gang bleibt. Insofern ist die vorgelagerte Gewinnbedingung, 44 Rolf F. Nohr sich den Meta-Regeln des Spieles selbst anzu- passen und diejenigen Bedingungen zu erken- nen und zu erfüllen, die substantiell zum Fort- gang des Spiels gestellt sind. So wird hier noch einmal (in ganz anderer Wendung) das bereits oben genannte Genre-Charakteristikum Wolfs (2001) entscheidend, der Strategiespiele grund- sätzlich dadurch charakterisiert sieht, mit limi- tierten Ressourcen umzugehen. Nur der Erwerb einer Minimalmenge von Ressourcen oder der nachhaltige Umgang mit monetären oder natu- ralen Budgets erlaubt dem Spieler, ›auf Dauer‹ zu spielen (vgl. exemplarisch SimCity). Das öko- nomische und spieltheoretische Paradigma des Strategiespiels und der Aufbausimulation ist die Etablierung und Internalisierung einer Hand- lungs-Vernunft in Bezug auf Kosten-Nutzen-Ab- wägungen, Ressourcenmanagement und plan- voller Verwaltung. Ein Strategiespiel zu spielen Abb. 5. Populäre Publikation der RAND-Cor- heißt in letzter Konsequenz, in einen Modus der poration zur Spieltheorie von 1954 ›vernünftigen Selbst-Regierung‹ einzutreten, die als Voraussetzung vonnöten ist, um als ›Be- lohnung‹ das Spiel selbst in Vollzug zu halten. Solchermaßen verfasste Handlungsmodalitäten des ›Planvollen‹ und ›Ver- nünftigen‹ können aber unschwer als ökonomische, diskursive und letztend- lich neoliberale Setzungen erkannt werden. Die dem Spielenden hier aufer- legte Handlungsformation ist die des ›nachhaltigen Wirtschaftens‹,¯27 also einem Bewusstsein darüber, dass die eigene Handlungsfähigkeit sich nur über einen beständigen Abgleich mit den zum Handeln notwendigen Ressourcen und deren Regeneration sicherstellen lässt. Was also augenscheinlich wie eine dem Paradigma des Raubbaus aufsitzende Ökonomie anmutet (›Ich baue alles Holz ab, das mir zur Verfügung steht und erobere bei Holzmangel feindliches Territorium um zu weiteren Ressourcen zu kommen‹) entlarvt sich bei nähe- rer Betrachtung als eine Strategie der Nachhaltigkeit (›Wenn ich alle mir zur Verfügung stehenden Ressourcen ohne Blick auf das Spielziel investiere, en- det das Spiel‹). Eine solche Perspektivierung lässt erkennbar werden, auf welche Art und Weise ein Strategiespiel als Kulturtechnik begriffen werden kann. Es ist nicht das in der Spielhandlung oder Spiel-Narration verhandelte Prinzip, sondern vielmehr Die Anrufung des strategischen Subjekts 45 der dem Spiel vorgelagerte Modus der Adaption an einen Rationalitäts- oder Vernunfttypus, der das Spiel an gesamtkulturelle Diskursmuster anschließt. Mit einer so gewendeten Perspektive auf das Ökonomische als einem steue- rungspolitischen Konzept scheint aber auch das Paradigma des Politischen im Spiel auf – ein Diskurs von Regierung als Steuerung und Führung. Denn offen- sichtlich ist die Idee des Regierens hier auch wieder nicht ›nur‹ auf der Ebene des Narrativen in das Strategiespiel implementiert (nicht zuletzt als ›Erbe‹ der Kriegsbrettspiele, Plansimulationen und CoSims), sondern auch im Sinne der ›Regierung des Spielsubjekts‹. Vordergründig schreiben sich in viele Aufbau- und Strategiespiele bereits auf der narrativen Ebene Formen der Regierung und der Anwendung von Regie- rungswissen ein. Spielserien wie Age of Empires, Civilization oder Rise of na- tions verlangen vom Spielenden die Anwendung von spezifischen, politischen Steuerungs-Rationalitäten und sozial-statistischen Diskursen, um die erfor- derlichen Konfigurationen des Spiels und die Abarbeitung der gestellten Auf- gaben ›regelgerecht‹ durchführen zu können. Dabei greifen sie augenschein- lich auf spezifisches Wissen über Regierung zurück, das in der Gegenwart des Spielenden verortet ist und sich damit in einem beständigen Spannungsfeld zu den Regierungsformen der in den Spielen repräsentierten historischen (oder fiktiven) Gesellschaftsformen befindet. Zudem überformt sich die Anwendung dieses Regierungs-Wissens durch den spezifischen ästhetischen oder reprä- sentationalen Charakter des Interface-Designs: Regierungs-Wissen und Regie- rungs-Handeln werden durch Strategiespiele konsequent in topographische Handlungen¯28 oder in die Manipulationen materieller Objekte bzw. dem In- terface-Design geschuldete Formen (Menüs etc. ) überführt. »Die Bedienoberflächen des Screen- und Interfacedesigns operieren [bei Civilization - RFN] be- reits im Jahr 4000 vor Christus mit neoliberalen Steuerungsmodellen und sozialstatistischen Wissenssimulationen. Das Regierungswissen der Gegenwart und die mit ihm eng verknüpften Visualisierungen des Wissens schreiben sich über Jahrtausende hinweg. Demzufolge wird die Geschichte der Zivilisationen von Civilization vereinheitlicht und einem durchgehenden Regime des Wissens unterstellt. So wird das Regierungswissen und das visuelle Manual zum eigent- lichen Subjekt der Geschichte und zum konstruktiven Element der Verfertigung von Geschich- te« (Reichert 2008, 201). Natürlich ist die Funktion der Regierung in einem solchen Zusammenhang nur eine Suggestion. Der Eingriff des Spielenden in die historischen und politischen Setzungen des Spiels bzw. der Spiel-Narration beschränkt sich im Wesentlichen darauf, eine durch das Spiel prädeterminierte Entwicklungslinie (mit gerin- ger Variationsbreite) zu durchlaufen. Regieren meint in einem Strategiespiel 46 Rolf F. Nohr zumeist, einen tec-tree abzuarbeiten und diese Abarbeitung mittels des Res- sourcenmanagements überhaupt erst möglich zu machen. Die Illusion der Re- gierung entsteht hierbei nicht durch eine faktische Führung oder Verwaltung eines komplexen sozialen oder infrastrukturell ausgestalteten Systems, son- dern lediglich durch die Behauptung einer Selbst-Wirksamkeit durch den konfi- gurierenden Eingriff. Gerade aber die geringe Handlungs-Breite und eigentlich eingeschränkte Selbst-Wirksamkeit werden durch die quantitativ breit ausge- falteten und funktional wirksamen Behauptungen der Regierungs-Effektivität des Spielenden unterlaufen. So stiftet die permanente, narrative Behauptung des Strategiespiels, das Regierung ein essenzieller Modus des Spielgeschehens sei, das Gefühl beim Spielenden, dass er selbst nicht ›objektkonfigurativ‹ son- dern ›regierend‹ im Spiel handelt. In diesem Sinne kann es also nicht darum gehen, in einer Analyse einer Auf- bausimulation wie Civilization oder SimCity die Konzeption des Regierens programmatisch daraufhin zu ref lektieren, ob in den Narrationen und Hand- lungs-Konfigurationen des Spiels spezifische (›linke‹ oder ›rechte‹) konkrete ökonomische Ideologien oder policies verborgen sind. Das Konzept der Regie- rung verweist sehr viel mehr auf die Frage, mit welcher Qualität der Spielende in den Konfigurationsraum des Spiels eingreifen kann, bzw. ob dieses Eingrei- fen überhaupt in einem interdependenten Raum eines Spiels mit komplexen Regeln stattfindet – oder ob nicht vielmehr von einem ›dichotomen‹ Gegen- über auszugehen ist, dem sich der Spielende einer Simulation gegenübersieht. Ian Bogost (2008, 106-109) bringt in diesem Zusammenhang (in Anlehnung an Jacques Derrida und Sherry Turkle) den Begriff des »simulation fever« zum Tra- gen: als eine spezifische ›Lust‹ an der Ankoppelung an eine spezifische (materi- alistische und reduktive) Rationalität, in der eine Simulation, die in weiten Tei- len unabhängig von den konfigurativen Einflussmöglichkeiten des Operateurs abläuft, mit einem Spiel (als ›idealem‹, konfigurativen Raum) ›verwechselt‹ wird. Durch den spezifischen Reduktionismus der Rationalität einer solchen Simulation ist für Bogost SimCity lediglich eine Variante der Simulationssoft- ware Game of Life (ebd., 96f). Dass die geringe Handlungsmächtigkeit des Spielenden in einer solcherma- ßen gewendeten Simulation aber dennoch mit dem Modus des Regierens – als einem konfigurativen, aushandelnden und funktionalen Handeln – verwech- selt wird, lässt sich durch die Komplexität und quantitative Häufung der inner- halb der ›Spiele‹ auftauchenden tasks & skills erklären (vgl. Friedman 1996). Die Menge der durch die Spiel-Environments herbeigeführten entscheidungskri- tischen Situationen, abzuarbeitenden Aufgaben und aufzuwendenden Multi- tasking-Fähigkeiten suggeriert ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit. In Kopp- Die Anrufung des strategischen Subjekts 47 lung mit der narrativen Rahmung des Spiels (»Regen Sie sich nicht länger über die Unzulänglichkeiten führender Politiker auf [...] sondern nehmen Sie jetzt die Zügel in die Hand und entwickeln Sie eine Zivilisation [...] .«¯29) trägt dies zur Überformung des Simulationsraums, zu einer angenommenen Wirklich- keit des effektiven Regierens bei – oder läuft zumindest auf eine Wahrneh- mung zu, dass Regieren letztlich nichts anderes ist als Arbeiten: das massive Abarbeiten von tasks.¯30 Durch den Rückgriff auf hegemoniale Ordnungsvorstellungen von politischer Macht und tradierte Modelle der Geschichtsschreibung (beispielsweise durch die häufige Darstellung konventioneller Muster der Machtrepräsentation durch Personen, Institutionen oder Ideologeme) etablieren Strategiespiele (erstens) die Behauptung, dass die von ihnen zumeist vertretenen »mecha- nistischen Steuerungsmodelle polizeilich-administrativer Kontrolle und Ver- waltung« als überhistorisches Modell der Regierung und der Politik per se zu gelten haben (Reichert 2008, 189ff.), und (zweitens) dass die reine, vom Spiel vorentworfene Teilhabe an einer meistenteils automatischen Entfaltung eines solchermaßen entworfenen Politischen mit dem Modus des Regieren gleich- zusetzen sei. Die Behauptung der Handlungsmächtigkeit des Spielers, die sich zunächst durch Raum- und Objektbeherrschung einstellt, verlängert sich also in die Be- hauptung einer Handlungsmächtigkeit in einem abstrakten Wissenssystem: dem der Regierung. Ramón Reichert jedoch kann zeigen, dass das eigentlich zugrunde liegende Regierungs-Modell eines typischen Strategiespiels weniger das eines rationalen und durch politische oder ethische Episteme fokussier- te spezifische Handeln des Spielers ist, sondern vielmehr ein Sich-unterwer- fen unter ein transzendentales oder gar göttliches Prinzip teleologischer Steu- erung: »Für die User/innen soll der Schöpfungsplan der zivilisatorischen Entwicklung […] rätselhaft und letztlich unerforschlich bleiben. Damit tradiert der Game Designer metaphysische Narra- tive der unerforschlichen Vorsehung (providentia Dei) theistischer Macht, die für die gewöhn- lichen User/innen uneinsehbar bleiben sollen. Im Rahmen dieses spekulativen God Game sind erfolgreiche Spiele-Aktionen jedoch immer das Resultat bestimmter Spiele-Entscheidungen, die konstitutiv auf eurozentrische Werte bezogen bleiben und sich für Demokratie und Kapita- lismus ›immer schon‹ entschieden haben« (Reichert 2008, 194). Natürlich liegt es nahe, die so konstatierte ›theistische Macht‹ bzw. das Prin- zip des Teleologischen hier nicht nur als eine Art innernarratives oder innerdie- getisches Prinzip zu verstehen, sondern auch (und vor allem) als ein ›Prinzip 48 Rolf F. Nohr des Computers‹. Das Regierungs-Modell, das hier als zugrunde liegend gelten muss, ist das des Algorithmus und der Protokolle (vgl. Galloway 2006b). Interpellation des strategischen Subjekts Der Spielende konfiguriert nicht die Objekte des Spiels, ebenso wenig steuert er das Spielgeschehen oder übt Regierungsmacht aus. In einer zugespitzten Betrachtungsweise des Strategiespiels liegt eine Perspektive nahe, dass es das Spiel selbst (oder vielmehr das Dispositiv des Computers, auf dem das Spiel aufsetzt) ist, welches das Subjekt ›konfiguriert‹, ›steuert‹ und ›regiert‹. So- mit liegt es ebenso nahe, die Beziehung von Spielendem und Spiel nicht mehr länger als eine zu beschreiben, in der der Spieler durch ein ›Konkret-Ideolo- gisches‹ beeinflusst, verändert oder didaktisiert wird. In Konsequenz können wir davon ausgehen, dass das spielende Subjekt durch den ideologischen, dis- kursiven und hegemonialen Rahmen des Strategiespiels überhaupt erst ›er- zeugt‹ wird. Strategiespiele interpellieren Subjekte. So beschreibt beispiels- weise McAllister (2004) in seiner detaillierten Auseinandersetzung mit Black & White, wie der Spieler durch das Spiel in permanenten Durchläufen in ein Diskursfeld der ›Selbstdefinition‹ geführt wird: »The economy of Black & White is like any other economy. You give and you get – it just makes sense. Because Black & White is a game, with all the standard interfaces of electronic games, players can save their work prior to different exercises and, if they don’t like the consequences, return to the pre-exercise state and try a different approach. In this way Black & White may be described as an ideological heuristic, enabling players to test out different rhetorics in order to find a path to a particular end. For some, the end may be simply to complete the game. For others, the end may be, as the advertising for the game proposes, to ›discover who you really are‹. In either case – or in any number of other possible cases – Black & White works ideological- ly through its imposition of economic forces such that agent/players must submit to the rules of the system in order to exercise the power imputed to them by agents/developers for the pur- pose of having ›fun‹« (ebd., 165f). Diese Erzeugung des Spielers begrenzt sich aber nicht nur auf die Frage, ›wer er ist‹, sondern insgesamt auf seine Konstitution durch das Spiel. Die Behauptung der Interpellation kann ebenso durch eine andere argumen- tative Herangehensweise sinnvoll untermauert werden. Entgegen der verbrei- teten – nicht nur durch die Wissenschaft, sondern auch durch das Marketing und die Industrie vertretenen – Position, dass Computerspiele durch ihre Inter- aktivität ein in hohem Maße aktiv handelndes und permanent beschäftigtes Die Anrufung des strategischen Subjekts 49 Subjekt produzieren, kann ebenso konstatiert werden, dass Computerspiele als eine Antwort auf Langeweile verstanden werden können (vgl. bspw. Garite 2003; Wark 2007, 151-175).¯31 In einer strikt kulturkritischen oder kulturindustriellen Perspektive können Computerspiele sicherlich einfach als Technologien eines militärisch-indus- triellen oder militärisch-unterhaltenden Komplexes verstanden werden (Hal- ter 2006). Computerspieler sind in einer solchen Betrachtungsweise Subjekte eines hegemonial organisierten System der Verlängerung ihrer produktiven Arbeitszeit in die (Suggestion ihrer) Freizeit, die sich langweilen. ›Langweilen‹ in dem Sinne, als durch die Zurverfügungstellung von Aufgaben mit klarem Ziel und eindimensionalen Lösungswegen disponibel Zeit an ein vollständig kon- trolliertes und jederzeit kontrollierbares System symbolischen Handelns ge- koppelt wird. Eine solche Perspektive zielt erkennbar darauf ab, Langeweile nicht mehr länger als ein Desiderat freier, d.h. unproduktive Zeit zu betrach- ten, sondern Langeweile als einen Zustand des Subjekts zu betrachten, das in einer omnipräsent aufgespannten Ordnungsfunktion von Arbeit, Produk- tivität und ideologischer Durchdringung eingespannt ist. Bereits Marx hat in seinen Grundrissen der politischen Ökonomie darauf hingewiesen, dass eine Trennung von Arbeitszeit und Freizeit ein ideologisches Konstrukt ist. Marx dif- ferenziert demgegenüber in eine ›notwendige Arbeitszeit‹ und in eine ›über- f lüssige, disponible Arbeitszeit‹: »Das Verhältnis der notwendigen Arbeitszeit zur überflüssigen (so zunächst ist sie vom Stand- punkt der notwenigen Arbeit aus) ändert sich auf den verschiednen Stufen aufgrund der Ent- wicklung der Produktivkräfte. Auf den produktiveren Stufen des Austauschs tauschen die Men- schen nichts aus als ihre überflüssige Arbeitszeit; sie ist das Maß des Austauschs, der sich daher auch nur auf überflüssige Produkte erstreckt. In der auf dem Kapital beruhenden Produktion ist die Existenz der notwendigen Arbeitszeit bedingt durch Schaffen überflüssiger Arbeitszeit« (Grundrisse der politischen Ökonomie: 305; zit. n. Mandel 1968, 101). Die Konsequenz dieser Marxschen Perspektive ist es nun weniger, darauf hin- zuweisen, dass unsere Freizeit im Wesentlichen nur im direkten Konnex mit unserer Arbeitszeit verstanden werden kann und durch den Modus der Arbeit grundsätzlich hegemonial geformt, gerahmt und durchdrungen wird. Viel- mehr geht es Marx darum zu zeigen, dass die überflüssige Arbeitszeit für ka- pitalistische Produktionsverhältnisse die gewinnbringendere Arbeitszeit ist. Die Logik kapitalistischer Produktion bedingt es, die notwendige Arbeitszeit zur Herstellung eines Produktes immer weiter zu senken, um die Gewinnmar- ge zu steigern und andererseits die Ressourcen der überflüssigen Arbeitszeit dahingehend zu nutzen, Produktivität in diese überflüssige Arbeitszeit zu ver- 50 Rolf F. Nohr lagern. Mag eine solche Analyse in Bezug auf industrielle, materielle und kör- perliche Arbeit zunächst noch nur wenig nachvollziehbar sein, so entfaltet das Marxsche Argument jedoch seine volle Tragfähigkeit, wenn wir beobachten, wie sich Arbeit ins Immaterielle verlagert und Arbeit vor allem als Handeln an symbolischen Gütern charakterisiert ist. Erweitern wir den Begriff der Arbeit zudem noch vom rein Produzierenden, Herstellenden hin zu erweiterten Form des Arbeitens wie Lernen, Wissenserwerb, der Fortbildung und Selbst-Effekti- vierung (empowerment) und Praktiken der Selbst-Führung (Mediation) wird endgültig klar, dass die überflüssige Arbeitszeit (die wir so beharrlich ›Freizeit‹ nennen) zu einem wesentlichen Produktionssektor moderner Dienstleistungs- Gesellschaften geworden ist. Langeweile ist – dem folgend – dann ein dissidentes Konzept: ein sich lang- weilendes Subjekt entzieht sich dem Aufforderungscharakter der Produktivi- tät in seiner überflüssigen Arbeitszeit. Die hegemoniale Überformung aller Lebensbereiche führt (und verführt) das Subjekt dazu, die Langeweile nega- tiv zu konnotieren und die Langeweile durch die Herausforderung ›selbst- definierter‹ Aufgaben und Herausforderungen zu suspendieren. Das Com- puterspiel scheint daher wie gemacht dafür, Langeweile in Produktivität zu überformen. Aus dieser (marxistischen) Perspektive ist das Computerspiel in- sofern nicht nur deswegen ideologiekritisch zu betrachten, weil es das Werk- zeug der Arbeit (den Computer) direkt in die überflüssige Arbeitszeit über- führt. Das Computerspiel ist auch deswegen ideologiekritisch zu betrachten, weil es noch viel stärker auf funktionaler Ebene in die Bereiche der überflüs- sigen Arbeitszeit vorstößt: »In other words, the trend today should be not to- ward the further development of a labor theory of value, but the formulation of a play theory of value« (Galloway 2006a, 6).¯32 Eine solche Perspektive unterschlägt natürlich jedwede Form subjektiven oder aneignenden Handelns, und suspendiert die dissidenten Freiräume, die jedes Computerspiel zur Verfügung stellt. Gleichwohl ist der Hinweis auf die institu- tionalisierte, technisch reglementierte Langeweile eine interessante Perspek- tive, wenn wir sie eher offen als eine Art von Subjekttechnologie begreifen. Wir können in diesem Zusammenhang sinnvoller (und dabei einem wesentlichen Argument von Garite (2002) folgend¯33) mit dem Begriff der Interpellation ar- gumentieren, also dem von Louis Althusser (1977) beschriebenen Effekt, in dem Individuen durch eine Anrufung im Moment der Akzeptanz der Anrufung zu einem Subjekt der anrufenden Instanz werden. Ideologien besitzen für Althusser eine materielle Existenz, die das Subjekt und seine Gesellschaft durchdringen und formen. Ideologie ist kein imaginäres Konzept, das wie eine Folie über der Welt liegt, sondern regelt konkret die Exi- Die Anrufung des strategischen Subjekts 51 stenzbedingungen der Subjekte (ebd.135). Das Subjekt kann nicht jenseits der Ideologie existieren – die Aufgabe der Ideologie ist es »konkrete Individuen zu Subjekten zu ›konstituieren‹« (ebd. 140). Diese Konstitution des Subjektes vollzieht sich permanent und wiederholt durch unterschiedliche Anrufungen – den Interpellationen – durch die Instanzen der Ideologie (die so genannten institutionellen Staatsapparate (ISA)). Die angerufenen Individuen werden durch die Interpellation zu Subjekten des Ideologischen transformiert. Im Rah- men der Althusserschen Betrachtungsweise sind die konkreten Individuen nur noch ideale Größen. Individuen existieren nur in Form von kontinuierlich an- gerufenen und interpellierten ideologischen Subjekten, die sich in einem per- manenten Prozess der »An- und Wiedererkennungsrituale« (ebd. 141) des Ide- ologischen befinden. In einem solchen Verständnis können wir nun auch Computerspiele (bzw. hier vor allem Strategiespiele) als solche anrufenden Instanzen verstehen. Der Alt- hussersche, ›He, Sie da!‹ rufende Polizist, wird hier ersetzt durch die stille Lo- ckung eines nicht abgeschlossenen Levels, eines Fortsetzungstitels, einer prä- ferierten Spieleserie oder schlicht durch das Desktop-Icon eines installierten Spiels. Spiele interpellieren ihre (durchaus ›interpellationswilligen‹) Spieler zu spielenden Subjekten – mit allen Konsequenzen, die dieser spezifische Begriff des Spielens am Computer hier hat. Die forcierte ›Einladung‹ der Interpellation ist im ›harmlosesten‹ Sinn als ide- ologisch zu betrachten, in dem sie den Spieler dazu anhält, sich mit immer neuen Variationen bekannter Handlungsmuster auseinanderzusetzen und in steter Wiederholung die immer gleiche Aufgaben zu erfüllen (vgl. auch Rug- gill/McAllister 2011, 36ff.). Der Begriff des Genres, der Genrestabilität oder -va- riation, aber auch das Moment der Anschlusserwartung¯34 sind Signifikanten dafür, dass im Computerspiel der Spieler in ein Anrufungssystem eingebunden wird, welches ihn in ein Handlungsgefüge überführt, in dem er lustvoll und re- petitiv die immer gleichen Aufgaben abarbeitet – motiviert von einem Beloh- nungssystem, das nichts anderes als symbolische Güter und abstraktes soziales Kapital vorrätig hält. »The medium also requires players to train in and then successfully implement an overwhel- ming range of skills: artistic, technical, organizational, financial, legal, and motivational. For these and countless other reasons, computer games depend on insistent mechanisms to force gamers to lose sight on the fact that the medium with which they are engaged is really not worth their time or trouble« (ebd., 39) . Deutlicher als in einer solchen ›skill‹-Interpellation des Spiels wird die Anru- fung und Produktion eines ›Spiel-Subjekts‹ als formales und strukturelles Mo- 52 Rolf F. Nohr Abb. 6 Aufgaben-Interface von Age of Empires III (2005) ment: »While video games are undoubtedly an extension of what Althusser re- fers to as ›the cultural ISA‹, they nevertheless also tend to reinforce the work of educational or pedagogical institutions, since – like all ISAs – their primary function is the reproduction of the dominant ideology« (Garite 2003, 8). Gerade Strategiespiele und Aufbausimulationen sind durchdrungen von ei- ner ganzen Reihe an Anrufungen, die den Spieler permanent an zu erfüllende Aufgaben und Arbeit erinnern. Buttons laden dazu ein, die Missionsziele noch einmal nachzulesen, Kontext-Menüs erinnern an die Möglichkeiten und Fer- tigkeiten von Einheiten und Gebäuden, top-down-Menüs laden durch visuell präsente Weiterentwicklungsmöglichkeiten dazu ein, Arbeit und Zeit zu inve- stieren, diese Weiterentwicklung auch faktisch durchzuführen etc. Jedes Level ist in seiner Dramaturgie eine Aufforderung, die gestellte(n) Aufgabe(n) kon- sequent und effektiv zu erfüllen. Jedes neue Spiel des Genres scheint die Men- ge dieser zu treffenden Entscheidungen, der abzuarbeitenden Aufgaben (und der dabei zu verarbeitenden Informationen) zu erhöhen (vgl. Lischka 2003). Die Anrufung des strategischen Subjekts 53 Wenn Matt Garite (2003) in einem solchen Zu- sammenhang den Effekt der Interpellation als »targeting« beschreibt, dann verschiebt er mit dieser Wortwahl den ideologiekritischen Aspekt der Anrufungstheorie aus der abstrakten Sub- jektpolitik in die konkrete Produktion von ar- beitenden, vor allem aber durch Marketing und Zielgruppenerwartungen konstituierten Sub- jekten – und trifft damit den Punkt. Die Spiel- systematik überformt das vorgeblich zweckfreie Spiel mit einer endlosen Kette von zu erfül- Abb. 7: Profanisierte Flow-Darstellung aus lenden Aufgaben, Handlungsabfolgen und Ent- einer Broschüre der Bundeszentrale wicklungszielen (vgl. Ruggill/McAllister 2011, für politsche Bildung (2014) 41) zu einem Aufforderungsraum, in dem das zunächst ›auf Langweile reagierende Subjekt‹ zu einem arbeitenden Subjekt interpelliert wird. Die omnipräsente Didaktik des Spiels erinnert beständig daran, was noch zu tun ist. In den seltenen Mo- menten, in denen in Strategiespielen Level explizit zeitkritisch sind (der Erfül- lungsdruck also nicht nur durch den Gegenspieler oder die effektiv agierende Computer-KI generiert wird, sondern durch eine omnipräsent sichtbare, ablau- fende Uhr oder einen herunter tickenden Counter), werden die Spiele aus einer solchen Perspektive zu Fließbändern – der ›Arbeitsrhythmus‹ (vgl. Nohr 2008b, 104-129) überformt den Spieler zu einem akkordarbeitenden Task-Konfigura- tor.¯35 Das Spiel interpelliert den Spieler mit dem Versprechen, dass das Spie- len ihn entspannt, unterhält oder gar emotional affektiert. Die Lust am Spiel entsteht hier aber nicht durch die Befriedigung der gelösten Aufgabe (denn das nächste Level hält neue Aufgaben bereit), sondern durch die Tätigkeit an sich. Zu Spielen heißt beschäftigt sein. Beschäftigt zu sein heißt produktiv zu sein, sich nicht zu langweilen. In diesem Sinne ist auch die (in den game studies omnipräsente) f low-Theo- rie¯36 Mihaly Csikszentmihalyis noch einmal kritisch neu zu bewerten: in den meisten Adaptionen dieser Theorie wird der f low-Zustand als eine Art Ideal- Zustand charakterisiert, als ein Zustand der Selbstvergessenheit zwischen Un- ter- und Überforderung, der den Spielenden in einen Modus zeitvergessenen, permanent befriedigenden Handelns versetzt. Dieser f low-Zustand (der in mancher theoretischen oder operativen Konzeptualisierung fast schon dem Heilsversprechen der Trance gleichgesetzt wird) scheint ein Idealzustand zu sein, eine Verheißung des ›entrationalisierten Seins‹, eine ›Erlösung‹ von den großen Bedrohungen des Büroalltags: einsetzende Langeweile durch Unterfor- 54 Rolf F. Nohr derung im Job einerseits und andererseits die (gesundheitsschädliche) Über- forderung durch Kompetenzmangel.¯37 Das formulierte f low-Konzept, das in seiner ›trivialisierten‹ Lesweise nichts anderes meint, als einen idealen erreichbaren Zustand der Aufgabenerfüllung zwischen Über- und Unterforderung (oder forcierter: anxiety und boredom), ist insofern schon fast als eigenständige diskursive Figur zu analysieren: wie- wohl durch Csikszentmihalyi selbst mehrfach variiert und weiterentwickelt taucht in den gängigen Analysen doch immer nur das immer gleiche Schema der aufsteigenden f low-Zonen-Kurve (s. Abb. 7) auf. Dieses, vollständige ›Tran- szendenz‹ im Spielhandeln verheißende Schema ist, durch die Augen der Inter- pellations-These betrachtet, eine diskursive Konstellation, die nichts anderes sagt, als das in der erfolgreichen Interpellation, also der permanenten Auf- gabenerfüllung im symbolischen Probehandeln, ein Modus der Zufriedenheit erreicht werden kann, der ziemlich genau einhergeht mit dem Glück in der Langeweile, dem ›interesselosen Wohlgefallen‹ an der Abarbeitung letztlich irrelevanter Aufgaben. Betrachten wir dieses ›Glück beschäftigt zu sein‹ aber durch die (Marxsche) Brille der symbolischen Arbeit in der überflüssigen Ar- beitszeit, dann erkennen wir, was der f low- Zustand auch sein kann: positiv konnotierte Langeweile, die eigentlich gar keine Langeweile mehr ist sondern Arbeit. Eine Arbeit, die sich aber wegen des Wohlgefühls der Erfahrung von pro- duktiver Aufgabenerfüllung bei gleichzeitiger Erfahrung von Selbstwirksam- keit und Zufriedenheit im Tun nicht wie Arbeit, sondern wie Entspannung an- fühlt. Der f low ist das Opium fürs (Gamer-) Volk. Natürlichkeit des Spiels In Ihrem Kern zielt die Interpellations-Theorie darauf, die hegemonialen oder repressiven Formen der Regierung und Machtausübung auf Subjekte dahin- gehend zu erklären, dass die Effektivität der Machtausübung sich naturali- siert, transparent wird, sich vor dem Subjekt ›verunsichtbart‹. Im Beispiel des Strategiespiels steht dieser spezifischen Regierungspolitik des Computers (im Sinne seiner Algorithmen und Protokolle) eine weitere Verunsichtbarungs- Technologie zur Seite: die Naturalisierung des Medialen an sich. Wie jedes Me- dium so tendiert auch der Computer (und das Computerspiel) zu Verunsicht- barung seiner Gemachtheit, also zur Transparent-Werdung des Arbiträren oder Technischen. Gerade an der speziellen Konstellation des Interfaces – als einem merkwürdigen ›Hybriden‹ zwischen inner- und extradiegetischer Steuerung – haben wir oben schon einmal kurz darüber spekuliert, inwieweit hier mit den Argumenten der französischen Apparatustheorie oder ähnlichem zu argu- mentieren wäre:¯38 Dass hier also das Arbiträre und Gemachte innerhalb des Die Anrufung des strategischen Subjekts 55 Interfaces sich naturalisiert, um zur Effektivität des Spiels am und im Com- puter beizutragen. Es würde sicherlich zu weit gehen, Strategiespiele – ganz im Sinne der Apparatusdebatte – als eine ›Art Fenster zur Welt‹ zu beschrei- ben. Die Unmittelbarkeits-Behauptung des Computerspiels referenziert zwar nichts Ontologisches, Vormediales oder irgendwie realistisch Verfasstes, des- sen Künstlichkeit und Hergestelltheit oder dessen ideologische Produziertheit (wie beispielsweise im Kino oder Fernsehen) mittels Transparenzeffekten ver- schleiert werden müsste. Dennoch, so könnte man zumindest die hier vorge- tragene Thesen subsumieren, arbeitet das Computerspiel (und das Strategie- spiel im Besonderen) wie jedes andere Medium auch daran, seine Medialität, seinen spezifischen symbolischen Status, vor allem aber das Spiel der ihm in- newohnenden diskursiven Formationen und Mäander zu naturalisieren (vgl. auch Nohr 2008b). Die der algorithmischen Kultur und dem Computer(-Spiel) innewohnende Na- turalisierungstendenz schließt nun den weit gespannten argumentativen Rah- men, den dieser Text durchlaufen hat. Es ging mir darum zu zeigen, dass Stra- tegiespiele als wirkmächtige Diskurspartikel verstanden werden müssen, die an einem durchdringenden und weit ausgreifenden diskursiven Mäander ei- ner strategischen Rationalität in unserer Gesellschaft mitwirken. Das Stra- tegische markiert eine spezifische Rationalitäts-Konstitution, die als Rege- lungs-Technologie, Steuerungsmechanismus und Handlungs-Konfiguration vor allem eins ist: eine Subjekttechnologie. Diese Subjekttechnologie erreicht ihre Wirkmächtigkeit durch ihren Interpellations-Charakter. Das anfangs ein- geführte Beispiel von ›Tanaland‹ ist nunmehr als ein Modellraum und nur noch vorgebliches symbolisches Probehandeln erkennbar – das Beispiel ist jedoch lange nicht so modellhaft oder konsequenzfrei , wie es suggeriert. Ähnlich wie zeitgenössische Strategiespiele, Aufbausimulationen, CoSims oder Table-Top- Spiele (aber eben auch wie Management-Ratgeber und Gamification-Ange- bote) arbeitet auch die Tanaland-Simulation an der Herstellung eines strate- gischen Subjekts. Der titelgebende »heldenhafte Stratege« ist ein Subjekt einer neoliberalen Ökonomie ebenso wie eines spezifischen Konzepts der Führung. Dank an Stefan Böhme, Tobias Conradi und Serjoscha Wiemer für Diskussion und Hinweise 56 Rolf F. Nohr Anmerkungen 01˘ Menü-Hinweis beim Erreichen des Awards »Heldenhafter Stratege« im Spiel grepoliS. 02˘ Ähnlich bspw. ecopolicy (2001, Frederic Vester / Westermann ), das new commonS game (1998, Ulrich Creative Simulations) oder FiShbanKS, lTD (2005, Dennis Meadows). 03˘ Zum Problem des modernen Handlungsbegriffs vgl. bspw. den Beitrag von Winkler/ Adelmann in diesem Band. 04˘ von griech. ›στρατηγός strategós‹: Feldherr / ›στρατηγεία‹: Feldherrentum, Feldherren- kunst (Rogers 2006). 05˘ »STRATEGIE, f., Kriegskunst, oberste Führung und Planung, im Unterschied zur Taktik. Im Deutschen zuerst i. j. 1813 gebraucht: Strategie die Kriegskunst« (Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 16 Bde. [in 32 Teilbänden]. Leipzig: S. Hirzel 1854- 1960); vgl. dazu auch Rogers 2006. 06˘ Sandkühler (2008) macht diese Diskussion exemplarisch an den Arbeiten von Dietrich Adam Heinrich von Bülow (1757-1807) – Lehrsätze des neuen Krieges (1805) – und hier- bei an dessen Auseinandersetzung mit dem Werk Carl von Clausewitz fest: »Schon die Unterscheidung von Strategie und Taktik [bei Bülow (RFN)] lässt erkennen, dass es sich um ein an Geometrie orientiertes Kriegsmodell handelt: ›Strategisch sind alle kriegerischen Bewegungen außerhalb dem Kanonenschusse, oder der Gesichtsweite des Feindes. Taktisch sind alle Bewegungen innerhalb dieser Grenzen. Strategie ist folglich die Wissenschaft krie- gerischer Bewegungen außerhalb der Gesichtsweite oder dem Kanonenschusse. So wie Taktik die Wissenschaft kriegerischer Bewegungen innerhalb dieser Grenzen ist‹ (Bülow 1805, 1). […] Ein solches Denken in starren Schemata, wenngleich diese auch der realen militä- rischen Praxis der Zeit entsprachen […], führte bei Clausewitz zu vehementem Widerspruch und so war auch eine seiner wenigen Veröffentlichungen zu Lebzeiten eine wenig gut mei- nende Rezension zu von Bülows Theorieentwurf der Lehrsätze […]. Besonderen Wert legt Clausewitz, wie gesagt, auf die Einbindung der Empirie, also die Erfahrung und das Wissen um tatsächliche Abläufe im Kriegsgeschehen. Entscheidend ist dabei für Clausewitz auch das Moment des Zufalls« (Sandkühler 2008, 74f). 07˘ »Die Strategie ist der Gebrauch des Gefechts zum Zweck des Krieges; [...] Da sich alle diese Dinge meistens nur nach Voraussetzungen bestimmen lassen, die nicht alle zutreffen, eine Menge anderer, mehr ins einzelne gehender Bestimmungen sich aber gar nicht vorher ge- ben lassen, so folgt von selbst, daß die Strategie mit ins Feld ziehen muß, um das Einzelne an Ort und Stelle anzuordnen [...] Die Taktik ist die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht, die Strategie die Lehre vom Gebrauch der Gefechte zum Zweck des Krieges« (Clausewitz 1993, 177ff.). 08˘ Das Konzept des ›one best way‹ verweist im scientific management und den Arbeitswissenschaften auf den idealen, effektivsten, ergonomischsten und gewinnbrin- gendesten Weg der Aufgabenlösung. Die Anrufung des strategischen Subjekts 57 09˘Vgl. dazu auch das Folgeprojekt »Kulturtechnik Unternehmensplanspiel. Wissenstransformation und Handlungssteuerung an der Schnittstelle von Wirtschaft, Computerisierung und Medialität« (kulturtechnik.biz) 10˘ Vgl. zur Problematik des Genrebegriffs bspw. Beil 2012; Raczkowski 2012; Wiemer 2008b, 216ff. 11˘ Da die computerbasierten Spiele per se auf Interaktion und einem spezifischen Temporalitätskonzept basieren, sind die rundenbasierten Spielkonzepte mit einem gewis- sen ›Kompatibilitätsproblem‹ behaftet. Die Spielenden agieren hier jeweils abwechselnd und aufeinander folgend: ein rundenbasiertes Computerspiel scheint hier den Computer nur als ›Visualisierungstechnik‹ zu gebrauchen und nicht als Teil des Spielprinzips. Insofern gibt es nur relativ wenige erfolgreiche zeitgenössische rundenbasierte, funkti- onale Computer-Strategiespiele (bspw. die baTTle iSle-Reihe aber auch die genrerelevante civilizaTion-Reihe). 12˘ Vgl. dazu den Beitrag von Nohr zur Geopolitik im Strategiespiel in diesem Band. 13˘ Eine solche Lesweise taucht nur beim ›theorycrafting‹ auf, einer Spielerpraxis, bei der die Spielenden die dem Spiel zugrundeliegenden Spielmechanismen und -algorithmen durch teilweise aufwendige Testverfahren und wiederholte Probedurchläufe selbst evaluieren (vgl. Wenz 2013). 14˘ »Die gebräuchlichen Computerspiel-Begriffe ›Action‹, ›Adventure‹ und ›Strategie‹ […] ste- hen nicht für Gattungen ein, sondern für ›Gegenstandsgruppen oder Äußerungsmengen‹ (Foucault), die anhand eigentümlicher Probleme ein je spezifisches Wissen in Form von Daten, Verfahren, Darstellungmodi usw. hervorbringen. […] Am einfachsten läßt sich nun die Dreiteilung durch die Stelle ihres Risikos beschreiben, durch das, was ihr Einsatz ist. Zeitkritisch ist die Interaktion im Gegenwärtigen von Actionspielen: Sie fordern Aufmerksamkeit bei der Herstellung zeitlich optimierter Selektionsketten aus einem Repertoire normierter Handlungen. Entscheidungskritisch ist die Navigation durch ein Zuhandenes in Adventurespielen: Sie fordern optimale Urteile beim Durchlaufen der Entscheidungsknoten eines Diagramms. Konfigurationskritisch ist die Organisation eines Möglichen in Strategiespielen: Sie fordern Geduld bei der optimalen Regulierung voneinan- der abhängiger Werte« (Pias 2007, 10f.). 15˘ Die spezielle Verbindung von Schach und Informatik arbeitet Pias (2007) heraus: »Daß sich Babbage, Zuse, Shannon, Turing oder Wiener mit dem Schachspiel beschäftigt haben, ist nicht Zufall oder nachträgliche ›Benutzung‹ des Computers zu Spielzwecken, sondern eine Hilfe, den Computer selbst erst zu denken« (ebd., 198). 16˘ ›Affordance‹ lässt sich nur ungenügend mit ›Aufforderungscharakter‹ übersetzen; ggf. wäre hier auch sinnvoll mit dem Begriff der ›Interpellation‹ zu argumentieren (s. unten). Zum ›affordance‹-Konzept im Rahmen der game studies vgl. auch ausführlich Neitzel 2012 17˘ Damit ist hier eben nicht auf das durch das Spiel deutlich formulierte optionale Zwischenmissionsziel abgehoben, sondern eher auf durch den Spieler ›selbst‹ gesteckte 58 Rolf F. Nohr Ziele: ›Kann ich dieses Level mit möglichst wenig Einheiten meistern?‹, ›Kann ich mei- ne Heimatstadt ästhetisch ansprechend gestalten?‹, ›Gelingt es mir das gegnerische Territorium in einer Zangenbewegung zu überrennen?‹. 18˘ Beispielsweise ist die Aufbausimulation SimciTy insofern als zyklisch zu betrachten, als ei- ner ersten kritischen Aufbauphase eine Stabilisierungsphase folgt, die im besten Sinne in eine Phase mündet, in der eine macht einen funktionale und ausdifferenzierte ›Maschine der Stadt‹ auf unendlich geschaltet wird. 19˘ Marie-Laure Ryan (2001), unterscheidet in den ›gelebten Raum‹ von der vom ›rationalen Raum‹ der Karte: der gelebte Raums ist gekennzeichnet durch eine dichte Beschreibung und dem Gefühl der Verwundbarkeit und Körperlichkeit. Der Raum der Karte hingegen ist ›ort- los‹ und durch relationale Beschreibung charakterisiert (vgl. Neitzel 2012, 100ff und den Beitrag Neitzels in diesem Band). 20˘ Ein Problem aus der Verwendung des Begriffs ›Oberfläche‹ erwächst insofern, als hier- mit natürlich der Begriff des ›Interface‹ aufscheint. Es erscheint zunächst sinnvoll, hie- runter lediglich die Ebene des Repräsentationalen zu erfassen, also die des Garphic User Interfaces (GUI). Allerdings muss für ein Verständnis der Schnittstelle zwischen Spielendem und ›Technologie‹ auch auf die Tatstatur, den Controler oder die Maus verweisen wer- den: auch die Maus ist in diesem Sinne bspw. eine ›Oberflächenfunktionalität‹, weil sie die Möglichkeit bietet auf Hardware-Ebene gegebene Parameter aktiv zu manipulieren. Das GUI ist insofern nur die dominant-symbolische Ebene des Feedbacks für die hard- wareseitig vorgenommenen Manipulationen, wohingegen die ›Controlling-Ebene‹ (Maus, Tastatur, Touchscreen, Controller usf.) eher dominant extra-diegetische Komponenten der Oberfläche wären. 21˘ Aus der Divergenz von Haupt-Karte und mini-map entwicklte Wiemer (2012, 86) eine grundsätzliche »spatial dichotomy«, die eine ganze Reihe von dichotomen Oppositionen im Strategiespiel erkennbar werden lässt. 22˘ Das große Problem jedes Computerspiels ist das Ausbleiben von Handlung, die in Konsequenz auf den Abbruch oder Zusammenbruch der Spielkohärenz zuläuft: Einheiten, die angegriffen werden, reagieren erst, wenn der Spielende eine Handlungsanweisung gibt. Ein dem Spielenden als inhärent ›logisches‹, ›realistisches‹ oder ›vernünftiges‹ er- scheinendes Verhalten der Spielobjekte jenseits seines Eingriffs und seiner Steuerung ist aber ohne Spielersteuerung nicht sinnvoll umsetzbar. Autonom agierende Spielobjekte, die eindeutig als konfigurativ und steuerbar markiert sind, können nicht ›plötzlich‹ selbstän- dig agieren, ohne dass eine Aufkündigung des ›Spielvertrags‹ geschieht. Auf dieser Ebene versuchen viele Strategiespiele jedoch gegenzusteuern, indem dem Spieler die Möglichkeit gegeben wird, das Verhalten von Einheiten beispielsweise im Fall des Angriffs im Vorhinein zu automatisieren, also »Angriff standhalten«, »Gegenangriff« oder »Flucht« als mögliche Handlungsparameter festzulegen. Dennoch löst auch die Erfahrung solchermaßen auto- nom agierender Objekte des Spiels oftmals eine Aufhebung des Kohärenzerlebens aus. Die Anrufung des strategischen Subjekts 59 23˘ Gleichzeitig ermöglicht eine solche Perspektivisierung, die kritisch zu betrachtenden Konzepte von ›Immersion‹ und vor allem ›Interaktivität‹ zu umgehen. Mit Garite (2003) oder Manovich (2002) lässt sich argumentieren, dass Interaktivität zunächst eine (ideolo- gische) Behauptung ist, die die ›eigentlichen‹ Funktionalitäten von digitalen Medien ver- schleiern: »When we use the concept of ›interactive media‹ exclusively in relation to com- puter-based media, there is the danger that we interpret ›interaction‹ literally, equating it with physical interaction between a user and a media object (pressing a button, choosing a link, moving the body), at the sake of psychological interaction. The psychological pro- cesses of filling-in, hypothesis forming, recall and identification, which are required for us to comprehend any text or image at all, are mistakenly identified with an objectively ex- isting structure of interactive links. This mistake is not new; on the contrary, it is a struc- tural feature of history of modern media. The literal interpretation of interactivity is just the latest example of a larger modern trend to exteranalize mental life, a process in which media technologies – photography, film, VR – have played a key role« (Manovich 2002, 57). 24˘ Für eine Diskussion der Implikationen des Räumlichen im Strategiespiel vgl. vertiefend die Beiträge von Nohr und Neitzel in diesem Band. 25˘ »To keep up with a city’s changing size and demands, the game requires constant moni- toring of the city’s power, water, transportation, budget, and other systems. If there is a ›hidden curriculum‹ in SimciTy and other Sim games, it lies here. […] This is exactly what SimciTy teaches: the management of complex systems based on ›intelligent scanning‹ of streams of constantly changing information. As SimciTy has evolved, it has incorporated in- creasing levels of complexity. For example, in the original SimciTy, the fiscal options were limited. There was one tax rate that players could raise or lower, no possibility of f loating bonds, and just three types of operating expenditure – transportation, police, and fire pro- tection. In SimciTy 2000, the player can vary property tax rates by class (residential, com- mercial, industrial); offer tax incentives to specific industries; impose a sales or income tax; borrow funds; refinance bonds; budget a wider variety of programs now including educa- tion, health, and welfare; and vary expenditures within each budget category (for exam- ple, primary and secondary schools versus higher education) and even by neighborhood« (Starr 1994, 6). 26˘ Auf diesen basalen Mechanismus des Computerspiels weist auch Neitzel hin, wenn sie konstatiert, dass das Erschließen des Spielprinzips selbst auch ›Ziel‹ eines Spiels sein kann (vgl. dies. 2012, 87). 27˘ »Nachhaltigkeit ähnelt als ein an der Zukunft orientiertes Leitbild der Prävention, das Prinzip der Vorsorge weist Parallelen zu dem der Vorbeugung auf. Während präventives Handeln Schadensfälle verhindern und, falls sie eintreten, den Schaden begrenzen soll, stellt nachhaltiges Handeln darauf ab, natürliche und soziale Prozesse andauernd und mög- lichst ressourcenschonend wachsen zu lassen. Wie die präventive Arbeit eine nachhaltige Regulation mit Daten, mit Modellen und Prognostik, wie jene überführt sie unbestimmte 60 Rolf F. Nohr Gefahren in kalkulierte Risiken. Und wie beim Versagen der Prävention lässt sich noch je- des Scheitern nachhaltiger Strategie als ein Defizit an Daten und Wissen, als mangelnde Reichweite der Regulierung interpretieren. […] Nachhaltigkeit wird zu einem Grundprinzip der Politik, das noch für jedes politische Feld Begründungen liefert: im Namen zukünf- tiger Generationen etwa kürzt der Staat seiner Ausgaben, investiert Forschungsgelder in Gen- und Biotechnologie, ergreift Maßnahmen, um Studienzeiten zu verkürzen oder Lebensarbeitszeit zu verlängern. Nachhaltigkeit erschallt überall dort als Ruf nach Reformen, wo Belastbarkeitsgrenzen oder strukturelle Defizite ausfindig gemacht wer- den…« (Kaufmann 2004, 180). 28˘ Vgl. zum geopolitischen Handeln im Strategiespiel auch vertiefend den Beitrag von Nohr in diesem Band. 29˘ Spielkritik zu civilizaTion in: Amiga Games 10/92, S. 22 [http://www.kultboy.com/index. php?site=t&id=13]; letzter Abruf 10.1.2014. 30˘ Janet Murray (1998) qualifiziert die siginfikant steigende task-Häufung in Spielen als Metapher für die 1990er Jahre und die in dieser Zeit sich vollziehende Umgestaltung des Begriffs von Arbeit: »Tetris is a perfect enactment for the overtasked lives of Americans in the 90s« (ebd., 143). 31˘ Auch Galloway (2006, 103ff.) qualifiziert (mit Jameson) Spiele als Signifikanten der ma- teriell gewordenen Langeweile – hebt dabei jedoch eher auf die ästhetisch-uniformen Erfahrungsqualitäten der Moderne ab. Er verweist dabei verstärkt darauf, in Spielen wie die SimS auf ästhetische Erfahrung zu treffen, die denen eines kulturell normierenden Systems wie bspw. dem Ikea-Katalog nachempfunden sind. 32˘ Vgl. dazu auch ausführlich: Nohr 2008, 217-231. 33˘ Garite (2003) wiederum bezieht sich auf ein Argument Manovichs (2002), der in seiner Kritik des Konzepts der Interaktivität den wesentlichen Modus des als ›Interaktion‹ cha- rakterisierten Medienhandlungs-Prozess als die Übernahme eines fremden mentalen Konzepts (»mistake the structure of somebody else’s mind for our own« (Manovich 2002, 74) des Mediums, des Programmierers oder Autors durch den Benutzer herausarbeitet – und dabei auf die Konzeption der Interpellation rekurriert. 34˘ Anschlusserwartung ist ein Konzept, dass auf den ambivalenten Status kultureller Waren verweist: Einerseits muss eine solche Ware, um als Nachfolgeware im Markt funktional zu sein, eine hohe Ähnlichkeit mit dem eigentlichen Produkt aufweisen, also ein Versprechen geben, das alte Produkt dadurch zu verlängern, ihm trotz seiner Neuheit sehr ähnlich zu sein. Andererseits muss ein Kulturgut stets originell sein um sich verkaufen zu können. Dieser Effekt kann als in Bezug auf das Computerspiel die hohe Genrestabilität erklären – aber auch die gefühlte ›Innovationslosigkeit‹ des Marktes (vgl. Nohr 2008b, 197ff.). 35˘ Eine solche Darstellung kann natürlich auch als latente Kritik am Ansatz von Adelmann/ Winkler (in diesem Band) verstanden werden. 36˘ Csikszentmihalyi 1975; vgl. auch Mosel 2009; Langner / Mertens (Hg.) (2012). Die Anrufung des strategischen Subjekts 61 37˘ Wie sich dieser Zustand aber auch als eine Erfahrung der Subjekt-Auflösung beschreiben lässt zeigt Friedman: »It’s very hard to describe what it feels like when you’re ›lost‹ inside a computer game, precisely because at that moment your sense of self has been fundamen- tally transformed. Flowing through a continuous series of decisions made almost automat- ically, hardly aware of the passage of time, you form a symbiotic circuit with the comput- er, a version of the cyborgian consciousness described by Donna Haraway in her influential Manifesto for Cyborgs. The computer comes to feel like an organic extension of your con- sciousness, and you may feel like an extension of the computer itself« (ders. 1999, 3). 38˘ Speziell für das Computerspiel-Interface hat diese Naturalisierung Schemer-Reinhard ausdekliniert: »Interfaces tendieren damit aus zwei unterschiedlichen Gründen dazu, aus der Wahrnehmung zu verschwinden. Zum einen führt ihr Werkzeugcharakter dazu, dass sie hinter ihrer Funktion zurücktreten. Zum anderen weisen sie potenziell mediale Aspekte auf, wodurch sie hinter den damit verbundenen Inhalten zurücktreten. Beide Mechanismen lassen graduelle Abstufungen zu. Die Qualitäten des Verschwindens sind dabei jeweils un- terschiedlich: Werkzeug wird als Werkzeug in seiner potentiellen Dienlichkeit zunächst durchaus wahrgenommen; erst im Akt der tatsächlichen Benutzung wird das als Artefakt sekundär. Medien hingegen sind Medien erst, wenn Sie Inhalte erzeugen (sonst sind sie Werkzeuge); damit neigen Medien immer und unmittelbar dazu, hinter ihren Inhalten zu verschwinden« (ders. 2012, 42). Bibliografie Aarseth, Espen (1997) Cybertext. Perpectives on Ergodic Literature. Baltimore. John Hopkins Univ. Press. Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung), in: ders. (Hg.): Ideologie und ideologische Staatsapparate: Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg/Berlin: VSA, 108-153. Beil, Benjamin (2012): Genrekonzept des Computerspiels. In: GamesCoop (Hg.): Theorien des Computerspiels zur Einführung. Hamburg: Junius (Zur Einführung, 391), S. 13–37. Bogost, Ian (2008): Unit operations. 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Was aber heißt das genau? Wenn die Spielenden so entschieden auf das Han- deln setzen, erscheint es sinnvoll nach den Hintergründen zu fragen und, losge- löst von einzelnen Computerspielen und Spielerfahrungen, das Handlungskon- zept selbst zu betrachten. Die meisten aktuellen Ansätze in den Game Studies würden das Handlungskonzept – verkürzt – unter dem Begriff der ›Interaktivi- tät‹ diskutieren; sicherlich ein schillernder Begriff, und schlimmer: ein Begriff, der den Zugang zu bestimmten Fragen systematisch verstellt. Denn zum einen umgeht Interaktivität die Frage des Handelns auf eigentümliche Weise, in dem es den Blick auf ein Dazwischen lenkt: gehandelt wird zwischen Spielern, zwi- schen Regeln des Spiels und Spieler, oder zwischen Spieler und Narration. Zum Zweiten setzt das Modell der Interaktivität die Subjekte als Handlungsträger fraglos voraus; Basis für ihre Interaktionen mit einer Spielmechanik, einer Er- zählung, den Rollenangeboten, den psychologischen Gratifikationen usw. Und drittens wird Interaktivität als prinzipiell positives Erleben und befriedigende Erfahrung charakterisiert, die zeitlos sind und nicht in einem historischen oder ideologischen Kontext verankert scheinen. Was also bedeutet es, dass ein Selbst ›etwas tut‹? Und warum ist diese tätige Rolle mit Lust verbunden? Ist ein intaktes, selbstmächtiges Selbst in unserer Vorstellung von Handeln immer schon impliziert? Mögliche Antworten auf diese Fragen werden im Folgenden am Handlungskon- zept selbst entwickelt werden. Der erste Abschnitt wird auf einige Texte der aktuellen Game Studies zu Handlungskonzepten eingehen. Dann werden wir Handlungsfähigkeit und Agency allgemein problematisieren, um im Anschluss ihre Funktion in Computerspielen zu bestimmen. Zum Schluss möchten wir dann eine Alternative zum Konzept der Interaktivität vorschlagen. Kurze Ketten – Handeln und Subjektkonstitution 69 Elephants in the Room: Handlung und Subjekt in den Game Studies Obwohl Interaktivität gerne als besondere Eigenschaft des Computerspiels pos tuliert wird, gibt es in den Game Studies kaum generelle Überlegungen zum Handlungsbegriff oder zur Subjektbildung. Das 2005 erschienene Hand- book of Computer Game Studies¯1 enthält keinen Beitrag zu den beiden Begrif- fen, noch taucht ›action‹ oder ›subject‹ jenseits der Genrebezeichnung ›action games‹ im Index des Einführungsbuches auf. Dagegen finden sich zur Inter- aktivität sehr viele Einträge im Index und einige Beiträge im Buch. Mit Inter- aktivität werden beispielsweise Immersionseffekte von Computerspielen er- klärt und die Einbeziehung des Spielers in eine Erzählung erläutert¯2 oder je nach Art der Interaktivität ein System von Genrebezeichnungen für Compu- terspiele entworfen.¯3 Interaktivität verweist in dieser Verwendung des Be- griffs immer auf etwas anderes. Fast gewinnt man den Eindruck, dass damit ›Handlung‹ und ›Subjekt‹ als Perspektiven der Game Studies vermieden wer- den sollen. Sind ›Handlung‹ und ›Subjekt‹ die elephants in the room? Das, was keiner sehen möchte? Interaktivität dagegen avanciert zum zentralen Begriff des Computerspiels: »The word ›interactivity‹ isn’t just about giving players choices; it pretty much completely defines the game medium«.¯4 Und Salen/Zimmerman¯5 buchsta- bieren diese Definition in mehreren Schritten aus: Als Aktion zwischen dem Spieler und dem Spiel, bei der es vor allem um die emotionale und intellektu- elle Teilnahme geht; als Aktion zwischen Spieler und Benutzeroberfläche, in der funktionale Aspekte wie das Gamepad und die Spielbuttons thematisiert werden; und als Aktion zwischen Spieler und Spielelementen, womit die Ent- scheidungsmöglichkeiten und die Formen ihrer Mitteilung gemeint sind. Eine weitere, letzte Interaktionsform schließlich findet zwischen den Spielern statt, wenn diese zum Beispiel Fankulturen ausbilden. Ganz im Gegensatz zu den Überlegungen zur Interaktivität ist unsere The- se, dass Computerspiele – wie scheinhaft auch immer – die vielen Zwischen- Instanzen negieren. Computerspiele vernichten den Aufschub, das Dazwischen. Ursache und Wirkung werden verkoppelt; in einem direkten Verhältnis von Handlung und Folge wird das Dazwischen, das Interaktive geradezu eliminiert. Wenn sich Computerspieltheorien häufig auf Narration und Spiel konzentrie- ren, so wäre auch dies zu relativieren: Handlung und Subjektkonstitution spie- len auch dort kaum eine Rolle. 70 Ralf Adelmann / Hartmut Winkler Die Elefanten im Raum der Game Studies aber werfen Schatten; denn die Schwierigkeit des Interaktivitätskonzeptes die Handlungsdimension zu erklä- ren wird in einigen Theorieansätzen durchaus deutlich. In seinem Buch Half-real ¯6 entwirft Jesper Juuls folgende Definition des Com- puterspiels: Der erste Punkt ist wenig überraschend: »Regeln«. Aber weitere Punkte sind für unser Anliegen interessant: mit »4. Player Effort« und »5. Play- er attached to Outcome« versucht Juul sich dem Phänomen der Handlungs- fähigkeit und -mächtigkeit zu nähern. Unglücklich allerdings beschränkt er sich auf die gängige Perspektive der Psychologie: »The emotional attachment of the player to the outcome is a psychological feature of the game activity.«¯7 Einen ähnlich gelagerten Begründungszusammenhang verfolgen Agency- oder ›Effectance‹-Ansätze, wie sie zum Beispiel von Christoph Klimmt aufgegriffen werden: »Computerspiele reagieren auf die Eingaben der Nutzerinnen und Nutzer direkt und unmittel- bar. Auf jede (zulässige) Eingabe folgt eine Reaktion des Spielprogramms, sei es eine Explosion, ein Aktienkauf oder ein Schuss auf ein Fußballtor.«¯8 Wenn er weiter schreibt, die enge Kopplung von Handlung und Folge »lös[e] die unmittelbare Erfahrung eigener kausaler Wirksamkeit [= Lust] aus«,¯9 so kommt dies unserer Perspektive durchaus nahe. In anderen Ansätzen werden Emotionen und Motive mit kognitiven Funkti- onen verknüpft, und schon landet man wieder bei der Gewalt- und Suchtdebat- te, mit der sich – so scheint es – fast jede Theoretisierung des Computerspiels beschäftigen muss. Warum aber bleiben die Erklärungen auf der Ebene des In- dividuellen und der Psyche stehen? Sie vernachlässigen es, die Handlung auch aus der Perspektive von kulturellen, sozialen und historischen Erklärungsmo- dellen zu thematisieren. Unbegreif lich bleibt diese Fixierung auf das Individu- um, wenn man bedenkt, dass Spieltheorien gerade in den Gesellschaftswissen- schaften ja durchaus eine Rolle spielen. Wenn unter Gameplay einzig individuelles Erleben und Erfahren, oder ›rules in action‹, verstanden werden, dann gerät die kollektive Dimension, Handlun- gen als historische und soziokulturelle Manifestationen, aus dem Blickfeld. »A game’s gameplay is the degree and nature of the interactivity that the game includes, i. e., how the player is able to interact with the game-world and how that game-world reacts to the choice the player makes«.¯10 Wieder geht es um Interaktivität; Handlungsfähigkeit und Agency geraten ein weiteres Mal aus dem Blick. Kurze Ketten – Handeln und Subjektkonstitution 71 Handlungsfähigkeit, Agency Kommen wir auf die populäre Unterscheidung zwischen dem ›aktiven‹ Compu- terspiel und ›passiven‹ Medien wie Film und Fernsehen zurück, so ist zunächst auffällig, dass die Trennung in aktiv und passiv mit vielfältig wertenden Kon- notationen einhergeht. Und wie selbstverständlich erscheint eine aktive Posi- tion der passiven überlegen. Dies gilt auf der Ebene der Sprache, in der Gram- matik, wo das Subjekt mittels des Verbs das Objekt ›regiert‹, und allgemeiner, insofern Handlungsfähigkeit aufs engste mit hierarchischen Vorstellungen, Vorstellungen von Macht, der Möglichkeit, Ziele durchzusetzen und die eige- nen Wünsche zu realisieren, assoziiert wird. Handlungsfähigkeit/Macht/Agen- cy richtet sich zunächst auf Objekte und auf die Natur; phylogenetisch findet sie eine stabile Basis im Kampf um das Überleben der Gattung. Daneben aber – und hier wird die Sache ernster – richtet sich Handlungsfähig- keit/Macht auch auf andere Menschen. Die Erfahrung, aus der Rolle des Sub- jekts herausgedrängt zu werden und sich selbst in der Rolle des Objekts wieder- zufinden, zum Objekt fremder Wünsche, Ziele, Übergriffe oder Machtausübung zu werden, ist traumatisch; und gleichzeitig ist sie Alltag; in jedem Büro be- stimmt sie, wie auch immer gemäßigt, die Interaktion mit dem Chef. Zudem beginnt zumindest ontogenetisch der eigene Weg keineswegs in der Position des Subjekts; Die Erfahrung, zwischen Subjekt- und Objektrolle zu oszillieren, wird sich lebenslang fortsetzen. Aktiv und passiv korrelieren mit Geschlech- terstereotypen; gleichzeitig erscheinen gerade sexuelle Erfahrungen geeignet, zwischen beiden Rollen lustvoll zu wechseln und Passivität wie Aktivität zu ge- nießen. Die Trennung in aktiv und passiv, Subjekt und Objekt ist menschheitsge- schichtlich sicherlich sehr basal. Nicht in allen Kulturen allerdings treten aktiv und passiv, Subjekt und Objekt so scharf und polar auseinander, wie dies im westlichen Welt- und Selbstverständnis der Fall ist. Das Konzept des Subjekts ist – anders als die grammatikalische Kategorie – geschichtlich jüngeren Da- tums. Mit einer Vorgeschichte in der Antike und in der Figur des antiken Hel- den, die Horkheimer/Adorno in der Dialektik der Aufklärung rekonstruieren, ist das Subjekt eine Errungenschaft der bürgerlichen Revolution. Erst das Bürgertum erlegt die Last des Handelns dem Einzelnen auf. Die Meta- physik tritt als Basis und Widerlager zurück und verweist das bürgerliche Sub- jekt auf sich selbst: Gestützt allein auf das Ideal der Vernunft und die Realität seines Interesses, muss es die Verantwortung für Handlungsziele, -kriterien und mögliche Schuld nun allein übernehmen. 72 Ralf Adelmann / Hartmut Winkler Im Ideal der Souveränität orientiert sich das Bürgertum – kurios – am histo- rischen Gegner, am Adel, am Souverän. Auf der Seite des Kreativen, in der souveränen Hervorbringung des Neuen, am Schöpfergott. Im bürgerlichen Handlungsmodell aber überschneiden sich verschiedene weitere Linien: Öko- nomische Basis ist die Kopplung von Wissenschaft und Industrie, die eine Na- turbeherrschung in einem nie gekannten Ausmaß erlaubt, die Natur als Objekt gefügig macht und jedes andere Naturverhältnis als ein romantisches Über- bleibsel hinter sich lässt. Kapitalbesitz, ökonomische Selbstständigkeit ist die selbstverständliche Basis, als bürgerliches Subjekt handlungsfähig zu sein. Vom Kloster und vom Protestantismus übernimmt das Bürgertum sein Ethos der Arbeit; Arbeit wird die dominante Form, in der Handlung und Handlungs- fähigkeit gedacht und codiert werden. Auf der ideologischen Oberfläche wer- den Rhetoriken der ›Freiheit‹ (Handlungsfreiheit) und der Individualität, des Individualismus dominant; auf politischer Ebene entwickelt sich ein Geflecht, das – durchaus emanzipativ – Gleichgewichtsmodelle (Markt als Ausgleich wi- derstrebender Interessen) mit einem Vorbehalt gegenüber direkter, frontaler Herrschaftsausübung verbindet; Herrschaft wird nach innen, in die Selbstbe- herrschung, verlagert. Die Struktur zielt darauf ab, direkte Übergriffe ande- rer Handelnder (und das Abgleiten in die Rolle des Objekts) zu vermeiden. Das westliche Demokratiemodell hat hier seinen Fokus. Dieses bürgerliche Subjekt- und Handlungsmodell wurde im Verlauf des bür- gerlichen Zeitalters politisch-lebenspraktisch mit abweichenden Fakten kon- frontiert, vor allem mit der Tatsache, dass der überwiegende Teil Bevölkerung zwar arbeitet, abgetrennt vom Kapitalbesitz sich aber keineswegs als souverän handelnd erfährt. Die Rhetorik der Selbstverantwortung/Handlungsfähigkeit/ Agency findet hier eine Grenze. Und parallel wurde das Konzept einer philosophisch-theoretischen Funda- mentalkritik unterzogen, die von Nietzsche bis zu den französischen, ›subjekt- kritischen‹ Philosophien der sechziger Jahre reicht. Zumindest in der Philoso- phie wird es inzwischen niemand mehr ungebrochen vertreten. Dies allerdings heißt nicht, dass es nicht praktisch durchaus wirksam und wirkmächtig wäre. Unsere Hypothese ist vielmehr, dass das bürgerliche Handlungssubjekt – und sei es als Untoter, als Wiedergänger – fröhliche Urständ feiert, und zwar u. a. in der unvermuteten Sphäre des Spiels und insbesondere des Computerspiels. Kurze Ketten – Handeln und Subjektkonstitution 73 Spiel, Vergnügen, ›Para-Aktion‹ In modernen Gesellschaften besteht ein Gefälle zwischen der ständig erho- benen Forderung ein Subjekt zu sein oder als ein solches zu handeln, und den Möglichkeiten sich selbst als handelndes Subjekt zu erfahren. Der Typus indi- vidualisierter Handlungen, der einen ungewissen Ausgang hat, geht in den Routinen und Versicherungen der Gesellschaft unter; existenzielle Risiken und Unsicherheit umgekehrt sind auf individuelle Handlungen immer weniger re- lationiert. Das Computerspiel bietet Ungewissheiten oder Unschärfen in den Ergebnissen des Handelns als rational vertretbare Optionen in Form von Handlungsspiel- räumen an. Im Spiel ist einerseits Handeln ständig gefordert, ohne dass es an- dererseits an die etablierten Skalen ökonomischen Nutzens gekoppelt ist. Dem- entsprechend finden die Handlungen in der ›nutzlosen‹ Zeit, der sogenannten Freizeit, statt. Das bürgerliche Subjekt erscheint im Computerspiel als Wiedergänger, nicht in seiner ursprünglichen Form und Funktion. In diesem medialen Kontext der Po- pulärkultur wird es seine Produktivität nur in der Sphäre der Spielwelten ent- falten können. Die Effekte dieser Subjektivierung können aber dann durchaus gesellschaftliche Funktionen erfüllen... Hinzu kommt, dass die Produktion des Subjektes im Computerspiel unmittel- bar an Vergnügen, Lust und Hingabe gebunden ist. Die kulturwissenschaft- liche Spieltheorie verweist auf eine direkte Verknüpfung von Bedürfnis und Vergnügen im Spiel, die nur aus der angeblichen sozialen Nicht-Funktionalität und Unproduktivität des Spiels zu erklären ist.¯11 Das ›Unproduktive‹ des Spiels ist paradoxerweise Teil seiner Produktivität als Subjektgenerator. In dem der Spieler handelt, zieht er die Grenze zwischen Spiel und einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die zwar Handlungsfreiheit suggeriert, aber letztlich nicht garantieren kann. Die moderne Subjektkritik kann deshalb in Bezug auf die gesellschaftliche Kernsphäre erst einmal Plau- sibilität behalten, während im ›Randbezirk‹ der Spielkultur die Subjekte sich weiter fröhlich handelnd reproduzieren. Während in der Moderne das Individuum in einem Spannungsverhältnis zur Gesellschaft steht und sich daraus Konflikte entwickeln,¯12 wird im Compu- terspiel das individuelle Handeln gerade dort als lustvoll empfunden, wo es das System gesellschaftlicher Einschränkungen hinter sich lässt; und dabei ist es gleichgültig, ob Handeln das treffsichere Erschießen von Aliens oder das ge- schickte Stapeln von herunterfallenden Rechtecken bedeutet. 74 Ralf Adelmann / Hartmut Winkler Im Computerspiel weitet sich der Handlungsraum aus. Der ›Randbezirk‹ wird zu einer Umgebung, der durch die ›Para-Aktionen‹ des Spielers beherrschbar gemacht wird. In Abgrenzung zu Modellen parasozialer Interaktion in den Massenmedien könnte der Begriff der ›Para-Aktion‹ alle Handlungen in Com- puterspielen beschreiben, die ein handelndes Subjekt implizieren und hervor- bringen. In parasozialen Interaktionen wird der Austausch konventionalisierter Signale einer realen Kommunikation simuliert. Im Urtext zur parasozialen Interakti- on, bei Horton/Wohl,¯13 wird dem Spielleiter im Fernsehen die Funktion zuge- schrieben, die Zuschauer in das Geschehen kommunikativ einzubinden und dadurch die Illusion einer Face-to-Face-Beziehung aufrecht zu halten. Ent- scheidend dabei ist die Bereitschaft des Zuschauers diese Illusion aktiv zu un- terstützen. In diesem Sinne könnte man beim Fernsehen sehr viel mehr von Interaktivität sprechen als beim Computer. Die Zuschauer müssen aktiv ent- scheiden, ob sie die vom Spielleiter angebotene Rolle im illusionären Kommu- nikationsprozess annehmen oder nicht. Ebenso können sie den televisuellen Angeboten der Intimität, der Partizipation und der Interaktion ausweichen, ohne dass es Konsequenzen für sie haben wird. Das Fehlen von direkten Konsequenzen (in der gesellschaftlichen Realität) ver- bindet parasoziale Interaktion im Fernsehen mit Para-Aktion im Computer- spiel. Im Unterschied zur parasozialen Interaktion stehen im Zentrum von Para-Aktion keine Kommunikationen, sondern Handlungen oder das ›reale‹ Vergnügen an unmittelbar verkoppelter Aktion/Reaktion. Para-Aktionen müs- sen deshalb nicht interaktiv sein. Sie suggerieren geradezu, dass eine vermit- telnde Kommunikation nicht dazwischentritt. Besteht doch ihre Pointe gerade darin, dass sie direkte Ursache-Wirkungszusammenhänge stiften. Im Computerspiel werden erworbene Fähigkeiten an den Objekten im Spiel getestet und immer weiter perfektioniert. In Ego-Shootern werden beispiels- weise durch Para-Aktionen wie Schiessen und Nicht-Getroffen-Werden die zur Verfügung stehenden Waffen und Schilde – und damit Handlungsoptionen – verbessert. Die ›Waffe‹ ist also keine Waffe, wie eine Volkspädagogik glauben machen möchte, sondern die Zusammenballung, Eröffnung und Ermöglichung weiterer Para-Aktionen. Sie ist ein Agency Power-Up, eine weitere Steigerung der Handlungsfähigkeit, wie zum Beispiel ein Beschleuniger in einem Renn- spiel oder ein neues item in einem Simulations- oder Rollenspiel. Begreift man den Möglichkeitsraum des Computerspiels als totalen Hand- lungsraum, in dem die zur Verfügung stehenden Para-Aktionen nach ihrem individuellen Lust- und Spaßgewinn bewertet werden, so wird seine gesell- schaftliche Funktion als Entlastung vom realen Konflikt zwischen dem Ide- Kurze Ketten – Handeln und Subjektkonstitution 75 al des bürgerlichen Handlungsmodells und seiner real-gesellschaftlichen Be- schränkung evident.¯14 Kurze Handlungsketten, Gewalt Das Gesagte bietet eine neue Perspektive auch auf die mehr als leidige Frage nach der Gewalt. Dass fiktive Gewalt zumindest in Shootern und Rollenspielen eine herausragende Rolle spielt, ist unbestreitbar, und ebenso unbestreitbar greift das wohlmeinende Erschrecken der Pädagogen und Politiker zu kurz. Ge- walt findet sich zunächst auf der Ebene des Inhalts, der Handlungsmuster und der Ikonographien. Sucht man den wesentlichen Unterschied etwa zum Spiel- film, der ja ebenfalls drastische Gewaltszenen kennt, so liegt die Besonderheit der Spiele darin, dass der Spielende die Rolle des Augenzeugen verlässt und in diejenige des Handelnden, um nicht zu sagen: des Täters, wechselt. Die These lautet, dass es hier um die Frage nach der Subjektposition geht. Und weiter, dass diese Frage dominanter und signifikanter ist als die visuelle Ober- f läche und das in Pixeln verspritzte Blut. Wir möchten argumentieren, dass die Gewalt in Computerspielen, allem Augenschein zum Trotz, nur ein Modus der Darstellung ist; für einen strukturellen Zusammenhang, der unterhalb die- ser Oberfläche liegt und der mit Gewalt in der ›Realität‹ nur sehr vermittelt zu tun hat. Einen Schlüssel liefert Norbert Elias in seiner berühmten, nicht unumstrit- tenen Zivilisationstheorie,¯15 die in einem groß angelegten Bogen die Mensch- heitsgeschichte als einen Prozess zunehmender Zivilisierung beschreibt. Die- sen Zivilisationsprozess nun, und speziell den geschichtlichen Übergang zur Moderne, sieht Elias durch eine tiefgreifende Ambivalenz gekennzeichnet: Denn einerseits bedeutet Zivilisation, dass es gelingt, den gesellschaftlichen Raum zu befrieden und unmittelbare körperliche Gewalt aus dem Alltag zu- rückzudrängen. Das Gewalttabu – bzw. die Monopolisierung der Gewalt beim Staat – ist eine große Errungenschaft; die Zivilisierten haben gelernt, ihre In- teressen zu verfolgen und Konflikte auszutragen, ohne auf das Mittel der kör- perlichen Gewalt zurückzugreifen. Gleichzeitig aber bedeutet dies, hieran lässt Elias keinen Zweifel, dass den Sub- jekten eine ungeheure Last auferlegt ist. Das Gewalttabu verlangt ein hohes Maß an Selbstbeherrschung, und zwar gerade deshalb, weil Gewalt als Mittel der Durchsetzung so nahe liegt. Die ganze psychische Struktur des Menschen ist darauf ausgelegt, auf Anforderungssituationen mit großer Emotion, schnell und spontan zu reagieren; exakt diese Reaktionsweise muss blockiert werden, 76 Ralf Adelmann / Hartmut Winkler damit Zivilisation möglich wird. Laut Elias besteht Zivilisation in einem »ge- sellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang«.¯16 Ein aufwändiger Sozialisations- prozess, gesellschaftliche Institutionen und Regelapparate wirken darin zu- sammen, ein System von Hemmungen aufzubauen. Dieses wird den Subjekten eingefleischt, d. h. so tief in der psychischen Struktur verankert, dass das Sub- jekt kaum mehr in der Lage ist, sie willentlich zu überschreiten. Äußerer Zwang – hier trifft sich Elias mit Foucaults ›Disziplinen‹ – wird in ein System innerer Zwänge umgebaut. Damit aber, dies ist der Preis, wird auch die Reibung, der Konflikt, der sonst ein äußerer wäre, ins Innere der Subjekte verlagert; das Subjekt wird sein Leben lang im Widerstreit zwischen seinen inneren Impulsen und dem auferlegten Hemmungssystem leben, das nun ebenfalls Bestandteil seines Inneren ist.¯17 Die so skizzierte Vorstellung ist interessant nicht wegen ihres Bezugs auf die manifeste Gewalt. Elias vielmehr holt weiter aus, indem er erklärt, was eigent- lich die geforderten ›zivilisierten‹ Reaktionen von den zurückliegenden, we- niger zivilisierten unterscheidet. Und seine zentrale Vorstellung ist, dass mit dem Prozess der Zivilisation und der Moderne die Handlungsketten sich auf sig- nifikante Weise verlängern. Damit setzt Elias exakt auf jener allgemeineren Frage nach Handeln und Hand- lungsfähigkeit auf, die hier Thema ist. Die Moderne, sagt Elias, ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass der gesellschaftliche Apparat komplexer wird. »[Je mehr sich die gesellschaftlichen Funktionen] differenzieren, desto größer wird die Zahl der Funktionen und damit der Menschen, von denen der Einzelne bei allen seinen Verrichtungen […] abhängt. Das Verhalten von immer mehr Menschen muß aufeinander abgestimmt, das Gewebe der Aktionen immer genauer und straffer durchorganisiert sein, damit die einzelne Handlung darin ihre gesellschaftliche Funktion erfüllt. Der Einzelne wird gezwungen, sein Verhalten im- mer differenzierter, immer gleichmäßiger und stabiler zu regulieren.«¯18 Gesellschaftliche Komplexität also schlägt um in einen Zwang zur Koordina- tion; und dieser in die Forderung an die Individuen, das eigene Verhalten zu disziplinieren. Gesellschaftsfähig ist das Individuum nur in dem Maß, in dem es stabil, kontinuierlich und berechenbar ist; diese Anforderung muss in eine schmerzliche Spannung zur spontanen Unberechenbarkeit der inneren Im- pulse treten. Zum zweiten ist wichtig, dass sich der Raum verändert, innerhalb dessen das Individuum handelt und seine Ziele verfolgt. Je komplizierter die gesellschaft- liche Apparatur wird, desto mehr Instanzen sind an jedem Einzelvorgang betei- ligt. Wenn das Hungergefühl auf Nahrung und Sättigung abzielt, schiebt die Moderne zwischen Hunger und Nahrung eine jahrelange Ausbildung, einen Kurze Ketten – Handeln und Subjektkonstitution 77 Arbeitsvertrag, Lohnarbeit und einen Supermarkt ein; der Weg zum Sex führt über ein Deo, eine Diskothek, eine Schamfrist von mehreren Wochen, unzähli- ge Telefonate und möglicherweise ein Blumengeschäft. In beiden Fällen drängt sich eine lustvolle Verkürzung des Weges geradezu auf. In der Moderne, sagt Elias, sind lange Handlungsketten an die Stelle von kurzen getreten. Lange Handlungsketten aber bedeuten Aufschub, wenn nicht die Be- friedigung überhaupt unabsehbar wird. Zudem bedeutet der Übergang von den kurzen zu den langen Ketten einen Prozess der Abstraktion, bei dem be- stimmte Erlebnisqualitäten auf der Strecke bleiben: »Das Leben wird in gewissem Sinne gefahrloser, aber auch affekt- oder lust- loser, mindestens, was die unmittelbare Äußerung des Lustverlangens an- geht.«¯19 »[D]ie anderen Formen des Zwanges, die nun in den befriedeten Räumen vorherrschen, model- lieren Verhalten und Affektäußerungen des Einzelnen in der gleichen Richtung. Je dichter das Interdependenzgeflecht wird, in das der Einzelne mit der fortschreitenden Funktionseinteilung versponnen ist, […] desto stärker wird jeder Einzelne […] dazu gedrängt, die Wirkungen seiner Handlungen oder die Wirkung der Handlungen von Anderen über eine ganze Reihe von Ketten- gliedern hinweg zu bedenken. Dämpfung der spontanen Wallungen, Zurückhaltung der Affekte, Weitung des Gedankenraums über den Augenblick hinaus in die vergangenen Ursach-, die zu- künftigen Folgeketten […] sind verschiedene Aspekte der gleichen Verhaltensänderung.«¯20 Die Emotion der Zivilisierten also ist schaumgebremst. Diese konfrontiert Elias – historisch wenig spezifisch – mit Rittertum und Adel: »Das Leben der Krieger […] bewegt[e] sich […] , gemessen an dem Leben in befriedeten Räumen, zwischen Extremen. Es gibt dem Krieger die Möglichkeit zu einer – im Verhältnis zu jener an- deren Gesellschaft – außerordentlich großen Freiheit im Auslauf seiner Gefühle und Leiden- schaften, die Möglichkeit zu wilden Freuden, zu einer hemmungsloseren Sättigung von Lust an Frauen oder auch von Haß in der Zerstörung und Qual alles dessen, was Feind ist oder zum Feinde gehört.«¯21 Historisch bestreitbar und in ihrer männlich-identifizierten Perspektive sicher nicht unproblematisch, ist die Stelle dennoch illustrativ. Lange Handlungs- ketten haben ein genuines Frustrationspotential. Kurze Handlungsketten, so könnte man folgern, stehen dem gegenüber; die direkte, übersichtliche Kopp- lung von Ursache und Wirkung, Handlung und Folge, Tat und Effekt bekommt in der heutigen Gesellschaft einen utopischen Zug. Und die denkbar kürzesten Handlungsketten, hier schließt sich der Kreis, bieten Destruktion und Gewalt. Ist der Nachbar zu laut – ein Schuss vom Balkon und es herrscht Ruhe, tatsächlich-faktisch, unrevidierbar und ohne Aufschub, sofort. 78 Ralf Adelmann / Hartmut Winkler Steht mir etwas im Weg, sprenge ich es weg. Die Beispiele zeigen, dass die Ge- sellschaft gute Gründe hat, diesen Weg zu blockieren; gleichzeitig aber auch, dass unterhalb des Tabus der Impuls sicherlich weiter in Tätigkeit ist. Unsere These ist, dass Computerspiele in der Mitte der Moderne – utopisch – noch einmal das Drama der kurzen Handlungsketten eröffnen. In die Sphäre des Probehandelns versetzt, von tatsächlichen Folgen abgetrennt, Spiel eben, erlauben sie den Subjekten sich selbst als wirksam, als handlungsfähig zu set- zen. Dies scheint uns das Privileg der Egoshooter zu sein; Ursache Y Wirkung; Zack Y und weg; dass es dafür noch Punkte gibt, wäre nicht mehr als die Sank- tionierung: kein Aufschub, lustvoll-kurze Kette, Tabu unterlaufen, aber trotz- dem o. k. In dieser Deutung, dies ist auffällig, wäre die Gewalt keine. Sie wäre nichts als ein Darstellungsmodus, eine privilegierte Möglichkeit, kurze Handlungsketten zu schaffen, und das Lustpotential auszuschöpfen, das diese inmitten einer frustrierenden Welt langer Ketten bieten. In den Mittelpunkt tritt damit die symbolische Brechung, der Spielcharakter des Spiels. Elias’ Theorie kann als ein Anzeichen gelesen werden, dass in der Moderne das Handlungsmodell selbst in eine tiefgreifende Krise gerät. Wenn die langen Ket- ten unübersichtlich und frustrierend sind, gleichzeitig von den Subjekten aber gefordert wird, die Rolle als Subjekt – Träger von Agency – zumindest soweit zu spielen, wie es das Hamsterrad der gesellschaftlichen Vollzüge erfordert, so durchzieht diese Spaltung den Handelnden, der als Handelnder die Spaltung am wenigsten aushalten kann.¯22 Im Rücken der Frustration entsteht Kompen- sationsbedarf. Und realistischer als die Furcht, die Gewalt könne aus dem Sym- bolischen ins Tatsächliche schwappen, wäre die, dass Computerspieler sich mit reiner Kompensation oder patches nicht auf Dauer begnügen. Fazit Die These lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: 1. Wenn von Interaktivität die Rede ist, wird meist unterstellt, dass nur das ›In- ter-‹ erklärungsbedürftig sei; Aktivität und Handeln dagegen werden als Teil der Alltagserfahrung vorausgesetzt. Diese scheinbare Gewissheit aber hält ei- ner kulturwissenschaftlichen Prüfung nicht stand. Wenn Handlungsfähigkeit/ Agency im Zentrum des bürgerlichen Selbstverständnisses steht, wird deutlich, dass es sich nicht um eine allgemein-anthropologische, sondern um eine histo- rische Frage mit einem präzisen Zeithorizont handelt. In den Fokus rückt das Konzept des Subjekts, das in der Grammatik gegeben sein mag, das in der Tat- Kurze Ketten – Handeln und Subjektkonstitution 79 sächlichkeit des Alltags aber – wie ein Tamagotchi – der täglichen Pflege, der Stabilisierung und der Bestärkung bedarf. 2. Die Kulturtheorie sagt uns zweitens, dass das Subjekt sich in einer tiefgrei- fenden Krise befindet. Und dies nicht auf den lichten Höhen der subjektkri- tischen Philosophie, sondern ebenfalls in der Alltagserfahrung, wo uns der Neoliberalismus predigt, dass jeder einzelne sein Schicksal selbst in der Hand habe, wo Verkehrsregeln und Hartz IV, die EU-Verordnung zum Import von Karamellbonbons, Chef und Vermieter dies aber klar dementieren. In diesen Widerspruch tritt das Handlungsmodell des Computerspiels als ein patch ein. 3. Die Lust, die das Spiel macht, ist insofern eine Wiederaufführung. Der späte Abglanz jenes männlichen Handlungsmodells, das – mass culture is a wom- an¯23 – der Gegenwart so wenig angemessen ist, dass Elias es in eine my- thische Zeit »der Krieger« entrückt. Im Computerspiel dürfen wir noch einmal die Keule schwingen. Dort sind die Handlungsketten auf lustvolle Weise ver- kürzt. Ursache Y Wirkung. Zack Y und weg. Außerhalb des Spiels regieren die langen Ketten und die Vermittlung. Es ist diese Vermittlung, die im Computerspiel implodiert. Dass Medien üb- licherweise Inbegriff des Vermittelten sind, macht die besondere Spannung dieser Medienkonstellation aus. Anmerkungen 00˘ Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag an der HBK Braunschweig vom 9.2.2009 im Rahmen des Forschungsprojekts Strategie Spielen. Erstveröffentlicht als: Winkler, Hartmut/ Adelmann, Ralf (2010): Kurze Ketten. Handeln und Subjektkonstitution im Computerspiel. In: Ästhetik und Kommunikation 41 (148), S. 99–107. Dank an die Herausgeber der Ästhetik und Kommunikation für die freundliche Genehmigung des Wiederabdrucks. 01˘ Raessens, Joost; Goldstein, Jeffrey H. (Hg.): Handbook of Computer Game Studies. Cambridge, Mass.: MIT Press: 2005. 02˘ Raynauld, Isabelle: Click reading: screenwriting and screen-reading practices in film and multimedia fictions. In: Raessens/Goldstein, a. a. O., S. 81-95, hier: S. 85f. 03˘ Wolf, Mark J. P.: Genre and the Video Game. In: Raessens/Goldstein, a. a. O., S. 193-204. 04˘ Salen, Katie; Zimmerman, Eric: Game design and meaningful play. In: Raessens/Goldstein, a. a. O., S. 59-79, hier S. 70; Salen/Zimmermann zitieren Walter Specter. 05˘ Ebd., S. 70f. 80 Ralf Adelmann / Hartmut Winkler 06˘ Juul, Jesper: Half-real: video games between real rules and fictional worlds. Cambridge, Mass.: MIT Press 2005. 07˘ Ebd., S. 40. 08˘ Klimmt, Christoph: Unterhaltungserleben beim Computerspielen. In: Mitgutsch, Konstantin; Rosenstingl, Herbert (Hg.): Faszination Computerspielen: Theorie – Kultur – Erleben. Wien: Braumüller 2008, S. 7-17, hier S. 8. 09˘ Ebd. (Erg. A./W.). 10˘ Juul, Half-real, a. a. O., S. 87; Juul zitiert Rouse. 11˘ Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg: Rowohlt 1956, S. 16ff. 12˘ … einer der hauptsächlichen Gegenstandsbereiche der Soziologie... 13˘ Horton, Donald; Wohl, R. Richard: Mass Communication and Para-Social Interaction. In: Psychiatry, Nr. 19, 1956, S. 215-229. 14˘ Vor diesem Hintergrund – und dies wäre am ehesten parallel zu unserem Argument – werten die ludologischen Computerspieltheorien die Spieler als Gestalter von Handlungsräumen und nicht als Interpreten eines Textes (Eskelinen 2004, S. 38f.). 15˘ Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogene- tische Untersuchungen. Frankfurt am Main 1976 (EV.: 1939), siehe insbes. Bd. II, S. 312- 454. Elias’ Thesen, wie gesagt, sind nicht ohne Widerspruch geblieben: die pointiertes- te Gegenposition hat Hans Peter Dürr ausformuliert (ders.: Obszönität und Gewalt. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. 3. Frankfurt am Main 1993). 16˘ Elias, a. a. O., S. 312. 17˘ »Ein Teil der Spannungen und Leidenschaften, die ehemals unmittelbar im Kampf zwi- schen Mensch und Mensch zum Austrag kamen, muß nun der Mensch in sich selbst bewäl- tigen.« (Ebd., S. 330). 18˘ Ebd., S. 316f. (Erg. H. W.). 19˘ Ebd., S. 330. 20˘ Ebd., S. 321f. 21˘ Ebd., S. 322f. 22˘ »Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweck- gerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an« (Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main 1981, S. 50 (EV.: 1947)). 23˘ Huyssen, Andreas: Mass Culture as Woman. Modernism's Other. In: ders.: After the Great Divide. Modernism, Mass Culture, Postmodernism. Bloomington / Indianapolis 1986, S. 44- 62. Kurze Ketten – Handeln und Subjektkonstitution 81 Literatur Dürr, Hans Peter: Obszönität und Gewalt. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. 3. Frankfurt am Main 1993. Elias, Norbert : Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Frankfurt am Main 1976 (EV.: 1939). Eskelinen, Markku : Towards Computer Game Studies. In: Wardrip-Fruin, Noah; Harrigan, Pat (Hg.): First Person. New Media as Story, Performance, and Game. Cambridge (Mass.), Lon- don: MIT Press 2004, S. 36–44. 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Wäh- Maschinen für das Spiel zu programmieren rend heute paradigmatische Strategiespiele sind.« als populäre Unterhaltungsform innerhalb der Alan Turing, Computing Machinery and In- Computerspielindustrie aufgefasst werden kön- telligence, 1950 nen, zeigt sich in der Frühzeit der Computerent- wicklung ein ganz anderes Bild. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Geschichte des Computers in eine neue Phase eintritt, gekennzeichnet durch eine Vielzahl an neuen Entwürfen für Computerdesign, durch erste kommerzielle Rechenanlagen und durch neue Anwendungsge- biete, treten die Rechenmaschinen aus dem engen Anwendungsfeld militä- rischer Nutzung (insbesondere in der Kryptografie) allmählich heraus, in des- sen Anziehungskraft sie während des Zweiten Weltkriegs auf unterschiedliche Weise gestanden hatten. Genau zu jener Zeit lässt sich innerhalb der frühen Computerforschung ein zunehmendes Interesse am Schachspiel feststellen. Ich werde im Folgenden anhand früher Texte von Alan Turing und Claude Shan- non darstellen, in welchen Zusammenhängen das paradigmatische Strate- giespiel Schach in den frühen Jahren der Computerrevolution an Bedeutung gewann und versuchen zu skizzieren, welche Zielvorstellungen, Ideen und Wunschvorstellungen dabei erkennbar werden. Wenn in diesem Text durch- gehend vom ›Computer‹ die Rede ist, dann ist dieser Begriff nicht im heutigen Sinne zu verstehen. Der Begriff des Computers ist historisch nicht stabil, son- dern in seiner Bedeutung abhängig von dem jeweiligen Stand der Entwick- lung der Computertechnologie und ihrer sozialen und kulturellen Verwen- dung. Was jeweils als ›Computer‹ benannt und gedacht wird, ist in ständigem Fluss und dies trifft besonders auf jene Frühzeit der Computerentwicklung in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zu, als noch keine geteil- Strategiespiele und das Medium-Werden des Computers 83 ten Standards für den Aufbau der technischen Bestandteile, für die internen Funktionsweisen, für die Kopplung mit Ein- und Ausgabegeräten und für die Programmierung der Rechenmaschi- nen existierten. Die Fragestellung, die damit verfolgt wird, ließe sich im Schnittfeld von Software Studies, Game Studies und Mediengeschichte/Medienarchäo- logie situieren. Sie geht von der Voraussetzung aus, dass Computer nicht von Beginn an als Me- dium anzusehen sind, sondern erst zum Medi- um ›gemacht‹ werden. Dies geschieht in einem Abb.1: Das Innenleben des ›Schachtürken‹ langwierigen Prozess durch eine Reihe fortge- setzter Variationen, Erweiterungen und Re-Kon- zeptionalisierungen (vgl. Casey 2011). Zu einer Zeit, als weltweit nur eine handvoll funktionsfähiger elektronischer Rechenmaschinen existierten, war es weder ausgemacht, ›was‹ ein Computer ist, noch welche seiner Eigenschaften für zukünftige Entwicklungen und Nut- zungen bedeutsam sind. Es stand damals auf der Agenda, die ›Rechenknechte‹, die im Zweiten Weltkrieg ihren Dienst aufgenommen hatten, für neue Ent- wicklungsmöglichkeiten, Forschungsprojekte und Anwendungsfelder zu öff- nen. Hier bietet das Schachspiel nicht nur eine dezidierte Problemstellung für An- sätze der frühen Software-Entwicklung, sondern es ist zugleich in Argumen- tationen eingebettet, in denen es als idealisiertes Beispiel zur Formulie- rung bestimmter Problemstellungen prototypische Funktion erhält und mit Wunschvorstellungen aufgeladen wird, bezogen auf die projektierte ›Zukunft‹ des Computers. Die Perspektive der hier verfolgten Fragestellung richtet sich entsprechend also nicht allein auf eine Geschichte der Apparate und ihrer Soft- ware, sondern ebenso auf die sie begleitenden imaginären Konstellationen. Schachspiel und Computergeschichte Die Geschichte der Schachprogrammierung beginnt in vielen Darstellungen mit der Geschichte historischer Schachautomaten. Sie reicht damit mindestens zurück bis ins 18. Jahrhundert, als der ungarische Erfinder und Architekt Wolf- gang von Kempelen einen schachspielenden Automaten konstruierte, der als ›Schachtürke‹ beziehungsweise ›mechanischer Türke‹ Berühmtheit erlangte. 84 Serjoscha Wiemer Der Schachtürke war allerdings kein Gerät, das sinnvolle Schachzüge tätigen konnte, son- dern ein Trickautomat: Mithilfe ausgeklügel- ter Mechanik konnte ein im Gerät verborgener menschlicher Schachspieler die Schachzüge ei- ner türkisch gekleideten Puppe steuern. Dieser Apparat inspirierte nicht nur zahlreiche Nachah- mungen, sondern hat vermutlich auch Charles Babbage, den Erfinder der Analytical Engine, zum Entwurf eines eigenen Schachautomaten angeregt.¯1 Als Erfinder des ersten tatsäch- Abb.2: Gonzalo Torres y Quevedo führt lich funktionsfähigen Schachautomat gilt je- Norbert Wiener den Schachautomaten doch nicht Babbage, sondern der Spanier Torrès El Ajedrecista vor (1951) y Quévedo, der 1912 ein Gerät konstruierte, das in der Lage war, ein Endspiel mit Turm und Kö- nigen zu spielen.¯2 Die Programmierung von Rechnern für Schachanwendungen beginnt jedoch erst in den 1940er Jahren. Der erste Versuch eines Schachprogramms wird Kon- rad Zuse zugeschrieben. Zuse hat Schach unter anderem als eine Art ›Leis- tungstest‹ für die von ihm entwickelte Programmiersprache, das Plankalkül, aufgefasst und formulierte in dieser Sprache ein entsprechendes Programm.¯3 Alan Turings hat vermutlich bereits ab 1941 damit begonnen, Schachprogramme zu entwerfen.¯4 Der erste wissenschaftliche Artikel zur Programmierung eines Computers, um Schach zu spielen, stammt jedoch nicht von Turing, sondern von Claude Shannon. 1950 erschien sein grundlegender Aufsatz Programming a Computer for playing chess in der März-Ausgabe des Philosophical Magazine. Im gleichen Jahr veröffentlichte der britische Computerpionier Donald Davies in Penguin Science News A Theory of Chess and Noughts and Crosses, einen Arti- kel, der viele weitere Arbeiten zur Spielprogrammierung inspirierte. Zwar waren auch andere Spiele für die Öffentlichkeit und für Mathematiker, die Zugriff auf Computer hatten, von Interesse, wie frühe Spielprogramme für Dame, Nim oder Noughts-and-Crosses (ein Spiel ähnlich Tic-Tac-Toe) belegen.¯5 Unter den verschiedenen frühen Spielprogrammen nimmt das Strategiespiel Schach jedoch eine Sonderstellung ein, ihm kommt im Computerdiskurs je- ner Zeit mit Abstand die größte Aufmerksamkeit zu. Zahlreiche der angese- hensten Computerforscher widmen sich im Laufe der 1950er Jahre Problemen der Schachprogrammierung, setzen Experimente auf den damals fortschritt- lichsten Geräten in Gang und veröffentlichen dutzende Forschungsberichte und Aufsätze zu Computerschach.¯6 Unter ihnen neben Turing und Shannon Strategiespiele und das Medium-Werden des Computers 85 auch John von Neumann, Stanislaw Ulam sowie Allen Newell und Herbert Simon. Zu den bekann- testen frühen Spielprogrammen zählen Mate- in-Two von Dietrich Prinz, das 1951 auf einem Manchester Ferranti Mark I Schachprobleme vom Typ Matt in zwei Zügen berechnete, das Los Alamos Chess, von Stanislaw Ulam, Paul Stein, Mark Wells, J. Kister, W. Walden und John Pasta für den MANIAC I von 1956 sowie das 1957 von Alex Bernstein und Kollegen am MIT für einen IBM 704 programmierte Bernstein-Schach, das als das erste vollständige und funktionsfähige Schachprogramm angesehen wird.¯7 Ab Mit- te der 1960er Jahre hatten Schachprogramme dann eine Spielstärke erreicht, die sie auch ge- gen menschliche Spieler unter Turnierbedin- Abb.3: Alex Bernstein an der Konsole des gungen Erfolge zeigen ließ.¯8 IBM 704 demonstriert sein Schachprogramm (1958) Was verbindet Schach und Computer? Warum ist Schach jedoch innerhalb der frühen Computerforschung überhaupt von solchem Interesse? Warum geben sich unterschiedliche Forscher die Mühe, den Computer zum Spielen zu programmieren? Welchen Einfluss haben diese Experimente auf die Entwicklung des Computers und welche Dynamiken er- geben sich aus der Beschäftigung mit Schachprogrammierung? Diese Fragen sind gerade vor dem Hintergrund der frühen Computergeschichte bedeutsam, denn so wie zeitgenössische digitale Medien in erheblichem Maße durch eine hierarchische Zugriffsordnung gekennzeichnet sind, so war auch, wenngleich in viel größerer Rigidität, in den 1940er und 1950er Jahren der Zugriff auf Re- chenanlagen durch strenge Hierarchien geregelt. Der Zugang zu Computern war ein seltenes Privileg, und umso bemerkenswerter ist es, dass dieses Privi- leg so früh dafür genutzt wurde, dem Computer das Spielen beizubringen. Zu fragen ist insbesondere auch nach den Gründen für die privilegierte Position, die dabei dem Schachspiel zugesprochen wird. Es muss davon ausgegangen werden, dass im Strategiespiel Schach sowohl praktische als auch theoretische Vorteile gesehen wurden, die bestimmten Vorstellungen und Bedürfnissen der Computerentwickler entgegenkamen. Neben forschungslogischen Vorausset- 86 Serjoscha Wiemer zungen sind hierfür auch die kulturelle Stellung des Spiels sowie bestimmte mediale Eigenschaf- ten von Schach relevant. Claus Pias hat auf das Argument verwiesen, dass das Strategiespiel, namentlich das Schach- spiel, »immer schon die Entstehungsgeschich- te des Computers« (Pias 2000, 159) durchzogen habe. Er nimmt dabei Bezug auf einen Gedan- kengang Sybille Krämers, demzufolge der Ge- brauch des Computers »weniger in der Perspek- tive instrumenteller Nutzung und mehr am Modell des spielerischen Umgangs zu konzipie- ren sei« (Krämer 1995, 226). Pias zufolge ist die Abb.4: Begeisterung für ›Elektronengehirne‹ enge Verbindung von Schach und Computerge- in den 1950er Jahren in Deutschland schichte dadurch zu erklären, dass das Schach- spiel als ein Mittel oder eine Hilfe angesehen wird, »den Computer selbst erst zu denken« (Pias 2000, 159).¯9 Als Bekräftigung für diese These kann der Hinweis dienen, dass bereits Babbage überzeugt war, dass Schach auf seiner Analytical Engine implementierbar wäre, und dass sich schließlich im 20. Jahrhundert die promi- nentesten Figuren der Computergeschichte mit dem Strategiespiel Schach be- fassten. Die Bedeutung des Schachspiels stellt sich aus dieser Perspektive so dar, dass es historisch als Modell und als »Denkwerkzeug« für die Entwicklung des Com- puters und seiner Möglichkeiten diente. Eine solche Funktion des Schachspiels formuliert auch Konrad Zuse in seinen Erinnerungen, wenn er schreibt, er habe »nur deshalb Schach spielen gelernt«, weil er das Schachspiel für ein Modell hielt, am dem das Kalkül für seine Rechenmaschine entwickelt und erprobt werden könnte (Zuse 2010, 51). Das Bemerkenswerte an Pias' These ist, dass entgegen der herkömmlichen Auffassung, derzufolge das Schachspiel als eine der möglichen Anwendungen des Computers aufgefasst wird, die nachträglich für die Maschine program- miert werden (wie jede andere Software oder jedes andere Computerspiel), das Schachspiel dem vorangestellt als Element in der Konzeption dessen gel- ten kann, was überhaupt ein Computer ist und sein kann. Das Strategiespiel Schach käme dann nicht als Implement nachträglich zum Computer hinzu, son- dern wäre als Mittel anzusehen, den Computer überhaupt (als Medium) vor- stellbar, denkbar oder modellierbar zu machen. Es wäre beinhahe so etwas wie ein ›Geburtshelfer‹ des Mediums Computer. Strategiespiele und das Medium-Werden des Computers 87 Mediale und kulturhistorische Voraussetzungen des Compu- terschachdiskurses Auffallend ist, dass die meisten der frühen Forschungen zu Computerschach ihre Auswahl von Schach nicht mit dessen kultureller Tradition und Wertig- keit, sondern allein mit dessen internen Eigenschaften zu rechtfertigen ver- suchen: Schach sei ideal für Computerprogrammierung geeignet, da es ein einfach zu implementierendes Spiel sei, mit eindeutigen und leicht zu formali- sierenden Regeln (Ensmenger 2011, 17). Dass ein Schachbrett als einfaches Feld von 8x8 Positionen dargestellt werden kann, gilt als Beleg für seine diskrete Natur, derzufolge es besonders kompatibel mit der »digitalen Natur« moder- ner elektronischer Rechner sei (ebd.,10). Dies trifft allerdings auch auf andere Spiele wie Nim und Dame zu, die sich ebenfalls auf relative einfache Weise in- tern von Computern repräsentieren lassen. Nathan Ensmenger hat darauf hin- gewiesen, dass die inhärenten strukturellen Merkmale von Schach allein nicht ausreichen, um den Vorzug gegenüber anderen Spielen zu erklären.¯10 Er ar- gumentiert, dass es die spezifischen sozialen und materiellen Praxen sind, die kulturhistorisch mit Schach verknüpft wurden und sich um Schach herum aus- gebildet haben, die für den Erfolg von Schach als Forschungsobjekt seit den 1950er Jahren verantwortlich sind (ebd., 17f.). Das Schachspiel ist ein kulturelles Artefakt, das über Jahrhunderte mit un- terschiedlichen Zuschreibungen und Bewertungen versehen worden ist. Die »Vorstellungen, die wir im zwanzigsten Jahrhundert mit dem Schachspiel verbinden – Notwendigkeit, Regelmäßigkeit und Berechnung«, sind keines- wegs natürlich dem Spiel immanent, sondern müssen als diskursive Setzun- gen aufgefasst werden (Petschar 1986, 18). Wie Hans Petschar in seiner kul- tursemiotischen Studie zum Schachspiel gezeigt hat, entsteht die Vorstellung vom Schach als Spiel der Vernunft erst durch eine allmähliche ›Reinigung‹ des Schachspiels vom Zufälligen, Kontingenten, Akzidentellen. Ein Prozess, der sich kulturhistorisch über mehrere Jahrhunderte erstreckt. Gerade die kulturhis- torische Variabilität des Schachspiels und seiner Zuschreibungen fordert dazu auf, auch die Einbettung der spielenden Subjekte – und Programmierer – in ei- nem »größeren kulturellen Feld des Wissens und der Imagination« zu berück- sichtigen (ebd., 46). Erst nachdem es vom Zufall gereinigt war, konnte das Schachspiel allmählich in seine privilegierte Position als ›Spiel der Vernunft‹ einrücken. Dabei wird es charakteristisch auch von den Veränderungen erfasst, die den Begriff der Rationalität spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mit Ideen von Ein- deutigkeit, Berechenbarkeit und technischer Operationalität aufladen.¯11 88 Serjoscha Wiemer Als eine frühe und entscheidende medienhistorische Voraussetzungen für die Transformationsgeschichte des Schachspiels kann die Entwicklung der Schachnotation im 13. Jahrhundert angesehen werden. Die Möglichkeit, Par- tien aufzuzeichnen, zu wiederholen und zu analysieren begünstigt die Stan- dardisierung und Verbreitung der Spielregeln sowie die Aufwertung des Schachspiels innerhalb der mittelalterlichen Schriftkultur. Die Verschriftli- chung des Schachspiels in der Schachnotation arbeitet zudem einer spezifisch- en Abstraktion des Spiels und des Spielverlaufs zu. Dass Schach aufschreib- bar wird, bedeutet zugleich, dass es in eine symbolische Notation übertragen werden kann, abgelöst von konkreten Spielfeldern und Figuren – und von men- schlichen Spielern.¯12 Neben seinem Nimbus als ›rationalem‹ Spiel und der Möglichkeit der ›Übersetzung‹ von Spiel in Schrift mittels der Partiennotati- on gibt es eine Reihe weiterer kultureller, struktureller und medialer Eigen- schaften des Schachspiels, die seine Privilegierung gegenüber anderen Spie- len im frühen Computerdiskurs zu verstehen helfen. Anders als beispielsweise Go war Schach ein in der europäischen und angloamerikanischen Kultur sehr populäres und verbreitetes Spiel. Weiterhin wurde es als ein Spiel attribuiert, das strategisches Denken, intellektuelle Kreativität und Planung voraussetzte und galt als besondere intellektuelle Herausforderung. Das Schachspiel hatte darum nicht nur praktische Vorzüge aufzuweisen, die es für die Implementie- rung als Computerprogramm geeignet sein schienen, sondern hatte auch ei- nen erheblichen ›symbolischen‹ Wert. Historisch gab es in den 1950ern bereits eine enge Verbindung zwischen Schach, Mathematik und Rechenmaschinen. Viele Mathematiker, die an Com- puterschach arbeiteten, waren selbst aktive Schachspieler wie Shannon, Turing oder Richard Greenblatt. Für die Computerindustrie in den USA der 1950er und 1960er Jahre waren Schachkenntnisse Ensmenger zufolge sogar ein Faktor bei der Personalauswahl: Schachkenntnisse wurden nicht nur auf Personalbögen verzeichnet, sondern waren mitunter auch direkt Bestandteil von Eignungs- tests. Grundlage hierfür war eine enge Assoziation von Schachkenntnissen mit Programmierfähigkeiten.¯13 Auch die für die Umsetzung als Spiel auf einem Rechenautomaten notwendi- gen Formalisierungen konnten von der kulturellen Tradition des Schachspiels profitieren. So gab es bereits eine umfangreiche Literatur zur Theorie und Ge- schichte von Schach, die seine Aneignung im Computerdiskurs erleichterte. Es existierten weitgehend vereinheitlichte und untereinander vergleichbare sym- bolische Notationen für Schachpartien sowie ein System für die Bewertung von Spielstärken. In den 1950er Jahren war u.a. das Harkness-System gebräuchlich, das später durch das Elo-System abgelöst wurde.¯14 Spielstärke war damit be- Strategiespiele und das Medium-Werden des Computers 89 reits ›quantifizierbar‹. Die Bewertung von Zügen, eine wichtige Voraussetzu- ngen für entsprechende Evaluations-Funktionen in Computerschach, musste für die algorithmische Bearbeitung nicht von grundauf neu erfunden werden, sondern fand Vorläufer in einer bestehenden Schachpraxis, die ihrerseits über Methoden verfügte, um Positionen zu bewerten und Stellungen zu beurteilen (Ensmenger 2011, 18f.). Auch wenn diese Methoden, die etwa für Schachanalysen und Spieltraining zum Einsatz kamen, nicht vollständig quantifiziert waren, sind sie ein weiteres Beispiel dafür, wie die Kulturgeschichte des Schachspiels Voraussetzungen dafür schafft, dass Schach als »ideale experimentelle Tech- nologie« (ebd.) im Computerdiskurs populär und erfolgreich werden konnte. Darüber hinaus kann Schach innerhalb des Computerdiskurses nicht nur als Idealbild für die Verbindung von Rationalität und Spiel angesehen werden, son- dern kann, im Sinne einer operationalisierten Wissensformation, insbesondere als Verbindungsstelle zwischen unterschiedlichen Diskursen und Diskurstypen fungieren:¯15 Nicht zuletzt war die Beschäftigung mit Computerschach auch ein geeignetes Mittel, um öffentliche Aufmerksamkeit für Ideen der Compu- terforschung zu wecken. Schach war ein Vehikel, um in der Öffentlichkeit Inte- resse für Computer und insbesondere für die Fortschritte der Computertechno- logie und ihrer Programmierung zu gewinnen.¯16 Die kulturhistorische Sicht auf Schach ergibt ein differenziertes Bild unterschiedlicher, sich überlagernder Faktoren, die zur privilegierten Position von Schach innerhalb des Computer- diskurses beitragen. Wenn Pias als Erklärung für die be obachtbare Affinität zwischen Schach und dem Medium des Computers anführt, dass Schach »im- mer schon« mit der Entstehungsgeschichte des Computers verbunden sei, dass Schach ein Mittel sei, um den Computer »selbst erst zu denken« (Pias 2000, 159), sollte dies nicht als Folge von internen, strukturellen, mathematischen oder phi- losophischen Eigenschaften des Schachspiels aufgefasst werden. Vielmehr gilt es, die konkreten historischen und diskursiven Voraussetzungen zu bedenken, die das Schachspiel prägen und schließlich seine Attraktivität als »experimentelle Technologie« (Ensmenger 2012,6) im Schach-Computer-Diskurs stützen. Klassische Positionen des Schach-Computer-Diskurses: Tu- ring und Shannon Welche Verwendungen Schach im Computerdiskurs erfährt und wie Schach dabei im Diskurs positioniert wird, um bestimmte (Re-)Konzeptionalisie- rungen des Computers zu forcieren, soll im Folgenden an zwei Beispielen erör- tert werden. Gerade die frühen Arbeiten von Alan Turing und Claude Shannon 90 Serjoscha Wiemer zu Computerschach scheinen dafür besonders geeignet, da sie als gleichsam ›klassische‹ Positionen angesehen werden können, die den Schach-Computer- Diskurs der 50er Jahre nachhaltig prägten. In ihrem jeweiligen Zugriff auf das Schachspiel zeigen Turing und Shannon durchaus Gemeinsamkeiten, es treten aber auch charakteristische Unterschiede zutage. Es wird also darum gehen, auf welche Weise Schach bei Turing und Shannon für den Computerdiskurs aufgegriffen wird und welche spezifischen Ansätze und Leitvorstellungen im Hinblick auf das ›Medium‹ Computer dabei erkenn- bar werden. Die Begründungen dafür, warum man dem Computer Schach bei- bringen will, sind hier mindestens ebenso von Interesse wie die bloße Tatsache, dass ein Rechner zum Spielen genutzt werden soll. Die angeführten Begrün- dungen sind dabei vor allem deshalb bedenkenswert, weil damit jeweils Aus- sagen innerhalb eines Computerdiskurses getroffen werden – Aussagen, die im Kontext der rasanten Innovationsdiskurse jener Jahre auch als Positionsbe- stimmungen darüber zu verstehen sind, wie diese neuen Rechenmaschinen zu konzeptionalisieren und zu verwenden sind. Turing (1948): Zukünftige Maschinen, Probleme der Pro- grammierbarkeit und Schach als Intelligenztest Für Alan Turing ist die Idee des Schach spielenden Computers eng mit der Fra- ge nach den Möglichkeiten intelligenter Maschinen verbunden.¯17 Die Fra- ge nach ›Maschinenintelligenz‹ war in der Computerforschung der 50er und 60er Jahre Gegenstand zahlloser Veröffentlichungen. Angestoßen wurde die Diskussion dazu jedoch maßgeblich durch Turing, der die Frage »denkender Maschinen« immer wieder thematisierte. Auch wenn man, Hilary Putnam fol- gend, davon ausgeht, dass »die Idee des Geistes als eine Art Rechenmaschine zurück bis ins 17. Jahrhundert« reicht, so ist es doch Turing, durch den diese Idee eine entscheidende neue Form erhalten hat (Putnam 1996, 257). Nach Dotzler und Kittler setzt die Frage danach, ob eine Maschine denken kann, genau an dem »entscheidende[n] Unterschied« an, den Turings Entwurf einer Rechen- maschine von früheren Maschinen wie Leibniz Lebendige Rechenbanck oder Babbages Analytical Engine abhebt: der »Programmierbarkeit« (Kittler/Dotz- ler 1987, 226). Das Problem intelligenter Maschinen hatte Turing spätestens seit 1941 beschäftigt. Als er allerdings 1948 in seinem Text Intelligent Machin- ery die Frage ins Zentrum rückt, ob es möglich sei, dass Maschinen intelligen- tes Verhalten zeigen, nimmt er an entscheidender Stelle auf das Schachspiel Bezug. Bedeutsam ist zudem, dass Schach in Intelligent Machinery in einem Strategiespiele und das Medium-Werden des Computers 91 Kontext diskutiert wird, der von der Frage nach den zukünftigen Arbeitsbe- reichen der Rechenmaschinen bestimmt wird. So listet Turing, bevor er schließ- lich den Schachtest erläutert, verschiedene Aufgabenstellungen auf, die ge- eignet sein könnten, die Intelligenz der Maschine zu zeigen: »Wir stehen dann dem Problem gegenüber, angemessene Denkarbeiten [branches of thought] für die Maschine zu finden, in denen sie ihre Fähigkeiten ausüben kann«, so Turing (1948, 97). Er nennt die folgenden fünf Bereiche, die er für vielverspre- chend hält, damit Computer ihre ›Intelligenz‹ zeigen könnten: I) Spiele, II) Das Erlernen von Sprachen, III) Das Übersetzen von Sprachen, IV) Kryptografie, V) Mathematik. Auffällig ist bei dieser Auflistung, dass ausgerechnet Spiele an er- ster Stelle genannt werden. Obgleich Turing gleich mehrere Spiele beispielhaft auflistet, neben Schach sind dies Noughts-and-crosses, Bridge und Pokern, ist Schach das einzige Spiel, das in diesem Aufsatz weitere Beachtung erfährt und schließlich den Schlusspunkt von Turings Überlegungen bildet. Bemerkenswert ist dabei, auf welche Weise Turing das Schachspiel in seiner Argumentation verwendet: Es zeigt sich nämlich, dass in diesem frühen, von der medienwis- senschaftlichen Forschung bisher wenig berücksichtigten Text, das Schachspiel als Vorweg nahme des später berühmt gewordenen Turing-Tests fungiert. Die weitaus bekanntere, ›kanonische‹ Variante des Turing-Tests findet sich in Turings berühmt gewordenem Aufsatz Computing Machinery and Intelligence, der erstmals 1950 in MIND erschien. In diesem Text, der mit der Frage »Can a machine think?«, »Können Maschinen denken?« einsetzt, beschreibt Turing ein Imitationsspiel, das dazu dienen soll, die Intelligenz eines Computers in einem Spiel auf die Probe zu stellen. Diese kanonische Fassung des Turing-Tests ist als ein gender-orientiertes Frage- und Antwortspiel konzipiert: Ein Beobach- ter/Fragesteller (C) soll entscheiden, welche von zwei in einem anderen Raum befindlichen Personen (A) und (B) ein Mann bzw. eine Frau ist. Der Intelligenz- test für die Maschine besteht in dieser Version darin, dass sie die Rolle von A übernehmen soll und ihre ›Intelligenz‹ dadurch unter Beweis stellen kann, wie gut sie das Antwortverhalten eines Menschen ›imitieren‹ kann.¯18 Gelingt es dem Fragesteller nicht, die Maschine zu erkennen, ist damit deren ›intelli- gentes Verhalten‹ bewiesen. 1948 dagegen stellt Turing eine fast identische Versuchsanordnung vor. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass der Computer im Entwurf von Intelligent Machinery 1948 seine Intelligenz nicht dadurch beweist, dass er das ›Sprachspiel‹ beherrscht, und überzeugend ein menschliches Antwortverhal- ten imitiert, sondern dadurch, dass er überzeugend Schach spielt. Der Testauf- bau ist dabei weitgehend analog zur späteren Variante des Turing-Tests (1948, 112f.): Gegeben seien in diesem Experiment drei Personen A, B, C, die gegenei- 92 Serjoscha Wiemer nander Schach spielen sollen. Die Spieler befinden sich in zwei getrennten Räu- men, um Sichtkontakt auszuschließen und die Schachzüge werden auf geeig- nete Weise zwischen den getrennten Räumen übermittelt. Spieler A und C sind Schachspieler auf niedrigem Niveau, Spieler B dagegen ist ein Computer, ge- nauer gesagt eine Papiermaschine, d.h. ein Mensch in Computerfunktion, der exakt nur solche Anweisungen ausführt, die auch eine Rechenmaschine be- werkstelligen könnte. Der Testfall besteht nun darin, für Spieler C zu entschei- den, ob er in dem anderen Raum gegen einen Menschen (Person A) oder gegen die Papiermaschine spielt. Turing berichtet, er selbst habe diese idealisierte Experiment durchgeführt und stellt als Effekt dieser Versuchsanordnung nicht nur heraus, dass es für C schwierig sein kann, zwischen Mensch und Maschine zu unterscheiden, son- dern betont zudem deren emotionale Wirkung: Man erlebe das Gefühl, gegen etwas oder jemanden ›Lebendiges‹ zu spielen.¯19 Mit der Erfahrung von intel- ligentem Verhalten kann also die eher ›intuitive‹ Erfahrung von Lebendigkeit einhergehen, wenn man Turings Schilderung an diesem Punkt folgt. Fasst man die Rolle des Strategiespiels Schach in Intelligent Machinery zusam- men, lassen sich mindestens drei unterschiedliche Funktionen erkennen: 1. Das Schachspiel ist zentraler Bestandteil einer Argumentation, die sich mit der Frage nach intelligenten Maschinen und mit der Zukunft des Computers befasst. 2. Spiele, und privilegiert Schach, werden als geeigneter Anwendungsbereich gesetzt, im dem Computer ihre Denkfähigkeit erkennbar ausüben können. Ob- wohl bestehende Maschinen noch nicht in der Lage sind, geeignete Schach- programme auszuführen, kann ein solches Programm für Papiermaschinen entworfen und getestet werden. Die Programmierung der Maschine setzt sich dabei von der existierenden ›Hardware‹ ab. 3. Schach wird als Testfall oder Prüfanwendung für einen Intelligenztest re- spektive ein Imitationsspiel genommen. Die mögliche Ununterscheidbarkeit zwischen menschlichem Gegenspieler und Papiermaschine wird hier zum Prüf- stein für Maschinenintelligenz – und weitergehend für die gefühlte ›Lebendig- keit‹ im Austausch mit einer (Papier-)Maschine. Strategiespiele und das Medium-Werden des Computers 93 Mechanischer Geist und reale Hardware Dass Turing sich so intensiv mit dem Motiv der ›denkenden Maschine‹ aus- einandersetzte, wird insbesondere vor dem Hintergrund seiner bahnbre- chenden theoretischen Arbeiten zur ›Universalmaschine‹ plausibel. Deren prinzipielle Funktionsweise beruht darauf, Berechnungen in einfachste Schrit- te zu zerlegen und damit geistige Arbeit zu ›mechanisieren‹. Mit Bettina Heintz lässt sich Turings Konzept einer algorithmischen Maschine im »Rahmen der Ra- tionalisierungsbewegung« des frühen 20. Jahrhunderts verstehen: »Turing hat auf mentale Prozesse übertragen, was Taylor und Ford noch auf körperliche Bewe- gungen beschränkt hatten. […] Komplexe mentale Prozesse werden in einfache Grundoperati- onen zerlegt, in mentale Handgriffe sozusagen und dann gemäß der algorithmischen Vorschrift sequentiell aneinandergereiht. Das Fließband im Gehirn. [...] Turing hat den Taylorismus zu Ende gedacht – alles läßt sich aufspalten und anschließend mechanisieren. Nicht bloß Bewegungen, auch das Denken.« (Heintz 1993, 172-174). Computer konnten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs Operationen ausfüh- ren, die zuvor nur durch menschliche Mathematiker(innen) geleistet werden konnten. Was ein Rechenautomat tat, war insbesondere in seiner Verwen- dung für numerische Aufgaben wie die Berechnung von Tabellen für die Bal- listik direkt vergleichbar der Tätigkeit der »Computer«, jenen zumeist weib- lichen Mathematiker(innen), die für wichtige Berechnungen zuständig waren und dabei Tischrechner, Tabellen und Stift und Papier zuhilfe nahmen. Insbe- sondere für die umfangreichen Berechnungen der Luftwaffe wurden solche Mathematiker(innen) in großer Zahl beschäftigt (vgl. Hagen 1994, 139f.). Was ein Rechenautomat tat, war beschreibbar als eine Abarbeitung einzelner Ar- beitsschritte, die wohldefiniert waren und darum auch insofern ›geistig‹, als sie ein Äquivalent zur geistigen Arbeit der menschlichen ›Computer‹ darstell- ten. Wenn Intelligenz zum »Service« wird, »der von Intellektuellen auf Maschinen übergeht«, wie Bernhard Dotzler und Friedrich Kittler zugespitzt formulieren (Kittler/Dotzler 1987, 211), wirft dies in der Folge die Frage auf, ob Maschinen nun »denken« können. Unterscheidet sich das Denken der Maschinen dann noch von dem menschlichen Denken? Wie lässt sich die Reichweite des maschi- nellen Denkens bestimmen und wo findet es eine Grenze? Turing greift das Schachspiel heraus, um im Rahmen einer Liste zukünftiger Forschungsfelder genau diese Fragestellung und damit die Möglichkeiten maschineller Intelli- genz zu diskutieren. Schach wird zum Bestandteil einer Testanordnung, in der 94 Serjoscha Wiemer die Unterscheidbarkeit von menschlicher und maschineller Intelligenz zur Dis- position gestellt wird. Als Turing 1947 seine Überlegungen zu denkenden Maschinen niederschrieb, gab es noch keine ernsthaft funktionsfähigen Schachprogramme. Das Com- puterschach stand noch am Anfang, sowohl Unzulänglichkeiten der Hardware, vor allem fehlende Speicherkapazitäten, als auch ungelöste Probleme der Pro- grammierung setzten dem Projekt noch enge Grenzen. Einerseits waren die nötigen Berechnungen noch zu langsam in der maschinellen Ausführung, so dass die Suchtiefe, um Stellungen zu analysieren und geeignete Züge zu fin- den nicht ausreicht, andererseits war die Programmierung des Computers zu umständlich, wenn sie überhaupt möglich war. Turing konzipierte sein anvi- siertes Schachprogramm darum auch nicht für damals existierende Rechen- maschinen, sondern für eine ›Papiermaschine‹, d.h. für die Berechnung mit Stift und Papier. Als Problem der Programmierung war Schach den damals exis- tierenden Maschinen um Jahre voraus. Genau deshalb schien es aber auch ge- eignet, die zukünftigen Möglichkeiten und Herausforderungen des Computers auszuloten. Der schachspielende Rechner bei Shannon Nur wenige Jahre nach Turings Überlegungen zur Zukunft intelligenter Ma- schinen veröffentlicht Claude Shannon im März 1950 seinen später berühmten Artikel Programming a computer for playing chess. Es ist die erste theoretische Arbeit, in der dezidiert die Problematik der Schachspielprogrammierung ins Zentrum gestellt wird. Shannon war nicht nur ein herausragender Mathematiker und Informations- theoretiker, dem zugeschrieben wird, »die erste Computerspielkonsole und die ersten portablen Computerspiele« entwickelt zu haben (Roch 2009, 24),¯20 sondern auch ein passionierter Schachspieler, der 1949 mit Caissac einen der ersten Schachrechner überhaupt konstruierte. Shannons intensive Beschäf- tigung mit unterschiedlichen Spielmaschinen weist darauf hin, dass für ihn dem Spielen selbst ein eigenständiger Wert zukommt. Seine Spielapparate sind nicht nur als bloße Demonstrationsobjekte für technische Machbarkeit zu verstehen, sondern eröffnen alternative Zugänge und einen spielerischen Umgang mit Technik. In seiner grundlegenden Arbeit zu Computerschach geht es allerdings nicht um Spielen als ›play‹, sondern, streng zweckorientiert, um die Etablierung von Schach als Modellfall für die Programmierbarkeit von Com- putern.¯21 Mit Blick auf die Möglichkeiten der modernen »general purpose Strategiespiele und das Medium-Werden des Computers 95 computer« formuliert Shannon das Ziel, neue Anwendungsmöglichkeiten des Computers zu erschließen, die über die »gewöhnliche Nutzung« für nume- rische Berechnungen in mehrfacher Hinsicht hinausgehen. (»extension over the ordinary use of numerical computers in several ways«) (Shannon 1950, 637). Seine wegweisende Idee besteht darin, das Schachspiel als Ausgangspunkt für weitere Grundlagenforschungen zu setzen. Er nennt mehrere Gründe, warum Schach ein »idealer« Ausgangspunkt sei, um die neuen Herausforderungen programmierbarer Computer anzugehen: »1) Das Problem ist deutlich definiert, hinsichtlich der erlaubten Operationen (Züge) und im Ziel (Schachmatt); 2) Die Problemstellung ist weder zu einfach, um trivial zu sein, noch zu schwie- rig, um eine zufriedenstellende Lösung finden zu können; 3) Schach wird gemeinhin als ein Spiel aufgefasst, das ›Denken‹ erfordert, um gekonnt zu spielen; eine Lösung der Problemstel- lung zwingt uns entweder dazu, die Möglichkeit ›mechanisierten Denkens‹ anzuerkennen oder unser Konzept von ›Denken‹ weiter einzuschränken; 4) Die diskrete Struktur des Schachspiels passt hervorragend zur digitalen Verfasstheit (›digital nature‹) moderner Computer.« (ebd., 638, dt. d. Verf.). Obwohl Schachprogrammen kein direkt praktischer Nutzen zu attestieren sei, können die in ihnen enthaltenen Aufgabenstellungen Shannon zufolge als mo- dellhaft für allgemeinere logische Probleme, für den Entwurf von unterschied- lichen Algorithmen oder für neue Programmiertechniken gelten (ebd. 637). Schach wird von ihm in dieser Hinsicht konsequent als Programmierproblem begriffen. Als solches erfordert Schach, eine Strategie zu finden und diese in Al- gorithmen zu übersetzten. Dabei wird die Idee einer ›Strategie‹ in zweifacher Weise von Shannon in seiner Argumentation verwendet. Für die erste Bedeu- tung steht folgende Formulierung: »A strategy for chess may be described as a process for choosing a move in any given situation.« (ebd., 641). Dieser Begriff von Strategie ähnelt demjenigen, den von Neumann und Morgenstern 1944 in ihrer mathematisch-ökonomischen Spieltheorie einführten: »Imagine now that each player [...] instead of making each decision as the necessity for it arises, makes up his mind in advance for all possible contingencies; i.e. that the player begins to play with a complete plan: a plan which specifies what choices he will make in every possible situa- tion, for every possible actual information which he may possess at that moment in conformity with the pattern of information which the rules of the game provide him for that case. We call such a plan strategy« (von Neumann/Morgenstern 1990, 79). Trotz der Ähnlichkeit zu diesem spieltheoretischen Strategiekonzept ist bei Shannon eine wesentliche Abwandlung erkennbar: Während die mathema- tische Spieltheorie Strategie als einen vorab kalkulierten »vollständigen Plan« 96 Serjoscha Wiemer definiert, der jede mögliche Situation bereits umfasst, verschiebt Shannon den Schwerpunkt auf den Prozess der Auswahl eines Zuges in jeder gegebenen Situ- ation. Statt eines vorab feststehenden Plans wird die Strategie an Situationen gebunden und Entscheidungen werden prozessual konzipiert. Weil der Auswahlprozess geeigneter Spielzüge durch einen Computer getätigt werden soll, impliziert Shannons Begriff von Strategie zugleich Bedingungen der Programmierbarkeit, d.h. die algorithmische Formulierung dieses Aus- wahl- respektive Entscheidungsprozesses sowie dessen Übersetzung in pro- grammierbare Funktionen. Entsprechend unterteilt Shannon die Aufgabe der Schachprogrammierung in drei Elemente: »The problem of setting up a computer for playing chess can be divided into three parts: first, a code must be chosen, so that chess positions and the chess pieces can be represented as num- bers; second, a strategy must be found for choosing the moves to be made; and third, this strat- egy must be translated into a sequence of elementary computer orders, or a programm.« (Shan- non 1950b, 659). Was Shannon hier beschreibt, klingt aus heutiger Sicht selbstverständlich und scheint kaum der Erwähnung wert. Vor dem Hintergrund der frühen 1950er Jahre geht es hier aber genau darum, ein neues Paradigma zu formulieren, das konsequent auf Programmierung abzielt. Darum führt Shannon mit der Re- Formulierung der Aufgabenstellung als Programmieraufgabe zugleich auch ei- nen zweiten, komplementären Begriff von Strategie ein: Die Schachprogram- mierung erfordert strategische Entscheidungen für das Programmdesign, weil festgelegt werden muss, auf welche Weise der Computer eine Auswahl zwi- schen möglichen Zügen im Spielverlauf treffen soll. Diese Lösungsstrategien zu wählen und auszuarbeiten obliegt dem Programmierer / der Programmiererin. Programmierstrategien Typ A / Typ B Die Einsicht in die Unmöglichkeit, alle möglichen Kombinationen oder theo- retischen Zugfolgen in allen Varianten zu berechnen, bildet dabei den Aus- gangspunkt für Shannons Analyse von Programmierstrategien: Geht man von einem durchschnittlichen Spiel mit etwa 40 Zügen aus, und legt dem eine durchschnittliche Zahl von rund 103 möglichen Zugvarianten (legalen Zügen) pro Zug zu Grunde, ergibt sich eine Zahl von 10120 möglichen Spielzügen pro Partie. Shannon führt diese Rechnung explizit vor, um zu unterstreichen, dass sich mit dem bloßen Durchrechnen von Zugvarianten kein funktionierendes Schachprogramm schreiben lässt. »Eine Maschine«, so Shannon, »die mit ei- Strategiespiele und das Medium-Werden des Computers 97 ner Geschwindigkeit von einer Mikrosekunde pro Zugvariante rechnen wür- de, bräuchte mehr als 1090 Jahre, um den ersten Zug zu berechnen!« (Shannon 1950, 641, dt. d. Verf.). Schachprogramme benötigen darum notwendig eigen- ständige Routinen zur Auswahl und Bewertung von Zügen. Alle möglichen le- galen Züge vorab zu berechnen ist schlicht unmöglich. Shannon zeigt schließlich in seiner Untersuchung zwei gegenläufige Typen von Strategien auf, die er schlicht als »Typ A« und »Typ B« bezeichnet. Eine Typ A Strategie zielt darauf, alle möglichen Zugfolgen bis zu einer bestimmten Suchtiefe zu berechnen und mittels einer Formel zur Bewertung der Züge zu evaluieren. Sie ähnelt einem Brute-Force-Ansatz, der zentral auf die Rechen- geschwindigkeit des Computers setzt, um geeignete Züge zu finden. Der da- zugehörige Algorithmus wird als Minimax-Algorithmus bezeichnet und bildet in verschiedenen Varianten bis heute den Kern von spielenden Programmen, insbesondere Computerschach (Ensmenger 2011). Als entscheidende Schwäche des Minimax-Algorithmus und der Typ A Strategie erkennt Shannon, dass es extrem ineffektiv wäre, alle möglichen Zugvarianten bis zu einer festgelegten Suchtiefe zu berechnen und zu bewerten, ohne zwischen vielversprechenden und sinnlosen Varianten zu unterscheiden. Eine Typ B Strategie soll demge- genüber zwei wesentliche Verbesserungen anstreben. Aus der Spielpraxis von menschlichen Schachmeistern sei bekannt, dass sie Zugvarianten nur extrem selektiv berücksichtigen. Entsprechend sollte eine Typ B Strategie einen Aus- wahlmechanismus beinhalten, der starke Varianten von schwächeren unter- scheiden kann und nur geeignete Zugvarianten weiterverfolgt. Dadurch wird für vorteilversprechende Situationen zugleich eine größere Suchtiefe ermög- licht. Zudem müsste ein Prozess (Algorithmus) gefunden werden, um quasi- stabile Positionen auf dem Brett zu erkennen, und gezielt nach starken Fort- setzungen zu suchen. Statt alle Züge wahllos zu evaluieren, müssten taktische Analysen einer Position durchgeführt und der Maschine ein stärker selektives Verhalten implementiert werden.¯22 Obwohl Shannon selbst recht deutlich zu erkennen gibt, dass er die Typ B Strategie für vielversprechender hält, ist der Minimax-Algorithmus historisch ungleich einflussreicher für die Entwicklung von Schachprogrammen geworden. Nathan Ensmenger führt dies darauf zu- rück, dass der »mimetische« Ansatz der Typ B Strategie (Ensmenger, 11), der sich an einer menschlichen Spielweise orientiert, größere Probleme in der Formali- sierung aufwarf. Nötig wären komplexe Modelle menschlicher Entscheidungs- prozesse, auf deren Grundlage dann überhaupt erst programmiertechnische Nachbildungen dazugehöriger kognitiver Prozesse erarbeitet werden könnten. Demgegenüber hat die Typ A Strategie den Vorteil, dass sie sich vergleichswei- se einfach formalisieren lässt und dass sich darüber hinaus die Zugberech- 98 Serjoscha Wiemer nungen und -evaluationen proportional zur Rechengeschwindigkeit des Com- puters steigern lassen. Ein Zuwachs an Spielstärke kann relativ einfach bereits dadurch erreicht werden, dass der Minimax-Algorithmus auf schnellerer Hard- ware läuft (vgl. Ensmenger, 12).¯23 Zwischen Geist und Software Betrachtet man die frühen Ansätze von Turing und Shannon im Vergleich, zeigt sich, dass bei beiden das Strategiespiel Schach dazu dient, zukünftige Mög- lichkeiten und Anwendungsfelder des Computers zu thematisieren. Gerade in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Differenz zwischen den denkbaren Möglichkeiten und tatsächlichen Realisierungen eines ›gener- al purpose‹ Computers sehr deutlich gesehen und gerade deshalb zum For- schungsprojekt erhoben. Turing und Shannon waren entscheidend an der Entwicklung der ersten ein- satzfähigen Rechenautomaten im Zweiten Weltkrieg beteiligt und unmittel- bar mit deren Möglichkeiten und Limitierungen vertraut. Während des Krieg- es waren die Aufgabenfelder der Rechner und auch ihr grundlegendes Design auf militärische Anwendungen beschränkt. Shannon wie Turing waren jed- och überzeugt, dass Computer für andere Aufgaben als Kryptoanalyse oder die Berechnung ballistischer Tabellen zu verwenden seien. Ihre jeweiligen Be- iträge zu intelligenten Maschinen und zur Programmierung von Computer- schach sind darum auch Bestandteil eines Innovationsdiskurses und Teil der Transformationsgeschichte des Computers von militärischen zu zivilen Nutzu- ngen, vom Rechenautomaten zum ›Universalrechner‹ und schließlich, weiter gefasst, zum Computer als ›Medium‹. In seiner theoretischen Konzeption als universelle Turingmaschine ist der Computer eine programmierbare Maschi- ne, die in der Lage ist, alle denkbaren Maschinen als ›Programm‹ zu implemen- tieren oder zu simulieren. Auch alle denkbaren Schachprogramme sind somit zumindest theoretisch in der Turingmaschine bereits angelegt. Diese theore- tische Idee ist jedoch in der Praxis mit zahlreichen Schwierigkeiten und Un- zulänglichkeiten konfrontiert, die der Programmierbarkeit Grenzen setzen. Nicht ohne Grund mussten Turing und David Champernowne ihre Entwürfe für Schachprogramme Ende der 1940er Jahre von Hand berechnen und Turing selbst dabei als »Papiermaschine« fungieren. Turing wie Shannon geht es in den vorgestellten Arbeiten darum, Perspektiven für den Fortschritt der Computerentwicklung aufzuzeigen. Bemerkenswert ist, dass dabei einem ›Spiel‹ ein solch herausgehobener Stellenwert zukommt. Strategiespiele und das Medium-Werden des Computers 99 Dass es ausgerechnet das prototypische Strategiespiel Schach ist, ist dabei kein Zufall. Seine kulturelle Bedeutung als Strategiespiel macht einen wesentlichen Teil seiner Attraktivität aus: Schachspielen kann vor dem Hintergrund seiner kulturellen Attribuierung als Entsprechung für ›Denken‹ herangezogen wer- den, eng verknüpft mit einer spezifischen Vorstellung von Rationalität, ausge- stattet mit Herausforderungen zur Problemanalyse, zur Bewertung von Situa- tion und dem Treffen von Entscheidungen. Darüber hinaus kann die Fokussierung auf das Strategiespiel Schach in ge- wissem Sinne als Gamification von weiterreichenden Forschungsprojekten an- gesehen werden. Es geht im Computerschach-Diskurs der frühen Jahre weni- ger darum, dass man mit oder gegen die Maschine ›spielen‹ will, also weniger um Vergnügen oder um eine Ludifizierung des Rechners, als darum Perspekti- ven für Grundlagenforschung zu formulieren.¯24 Schach wird bei Turing eben- so wie bei Shannon als Testfall und Probe für Fortschritte in der Computerent- wicklung konzipiert. Trotz zahlreicher Gemeinsamkeiten markieren die Ansätze von Turing und Schach auch gegenläufige Pole des Computerdiskurses. Turings Interesse an der Möglichkeit ›denkender Maschinen‹ und einer ›Mechanisierung‹ des Den- kens wird später von der Künstlichen-Intelligenz-Forschung aufgegriffen und zu einem ihrer Hauptanliegen. Die Frage denkender Maschinen, exemplarisch verdichtet in der Idee des schachspielenden Computers, fungiert darüber hi- naus als Schnittpunkt zwischen philosophischen, computerwissenschaftlichen und populären Diskursen (vgl. Ensmenger 2011; Sprague 1972). Dies wird insbe- sondere vor dem Hintergrund der 1950er und 1960er Jahre virulent, als Com- puter im öffentlichen Verständnis noch als ›Giant Brains‹ und ›Elektronenge- hirne‹ galten. Wenn Schach ein Mittel ist, um den Computer selbst zu denken, so ist es für Turing ein Mittel, um den Rechner als »denkende Maschine« zu begreifen. Bei Shannon dagegen geht es um eine andere Fragestellung. Er setzt das Schach- spiel als Teil von Grundlagenforschung, weil es in der Programmierung be- stimmte Lösungsstrategien erzwingt, die mit den praktischen Grenzen von ›number crushing‹ zu tun haben. Schachprogramme lassen sich, das exempli- fiziert die berühmte Shannon-Zahl 10120, nicht durch bloße Maximierung von Rechenleistungen zu erfolgreichem Spiel bringen. In Absetzung vom numerischen Rechnen visiert Shannon eine ›höhere‹ Form von Denken an, als sie in der maschinellen Abarbeitung von eindeutig präskribier- ten Algorithmen gegeben ist. Entscheidend für die Frage nach dem Zusammen- hang von Strategiespiel und dem Computer als ›Medium‹ ist dabei, dass Shan- non die Programmierung von Spielen ins Zentrum von Grundlagenforschung 100 Serjoscha Wiemer rückt. Insbesondere »Entscheidungsfähigkeit« (»something of the nature of judgment«) soll ›komputierbar‹ werden. Konkret geht es um eine Weiterentwicklung in der ›Kunst‹ der Pro- grammierung angesichts der Herausforderung von Komplexität: »The engineers construct ma- chines, and the mathematicians write the pro- grams to use them.[…] Now let us take a look at the type of research the mathematicians are do- Abb.5: Programmierarbeit am ENIAC (1942- ing to improve the scope and use of computing 1955) - durch Neuverkabelung. machines.« (Shannon 1953, 692). Shannons Artikel zur Programmierung von Computerschach ist dahingehend wegweisend, dass hier erstmals eine Pro- grammierlösung – eine Software – als Probestein für die Computerentwick- lung vorgestellt wird und eben nicht in erster Linie eine Verbesserung der durch Hardware zu erreichenden Rechengeschwindigkeit oder Speicherkapazi- täten.¯25 Schach als Strategiespiel bietet eine Problemstellung, die sich nicht auf »Rechnen« reduzieren lässt, und darum anspruchsvolle ›Strategien‹ der Programmierung erfordert. Als Shannon 1950 seinen Artikel zu Computerschach veröffentlicht, setzt er das Wort »program« noch in Anführungszeichen. Bis Mitte der 1950er Jahre hatte sich der Begriff ›program‹ noch nicht in seiner heutigen Bedeutung etabliert (Chun 2008, 224f.). Frühe Rechenmaschinen mussten zumeist durch Neuver- kabelung oder über Schalttafeln jeweils für einzelne Aufgaben konfiguriert werden. Auch bei Rechnern mit Programmspeicher (›stored-program computer‹) war die Programmierung zunächst noch nicht integrierter Teil der Computerhard- ware, sondern eine Aufgabe, für die eigene Maschinen (Programmierkonso- len) erforderlich waren (Ceruzzi 2003). Die Formulierung von Programmen in Maschinencode war umständlich und eine Übertragung auf andere Hard- ware oft nicht möglich. Erst im Laufe der 1950er Jahre wurden nach und nach die ersten Compiler¯26 und schließlich höhere Programmiersprachen entwi- ckelt,¯27 um gezielt das Programmieren für unterschiedliche Anwendungs- felder zu erleichtern. Die Herausforderungen, die Shannon am Beispiel von Computerschach auf- zeigt (Symbolverarbeitung, Problemlösen, Such-Algorithmen, Entschei- dungsfindung) sind derart anspruchsvoll, dass sie unmittelbar von höheren Programmiersprachen profitieren. Schachprogramme sind somit auch als ›Ge- burtshelfer‹ für neue Ansätze zur Entwicklung von Programmdesign, Program- Strategiespiele und das Medium-Werden des Computers 101 mierstilen und ›Strategien‹ der Programmie- rung zu verstehen, und schließlich nicht zuletzt von Programmiersprachen selbst.¯28 ...mehr als nur ein Spiel Als paradigmatisches ›Spiel des Computers‹ in den 1950er Jahren war das Strategiespiel Schach viel mehr als ›nur‹ ein Spiel. Es wurde zum wich- Abb.6: Anspruchsvolle Programmierarbeit: tigen Bestandteil eines Innovationsdiskurses, Joneal Williams-Daw an der Programmier- der Programmierbarkeit mit der Idee ›denkend- konsole des UNIVAC (ab 1951), des ersten er Maschinen‹ verband. Probleme von Voraus- kommerziellen Computers der sicht, Planung, Entscheidungshandeln, Pro- Firma Remington Rand grammierbarkeit und der Mechanisierung von ›Denken‹ wurden als Herausforderungen konz- ipiert, an denen sich der Fortschritt der Com- puterentwicklung messen lassen sollte. Das Strategiespiel Schach wurde dabei über unterschiedliche Denk- und Argumentationsfiguren auf komplexe Weise mit Fortschritts- und Innovationsdiskursen der Computerforschung verknüpft. Es ist somit Teil eines ›Projektgeschichte‹ des Computers, in welcher der ›num- ber crasher‹ zur symbolverarbeitenden Maschine werden sollte – eine not- wendige Voraussetzung und unhintergehbarer Zwischenschritt auf dem Weg vom Rechenautomaten zum ›Medium‹. Es nimmt dabei insofern eine entschei- dende Stelle im frühen Computerdiskurs ein, als es eine zentrale Funktion für die Diskussion von Programmieransätzen und für die Re-Konzeption des ›Re- chenautomaten‹ als programmierbare Maschine erhält. Als Problemstellung, Modellfall und rhetorische Trope im Diskurs der Computerforschung nach dem Zweiten Weltkrieg markiert Schach nicht weniger als den Beginn von ›Soft- ware‹.¯29 Aus medienhistorischer Sicht ist der Weg vom Rechenautomaten zum ›Medi- um‹ keine bloße Frage von Rechengeschwindigkeit und verfügbarem Speicher, sondern umfasst mindestens auch die Geschichte von Compilern, Program- miersprachen, Programmiertechniken, Ein- und Ausgabegeräten, erweiterten Anwendungsszenarien und fortgesetzter Forschung. Die Pointe von Schach in der frühen Computergeschichte besteht schließlich genau nicht darin, der Ma- schine ein bestimmtes Spiel beizubringen oder einen Vorläufer späterer Soft- ware-Spiele auf einem rechnenden Automaten zu implementieren, sondern es geht um eine Forschungs- und Entwicklungsarbeit, bei der Schach elemen- 102 Serjoscha Wiemer tarer Bestandteil der Weiterentwicklung und Re-Konzeption eines Computers im Werden ist. Anmerkungen 01˘ Vgl. für einen Überblick zu den Schachautomaten Ensmenger (2011, 8-12). Babbage (1864, 467) berichtete später, dass er auch für die niemals fertig gestellte Analytical Engine Ideen für ein Schachprogramm ausgearbeitet habe. 02˘ Eine spätere Version des elektromechanischen Geräts von 1914 ist noch heute funktions- fähig (Randell 1982, 333). 03˘ Allerdings wurde das Plankalkül erst in den 1970er Jahren implementiert, so dass Zuses Programm nur »theoretisch« lauffähig sein konnte. Vgl. Wikipedia (2013): Schachprogramm sowie Rojas (o.J.). 04˘ 1948 erwähnt er in einem Bericht an das National Physical Laboratory seine Erfahrung im Spiel gegen die ›Papiermaschine‹. Vgl. dazu Turings Schlussanmerkung in Turing (1948). Gemeinsam mit dem Ökonom und Mathematiker David Champernowne hatte Turing eini- ge Schachroutinen unter dem Namen Turochamp zusammengestellt. Die erste überlieferte Partie von Turochamp, von Hand berechnet, fand im Jahr 1952 statt, eine Partie gegen Alick Glennie aus Manchester. Glennie wird später der Verdienst zugeschrieben, 1952 für den Mark 1 einen der ersten Compiler geschrieben zu haben, ein vereinfachtes »Codesystem« namens Autocode, ein Vorläufer späterer höhere Programmiersprachen. 05˘ So hatte der britische Computerforscher Christopher Strachey bereits 1952 den Code für ein funktionsfähiges Dame-Spielpgrogramm auf dem Ferranti Mark I geschrieben und erfolgreich getestet. Anfang der 1950er begeisterte eine von Ferranti gebaute Nimrod- Maschine auf internationalen Ausstellungen das Publikum. Zwar war der Nimrod kein uni- versell programmierbarer Rechner, sondern eine ein speziell für das Spiel Nim gebauter Röhrenrechner, gleichwohl konnte Nimrod publikumswirksam für die Fähigkeiten der neu- en »Elektronengehirne« werben. Vgl. zu Nimrod auch Turing (1953) sowie heise (o.J.). 06˘ Für eine (anglo-amerikanisch geprägte) Übersicht zur Computerschach-Literatur der er- sten Jahrzehnte vgl. Marsland (1979). 07˘ »We want to report here what we believe is the first satisfactory program - one with which the machine plays a game sophisticated enough so that its opponent has to be some- thing more than a novice to beat it«, so Bernstein und Roberts (1958) in ihrer Beschreibung des Spiels. 08˘ Als wegweisend für diese neue Spielstärke gilt das 1966/67 am MIT entwickelte Mac Hack, programmiert von Richard Greenblatt und Kollegen auf einem DEC PDP-6. Strategiespiele und das Medium-Werden des Computers 103 09˘ Pias formuliert diese These sehr direkt: »Daß sich Babbage, Zuse, Shannon, Turing oder Wiener mit dem Schachspiel beschäftigt haben, ist nicht Zufall oder nachträgliche ›Benutzung‹ des Computers zu Spielzwecken, sondern eine Hilfe, den Computer selbst erst zu denken« (Pias 2000, 159). 10˘ In der Computerforschung wird heute auch vermehrt das Spiel Go als interessanteres Forschungsobjekt und Alternative zu Schach angesehen. 11˘ Für die Auffassung von Schach als einem Ideal von Rationalität folgend, im Unterschied zu anderen Auffassungen von Schach als Kunstform, ästhetisches Spiel oder als ›Sport‹ vgl. aus philosophischer Sicht Siitonen/Pihlström (1998). 12˘ Vgl. zur Schachnotation als medientechnische Revolution des Schachspiels und ihre Folgen weiterführend Wiemer (2008). 13˘ Vgl. zu diesem Argument Ensmenger (2011, 18) sowie weiterführend Ensmenger (2010). 14˘ Das Harkness-System, entwickelt von Kenneth Harkness, wurde 1956 veröffentlicht. Es war vor diesem Zeitpunkt jedoch bereits praktisch im Gebrauch und wurde u.a. vom ameri- kanischen Schachverband USCF spätestens seit 1950 verwendet. Es ist ebenso wie das seit ca. 1960 gebräuchliche Elo-System ein Verfahren, um die Spielstärke von Schachspielern in einem Punktesystem zu bewerten und dadurch Ranglisten erstellen zu können. Das System der Punktvergabe basiert auf der Teilnahme und dem Spielerfolg in Turnierwettkämpfen. 15˘ Vgl. für Schach als »operationalisierte Wissensformation« Wiemer (2008, 144ff.). Rolf Nohr hat mehrfach zeigen können, wie Spiele als Übergangsobjekte zwischen unterschiedlichen Diskursformationen funktional werden. Vgl. hierzu weiterführend das Modell von Spiel als »Interspezialdiskurs« im Rahmen eines diskursanalytischen Ansatzes in Nohr (2008). 16˘ Einen Eindruck davon, wie groß ein solches Interesse bereits Anfang der 1950er Jahre war, gibt die Darstellung von Richard Sprague. Sprague (1972) schildert das immense öffent- liche Interesse, das aus einer missverständlichen Äußerung entsprang, die er 1951 bei der Präsentation des CRC 102 tätigte. Ein Journalist zitierte ihn fälschlich mit der Aussage, der neue Computer sei in der Lage Schach zu spielen und dabei jeden menschlichen Gegner zu besiegen. Die Zeitungsmeldung eines kleineren Blatts an der Westküste führte zu zahl- reichen Anfragen von Journalisten, zu Berichterstattungen in überregionalen Medien, zu ei- ner Einladung zum öffentlichen Schachwettkampf, den das Life Magazin ausrichten wollte und schließlich zu einem Angebot, den Computer in der Dean Martin und Jerry Lewis Show in einem Schaukampf gegen Jerry Lewis antreten zu lassen. Dieses immense öffentliche Interesse bezog sich dabei stets auf die vermeintlichen Schach-Fähigkeiten der Maschine. Ab Mitte der 1960er Jahre wurde die Popularität von Computerschach immer wieder öffent- lichkeitswirksam als Kampf Mensch-Gegen Maschine inszeniert, bis hin zu dem berühmten Zweikampf Garry Kapsarow gegen Deep Blue in den 1990er Jahren. 17˘ Der Aufsatz wurde im Herbst 1947 abgefasst und war zunächst nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Er wurde 1948 als Bericht an das National Physical Laboratory übersendet. Vgl. [http://www.alanturing.net/intelligent_machinery/] Erstmals veröffentlicht wurde der 104 Serjoscha Wiemer Text schließlich 1968/69, mehr als ein Jahrzehnt nach Turings Tod. Auf Deutsch erschien der Text in Kittler/Dotzler (1987). 18˘ Dass bei dieser Versuchsanordnung die Geschlechteraufteilung den Intelligenztest der Maschine ›überlagert‹, dass es sich also zugleich um einen »gender-switching« Test han- delt, ist eine interessante Pointe dieser Versuchsanordnung. Bettina Heintz hat heraus- gestellt, dass die im Imitationsspiel aufgeworfene Frage der Geschlechterdifferenz lan- ge Zeit übergangen oder »als exzentrisches Vorspiel« abgetan wurde. Sie hat zugleich die verzwickte Doppelbödigkeit der Aufgabenstellung des Spiels deutlich auf den Punkt gebracht. Das »Geschlechterspiel« als Identitätsspiel wird nämlich durch das von Turing vorgeschlagene Verfahren selbst fragwürdig und destabilisiert: »Anhand der Antworten hat der Fragesteller herauszufinden, wer von den beiden ein Mann ist und wer eine Frau. Was aber passiert, wenn er sich irrt? Wenn er den Mann für eine Frau hält? Ist ein Mann, der für eine Frau gehalten wird, immer noch ein Mann? Oder ist er eine Frau? Oder et- was Drittes?« Vgl. Heintz (1993, 264ff.). Die Diskussion des Gender-Aspekts im Turing-Test wird allerdings auch dadurch erschwert, dass Turing im Verlauf der Argumentation auf die Ausgangsbedingungen zu sprechen kommt und es nicht leicht zu entscheiden ist, wie wich- tig dabei die Gender-Aufteilung weitergehend auch für das Imitationsspiel von Mensch und Maschine sein soll. So schreibt er: »It might be urged that when playing the ›imitation game‹ the best strategy for the machine may possibly be something other than imitation of the behaviour of a man. This may be, but I think it is unlikely that there is any great effect of this kind. In any case there is no intention to investigate here the theory of the game, and it will be assumed that the best strategy is to try to provide answers that would naturally be given by a man.« In der deutschen Übersetzung des Textes, herausgegeben von Friedrich Kittler und Bernhard Dotzler, wird die Irritation über die Funktion des »gender-switching« als Bestandteil des Turing-Tests unglücklicherweise dadurch konterkariert, dass in dem zu- letzt zitierten Abschnitt »man« schlicht als »Mensch« übersetzt wird. Vgl. Turing (1950, 151). 19˘ »Playing against such a machine gives a definite feeling that one is pitting one's wits against something alive.« (Turing 1948, 5). 20˘ Roch gibt eine hervorragende Übersicht zu Shannons unterschiedlichen Spielapparaturen. Der Schachrechner Caissac von 1949 war noch nicht in der Lage, eine vollständige Partie zu spielen. Er war auf eine vereinfachte Spielvariante spezialisiert und konnte insbesonde- re Endspielsituationen durchrechnen, in denen vier oder sechs Spielfiguren den Ausgang des Spiels entscheiden. Darin ähnelt Caissac dem von Dietrich Prinz programmierten maTe-in-Two, das als erstes Schachprogramm der Computergeschichte gilt. Auch maTe- in-Two operierte mit einer reduzierten Schachvariante, indem es auf die Lösung von Endspielproblemen spezialisiert war. Vgl. weiterführend zu maTe-in-Two [http://chesspro- gramming.wikispaces.com/Mate-in-two], sowie Copeland (2008). 21˘ In Programming a Computer for Playing Chess wird die ›philosophische‹ Frage, ob Computer denken können, zwar zu Beginn gestreift, jedoch in der Argumentation nicht weitergehend Strategiespiele und das Medium-Werden des Computers 105 berücksichtigt. An anderer Stelle kommt Shannon aber durchaus darauf zu sprechen. Im di- rekten Bezug zu Schachautomaten bspw. in Shannon (1950b). Axel Roch geht davon aus, dass Shannon und Turing 1943 in den Bell Labs in New Jersey diesbezügliche Ideen ausge- tauscht haben: »Turing brachte aus England genau die Fragestellung mit, die Shannon im- mer schon beschäftigt hatte: Bis zu welchem Grad konnten Maschinen, die rechnen, auch denken?« Shannon hatte es als sein Anliegen formuliert, eine Maschine zu bauen, die »wirk- lich denkt, lernt, mit Menschen kommuniziert [...]« (dt. d. Verf.). Vgl. Roch (2009, 93f.). 22˘ Vgl. zur Geschichte des Minimax-Algorithmus und seinem Einfluss auf die Entwicklung von Computerschach und die Funktion von Schach als Objekt der KI-Forschung weiterfüh- rend Ensmenger (2011). 23˘ Gerade aufgrund der genannten praktischen Vorteile bildet der Minimax-Algorithmus die Grundlage für zahlreiche Schachprogramme. Allerdings ist eine klare Trennung von Typ A und Typ B Strategien innerhalb der Schachprogrammierung nur selten gegeben; häufig ver- wenden Programme, die auf dem Minimax-Algorithmus aufsetzen, noch zusätzliche verfei- nerte Entscheidungsroutinen und weitere Optimierungen, die auch an menschlichem Spiel- und Evaluationsstrategien orientiert sein können. Gleichwohl hat die Unterscheidung von Typ A und Typ B Strategien eine historische Bedeutung für die Entwicklung der Diskussion innerhalb der Forschungen zur künstlichen Intelligenz. Verbunden ist dies etwa mit der Frage unterschiedlicher Forschungsansätze, die mehr dazu neigen können, entweder menschliches Denken durch Nachahmung der zugrundeliegenden kognitiven Prozesse im Computer nachbilden zu wollen (mimetischer Ansatz), oder ohne diese Orientierung am menschlichen Modell Denk- und Entscheidungsprozesse maschinell zu realisieren. Erfolgreiche Schachprogramme gehen bis heute tendenziell den zweiten Weg: Sie imi- tieren nicht die Spielweisen oder Entscheidungsprozesse menschlicher Spieler, sondern setzen auf maschinelle Stärken wie die Verwendung von großen Datenbanken und hohe Rechengeschwindigkeiten. 24˘ Das Interesse an Grundlagenforschung bedeutet gleichwohl nicht, dass die Freude am Spiel irrelevant wäre – Turing schreibt, das hauptsächliche Motiv, das den Anstoß zur Arbeit, gegeben habe, sei »der reine Spaß an der Sache« (Turing 1953, 118). 25˘ Die Programmierbarkeit wird allerdings auch bei Turing als zentrale Herausforderung be- schrieben. In seinem späteren Artikel zu Computerspielen von 1953 formuliert Turing dies allerdings sehr viel deutlicher als in dem hier diskutierten Aufsatz von 1947/48: Neben der bloßen Rechengeschwindigkeit der Maschinen und der geringen Größe ihres Speichers sei es vor allem die »Programmiertechnik«, die ein Hindernis für brauchbare Schachprogramme darstellt (Turing 1953, 129). 26˘ Ein Compiler ist ein Computerprogramm, das ein anderes Programm, das nicht in Maschinencode verfasst ist, in Maschinencode übersetzt, damit es von einem Rechner aus- geführt werden kann. In vielen Darstellungen gilt das A-O-System, das 1951/52 von Grace Hopper für den UNIVAC I entwickelt wurde als erster Compiler der Computergeschichte. 106 Serjoscha Wiemer Dieser Compiler erlaubte Zugriff auf eine Liste von Subroutinen, die Grace Hopper über die Jahre erstellt hatte, und die mit Hilfe einer Nummer aufgerufen werden konnten. Neben Grace Hopper wird auch Alick Glennie als Programmierer des ersten Compilers genan- nt. Der Brite Glennie spielte nicht nur die erste überlieferte Partie gegen Turings Schach- Papiermaschine, sondern entwickelte auch Autocode, das von einigen als erster Compiler der Computergeschichte angesehen wird. Als erster vollständiger Compiler gilt der unter der Leitung von John Backus entwickelte FORTRAN-Compiler, der erst 1957 fertig gestellt werden konnte. 27˘ Konrad Zuses »Plankalkül« stellt hier eine Ausnahme dar. Zuses frühe Forschungen zu Programmiersprachen erfolgte bereits in den 1930er Jahren. Erst 1972 wurde Zuses Plankalkül jedoch komplett veröffentlicht. 28˘ Historisch ist die Arbeit von Allen Newell, Clifford Shaw und Herbert A. Simon ein anschau- liches Beispiel für den Zusammenhang von Computerschach und Programmiersprachen. Für die Programmierung von Schach verwendeten sie eigene Sprachkonstrukte in der von ih- nen entwickelten »Information Processing Language« (IPL). Newell und Simon interessier- ten sich, angeregt u.a. durch William Ross Ashbys und Norbert Wieners Formulierungen zur Kybernetik, für die Möglichkeiten maschinellen Problemlösens und entwickelten einige der frühesten Programme der Künstlichen Intelligenz. Allen Newell arbeitete mit John Clifford Shaw zu jener Zeit für die RAND Corporation und sie hatten zusammen mit Herbert Simon 1956 den »Logic Theorist« und ab 1957 den »General Problem Solver« entwickelt, ersteres ein Programm, das in der Lage war, eine Menge von logischen Theoremen zu beweisen, letzteres ein »Programm zur Simulation menschlichen Denkens«. Beide Programme gelten als Grundlagenarbeiten für die Künstliche Intelligenzforschung der folgenden Jahrzehnte. Während Newell die Gebiete der Informatik und der Kognitionswissenschaft zu verbin- den versuchte, orientierte sich Simon zudem an Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und wurde 1978 »für seine bahnbrechenden Erforschung von Entscheidungsprozessen in Wirtschaftsorganisationen« mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausge- zeichnet. Shaw war bei RAND als System-Programmierer tätig und leistete einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Programmiersprachen, in denen der Logic Theorist und GPS pro- grammiert wurden. Die Information Processing Language (IPL), die Newell, Shaw und Simon um 1956 bei RAND entwickelten, gilt als die erste listenverarbeitende Programmiersprache. Sie implementiert umfangreiche Konzepte, die auch spätere höhere Programmiersprachen aufweisen, wie Rekursionen, Dynamische Speicherverwaltung, Datentypen etc., ist aller- dings im Sprachstil eng an Assembler-Sprachen angelehnt, und entsprechend schwer les- bar. Ihr Aufsatz Chess-playing programs and the problem of complexity von 1958 stellt so etwas wie den vorläufigen Höhepunkt des Schach-Computer-Diskurses der 1950er Jahre dar und markiert zugleich den Übergang von der Schachprogrammierung zu frühen Ansätzen der KI-Forschung. Als Programmiersprache, die umfangreiche Konzepte zur Manipulation von Listen enthielt, stellte IPL eine wichtige Inspiration für John McCarthy dar, der mit LISP Strategiespiele und das Medium-Werden des Computers 107 eine der wegweisenden Programmiersprachen der 1960er und 1970er entwickelte. LISP ent- stand am MIT und der erste Interpreter dazu wurde von Steve Russel programmiert (1958), der später mit Spacewar! (1961) in die Geschichte der Computerspiele eingehen sollte. LISP ist nicht nur für Jahrzehnte die bevorzugte Sprache in der KI-Forschung, sondern neben Fortran und Cobol auch eine der ältesten höheren Programmiersprachen überhaupt und auch heute noch in Gebrauch. Im Unterschied zu anderen frühen Programmiersprachen wir FORTRAN (The IBM Mathematical Formula Translating System) (1957), das auf die Formelberechnung zugeschnitten war, oder COBOL, ein Akronym für COmmon Business- Oriented Language (1959), war LISP eine aus theoretischen Überlegungen entstandene Programmiersprache, die auf Symbolverarbeitung und Problemlösen ausgerichtet war. LISP hat bis heute unter Programmierern und Hackern einen ausgezeichneten Ruf: Sie imple- mentiert auf elegante Weise das Lambda-Kalkül von Church und Kleene und gilt aufgrund ihrer flexiblen Struktur als „programmierbare Programmiersprache« (John Foderaro) oder auch »Meta-Programmiersprache« (zit. nach [http://en.wikiquote.org/wiki/Lisp_program- ming_language]). 29˘ Weil sie Algorithmen formulierte, die exakt für die Prozessierung durch eine Rechen- maschine bestimmt waren, wäre vermutlich Ada Lovelace als die erste Programmiererin zu nennen. Der in den 1950ern einsetzende Diskurs über Programmierung hat ihre Arbeiten dann auch tatsächlich wiederentdeckt: Ihre ›Notizen‹ von 1843 wurden 1953 in Faster than Thought (hg. von B.V. Bowden) wiederveröffentlicht, in unmittelbarer Nähe zu Turings Überlegungen zur Programmierung von Spielen. Ihr Portrait schmückt die erste Seite des Sammelbandes. Wenn hier der ›Beginn von Software‹ dennoch nicht im 19. Jahrhundert, sondern in den 1950er Jahren verortet wird, soll dies die historische Leistung von Lovelace nicht infrage stellen, vielmehr ist die Rede vom ›Beginn‹ hier auf die spezifische historische und diskursive Konstellation nach dem Zweiten Weltkrieg bezogen, in der die Grundlagen für die spätere Entwicklung des Computers und der Computerindustrie gelegt wurden, die später schließlich zum Computer als Knotenpunkt digitaler Medienkultur führen. 108 Serjoscha Wiemer Bibliografie Alt, Casey (2011): Objects of Our Affection. How Object Orientation made Computers a Me- dium. 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Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag. Strategiespiele und das Medium-Werden des Computers 111 112 Harald Hillgärtner Die Maschine im Medium: Strategiespiele als Perspektivierung des medialen Dispositivs Computer Frühling 1944 »Hätte es zur Zeit der Schlacht im Teutoburger Wald Videos gegeben, man hätte diese Schlacht jeden Abend ›neu‹ schlagen können, und hätte es damals synthetisierbare Bilder gegeben, man hätte diese Schlacht jeden Abend anders schlagen können. Wer gegenwärtig Geschichte ma- chen will (ein neuer Varus sein will) , der muß im Video handeln« (Flusser 1999, 65). Vilém Flussers Essay Ins Universum der technischen Bilder erscheint auch 25 Jah- re nach seiner Veröffentlichung erstaunlich aktuell. So lässt obiges Zitat un- mittelbar an eine Reihe erfolgreicher Strategiespiele oder Taktikshooter den- ken, die sich historische Schlachten zum Vorbild nehmen – insbesondere die des Zweiten Weltkriegs – und diese mitunter erstaunlich akkurat nachstel- len. Dies reicht hin bis zur Remodellierung der entsprechenden Schauplätze, so dass Computerspieler die Normandie mitunter zuerst durch Call of Duty (Activision 2003) kennenlernen und erst hernach bei Gelegenheit eines Frank- reichurlaubs besichtigen. ›Geschichte‹ wird zu etwas (vorgeblich) im Compu- terspiel Erfahrbarem. Doch findet hier lediglich eine Verschiebung statt, die nachvollzieht, was der Spielfilm seit seinen frühen Jahren kennzeichnet. So be- obachtete bereits Walter Benjamin einen Prozess, den er, in Verbindung mit der Zertrümmerung der Aura, als Liquidierung des Traditionswertes bezeichnete: »Diese Erscheinung ist an den großen historischen Filmen am handgreiflichsten. Sie bezieht immer weitere Positionen in ihr [Sic!] Bereich ein. Und wenn Abel Gance 1927 enthusiastisch ausrief: ›Shakespeare, Rembrandt, Beethoven werden filmen … Alle Legenden, alle Mythologien und alle Mythen, alle Religionsstifter, ja alle Religionen … warten auf ihre belichtete Auferste- hung, und die Heroen drängen sich an den Pforten‹ so hat er, ohne es wohl zu meinen, zu einer umfassenden Liquidation eingeladen« (Benjamin 1991, 478, Auslassungen i. O.). Den (Spiel-)Film betreffend handelt es sich hier eher um eine skeptische Ein- schätzung. Er dient aus dieser Perspektive weniger der Tradierung als vielmehr deren Gegenteil. Interessant ist, wie Flusser diesen Gedanken Benjamins 50 Jahre später weiterführt: Die von den historischen Filmen verschlungene Ge- schichte steht in den synthetisierbaren Videobildern nun vollends zur Disposi- Maschine im Medium 113 tion. Die Schlachten können immer anders und mit einem je unterschiedlichen Ausgang ge- schlagen werden. Die Gegner können ganz un- terschiedliche Strategien entwickeln oder Tak- tiken einsetzen, und am Ende gelingt Varus doch noch die entscheidende Wendung, die seine Le- gionen vor dem Untergang bewahrt. Wohlge- merkt: Nur im Spiel. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun fragen, Abb.1: Die vier Armeen in Spring:1944 unter- was die Spielerinnen und Spieler von Echtzeit- scheiden sich lediglich in ihren Uniformen Strategiespiele wie etwa Spring: 1944 (Spring: 1944 Development Team, seit 2006) bewegt. Handeln sie »im Video«, um Entscheidungen zwischen dem faschistischen Deutschland und den Alliierten neu herbeizu- führen? Die Selbstbeschreibung von Spring: 1944 scheint dies zunächst nahe zu legen: »Our goal is to create four fully functional sides (US, Germany, USSR, Britain) with period-accurate units and strengths. Realism is a primary design goal, second only to creating a game that is fun and accessible to play.« (Spring: 1944, 2011a) Zwar findet sich hier die Einschränkung, dass der ›Realismus‹ dem ›Gameplay‹ nachgeordnet sei, dennoch wird an prominenter Stelle auf ihn ver- wiesen. Doch wie stellt sich der Realismus in Spring: 1944 dar? Zunächst findet er sich auf einer ganz und gar ›oberf lächlichen‹ Ebene wieder, indem die zur Verfügung stehenden Einheiten, die Panzer, Truppentransporter, Geschütze und Kasernen von ihrer Erscheinung her an militärische Ausrüstung zur Mitte des 20. Jahrhunderts erinnern (sollen). Doch der ›Realismus‹ schreibt sich auch in die Regeln des Spiels ein. So erklärt der Unit Guide zu den deutschen Trup- pen, dass diese im Zuge der Aufrüstung in den 1930er Jahren einen technolo- gischen Vorsprung entwickeln konnten, dem eine entsprechend gute Ausbil- dung der Soldaten korrespondiere. Demgegenüber verfügten die sowjetischen Truppen über eine deutlich schlechtere Ausbildung, die jedoch über die Masse an Soldaten ausgeglichen werde. Die Ausrüstung der amerikanischen Armee sei, verglichen mit den Deutschen, eher »mediocre«, was jedoch wiederum auf- grund der industriellen Überlegenheit in der Endphase des zweiten Weltkriegs ausgeglichen werde. Die britischen Einheiten hingegen hätten einen hohen Ausbildungsstand und verfügten über schlagkräftige Spezialeinheiten, kon- terkariert werde dies allerdings durch eine geringe Truppenstärke (vgl. Spring: 1944 2011b). Deutlich wird sicherlich schon anhand dieser groben Skizzierung, dass der Realismus von Spring: 1944 aus einigermaßen naheliegenden Stere- otypisierungen besteht.¯1 Es handelt sich in diesem Sinne um eine Art ›medi- 114 Harald Hillgärtner alen‹ Realismus, indem er lediglich adressiert, was aus entsprechenden Spiel- filmen bei den Spielenden an historischem Wissen vorhanden sein dürfte. Deutlich sollte aber ebenso geworden sein, dass es nur vordergründig um Rea- lismus geht, tatsächlich aber das für Strategiespiele so entscheidende ›Balan- cing‹ eine wesentlich wichtigere Rolle spielt. Anders formuliert: In Spring: 1944 spielt man keinesfalls Geschichte nach, ebenso wie der Spielfilm wenig dazu geeignet ist, einen akkuraten Eindruck historischer Gegebenheiten zu vermit- teln. Stattdessen »handeln« die Spielenden im technischen Bild und »machen« darüber »im Video« Geschichte. Der Zweite Weltkrieg ist in diesem Spiel ledig- lich ein motivisches Reservoir, um eine Game-Engine mit einer Oberfläche zu versehen. Die Oberfläche besteht aus militärischen Einheiten und einer ›Rah- menhandlung‹, die des Krieges, wobei diese narrative Ebene erkennbar nichts anderes ist, als eine Erläuterung der Spielregeln (des Balancing) anhand popu- lärer Vorstellungen über die Armeen des Zweiten Weltkriegs. Die Verdammten In den zurückliegenden Jahren waren eine Reihe BoomBoomBatista Feb 22 2011, 12:48am says: von Comic-Verfilmungen wie Spider Man (USA space marines? deamons? skeletons? MA- 2002, Sam Raimi), Fantasyfilme wie die Lord GIC!? GIMME GIMME GIMME! :P love the of the Rings-Trilogie (NZ/USA 2001-2003, Peter mod btw Jackson), Fantasy-Horror-Filme wie Van Helsing azaremoth Feb 22 2011, 7:17pm replied: Don’t (USA 2004, Stephen Sommers), SciFi-Horror wie forget the angels and werewolves. ;) Resident Evil (D/UK/F 2002, Paul W. S. Anderson) (Azaremoth/BoomBoom Batista 2011) oder gar ein solcher Genre-Mix wie der SciFi-We- stern Cowboys & Aliens (USA 2011, John Favreau) erfolgreich an den Kinokassen. Allen ist gemein, dass sie in hohem Umfang Gebrauch von computerberechneten Spezialeffek- ten machen und es ist naheliegend, den Trend zu solchen phantastischen Sze- narien genau darauf zu beziehen: Der Computer ermöglicht beeindruckende Animationen und lässt den Einsatz von allerlei Superhelden, Mutanten und Dämonen zu einem technisch und damit eben auch ökonomisch gut kalkulier- barem Geschäft werden. Gleichzeitig verweist der Trend aber (vielleicht) auch noch auf etwas anderes: Die Erwartungen und die Sehgewohnheiten des Pu- blikums haben sich signifikant geändert. Das heutige Publikum ist nicht nur mit Musikfernsehen, sondern auch mit Comics und Videospielen aufgewach- sen. Es hat gelernt mit der Ästhetik, vor allem aber mit dem phantastischen, über- bzw. nicht-menschlichen Personal dieser medialen Formen umzugehen. Maschine im Medium 115 Sie sind Teil ihrer medialen Umgebung und damit ihres Alltags geworden so wie für frühere Generationen die Figuren aus den Abenteuerromanen Karl Mays. Was aus der Perspektive des gelungenen Kunstwerks, des literarischen Romans oder des psychologischen Spielfilms als fröhlicher Unsinn erscheinen mag, ist für (viele) heutige Zuschauer legitimer Teil ihrer Alltagskultur, die we- sentlich eine Medienkultur ist. Diese ist – zumindest in unserer Gegenwart – erstaunlich eklektizistisch, und eben dieser Eklektizismus verweist auf ihren Status als Medienkultur. Denkt man etwa an die nach wie vor subkulturelle, da durch das geltende Urheberrecht nicht gedeckte, aber dennoch weit verbreite- te Praxis des MashUps, die ihren Reiz ja gerade aus der Kombination von nicht Kombinierbarem bezieht, so scheint es tatsächlich ein ausgeprägtes ›Vergnü- gen‹ (pleasure) an dem zu geben, was Jay David Bolter und Richard Grusin im Begriff der »Hypermediacy« zu erfassen versuchen (vgl. Bolter/Grusin 2000, 31ff.).¯2 Der Begriff seinerseits wird von Bolter und Grusin geradezu als ›Anto- nym‹ zu dem eingeführt, was sie als »Immediacy« bezeichnen (ebd., 21ff.). Die Geschichte der Medien, sowohl ihrer jeweiligen Ausformungen als auch ihrer Technologie, sei geprägt von einer starken Tendenz, sich unsichtbar zu machen, hinter dem Repräsentierten zurückzutreten. Sybille Krämer verdeutlicht dies in einem anderen Zusammenhang ausgesprochen prägnant: Für sie ist es ge- radezu konstitutives Merkmal der Medien, dass sie im gelungenen Vollzug un- sichtbar werden. Wir sehen keine Farbflecken auf einer Leinwand, sondern ein Gemälde, wir lesen keine Buchstaben, sondern einen Roman, wir sehen keine Bildpunkte auf einer Mattscheibe, sondern die Übertragung eines Radrennens (vgl. Krämer 1998, 74). Einzig im misslungenen Vollzug, etwa bei der Bildstö- rung im Fernsehen, sehen wir Krämer zufolge die Medien als apparative Vor- richtungen und nicht nur lediglich das, was in ihnen erscheint. Die ›Materiali- tät‹ der Medien wäre also in diesem Sinne genau das, was den Betrachtern im Normalfall entgeht.¯3 Doch dieses Verschwinden, dieses Unsichtbarwerden der Apparate ist lediglich die eine Seite der Medaille. Demgegenüber steht eben Bolter und Grusins Kon- zept der »Hypermediacy«. In den Medien finden sich in diesem Sinne zweierlei Repräsentationsmodi: Auf der einen Seite die Produkte, die ihre Gemachtheit verleugnen, auf der anderen Seite diejenigen, die ihre Medialität auf der Ebene der visuellen Repräsentation geradezu fröhlich einbekennen. Das Spannende am Begriff der Hypermediacy ist daher, dass sich hiermit Formen beschreiben lassen, bei der die Medien nicht dazu dienen, einen Blick durch sie hindurch in eine – wie auch immer ästhetisierte, fiktionalisierte, dramatisierte – ›Wirk- lichkeit‹ zu gestatten, sondern der Betrachterin einen Blick auf die Medien, ge- nauer: auf eine Medienkultur, erlaubt: 116 Harald Hillgärtner »The logic of hypermediacy multiplies the signs of mediation and in this way tries to reproduce the rich sensorium of human experience. […] For example, perspective paintings or computer graphics are often hypermediated, particularly when they offer fantastic scenes that the view- er is not expected to accept as real or even possible. Hypermediacy can also manifest itself in the creation of multimedia spaces in the physical world, such as theme parks or video arcades. In every manifestation, hypermediacy makes us aware of the medium or media […]« (Bolter/ Grusin 2000, 34). Zunächst sind mit Hypermediacy die ›nicht-mimetischen/nicht-ähnlichen‹ Me- dien gemeint, etwa die Tageszeitung oder die Webseite im Unterschied zu Film und Fernsehen. In einem erweiterten und wesentlich spannenderen Sinne um- fasst der Begriff jedoch bestimmte mediale Formen, eine bestimmte Ästhetik, wie man sie vor allem in der Avantgardekunst und in der Populärkultur vorfin- det. Hier geben die Medien nicht den Blick frei in eine außer-mediale ›Wirklich- keit‹, sondern auf eine durch und durch mediatisierte Medienkultur, in der sich das zu Sehende stets auf andere mediale Erscheinungen bezieht, mal explizit als Zitat, mal implizit in der Übernahme formaler Merkmale. Um ein Beispiel zu bringen: Der Plot des Strategiespiels The Cursed (Azare- moth, seit 2011) lässt sich in zwei Sätzen erschöpfend wiedergeben: Durch Ex- perimente mit Raum-Sprung-Triebwerken wurde ein Riss im Raum-Zeit-Konti- nuum verursacht, durch den nun lang vergessene Kreaturen aus der Hölle in unsere Dimension überwechseln können, um alle Seelen, derer sie habhaft wer- den können, zu verzehren. Es stehen sich nun zwei Gegner gegenüber: Untote und Dämonen kämpfen gegen die kaiserliche Leibgarde (Imperial Guards), die mit den modernsten Waffen und einer überlegenen Feuerkraft ausgestattet sind. Oder, kürzer gefasst: »The game is about bones, undead, demons, space marines and magic settled in a futuristic environment« (Azaremoth 2011). Der korrespondierende ›Gameplay Guide‹ verzichtet nun weitgehend auf eine weitere Dramatisierung und beschränkt sich auf das Wesentliche, nämlich auf eine Tabelle mit den Fähigkeiten der jeweiligen Einheiten. Hier erfährt man etwa, dass der ursprünglich aus dem Action-Shooter Doom (id Software 1993) stammende »Mancubus« eine langsame, aber robuste Kampfeinheit ist, die mittels ihrer zweistrahligen Plasma-Kanone auch starke Panzerungen durch- dringt oder dass der »Priester« andere Einheiten heilen kann und mit seiner »Aura« bewirkt, dass die eigenen Einheiten ihre Ziele besser treffen, dies aller- dings nur solange eine »Kirche« existiert. Außerdem kann er sich in einen Wolf verwandeln, was ihm ermöglicht, sich schneller zu bewegen. Dem Priester kor- respondiert die Hexe, die neben ihrer Aura noch über den »Death Ray« und den »Hellstorm« verfügt. Insgesamt führt die ›Spielanleitung‹ über 70 verschie- Maschine im Medium 117 dene Einheiten auf, deren Gemeinsamkeiten le- diglich darin bestehen, dass sie zum Inventar des Spiels gehören. Auf den ersten Blick gibt es nichts Innovatives, nichts Einzigartiges an The Cursed. Doch das In- teressante an dem Spiel wären auch keine et- waigen Innovationen, sondern vielmehr, dass es keine gibt. The Cursed lässt sich als (geradezu paradigmatisches) Beispiel für eine hypermedi- Abb.2: Hexe, Priester, Leiche und Paladin atisierte Form verstehen, insofern hier Elemente mitsamt ihrer Aura aus Märchen, Comics, Fantasy-Romanen, aus Film und Fernsehen ebenso wie aus Rollen- und Videospielen übernommen werden und daraus eine Art MashUp resultiert, in dem Roboter gegen skelettierte Drachen kämpfen und von Priestern oder He- xen geheilt werden können. Das Spiel verweist also nicht auf eine außermedi- ale Wirklichkeit, sondern auf eine mediale Wirklichkeit. Hypermediacy: Nicht (mehr) der Blick durch eine Oberfläche, sondern der Blick auf eine Oberfläche. Kernel-Panic Bemüht man eine der gängigen Internet-Suchmaschinen mit dem Stichwort Kernel Panic (Zwzsg, seit 2009), so erhält man eine knappe Million Ergebnisse. Schnell wird deutlich, dass Kernel Panic keinesfalls lediglich der Name eines Strategiespiels ist, das für die verschiedenen Betriebssysteme wie Linux, Win- dows oder Mac OS zur Verfügung steht, sondern dass man, wenn man eine Ker- nel-Panic erhält, ein Problem hat. Kurz gesagt, bedeutet es, dass der Computer abgestürzt ist. Der Begriff selbst geht auf eine Subroutine von Unix-kompa- tiblen Betriebssystemen zurück, die im Falle eines Softwarefehlers die Aufgabe übernimmt, möglichst viele Informationen auszugeben, die bei der Problemlö- sung helfen sollen. Eine Kernel-Panic ist daher zutiefst deprimierend und ein Strategiespiel gleichen Namens hat dementsprechend ein großes Versprechen einzulösen. Das Spielziel von Kernel Panic ist nun, entweder als »System«, als »Hacker« oder als »Network« Kontrolle über einen Computer zu gewinnen und ein Match ist gewonnen, sobald der gegnerische Kernel bzw. dessen Äquivalente »Securi- ty Hole« oder »Carrier« zerstört sind. Da das Ressourcen-Management in Ker- nel Panic keine Rolle spielt, geht es im Grunde ebenfalls darum, einen Com- puter mit den eigenen Einheiten zu überfluten, ihn zu ›spammen‹, wobei ein 118 Harald Hillgärtner Match typischerweise lediglich zehn Minuten dauert. Als Basiseinheit dient im Falle des Systems der Kernel, der neben den Kampfeinheiten »Bit«, »Byte« und »Pointer« dazu in der Lage ist, »Assembler« zu produzieren, die ihrerseits auf entsprechenden strategischen Punkten »Sockets« errichten können, die zu- sätzliche Einheiten in Form von Bits produzieren. Wählt man statt der Seite des Systems die Hacker oder das Network, so stehen einem andere Einheiten mit entsprechenden Fähigkeiten zur Verfügung. Da der Kernel für die Produktion der jeweiligen Einheiten einen unterschiedlich langen Zeitraum benötigt und sich die Einheiten wiederum verschieden schnell bewegen können, ist ›Zeit‹ die einzige knappe Ressource. Die wesentliche Strategie besteht unter dieser Vo- raussetzung darin, ein möglichst effektives Gleichgewicht an Kampf- und Kon- struktionseinheiten zu produzieren. Kernel Panic ist daher aus der Perspektive des Gameplays eine herkömmliche Strategiespiel-Variante. Eher ungewöhnlich ist jedoch das Setting und mit ihm die Einheiten, vor allem aber der retrofu- turistische Stil. Das Interface zeigt eine mit gitternetzartigen Linien überzo- gene Oberfläche mit Senken und Erhebungen, auf der sich die geometrisch geformten Einheiten bewegen. Sowohl in seiner ›8bit‹-Farbigkeit als auch in der technoiden Vektorgrafik-Ästhetik erinnert Kernel Panic mehr oder min- der deutlich an den Disney-Spielfilm Tron (USA 1982, Steven Lisberger), der sei- nerseits an zeitgenössische Videospiele erinnert. Bemerkenswert an Tron ist nicht allein die nach wie vor charakteristische Ästhetik, sondern auch und ge- rade der Umstand, dass sich der Großteil der Handlung im Inneren eines Com- puters abspielt, in dem humanoide Programme unter Einsatz ihres Lebens ge- geneinander antreten. Bei Kernel Panic findet sich nun ein ähnliches Szenario wieder. Das Spielge- schehen ist in das Innere eines Computers verlegt, der über eine räumliche Aus- dehnung verfügt, die von den Einheiten als Strecke überwunden werden muss. Es ist, als wenn man in einen Mikrokosmos hineinsehen könnte, der keinem bio- logischen, sondern einem elektronischen Universum entstammt, dessen Physik aber dennoch der herkömmlichen Umwelt ähnelt. Kurz gesagt: Das Setting von Kernel Panic ist ebenso wie das von Tron blühender Unsinn. Dennoch themati- siert Kernel Panic in seiner visuellen Repräsentation etwas, das als charakteri- stisch für das Genre der Strategiespiele verstanden werden kann. Die Einheiten stellen so etwas wie Softwaremodule dar, die von der Spielerin mittels Maus- klicks oder Tastaturkürzel dazu programmiert werden, vordefinierte Aufga- ben wie »Attack«, »Wait«, »Move«, »Guard«, »Repair«, »Fire at will« etc. abzuar- beiten. Kernel Panic ist in dieser Hinsicht so etwas wie eine programmierbare Maschine. Der Spielspaß besteht mehr oder weniger darin, die ›Maschine‹ ein- zurichten, sie zu starten, dem Geschehen zuzusehen und immer wieder steu- Maschine im Medium 119 ernd einzugreifen. Als Spieler ist man eher ein Operator, der ein konstantes Feedback von sei- nem Programm erhält und die Möglichkeit hat, verschiedene Parameter zu beeinflussen. Hier, wie im Grunde in allen anderen Strategiespie- len, ist der Spielende daher weniger in der Rol- le des Nutzers als vielmehr in der eines Maschi- nenarbeiters. Mein Vorschlag ist nun, dieses Spielprinzip als Abb.3: Kernel Panic: Ein Spektakel an Ausdruck einer bestimmten Sichtweise auf den Farben und Formen Computer zu verstehen, die zu Beginn der Com- puterentwicklung ebenfalls die vorherrschende Nutzungsweise des Computers gewesen ist und die nach wie vor im Medium, als das der Computer inzwischen angesehen wird, wirkmächtig ist. Gemeint ist die Maschinensicht, die, so der Gedanke, recht gut verdeutlicht, was der Com- puter in seiner Funktionsweise ist. Kernel Panic scheint damit auf eine tiefere, eine der Medialität des Compu- ters deutlich nähere Ebene zu verweisen, als dies etwa bei Spring: 1944 oder The Cursed der Fall ist. Alle drei verfügen jedoch über die gleiche Software- Basis, die sie mit einer jeweils unterschiedlichen ›Oberfläche‹, einem jeweils unterschiedlichen narrativen Rahmen und damit auch mit einem jeweils un- terschiedlichen Gameplay ausstatten. Alle drei setzen auf der Game-Engine Spring (The Spring Community, seit 2005) auf. Bei Spring wiederum handelt es sich um das Projekt, den Strategiespiel-Klassiker Total Annihilation (Ca- vedog Entertainment 1997), der trotz seines inzwischen biblischen Alters über eine rege Community verfügt, technisch auf den neuesten Stand zu bringen und – wesentlich wichtiger noch – eine offene Plattform für eine Reihe von Varianten zur Verfügung zu stellen, die Total Annihilation bisher hervorge- bracht hat. Die Game-Engine Spring ist daher in bestimmter Hinsicht so etwas wie eine Entwicklungsplattform, ein ›Software Development Kit‹, das die Vari- ation an die Stelle des ›Originals‹ setzt und die Spielenden zu Produzenten ih- rer Unterhaltungssoftware werden lässt. Spring ist, überspitzt formuliert, ein ›universelles/abstraktes‹ Strategiespiel, das erst durch die Auswahl der Ober- f läche, des ›Mods‹, zu einem konkreten Spiel wird. Die Idee ist nun, dass sich vor allem an Spring das Verhältnis von Tiefenstruktur und Oberfläche disku- tieren lässt und sich hierüber Hinweise auf die Medialität der Strategiespiele bzw. auf den Zusammenhang von Strategiespielen und ihrem Medium, dem Computer, ergeben. Doch zunächst soll gefragt werden, was es mit diesem ›Me- dium‹ auf sich hat. 120 Harald Hillgärtner Das Medium aus der Maschine Der Computer präsentiert sich seinen Nutzerinnen und Nutzern fast ohne Aus- nahme als eine Schreibtischoberfläche, als ein ›Desktop‹. Was 1995 noch Anlass zu kritischen Einschätzungen gewesen ist, etwa dass hinter der Oberfläche der gesamte Computer seinen Nutzern entzogen werde (vgl. hierzu sehr pointiert Kittler/Roch 1995), ist nun zum vorherrschenden Paradigma der Computernut- zung geworden. Weitergehender noch, präsentieren sich nun auch MP3-Player und Mobiltelefone mit einer Oberfläche, die die Nutzerin unmittelbar an den Desktop ihres PC erinnert. Das Konzept der ›Direct Manipulation‹, vor nunmehr fast dreißig Jahren noch innovativer Ansatz (vgl. Shneiderman 2003), ist inzwi- schen zu einer schlichten Selbstverständlichkeit geworden. ›Direct Manipula- tion‹ ist hierbei der Versuch, den Nutzern einen intuitiven Umgang mit dem Computer zu ermöglichen, indem diese keine Kommandos mehr erlernen müs- sen, sondern – um das plakativste aller Beispiele zu wählen – eine Datei ›anfas- sen‹ und in den Mülleimer werfen. Pate hierfür standen, wenig erstaunlich, die in den 1980er Jahren bereits weit verbreiteten Videospiele. Nicht zuletzt die immer beliebter werdenden Smartphones und Tablets brin- gen dieses Konzept deutlich auf den Punkt: Statt Tastatur nun Multitouch und Gesten. Für Linux gibt es seit ein paar Jahren grafische Nutzeroberflächen mit 3D-Effekten, die das Versprechen beinhalten, aus der Schreibtischoberflä- che einen tiefenperspektivischen Raum werden zu lassen. Nintendos Wii und Microsofts Kinect hingegen versuchen, die Körper der Spielenden unmittelbar einzubinden. Am Ende der Entwicklung steht so vielleicht nicht allein ein 3D- Internet, wie es unter anderen Second Life (Linden Lab, seit 2003) projektiert, sondern eben auch ein begehbarer Raum als Interface zum PC. Erneut stehen die Computerspiele Pate für die Entwicklung. Es bleibt aber dennoch zu fragen, welche Nutzungsweise des Computers die- ser Ansatz vorgibt. So steht zu vermuten, dass die Nutzer damit an die Oberflä- che des Apparates gekoppelt werden und so Nutzer im Wortsinne bleiben. Für diese Entwicklung ließe sich der Begriff des Handlungsbildes verwenden, wie er von Stephan Günzel für das Genre der Ego-Shooter vorgeschlagen wird und das er von den herkömmlichen Desktop-Operationen abzugrenzen versucht: »Im Egoshooter wird […] aufgrund des unmittelbar aus dem Bildaufbau ableitenden Spielprin- zips deutlich, dass die Besonderheit von Computerspielen darin besteht, dass man, um zu spie- len, das Bild benutzen muss, welches man sieht. In Egoshooter ist dieser Bezug, der in ande- ren Spielen meist nur impliziert ist, evident. (Ein Hegelianer würde wohl sagen: Das Videospiel kommt im Egoshooter ›zu sich selbst‹.) […] Es liegt hier nicht mehr eine Interaktion auf Basis Maschine im Medium 121 einer symbolischen Handlung oder der Handlung mit Symbolen (wie bei einem Desktopord- ner, dem Schachspiel oder auch bei Ace of Aces) vor, sondern eine Handlung mit den Bildob- jekten als solche. Sie haben keine Stellvertreterfunktion mehr, sondern sind sie selbst« (Gün- zel 2008a, 120). Was wie eine sinnvolle Unterscheidung zwischen dem Umgang mit Symbolen und dem Handeln ›im Bild‹ erscheint, lässt davon abgesehen überaus deutlich werden, wie sich der Umgang mit dem Computer in Richtung einer vollkom- menen Transparenz entwickelt und mit dieser Nutzungsweise des Computers als Medium auch so etwas wie eine ›Naturalisierung‹ einsetzt: Die Objekte werden zu »sich selbst«. Doch womit haben wir es beim Computer zu tun? Dieser ist, als universelle Ma- schine, eben dies: Eine Maschine. Ein Prozessor besteht in seinem zentralen Be- standteil, dem CPU-Kern, aus mehreren Millionen Transistoren, die man sich als Schalter vorstellen darf und die zu nichts anderem zu gebrauchen sind, als Ströme miteinander zu verschalten und diese für weitere Operationen zu spei- chern. Hiermit ist die universelle Maschine in der Lage, jede andere Maschine zu emulieren, da diese im Grunde nichts anderes sind als zergliederte Arbeit, ebenso wie Algorithmen eine zergliederte Rechnung darstellen (vgl. Heintz 1993). Wichtig ist in diesem Zusammenhang lediglich der Begriff der univer- sellen Maschine, die entsprechend programmiert werden muss, damit aus ihr eine konkrete Maschine wird. Das zugrunde liegende Maschinenkonzept lässt sich bündig formulieren: Eine definierte Eingabe, eine definierte Bearbeitung, eine definierte Ausgabe. Dies ermöglicht, dass Maschinen automatisch und mithin autonom funktionieren, was sie von den Werkzeugen unterscheidet, bei denen der Aspekt der Interak- tivität zentral ist. Eine Mediumnutzung des Computers unterscheidet sich wie- derum von diesem Maschinenbegriff dadurch, dass hiermit die Illusion eines intuitiven und transparenten Umgangs erzeugt wird. Der Computer als Me- dium abstrahiert gewissermaßen von der Maschine und führt das Werkzeug- konzept auf eine neue Ebene, auf der die Nutzer beginnen, mit Objekten zu interagieren (vgl. Schelhowe 1997). Günzel benennt daher in seiner Charakteri- sierung des Shooters lediglich, was von jeher im Konzept der ›Direct Manipula- tion‹ beschlossen liegt. Spannend ist dabei jedoch die Engführung auf ein be- stimmtes Genre der Computerspiele, die es ermöglicht, die unterschiedlichen Paradigmen der Computernutzung auf den Bereich der Spiele zu übertragen. Hierüber lässt sich, so der Gedanke, eine Differenz zwischen den Strategiespie- len und den Shootern benennen. Diese Differenz soll provisorisch als Medium- nutzung im Unterschied zur Maschinennutzung bezeichnet werden. Es geht 122 Harald Hillgärtner also um bestimmte Gebrauchsweisen des Computers und damit um die These, dass sich diese auch im Bereich der Computerspiele wiederfinden. Entwicklungsumgebung In einer recht erbittert geführten Diskussion zum Thema »Computer als Me- dium« auf der Mailing-Liste Rohrpost brachte Florian Cramer 2003 die Proble- matik der grafischen Nutzeroberfläche recht drastisch auf den Punkt. Diese sei in höchsten Maße regressiv und lasse aus dem Nutzer einen »Anklick-Sklaven« werden. Demgegenüber fordert er eine Art »Computerliteralisierung« ein, die den Nutzer ermächtige, sich auf die Ebene des Codes zu begeben. Ein emanzi- pierter Umgang mit dem Computer sei in diesem Sinne ein programmierender Zugriff: »Definiert man Computer als Maschinen zur Automatisierung von Arbeitsabläufen durch Pro- grammierung, so regredieren heutige GUIs den Computer zu einem recht stupiden, nur manu- ell bedienbaren Werkzeug. […] Keine echte (d.h. Turing-vollständige) Programmiersprache bzw. -umgebung kann vom Prinzip des Computers so stark abstrahieren, daß dabei das Grundver- ständnis einer Maschine, die algorithmische Instruktionen ausführt und somit formale Spra- chen ›spricht‹, verlorengehen könnte. Und nur auf dieses strukturelle Verständnis kommt es meiner Meinung nach an« (Cramer 2003). Ohne weiteres lässt sich hierin die (mediendidaktische) Annahme wiederer- kennen, dass der mündige Umgang mit einem Apparat den technisch versier- ten Nutzer voraussetzt. Hierbei besteht jedoch leicht die Gefahr, die nicht-tech- nischen Kompetenzen der Nutzer im Gebrauch eines Mediums zu übersehen. Im Falle des Computers jedoch muss im Unterschied zu anderen Medien von konkurrierenden Nutzungsparadigmen ausgegangen werden. Impliziert wer- den soll damit jedoch keine Hierarchie: Klar sollte sein, dass auch Program- mierer auf ›Oberflächen‹ agieren. Software funktioniert stets in einem Um- feld hoch komplexer Hardware und in einem mindestens ebenso komplexen Umfeld weiterer Software. Dennoch benennt Cramer einen zentralen Unter- schied: Die Programmierende macht sich die Funktionsweise des Computers zunutze, indem sie Arbeit an die Maschine delegiert, wohingegen der Nutzer auf der grafischen Oberfläche Objekte manipuliert, indem er etwa Bilder retu- schiert, Texte formatiert, Videoclips editiert oder aber mit einem Raketenwer- fer auf Monster schießt. Von hier aus scheint auf den ersten Blick kein Weg zu einem programmierenden Umgang zu führen. Tatsächlich aber entstand die Maschine im Medium 123 Nutzeroberfläche aus dem Versuch heraus, ein neuartiges Paradigma des Pro- grammierens zu etablieren. Nach seiner Lektüre von Marshall McLuhans Understanding Media reifte bei Alan Kay die Erkenntnis, es beim Computer mit einem Medium zu tun zu ha- ben. Unter der Formulierung »Doing With Images Makes Symbols« gab er der Idee Ausdruck, dass eine mediumgerechte Nutzung des Computers darin be- stehen müsse, einen Weg zu finden, auf dem es möglich wird, ihn mittels der Manipulation (Doing) von Objekten (Images) zu programmieren (Symbols). Da- hinter steckt der auf Jean Piaget zurückgehende Ansatz der Lernphasen: »[L] earning takes place best kinesthetically, then iconically, and finally the intui- tive knowledge will be in place that will allow the more powerful but less viv- id symbolic processes to work at their strongest« (Kay 2002, 126f.). Ein Compu- terinterface, das den Nutzer in das Zentrum des Entwurfs stellt, müsse daher versuchen, ihm diesen Umgang mit Bildern zu erlauben, um daraus komple- xere Konstrukte zu kreieren. Nun soll an dieser Stelle nicht näher darauf einge- gangen werden, wie Erfolg versprechend ein solches Modell sein kann, um da- mit tatsächlich etwa Anwendungssoftware zu programmieren. Spannend ist jedenfalls, dass durch diesen u.a. von Kay verfolgten Ansatz das Konzept der objektorientierten Programmiersprachen, das in den 1960er Jahren mit Simula erstmals in Erscheinung getreten war, stark popularisiert wurde. Objektorien- tierte Programmiersprachen sind inzwischen zum vorherrschenden Paradigma der Anwendungsprogrammierung geworden und erlauben eine hohe Abstrak- tionsebene, auf der der Programmierer sich aus Bibliotheken bereits vorhan- denen Softwarecodes bedienen kann. Dieser Code steht in Form definierter Objekte zur Verfügung, die bestimmte Aufgaben erledigen können, also auf Eingaben eine entsprechende Ausgabe liefern. In der deutschsprachigen Wiki- pedia-Sektion wird dies sehr anschaulich formuliert: »Jedes Objekt im System kann als ein abstraktes Modell eines Akteurs betrachtet werden, der Aufträ- ge erledigen, seinen Zustand berichten und ändern und mit den anderen Ob- jekten im System kommunizieren kann, ohne offenlegen zu müssen, wie diese Fähigkeiten implementiert sind« (Wikipedia 2011). Man kann sich dies als eine Art Baukasten aus Modulen vorstellen, die mitei- nander interagieren können.¯4 Wichtig ist noch zu erwähnen, dass im Zuge der Weiterentwicklung objektorientierter Programmiersprachen ebenfalls das Konzept der Fenster und Menüs entstanden ist, die ihrerseits Grundlage der Desktop-Oberfläche gewesen sind. Entwickelt wurde die erste grafische Nut- zeroberfläche durch eine Gruppe um Alan Kay, Dan Ingalls und Adele Goldberg, den Autoren der Programmiersprache Smalltalk, die als vollständige Entwick- lungsumgebung inklusive dem sogenannten WIMP-Konzept¯5 konzipiert war. 124 Harald Hillgärtner Grafische Nutzeroberflächen haben in dieser Hinsicht zumindest aus histo- rischer Perspektive mehr mit dem Programmieren des Computers zu tun, als ihnen gemeinhin zugestanden wird. Problematisch ist allenfalls, dass die im- plementierten Nutzeroberflächen eben meist nur dies erlauben: Sie zu nutzen. Ein programmierender Zugriff, und das heißt in diesem Fall lediglich, ein die Fähigkeiten einer Maschine zur Automatisierung zunutze machender Zugriff, ist üblicherweise nicht vorgesehen. Zusammenfassend ließe sich formulieren, dass wir es beim Computer mit Ob- jekten zu tun haben, dies sowohl auf Ebene der Nutzeroberfläche als auch auf Ebene der abstrakten Programmiersprachen. Beides steht in einer Verbindung zueinander. Wenn Programmiererinnen Anwendungssoftware schreiben, greifen sie auf Objekte zurück, die sie wie Module einsetzen, die dann wie- derum die gewünschten Aufgaben erledigen. Hiermit aber wären wir wieder bei Kernel Panic angelangt. Sicherlich findet im Spiel keine Softwareentwick- lung statt, auch wird in Kernel Panic nicht visualisiert, wie Computer funkti- onieren, dennoch ist es vom Spielprinzip auf eine interessante Art und Weise ›maschinennah‹. Die zur Verfügung stehenden Einheiten sind nichts anderes als Software-Objekte mit definierten Fähigkeiten. Im Spiel werden sie zu ei- ner Maschine kombiniert bzw. auf einen vorgesehenen Ablauf hin ›program- miert‹ und es gewinnt derjenige Spieler, der die Maschine besonders virtuos programmiert. Deutlich wird so, wie Strategiespiele aus der hier vorgeschla- genen Perspektive auf die Medialität des Computers verweisen. Die Medialität der Strategiespiele Spiele allgemein, und damit auch die Computerspiele, ermöglichen den Spie- lenden ein (soziales) Probehandeln. Folgt man Rolf F. Nohr, so geschieht im Falle der Strategiespiele zweierlei: Zum einen popularisieren sie in aller Regel »Spe- zialwissen«, sei es darüber, wie man einen Zoo managt oder aber, wie man ei- nen Krieg führt. Dieses Spielgenre hat demnach in einem weiteren Sinne häu- fig eine didaktische Funktion. Darüber hinaus erfüllen diese Spiele aber auch eine »Normalisierungsfunktion«, indem sie Spezialwissen zu einem Erfah- rungswissen werden lassen, das dazu tendiere, internalisiert zu werden und darüber eine »Evidenz« zu erhalten, die keiner Legitimation mehr bedürfe (vgl. Nohr 2008). Was Nohr hier vor allem im Blick hat, sind Spiele, die sich als (mehr oder minder) realistische Simulation etwa eines Zoos, einer Stadt oder eines Feldzugs geben. Doch wie sieht es bei den drei eingangs kurz vorgestellten Spielen aus? Erzeugen auch sie eine solche Evidenz? Spring: 1944 nimmt sich im Maschine im Medium 125 weitesten Sinne ein historisches Geschehen zum Vorbild und nutzt das daraus hervorgehende ›Spezialwissen‹ über Truppen und Waffengattungen, um eine Kombinatorik taktisch/strategischer Optionen zu erstellen. Daraus resultiert jedoch kaum mehr als ein sich selbst verstärkendes Gefüge populären Wissens über die Gegner des Zweiten Weltkriegs mitsamt ihrer jeweiligen Stärken und Schwächen. Zugespitzt formuliert, wird in diesem Spiel Wissen aus populären Kriegsfilmen oder -romanen weiter popularisiert. Ganz ähnlich stellt sich die Situation bei The Cursed dar, dessen Grundlage vor allem zeitgenössische Rol- lenspiele, Fantasy-Romane, Fernsehserien und erneut Spielfilme sind. Medi- enwissen wird recycled. In Hinsicht auf Kernel Panic wäre ebenfalls festzu- halten, dass sich hierüber kein Anwendungswissen erwerben lässt, wie man sich gegen Hacker, Viren und Trojaner verteidigen kann und in diesem Sinne findet sich auch kein Erfahrungswissen, wie in der entsprechenden Situati- on zu handeln sei. Mein Vorschlag ist daher, eine Differenzierung vorzuneh- men: Insofern Strategiespiele nicht als Modelle bzw. Simulationen von etwas Existierendem in Erscheinung treten, sondern sich wesentlich auf Medienwis- sen beziehen, tritt in ihnen etwas anderes in den Vordergrund, das allerdings kennzeichnend für das gesamte Genre der Strategiespiele ist. Es ist dies, kurz gesagt, ihre starke Bindung an (Spiel-)Regeln und damit ihre ›Maschinenhaf- tigkeit‹, insofern Spielregeln und Algorithmen als ›Maschinen‹ begriffen wer- den können. Algorithmen haben die Aufgabe, nach einer festgelegten Reihen- folge, einer Vorschrift, (mathematische) Symbole zu manipulieren, sie also im Grunde maschinell verarbeitbar werden zu lassen. Schüler im Mathematikun- terricht sind, wenn sie etwa den größten gemeinsamen Teiler ermitteln, nichts anders als ›Papiermaschinen‹. Algorithmen sind daher nichts anderes als ein Satz von Regeln, bei deren exakter Befolgung sowohl Menschen als auch Ma- schinen selbst die komplizierteste Berechnung anstellen können. Dass also der Computer »wie geschaffen« ist für das Strategiespiel, liegt hierin begründet: Strategie spielen ist die Kombinatorik von Regeln. Die Elemente eines Strate- giespiels sind Software-Akteure, die Aufträge ausführen, ihren Zustand än- dern und mit anderen Objekten kommunizieren. Sie sind algorithmische Ob- jekte. Um einen weiteren Gedankengang wieder aufzugreifen: Bereits oben wur- de vorgeschlagenen, die Strategiespiele im Unterschied zu den Shootern als eine Form der Hypermediacy zu begreifen. Die Shooter versetzen den Spie- lenden in einen konsistenten Handlungsraum, mit Günzel formuliert, in ein Handlungsbild. Zugespitzt formuliert, haben Shooter eine deutliche Affinität zum klassischen Hollywoodfilm und wären, im Sinne des dort vorherrschen- den »Continuity«-Gebots, ähnlich regressiv. Hierbei gilt es mit Günzel festzu- 126 Harald Hillgärtner halten, dass »die Form der Bilddarstellung […] hier nicht allein eine Möglichkeit der Bilddarstellung [ist] , zu der es Alternativen gäbe, sondern unabdingbare Voraussetzung für die Interaktion« (Günzel 2008b, 119). Analoges ließe sich für die Strategiespiele nicht formulieren. Sie sind nicht auf eine ähnlich im- mersive, sich als Medium verunsichtbarende Bildform angewiesen. Hier sind unterschiedliche Darstellungsmodi nicht allein möglich, sondern auch üblich. Gerechterweise muss hinzugefügt werden, dass es ebenfalls ›hypermediale‹ Shooter gibt und viele erfolgreiche Strategiespiele sehr wohl an der ›Verun- sichtbarung‹ ihrer Gemachtheit arbeiten, um eine Formulierung Nohrs auf- zugreifen. Es geht hier lediglich um den Versuch, eine Differenz zu benennen: Wohingegen Shooter eine Affinität zur ›Natürlichkeit‹ des zentralperspekti- vischen Bildes aufweisen, das die Illusion einer ›Durchsicht‹ erzeugt, findet sich bei den Strategiespielen eher das Prinzip der ›Draufsicht‹ wieder. Der Un- terschied liegt in der Distanz zum Geschehen. Die ›Medialität‹ des Strategie- spiels ist eine andere als die des Shooters. Jene lässt sich auf den Computer als Maschine beziehen, diese auf den Computer als Medium. Plausibel sollen bis hierher zwei unterschiedliche Aspekte der Medialität der Strategiespiele geworden sein: In Hinsicht auf die Tiefenstruktur schließen sie an ein bestimmtes Nutzungsparadigma des Computers an. Hervorgerufen durch diese ›Maschinenhaftigkeit‹ wiederum verfügen die Strategiespiele im Unterschied zu anderen Genres auf ihrer Oberfläche über eine Affinität zu hy- permedialen Darstellungsformen. Ein solcher Medialitätsbegriff, wie ihn ja nicht zuletzt Bolter und Grusin ver- treten, lässt sich als ein hermeneutischer Ansatz bezeichnen, der versucht, das Mediale aus den Produkten heraus zu rekonstruieren: Teilt sich in ihnen etwas mit, das nicht dem Inhalt, sondern dem Medium geschuldet ist? Hierfür reicht es gemeinhin aus, genau hinzusehen oder zuzuhören. Als Analyseverfahren bietet sich zudem der Medienvergleich an: Was sind etwa die Unterschiede zwi- schen Roman und Spielfilm? Was sind die Unterschiede zwischen einem Brett- spiel und einem Echtzeit-Strategiespiel? Wie lassen sich diese Unterschiede auf die zugrunde liegende Medientechnik beziehen? Wo werden Darstellungs- formen aus anderen Medien aufgegriffen? So lässt sich an die verschiedensten Gegenstände herangehen. Doch wie weit reicht ein solcher Ansatz? Maschine im Medium 127 Melancholie ohne Alternative oder schreiben im Modus der technischen Bilder? Die Medienwissenschaft ist es inzwischen gewohnt, in der Auseinanderset- zung mit ihrem Gegenstand auf einer ganz grundlegenden Ebene anzusetzen. Dies resultiert aus dem Verdacht, dass die Medialität der Produkte gerade auf- grund ihrer Unsichtbarkeit umso wirkmächtiger ist. Dies ist Einsatzpunkt für einen etwas erweiterten, für einen kritischen Medialitätsbegriff, der die Me- dien als Dispositive versteht, bei denen sich gesellschaftliche Leitvorstellungen in den Apparaten nachgerade materialisieren und von dort aus auf die Nut- zer zurückwirken. Die Medien werden zu einer Art gesellschaftlichem Unbe- wussten. Die Medienwissenschaft nimmt daher die Medientechniken bzw. ihre Apparate als ›Anordnungen‹ wahr, die bestimmte Herrschafts- und Wissens- diskurse oder Wunschstrukturen inkorporieren. Über diesen Weg gelangt sie recht schnell zu der Diagnose, dass die Computerspiele, vor allem aber die Stra- tegiespiele ebenso wie der Computer als Apparat einem gemeinsamen Diskurs, dem der Kybernetik entstammen. Die Kybernetik als Leitdiskurs der 1960er Jah- re, der bis heute in weite Teile der Wissenschaft wie etwa die Humangenetik hi- neinwirkt (vgl. Kay 2001), lässt sich seinerseits als Resultat der Erforschung von Kommando- und Kontrollstrukturen während des Zweiten Weltkriegs verste- hen. Der Computer und mit ihm die Computerspiele wären in dieser Hinsicht als eine Kriegstechnologie zu analysieren, und zwar unabhängig davon, wel- chen konkreten Inhalt ein Spiel hat, wie dies etwa Claus Pias in seiner Monogra- fie Computer Spiel Welten nachdrücklich darlegt. Darüber hinaus, und auch das ist sicherlich kein Geheimnis, lässt sich die Entwicklung des Computers als Fol- ge der Arbeitswissenschaft, genauer: der Arbeitsanalyse der 1920er Jahre ver- stehen. Der Computer wäre in diesem Sinne eine Verlängerung des fordschen Fließbandes, worauf vor allem Bettina Heintz in ihrer Studie Die Herrschaft der Regel hinweist (vgl. Heintz 1993).¯6 Dies zuspitzend ließe sich formulie- ren, dass bereits der apparative Kontext, vor dem die Computerspiele zu ana- lysieren sind, eine Art Symbiose von Arbeit und Krieg, von Wirtschaft und Mi- litär, darstellt: »Daß die Lernaktivitäten bei der Eroberung Polens auf dem Bildschirm die gleichen sind wie die bei der Leitung eines Pizzaservice, bei der Aufzucht einer Ameisenpopulation oder bei der Ver- waltung einer Weltraumkolonie markiert nur, daß eine auf Hard- und Software tiefergelegte Kritik nötig ist. Wenn es sich erweist, daß Feinmotorik und Reaktion sowohl an realen Radar- objekten, als auch an den Interfaces von Textverarbeitungen, als auch gleichermaßen in wert- vollen wie indizierten Spielen relevant sind; wenn logisches Schließen sich sowohl in Telefon- 128 Harald Hillgärtner netzen, als auch bei der Lektüre von Hypertext, als auch in Adventurespielen ereignet; wenn ein bestimmtes Problemlösen sowohl auf die Verwaltung von Lagern und Fluggesellschaften, als auch auf das Führen von Kriegen, als auch auf das Spielen von Strategiespielen applizierbar ist; wenn zuletzt all die dazu benötigten Wissenselemente aus so heterogenen Bereichen wie Ex- perimentalpsychologie und Informatik, Meteorologie und Narratologie, Mathematik und Elek- trotechnik sich an der Schwelle des Computerspiels einfinden – dann mag es erlaubt sein, von einer ›Episteme des Computerpiels‹ zu sprechen« (Pias 2004, 249f.). Unabhängig von der Frage nach der ›Epistemehaftigkeit‹ der Computerspie- le ist an dieser Stelle vor allem der Gedanke oder die These wichtig, dass die »Eroberung Polens« und die »Leitung eines Pizzaservices« die gleichen Fähig- keiten voraussetzen und die gleichen Fertigkeiten eintrainieren. Dies wäre je- doch nicht als vermeidbarer Zufall zu verstehen, sondern ergibt sich ebenso sehr aus den apparativen Grundlagen wie aus dem historisch/diskursiven Kon- text. Es ist also notwendig, von den konkreten Spielen zu abstrahieren, um die zugrunde liegende Technik mitsamt der in sie eingeflossenen »Wissens- elemente« sowie die sie bedingenden Ideologeme in den Blick zu rücken. Er- kennbar wird darüber eine Medialität, mit der sich auf einer unhintergehbaren Ebene die Identität von ›oberf lächlich‹ betrachtet ganz verschiedenen Spielen zeigen lässt. Ganz ähnlich schließt Rolf Nohr seine Untersuchung zum Verschwinden des Ge- machten im Computerspiel mit einem – wie er es selbst formuliert – melancho- lischen Fazit. Das Computerspiel, es ist eine Ideologiemaschine (wie bereits das Kino und das Fernsehen), und »[…]auch die Frage nach den Optionen der Dissidenz und des widerständigen Handelns […] wird aus der Perspektive einer unsichtbaren Adaption an Diskurse und Dispositive im Spiel meisten- teils hinfällig«. Denn »[w]enn die Dispositive und Diskurse des Spiels einerseits so dominant sind wie angenommen und an der anderen Seite so massiv an ihrer Verunsichtbarung und Naturalisierung arbeiten wie dargestellt, dann erscheint es nur logisch, dass Handlungsformen und Bedeutungspraktiken nicht wirklich ›gegen den Diskurs‹ arbeiten können« (Nohr 2008, 214). Wer würde angesichts dieser Diagnose nicht melancholisch? Zu überlegen wäre nun, ob nicht anhand der hier vorgeschlagenen Perspektive der ›Maschinenhaftigkeit‹ der Strategiespiele in Verbindung mit ihrer Affini- tät zu hypermedialen Repräsentationsformen eine weitere Lesart der Mediali- tät der Strategiespiele zumindest provisorisch konturiert werden kann. Denn Maschine im Medium 129 vielleicht ist es (ebenfalls) kein Zufall, dass das Dispositiv der Computerspiele seine Nutzer zu Co-Autoren werden lässt, indem sie Modifikationen schreiben und Erweiterungen beisteuern. Das Dispositiv weist über seinen einübenden Nachvollzug hinaus. Unter der vorgeschlagenen Perspektive jedenfalls ist die Gemachtheit der Me- dien legitimer Teil der visuellen Repräsentation. Statt des Eintauchens in virtu- elle Realitäten ein Verharren auf der Oberfläche der Medien. Die Spielerinnen richten sich auf dieser Oberfläche ein, die so Teil ihres Alltags und damit ih- rer Medienrealität wird. Jedoch ist diese ›Realität‹ eine, in der ein spielerischer Umgang mit den Repräsentationen und dem enthaltenen (Medien-)Wissen ge- pflegt wird. Spring: 1944, The Cursed und Kernel Panic können als Beispiele hierfür dienen. Auch hier findet eine Adaption an die Maschine, an das Me- dium und an dessen Ideologie statt. Nur was ist diese Ideologie? Ist es ledig- lich die militärische bzw. kapitalistische Logik, den Konkurrenten zu besiegen? Oder findet nicht ebenso sehr eine Aneignung des Apparates statt, ein Spiel mit dem Apparat und seiner Funktionsweise, die einen Überschuss produziert? Ein Überschuss, der (nicht nur) im Falle der Computerspiele in einem Impuls zur Ei- genproduktion mündet, der gleichermaßen die marktwirtschaftlichen Mecha- nismen bedient wie er sie durchkreuzt, indem das Verhältnis von Konsumtion und Produktion ins Fließen gerät? Vielleicht liegt gar hierin ein dissidenter Mo- ment, der sich aber dennoch nicht als widerständige Praxis versteht? Die Com- puterspiele sind, nach einem Argument von Sue Morris, als »Co-Creative-Me- dia« zu verstehen (vgl. Morris 2003). Dies schließt sie aus dem Phänomen, dass in diesem Sektor der Unterhaltungsindustrie sich die Adressaten der Produkte ausgesprochen extensiv daran beteiligen, die Spiele um- und fortzuschrei- ben.¯7 These wäre nun, dass diese Entwicklung wesentlich der Medialität des Computers geschuldet ist.¯8 Als programmierbare Maschine ist er nicht allein Ausdruck militärischer und kapitalistischer Kommando- und Kontrollstruk- turen. Seine Medialität erzeugt ein offenes Dispositiv, in dem die Nutzer selber zu Programmierern werden, indem sie sich im Spiel an die Funktionsfähigkeit der Maschine adaptieren. Dies ist nun nicht in einem schlichten Sinne ›didak- tisch‹ gemeint: Das Strategiespiel ist keine Abkürzung auf dem Weg zum Soft- wareentwickler. Das programmierende Verhalten ist ein anderes. Es schreibt zwar auch an die Maschine, es macht sich die Funktionsfähigkeit der Maschine zunutze, jedoch auf einer oberf lächlichen Ebene. Man könnte dies – mit Vilém Flusser – als ein Schreiben im Modus der technischen Bilder bezeichnen (vgl. Hill- gärtner 2009, 277ff.). In etwa so, wie es in Alan Kays Formulierung »Doing with Images makes Symbols« zum Ausdruck kommt. Es ist ein Handeln mit Bildern, das zu einer Kultur des Modifizierens und des Erweiterns führt. Die daraus re- 130 Harald Hillgärtner sultierenden Mods und Addons sind fraglos Teil des Dispositivs, sie fügen sich in die Diskurse ein, gleichzeitig stellen sie – auf einer ›oberf lächlichen‹ Ebene – eine Modifikation des Dispositivs dar, indem sie es zu einer Art ›Mitschrei- be-Projekt‹ werden lassen. So bleibt zwar mit Pias und Nohr zu argumentieren, dass Oberfläche und Tiefenstruktur in den Strategiespielen korrespondieren, indem hier Narrative und Siegbedingungen als Ausdruck der dem Dispositiv zugrunde liegenden Diskurse und Diskursmechanismen zu verstehen sind. Da- rüber hinaus korrespondieren Oberfläche und Tiefenstruktur aber auch in ih- rer Verschränkung einer (hypermedialen) Medienkultur mit einer Open-Sour- ce-Kultur, in der Wehrmachtsarmeen auf Werwölfe und Space Marines ebenso wie auf Bits, Bytes, Pointer und Assembler treffen. Anmerkungen 01˘ Ironischerweise verweist die Installationsanleitung im Ubuntu-Wiki mit einem Link auf den Wikipedia-Artikel zum Zweiten Weltkrieg, der detailliertere Informationen enthalte. Gerade so, als würde Spring 1944 durch eine Lektüre an historischer Tiefe gewinnen. Vgl. Ubunutusers 2011. 02˘ Spannend darüber hinaus, wie die MashUps in verschiedener Hinsicht an die avantgardi- stische Praxis der Montage/Collage erinnern oder gar unmittelbar an die neo-avantgardi- stische Praxis des CutUps anschließen. 03˘ Selbstverständlich lässt es Sybille Krämer (1998, 85) bei dieser Diagnose nicht bewenden. Vielmehr ist ihr gerade an der produktiven, der »welterzeugenden« Seite der Medien ge- legen. 04˘ Dem Aspekt weitgehend unabhängiger und wiederverwendbarer Module wird in der Medientheorie vor allem von Lev Manovich (2002) größte Wichtigkeit beigemessen. Manovich versucht dabei, das Konzept der Datenbank (die sich in diesem Fall als eine ›Bibliothek‹ darstellt) als Generalschlüssel zum Verständnis der ›neuen Medien‹ zu pro- filieren. 05˘ Windows, Icons, Menues, Pointers. 06˘ Darüber hinaus weist Claus Pias (2004) auf die Verwandtschaft von Arbeitswissenschaft und dem Eintrainieren effizienter Handlungsabläufe in Computerspielen hin. 07˘ Einen Eindruck vermittelt etwa die Plattform moddb.com, die viele tausend games, mods und addons zum freien Download verzeichnet. 08˘ Vgl. hierzu auch Lev Manovichs (2002) Ansatz vom Computer als Datenbank, der den Maschine im Medium 131 Aspekt des ›Wiederverwendbarkeit‹ betont und darüber ebenfalls im Computer einen Apparat zur Eigenproduktion vermutet. Bibliografie Azaremoth (2011) The Cursed. http://azaremoth.supremedesign.org, letzter Aufruf am 12.01.2014. Azaremoth / BoomBoomBatista (2011) Comments, http://www.indiedb.com/games/ the-cursed/page/2#comments, letzter Aufruf am 12.01.2014. 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Anderson) Spider Man (USA 2002, Sam Raimi) Tron (USA 1982, Steven Lisberger) Van Helsing (USA 2004, Stephen Sommers) 134 Mark Butler Protoss-, Zerg- und Terraner-Werden. Das maschinelle Gefüge des (Echtzeit-)Strategiespielers StarCraft (Blizzard Entertainment 1998) ist ein Meilenstein des Strategie- spiels. Im Erscheinungsjahr war es weltweit das meistverkaufte PC-Spiel mit einer Stückzahl von 1,5 Millionen und bis Anfang 2009 wurden mehr als 11 Mil- lionen Exemplare des Originalspiels verkauft.¯1 Erstaunlicherweise war das Spiel 12 Jahre nach seiner Veröffentlichung, und kurz vor der Publikation seines Nachfolgers, immer noch sehr beliebt und seine Spielergemeinschaft noch sehr aktiv – äußerst ungewöhnlich für digitale Spiele, die meist eine sehr viel kürze- re Lebensdauer haben. Es wurde nicht nur ein Publikumserfolg, sondern wur- de auch von diversen Kritikern als eines der besten und wichtigsten Computer- spiele gelobt, eines, das die Messlatte für Echtzeit-Strategiespiele höher legte. Bei seiner Veröffentlichung stach StarCraft in mehrfacher Hinsicht heraus: Als Erstes kann man die narrative Tiefe, Dichte und Weite der Spielwelt nennen, die als bricolage aus dem Science-Fiction-Fundus entwickelt wurde – mit Einflüs- sen, die von Star Wars (USA 1977, George Lucas) über Robotech (USA 1985, Ipp- ei Kuri), Alien (USA 1979, Ridley Scott) und Predator (USA 1987, John McTiernan) bis hin zu Starship Troopers (USA 1997, Paul Verhoeven) reichten. Der Plot des Kampagnenspiels war gut mit der Spielhandlung verwoben und wurde sowohl im Handbuch entfaltet als auch in den aufwendig vom Blizzard Entertainment Film Department entwickelten cut-scenes, den Missionsbeschreibungen sowie in den animierten Sequenzen innerhalb der Missionen. Die Handlung des Spiels war in einer interstellaren neodarwinistischen Rassenphantasie eingebettet, und ereignete sich im 26. Jahrhundert, in dem drei Spezies – die Protoss, Zerg und Terraner – um die Vorherrschaft rangen. Zweitens wurde von Kritikern die ›Persönlichkeit‹ des Spiels gelobt – seine für damalige Verhältnisse raffinierte audiovisuelle Inszenierung, die nicht nur den drei spielbaren Spezies, sondern auch jeder Figur einen markanten Charak- ter verlieh. Im Kontrast zum vorherigen Spiel von Blizzard, WarCraft II : Tides of Darkness (1995), das aus einer 3/4-Vogelperspektive inszeniert wurde, wur- de StarCraft isometrisch in Szene gesetzt. Und die Spielfiguren wurden nicht wie bei WarCraft II in 3D modelliert und nachträglich künstlerisch überarbei- tet, sondern in 3D entworfen und vollkommen von der game-engine gerendert, Das maschinelle Gefüge des (Echtzeit-) Strategiespielers 135 was dem Spiel eine stärkere Hightech-Anmutung verlieh (Giovetti 1996). Die Persönlichkeit der einzelnen Figuren wurde auch jeweils durch das Erscheinen eines animierten Porträts und das Ertönen eines aufwendig gestalteten Signa- turgeräusches bei ihrer Aktivierung verstärkt. Ein drittes Merkmal, das als herausragend bewertet wurde, war die Benutzer- freundlichkeit und Übersichtlichkeit des Interface von StarCraft. Das graphical user interface nahm knapp das untere Drittel des Bildschirms ein und umfasste neben dem animierten Porträt des ausgewählten Agenten essentielle Informa- tionen über ihn, die für ihn zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen so- wie eine Miniaturkarte der Spielwelt, über die der Spieler an jede Position per Mausklick springen konnte. Die Bedienung von StarCraft, für die man nur die Maus benötigte, war leicht zu erlernen, erlaubte aber auch fortgeschrittenen Spielern die Nutzung von Tastaturkürzeln und Tastenkombinationen, um z.B. Aktionen effizienter auszuführen, mehrere Einheiten als Gruppe zu definieren und sie schnell auswählen zu können oder um einer Figur mehrere Befehle zu erteilen, die nacheinander abgearbeitet werden sollten (queuing). Viertens trug die Netzwerktauglichkeit des Spiels zu seinem Erfolg bei. Die Kaufversion von StarCraft ließ sich mehrfach installieren, so dass man nur eine Lizenz brauchte, um mit seinen Freunden im LAN zu spielen. Und Star- Craft war nach Diablo (1996) das zweite Spiel von Blizzard, das auch über das Battle.net gespielt werden konnte – Blizzards äußerst erfolgreiche Plattform für Online-Spiele. 136 Mark Butler Aber vor allem stach StarCraft aufgrund seines gameplays heraus. Es bot als erstes Echtzeit-Strategiespiel drei distinkte spielbare Spezies an, die sich alle anders anfühlten – sie wiesen divergierende Spielmechaniken auf, verlangten je eigene Taktiken und Strategien und legten unterschiedliche Spielstile nahe. Das Design von drei heterogenen Spezies war laut Bill Roper – einem der betei- ligten Entwickler – das Ergebnis einer Kreuzung von Strategiespiel-Vorläufern mit symmetrischen Gegnern, wie WarCraft oder Schach, und dem Spiel Stein, Schere, Papier. So ist das innovative strategische Grundschema von StarCraft um Triaden aufgebaut: Einheit A ist Einheit B überlegen, Einheit C aber unter- legen (Dulin 1996).¯2 Ein solcher Ansatz war in einem Strategiespiel vorher noch nicht ausprobiert worden. Es gab zwar bei Dune II : The Building of A Dynasty (Westwood Stu- dios, 1992) kleine Unterschiede auf der Ebene der Spielmechanik – die drei ver- schiedenen Häuser der Artreides, Ordos und Harkonnen konnten je eine ein- zigartige Spezialeinheit produzieren und einen spezifischen Effekt bewirken. Aber bei StarCraft waren erstmals alle Einheiten, Strukturen, Entwicklungs- pfade, Fähigkeiten etc. – kurz: die gesamte Mechanik – bei jeder Spezies unter- schiedlich. Das gilt auch für das Nachfolgespiel StarCraft II : Wings of Liberty (2010), das im Folgenden untersucht wird.¯3 Die multiple und dezentrale Verkörperung des Strategiespielers Um an einem Computerspiel teilnehmen zu können, muss der Spieler eine »ver- körperte Beziehung« zu seiner Spielfigur bzw. seinen Spielfiguren herstellen (Ihde 1990, 72–80; Butler 2007a, 102–106; Butler 2010, 185–191). Er muss in eine virtuelle Verkörperung schlüpfen – eine zweite, simulierte Haut, die es ihm er- laubt, in der Spielwelt wahrzunehmen, sich zu bewegen und handeln. Diese vir- tuelle Verkörperung wird vom Interface des Spiels generiert – den gegebenen Steuerungsmöglichkeiten, der audiovisuellen Inszenierung des Programms so- wie den Rechenprozessen, die diesen Input und Output miteinander koppeln – und umfasst den gesamten Bereich, in dem der Spieler Einfluss ausübt und erleidet. Im Fall des Strategiespielers ist diese Verkörperung multipel und de- zentral. Der Wahrnehmungs- und Handlungsfokus ist nicht, wie bei den mei- sten Action- oder Adventure-Spielen, an einem Punkt – in Form eines zentralen virtuellen Protagonisten – gebündelt, sondern vervielfacht und verteilt sich in der Spielwelt. Eine Verdichtung existiert nur zu Beginn. Bei einem StarCraft- Spiel beginnt der Spieler in der Regel mit sieben Agenten – dem jeweiligen Das maschinelle Gefüge des (Echtzeit-) Strategiespielers 137 Hauptgebäude und sechs einfachen Arbeitern. Seine ersten Handlungen beste- hen darin, Ressourcen abzubauen, um weitere Figuren zu produzieren. Dieser Prozess setzt sich im weiteren Verlauf des Spiels unaufhörlich fort, so dass in den fortgeschrittenen Phasen des Spiels die virtuelle Verkörperung des Spie- lers mannigfache Agenten umfasst – bis zu 200 Einheiten und zahlreiche Pro- duktionsstätten –, die in der Spielwelt verteilt sind. Das simulierte Selbst des Spielers besteht aus dieser Vielheit von teilautonomen Agenten, die perma- nent wächst, schrumpft oder anderweitig rekonfiguriert wird. Die verteilte virtuelle Körperlichkeit ist das Medium, durch das der StarCraft- Spieler die Spielwelt wahrnimmt und in ihr agiert – sein Sicht- und Hörfeld ist von seinen Agenten abhängig und er handelt nicht direkt, sondern dele- giert Aufgaben an seine Figuren. Je nachdem, welche der drei zur Verfügung stehenden Spezies der Spieler auswählt, nimmt er eine unterschiedliche In- karnation an. Die gesamte Mechanik einer Spezies ist von denen der anderen beiden distinkt. Sie haben je eigene Modalitäten des Basisaufbaus, der Versor- gung, der Entwicklung, der Bewegung, der Aufklärung, der Ausbreitung, des Angriffs und der Verteidigung. Diese unterschiedlichen virtuellen Verkörpe- rungen des Spielers bieten unterschiedliche strategische Möglichkeitsräume an. Im Folgenden werden die essentiellen Eigenschaften der drei zur Auswahl stehenden Inkarnationen beschrieben. Dabei wird auf die Semantik zurück- gegriffen, die von den Spieldesignern in den Handbüchern, den Spielkampa- gnen und im Internet verbreitet wird, um die Funktionsweise der verschie- denen Spezies zu erklären. Dieser imaginäre »Ko-Text« (Beck 1997, 160) ist nicht nur eine ›schmückende Glasur‹, die über die symbolische game-engine gelegt wurde. Vielmehr liefert er einen konzeptionellen Rahmen, um die unterschied- lichen Mechaniken der drei Spezies zu erfassen. Des Weiteren klingen in die- ser semantischen Verkleidung der Spielmechanik, die sich biologistischer, ter- ritorialer und ökonomischer Topoi bedient, zentrale diskursive Dimensionen des Strategischen an. Diese strategischen Ausprägungen kommen zwar bei al- len drei Spezies zum Vorschein, lassen sich aber auch den einzelnen virtuellen Verkörperungen zuordnen. So verkörpern die Zerg am deutlichsten ein biolo- gistisches Strategem, die Terraner ein territoriales und die Protoss ein ökono- misches. Nicht zuletzt zeichnet sich in den folgenden Ausführungen zu den einzelnen Spezies auch die maschinelle Subjektivität des Computerstrategie- spielers ab, die im Anschluss beleuchtet wird. Kurz: In der Ontologie des Zerg-, Terraner- und Protoss-Seins wird dem Spieler nicht nur ein funktionales und operatives Verständnis seiner zur Auswahl stehenden Inkarnationen gegeben, sondern auch von der Medialität des Strategiespiels und der sich darin vollzie- henden Subjektivierung erzählt. 138 Mark Butler Zerg-Sein Zuallererst gibt es die Zerg, die durch ihre ausschließliche biologische Kompo- sition zu charakterisieren sind. Im Gegensatz zu den anderen beiden Spezies benutzen sie überhaupt keine Technologie. Alle Zerg-Agenten – Einheiten wie Strukturen – sind organisch und bilden gemeinsam eine gigantische lebendige Einheit: die Zerg-Kolonie bzw. den Zerg-Schwarm. Diese Vielheit baut ihre Ein- heiten oder Strukturen nicht. Vielmehr entwickelt sie alles aus den Larven, die kontinuierlich in ihrer Brutstätte produziert werden. Die erste mögliche Me- tamorphose der Larven, die dem Spieler zur Verfügung steht, ist die zu Droh- nen. Diese Einheiten können wiederum zur Ressourcen-Ernte genutzt oder in rudimentäre Schwarmstrukturen verwandelt werden. Für die Produktion und Weiterentwicklung von Einheiten und Strukturen benötigen StarCraft-Spieler zwei virtuelle Ressourcen: Mineralien und Vespene-Gas. Darüber hinaus gibt es eine Spezies-spezifische Ressource, die bestimmt, wie viele Einheiten herge- stellt werden können. Bei den Zerg ist das die Anzahl der Overlords, in welche der Spieler die Larven – als zweite Entwicklungsmöglichkeit – mutieren lassen kann. Diese f liegende Einheit generiert die Kontrolle, die der Spieler als zen- trale Zerg-Intelligenz braucht, um seinen wachsenden Schwarm zu regulieren. Die Zerg-Strukturen sind nicht Gebäude, sondern Organe der Zerg-Kolonie, die zusätzliches genetisches Material zur Verfügung stellen und dem Zerg- Schwarm neue Mutationsmöglichkeiten eröffnen. Die Brutstätte ist die an- Das maschinelle Gefüge des (Echtzeit-) Strategiespielers 139 fängliche Struktur der Zerg und die einzige, die auf normalem Terrain errichtet werden kann, da sie ihre eigenen Nährstoffe produziert. Alle anderen Struk- turen müssen auf einem Teppich aus nahrhafter Biomasse, dem sogenannten Kriecher, errichtet werden, der von der Brutstätte ausgesondert wird und nur durch besondere Maßnahmen vergrößert werden kann, z. B. durch Overlords, die die Fähigkeit entwickelt haben, temporäre Kriecherzonen zu erzeugen. Dementsprechend ist die Organisation der Basen für die Zerg viel zentraler als für die anderen Spezies. Und während der Kriecher dem Spieler Einblick in den Teil der Spielwelt gibt, in dem er sich befindet, macht er auch die Ausdehnung der Zerg-Kolonie, den von ihr eroberten Lebensraum, für Gegner sichtbar. Die Zerg verfügen über die schnellste und billigste Produktion von Einheiten im Spiel, da der Spieler mehreren Larven gleichzeitig den Befehl zum Mutieren erteilen kann und die Kosten der so produzierten Einheiten im Schnitt nied- riger sind als die von vergleichbaren Einheiten der anderen beiden Spezies. Aus diesen beiden Charakteristika ergibt sich die grundlegende Strategie, die der Zerg-Verkörperung inhärent ist: Massenproduktion und situative Adap- tion. Da Einheiten schneller und billiger produziert werden können, hat der Zerg-Spieler im Verlauf des Spiels eine quantitative Überlegenheit gegenüber den anderen Spezies. Das bedeutet auch, dass er am schnellsten seine Strate- gie ändern kann, um sich einer gegebenen Situation anzupassen. Der größte Nachteil der Zerg besteht wiederum darin, dass ihre Einheiten im Schnitt auch die schwächsten sind, wenn man sie mit ihren Pendants bei den anderen Spe- zies vergleicht. Falls Zerg-Einheiten sowie -Strukturen jedoch nur verwundet und nicht zerstört werden, haben sie die einzigartige Fähigkeit, sich zu rege- nerieren. Terraner-Sein Als Zweites stehen die Terraner zur Wahl – kybernetisch und biotechnisch mo- difizierte Nachkommen von ehemaligen Gefängnisinsassen und sozialen Au- ßenseitern, die von der Erde ins Exil geschickt wurden und als zäh sowie anpas- sungsfähig gelten. Die Terraner zeichnen sich vor allem durch ihre f lexible und modulare Technologie aus. Im Gegensatz zu den Zerg müssen sie alle Einheiten und Strukturen bauen. Für die Errichtung von Gebäuden benutzen sie Welt- raumbaufahrzeuge (WBFs), die in der Kommandozentrale produziert werden. Ein WBF kann sich immer nur einer Tätigkeit auf einmal widmen und muss da- bei bleiben, bis sie abgeschlossen ist, steht aber nach deren Beendigung einem Spieler anders als die Zerg-Drohnen wieder zur Verfügung und kann andere 140 Mark Butler Strukturen errichten, Ressourcen ernten oder beschädigte Gebäude bzw. me- chanische Einheiten reparieren. Während alle Zerg-Strukturen auf dem biologischen Kriecher errichtet werden müssen, haben die Gebäude der Terraner eine eigene Energieversorgung und sind nicht von einer externen Quelle abhängig. Somit sind die Terraner beim Bau ihrer Strukturen am flexibelsten und können z. B. schnell einen Bunker oder einen Raketenturm hinter feindlichen Linien errichten, um dort eine Stel- lung zu sichern. Eine weitere Besonderheit der Terraner-Strukturen ist, dass alle Hauptgebäude mobil sind: Sie können abheben und langsam zu einem an- deren Ort f liegen, um einem Angriff von Bodeneinheiten zu entkommen oder an eine strategisch günstigere Position umzusiedeln. Die Kehrseite der modu- laren und nomadischen Terraner-Bauweise ist, dass sie improvisiert und so- mit instabil ist. Wenn eine Struktur einen bestimmten Schaden erlitten hat und nicht repariert wird, zerfällt sie weiter bis zur völligen Zerstörung. Aber sie kann repariert werden. Ebenso kann der Terraner-Spieler seine Einheiten mit einem Medivac heilen – eine Lufteinheit, die als Transporter und Sanitä- ter dient. Das maschinelle Gefüge des (Echtzeit-) Strategiespielers 141 Während die Gebäude der Terraner keine externe Energieversorgung benöti- gen, müssen die Truppen und Fahrzeuge mit Essen, Treibstoff und Ersatzteilen versorgt werden. Diese Versorgung hängt von der Anzahl an Versorgungsde- pots ab, die – wie die Overlords der Zerg – die Größe der Terraner-Populati- on bestimmt. Hinsichtlich der Kosten und Lebensdauer ihrer Einheiten befin- den sich die Terraner in der Mitte zwischen Zerg und Protoss. Sie sind den Zerg quantitativ eher unterlegen und qualitativ eher überlegen, den Protoss hinge- gen qualitativ unterlegen und quantitativ überlegen. In dieser Mittelstellung bieten die Terraner die größte strategische Bandbreite des Spiels: Der Spieler kann Massen von billigen Einheiten produzieren, teure, aber potente Techno- logie einsetzen oder auf eine Mischung aus beidem setzen. Protoss-Sein Als dritte Spezies gibt es die Protoss, die über die fortgeschrittenste Techno- logie des Spiels verfügen – hochentwickelte robotische Kriegsmaschinen so- wie eine potente Psionik. Ihre Einheiten sind die mächtigsten des Spiels. Die Kehrseite ihrer fortgeschrittenen Technologie ist, dass ihre Einheiten auch die teuersten des Spiels sind. Die Produktivität der Protoss ist aufgrund ihres ho- hen Ressourcenverbrauchs im Verlauf des Spiels die geringste der drei Spezies. Deswegen fordern sie vom Spieler eine weitaus diszipliniertere und konserva- tivere Spielweise als die f lexiblen Terraner oder die adaptiven Zerg. Dafür sind ihre Einheiten und Strukturen auch die robustesten des Spiels. Sie regenerie- ren sich zwar nicht wie die der Zerg und lassen sich auch nicht reparieren bzw. heilen wie die der Terraner, sind aber dafür von Energieschilden umgeben, die Schaden abwehren. Der disziplinierte und konservative Charakter der Protoss schlägt sich auch in ihrer narrativen Rahmung nieder: Protoss-Krieger folgen den Lehren von Khala, einem rigiden spirituellen Pfad, der ihnen eine strenge Selbstführung und Askese abverlangt. Dies zeigt sich vor allem darin, dass der strategische Raum, den diese Spezies eröffnet, nicht besonders offen für Ver- änderungen ist. Die Strukturen der Protoss entstehen weder aus Mutationen wie bei den Zerg, noch werden sie vor Ort gebaut wie bei den Terranern. Stattdessen werden sie in fortschrittlichen Produktionsstätten, die sicher, d. h. weit entfernt von den Gegnern angesiedelt sind, hergestellt und dann an die Stelle teleportiert, an der sie gebraucht werden. Hierzu errichten Sonden, die Arbeiter-Einheiten der Protoss, ein Funksignal, das als Anker für die Teleportation dient. Nach der Er- richtung des Signals brauchen die Sonden nicht bis zur Erscheinung des Gebäu- 142 Mark Butler des zu warten, sondern können sofort anderen Tätigkeiten nachgehen. So kann eine Sonde schnell eine komplette Basis errichten, vorausgesetzt, dass genü- gend Ressourcen geerntet wurden. Die Gebäude werden mit Energie versorgt, die durch den Nexus, das Hauptgebäude der Protoss, kanalisiert und über ein Netz von Pylonen verteilt wird. Alle weiteren Strukturen müssen in der Nähe eines Pylonen stehen und an diese Energie-Matrix angeschlossen sein, um zu funktionieren. Somit sind die Protoss weniger f lexibel im Bau ihrer Strukturen als die Terraner, wobei sie wiederum nicht so zentralisiert sind wie die Zerg. Des Weiteren bedingt die Anzahl der Pylonen die mögliche Größe der Protoss- Population. Festzuhalten ist, dass die drei virtuellen Verkörperungen in StarCraft sich sehr deutlich voneinander unterscheiden und je eigene Aufbau- und Ausdehnungs- muster, Produktionsweisen und -kosten, Versorgungsstrukturen und Entwick- lungspfade sowie Schutz- und Regenerationseigenschaften aufweisen. Neben diesen unterschiedlichen Aufbau-, (Re-)Produktions- und Verwaltungsmecha- niken verfügen die drei Spezies dank ihrer diversen Einheiten zudem über ver- schiedene offensive und defensive Kapazitäten. Das maschinelle Gefüge des (Echtzeit-) Strategiespielers 143 Die Parameter der Spielfiguren Die zur Verfügung stehenden Einheiten der drei Spezies sind genauso distinkt wie die zuvor geschilderten Mechaniken. Grobe Ähnlichkeiten können zwar zwischen bestimmten Figuren festgestellt werden – etwa zwischen den Het- zern der Protoss, den Space-Marines der Terraner und den Hydralisken der Zerg, insofern alle Bodentruppen sind, die Boden- und Luftangriffe ausführen kön- nen. Sie fühlen sich aber alle anders an – sie spielen sich anders, haben an- dere Voraussetzungen, Charakteristika, Fähigkeiten, Entwicklungszeiten und Upgrade-Möglichkeiten, sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Spiel zu- gänglich und erfordern eine je eigene Taktik, um erfolgreich eingesetzt zu wer- den. Das Profil einer Einheit ergibt sich aus den folgenden Parametern: ˘ ihre Produktionskosten und -dauer sowie ihre Versorgungskosten ˘ ihre Bewegungsgeschwindigkeit und -modalität (Bewegung am Boden/ Fliegen/Springen/Teleportieren) ˘ ihr Wahrnehmungsvermögen (Reichweite/ Detektorenfähigkeit) ˘ ihre Sichtbarkeit bzw. etwaige Unsichtbarkeits-Optionen wie Tarnen oder Vergraben ˘ ihre Größe und Masse ˘ ihre Beschaffenheit (mechanisch/biologisch/energetisch) ˘ ihr Maß an Lebensenergie und ihre etwaige Regenerationsfähigkeit ˘ ihre Rüstung und etwaige Schilde ˘ ihre besonderen Verwundbarkeiten ˘ Frequenz, Reichweite, Dimension (Boden/Luft), Modalität (normal/ geradlinig/spritzend/explosiv) und Schaden ihrer Angriffe ˘ besondere Fähigkeiten (z.B. Vergiften/Nuklearschlag/Psi-Sturm) ˘ ihr spezifischer Energiehaushalt Die spezifischen Einheiten mit ihren jeweiligen Produktions-, Bewegungs- und Handlungsmodalitäten bieten unterschiedliche strategische Möglich- keitsräume. Zusätzlich zu den aus der Einzigartigkeit der einzelnen Figuren re- sultierenden Handlungsoptionen ergeben sich aus den Spezies-spezifischen Einheiten-Pools unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten, wodurch der strategische Raum des Spielers exponentiell erweitert wird. Die jeweilige Kom- binatorik bietet einzigartige Strategien, wodurch die Spezifik der jeweiligen Spezies besonders deutlich hervortritt. So kann der Spieler z. B. als Terraner das elektromagnetische Puls-Projektil seiner Ghost-Einheit mit der Yamato- Kanone seines Schweren Kreuzers kombinieren, was für Protoss-Gebäude und 144 Mark Butler -Einheiten besonders vernichtend ist, da sie alle von Energieschilden geschützt werden. Was die Erfahrung von StarCraft so herausragend macht, ist, dass das Kräf- teverhältnis zwischen den drei Spezies trotz ihrer Heterogenität äußerst aus- gewogen ist.¯4 Dies gilt auch hinsichtlich der einzelnen Figuren. Es gibt keine ›Über-Einheiten‹, die das Spiel dominieren, nachdem sie einmal erzeugt wur- den. Alle Figuren haben eine Funktion im Verlauf des gesamten Spiels. Einfache Einheiten, die zu Beginn produziert wurden, werden nicht obsolet, sondern bleiben auch in fortgeschrittenen Spielstadien wichtig. Das liegt zum einen da- ran, dass sie nachgerüstet werden können, und zum anderen daran, dass alle Figuren ihre spezifischen Stärken und Schwächen haben, die komplettierend kombiniert werden können.¯5 Hieraus ergibt sich eine Erklärung dafür, wa- rum StarCraft so langlebig ist: Es ist wie Schach aufgrund seiner strategischen Tiefe einfach zu lernen, aber äußerst schwierig zu meistern. Aus Platzgründen kann ich hier nicht auf alle Einzelheiten sämtlicher 48 Spielfiguren eingehen. Deswegen sollen im Folgenden nur ihre jeweiligen Besonderheiten bezüglich Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit beleuchtet werden, da dies eine zentrale stra- tegische Dimension ist. Strategische (Un-)Sichtbarkeiten Wie bei anderen Computerstrategiespielen üblich, ist das Spielfeld in Star- Craft vom fog of war eingehüllt. Anders als bei einer Schachpartie weiß der Spieler zunächst nichts über unerforschte Bereiche des Spielfelds und erst recht nichts über die Ausgangsposition oder die Spielzüge seines Gegners. Um eine geeignete Strategie bzw. eine angemessene Angriffs- oder Verteidigungs- taktik zu entwickeln, ist Aufklärung unerlässlich. Die Position des Gegners, der Stand seiner Entwicklung und die von ihm verfolgte Strategie – erschlossene Ressourcen, die Art und Menge der Einheiten, Expansionspläne, Anzahl von Ba- sen, Marschrouten, Verteidigungspositionen, Angriffsvektoren etc. – müssen erkundet und die eigene Strategie in Echtzeit daran angepasst werden. Hierzu haben die drei Spezies je eigene Möglichkeiten, die unterschiedlich schnell im Spielverlauf zur Verfügung stehen. Die Zerg haben zu Beginn die beste Aufklärung, insofern ihre Overlords über das ganze Spielfeld schweben und sich einen Überblick verschaffen können, ohne Angst haben zu müssen, dass gegnerische Einheiten sie vom Himmel ho- len, da keine Spezies am Anfang Luftangriffe durchführen kann. Die zentrale Aufklärungsmöglichkeit der Terraner erfordert den Bau von mindestens drei Das maschinelle Gefüge des (Echtzeit-) Strategiespielers 145 Strukturen: einem Versorgungsdepot, einer Kaserne und einer Satellitenzen- trale als Ausbaustufe der Kommandozentrale, die dem Spieler eine Scanner- suche ermöglicht. Statt zur Aufklärung Einheiten über das Spielfeld bewegen zu müssen, kann der Terraner-Spieler dann mit der Scannersuche – vorausge- setzt, er hat genügend Energie für ihren Betrieb – Einblick in jeden beliebigen Teil der Karte gewinnen. Die Protoss schließlich erhalten ihren dezidierten Auf- klärer, den Beobachter, am spätesten im Spiel, nachdem vier Strukturen errich- tet wurden: ein Pylon, ein Warpknoten, ein Kybnetikkern und eine Roboterfa- brik. Dafür kann diese Einheit nicht nur f liegen, sondern ist zudem unsichtbar. Unsichtbare Einheiten bieten nicht nur Aufklärungsmöglichkeiten, sondern auch taktische Vorteile. Neben dem Beobachter, der über keinerlei Waffen ver- fügt, gibt es drei weitere unsichtbare Einheiten im Spiel, die auch für taktische Angriffe genutzt werden können: Der Dunkle Templer der Protoss sowie die Ghosts und Banshees der Terraner, die aber erst zum Einsatz kommen, nach- dem die Tarn-Erweiterung für sie entwickelt wurde. Der Dunkle Templer ist permanent getarnt, während Ghosts und Banshees sich solange tarnen kön- nen, wie sie dafür Energie haben. Einen Sonderfall stellt das Mutterschiff der Protoss dar, das zwar selber sichtbar ist, aber alle Einheiten in seiner Nähe dem Blick der Gegner entzieht. Hierdurch und durch die Fähigkeit, Einheiten an seine Position teleportieren zu können, bietet es einzigartige strategische Möglichkeiten, die vom Bluff bis hin zur Invasion mit einer gewaltigen Armee reichen. Im Gegensatz zu Terranern und Protoss verfügen die Zerg nicht über Tarn-Technologie. Dafür können sie sich eingraben, wodurch sie ebenfalls un- sichtbar werden, solange sie nicht ins Wahrnehmungsfeld eines Detektors ge- raten. So können sie unauffällig signifikante Punkte der Karte überwachen bzw. auf der Lauer liegen und zu einem geeigneten Zeitpunkt überraschend auftauchen. Manche Zerg-Einheiten, wie Schaben und Verseucher, können sich sogar unter der Erde bewegen. Sobald eine der Parteien im Spiel über Unsicht- barkeit verfügt, erhalten die Detektoren der Spieler eine neue Relevanz, da sie den einzigen Schutz vor unsichtbaren Angriffen darstellen. Neben den bereits erwähnten Detektoren – Overlords, Satellitenzentrale und Beobachtern – er- füllen auch verschiedene Verteidigungsstrukturen (Sporenkrabbler, Raketen- türme, Photonenkanonen) diese wichtige Rolle. 146 Mark Butler Maschinelle Verkettungen Das Erlernen eines Computerspiels geht mit dem Einüben der angebotenen Spielsteuerung und der virtuellen Verkörperung einher. Um spielen zu können, muss der Spieler, wie zu Beginn geschildert, eine verkörperte Beziehung zu sei- nen Spielfiguren herstellen, was einen kognitiven und körperlichen Lernpro- zess voraussetzt. Über viele Stunden hinweg prägt er sich die vom Spiel gefor- derten kognitiven und sensomotorischen Muster ein. Zuallererst muss er die multisensorisch-symbolische Schnittstelle meistern. Er muss die Produktions-, Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Handlungsmodalitäten seiner Agenten so- wie ihre logischen Verknüpfungen internalisieren; muss sich ihre Parameter und tech trees sowie ihre audiovisuelle Inszenierung einprägen, um überhaupt strategisch agieren zu können. Darüber hinaus muss er auch ein Gefühl für die Rhythmen der Produktionsprozesse entwickeln und sich Tastaturkürzel für Befehle und Agentenauswahl merken. Der Erfolg dieser Einübung spielt bei Echtzeit-Strategiespielen eine zentrale Rolle, da das manuelle Geschick in der Steuerung der Agenten-Vielheit oft über ihr Schicksal entscheidet. StarCraft verlangt vom Spieler eine detailorientierte Führung seiner Figuren – das soge- nannte micromanagement –, um der Komplexität des Geschehens gerecht zu werden und die speziellen Charakteristika der Einheiten sowie Spezies-spe- zifischen Makromechaniken gewinnbringend einzusetzen, etwa die Fähigkeit der Zerg-Königin, zusätzliche Larven zur Welt zu bringen, oder die des Protoss- Nexus, eine Zeitschleife zu erzeugen, mit der Produktionsprozesse beschleu- nigt werden können. Indem sich der Spieler mit der multisensorisch-symbolischen Schnittstelle eines Computerspiels vertraut macht, geht er eine kybernetische Kopplung mit dem Code ein und stellt eine Verbindung zwischen seinem Körper vor dem Bild- schirm und seinem Datenkörper in der virtuellen Welt her. Er kartiert die Hand- lungsmöglichkeiten und Wahrnehmungsmodalitäten seiner Agenten-Vielheit auf seinem imaginären Selbstbild. Der VR-Pionier Jaron Lanier nennt die Plasti- zität des Selbstbilds, die sich an die je aktuelle virtuelle Verkörperung anpasst, »homuncular f lexibility« (2006). Diese Transformation des Selbstbilds gehört zum Alltag des Computerspielens. Mit der Verinnerlichung der Spielmechanik wird die virtuelle Verkörperung auf dem sensomotorischen Homunkulus kar- tiert, dem internen Wahrnehmungs- und Handlungsschema des Spielers. Hier- bei verwandelt sich die Schnittstelle von einer Zone der Trennung in eine des Übergangs. Sie wird zum Medium, tendenziell unsichtbar sowie durchlässig, während der Spieler sein Körperschema metonymisch ausdehnt, sodass er sei- ne virtuelle Verkörperung umfasst. Im Akt des Spielens wird die sie ermögli- Das maschinelle Gefüge des (Echtzeit-) Strategiespielers 147 chende Technik transparent und der physische Körper des Spielers wird mit sei- nem Datenkörper verkoppelt. Die Internalisierung des interaktiven Zeichensystems eines Spiels ist die dis- ziplinäre Dimension des Computerspielens. Um Ludwig Wittgenstein (1984, 239) zu paraphrasieren: Das Lernen eines Symbolspiels kommt einem Abrich- ten gleich. In der Übung des Computerspielers überschneiden sich »Selbst-« und »Herrschaftstechniken«, also sowohl solche Techniken, mit denen das Sub- jekt sich selbst formt, als auch solche, die es zu einem Objekt machen (Foucault 1993; Menke 2003; Butler 2007b). Strategiespiele drehen sich um Dominanz und Kontrolle. Ihnen wohnt eine Dialektik von Dominanz und Submission inne. Um sich als dominante Kraft zu erheben, muss der Strategiespieler sich zu al- lererst auf eine devote Position einlassen. Er muss sich dem Code beugen und der Logik seiner virtuellen Verkörperung unterwerfen. Strategiespiele sind Medien, in denen Wunschphantasien der Omnipotenz gelebt werden können, aber hierzu muss die Logik des jeweiligen Programms erst einverleibt werden. Strategischer Spielfluss Solange eine Spielsequenz von StarCraft gut läuft, wächst das Gefühl der Kontrolle beim Spielenden. Er erhält akustische Echtzeitrückmeldungen über das Ge- und Misslingen seines virtuellen Tuns und kann sich beim tätigen In- der-(Spiel-)Welt-Sein vergessen. Kurz: Er gerät in einen Zustand des »Flows« (Csikszentmihalyi 2010). In diesen intensiven Spielphasen übernimmt sein ver- körpertes Wissen die Steuerung; sein Ego löst sich auf und sein Denken und Handeln verschmelzen, während sich ein Gefühl der totalen Kontrolle bei ihm ausbreitet. Dieser Zustand ist beim Strategiespielen paradox. Mit der Aufhe- bung der selbstreflexiven Instanz des Egos wird die kognitive Distanz – eine Schlüsselkompetenz des modernen Strategen (Nohr/ Wiemer 2008) – aufgege- ben. Zugleich wird dadurch aber auch ein Höchstmaß an Effizienz entfesselt, das sich am deutlichsten bei professionellen StarCraft-Spielern und ihren na- hezu unmenschlichen actions per minute (APM) im Flow zeigt.¯6 Der Strategiespiel-Theoretiker Ted Friedman vergleicht diesen Zustand, den er auch beim Spielen des rundenbasierten Civilization (MicroProse 1991) konsta- tiert, mit dem Prozessieren der Rechenmaschine. »The pleasure of computer games is in entering into a computer-like mental state: in responding as au- tomatically as the computer, processing information as effortlessly, replacing sentient cognition with the blank hum of computation.« (Friedman 1999, 136) Wenn der Strategiespieler die Mechanik einer gegebenen Verkörperung gemei- 148 Mark Butler stert hat, kann er in einen Flow geraten, in dem eins harmonisch ins andere greift. Dann läuft das Spiel wie eine »gut geölte […] Maschine«, wie es ein Spie- ler beschreibt (Butler 2007a, 73). Die Agenten-Vielheit des Spielers ist dann mehr als die Summe ihrer Teile, was einen besonderen ästhetischen Reiz bie- tet. Diese erhabene Maschinen-Ästhetik verströmt die Anmutung der Perfekti- on und bedient den Wunsch des Spielers nach Vollkommenheit. Friedmans Charakterisierung des Civilization-Spielens als einen berauschten Flow trifft erst recht für ein Echtzeit-Strategiespiel wie StarCraft zu. In diesem Spiel strebt der Spieler eine optimale Konfiguration von Ressourcenernte, Inve- stition, Agenten-Produktion und -Steigerung an. Da alle Agenten nur eine Auf- gabe auf einmal ausführen können, ist eine zeitliche Abstimmung wichtig. Das internalisierte Wissen um die unterschiedliche Dauer und Rhythmik der Pro- duktionsprozesse setzt Aufmerksamkeitspotential für andere Aufgaben frei. Jeder Prozess der virtuellen Verkörperung hat eine eigene Dauer sowie einen eigenen Rhythmus und der Spieler muss das polyrhythmische Geschehen in der Gesamtheit erfassen, um die optimale Aufbaugeschwindigkeit zu erlan- gen. Aufgrund der zahlreichen Handlungsmöglichkeiten gibt es immer etwas zu tun und der StarCraft-Spieler muss sich in der Kunst des Multitasking üben, da er im Verlauf des Spiels immer mehr Projekte verwalten muss. Zur Strategie des Spiels gehört mehr als ernten, bauen und zerstören. Der Spieler muss auch planen, zählen, schätzen, positionieren, auskundschaften, kartieren, versor- gen, gruppieren, ordnen, dirigieren, angreifen, verteidigen, taktieren, parie- ren, sichern, überwachen, verwalten, experimentieren und justieren. Es gibt so gut wie keinen Moment, in dem er sich zurücklehnen und sein Tun reflektieren kann. Die Entscheidungen werden vielmehr im Eifer des Gefechts getroffen. Die Analyse des Spielgeschehens und der darin gemachten Fehler bzw. darin enthaltenen Optimierungsmöglichkeiten erfolgt erst im Nachhinein, mithilfe der statistischen Auswertung des Spielverlaufs und der angebotenen Replay- Funktion. Die Spielerfahrung von StarCraft ist angesichts seiner psychophysischen Ef- fekte mit einer Trance oder einem Rausch vergleichbar. Das Computerspiel überhaupt ist genealogisch den Rausch- und Traumtechniken zuzuordnen, in- sofern die interaktiven Licht- und Klangmuster des Spiels das Imaginäre stimu- lieren und eine Transformation des Bewusstseins herbeiführen. Das Computer- spielen implementiert kulturgeschichtlich ältere Methoden zur Erzeugung von Traum- und Rauschzuständen wie Rhythmik, Sinnesüberreizung und Trans- gressivität, wodurch der Neurotransmitter-Haushalt des Spielers verändert wird (Ludwig 1972; Lex 1979; Butler 2009). So kommt es z. B. zur Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin aufgrund des erhöhten Stresspegels. Echzeit- Das maschinelle Gefüge des (Echtzeit-) Strategiespielers 149 Strategiespiele gelten als die stressigsten Computerspiele überhaupt – Blitz- schach für das 21. Jahrhundert. Ebenso wird Dopamin aufgrund der Ungewiss- heit, die mit jeder Spielsituation einhergeht, ausgeschüttet. Es ist schwierig, den realen Rausch des Computerspielens aus der Perspektive des Spielers zu beschreiben, weil das »Gespür für sich« dabei grundlegend ver- ändert wird, wie es Friedman (1995, 83) für die Erfahrung des rundenbasier- ten Strategiespiels SimCity (Maxis 1989) bezeugt. »Flowing through a continu- ous series of decisions made almost automatically, hardly aware of the passage of time, you form a symbiotic circuit with the computer«. Friedman weist da- rauf hin, dass der Strategiespieler sich im Gleiten zwischen den verschiedenen Agenten weniger mit den einzelnen Figuren als mit dem Prozess in seiner Ge- samtheit identifiziert. Er begibt sich demnach in ein Identifikationsverhältnis mit den Aktionen seiner Agenten-Vielheit und, in einer metonymischen Ver- längerung, mit dem Programm bzw. dem Computer selbst. Diese f luid-prozes- suale Identität ist aber nicht bei allen Strategiespielen gleich, nicht einmal bei den verschiedenen Verkörperungen eines Spiels wie StarCraft. Sie unterschei- det sich, je nachdem wie die Teilprozesse der strategischen Verkörperung lo- gisch und rhythmisch miteinander verknüpft sind sowie welche Handlungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten sie anbieten, was sich exemplarisch an den drei Verkörperungen des StarCraft-Spielers zeigt. Wunschmechanik Eine präzisere Konzeption der Beziehung zwischen Spieler und Computerspiel- figuren als die der Identifikation kann mit der poststrukturalen Terminologie von Gilles Deleuze und Félix Guattari formuliert werden: Die Interaktion zwi- schen dem StarCraft-Spieler und seiner dezentralen virtuellen Verkörperung kann als eine rhizomatische Beziehung charakterisiert werden, die sich entlang der visuellen, akustischen, haptischen und symbolischen Dimensionen des In- terface entfaltet (Deleuze/Guattari 1997, 31; Butler 2004, 115f.; Butler 2007a, 207–217). Im Akt des Spielens sind Computer und Spieler heterogene Teilneh- mer an einem realen Prozess des Werdens. Der Spieler dekonfiguriert sich – löst sein Ego und seine alltäglichen imaginären Bezüge auf – und rekonfiguriert sich in der Computerspielwelt. Parallel dazu dekonfiguriert sich der Computer – projiziert seinen Code audiovisuell – und rekonfiguriert sich in der Phantasie und im Körper des Spielers. Computerspieler bezeugen, dass sich symbolische Spielstrukturen mit der Zeit in ihr Körpergedächtnis und Imaginäres einschrei- ben. Die eindrücklichsten Spuren dieses Prozesses sind mitunter Zeugnisse 150 Mark Butler von StarCraft-Spielern, die davon berichten, dass sie in ihren Träumen Partien durchspielen und dabei neue Strategien entwickeln (Butler 2007a, 150). Mit diesem theoretischen Rahmen kann man jeden Agenten, mit dem der Spie- ler interagiert, als eine »Wunschmaschine« charakterisieren – eine »auf binärer Regel und assoziativer Ordnung beruhende« Maschine, die stets »einer ande- ren angekoppelt« ist (Deleuze/Guattari 1977, 11). Jede Wunschmaschine befin- det sich im Verbund mit einer Vielheit anderer Wunschmaschinen, die gemein- sam ein »Gefüge« (agéncement) bilden (ebd., 12), eine maschinelle Verkettung von heterogenen Elementen. Im Fall des Computerspiels umfasst dieses En- semble Physisches wie Virtuelles – Elektronen, Transistoren, Code, Agenten, Lautsprecher, Klänge, Luftmoleküle, Ohren, Bildschirm, Photonen, Bilder, Au- gen, Aktionspotentiale, Neurotransmitter, Hände, Gesten, Maus, Tastatur, Cursor etc. Bei einem Strategiespiel wie StarCraft wird der Spieler Teil eines Wunschmaschinengefüges und begibt sich in einen realen Prozess des Aus- tauschs mit der Produktivität sowie Destruktivität der damit verbundenen vir- tuellen Agenten-Vielheit. Deleuze’ und Guattaris Bild vom Marionettenspieler, das das herkömmliche Verständnis von dessen Omnipotenz verwirft, lässt sich auf das Verhältnis des Computerspielers zu den von ihm kontrollierten Figuren übertragen. »Als Rhizom oder Mannigfaltigkeit betrachtet sind die Fäden der Marionette nicht an den angeblichen Willen eines Künstlers oder Marionet- tenspielers gebunden, sondern an die Mannigfaltigkeit von Nervenfasern, die in anderen, mit den Fäden der ersten verbundenen Dimensionen eine zweite Marionette bilden« (ebd., 18). Über die jeweilige Kontaktoberfläche der multi- sensorisch-symbolischen Schnittstelle miteinander gekoppelt, tanzen die elek- tronischen Zustände der Transistoren und die Aktionspotentiale der Nerven- bahnen miteinander. Im realen Rausch des Spielens besetzt der Wunsch die Wahrnehmungs- und Handlungsprozesse der virtuellen Verkörperung (ebd., 386; Butler 2007a, 214– 217). Das Aussehen, der Klang und die Handhabung der Agenten-Vielheit wird mit Lust besetzt – was z. B. darin spürbar wird, dass das Zischen der ersten Zerg-Hydralisken, die Hydraulik der ersten Terraner-Belagerungspanzer oder die Computermelodie des ersten Protoss-Beobachters das Herz eines geübten Spielers ein klein wenig schneller schlagen lassen kann. Innerhalb dieses be- rauschenden Gefüges gibt es keine Dualität von Bewusstem und Unbewuss- tem mehr, weil das Unbewusste dort produziert wird, wohin das vom Begehren mitgerissene Bewusstsein geht (Deleuze/Guattari 1997, 387). Dies korreliert mit der Erfahrung des Flows. In der kontinuierlichen Interaktivität – der stetig strömenden Rückkopplung zwischen den Handlungen des Spielers, den Reakti- onen des Computers auf diese Aktionen, den Reaktionen des Spielers auf diese Das maschinelle Gefüge des (Echtzeit-) Strategiespielers 151 Reaktionen etc. – wird die Grenze zwischen dem Imaginären des Spielers und dem Symbolischen der Spielmechanik verwischt. Strategie und Situation Im Verlauf einer Strategiespiel-Sitzung steigt die Komplexität des Wunsch- maschinengefüges exponentiell: Beginnt der StarCraft-Spieler mit sieben Agenten, kann er wie schon erwähnt am Ende über 200 Einheiten und zahl- reiche Produktionsstätten verfügen. Dementsprechend muss er um die Ho- heit über diese wachsende Komplexität kämpfen. Während Strategiespiele zu- nächst den Wunsch nach Kontrolle bedienen und ein Phantasma der totalen Kontrollierbarkeit simulieren, ist die Beherrschung des virtuellen Geschehens höchstens temporär und stets prekär. In bestimmten Spielphasen, vor allem zu Beginn, läuft die eigene Produktions- und Kriegsmaschine zwar geschmei- dig und geordnet. Diese erhabene Ordnung hält aber nicht lange an. Mit dem Fortschreiten des Spiels wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sie in ein totales Tohuwabohu kippt. Ein StarCraft-Spiel lässt sich in drei Phasen unterteilen: Der Beginn ist eine Serie von ritualisierten Handlungen, die alle mit höchs- ter Effizienz ausgeführt werden. Der Basisaufbau verläuft routiniert. Darauf folgt die eigentliche Situation des Spiels, ein Begriff aus dem Kriegstheater, der das Aufeinandertreffen von agonalen Kräften bezeichnet. Diese mittlere Spiel- phase ist vor allem von Chaos und Disharmonie geprägt. Das Situative ist das Gegenstück zum Strategischen und bringt wachsende Entropie mit sich. Die konkreten kontingenten Gegebenheiten – die vom Terrain über die eingeschla- genen Marschrouten bis zur Summe der gegnerischen Entscheidungen reichen – drohen jedweden Plan, egal wie sorgfältig er geschmiedet wurde, über den Haufen zu werfen. Diese Phase ist von Ungewissheit gekennzeichnet. Sobald diese verf logen ist, tritt das Spiel in die letzte Phase ein, die Auflösung, in der letzte, vorhersehbare Aktionen vollzogen werden – und man bei Mehrspieler- Partien als Sieger die Gelegenheit hat, sich hämisch zu freuen und sich mit sei- nem Triumph zu brüsten. Inmitten der Spielsituation lässt sich die optimale Koordination der Agenten- Vielheit, die zu Beginn gegeben ist, selten aufrechterhalten. Jeglicher Kon- takt mit dem Feind droht die erhabene Maschinenordnung durcheinanderzu- bringen. An diesen Berührungspunkten geraten die Produktionsketten sowie Marsch- und Angriffsformationen in Unordnung. Jede Einheit entfesselt dann eine unkoordinierte, anarchische Teilautonomie, die in einem fatalen Chaos enden kann. Hier zeigt sich, dass die vermeintlich souveräne Position des Stra- 152 Mark Butler tegiespielers äußerst instabil ist und eine gewaltige Hybris birgt. Selbst bei einem tatsächlichen Gott-Spiel wie Black & White (EA Games 2001) ist der Spie- ler nur quasi-omnipräsent und -potent (Butler 2007c). Seine Handlungs- und Wahrnehmungssphäre ist stets begrenzt, auch und gerade durch seine Auf- merksamkeitskapazität. In diesen Momenten, in denen die erhabene Ordnung auseinanderbricht, breitet sich bei ihm ein Gefühl der Ohnmacht aus. Wunschmaschinengefüge bilden kein monolithisches, in sich abgeschlossenes Ganzes. Das kann höchstens so erscheinen, wenn man sie als große, gesell- schaftlich-technische bzw. »molare Maschine« betrachtet (Deleuze/Guatta- ri 1977, 41; 361ff.). In Deleuze’ und Guattaris Denken fungiert die Wunschma- schine aber als Vexierbild – sie ist eine theoretische Kippfigur, die nicht nur in der molaren Ordnung operiert, sondern auch in der molekularen. Als mo- lares Ensemble gesehen funktionieren Wunschmaschinen »nur unter der Be- dingung ihres störungsfreie[n] Verlaufs« (ebd., 41). Diese maschinelle Dimen- sion zeigt sich in der narrativen Rahmung von StarCraft, die das Streben der drei Spezies als ein Bemühen um die »Reinheit der Form« bzw. die »Reinheit der Essenz« darstellt (Underwood et al. 1998, 51ff.). In molekularer Hinsicht zeigt sich hingegen, dass Wunschmaschinen ihre molare Funktionalität stets unterwandern. Sie stören »fortwährend ihren Funktionsablauf und laufen nur als gestörte« (Deleuze/Guattari 1977, 41). In dieser Dimension gehört das dys- funktionale, nicht-utilitaristische Fehlfeuern der Wunschmaschinen zu ihrem Funktionieren dazu. Während die Wunschmaschinen in der molaren Ordnung einem utilitaristischen Effizienz- und Funktionsimperativ unterliegen – und somit dem neoliberalen Dispositiv zur ökonomischen Selbstoptimierung zu- gerechnet werden können (Bröckling/Krasmann/Lemke 2000) –, entfalten sie in der molekularen Ordnung ein idiosynkratisches Spiel. Jedes Wunschmaschi- nengefüge kann mehr zur einen oder mehr zur anderen Dimension neigen, was u. a. von ihrem Kontext abhängt. Es macht einen signifikanten Unterschied, ob StarCraft in der Freizeit mit Freunden bei einer LAN-Party gespielt wird – wo es eher als spielerische Selbsttechnik (Butler 2007b) erfahren und praktiziert wird – oder aber in einer Profi-Liga oder gar als Teil des Aerospace Basic Course der US Air Force, wo es benutzt wird, um Krisenplanung in Stress-Situationen zu unterrichten und dabei eindeutig in ein Disziplinar- bzw. Kontrolldisposi- tiv eingespannt ist.¯7 Auch wenn die Netzwerkumgebung des Battle.nets die Anziehungskraft der molaren Dimension erhöht – in Form der darin abgebil- deten leaderboards, die als Disziplinartableaus fungieren –, darf die spiele- rische Dimension von StarCraft (und des Strategiespielens überhaupt) – die berauschende Erfahrung des simulierten Aufeinandertreffens von agonalen Das maschinelle Gefüge des (Echtzeit-) Strategiespielers 153 Spezies, die ihren Höhepunkt in der kontingenten Situation des midgame er- reicht – nie vergessen werden. Wunschmaschinengefüge existieren stets in beiden Dimensionen und ha- ben eine Neigung entweder zum Molaren oder zum Molekularen. Sie können aber auch schlagartig ihre Orientierung ändern. So folgt das Gefüge des Star- Craft-Spielers zu Beginn einem molaren Optimierungsimperativ, zeigt aber in der eigentlichen Spielsituation der mittleren Phase zahlreiche molekulare Bruchstellen auf, an denen die effizienten Abläufe der Produktions- und De- struktionsketten außer Kontrolle geraten können. Die Spannung zwischen den molaren und den molekularen Dimensionen der Agenten-Vielheit ist eine fun- damentale Quelle von StarCrafts Reiz.¯8 Im Verlauf des Spiels muss der Spie- ler um die Hoheit über sein Wunschmaschinengefüge ringen. Er oszilliert zwi- schen Phasen höherer Integrität seiner virtuellen Verkörperung und solchen, in denen diese zusehends zerfällt. Wenngleich es stimmt, dass Echtzeit-Strate- giespielen wie StarCraft ein Effizienzimperativ innewohnt – hinsichtlich des Abbaus von Ressourcen und des Aufbaus von Produktionslinien –, ist dies den- noch nur die Hälfte der Geschichte. Die Optimierung dieser Prozesse, also die Reduktion des Spiels in der Produktionsmaschine, dient dazu, die spielerische Potenz auf dem Schlachtfeld zu maximieren. Je effizienter der Aufbau, desto mehr Freiraum hat der Spieler, um in der rasanten Situation des Spiels strate- gische Entscheidungen zu treffen. Anmerkungen 01˘Ein Großteil davon wurde in Südkorea verkauft, wo das Spiel zum Nationalsport gewor- den ist. 02˘ Dieses Grundschema wird durch die Upgrade-Möglichkeit des Spiels verkompliziert. Demnach ist Einheit A gegenüber Einheit B überlegen, solange Einheit B noch nicht auf das Derivat B1 erweitert wurde. 03˘ Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf den Mehrspielermodus von STarcraFT ii: wingS oF liberTy. Insofern nicht anders ausgewiesen, ist mit STarcraFT im Weiteren diese Version und Spielmodalität gemeint. 04˘ Die Ausgewogenheit des Spiels ist zentral für Blizzard, weswegen sie stetig durch pat- ches nachjustiert wird. 05˘ Die Ausgewogenheit des Spiels wurde von den Designern im Jahr der Veröffentlichung durch die brooDwar-Erweiterung bereits nachgebessert. Jede Spezies erhielt darin zwei 154 Mark Butler neue Figuren, um strategische Lücken zu schließen, bereits vorhandene Einheiten wurden in ihren Parametern justiert, um die Ausgeglichenheit zu optimieren, defensive Strukturen wurden verbessert, um einen besseren Schutz vor schnellen Ansturm-Taktiken im frühen Spielverlauf zu bieten, und jede Spezies erhielt effektive Gegenmaßnahmen für feindliche Schwarm-Taktiken. In den knappen Worten der Designer: Das Spiel wurde strategischer. Vgl. Saggeran 1998. 06˘ Vgl. z. B. die APM-Vorführung von NADA und MOON: http://www.youtube.com/ watch?v=YbpCLqryN-Q; zuletzt aufgerufen am 12.01.2014. 07˘ Vgl. Air University Catalog. Academic Year 1999-2000, Air University Press, Maxwell Air Force Base, Alabama, June 2000. 08˘ Die molekulare Dimension des Wunschmaschinengefüges zeigt sich auch in den idiosyn- kratischen Spielstilen verschiedener Spieler – der Bevorzugung von bestimmten Einheiten, Taktiken und Strategien –, Vorlieben, die sich nicht aus dem molaren Effizienzimperativ ab- leiten lassen. Bibliografie Beck, Stefan (1997) Umgang mit Technik. Kulturelle Praxen und kulturwissenschaftliche Forschungskonzepte. Berlin: Akademie. Bröckling, Ulrich/ Krasmann, Susanne/ Lemke, Thomas (2000) Gouvernementa- lität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung. In: dies. (Hg.): Die Gouverne- mentalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a. M.: Suhr- kamp, S. 7–40. 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Hinter dieser Frage verbirgt sich einer der zentralen The- menkomplexe des Forschungsprojekts Strategie spielen.¯1 Diese Affinität zwi- schen dem Computer, als rechnende Maschine und Wunschkonstellation, und dem Strategischen, als Diskurs von Planung, Steuerbarkeit und Zielerreichung, möchte ich mit dem folgenden Beitrag noch einmal am Beispiel numerischer Praktiken verdeutlichen. Strategisches Denken meint in diesem Zusammen- hang zunächst allgemein ein langfristiges, planerisches Denken, bei dem ver- schiedene Optionen in Hinblick auf ein festgelegtes Ziel abgewogen werden (ebd., 7-12). Dieser Abwägungsprozess resultiert in ein gleichermaßen zielori- entiertes, strategisches Handeln. Die Orientierung hin auf ein definiertes Ziel bedingt dabei zum ersten den kontinuierlichen Abgleich zwischen dem ange- strebten und dem aktuell bestehenden Zustand. Zum zweiten setzt er eine Formulierung des Ziels voraus, die solch ein am Ziel orientiertes Handeln und Monitoring zulässt. Die Beschreibung und Ausformulierung strategischen Denkens und Handelns ist dabei nicht zwingend quantitativer Natur, wird je- doch regelmäßig durch ein ›kühl‹ berechnendes Denken geprägt und orientiert sich dementsprechend bei der konkreten Formulierung von Zielen an quanti- tativen Formen. Dies gipfelt in der Annahme, dass überhaupt nur quantitativ messbare Sachverhalte auch strategisch organisierbar seien: »Measurement matters: If you can‘t measure it, you can‘t manage it« (Kaplan/Norton 1996, 21). In dieser Perspektive sind zweckdienliche und damit ›gute‹ Ziele »SMART«, also »specific, measurable, attainable, relevant und time-bound«.¯2 Hinsichtlich strategischer Computerspiele ist die Formulierung von quantitativen Zielen oder zumindest von quantitativen Zwischenzielen ausgesprochen verbreitet. Strategisches Handeln steht in numerischer Hinsicht jedoch auch in einem grö- ßeren gesellschaftlichen Zusammenhang, der durch die Quantifizierung von Handlungen geprägt ist. Über die ›Zahlenlawine‹ (»avalanche of numbers«, Ha- cking 1990), die sich in Form von zahlreichen statistischen Erhebungen ab dem 18. Jahrhundert über die westliche Gesellschaft ›ergießt‹, bis hin zu zeitgenös- sischen Formen der numerischen Selbstüberwachung wie der Bewegung des Das Spiel mit der Zahl 159 »Quantified Self«, in der mit Hilfe von Smartphones und anderen Sensoren der Alltag individuell verdatet wird. In dem folgenden Beitrag soll es dabei weniger um die Herstellung einer Bere- chenbarkeit des gesamten zur Verfügung stehenden Handlungsraums gehen, wie sie etwa die Spieltheorie oder die Kybernetik zu modellieren versuchen (Nohr/Wiemer 2008, 13), sondern um die Ausrichtung einzelner individueller Handlungen an quantitativen Werten. Kurz gesagt: Es geht um Zahlen – Zahlen als mathematisches Element und vielmehr allerdings noch um Zahlen als eine Kulturtechnik, die in einem gesellschaftlich geprägten, diskursiven Raum von (vermeintlicher) Präzision, Steuerbarkeit und Optimierbarkeit funktioniert. In diesem Sinne sind Zahlen erheblich mehr als eine formal-logische Notation. Wie zu zeigen sein wird, dienen Zahlen in Form von bestimmten Kulturtech- niken als normalisierende und subjektivitätsstiftende Praktiken. Der Computer koppelt an diesen Diskurs in beiderlei Hinsicht an, technisch wie kulturell. Technisch funktioniert der Rechner nach dem Prinzip, das Hartmut Winkler (1997, 223) als »clara et distincta« bezeichnet: »Zerlegung, Ordnung und Distinktion; das entscheidende Potential der ›universellen diskreten Maschine‹ scheint in ihrer trennenden Kraft zu liegen. Sofort aber wird man relativieren müs- sen: die vielbeschworene ›0 und 1‹ nämlich mag die Basis aller Folge-Trennungen sein, im Kon- kreten weit wichtiger sind die Festlegungen einer distinkten Logik, die finite Zustände in neu- erliche finite Zustände überführt und nur solche Transformationen zulässt, die ihrerseits finit, transparent und – zumindest dem Prinzip nach – nachvollziehbar sind« (ebd., 224). Diese Rationalität informatorischen Denkens ist eine in sich geschlossene. Auf jede Frage gibt es eine Antwort oder einen Ausnahmefehler. Eine offen geblie- bene Frage, eine Anfrage ohne Antwort, kann es nicht geben – sie ist zumindest in der Logik der Maschine als ein Fehler zu werten. Die Innenwelt des Compu- ters ist zudem nicht nur eine geschlossene, sondern auch eine diskrete. Konti- nuitäten müssen in individuelle Elemente zergliedert werden, um hier Platz zu finden. Während ›die Welt draußen‹ vielfältig, verwirrend, komplex und konti- nuierlich ist, sind die Daten ›in der Maschine‹ strukturiert und in einzelne Ele- mente unterteilt abgelegt. (ebd., 223-224) Auf dieser technischen Ebene, also der Ebene interner Repräsentation von Ob- jekten, Beziehungen und Zuständen sowie der zugehörigen Funktionen, Algo- rithmen und Berechnungen, funktionieren letztlich alle Computerspiele auf der Basis von in distinketen Werten codierten Zahlen, entsprechend des grund- legenden Konstruktionsprinzips der Maschine, auf der sie ausgeführt werden. Strategiespiele und auch viele weitere strategisch geprägte Spiele ergänzen dieses allgemeine Wesen des Computerspiels jedoch um eine Eigenschaft: Sie 160 Stefan Böhme Abb. 1: Screenshot aus World of WarCraft verlängern die technisch-quantitative Basis des Computers hinein in die Ebe- ne des Interface. Der Umgang mit Zahlen wird zu einem zentralen Prinzip des Spiels selbst, im Sinne eines Spielens mit oder nach Zahlen. Zwei kurze Bei- spiele sollen diesen ersten Gedankengang verdeutlichen. 1. Bei dem MMOPRG World of Warcraft (im folgenden abgekürzt als WoW) (Blizzard Entertainment 2005) ist ein zentrales Element die Spielfigur, die der Spieler oder die Spielerin durch die Spielwelt führt. Dargestellt wird diese Fi- gur dabei ausgehend von der Vorstellung eines unveränderlichen Charakter- kerns und einer Peripherie an veränderbaren Fähigkeiten und Eigenschaften. Der charakterliche Kern schlägt sich in WoW in verschiedenen ›Klassen‹ nie- der (zum Beispiel ›Hexenmeister‹, ›Jäger‹, ›Priester‹, ›Schurke‹) mit ›Talenten‹ beziehungsweise ›Talentbäumen‹ (beim Jäger etwa ›Tierherrschaft‹, ›Treffsi- cherheit‹ und ›Überleben‹) und weiteren spezifischen Eigenschaften, während die Peripherie sich zusammensetzt aus optimierbaren Fähigkeiten und Eigen- schaften zu ›Angriffskraft‹, ›Tempo‹, ›Trefferwertung‹, etc. (vgl. hierzu auch Nohr 2013 und Böhme 2008) Diese Eigenschaften und Fähigkeiten der Spielfi- gur finden ihren Ausdruck in Form von Punkten, also singulären numerischen Werten. Gleichermaßen werden auch bestimmte Handlungen der Figur quan- tifiziert und schlagen sich als ›Erfahrungspunkte‹ nieder. Visuell werden die- se Werte (etwa ›Schaden‹ oder ›Heilung‹) dabei direkt im Interface angezeigt. Bei einem ›Kampf‹ etwa werden die entsprechenden Werte innerhalb des Spielinterfaces in der Nähe des Ortes der Handlung direkt eingeblendet (sie- Das Spiel mit der Zahl 161 he Abbildung 1). Auch bei weiteren Eigenschaften und Fähigkeiten werden die konkreten Zahlenwerte direkt angezeigt, wenn auch oftmals begleitet durch zusätzliche visuelle Markierungen wie Farbcodes oder eher metaphorische Grafiken wie anteilig gefüllte Behälter (als Ausdruck einer bestimmten Men- ge an Punkten, siehe den hellen Balken unten sowie oben links in Abbildung 1). Das dem Spiel zugrunde liegende quantitative Modell schlägt sich in WoW also zumindest in Teilen auf der Oberfläche nieder. Die Orientierung an Zahlen- werten ist dabei jedoch nicht auf die im Spielinterface dargestellten Werte beschränkt. Neben den vom Spiel direkt präsentierten Zahlen existieren viel- fältige Ansätze seitens der Spieler, um das Spielgeschehen auf weitere Weise numerisch zu optimieren. Dafür analysieren Spielerinnen und Spieler die Algo- rithmen und Wirkungsgefüge der Spielmechanik von WoW und planen dem- entsprechend die Ausgestaltung ihrer Spielfigur oder das taktische Vorgehen in bestimmten Spielsituationen. Über ihre Erkenntnisse und deren praktische Bedeutung findet ein Austausch in entsprechenden Foren und Wikis statt. Diese Diskussionen laufen oftmals unter dem Begriff theorycraft bzw. theory- crafting und resultieren im Fall von WoW in Zahlen wie etwa ›damage per se- cond‹ oder ›hunter agility points‹. Teilweise fassen diese Werte anhand einer bestimmten Formel vom Spiel dargestellte Spielwerte zu Meta-Zahlen zusam- men oder sind umgekehrt Ergebnis einer Zerlegung von Kennzahlen aus dem Spiel, bisweilen stellen die Spieler bestehende Werte auch grafisch in anderer Form dar oder etablieren auch komplett eigenständige Zahlen, indem sie Log- dateien auswerten oder mit zusätzlichen Plugins im Spiel eigene Werte ausle- sen und damit weitere Zahlen aus den ›Tiefen‹ der Spielmechanik an die Ober- f läche holen.¯3 Zum Abschluss dieses ersten Beispiels sei einschränkend darauf verwiesen, dass ein Spiel wie WoW auch mit einem anderen Fokus gespielt werden kann. Unabhängig von allen Zahlenwerten kann ich mich als Spieler auch auf die Geschichte konzentrieren, auf die optische Ausgestaltung ›meiner‹ Spielfigur oder WoW auch schlicht als elaborierten Chatclient nutzen. In meiner Analyse geht es daher auch nicht darum, inwieweit oder wie stark wie viele Spieler kon- kret auf die angebotenen Zahlen und Optimierungsmechanismen eingehen. Untersucht werden soll vielmehr, welche Angebote in dieser Hinsicht gemacht werden und in welchem Zusammenhang diese zu anderen Diskursen stehen. Es lässt sich dabei bereits absehen, dass die Existenz der Zahlenwerte im In- terface von WoW und ihre zentrale Bedeutung innerhalb des Spiels die Spie- lenden zu einer kontinuierlichen Optimierung eben dieser Werte anhält, was in einem zweiten Schritt letztlich als Training in Selbstoptimierung verstanden werden kann, wenn die Spieler die Funktionsweise dieser an Zahlen ausgerich- 162 Stefan Böhme teten kontinuierlichen Verbesserungsprozesse in spielexternen Kontexten anwenden. 2. Wie nahe die Verwandtschaft zwischen Com- puterspielsoftware und auf numerische Inhalte ausgerichteten ›professionellen‹ Applikationen wie etwa Tabellenkalkulationen strukturell und visuell ist, zeigt ein Vergleich einer Tabelle aus dem Spiel FIFA Fussballmanager 10 (Bright Futu- re 2009) und einer Tabelle mit identischen Wer- ten in Microsoft Excel 2010 (Microsoft 2010) (s. Abbildung 2). Die praktische Anfertigung dieser Abbildung war dabei recht einfach, da der FIFA Fussball- manager 2010 eine Exportfunktion besitzt, wel- che die Überführung der Spieltabellen in eine spielexterne Tabellenkalkulation von vornhe- rein vorsieht. Das Spiel ist eine klassische Wirt- schaftssimulation, in der die Spielerin oder der Spieler die wirtschaftlichen und sportlichen Ge- schicke eines Fußballvereins führt. Statt Hand- Abb. 2: Screenshot aus Microsoft Excel 2010 Auge-Koordination und Reaktionsschnelligkeit (oben) und Screenshot aus FIFA Fussballma- stehen Tabellen, Statistiken, Datenbanken, Klas- nager 10 (unten) sifikationen, Sortierungen, Optimierungen etc. im Vordergrund. Das Spiel besteht in dieser Per- spektive darin, durch Suchen, Sortieren und Abfragen eine bestimmte Ord- nung herzustellen, also die verschiedenen Zahlenwerte innerhalb der unter- schiedlichen Tabellen in eine bestimmte Reihenfolge zu bringen; in diesem konkreten Fall die Tabelle ›Bundesliga‹ in die Reihenfolge ›mein Team auf Platz eins‹.¯4 Die Tabellen und Zahlenwerte sind vergleichbar zu WoW zwar thema- tisch eingebettet (etwa als Trainingsplanung, Bundesliga-Ranking etc.), treten jedoch deutlicher in den Vordergrund (siehe Abbildung 3). Auch in zahlreichen nicht-strategischen Spielen steht am Ende ein Highscore und damit letztlich ein Zahlenwert. Davon abgesehen verschwinden viele Zah- len, Tabellen und Datenbanken dieser Spiele hinter einem Interface. Es kommt zu einer Versinnlichung und Naturalisierung, bei der die Zahlen und Tabellen aus dem Blick der Spielerinnen und Spieler ›verschwinden‹. (Böhme/Nohr/Wie- mer 2012, 15) Strategiespiele stellen Zahlen jedoch bisweilen ins Zentrum des Spielgeschehens, bei FIFA Fussballmanager 2010 beispielsweise in Form von Datenbanken. Hier ist die Highscore-Tabelle nicht nur der abschließende quan- Das Spiel mit der Zahl 163 Abb. 3: Quelle: Verschiedene Screenshots aus FIFA Fussballmanager 10 titative Ausdruck eines Spielerlebnisses, sondern stellt das Spiel selbst dar. Der spielerische Kniff besteht darin, dass ich zunächst erkennen muss, welche Ord- nung der Tabellen die korrekte ist, sie dann jedoch nicht einfach umgehend herstellen kann. Als Spieler kann ich eben nicht direkt die jeweiligen Tabellen verändern, sondern muss eine Reihe von Datenbankoperationen nutzen, um die Werte in den jeweiligen Tabellen zu optimieren. Im Sinne des Spiels hei- ßen diese Operationen dann zum Beispiel ›Spieler in Trainingscamp schicken‹. Nicht zufällig handelt es sich dabei in vielen Fällen um Strategiespiele, Ma- nagement- und Wirtschaftssimulationen, also Spiele, die sich auch thematisch (vermeintlich) rationalisierten Praktiken widmen. In Hinblick auf Zahlen und quantitative Verfahren bieten Spiele daher keine ›Flucht aus der Realität‹. Im Gegenteil können spezifische Spiele als Training im Umgang mit an Zahlen orientierter Selbstoptimierung betrachtet werden. Angestellte wie Manager verbringen tagtäglich ihre Arbeit im Büro mit Zah- len, Tabellen, Diagrammen und Ähnlichem. Zumindest ein Teil davon setzt sich nach Abschluss der Arbeit erneut vor den Bildschirm, um weitere Berech- 164 Stefan Böhme nungen und Optimierungen durchzuführen (Yee 2006, 69) – wenn auch nicht anhand der Verkaufszahlen des letzten Quartals ›ihres‹ Unternehmens, son- dern für eine stärkere Angriffskraft ›ihrer‹ Spielfigur oder eine bessere Positi- on in der Liga ›ihres‹ Vereins. Ausgehend von diesen beiden Beispielen, WoW und FIFA Fussballmanager 10, werden drei spieltechnische Funktionen von Zahlen, Tabellen, Statistiken und Datenbanken in Strategiespielen deutlich: Als erstes geben Zahlen Spie- lern ein Feedback über das Ergebnis ihrer Handlungen im Spiel. So erlauben mir etwa die eingeblendeten Zahlenwerte während eines Kampfes in WoW zu beurteilen, wie effektiv eine Angriffshandlung gewesen ist. Gleichzeitig kann ich anhand des ›Gesundheitszustandes‹ und der verbleibenden ›Zauberkraft‹ (›Mana‹) einschätzen, ob ein weiterer Angriff erfolgversprechend wäre. Zum zweiten kann die Optimierung von Zahlen und Sortierung von Tabellen und Datenbanken ein zentrales Spielprinzip darstellen. Das Spiel handelt dann von der Herstellung einer bestimmten vorgegebenen Ordnung. Dies trifft bei- spielsweise auf die Buchhaltung in FIFA Fussballmanager 10 zu, wo meine Handlungen auf Kostentabellen und Einnahmeübersichten in meiner Bilanz- übersicht eine positive Bilanzsumme herstellen sollen. Auf gleiche Weise lässt sich die Durchführung von Trainings als eine Optimierung der Werte der Fuß- ballspieler verstehen, die letztlich die angestrebte Ordnung der Bundesliga-Ta- belle mit meinem Verein auf Position eins herstellen soll. Drittens erlaubt es mir die Quantifizierung meiner Leistungen im Spiel in Form eines Highscores mich in Leistungskonkurrenzen mit anderen Spielern zu vergleichen. Nicht zu- letzt besteht ein wichtiges Element von Spielen im Gewinnen. Wer der bessere Spieler oder die bessere Spielerin ist, wird damit zu einer naheliegenden Frage, die oftmals auf quantitativem Wege entschieden wird. Zahlen beeinflussen damit auf vielfältige Weise die Handlungen der Spieler im Spiel, indem diese sich bei ihren Entscheidungen an Zahlenwerten orientie- ren und ihre Handlungen auf bestimmte Zahlenwerte hin ausrichten. An dieser Stelle wird die Affinität zwischen Strategiespielen und dem Strategischen be- reits erkennbar. Vergleichbar zum Spieler als Fußballmanager strebt auch der Manager oder Geschäftsführer des ›echten‹ Vereins die Erfüllung seiner strate- gischen Ziele in quantitativer Form an. Eine diesbezüglich grundlegende Form, die wir gleichermaßen in Spielen wie in wirtschaftlich-strategischen Zusam- menhängen finden, ist hierbei die Kennzahl. Kennzahlen¯5 sind dadurch charakterisiert, dass sie komplexe und kompli- zierte Zusammenhänge auf einen singulären Zahlenwert verdichten (Miller 2004). Aus den diversen Ereignissen und Aktionen zahlreicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den vergangenen drei Monaten wird ein Quartalsergebnis, Das Spiel mit der Zahl 165 Abb. 4: Screenshot aus World of Warcraft (links) und Screenshot aus Anno 1404 (rechts) aus einer Woche Mahlzeiten eine Kalorienbilanz und aus dem Klimawandel der ökologische Fußabdruck. Die thematischen Zusammenhänge, in denen Kenn- zahlen auftauchen, sind vielfältig. In Computerstrategiespielen sind sie bei- spielsweise als Zielvorgabe zu finden. In WoW ist der zentrale Weg, um dem Spieler neue Aufgaben vorzuschlagen, die ›quest‹. Der Spieler spricht dazu mit seiner Spielfigur bestimmte Non-Player-Character an, die ihm daraufhin eine oder mehrere zu lösende Aufgaben vorschlagen. Die Präsentation dieser Auf- gaben beinhaltet dabei meist eine kurze Geschichte, die sich bisweilen auch in den Rahmen einer größeren, aufgabenübergreifenden Narration einbettet, sowie sehr oft eine konkrete numerische Angabe. Im Falle von WoW kann dies beispielsweise bedeuten, dass 6 ›Blackrock Battle Worgs‹ getötet werden müs- sen, um 50 Münzen, 500 Erfahrungspunkte sowie den ›Worg Handler‘s Glove‹ zu erhalten. Bei dem Spiel Anno 1404 (Blue Byte 2009) müssen vergleichbar ›15t Fisch‹ und ›3t Most‹ organisiert werden (siehe Abbildung 4). Um die Aufgabe erfolgreich zu absolvieren und seine Belohnung zu erhalten ist dabei weniger das Verhalten der Spielfigur im Rahmen der präsentierten Narration entscheidend als vielmehr die korrekte Erfüllung der quantitativ de- finierten Kennwerte. Nur bei Ablieferung der vereinbarten Anzahl an Gegen- ständen bzw. Ereignissen gilt die Aufgabe als erfüllt. Hier dienen Zahlenwerte 166 Stefan Böhme damit nicht als Feedback für den Spieler, zur Reflexion vergangener Ereignisse, sondern als Orientierung für zukünftige Handlungen. Vergleichbar formuliert Küpper für die Wirtschaftswissenschaften: »Zu einem Steuerungsinstrument werden Kennzahlen, wenn man sie als Ziele verwendet. Damit gewinnen sie einen Vorgabecharakter, an dem Entscheidungen und Handlungen auszurichten sind. […] Zugleich werden die Kennzahlen zu einem Maßstab, an dem man die geplante oder re- alisierte Zielerreichung von Handlungsalternativen misst« (Küpper 2008, 395). Kennzahlen sind in diesem Sinne eine Kulturtechnik der Implementierung ei- ner quantitativen Rationalität, um Sichtbarkeit und Vergleichbarkeit zu pro- duzieren (Miller 2004, 184-187). Nicht zuletzt werden hierdurch auf der Basis von Verdatung Prozesse der Selbstdisziplinierung angeregt, wie ich im Fol- genden am Beispiel der Produktion von Normalität darlegen möchte. Mit Jür- gen Links Versuch über den Normalismus (2009) liegt eine ausführliche Analyse des gesellschaftlichen Dispositivs vor, das allgemein als ›Normalität‹ bezeich- net wird. Eine zentrale Metapher der Herstellung von Normalität ist die Nor- mal-Verteilung, die sogenannte Gaußkurve. Sie ist gekennzeichnet durch einen breiten Bereich von Normalität mit f ließenden Grenzen zu jeweils einem linken und rechten Bereich der Extreme. Normalität dient dabei als gesellschaftliche Steuerungsfunktion, indem sich die Mehrheit der Gesellschaft in der Mitte ver- ortet und die Positionen an den Rändern auch nur randständig besetzt werden. Auf diese Weise bietet die Frage danach, was als ›normal‹ gilt, Orientierung bei der Auswahl von Handlungen, indem das einzelne Individuum sich selbst be- ziehungsweise seine Entscheidungen und Handlungen mit dem normalen Be- reich abgleicht und gegebenenfalls anpasst. Hierbei entsteht ein beständiger Prozess des Monitorings, also eines kontinuierlichen Abgleichs zwischen der ei- genen Position und der gesellschaftlichen Normalität. Letztlich führt Norma- lität damit zu einem »inneren Bildschirm« (Link 2006, 360), auf dem sich das Individuum innerhalb der verschiedenen Normalfelder verortet und sein Ver- halten gegebenenfalls angleicht. Andererseits bieten gerade die durchlässigen Grenzen von Normalität Möglichkeit zur Exploration oder auch dauerhaften Besetzung von Extrempositionen. Die Gesamtheit aller an der Produktion und Reproduktion von Normalitäten beteiligten Institutionen, Diskurse und Pra- xen bezeichnet Jürgen Link als »Normalismus«. (Link 2003, 11) Link unterscheidet Normalität damit grundlegend von Normativität. Letzte- re ist eine binäre Erfüllungsnorm – man erfüllt sie oder erfüllt sie nicht. Die Grenzen zwischen Erfüllung und Nicht-Erfüllung sind präzise und starr. Nor- mativität ist dem Handeln vorangestellt. Sie ist in Form von Gesetzen, Geboten und Normen festgelegt. Normalität dagegen beschreibt eine Orientierungs- Das Spiel mit der Zahl 167 karte mit einem breiten Bereich an möglichen Handlungen. Zudem sind Normalität und Anor- malität nicht zwei grundlegend verschiedene Wesenheiten, sondern die Übergänge zwischen normal und anormal sind f ließend und f lexi- bel. Normalität basiert auf dem massenhaften Handeln von Individuen. Sie ist dem Handeln da- mit nachgestellt und basiert folglich notwendi- gerweise auf der statistischen Erfassung dieses Handelns. (Link 1997, 79-80; Link 2006, 357) Normalität orientiert also einerseits die Hand- lungen von Individuen, ist aber zugleich auch selbst Ergebnis massenhafter individueller Handlungen. Während bei Normativität die Grenzen zwischen gewünschten und unge- wünschten Handlungen im Vorfeld fest defi- niert werden (zum Beispiel in Form von Geset- Abb. 5: Titelblätter verschiedener Zeitschrif- zen, Vorschriften, religiösen Geboten etc.), ist ten, von links oben im Uhrzeigersinn: Psy- die Grundlage für die Produktion von Normali- chologie Heute, 33. Jg., Heft 2, Beitz; Cosmo- tät die statistische Erfassung des Handelns der politan, Vol. 246, No. 3, Hearst; Gehirn & Mitglieder einer Gesellschaft. Die hierbei er- Geist 06/2012, Spektrum; Baby und Familie, zeugten Daten werden in Spezialdiskursen ho- Februar 2008, Wort und Bild mogenisiert und kontinuiert zu einer eindi- mensionalen Kurve. (Link 2006, 52, 333-337) Erst hiermit lässt sich ein Normalfeld etablieren, das dann eine Orientierungsfunk- tion für weitere Handlungen bereitstellt (Stechow 2004, 5; 26; 29) und insbe- sondere über die Massenmedien verbreitet wird (vergleiche die Beispiele in Ab- bildung 5). Während Normativität dem Handeln vorgestellt ist und somit unabhängig von Verdatung funktioniert, ist diese für die Produktion von Normalität zwingend (ebd., 5; 26): »Für die modernen systemspezifischen ›Normalitäten‹ sind also insbesondere die statistischen Dispositive im weitesten Sinne konstitutiv: auf der Ebene der Datenerfassung einschließlich der massenhaften Befragung, auf der Ebene der Auswertung einschließlich der mathematisch-sta- tistischen Verteilungstheorien, auf der Ebene der praktischen Intervention einschließlich aller sozialer Um-Verteilungs-Dispositive« (Link/Loer/Neuendorff 2003, 11). Das massenhafte Handeln der Menschen muss erfasst und mittels mathema- tisch-statistischer ›Taktiken‹ entsprechend aufbereitet werden, um den Grad 168 Stefan Böhme an Homogenisierung und Kontinuierung zu erreichen, der zur Etablierung von Normalfeldern notwendig ist. Die in Bezug auf den Normalismus im Vorder- grund stehende Frage an die Statistik ist hierbei »[...] ob und wenn ja in wel- cher Weise die durch Verdatung moderner Gesellschaften bereitgestellten sta- tistischen Informationen der Selbstbeobachtung eine Orientierungsfunktion für das Handeln haben, haben können, und falls ja, in welcher Weise« (ebd., 15). Normalität ist folglich auf Verdatung angewiesen. Die Spielwelt im Compu- ter ist nun bedingt durch ihr Konstruktionsprinzip automatisch verdatet: Die digitale Welt ist per se eine statistische, da alle Handlungen, Ereignisse, Ei- genschaften, Objekte etc. auf der Basis von Algorithmen und Zahlen model- liert werden. Das bedeutet zunächst einmal nur, dass eine Verdatung in einer Spielwelt wie WoW nicht aufwändig hergestellt werden muss – anders als in der physikalischen Welt, in der Statistiken gegebenenfalls durch Umfragen, Volkszählungen und ähnliche Verfahren etabliert werden müssen. Wie ich im Folgenden anhand des Spiels StarCraft (Blizzard Entertainment 1998) exem- plarisch darlegen möchte, sind jedoch nicht nur Verdatung und Statistiken in Spielen zu finden, sondern auch die mathematisch-statistischen Taktiken, die zur Herstellung von Normalität nötig sind. Ein Beispiel für die statistische Erfassung individueller Handlungen in Strate- giespielen sind ›Replays‹, wie sie etwa im Spiel StarCraft zu finden sind.¯6 Re- plays dokumentieren detailliert den Verlauf eines Spiels und speichern diesen in Form einer Logdatei ab. Das Spiel wird dabei nicht als Video aufgezeichnet, sondern als eine Abfolge von Handlungen verschiedener Akteure beschrieben. Diese Dokumentation kann dann im Folgenden statistisch ausgewertet wer- den. Innerhalb des Spiels selbst kommt diese intensive Verdatung der Spiel- welt nicht zum Tragen. Im Fall von StarCraft zeigt das Spiel-Interface nur die (aus Sicht der Spielmechanik) für die Steuerung des Spiels und Erreichung des Spielziels relevanten Informationen, wie beispielsweise Daten über die ver- wendeten Ressourcen und die aktuelle sowie derzeit maximal zulässige Men- ge an Einheiten sowie spezifische Informationen über Bauprozesse und den Zustand von Einheiten.¯7 Auch nach Abschluss einer Spielpartie präsentiert StarCraft selbst nur regelrelevante Informationen wie gebaute, vernichtete und verlorene Einheiten sowie Gebäude und insgesamt gesammelte Ressour- cen. Über zusätzliche externe Programme wie BWChart (Arnulfo 2006) lassen sich hingegen weitere Informationen in das laufende Spiel einblenden und die Replay-Dateien nachträglich auswerten. Die Daten lassen sich damit auf un- terschiedliche Weise verarbeiten und visualisieren. So können beispielsweise die Aufbaureihenfolge zu Beginn des Spiels oder die Art und Anzahl der produ- zierten Einheiten ausgewertet werden, sowie alle Handlungen als Abfolge ver- Das Spiel mit der Zahl 169 Abb. 6: Screenshots aus der Software BWChart teilt über die Zeit differenziert nach verschiedenen Arten oder als prozentua- le Verteilung dargestellt werden. Hier zeigt sich anschaulich, dass StarCraft prinzipiell Daten über alle Handlungen aufzeichnet, die aus Sicht der Spielme- chanik relevant erscheinen. Handlungen, die den Spielverlauf (vermeintlich) nicht beeinflussen, werden nicht aufgezeichnet (siehe Abbildung 6). Mittels dieser statistischen Auswertung etablieren die Spieler auch im Sinne des Theorycrafting eigene Kennzahlen für StarCraft. Der prominenteste In- dikator ist hierbei der sogenannte APM-Wert, der die durchschnittliche An- zahl an Spielhandlungen pro Minute darstellt, also ›actions per minute‹. Die- se Kennzahl wird von den Spielern und Spielerinnen genutzt, um Fragen zu diskutieren, wer der ›bessere‹ Spieler ist, beziehungsweise wie ein ›normaler‹ Spieler spielt oder spielen sollte. Der Grundgedanke hinter dieser Kennzahl ist, dass ein besserer Spieler zum einen schneller taktische Entscheidungen treffen kann, zum anderen aber auch über die notwendigen sensomotorischen Fähig- keiten verfügt, um diese schneller auszuführen: 170 Stefan Böhme »Actions per minute is the number of actions […] completed within a minute of gameplay in real time strategy games, most notably in StarCraft. High APM is often associated with skill, as it can indicate that a player both knows what to do in the game and has the manual dexte- rity to carry it out.« ¯8 Diese Frage nach dem ›besseren‹ Spieler taucht auch deshalb auf, weil Stra- tegiespiele wie StarCraft keinen absoluten Highscore kennen. Das Spiel prä- sentiert zwar am Ende einer Spielpartie eine singuläre Zahl als Summe der im Spiel gesammelten Punkte (Abbildung 7), diese Zahl eignet sich jedoch nur zum relativen Vergleich der Spieler innerhalb derselben Partie; zu abhängig ist die Punktzahl eines Spielers von der eigenen Strategie und der Spielstrate- gie seiner Gegenspieler, als dass man sich anhand dieses Wertes über einzelne Partien hinweg vergleichen könnte. Eine sehr erfolgreiche Strategie beispiels- weise, die den Gegner frühzeitig zur Aufgabe im Spiel zwingt, hinsichtlich der kurzen Spielzeit aber wenig Zeit zum Produzieren, Vernichten und Verbrau- chen lässt, resultiert bei StarCraft in einer niedrigen Bewertung. Eine Variante zur Ermittlung des besten Spielers oder der besten Spielerin sind Turniere und Wettkämpfe wie sie im Bereich des eSports zu finden sind. Eine andere Variante liefert (vermeintlich) der APM-Wert.¯9 Dieser verdich- tet die Handlungen und taktischen Entscheidungen eines Spielers auf einen singulären Wert. Er homogenisiert und kontinuiert die verschiedenen Spiel- handlungen, bis sich die Spieler anhand ihres APM-Wertes auf einer eindi- mensionalen Skala in Form eines Rankings auftragen lassen. Qualitative Eigenschaften der Spieler treten dabei zugunsten einer rein quantitativen Per- spektive in den Hintergrund. Die dabei etablierte Achse repräsentiert Leistung innerhalb des Spiels, wie wir es aus dem spezifisch modernen Leistungsprin- zip kennen. Dieses Prinzip entsteht aus dem Zusammenspiel der Normal-Ver- teilung und symbolischen Konkurrenzen. Es bildet einen spezifisch modernen Typ von Konkurrenz, der im Gegensatz zu heterogenen Rivalitäten steht, wie man sie beispielsweise bei Homer im Wettstreit von Schönheit und Stärke vor- findet. Das moderne Leistungsprinzip setzt dagegen auf die Konkurrenz von äquifunktionalen Einheiten, wie man es exemplarisch im wettbewerbsorien- tierten Sport erleben kann. Der Wettbewerb – beispielsweise 800m Laufen der Herren – wird dabei in definierten und homogenen Feldern durchgeführt (Link 2009, 314–318). Auf Basis der APM-Kennzahl versuchen die Spieler zudem nicht nur den ›be- sten‹ Spieler zu bestimmten, sondern auch die Frage nach dem ›normalen‹ StarCraft-Spieler zu beantworten. Der APM-Wert taucht in diesem Kontext in Diskussionen über Spiele und in Replay-Datenbanken regelmäßig auf, wenn er Das Spiel mit der Zahl 171 Abb. 7: Screenshot aus dem Spiel StarCraft sich auch nicht f lächendeckend als aussagekräftiges Kriterium durchgesetzt hat. Dennoch versuchen Spieler ihre individuelle Leistungsfähigkeit anhand ih- rer APM-Zahl einzuordnen (siehe die Beispiele auf den folgenden Seiten). Ähnlich werden APM-Werte auch in entsprechenden Foren diskutiert.¯10 Dort wird deutlich, dass sich die Spieler bei der Diskussion auch eines entspre- chenden normalistischen Vokabulars bedienen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Fragen, was ein »normaler« Wert ist, wo die Extrembereiche liegen und wel- che Zahlen gegebenenfalls gefälscht wurden.¯11 Es wird etwa versucht, durch den Vergleich einer Reihe von persönlichen Werten einen Normalbereich zu definieren. Die Gruppe der Spitzenspieler dient dabei als Beispiel für den po- sitiven Extrembereich. Einige der in den Beiträgen genannten Zahlenbeispiele werden zudem als anormal abgelehnt und die generelle Aussagekraft der APM- Zahl diskutiert. Dabei wird in der Diskussion letztlich strukturell eine Normal- Verteilung beschrieben, indem ein negativer Extrembereich, ein normaler Mit- telbereich und ein positiver Extrembereich definiert werden (siehe das Beispiel in der rechten Spalte unten sowie auf den folgenden Seiten). 172 Stefan Böhme Dieser Text ließe sich ohne große Übersetzungs- »Average APM on a large enough sample of arbeit in eine entsprechende Gaußkurve umfor- games can be read this way: men, wie sie in Abbildung 8 dargestellt ist. Around 50: you’re basically a newbie, the guy Kennzahlen sind also eine Form, mit der sich be- who plays once a week (like me) and use the stehende Felder homogenisieren und auf einer very minimum hotkey. kontinuierlichen eindimensionalen Skala abbil- Around 100: you’re an experienced player den lassen. In Strategiespielen finden sich sol- who really tries to get better. Read again: i che singulären Zahlen an verschiedenen Stel- said experienced, not good, or even skilled. len, wie die vorhergehenden Beispiele gezeigt You simply have a lot of experience and you haben. Deutlich wurde auch, dass die Spieler im try to use hotkeys as much as possible. But Umgang mit Zahlen auch auf Strategien zurück- there is definitely room to get ›faster‹, that greifen, die sie gegebenenfalls bereits aus an- is to control units better, to produce more, deren Kontexten kennen, etwa im Sinne einer to scout more often = to make more usefull Produktion von Normalität. Die Art der Orientie- things at the same time. rung der Spieler, nämlich der den Spielaktionen Around 150: you’ve got all the experience that zeitlich nachgelagerte Vergleich der eigenen one needs to make the most out of keyboard/ Leistung, ist normalistischer Natur. Bestimmte mouse speed. Which means, you are fast, as Computerspiele reproduzieren damit Teile fast as you can reasonably be. Again, I didnt des Wissens über die Produktion von Normali- say you’re good or skilled, just as fast as you tät und können im Sinne Links als »komplexes need to be. Selbstnormalisierungstraining« (Link 1997, 358) Around 200 & above: you’re clicking and hot- begriffen werden (vgl. hierzu Böhme 2008). keying more than needed, but that’s just a Die diskursive Kopplung zwischen dem Strate- way to play. Doesn’t mean you’re faster than gischen und Computerstrategiespielen beruht, the guy with 150 APM. You just repeat actions neben anderen Aspekten, auf dieser gemein- more. In fact, if like Rekrul said, BWchart samen Durchdringung beider durch kalkulative could completely remove the useless actions, Praktiken wie Kennzahlen. Dieser Anschluss pas- we’d probably see the APM of those players siert auch deshalb so einfach, da der Computer going down to around 150. Praktiken und Mechanismen der Verdatung be- Of course, this is just ›a way‹ to read APM va- dingt durch sein Konstruktionsprinzip leicht zu- lue« (Arnulfo 2006). gänglich ist. Die vom Computer aufgespannten Handlungsräume sind von vornherein grundle- gend verdatet. Zahlreiche Spiele nutzen dem- »APM 50-80 is average player. entsprechend Zahlen als Mittel für Feedback APM 80-150 is good (as far as the RIGHT ac- und Vergleich oder sogar als zentrales Spielprin- tions are made) zip und Spielziel. Dabei geht es hier nicht darum, APM150-240 is gosu (or a lot of spamming) ob man durch das häufige Spielen von FIFA Fuss- APM 240+ is drugs or neural interface instead ballmanager 2010 ein besserer Abteilungsleiter of keyboard and mouse«.¯12 werden würde, sondern vielmehr darum, dass Das Spiel mit der Zahl 173 das Spielen dieser Computerspiele den Spielern »IMO Apm comes in quantum packs. Here’s die grundlegenden Mechanismen einer quanti- how I relate APM to players: tativen und normalisierten Vorstellung von Ge- Below 40>SC.org sellschaft näher bringt. Below 100>NEWB Eine weitere Ursache für die Affinität zwischen Below 200>Normal dem Strategischen und dem Strategiespiel liegt Below 350>Better than Normal damit in dem Moment der Modellbildung. Stra- Over 350>V.Good, Pro, Gosu tegisches Denken etabliert ein Modell, ein Wir- Over 600>Inhuman, a human brain can only kungsgefüge, auf dessen Basis verschiedene transmit 600 orders to your hand in a Möglichkeiten gegeneinander abgewogen, ver- minute«.¯13 schiedene Strategien durchgespielt und ver- schiedene Ziele gesetzt werden können. In die- sem Modellraum entfaltet sich dann letztlich das strategische Handeln. Computerstrategiespiele bauen nach vergleich- barem Muster ebenfalls ein Modell eines Möglichkeitsraums auf. Dieser Raum wird gleichermaßen als mathematisches Wirkungsgefüge modelliert mit ver- schiedenen Handlungsoptionen und quantitativ definierten Zielen in Form von Kennzahlen. Ich manage in FIFA Fussballmanager 10 eben nicht einen Fuß- ballklub, sondern ein quantitativ organisiertes Modell eines Fußballklubs. Gleichzeitig organisiert der ›echte‹ Manager den ›realen‹ Fußballklub im Zwei- felsfall auch auf Basis wirtschaftswissenschaftlich-quantitativer Modelle. Das Strategische und der Computer haben hier eine »Strukturähnlichkeit« (Nohr/ Wiemer 2008, 15). Kurz gesagt: Strategie und Spiel treffen sich in der Kennzahl und dem Modell, auf das sich diese wiederum bezieht. Strategiespiele sind in diesem Sinne komplexe Trainingstools, anhand derer eine bestimmte Denk- form eingeübt werden kann. Strategiespiele dienen also weniger als konkrete Planungshilfe oder Übungssimulation zum Management eines Fußballklubs, sondern trainieren vielmehr bestimmte »abstrakte Modelle strategischen Den- kens« (ebd., 10). Wie Nohr und Wiemer verdeutlichen ist die Affinität zwischen Strategie und Spiel daher nicht zufällig: »Sie scheint in jenem Aspekt der Strategie bereits angelegt, der mit Möglichkeiten, mit Räumen der Repräsentation und des symbolischen Handelns operiert. Strategiespiele können als mate- rielle, regelgeleitete Artefakte genau jenen Möglichkeitsraum zur Verfügung stellen, auf den je- des strategisches Denken per se angewiesen ist« (ebd., 8). Bei dieser Form strategischen Denkens und Handelns kommt es mitunter zu einem Zirkelschluss: Das Spielen eines Strategiespiels wird als planbar und steuerbar erlebt, weil das Spiel im Computer letztlich dementsprechend ange- 174 Stefan Böhme Abb. 8: Eigene Darstellung legt ist. Das Modell eines Spiels beruht also grundlegend auf bestimmten An- nahmen, hinter die das Modell nicht mehr zurück kann. Ein zentrales Element dieser Modelle und damit jedes strategischen Denken und Handelns sind dabei numerische Praktiken, wie sie in der Kennzahl als singulärer Zahlenwert ihren prominenten und allgegenwärtigen Ausdruck finden. Der Diskurs von Quantifizierung und Handlungssteuerung beschränkt sich dabei jedoch keinesfalls auf wirtschaftlich-strategische Zusammenhänge oder strategische Computerspiele, beziehungsweise umgekehrt betrachtet durch- dringt strategisches Handeln auch Lebensbereiche, die traditionell eher nicht mit Kennzahlen, Planbarkeit und Ähnlichem assoziiert wurden. Dies werde ich abschließend an zwei weiteren Beispielen verdeutlichen. Offensichtlich wird dies etwa bei dem Thema ›Liebe und Beziehung‹ in seiner neuen Variante als Online-Partnerbörse. Unternehmen wie Parship betreiben umfangreiche Da- tenbanken mit Profilen von Personen, die auf die eine oder andere Weise an zwischenmenschlichen Beziehungen interessiert sind. Um innerhalb dieser Sammlung einen potenziell geeigneten Partner oder eine Partnerin zu finden, wird zunächst ein umfangreicher Fragebogen ausgefüllt, der aus ungefähr 80 bis 90 Fragen zu Erwartungen, Einstellungen, Plänen für die Zukunft, Vorlie- ben und Abneigungen besteht sowie aus ›psychologischen‹ Tests und einigen persönlichen Kontaktinformationen (siehe Abbildung 9). Das Spiel mit der Zahl 175 Abb. 9: Ausschnitte aus Screenshots von der Webseite parship.co.uk Basierend auf den Ergebnissen aus dieser Befragung wird zum einen ein indi- viduelles Profil angelegt, das von anderen Nutzern gelesen werden kann, und zum anderen wird eine Liste potenziell passender Partner generiert. Die Pas- sung wird dabei über einen nicht näher erläuterten Algorithmus ermittelt, der sich letztlich in einer Kennzahl niederschlägt, welche ein Ausdruck für die gegenseitige »Kompatibilität« sein soll. Auch hier greifen die mathematisch- statistischen Taktiken, wie sie von der Normalismustheorie her beschrieben werden: Die verschiedenen Qualitäten der verschiedenen Individuen werden homogenisiert und kontinuiert, indem sie in eine singuläre Zahl umgerechnet und auf einer eindimensionalen Skala aufgetragen werden (Abbildung 10). Je höher die Zahl ausfällt, desto größer ist dabei die Zusammengehörigkeit. Ob auch hier in Diskussionen ein Normalfeld bzw. eine Normal-Verteilung eta- bliert wird, habe ich nicht näher betrachtet. Es scheint jedoch zumindest nicht völlig abwegig auch auf dieser Skala eine Sub- und eine Super-Normalität zu unterstellen. Im negativen Extrem würde es sich dementsprechend um einen Bereich mit einem anormalen Kompatibilitätswert handeln, in dem man nach Möglichkeit Verabredungen und weitere Kontakte meiden sollte, während es im positiven Extrem gegebenenfalls eine Grenze zu einem ›zu gut, um wahr zu sein‹ gibt, also einem Bereich mit einer Passung, die nicht auf ›normalen‹ Wege entstanden sein kann. Die größte Sicherheit vor Überraschungen würde dann der normale Mittenbereich bieten, der einer durchschnittlichen Passung entspräche. Aber auch unabhängig von einem konkret vorhandenen Normali- tätsfeld ist der gesamte Prozess außergewöhnlich. Losgelöst von zufälligen Be- gegnungen, Liebe auf den ersten Blick und ähnlichen eher romantischen Kon- zepten startet Parship einen umfangreichen Prozess der Klassifizierung und Sortierung, des Abgleichs und der Suche. Den Partner fürs Leben zu finden wird gleichbedeutend mit der korrekt formulierten Datenbankanfrage. 176 Stefan Böhme Abb. 10: Ausschnitt aus einem Screenshot der Webseite parship.co.uk Die Tragweite dieser numerischen Praktiken darf dabei nicht unterschätzt wer- den. Bereits rückblickend wird deutlich, wie grundlegend sich unsere Gesell- schaft durch die Etablierung von Statistiken, entsprechenden Ämtern und an- deren Infrastrukturen sowie den damit in wechselseitigem Einfluss stehenden Konzepten wie Bevölkerung, Durchschnitt oder Normalität verändert hat. (vgl. hierzu etwa Desrosières 1998, Porter 1986, Hacking 1990) Diese in jeder Hinsicht historische Entwicklung wird gegenwärtig fortgeschrieben, beim Online-Da- ting und auch in neuen Formen der Selbstvermessung, wie sie im Rahmen der Bewegung des »Quantified Self« zu finden sind.¯14 Dabei handelt es sich um eine spezifisch technisch-numerische Form der Selbstbeobachtung von Körper und Persönlichkeit, welche die Selbstbeobachtung mit Hilfe von Smartphones, Online-Diensten und spezialisierten Messgeräten in zahlreiche Lebensbereiche ausdehnt und gleichzeitig Präzision und Anzahl der jeweiligen Beobachtungen enorm steigert. Dies reicht von der Erfassung von Pulsfrequenz, Körpertem- peratur und Kalorienaufnahme über private Finanzen, Zeiterfassung und Me- dienkonsum bis zu Hirnströmen und Schlafphasen (siehe Abbildung 11). Bei dieser spezifischen Form von Selbstbeobachtung werden Körper und Persön- lichkeit als objektivierbare Datenmasse konzeptualisiert, die es in Form von Kennzahlen zu messen und in Konkurrenz zu anderen zu optimieren gilt. Das Spiel mit der Zahl 177 Abb. 11: Werbegrafik zum Zeo Sleep Manager des Anfang 2013 insolvent gegangenen Start-Ups Zeo Inc. Grundlegend greifen damit auch hier die bereits in diesem Text charakterisier- ten numerischen Mechanismen von Verdatung und Normalisierung. Die mas- senhafte individuelle Verdatung dient hier einerseits der (Selbst-)Steuerung individueller Handlungen, indem die Individuen ihre Aktivitäten und Werte mit denen der (vermeintlichen) Mehrheit abgleichen und gegebenenfalls an- passen. Andererseits dienen die Spitzenwerte einzelner Individuen als ›Stimu- lanz‹, um den Durchschnitt insgesamt anzuheben. (vgl. Link 1997, 314-318) Im Zuge von Quantified Self gerät jedoch mit der Vermessung des Selbst auch die Vorstellung einer »Natürlichkeit« des menschlichen Körpers und eines da- mit verbundenen Zustands der Naturgegebenheit weiter unter Druck. Denn einhergehend damit wird auch die alltagsweltliche Wahrnehmung von Krank- heit als irreguläre Abweichung von diesem Zustand aufgegeben. (vgl. Wehling et al. 2007, 548–550) Mit der Selbstvermessung tritt die Optimierung des Kör- pers und der eigenen Gesundheit in den Vordergrund. Wobei man hier präzi- sieren muss: In den Vordergrund tritt eben nicht die Verbesserung der eigenen Gesundheit, sondern die Optimierung bestimmter numerischer Werte. Die- sen wird zwar ein kausaler Zusammenhang mit der eigenen Gesundheit unter- stellt, nur zu oft stellt sich dieser jedoch als reines Wunschdenken heraus. Die meiner persönlichen Wahrnehmung nach zunehmende Tendenz besteht da- bei in der Verwechslung der verschiedenen Ebenen: Eine – wie auch immer ge- 178 Stefan Böhme artete – unmittelbare Realität wird dabei vertauscht mit einer konstruierten, durch Kennzahlen und Statistiken mittelbaren numerischen ›Modell-Realität‹. Diese Verwechslung wird insbesondere dann relevant, wenn die Handlungen zwar grundsätzlich auf die Veränderung der unmittelbaren Realität abzielen, letztlich aber nur auf dem mittelbaren Modell greifen – wenn der Arzt statt dem Patienten folglich die Laborwerte ›behandelt‹. Bei der Verdatung und Nor- malisierung eines bestimmten Lebensbereiches existiert immer ein Spielraum für Interpretationen und Aushandlungen, denn Verdatung wird aus dem je- weiligen Bereich nicht abgeleitet, sondern in Hinblick auf diesen rekonstru- iert. Welche Aspekte dabei in welcher Form einfließen und ob sich ein Bereich überhaupt sinnvoll in einem quantitativem Modell abbilden lässt, ist damit immer auch eine ideologisch geprägte Frage. Wenn die Ebenen von Realität und Modell vertauscht werden, gerät dies nur allzu schnell in Vergessenheit und erzeugt eine Selbstverständlichkeit, die kritische Nachfragen überflüssig erscheinen lässt. Gleichzeitig scheint es auch oftmals einfacher, innerhalb der Modell-Ebene konkrete Handlungen zu identifizieren und umzusetzen, um das vorgegebenen (und anhand des Modells definierte) Ziel zu erreichen. Schließ- lich ist das dafür nötige kausale Wirkungsgefüge dem Modell bereits von vorn- herein eingebaut. Die Ebene numerischer Praktiken und quantitativer Modelle ist daher für Management und Strategie eine ›dankbare‹ Ebene. Sie erlaubt es, Probleme zu lösen, die sie selbst vorgibt, nach den Regeln, die sie passend da- für selbst festlegt, oftmals losgelöst von der komplexen und ›unkalkulierbaren‹ Vielfalt der Welt – Probleme allerdings, die wir ohne diese quantitativ geprägt Ebene bisweilen erst gar nicht hätten. Anmerkungen 01˘ Vergleiche die Einleitung in diesem Band sowie Nohr und Wiemer (2008) für eine ausführ- liche Darlegung dieses Fragekomplexes. Eine ausführliche Herleitung und Begründung der hier unterstellten Affinität zwischen dem Strategischen und dem Strategiespiel liefert der Beitrag von Nohr »›Du bist jetzt ein heldenhafter Stratege‹. Die Anrufung des strategischen Subjekts« in diesem Band. 02˘ Dieses Akronym geht ursprünglich zurück auf Doran, G. T. (1981): There‘s a S.M.A.R.T. way to write management‘s goals and objectives. Management Review, Volume 70, Issue 11(AMA FORUM), S. 35–36 und ist mittlerweile eine Standardformel in der entsprechenden Fach- und Ratgeberliteratur zu Projektmanagement und Management im Allgemeinen. Das Spiel mit der Zahl 179 03˘ Detaillierte Erklärungen zu diesen Werten finden sich beispielsweise in einem Wiki auf wowpedia.org. Für den ›gearscore‹ ist eine Erläuterung auf [http://www.wowpedia. org/] Gearscore for gearscore zu finden und für ›hunter agility points‹ auf [http://www. wowpedia.org/Hunter_agility _points for hunter agility points]. Zudem existieren umfas- sende Datenbanken mit Attributen und Zahlenwerten der verschiedenen Fähigkeiten und Objekten, die von den Spielern selbst zusammengetragen wurden, beispielsweise unter [http://www.wowhead.com]. Die konzeptionelle Vorstellung hinter der Praktik des theo- rycrafting wird aus Perspektive der Spieler und Spielerinnen etwa auf [http://www.wow- wiki.com/Theorycraft] und [http://www.wowpedia.org/Theorycraft] dargestellt. Eine wis- senschaftliche Analyse dieser Praktik findet sich etwa bei Paul 2011, Karlsen 2011 und Wenz 2012. 04˘ Siehe zu Tabellen und Datenbanken als Kulturtechnik ausführlich Böhme/ Nohr/ Wiemer 2012 sowie Böhme 2013. 05˘ Oder auch: Kenngröße, Kennziffer, Messgröße, Messzahl, Messziffer, Metrics, Indikator, Richtzahl, Ratios, Schlüsselgröße, Schlüsselzahl, Standardzahl; siehe Sandt 2004, 9; Reinecke/Sander/Siegwart 2010, 17. 06˘ Vergleiche hierzu und den folgenden Erläuterungen auch ausführlich Böhme 2008. 07˘ In der aktuellen Version des Spiels (STarcraFT ii: hearT oF The Swarm) sind spezielle Interfaces für Zuschauer vorgesehen (»Observer Interface«). Diese ermöglichen die Anzeige einer Vielzahl weiterer Kennzahlen zum Spielgeschehen, darunter auch der Wert ›Actions per Minute‹ (siehe hierzu die Erläuterung später im Text). 08˘ Wikipedia: Actions per Minute. [http://en.wikipedia.org/wiki/Actions_per_minute]; letz- ter Abruf 24.01.2014) 09˘ Ob der APM-Wert aus Sicht der Leistungsbewertung der Spieler eine sinnvolle Kennzahl ist, um Spieler miteinander zu vergleichen, soll hier nicht thematisiert werden. Ich be- trachte an dieser Stelle ausschließlich den Prozess der Normalisierung, der sich in der Produktion dieses Wertes darstellt. 10˘ Entsprechende Diskussionen finden sich zum Beispiel unter [http://www.united-fo- rum.de/show thread.php?t=33976],[http://w w w.wcreplays.com/forums/show thread. php?t=12151&page=1&pp=20],[http://www.forum-3dcenter.org/vbulletin/showthread. php?t=237385] und [http://www.cncforen.de/showthread.php?t=48661]; letzter Abruf je- weils 24.01.2014. 11˘ Abhängig von der Software, die den APM-Wert berechnet, kann dieser künstlich hoch ge- halten werden, indem der Spieler unnötige Handlungen wie mehrfaches Drücken einer Taste ausführt: »A player’s APM value is determined by the number of actions performed in a given minute. Some actions, such as repeated selection, are easier to carry out than others, and players may repeatedly perform (or ›spam‹) these actions, making them re- dundant in terms of their usefulness. ›Spamming‹ may be used as a way to warm up and maintain speed for later phases of the game, or it may be used simply to increase a player’s 180 Stefan Böhme recorded APM in order to improve the perception of their gameplay skills.« (Wikipedia: Actions per Minute. [http://en.wikipedia.org/wiki/Actions_per_minute]; 24.01.2014) 12˘ [http://www.wcreplays.com/forums/printthread.php?t=12151&pp=40]; letzter Abruf 24. 01.2014 13˘ [http://www.starcraft.org/polls/archives/44]; nur noch verfügbar über den Service »Wayback Machine« der Organisation »Internet Archive« unter [http://web.archive.org/ web/20080708051127/http://www.starcraft.org/polls/archives/44]; letzter Abruf 30.11. 2013 14˘ Der Name rührt von dem Blog »Quantified Self – Selfknowledge through numbers« (www. quantifiedself.com) her, der im November 2007 von Gary Wolf und Kevin Kelly gegründet wurde, beide zu diesem Zeitpunkt Redakteure bei Wired Magazine. Betrieben werden die Aktivitäten rund um den Blog sowie der Blog selbst mittlerweile von einer durch Wolf und Kelly gegründeten Firma »Quantified Self Labs, LLC« (http://quantifiedself.com/about-qs- labs/). Bibliografie Böhme, Stefan (2008): Normalismus in Computerspielen. Braunschweig: HBK Braun- schweig. 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Das Spiel mit der Zahl 183 184 Ramón Reichert Government Gaming - Gouvernementalität in Strategiespielen Strategische Computerspiele haben maßgeblich dazu beigetragen, politische Planung, soziale Kontrolle und ökonomische Effizienz im populären Gedächt- nis der Gegenwartskultur zu etablieren. Mit den auf dem Spielemarkt hoch- gradig erfolgreichen Strategiespielen ›God Games‹, ›Construction Games‹ und ›Management Simulation Games‹ hat sich eine Hybridkultur politischer Ra- tionalität ausdifferenziert: von der städtischen Planung (SimCity), der Volks- wirtschaft (Capitalism), der Ökologie und der Biologie (SimLife), den antiken Gesellschaftsordnungen (Caesar, Pharaoh) bis zur Entwicklungsgeschichte menschlicher Zivilisation und fortgeschrittenen liberal-demokratischen Ge- sellschaften (Civilisation, Civilisation II). Das Grundthema der strategischen Regierungsspiele ist die Herstellung von Regierungswissen, die Durchsetzung planerischer Kontrolle und die Ermöglichung von sozialer Regulation. Dabei wird das Potential unterschiedlicher Regierungen, militärischer Kräfte oder di- verser Wirtschafts- und Wissenssysteme, welche die Elemente einer Simulati- on der menschlichen Gesellschaft und Geschichte bilden, experimentell gete- stet. Im Unterschied zu echtzeitbasierten Ego-Shooter Games folgen Strategie- und Aufbauspiele weniger der Logik des mimetischen Realismus (Avatar, Kamera- Subjektive, Uhrzeit etc.), sondern vielmehr der Logik der Abstraktifizierung sowie der ikonographischen und der bildmetaphorischen Repräsentation von Regierungswissen. Bediensymbole, Menüleisten verschmelzen die Dispositive des Regierens, die Techniken des Wissens zu einem neuen hypermediatisier- ten Wissen (vgl. Miklaucic 2003, 328-35). Jay David Bolter und Richard Grusin umschreiben die formalen Eigenschaften von Computer-Interfaces in ihrem Buch Remediation: Understanding New Media (2000) mit dem Begriff »Hyper- mediatisierung«. Damit beschreiben sie anwendungsorientierte Visualisie- rungstechniken, die Fenster, Bildlaufleisten, Menüs, Tabellen und ihre meta- phorischen Bildikonen wie Pinsel, Papierkörbe oder Schaltknöpfe offerieren, als Tools zur Steuerung, Regulierung und Identifizierung von Daten und Infor- mationen. Das hypermediatisierte Interface der Globalstrategiespiele bedient sich ›einfacher‹ und ›übersichtlicher‹ Oberflächen, die auf eine ›intuitive‹ Be- Government Gaming 185 dienbarkeit abzielt. Damit zielen Fenster- und Menüoberflächen auf eine Blick- und Bedienführung ihrer User/innen ab, die auf eine erhöhte Effizienz und Ef- fektivität bei der Administration und Exekution von Informationsprozessen abzielen. Um die hier aufgezählten Aspekte der Hypermediatisierung in ihrer sozialen und politischen Tragweite abschätzen zu können, bedarf es einer eingehenden Problematisierung der populärkulturellen Verankerung von strategischen Computerspielen, Regierungswissen und sozialer Regulation. Einfache Model- lerklärungen sozialer Orientierungsschemata von top-down und bottom-up greifen zu kurz, wenn es darum geht, relationale Verf lechtungen zwischen »Re- gierungskunst« und der »Lebenskunst« zu beschreiben, wie sie Michel Foucault in seinen Studien zur »Gouvernementalität« thematisiert (vgl. Foucault 2000, 41-67). Im Hinblick einer machttheoretischen Analyse strategischer Computer- spiele wird hier folglich der von Foucault konzipierte Analysebegriff der go- vernmentalité (»Regierungsmentalität« oder »Gouvernementalität«) in Be- tracht gezogen, der es erlaubt, die strategischen Computersimulationen als affirmatives Verhältnis zum Regierbarmachen der Welt zu untersuchen. Nach einer wissenschaftsgeschichtlichen Einführung in das Konzept der Gouverne- mentalität und einer methodologischen Eingrenzung für das Feld der medien- wissenschaftlichen Frage- und Problemstellungen wird der Begriff der Gouver- nementalität in Hinblick auf das Strategiespiel geöffnet. Gouvernementalität und Governmentality Studies Am 1. Februar 1978 eröffnet Foucault seine Vorlesungsreihe zur Genealogie des historisch-politischen Diskurses unter dem Titel La governementalità, eine Vorlesung, die für die Begründung methodischer Legitimität der Governmen- tality Studies eine zentrale Referenz ist.¯1 Die 1978 in Aut-Aut und im darauf folgenden Jahr in der englischen Zeitschrift Ideology and Consciousness pu- blizierte Übersetzung der Vorlesung von Foucault unter dem Titel On Govern- mentality bildet für eine Reihe von Soziologen, Politikwissenschaftlern und Historikern ideengeschichtlich den Anfang der Governmentality Studies und ih- ren Urtext.¯2 Auch der im Jahr 2000 publizierte Sammelband Gouvernemen- talität der Gegenwart veröffentlicht den Text Foucaults in einer Neuüberset- zung.¯3 In der Einleitung bestimmen die Herausgeber/innen den Text als die »wichtigste systematische Ausarbeitung des Gouvernementalitätskonzepts in seiner historischen und analytischen Abgrenzung zu Souveränitäts- und Diszi- plinarmechanismen« (Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 36). Aufgrund seines 186 Ramón Reichert Stellenwerts für die Konzeption des Regierungsbegriffs sollen im Folgenden ei- nige problematische Aspekte dieses Textes und seiner Beziehungen zu den Go- vernmentality Studies erörtert werden. Der Begriff der Regierung (le gouvernement) wurde von Foucault in den 1978 am Collège de France gehaltenen Vorlesungen als ›Leitfaden‹ der Analyse der »Genealogie des modernen Staates« entwickelt.¯4 Ab der vierten Vorlesung ist es explizit die »Geschichte der Gouvernementalität«, die eine neue Macht- analyse ermöglichen soll (vgl. Lemke 1997, 144). Foucault zeigt dort begriffsge- schichtlich auf, wie sich erst im 18. Jahrhundert das geläufige Verständnis von Regieren oder Führen, die beiden Begriffe werden synonym verwendet, als ex- klusiv staatliche Praxis durchsetzt. Bis dahin bezog sich der Begriff der Regie- rung auf die Führung von Menschen im Allgemeinen. Er konnte sich auf die Führung der Seele, der Familie oder der Kinder ebenso beziehen wie auf den Staat. Es ist diese weite Bedeutung des Begriffs, die Foucault nutzt, um das Verhältnis von Macht und Subjektivierung zu formulieren: Der Begriff sollte es ihm zum einen ermöglichen zwischen Macht und Herrschaft zu unterschei- den und zum anderen Macht- und Herrschaftseffekte als Folgen zielgerichte- ten Handelns der Subjekte selbst zu verstehen. Die Vorzüge des Regierungsbe- griffs stellt Foucault selbst so dar: »Vielleicht eignet sich ein Begriff wie Führung gerade Kraft seines Doppelsinns gut dazu, das Spezifische an den Machtverhältnissen zu erfassen. ›Führung‹ ist zugleich eine Technik des An- führens anderer [...] und die Weise des Selbstverhaltens in einem mehr oder weniger offenen Feld von Möglichkeiten. Machtausübung besteht im Führen der Führungen und in der Schaf- fung der Wahrscheinlichkeit. [...] . Regieren heißt in diesem Sinne, das Feld eventuellen Handelns der anderen zu strukturieren« (Foucault 1987, 255). Damit bezeichnet der Begriff der Regierung bei Foucault eine bestimmte Art und Weise, in der Menschen auf sich selbst und andere einwirken, die man – würde ein soziologischer Begriff dafür gesucht werden – als strategisches Handeln fassen könnte. Die theoretische Differenzierung des Begriffs der Re- gierung bleibt bei Foucault allerdings vieldeutig, da Regierung als historisch begrenzte und spezifische Technologie der Macht (vgl. Foucault 2000, 41ff.), als Machtbeziehung als strategisches Spiel (vgl. Foucault 1992, 40) und glei- chermaßen als soziale Tatsache oder anthropologische Konstante (vgl. Foucault 1985, 25) behauptet wird. Mit dem neuen ›Leitbegriff‹ der ›Gouvernementalität‹ stellt Foucault aber auch ein neues Analysekonzept vor, das es ermöglichen soll, Regierung unter dem Aspekt ihrer politischen Rationalität und Regierungstechnologie allererst als Programm zu untersuchen. ›Rationalität‹ begreift Foucault nicht als einen Government Gaming 187 Bereich der Vernunft oder eine wie immer geartete Vernünftigkeit, sondern als die regelhafte Hervorbringung von Verfahren, Programmen sowie Schemata des Wahrnehmens und Urteilens. Politische Rationalitäten versuchen Reali- tät herzustellen, indem sie bestimmte Bereiche herausgreifen und sie entspre- chend ihrer eigenen Regeln problematisieren. Foucault schlägt vor, zu unter- suchen, »[…] wie Rationalitätsformen sich selbst in Praktiken oder Systemen von Praktiken einschreiben und welche Rolle sie in ihnen spielen. Denn es ist wahr, dass es keine ›Praktiken‹ ohne eine be- stimmte Rationalitätsordnung (regimé de rationalité) gibt. Statt sie jedoch an einem Rationa- litätswert auszurichten, möchte ich sie entlang zweier Achsen untersuchen: der Achse der Ko- difikation-Präskription einerseits (wie sie ein Komplex von Regeln, Erträgen, Mitteln zu einem Zweck etc. formt) und der Achse der wahren oder falschen Formulierung andererseits (wie sie ein Gegenstandsfeld bestimmt, über das es möglich ist, wahre oder falsche Sätze zu bilden)« (Foucault, Table round du 20 mai 1978, zit.n. Lemke 1997, 146). Zusammenfassend nennt Foucault drei Kriterien der ›Gouvernementalität‹: »Unter Gouvernementalität verstehe ich die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielschei- be die Bevölkerung hat, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat. Zweitens verstehe ich unter ›Gouverne- mentalität‹ die Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus, den man als ›Regierung‹ bezeichnen kann, gegenüber allen anderen – Souveränität, Disziplin – geführt und die Entwicklung einer ganzen Reihe spezifischer Regierungsapparate einerseits und einer ganzen Reihe von Wissensformen andererseits zur Folge gehabt hat. Schließlich glaube ich, dass man unter ›Gouvernementalität‹ den Vorgang oder eher das Ergebnis des Vorgangs verstehen sollte, durch den der Gerechtig- keitsstaat des Mittelalters, der im 15. und 16. Jahrhundert zum Verwaltungsstaat geworden ist, sich Schritt für Schritt ›gouvernementalisiert‹ hat« (Foucault 2000, 64). Den Begriff der Regierung behauptet Foucault 1. als politische Rationalität, 2. als distinkten Machttypus und 3. als historischen Prozess. Regierung und Regierungstechnologien bestimmt Foucault als ein »diskursives Feld«, darin die herrschende Politik »rationalisiert« wird. Mit dem Versuch, das »Phäno- men« (ebd., 66) der Gouvernementalität innerhalb der »großen Ökonomien der Macht im Abendland« (ebd.) einzuordnen, argumentiert Foucault überwie- gend ideengeschichtlich: Die Dominanz des Regierens, das »seit dem 18. Jahr- hundert eine feste Reihe bildet« (ebd., 64), solle etwa die »Rationalität« oder die »Mentalität« einer Epoche kennzeichnen, die im Werk kanonischer Auto- 188 Ramón Reichert ren erfunden oder ausgedrückt wird. Der im kanonischen Text auftauchende Begriff drückt soziale Transformationen aus. Die »feste Reihe« bildet jedoch kein Kriterium für die Serialisierung eines Analysekorpus, sondern mit ihr ist das historische Kontinuum der Mentalität gesetzt. So taucht die Idee der Gou- vernementalität in privilegierten Texten, den Programmen, einfach auf: »Ein Ausdruck, der übrigens im 18. Jahrhundert wichtig war, macht dies sehr schön deutlich. Für Quesnay ist eine gute Regierung eine ›ökonomische Regierung‹; bei Quesnay taucht erstmals diese Vorstellung von einer ökonomischen Regie- rung auf« (ebd., 49). Behauptet wird die faktische Einheit eines Problems, das nicht explizit formuliert sein muss. Es zeigt sich im ›Auftauchen‹, wobei un- geklärt ist, ob das Problem als Gegenstand der Erfahrung vorgefunden wird oder ob es nicht ein Moment der Deutung enthält. Angenommen wird ein hi- storischer Verlauf oder eine Entwicklungslinie, darin ein und dasselbe Problem ›auftaucht‹ und von zeitgenössischen Autoren als solches zum Ausdruck ge- bracht wird, ein und dieselbe Fragestellung von einem privilegierten Autor ›erstmals‹ wahrgenommen wird, um von einem anderen Autor in entschei- dender Wendung reformuliert zu werden und schließlich als kohärentes ›Pro- blem‹ eine ›Mentalität‹ oder eine ›Denkweise‹ manifestiert. Im Autor als Zeit- genosse, der eingebettet in seine Epoche ist, kann der Wechsel der Machttypen entdeckt werden, wobei dem Autor auch vice versa zugestanden wird, dass sein Werk Einfluss ausgeübt hat auf eine Epoche oder auf eine Gesellschaft. Schließlich werden mit der Herrschaft der Idee, nämlich der Idee der Gouverne- mentalität, Periodisierungen vorgenommen: Einordnungen in ›Jahrhunderte‹ und ›Zeitalter‹, Brüche oder Einschnitte, die durch Periodisierungen oder Schu- len lesbar werden, oder Kontinuitäten eines Problems von einem Jahrhundert zu einem anderen Jahrhundert: »Wir leben im Zeitalter der Gouvernementali- tät, die im 18. Jahrhundert entdeckt wurde« (ebd., 65). Foucault verwendet den Begriff der Regierung in verschiedenen Bezügen, wo- bei oft unklar ist, ob der Begriff der Regierung auf empirische Sachverhalte ei- ner möglichen sozialen ›Wirklichkeit‹, auf handlungstheoretische Aussagene- lemente in ›Programmen‹ als strategische Spiele bezogen ist, oder gar einem sozialontologischen Substantialismus das Wort redet, wie es Foucault in einem Interview zur »Sorge um sich« nahe legt: »[...] ich glaube, daß es keine Gesell- schaft ohne Machtbeziehungen geben kann, sofern man darunter Strategien begreift, mit denen die Individuen das Verhalten der anderen zu lenken und zu bestimmen versuchen« (Foucault 1985, 25). Mit der Tendenzaussage, dass die »Techniken des Regierens wirklich zum einzigen politischen Einsatz und zum einzigen realen Raum des politischen Kampfes und der politischen Gefechte geworden sind«, immunisiert Foucault Government Gaming 189 mit dem Bezug auf eine Ontologie des einen und einheitlichen Raumes den Be- griff des politischen Kampfes. Dies impliziert aber auch, dass die Programme vom politischen Kampf ausgenommen sind. Dadurch werden die Programme unumstritten als eine transzendente Wirkmacht idealisiert, die die soziale Welt strukturieren. Mit der Argumentation, dass die Ökonomie der Macht auf der intelligiblen Regulation des Sozialen beruht, verweist Foucault auf bewusst oder unbewusst gegebene oder eingehaltene »Rechtsregeln« oder »Führungs- techniken«, die es gestatten sollen, »innerhalb der Machtspiele mit dem ge- ringsten Aufwand an Herrschaft zu spielen« (ebd.). Hiermit geht Foucault von einer zerebralen Effizienz des Sozialen aus, die sich in der Praxis effizienter Lenkung, Führung der anderen und der Praxis des Selbst verwirklicht, wodurch der Geschichte wieder ein optimistisches Moment eingeschrieben wird. Die Annahme eines teleologischen Prinzips der »Ökonomie der Macht« ist in- sofern problematisch, weil damit eine kontinuierliche Effektivierung und eine sich stetig steigernde Ökonomisierung der Macht angenommen wird, wobei die einander widerstreitenden Programme und Technologien in ein agonales Verhältnis der Behauptung und Verdrängung gesetzt sind. Auch in den Tex- ten der Governmentality Studies werden die Programme des Regierens und die Technologien des Führens, die für eine bestimmte Epoche oder eine Denk- schule gelten sollen, häufig in ihrer wechselseitigen Konkurrenz- und Kampf- beziehung (›Erfolg‹ versus ›Scheitern‹) beurteilt. Dies hat zur Folge, dass die be- haupteten »Transformationen«, »Brüche« und »Einschnitte« ausschließlich als Analogie zur natürlichen Selektion formuliert werden können, gerade so, als ob das Selektionsprinzip der Programme und Technologien evident wäre und bloß von der ›richtigen‹ Perspektive aus beobachtet werden müsse. Dadurch wird erneut ein Fortschritt der Geschichte unterstellt, der den ›Sieg‹ oder die ›Niederlage‹ von politischen Rationalitäten in sich trägt und bedingt, den Pro- grammen selbst aber äußerlich bleibt und deshalb erst in der theoretischen Schau des »Gouvernementalisten« erkennbar wird. Die damit verbundene Set- zung von Grund und Folge, Sieg und Niederlage der Programme und der Tech- nologien des Regierens führt konsequent wieder das Moment der Kausalität der Geschichte ein, wodurch der historische Prozess zur Abfolge von Ideen wird. Bei Foucaults Konzeption der Gouvernementalität finden sich bereits zahl- reiche Belege dafür, dass der Anspruch der »Archäologie«, nämlich eine Al- ternative zur ideengeschichtlichen Methode zu formulieren, weitgehend ver- loren gegangen ist: So spricht Foucault von einem spezifischen Problem des Regierens der Bevölkerung, das »endlich außerhalb des juridischen Rahmens der Souveränität gedacht, ref lektiert und erwogen werden konnte« (Foucault 2000, 59; Herv. i. O.). Dieses »Problem des Regierens«, das sich »endlich« be- 190 Ramón Reichert hauptete und gegen andere Probleme durchsetzte, ist eine spezifische Weise der ›Idee‹ der Gouvernementalität, die dem Bezug positiver Aussagen gegen- über transzendent bleibt, jedoch das gesamte Feld der positiven Aussagen und materialen Gegenstände und Praktiken »seit dem 18. Jahrhundert« strukturie- ren soll. Dadurch führt Foucault in seiner späten Rückwendung zur Ideenge- schichte in die Geschichte ein optimistisches Moment wieder ein: Die Fortfüh- rung und Ablöse spezifischer Machttypen und Technologien des Regierens, die, losgelöst von historischen Kontexten, als unabhängige Wesenheiten in der Ge- schichte einfach auftauchen, aber insgeheim miteinander verbunden sind und Wirkungen aufeinander haben. Mit der kritiklosen Übernahme der synthetischen Vereinheitlichung der Ge- schichte durch Foucault entstehen bereits in den Grundannahmen und Aus- gangsfragestellungen der Gouvernmentality Studies Probleme. Der Gel- tungsanspruch methodischer Legitimierung wird oft im argumentum ad hominem vorgebracht: »Wie Foucault zeigte...«, »Im Anschluss an Foucault«, »Mit Foucault...«. Zur Legitimation epistemischer Geltungsansprüche werden nicht nur Thesen und Begriffe, sondern auch Periodisierung und Quellenaus- wahl dogmentheoretisch vorausgesetzt. In zahlreichen Textpassagen der Go- vernmentality Studies finden sich Hinweise auf die konventionelle Herstellung von Geschichte, wie sie bei Foucault selbst anzutreffen ist. Der von Foucault nicht einsichtig gemachte Umgang mit Periodisierungen der Geschichte wird in vielen Studien reproduziert; oft sind es ideengeschichtliche Setzungen, welche den souveränen Überblick des Historikers betonen: »Der Liberalis- mus des 19. Jahrhunderts, von dem an dieser Traum in jenen Nationen auf- gegeben wurde, die sich als liberale Demokratien bezeichneten« (Miller/ Rose 1994, 68). Damit wird eine soziale oder politische ›Strömung‹ behauptet, die einen allgemeinen Wesenszug enthält und eine Gesellschaft allgemeingültig und allumfassend beeinflusst. Von Foucault werden aber oft nicht nur theore- tische Analysekategorien übernommen, sondern auch ›vollständig‹ begründe- te Grundthesen, die als selbstevidentes Axiom gesetzt sind: »Wie ist Regieren möglich? Das macht das Prinzip der Begrenzung aus, das für Regierungshan- deln gilt, so daß die Dinge am besten gedeihen, in Übereinstimmung mit der Vernunft des Regierens, und ohne Intervention« (Foucault 1986, Space, Know- ledge and Power, zit.n. Miller/ Rose 1994, 68f.). Aus diesem ›Grundsatz‹ folgern Miller und Rose ihre eigene ›Begründung‹: »Aus diesem Grund haben wir das Erfordernis einer Analyse der indirekten Herrschaftsmechanismen, die in libe- ralen demokratischen Gesellschaft so wichtig sind, behauptet« (Miller/ Rose 1994, 69). Die ›faktische‹ Setzung kann jedoch die Konstitution bestimmter ›Machttypen‹ oder ›Gesellschaftsformen‹ nicht plausibel machen. Government Gaming 191 Politische Rationalität und soziale Praxis Für die Gouvernementalitätsanalyse ist ›Regieren‹ ein Leitbegriff von zen- tralem theoretisch-methodologischem Stellenwert. Die Möglichkeit, den Be- griff des Regierens überhaupt für eine soziologische Gegenwartsdiagnose an- zuwenden, wird in der Gouvernementalitätstheorie darin erachtet, den Bezug zwischen »abstrakter politischer Rationalität« und den »empirischen Mikro- techniken des Alltags« (Miller/ Rose 1994, 69) plausibel zu machen. Zwischen den Programmen der politischen Rationalität und der sozialen Praxis vermitteln die ›Technologien‹. Technologien können materiale Artefakte wie architektonische Bauwerke, Visualisierungstechniken der Aufzeichnung, Tech- niken der Kontrolle und Überwachung von Arbeitsprozessen, Selbsttechniken der Lebensführung, moralische Techniken der Formung von Wünschen, Inte- ressen und Meinungen, soziale Techniken wie das Total Quality Management oder diskursive Techniken wie die Beschwörung der Gemeinschaft oder der Na- tion sein. Technologien sollen nach der Bestimmung von Peter Miller und Niko- las Rose die ›idealen Schemata‹ des Regierens in soziale ›Realität‹ überführen (ebd., 54-108). In ihrem 1990 veröffentlichen Aufsatz Governing economic life bestimmen sie Technologien dementsprechend als »die tatsächlichen Mecha- nismen [...] , durch die Autoritäten versucht haben, das Verhalten, Denken, Ent- scheiden, Streben anderer zu formen, zu normalisieren und zu instrumentali- sieren, um die Ziele zu erreichen, die sie als wünschenswert betrachten« (ebd., 77). Das Problem des Verhältnisses von politischer Rationalität und politischer Technologie auf Fragen der ›Implementierung‹ zu beschränken, evoziert aber das Bild einer undifferenzierten sozialen Welt, in die sich die Programme ledig- lich ›einschreiben‹ müssten. Diese Annahme unterstellt einen impliziten Funk- tionalismus der Programme, wonach sich die Funktionalität der Programme in ihrer Einsetzung in eine soziale Wirklichkeit erweisen soll. Das methodolo- gische Problem, wonach die Programme ›einfach so‹ oder ›irgendwie‹ mit der sozialen Praxis in Verbindung stehen sollen, kann aber nicht dadurch gelöst werden, dass sich die Studien infolgedessen auf eine Beschreibung der Pro- gramme beschränken. Um von einer ›Entsprechung‹ sprechen zu können, muss von einer kommensu- rablen Beziehung zwischen politischen Rationalitäten und sozialer Praxis aus- gegangen werden, das heisst, es muss bereits ein gemeinsamer sozialer Raum vorausgesetzt sein, damit sich Programme, Technologien und soziale Praktiken überhaupt aufeinander beziehen können. Die Methodenfrage einer zurei- chenden Strukturbeziehung von Programm und sozialer Praxis und das davon abgeleitete Methodenproblem der angemessenen ›Übersetzung‹ ist letztlich 192 Ramón Reichert sekundär; denn bevor die möglichen Technologien der ›Übersetzung‹, der ›Um- setzung‹ oder der ›Entsprechung‹ in die eine oder andere ›Richtung‹ als sozi- alwissenschaftliche Methode formuliert werden, wäre erst zu klären, ob und unter welchen Voraussetzungen überhaupt von einer ›Beziehung‹ gesprochen werden kann. Dem Problem der ›Übersetzung‹ oder der ›Umsetzung‹ inhäriert das Problem der Gültigkeit bestimmter Regeln, die nur innerhalb des Geltungs- bereiches der jeweiligen Übereinkunft geklärt werden kann. Wenn die Voraus- setzungen, auf denen die objektive Gültigkeit beruhen soll, für die Programme nicht zutreffen können, kann daher im Geltungsbereich intersubjektiver Re- gierbarkeit die strikte Allgemeingültigkeit der Programme nicht einfach voll- zogen, d. h. umgesetzt, werden. Methodologisch ist mit der Kohärenz und Konsistenz der politischen Pro- gramme für die Strukturierung gesellschaftlicher Wirklichkeit eine Einschrän- kung des Untersuchungsgegenstandes auf textuelle Manifestationen des So- zialen, also Diskurse, verbunden (vgl. die Kritik von Lemke 2000, 40-44). Das Wissen, das zum Beispiel in politischen Programmatiken, Management- und Versicherungstexten oder der psychologischen Literatur generiert wird, inter- pretieren die Governmentality Studies nicht als einfach ›gegebene‹ oder ›na- türliche‹ Repräsentation von Wirklichkeit, sondern als ihre Konstruktion und Problematisierung entsprechend der Regeln des Diskurses, der sich ihrer an- nimmt: »The object of our studies, then, is not the simple empirical activity of governing, but the art of government. [...] An analysis of government is not a ›sociology of rule‹« (Dean 1999,18). Doch alleine in der normativen Setzung eines nominalistischen Forschungs- programms, das seine Kontur nur durch die Zurückweisung eines naiven sozial- wissenschaftlichen Realismus erhält, für den gesellschaftliche Realität faktisch als ›determiniert‹ gedacht wird, ist die Methodenreflexion der Gouvernemen- talitätstheorie entscheidend eingeschränkt. Denn die Beschränkung auf einen ›reinen‹ Nominalismus lässt das Erkenntnisproblem unberücksichtigt, dass es der Begriff selbst ist, der als hypostasierte ›Realität‹ gesetzt sein kann. Wenn die Programme der politischen Rationalität als begriff liche Wirklichkeit ge- setzt werden, und »die freien Setzungen des Verstandes [...] in der Art von Dingen angeschaut werden, die uns umgeben und die wir passiv hinzuneh- men haben«, (Cassirer 1994, V) ergeben sich methodische Unschlüssigkeiten: Erstens werden die begriff lichen Wirklichkeiten der Programme als ›einfache‹ oder ›letzte‹ Begründungen eines ›theoretischen Selbstbewusstseins‹ hinge- nommen und die ›freien‹ Setzungen des Verstandes als ›Material‹ der Analyse aufgefasst. Das methodologische Kernproblem der Gouvernmentality Studies besteht darin, dass das ›Material‹ der Analyse als ›frei‹ gesetzt gilt und da- Government Gaming 193 mit immer schon jeglicher Erkenntnisbedingung äußerlich vorausgesetzt wird. Zweitens wird der begriff lichen Wirklichkeit das Kausalprinzip einer ›faktisch‹ bestimmbaren und empirisch überprüfbaren Wirkmächtigkeit zugrundege- legt. Mit dem Begriff der ›Konstitution‹ wird dafür argumentiert, dass die Pro- gramme eine bestimmte ›soziale Realität‹ schöpferisch hervorbringen. Mit der Setzung des Begriffs als Realität ist es schließlich möglich, dem »positiven Wis- sen des zu Regierenden« (Miller/Rose 1994, 64) die unumschränkte Konstituti- onsmacht sozialer Wirklichkeit zuzuschreiben und wissenschaftlich zu legiti- mieren. So gehen Miller und Rose davon aus, in den Programmen ließen sich die »tatsächlichen Mechanismen« (ebd., 56) wiederfinden, die die sozialen Prak- tiken regulieren. Behauptet man die Konzeption von Programmen als »idea- lisierte Schemata« (ebd.), die als eine »Art Selbstreflexion der Führenden auf die Ziele und Mittel der Führung« (Lemke 2000, 43) verstanden werden können, kann daraus geschlossen werden, dass der Praxis die Intelligibilität des Regie- rens entgeht. Die Grundlage für die Konstitution der Praxis bildet nach Mil- ler und Rose die Sprache, »durch die Felder des Regierens erfasst, denkbar und verwaltbar gemacht werden. [...] Sprache, so kann man sagen, bietet einen Me- chanismus, um Wirklichkeit bestimmten Arten von Handlungen zugänglich zu machen« (Miller/Rose 1994, 65). Diese der Sprache beim Regieren zuerkannte Macht zur Konstitution sozialer Wirklichkeit läuft auf den Geltungsanspruch eines universalen Theoriesolipsismus hinaus, womit das Steuerungsideal ei- ner theoretischen Autorität suggeriert wird, die sich ganz aus sich selber be- stimmt. In diesem Sinne schrumpft die soziale Welt, in der die Programme ent- stehen und in der sie praktisch werden sollen, zu einem je schon einerseits transparenten und andererseits stabilen Mikrokosmos, dessen Parameter le- diglich benannt werden müssen, um ihn vollständig zu beschreiben. In dieser Perspektive erhält die ›Gouvernementalität‹ einen hierarchischen Rich- tungssinn, worin sich die aktiv-schöpferische ›Rationalität‹ der Programme die materiellen und alltäglichen Praktiken aneignet, sie kolonisiert und schließlich im Abstraktionsprozess überhaupt erfindet und entstehen lässt. Angenommen wird, dass ›Rationalität‹ als operativer Begriff auf den tieferen Sinn und theore- tischen Zusammenhalt der gesellschaftlichen ›Machtverhältnisse‹, ›Kräftever- hältnisse‹, ›Praktiken‹, ›Programme‹ oder ›Technologien‹ verweist. Die Macht, das Soziale zu konstituieren, soll nun alleine von den Programmen selbst her- vorgebracht werden, die »neue Sektoren von Wirklichkeit« (Miller/Rose 1994, 64) entwickeln und »neue Existenzbereiche dem Handeln zugänglich machen« (ebd.). Die privilegierte Instanz der Programme wird theoretisch mit den Krite- rien der Konstitution, die die Kohärenz und das Kausalprinzip der Programme voraussetzt, (re-)produziert. Mit der unterstellten Konstitutionsmächtigkeit 194 Ramón Reichert der Programme wird jedoch ein schwerwiegendes metaphysisches Problem transportiert, weil die abstrakten Programme und Theorien grundsätzlich als einheitliches Tätigkeitssubjekt verstanden werden. Die Tathandlung, der »dis- kursive Mechanismus« (ebd.), muss indes aus gutem Grunde mysteriös blei- ben, denn wie kann ein abstraktes Programm selbst handeln? Wenn hingegen der Anspruch besteht, die Technologien des Selbst nicht als blo- ße Ausführung überindividueller Normen oder als passive Aneignung zu ver- stehen, ist es notwendig, einen differenzierten Begriff sozialer Praxis zu ent- wickeln, um nach dem Gebrauch fragen zu können, der in der Praxis von den ›Angeboten‹ politischer Programme gemacht wird. Wenn das Verhältnis von politischer Rationalität und Führung der Regierten und des Selbst nicht als determiniertes Zwangs- oder Gewaltverhältnis verstanden werden soll, son- dern als strategische Machtbeziehung, die offen bleibt für ihre Umkehrung oder Veränderung, dann muss der Beitrag, den die Akteure zur Konstituierung bestimmter Formen der Regierung leisten, auch differenziert werden. Der in der Gouvernementalitätstheorie entwickelte Begriff der ›Führung‹ geht von der Möglichkeit der Subjekte aus, im Rahmen eines offenen Machtspieles ei- nen mehr oder weniger schöpferischen Entwurf des Regierungshandeln zu entwickeln. Denn Regierungsmentalität kann sich nur da ereignen, wo ein re- f lektierendes Subjekt in die Machtspiele der Fremd- und Selbstführung ein- tritt. Wenn diese These gelten soll, dann muss Freiheit für die Wirksamkeit von Machtbeziehungen konstitutiv sein. Auf diesen unauflöslichen Widerspruch von Subjektivierungsprozessen ver- weisen heute zahlreiche Untersuchungen zu den Strukturen, Mechanismen und Bedingungen der Formation von Subjektivität, die zum Schluss kommen, dass sich die Selbstpraktiken immer im ambivalenten Spannungsfeld von Sub- jektivierung und Entsubjektivierung bewegen. Spiele der Fremd- und Selbstführung Nach Foucault ist die Kritik eine experimentelle und ortlose Praxis, die letzt- lich auf eine permanente Absetzbewegung und eine Praxis der »Entsubjekti- vierung« (Foucault 1993, 27) hinausläuft. Entsubjektivierung ist folglich im- mer auch in einer Ambivalenz befangen, die eine fassbare Identifizierung unmöglich macht. Die Ambivalenz behält zugleich die Möglichkeit von Kritik wie die Unmöglichkeit einer Instanz ein, welches sich als wahres Selbst bestim- men könnte. Im Unterschied zum Subjektivierungsregime, das auf das Zu- und Abrichten der Subjekte abzielt, beharrt die Entsubjektivierung auf einem kri- Government Gaming 195 tischen Verhältnis zur Politik des Selbst- und Identitätsmanagements und ver- sucht, die Imperative zur Selbstfindung zu überwinden, ohne sich jedoch in Selbstauflösung zu verlieren. In diesem Sinne meint Entsubjektivierung eine mehr oder weniger kontingente Erfahrung, die uns eher widerfährt, als dass sie von uns beherrscht und kontrolliert werden würde und damit die Grenzen der kohärenten Subjektivität überschreitet. Inwiefern darin Entgrenzung zu einer Subjektivierungsform zu werden vermag, muss folglich offen bleiben. Einerseits ist das Subjekt als Konstituierendes immer schon medial konstitu- iert, andererseits eröffnet es mit seiner iterativen und signifizierenden »Kraft zum Bruch« (Derrida 2001, 27) unendlich viele neue Kontexte. In ihrer grund- legenden Verf lechtung ermöglichen sich Aktivität und Passivität, Konstituie- rendes und Konstituiertes wechselseitig. Demzufolge ist dem Subjekt die voll- kommene Aneignung seiner persönlichen Hervorbringungen und Fähigkeiten ebenso versperrt wie auch im Umkehrschluss seine totale Enteignung durch die anderen. Mittels ihrer Selbstpraktiken konstituiert sich vielmehr ein Raum von offenen Horizonten und Unbestimmbarkeiten, worin jede Deutung eine chiastische Struktur erhält. Die wechselseitige Verf lechtung von Subjekt und Medium hat Merleau-Ponty in seinem Spätwerk mit dem Begriff des Chiasmus umschrieben (1986, 172-203). Der Begriff Chiasmus leitet sich von dem grie- chischen Buchstaben Chi (χ) ab und bezeichnet eine kreuzweise syntaktische Wortstellung. In seinem unvollendeten Theoriefragment tritt an Stelle des griechischen Begriffs der Terminus ›Überkreuzung‹, mit dem er eine Abkehr von der traditionellen dualistischen Sichtweise zu überwinden versucht. Mit der Figur des Chiasmus schließt er völlige Kongruenz ebenso aus wie völlige In- kongruenz. Infolgedessen zeigt sich die Aktivität der Sinngenerierung als brü- chiger Sinn. Durch die chiastische Konstellation medialer Praktiken entstehen Paradoxien, die nicht mehr mit begriff lichen oder interpretativen Methoden angeeignet werden können. Derart sich überkreuzende Bedeutungsprozesse führen in die Interpretationen widerständige und singuläre Momente ein, wel- che den Erklärungsversuch einer geschlossenen Sinntotalisierung kontinuier- lich unterlaufen. Der in der Gouvernementalitätstheorie entwickelte Begriff der ›Führung‹ geht von der Möglichkeit eines ref lektierenden Subjekts aus, das in die Machtspiele der Fremd- und Selbstführung eintritt. Wenn diese These gelten soll, dann müssen die ref lexiven Möglichkeiten des Self-Government für die Wirksam- keit von Machtbeziehungen konstitutiv sein (vgl. Burchell 1996, 267-82). Die- se Verschiebung reflektieren Strategiespiele, deren Screen- und Interfacede- sign auf die Subjektivierung des Regierens abzielen (vgl. Darley 2000, 17f). Trotz ihrer unterschiedlichen thematischen Konfiguration teilen die Strate- 196 Ramón Reichert giespiele, in deren Zentrum das ›richtige‹ und ›erfolgreiche‹ Regieren steht, spezifische Merkmale, die sich an der Schnittstelle von Medienästhetik und Machtrepräsentation ansiedeln: Sie recyceln hegemoniale Ordnungsvorstel- lungen politischer Macht und tradieren dabei kanonische sowie standardisier- te Narrative der Geschichtsschreibung. Sie beziehen sich auf konventionelle Repräsentationen der Macht durch Personen, Institutionen und Ideen, legiti- mieren bestimmte Wissenssysteme als universell gültig und rekurrieren im gleichen Atemzug auf rassistische Kolonialphantasien, Gender-Stereotype und mechanistische Steuerungsmodelle polizeilich-administrativer Kontrolle und Verwaltung (vgl. Doran/Gilbert 1994; Herz 1997). Dementsprechende Bedien- menüs und Spieleoptionen suggerieren eine kontinuierliche und umfassende Klassifikation und Kodifizierung sämtlicher Aspekte des Lebens – von prähisto- rischen Stammesgesellschaften bis zur utopischen Weltraumkolonisation. Vor diesem Hintergrund kann eine politische Spielekritik danach fragen, wie Welt- beherrschungsspiele etwa in der Art der einflussreichen Civilization-Reihe das politische Handeln und Wissen der Gamer/innen formen. Hierbei kann der Rekurs auf Foucaults Konzeption der Gouvernementalität der Entwicklung einer Kritikperspektive dienlich sein und uns in die Lage ver- setzen, die soziale Praxis der User/innen jenseits der Dichotomie von Zwang (Game) und Freiheit (Play) zu ref lektieren (vgl. Salen/Zimmermann 2003). Die methodische Pointe des Regierungsbegriffs besteht dabei darin, dass Politik auch jenseits des Staates wirksam wird. Regieren ist somit auch Teil der Selbst- führung der Individuen und setzt deren Freiheit voraus. Transponiert auf das Feld der strategischen Games hieße diese Einschätzung, dass Spielen in ein komplexes Machtverhältnis verwoben ist. Insofern bezeichnet der Regierungs- begriff nicht die ›Internalisierung‹ der Spielsemantik, sondern bildet ein Schar- nier zwischen dem Technology Tree (das Design und das Programm des Spiels) und den Technologien des Selbst. Dieser letztgenannte Punkt verbindet bei den Vertretern der Governmentality Studies auch Methode und historische These: Die neoliberale Regierungsmentalität beruht auf der Freiheit der Subjekte und zielt auf ihre Selbstbestimmung und Autonomie ab, sie konstituiert diese Frei- heit statt sie zu instrumentalisieren (zur Konstituierung und Verfasstheit der Freiheit in liberal-demokratischen Gesellschaften vgl. Rose 1996; 1999). Auch in der weiterreichenden Analyse von Computer Games wird Macht nicht gemäß der Tradition als Substanz oder Eigentum gedacht, sondern als nicht- statische Kräfterelation. Daraus folgt, dass der Widerstand ein unverzichtbares Moment der Macht darstellt. Der Begriff der Gouvernementalität macht darauf aufmerksam, wie diese Dynamik der Machtverhältnisse ihre jeweilige Ausrich- tung erfährt. Die Arbeiten der Governmentality Studies interessieren sich für Government Gaming 197 Prozesse der Emergenz: Statt von quasi-naturgegebenen Problemen auszu- gehen, fragen Autoren wie Nikolas Rose (1990), wie verschiedene soziale Be- reiche durch die Problematisierung bestimmter Denk- und Handlungsformen als regierbare konstituiert werden. Demzufolge sind die sozialen Praktiken der User/innen beim Spielen nicht als bloße Ausführung überindividueller Nor- men oder als passive Aneignung der Spielevorgaben zu verstehen. Daher ist es notwendig, einen differenzierten Begriff sozialer Spielepraxis zu entwickeln, um nach dem Gebrauch fragen zu können, der in der Praxis von den Rahmen- bedingungen des Spiels gemacht wird. Wenn das Verhältnis von regelgelei- tetem Spiel und User/innen nicht als determiniertes Zwangs- oder Gewaltver- hältnis verstanden werden soll, sondern als strategische Machtbeziehung, die offen bleibt für ihre Umkehrung oder Veränderung, dann muss der Beitrag, den die Akteure zur Konstituierung bestimmter Praxisformen des Spielens lei- sten, auch differenziert werden. In Government-Simulationen experimentie- ren User/innen mit der Geschichte und Entwicklung sozialer, politischer und ökonomischer Gesamtheiten. Als Kommunikationsmittel geht jedoch die Ma- trix der Games nicht in ihrer Techno-Logik auf. Die englische Sprache kennt die Unterscheidung vom regelgelenkten Game und dem freien Play, das sich die Regeln jeweils neu schafft. Textbasierte Multi-User Dimensions (MUD's) und Multi Object Oriented (MOO's) entwickeln neue game-artige Strukturen, kom- munikative Strukturen und strategische Machtbeziehungen. Sie stehen für die Möglichkeit der Subjekte, im Rahmen eines offenen Machtspieles einen mehr oder weniger schöpferischen Entwurf sozialer Organisation zu entwickeln. Die meisten strategischen Computerspiele werden heute als Massively Multiplay er Online Role-Playing Game¯5 (MMORPG) (dt.: Massen-Mehrspieler-Online-Rol- lenspiel) online über das Internet gespielt und haben maßgeblich dazu bei- getragen, das Regieren als Entertainment in der Populärkultur zu etablieren. Unter den Bedingungen dynamisierter Märkte, die innovative Flexibilität, öko- nomische Effizienz und die wachsende Bedeutung des Produktionsfaktors Wis- sen fordern, sind strategische Computerspiele darauf ausgerichtet, subjektive Potenziale und erfahrungsbasiertes Wissen zu aktivieren. Die Grundannahme, dass kulturelle Praktiken immer vieldeutig und veränder- lich sind und ihre theoretische Reflexion immer auch ein aktiver Konstruk- tionsprozess ist, kann als Ausgangspunkt für die Thematisierung kultureller Praktiken und ihrer Bedeutungen genommen werden, um vereinfachende oder vereinheitlichende Interpretationen von Kultur zu vermeiden. Daraus kann ge- folgert werden, dass kulturelle Formationen von den sich im veränderlichen Feld von Beziehungen verortenden Praktiken immer wieder aufs Neue trans- formiert werden. Infolgedessen berücksichtigt eine Kartografie der kulturel- 198 Ramón Reichert len Formationen das komplexe Gewebe der möglichen Bedeutungen von Kultur und ihren Kontexten. Sie verfolgt weniger die Absicht, repräsentative Karten der kulturellen Praktiken zu entwerfen, sondern versucht vielmehr, die stra- tegischen und taktischen Möglichkeiten der Aneignungspraktiken sicht- und sagbar zu machen. Somit kann den kulturellen Formationen dieselbe hand- lungsermöglichende Wirkung zugesprochen werden wie den sozialen Bezie- hungen. Vor diesem Hintergrund distanziert sich die Erforschung der kulturel- len Formationen vom Ideal der autonomen und neutralen Wissenschaft und positioniert sich als ein politisch-strategisches Projekt. Medien operieren in bestimmten diskursiven Räumen, die ihre kulturellen For- men und Funktionen festlegen. Es ist also keineswegs so, dass Medien stets von sich aus ein – angemessenes oder wirksames – Wissen über das erzeugen, was sie sind und können (vgl. zur performativen Logik des Medialen Jäger 2004, 35- 74). Das, was Medien können, entsteht und entwickelt sich folglich erst aus ih- rem Gebrauch heraus. Die vielfältigen Nutzungsprozesse im Netz sind jedoch immer auch Gegenstand forschungsstrategischer Exemplifizierungen und ent- ziehen sich trotz versuchter Etikettierungen der festen Rahmensetzung und somit der theoretischen ›Sichtbarmachung‹ der Unübersichtlichkeit des All- tags. Eine nichtstatische/temporalisierte Konzeption der kulturellen Forma- tion geht einer teleologischen Indoktrination der Medienkanäle aus dem Weg und verändert die Perspektive der Medien: Sie verändern sich von Anfang an und sind permanenten Aneignungsprozessen unterworfen. Gemeinsam ist diesen Selektions- und Bemächtigungsprozessen, dass die User/innen die Re- levanz der Produkte für ihre persönliche und soziale Lebenssituation selbst herausfinden wollen. Diese performative Herstellung der Medien, die nicht an sich, sondern immer nur für sich, d. h. in konkreten alltäglichen, sozialen Zusammenhängen existieren, führt zur Annahme, dass die Medien in diesem Sinne kein geschlossenes System abbilden, sondern immer auch die Möglich- keit von Veränderung und Subversion beinhalten. In einem Feld fortwährender Differenzierungen und Transformationen fungieren komplexe mediale Kon- stellationen, die sich aus Normen, Dispositiven, Freiheitstechnologien, Adres- sierungen, Evidenzstrategien zusammensetzen, als basale Strategien für die Prozessierung kulturellen Sinns. Sie firmieren als bedeutungsgenerierende Ef- fekte, die aus der Wechselbeziehung differenter und miteinander verschalteter Medien sowie der rekursiven Rückwendung eines Mediums auf sich selbst ent- stehen. Ihre spezifische Wirksamkeit entfalten die kulturellen Formationen als eine nicht im Staat verkörperte Handlungsmacht, sondern mittels der Erzeu- gung und Transformation von Subjekt- oder Äußerungspositionen. Government Gaming 199 Die kulturellen Formationen, die im Ablauf der Geschichte einander ablösen, bilden keine festen Blöcke von Subjektordnungen, sondern vielmehr transito- rische Räume, die Sinnverschiebungen, Neuorientierungen und eine Hybridität der Subjektformen zulassen. Hybridität entsteht nicht durch eine Interventi- on von außen, die unterbricht, denaturalisiert und die ›hegemoniale‹ kultu- relle Formationen dekonstruiert, sondern ist ein alltäglicher, unvermeidbarer und gewöhnlicher Bestandteil aller kulturellen Formationen, die auftauchen, sich verändern und durch Zeit und Raum fortbewegen. Dieser Umstand soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Politiken der Hybridität hart umkämpft sind. Kulturelle Formationen sind jedoch keine supplementären Phänomene, die zu dem, was Medien ›von sich aus‹ sind, hinzukommen: »Kul- turelle Formen und Prozesse werden nicht als etwas Sekundäres, Abgeleitetes betrachtet, sondern sie treten als dynamische und produktive Kräfte, die für die Gesellschaft selbst konstitutiv sind, in den Mittelpunkt« (Winter 1999, 48). Für die Untersuchung von Game-Kulturen ist der in den Governmentality Stu- dies verwendete Subjektbegriff auch weiterhin von Interesse. Das Subjekt ist im Unterschied zur abendländischen Tradition kein dem Sozialen vorgelager- ter Ankerpunkt, von dem aus eine ahistorische Wahrheit begründet wird (Dean 1999, 13). Vielmehr stellt sich das Subjekt als eine im Werden begriffene soziale Immanenzform dar. Es ist unhintergehbar in die Spiele des Wahren und des Fal- schen eingefasst, die es durch seine sozialen Praktiken aufrecht erhält. Ande- rerseits füllt es diese Rationalitäten nie aus, sondern verschiebt sie in ihrer An- wendung. In diesem Sinn kann die semantische Dimension strategischer Spiele nicht auf eine einzige Bedeutung und theoretische Analysekategorie reduziert werden und muss daher immer wieder von Neuem verhandelbar sein. Anmerkungen 01˘ Mit dem Begriff der ›governmentalità‹ verortet Foucault das ›Auftauchen‹ der Regierungsliteratur in der polemischen Auseinandersetzung mit Machiavelli. Foucault wid- met sich in dieser Vorlesung der Literatur über das Regieren vom 16. bis zum 18. Jahrhundert entlang der Rezeption Machiavellis Il Principe und führt eine Reihe von italienischen Quellentexten an. Hierbei wird Machiavellis Il Principe als ein zentraler ›Abstossungspunkt‹ bestimmt, »im Verhältnis zu dem, im Gegensatz zu dem und durch dessen Verwerfung die Regierungsmentalität ihren Ort bestimmt« (Foucault 2000, 42). 200 Ramón Reichert 02˘ Vgl. Foucault 1979, 5-22. Erstveröffentlichung einer Mitschrift der Vorlesung in ita- lienischer Sprache in: Aut-Aut 167-168, 1978, 12-29. In dem von Graham Burchell, Colin Gordon und Peter Miller herausgegebenen Sammelband The Foucault Effect. Studies in Governmentality (1991) erschien der Text in überarbeiteter Fassung. 03˘ Am 14. Oktober 1989 veröffentlichte die taz erstmals den Text in gekürzter Fassung in ei- ner Übersetzung von Thierry Chervel. 04˘ Vgl. Foucault 1978, 719. Die von Foucault abgehaltenen Vorlesungen sind weitgehend un- veröffentlicht und nur teilweise autorisiert. Einen systematischen Überblick und eine voll- ständige Bibliografie der unveröffentlichten Vorlesungen sowie eine theorie- und werkge- schichtliche Einführung in das Konzept der ›Gouvernementalität‹ und eine Diskussion ihres Stellenwerts innerhalb der Foucaultschen Analytik der Macht wurde erstmalig von Thomas Lemke in der 1997 publizierten Arbeit Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität sehr umfassend und materialreich vorgelegt. In dieser Arbeit, aber auch in darauffolgenden Publikationen Lemkes, wurde der Begriff der Regierung als Analyseinstrument und Forschungsprogramm vorgestellt und problemati- siert. 05˘ Ein MMORPG ist ein ausschließlich über das Internet spielbares Computer-Rollenspielgenre, bei dem gleichzeitig mehrere tausend Spielerinnen und Spieler eine persistente, virtuelle Welt miteinander teilen können. In der Anfangszeit bestanden die Online-Spiele vor al- lem aus Text Adventures, MUDs (bei einem Multi User Dungeon handelt es sich um ein Rollenspiel, das auf einem zentralen Server läuft, auf dem sich mehrere Spieler gleichzeitig einloggen können) und bekannten Brettspielen (Schach, Go usw.). Mit Ultima Online konn- te sich 1997 erstmals ein MMORPG etablieren, bei dem mehrere tausend Spieler gleichzei- tig online sein können. Gegenwärtig ist beinahe jedes Spiel-Prinzip als Online-Spiel vertre- ten, unabhängig von der notwendigen Leistung oder Komplexität. 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Die Betonung der räumlichen Verfasstheit des Strategiespiels ist augenscheinlich,¯1 die politische Komponente der Steuerung- und Konfigura- tionshandlungen sind mehrfach benannt worden – und nicht zuletzt ist die Ab- stammung des Computer-Strategiespiels aus den Kriegsplanspielen und Kon- fliktsimulationen der Militärwissenschaft¯2 ein belastbares Argument für die Behauptung einer Tradition geopolitischer Artikulationen in diesen Spielen. Für die Existenz normativer raumpolitischer Setzungen in Strategiespielen spricht auch die Augenscheinlichkeit bestimmter, in vielen Globalstrategie- Spielen integrierter Setzungen: Computer-Strategiespiele operieren beispiels- weise häufig mit einem ›primordialen‹ Nationenbegriff, also einem Verständ- nis von Nation als meta-historischer Entität, die sich von einem modernen Nationenbegriff (beispielsweise im Sinne der Herstellung der Nation aus Pro- zessen kollektiver Identitätsbildungen¯3) abhebt. Ebenso sind die immer wie- der aufgerufenen Epochengrenzen als eine solche ordnungspolitische Setzung zu verstehen (wenn wir den Epochenbegriff als eine Erfindung des 18. Jahrhun- derts begreifen).¯4 Vor allem aber präsentieren Strategiespiele fast durchgän- gig die Idee, Politik als Kategorie des Raums zu begreifen. Politisches Handeln vollzieht sich fast ausschließlich als Handlung auf, in und mit Karten. Zudem artikulieren zeitgenössische Computer-Strategiespiele ein politisches Weltbild, das in vielen Zusammenhängen als ›konservativ‹ oder ›neoliberal‹ charakterisiert worden ist: Sei es das wiederkehrende Spiel mit indigenen Fi- guren, die wiederkehrend postkolonialen Appropriations-Strategien und ras- sistischen Zuschreibungen zugeordnet sind (Galloway 2006, 96), sei es das omnipräsente Durchlaufen der tec-trees (bspw. in Civilization) im Sinne eines ›master narratives‹, das den Erfolg einer westlich orientierten Kultur garan- tiert (Poblocki 2002, 172; Reichert 2008). All dies legt es nahe, dass Strategie- spiele auch die operationalen und normativen Komponenten der Geopolitik in sich tragen. Dies wird nicht zuletzt dadurch begründbar, dass die Grund- struktur jedes explorativen und konfliktbasierten Strategiespiels ein ›Kultur- kampf‹ ist: Diskurse geopolitischer Ordnung 205 »Grundannahme des Strategiespiels civilizaTion ist ein von MicroProse definierter ›Clash of Civilizations‹ (Civ3.com). Mit dieser Ansage, die später den US-amerikanischen Politikwissen- schafter Samuel Huntington berühmt machen sollte […] , rückte man den Kampf um das kultu- relle Kapital in das Zentrum fortgeschrittener Gesellschaften« (Reichert 2008, 206). Ziel dieses Beitrages ist es also weniger, die grundsätzliche Verschaltung von geopolitischen Diskursen und dem Computer-Strategiespiel zu konstatieren, sondern zum einen sehr viel kleinteiliger bestimmte spezifische geopolitische Setzungen in Strategiespielen zu analysieren und zum anderen die Verschal- tung des Geopolitischen nicht nur auf der narrativen oder repräsentationalen Ebene herauszuarbeiten, sondern (über die Raumkonstitution) auch die Ver- schaltung der Geopolitik mit dem Medialen des Strategiespiels in den Blick zu nehmen. Getragen ist eine solche Betrachtungsweise von der konzeptionellen und the- oretischen Überzeugung, dass Computerspiele (und im speziellen Strate- giespiele) Materialisierungen von gesamtgesellschaftlich mäandrierenden Diskursformationen sind, die sich im Sinne der Kopplung von »Spezial-« an »Interdiskurse« (Link 2009) zu herausgehobenen Momenten von Subjektappli- kationen überformen. Geopolitik soll in diesem Sinne zunächst als ein ab- grenzbarer und spezieller Praxis- und Wissensbereich verstanden werden, der sich durch (historisch-)spezifische Aussagestrukturen in Form spezialisierter Wissensdiskurse auszeichnet und durch spezialisierte (subjektive wie inter- subjektive) Aussageformen der Wissenszirkulation gekennzeichnet ist – soge- nannte Spezialdiskurse. Diese Diskurse sind dem common sense gegenüber zu- nächst abgeschlossen (wie jeder fachwissenschaftliche Diskurs), werden aber durch Mechanismen der Diskursintegration in ein Verfahren der ›Überset- zung‹ gekoppelt (vgl. Link/ Parr 1997). Diese ›Übersetzungsarbeit‹ schlägt sich in diskursverbindenden Formationen nieder – den Interdiskursen – die als dis- kursverbindende Elemente die ›Lesbarkeit‹ (und damit die Wirksamkeit) des spezialdiskursiv codierten Wissens sicherstellen und somit zu wirkmächtigen Komponenten gesellschaftlicher wie subjektiver Bedeutungsproduktion wer- den (Parr/Thiele 2004, 265). Diese Interdiskursivierung ist in Bezug auf die Geop olitik als ›zweigeteilt‹ zu betrachten. Zum einen kann vor allem in der er- sten, in die nationalsozialistischen Expansionspolitik mündende Welle der Ge- opolitik (ca. 1920 bis 1945) eine Interdiskursivierung der Geopolitik als (popula- risierte) Wissenschaft nachgezeichnet werden, zum anderen – und dies ist für das hier verhandelte Argument entscheidender – kann gezeigt werden, wie in- 206 Rolf F. Nohr terdiskursive Formationen der globalstrategischen Geopolitik bis heute durch populäre Artikulationen mäandrieren. Im Vorgriff auf die zu führende Argumentation kann hier als These formuliert werden, dass Computer-Strategiespiele sowohl formal wie inhaltlich als Dis- kurse, Praktiken und ›Architekturen‹ beschrieben werden können, die von spe- zifischen interdiskursiven geopolitischen Diskursen, die sich im Wesentlichen auf die normativen und operationalen Setzungen der ›frühen‹ Geopolitik zu- spitzen lassen, getragen werden – wobei diese frühen geopolitischen Diskurse ihre Reartikulationen auch in zeitgenössischen Politikformen finden . Eine sol- chermaßen veranschlagte diskursanalytische Betrachtungsweise führt aber auch dazu, die vorgebliche Trennung von Narration und den ›Form‹-Aspekten des Computerspiels (Technologie, Interface,...) aufzuheben. Es gilt nicht nur nach der ›Erzählung‹ des Raums im Strategiespiel zu fragen, sondern auch nach der Produktion und Konstitution von Raum für die ›Funktionalität‹ des Spiels. Insofern soll im Folgenden zunächst über die Bedingungen des Computer-Stra- tegiespiels (vor allem seinem Raumbegriff als Koppelungspunkt für raumbas- ierte Politikformen und seine mediale Kontur) ref lektiert werden, um in einem großen zweiten Schritt den Diskurs der Geopolitik zu entfalten, um dann – drittens – über die Verbindungen und Diskurskoppelungen von Strategiespiel und Geopolitik nachzudenken. Raumkonfigurationen ¯5 Der Ausgangspunkt für eine solchermaßen verfasste Argumentation ist eine vertiefende Auseinandersetzung mit den Strukturen des Strategiespiels. Am Anfang der Untersuchung steht der Gedanke, dem Strategiespiel durch eine Analysemethodik näher zu kommen, die den Gegenstand in einer ›naiv-phä- nomenalen‹ Zugriffsweise systematisch in Augenschein nimmt und dabei das Spiel nicht nur als Text begreift, sondern auch seine technischen, handlungs- orientierten, paratextuellen usf. Komponenten untersucht. Die Motivation ei- ner solchen Reflexion von Strategiespielen ist die Idee einer Evaluation des ›Wesens‹ des Strategischen, also der Signifikationen, die (nicht taxonomisch und nicht als Ausschlusskriterium gedacht) als charakterisierend gelten kön- nen. Es gilt also zunächst, eine möglichst kommensurable Beschreibbarkeit der unterschiedlichen Spiele zu etablieren. Dies kann anhand des eng an Consal- vo/Dutton (2006) angelehnten Versuchs unternommen werden, zunächst rein inventarisierend alle vorhandenen Entitäten eines Spiels zu beschreiben. Die- se Deskription erfolgt in drei Schritten: Den Auftakt bildet der Zugriff und die Diskurse geopolitischer Ordnung 207 Auswertung der ›Objekte‹ des Spiels (»object in- ventory«), gefolgt von einer systematischen Be- schreibung der graphischen Nutzeroberfläche und den dadurch möglichen Interaktionsmög- lichkeiten (»interface study«), gefolgt von einer Kartierung unterschiedlichen Interaktionshan- delns (»interaction mapping«). Alle abgrenzbaren Entitäten innerhalb der Spiel- welt stellen Objekte dar. Dazu können militä- rische Einheiten und Gegenstände ebenso ge- zählt werden wie Gelände, Hintergründe und abstrakte Erscheinungen. Ob der Spieler mit dem Objekt interagieren kann, spielt für den Status als Objekt zunächst keine Rolle (ist aber sicherlich eine erfassenswerte Eigenschaft eines Objekts). Bei einem dezidierten Durchlauf durch ausgewählte Strategiespiele¯6 wird deutlich, dass die Inventarisierung der Objekte innerhalb eines Strategiespiels sich durch a) eine hohe Menge an Objekten und Objektklassen und b) eine relativ ähnliche Klassifizierbarkeit und Ab- bildung der Abhängigkeitsstrukturen auszeich- net. Das Strategiespiel definiert sich außerdem durch eine deutlich erkennbare Abgrenzung Abb. 1: Objektklassen in Strategiespielen. von Objekten und deren Klassen untereinander. Primär raumbezogene Klassen und Es scheint für die Spielvollzüge entscheidend Kategorien sind grau unterlegt. zu sein, dass die Spielenden in der Lage sind, die Objekte und ihre Abhängigkeiten funktio- nal identifizieren und beherrschen zu können. Durch eine Modifikation der verwendeten Klassifikation von Consalvo/Dut- ton (2006) zeigt sich eine erste Besonderheit der Strategiespiele. Die Objekte des Strategiespiels definieren sich vorrangig durch eine starke Raumbezogen- heit (vgl. Abb. 1).¯7 Ein signifikantes Spezifikum des Strategiespiels ist, dass es eine seiner wesent- lichen Ressourcen, die zur Erlangung des Spielziels wichtig sind, ebenfalls ver- räumlicht: das ›Wissen‹ (im Sinne der weiter- und Höherentwicklung von Ob- jekten). So sind es nicht nur die ökonomischen Ressourcen (Bodenschätze, Geld, Heilungs-Items usf.), die durch die Exploration des Raumes ›freige spielt‹ und angeeignet werden müssen, sondern es ist auch das ›immaterielle‹ Gut der 208 Rolf F. Nohr Abb. 2: Ein von einem Spieler selbst rekonstruierter Tec-Tree für Civilization I Weiter- und Höherentwicklung, das sich in die Topografie des Spiels eintragen lässt. Fast allen Strategiespielen sind Mechaniken beigegeben, die die ›Evo- lutionierung‹ und Höherentwicklung als Manipulation einer materiellen und verortbaren Objektklasse beschreiben. Zumeist sind es Gebäude, die entweder in doppelter Codierung bereits Einheiten- oder Objektproduktionsstätten sind oder Gebäudeobjekte, die exklusiv der Höherentwicklung von Fertigkeiten die- nen, die diese Funktion übernehmen. Zumeist als zeitkritisches Handeln kon- zipiert, gilt es, mit solchen Objekten den Möglichkeitsraum des Gesamtspiels oder einzelner Objekte (zumeist durch Ressourceneinsatz) zu verbessern. Dies geschieht entweder ganz konkret über den Erwerb von Objekt-›Upgrades‹ (Pan- zerung, Kampfstärke, Reichweite oder Geschwindigkeit) oder die Ausprägung von abstrakten Fertigkeiten, über den Ausbau von Infrastruktur oder die ›Ef- fektivierung‹ von Staatswesen, Finanzstruktur und Technologie (Demokratie, Monotheismus, Fusionstechnologie usf.). Strategiespiele funktionalisieren die Weiter- und Höherentwicklung der Ob- jekte und Figuren als eine raumgebundene, zumeist binär-baumartig konzep- Diskurse geopolitischer Ordnung 209 tionalisierte, kontinuierliche, zeitbasierte Optimierung und Höherentwick- lung von entweder strikt objektgebundenen Werten (bspw. Verbesserung des Trefferabfragewerts) oder unspezifischen, Optionsräume eröffnenden Werten (bspw. neue Bauoptionen je erreichtem Zeitalter). Eine dritte Ebene des analytischen Zugriffs bilden die Untersuchung und der Vergleich der jeweiligen Interface-Strukturen der Untersuchungsgegenstän- de. Neben wiederkehrenden Motiven, narrativen Bausteinen und Regelkonsi- stenz ist es im Computerspiel vor allem das Graphical User-Interface (GUI), das einen Zugang zum Verständnis genrespezifischer Handlungs- und Wissens- strukturen bietet. Schon ein oberflächlicher Blick zeigt hier eine hohe struk- turelle Ähnlichkeit der jeweiligen Interface-Architekturen. Zu nennen wäre vor allem die Spiel-Hauptkarte in Struktur, Ästhetik und Funktionalität als zentralem ›Ort‹ des Spiels und die mini-map als Übersichts- und Steuerungs- funktion. Ebenso durchgängig sind aber auch spezifische Menü- und Konfigu- rationsstrukturen (vgl. dazu auch Wiemer 2012). Im Sinne symbolischer Stere- otypisierungen ist davon auszugehen, dass über solche, im Objektinventar und in der Interface-Study aufgefundenen Konventionalisierungen, die intuitive Beherrschbarkeit von Strategiespielen sichergestellt wird.¯8 Mit der gewählten Methode geht eine Reihe von Beobachtungen einher, die in die weitere Analyse der Strategiespiele einfließen können: ˘ Im Vergleich mit anderen Computerspielen und -genres zeichnet sich das Strategiespiel unter anderem durch die hohe Quantität und Qualität seiner Objektformation aus. Strategiespiele operieren mit kollektiven und präsent- distinkten Objekten mit häufig drei analogen Klassen von eigenen, fremden und neutralen Objekten, bei deutlicher Gewichtung der Ressourcen-Katego- rie.¯9 ˘ Konstitutiv für Strategiespiele ist die Existenz von tec- bzw. knowledge-trees, die als Entwicklungs- und Verwaltungsfunktion von Objekten begriffen wer- den können. ˘ Strategiespiele sind raum- und topografiebasiert. ˘ Strategiespiele definieren sich durch eine große Objektvielfalt bzw. Objekt- gewichtung (im Sinne einer differenzierten Abbildung der Objekt-Ontologien). Die Ordnung der Objekte in Klassen ist eine maßgebliche Strukturfunktion des Strategiespiels: die ›Einheitenbalance‹ ermöglicht das strategische Agieren mit Objekten. ˘ Gleichzeitig wird deutlich, dass die Objekte des Strategiespiels immer von ihrer jeweiligen Klasse und Funktion abhängig sind. Sie existieren nur selten ›für sich‹. 210 Rolf F. Nohr ˘ Die Analyse zeigt, wie wichtig der Begriff des Raumes für Konzeptionali- sierung und Beschreibungen von Strategie ist – gleichzeitig wird aber offen- sichtlich, dass der ›Raumfetischismus‹ (auf den weiter unten noch speziell ein- gegangen werden soll) auch generell für Computerspiele bedeutsam ist. Zu spekulieren wäre, ob jede Formation des Strategischen im Computerspiel gen- reübergreifend mit der Kategorie des Raums verbunden ist. Diese Beobachtungen führen nun zu vor allem drei wichtigen Schlüssen: Zum einen wird hieran deutlich, dass die konstatierte Raumbezogenheit des Stra- tegiespiels in ihrer Analyse nicht ohne eine Beobachtung und Auswertung des Spieler-Handelns besprochen werden kann. Auf gleicher Ebene wird ersichtlich, dass es nicht nur die Handlungspraxis des Spielenden ist, die in Interaktion mit der Raumkonstitution und der topographischen Basis des Spiels steht, sondern dass es auch die ›umgebenden‹ Diskurse sind, die hier zum Tragen kommen. Drittens ergibt sich, dass die spezifische Raumbasiertheit des Strategiespiels nicht nur auf der Ebene des Narrativen oder des Spiel-Szenarios anzusiedeln ist, sondern dass die Raumbasiertheit auch eine Frage des Mediums ist, dass also die Architektur und die Oberflächenfunktion des Computers selbst ent- scheidend an der Ausgestaltung der Tropen und Erzählfiguren, der Handlungs- praktiken und Diskurskonstellation des Strategiespiels teilhaben. Medienkonfigurationen Lev Manovic (2001) weist in seinem Buch Language of New Media darauf hin, dass es nur zwei genuine Ausdrucksformen des Computers gibt: das Interface und die Datenbank (ebd., 215ff.). Das Interface dekliniert in diesem Sinne einen ›Raum‹, in dem Informationen verarbeitet werden, und es stellt Navigations- möglichkeiten durch diese Informationsarchitekturen zur Verfügung, wohin- gegen die Datenbank eine Ordnungsstruktur definiert, in der Informationen organisiert werden.¯10 Das Double aus GUI und Datenbank generiert dabei eine kulturelle Form, die die Möglichkeit schafft, Erfahrungen zu artikulieren. Die einführende, an Consalvo/Dutton (2006) orientierte Beschreibung kann aufzeigen, wie ein solches Nebeneinander den ›Raum‹ des Spiels generiert: Strategiespiele operieren mit einem starken Begriff des Interfaces (indem die vielfältigen Objekte des Spiels navigierbar, verwaltbar und handhabbarge- macht werden) und halten gleichzeitig im Hintergrund ein ausdifferenziertes Datenbanksystem bereit, das die Vielzahl an manipulierbaren und nichtmani- pulierbaren Objekten vorhält, organisiert und transformiert.¯11 Diskurse geopolitischer Ordnung 211 Abb. 3: Einer der wenigen Momente, in dem das ›Spiel mit der Datenbank‹ im Strategiespiel aufscheint: ungarischer Level-Editor für Dune II vom Bill Geec Anti-Fan Club Der gesamte Diskurs der Computerspiele lässt sich als ein in hohem Maße ›raumfetischistisches‹ Funktionssystem begreifen. Computerspiele sind der Kategorie Raum ›verfallen‹ (Nohr 2007) bzw. existieren häufig in einer Bina- rität von »verteidigte[m] Raum« und »gefährdete[m] Raum« (Mertens 2007). Im speziellen Bezug auf das Strategiespiel könnte, in Ergänzung zu Mertens, womöglich noch der Raum ›hinter‹ dem Interface hinzugenommen werden: der Raum oder die Topographie der Datenbank, entsprechend ihrer vielfältigen Verwaltung der Objekte und Objektklassen, die somit eine Art des ›Konfigura- tionsraums‹ zusätzlich aufscheinen lassen würden. Insofern wird an dieser Stelle bereits in Andeutungen ersichtlich, wie sich der Begriff der Einschreibung raumbasierter Politik-Diskurse in das Strategiespiel detailliert ausdifferenzieren lässt. Zum einen scheinen solche Diskurse in der Spielmechanik des Strategiespiels (der Raumcodiertheit des Objekts) einen he- rausgehobenen Ort zur Materialisierung (Interface und Datenbank) zu finden. Zum zweiten stellt die spezifische mediale Verfasstheit des Strategiespiels wei- tere solcher Koppelungspunkte zur Verfügung und drittens ist über die histo- 212 Rolf F. Nohr rische Herleitung der Computer-Strategiespiele aus den Konfliktsimulationen und anderen, weiter gefassten strategischen Spielen der Spielgeschichte das Moment der raumbasierten Politik und der räumlichen Kontrolle dem Genre ›eingeschrieben‹. Auch wenn diese Formen der Raumpolitik bis hierhin noch nicht explizit benannt wurden, so erscheint doch bereits an dieser Stelle au- genfällig, dass die dem Computer-Strategiespiel innewohnenden Momente der ›Regierbarkeit von Territorien‹, der ›Raumcodiertheit von (auch immateriellen) Ressourcen‹ und der Verwaltung und Kontrolle von Objekten herausgehobene Momente der Verschränkung von Wissensbereichen des Computerspiels mit Politikformen darstellen.¯12 Wenn wir also darüber nachdenken, wie und an welchem Ort es zu einer Kop- pelung des Politischen und des Geographischen kommt, so wäre es zu kurz ge- griffen, beispielsweise nur nach Repräsentationsformen des Kartographischen zu suchen und danach zu fragen, wie sich in solchen Karten Machtpraktiken materialisieren. Im weiteren Sinne ist die Suche nach geopolitischen Diskursen im Computerspiel eine Suche nach der Manifest-Werdung von politischen For- men und Funktionen in im weitesten Sinne räumlich gedachten Konfigurati- onen, die sich weit über das Interface hinaus in Medialität und Diskursfiguren hinein verlängern. In einer solchen Perspektive kann bereits der Begriff der Strategie selbst als eine solche geopolitische Figur begriffen werden. Zumin- dest in seiner kriegswissenschaftlichen Kontur¯13 ist der Begriff der Strategie eine Funktion des räumlichen Handelns unter den Prämissen einer politisch motivierten Rahmung.¯14 Diskurskonfigurationen Computerspiele wie Dune II, Command & Conquer: Generals oder Age of Em- pires sind nicht nur narrative Handlungszusammenhänge, die die Komplexität der Welt und ihre Geschichte reduktiv und spielerisch in Form von überschau- baren und vorgeblich konsequenzfreien Handlungsangeboten nachvollziehbar machen. Sie sind ebenso sehr Formen ausgehandelten Wissens, das nicht of- fensichtlich aufscheint: Computerspiele – und im speziellen Strategiespiele – sind in hohem Maße durchzogen von verborgenen Agenden und naturalisier- ten Wissensformen. In ihnen ruht aber weitaus mehr als ›nur‹ ein verborgenes Curriculum des taktischen und strategischen Wissens. Daher muss die Ana- lyse eines Computerspiels – zumal unter der Perspektive der kritischen Dis- kursanalyse¯15 – ihr Augenmerk auf eine große Zahl unterschiedlichster Ar- tikulationen, Bedeutungskomplexe oder Narrationen richten, die durch die Diskurse geopolitischer Ordnung 213 unterschiedlichen Ebenen nicht nur des Spiels, sondern der Gesellschaft als Ganzes f ließen. Im Folgenden sollen einige exemplarische Formen und Funktionen dieser spe- zifischen Wissensformen herausgearbeitet werden, die in Computerspielen auffindbar sind – beziehungsweise durch sie ›hindurchgleiten‹. Speziell sollen nun vor allem Diskurse des geopolitischen Denkens aufgezeigt werden – dies unter dem Fokus, dass die sich in populären Computerspielen artikulierenden Raum-Politik-Koppelungen in sehr spezifischer Weise an diese spezielle Raum- politik-Form ›anschließen‹. Es soll gezeigt werden, wie aktuelle Computer- spiele spezifische Formen eines dezidierten geographischen und politischen Wissens aufrufen, spielerisch funktional machen und reproduzieren, die (zu- nächst) mit Ideen eines spezialisierten, extrem nationalen und politisch-ideo- logisch konnotierten Denkens aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts verbunden sind – die aber dadurch auch eine Perspektive eröffnen, aktuelle Formationen globaler Ordnung, Politik und Konfliktführung durch die ›Augen‹ eines Strate- giespiels zu deuten. Die grundsätzliche Perspektive ist es, Strategiespiele nicht nur als Simulationen oder ludische Handlung zu verstehen, sondern als diskur- sive Materialisierungen und Medialitäten, die subjektorientierte Regierungs- technologien stabilisieren und in Umlauf bringen. Raumfetischismus Computer-Strategiespiele gehören zu den ältesten und erfolgreichsten, aber auch zu den stabilsten und konventionalisiertesten Artikulationspraxen der Computerspiele und beziehen sich gleichzeitig auf eine Vorgeschichte des Computerspiels, die weit in die Vergangenheit der Kulturtechnik Spiel zurück reicht.¯16 Das Raumparadigma des Strategiespiels heutiger Form scheint sich haupt- sächlich aus den militärstrategischen Spielen und Simulationen seiner Vorge- schichte abzuleiten.¯17 Es ist daher sinnvoll, kurz und exemplarisch auf ein solches Spiel und seine Raumkonzeption einzugehen. Abbildung 2 zeigt ein klassisches Beispiel: Es ist das 1780 von Johann Christian Ludwig Hellwig ent- worfene Kriegsspiel, welches er unter dem Titel Versuch eines aufs Schach- spiel gebaueten taktischen Spiels von zwey und mehreren Personen zu spielen als Buch veröffentlichte und das in Braunschweig rekonstruiert und analysiert wurde.¯18 Es kann als ein Beispiel für die diversen Vorläufer einer ›modernen‹ strategischen Spieltradition verstanden werden. 214 Rolf F. Nohr Abb. 4: Rekonstruktion des Braunschweiger Kriegsbrettspiels von Johann Christian Ludwig Hellwig (1780) Der beabsichtigte Simulationscharakter dieses Kriegsspiels zeigt sich in Hell- wigs wiederholter Diskussion der »Natürlichkeit« und »Sinnlichkeit« seiner Modellbildung. Diese Modellbildung ist in der damaligen Literatur zu Kriegs- spielen ein immer wieder betonter ›Vorteil‹ gegenüber dem abstrakten Ler- nen durch Schaubilder o.ä.¯19 Ein solcher Modellcharakter wird bei Hellwig selbst deutlich, wenn er von »Wahrheiten« der taktischen und strategischen Kriegsführung spricht, die ihre Bestätigung im Spiel selbst finden. An anderer Stelle heißt es paradigmatisch: »Der Endzweck eines taktischen Spiels ist, das Wesentliche der wichtigsten Auftritte des Krieges sinnlich zu machen. Je ge- nauer die Natur dieses Gegenstandes nachgeahmt wird, desto mehr wird sich das Spiel seiner Vollkommenheit nähern« (Hellwig 1780, xi). Hier konzeptua- lisiert Hellwig die Idee einer symbolischen Probehandlung. Innerhalb dieser Handlungsform naturalisiert der Spielende unsichtbare ideologische Bedeu- tungsfelder. Wobei ›Ideologie‹ hier zunächst nur meint, dass die Handlung ein Spiel zu spielen als eine Hybridisierung spezialdiskursiven Wissens (also bspw. militärischer Taktik und Strategie) mit einem Alltagshandeln (also bspw. ein abstraktes Brettspiel zu spielen) verstanden wird. Die Effektivität einer sol- chen ›didaktischen‹ Geste wird durch die Simulation von Erfahrung durch das Diskurse geopolitischer Ordnung 215 Spiel sichergestellt (der Spielende gewinnt dadurch, dass er seine Figuren auf eine spezifische Weise zieht, die durch einen Plan bestimmt ist, der sich auf prognostizierte zukünftige Entwicklungen auf dem Spielbrett bezieht). Die- se Simulation erreicht ihren Erfolg vor allem durch die Identifikation des Spie- lenden mit der Position der Handlung – das Resultat ist die Erfahrung einer Selbstwirksamkeit (vgl. Venus 2012). Inwieweit Hellwigs strategisches Wissen eine ›typische‹ Wiedergabe des kriegsstrategischen Wissens seiner Zeit ist, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Das von Hellwig angestrebte Wissen weist starke Ähnlichkeiten zu Clausewitz’ (1993) Ausführungen zur Kriegskunst auf. Deutlich wird dies bei- spielsweise, wenn Hellwig das strategische Spiel mit dem ›Politischen‹ ins Ver- hältnis setzt: »Der natürlichste Weg, den Krieg auch wider des Feindes willen zu endigen, ist vielmehr der, wenn man ihn derjenigen Mittel beraubt, ohne welche er den Krieg nicht fortsetzen kann. […] Die Eroberung des feindlichen Landes muß also dem Krieg ein natürliches Ende machen« (Hell- wig 1803, §8). Dies geschieht ganz im Sinne des bekannten Diktums Clausewitz, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei. Nicht der ›brutalste‹ und ›rücksichtsloseste‹ Kämpfer gewinnt den Krieg (bzw. das Kriegsspiel), son- dern der am politischsten (oder besser: rationalsten) Handelnde. Nach Clause- witz konnte Krieg nicht mehr länger als Naturzustand angenommen werden – Krieg wurde zum Teil des Kultur-Systems von Rationalität, Politik, Ökono- mie und Wissenschaft. Die gesamte Philosophie des Hellwig-Spiels nötigt seine Spieler, den Gegner strategisch und taktisch auszukontern. Es geht dabei we- niger um das Schlagen von Figuren, als um die geschickte Raumbeherrschung und die Planung überlegener Bedrohungssituationen, die den Gegner zum Zu- rückweichen zwingen. Ähnlich wie auch im Schach gewinnt der Spielende, der in der Lage ist, vorausschauend, antizipierend und in Raumkategorien zu den- ken und die weitestreichenden Prognosen über mögliche Entwicklungen auf dem Brett zu treffen. Kurz gesagt: wer im Hellwigschen Spiel besser räum- lich vorausplant und vorausschaut, der wird auch gewinnen. Damit treffen im Braunschweiger Kriegsspiel zwei Funktionen aufeinander, die zwar auf den er- sten Blick wenig miteinander zu tun zu haben scheinen, die aber dennoch über die Jahrhunderte oft zueinander gefunden haben und sich bis heute in Stra- tegiespielen manifestieren: die Idee, den Raum selbst zur dominanten Hand- lungsebene zu machen und das Konzept einer spezifischen Didaktik, die darauf setzt, im Sinne einer aufklärerischen Pädagogik abstrakte Ideen durch das An- gebot des spielerischen Nachvollzugs sinnlich auszuhandeln. 216 Rolf F. Nohr Darüber hinaus gibt es jedoch in Strategiespielen auch eine abstraktere Funk- tion des Raumes, eine Funktion, die in mehrfachem Sinne als »Raumfetischis- mus« (Nohr 2007) bezeichnet werden kann. Einerseits verweist die spezifische Räumlichkeit des Braunschweiger Kriegsspiels (wie auch computerbasierter Strategiespiele) auf etwas Fehlendes: eine tatsächliche räumliche Verortung oder Positionierung. Massenmedien (wie eben auch Spiele) tendieren zu ei- ner Aufgabe einer konkreten Verankerung im Raum, die zu kompensatorischen Praktiken führt.¯20 Medien-Spiele nehmen keinen Platz, keinen Ort ein, ihre Objekte sind nicht materielle sondern arbiträre symbolische Formen. Die Visu- alität des Spielraumes ist das Resultat einer symbolischen Konventionalisie- rung des Mediums. Im Falle computerbasierter Spiele bedeutet dies beispiels- weise, diese Codierungen aus anderen Medien (wie dem Kino oder ähnlichem) zu entlehnen. Rechnerbasierte Spiele enthalten aber gleichzeitig ein Übermaß an Räumen, Orten, Plätzen, Wegen, Netzen oder begrenzten Flächen. Sie entwi- ckeln – wie die an Consalvo/Dutton (2006) angelehnte Untersuchung gezeigt hat – eine Art von ›obsessiver‹ Präsenz topografischer Elemente.¯21 Das Resul- tat dieser beiden Phänomene ist ein Spielraum, der im doppelten Sinne als Fe- tisch beschrieben werden kann¯22 – wobei hier weniger der umgangssprach- liche sondern vielmehr der Marxsche Fetischbegriff (vor allem in Hinblick auf die ihm innewohnende Beschreibungskraft für die Naturalisierung von Gege- benheiten) zum Tragen gebracht werden soll. In der marxistischen Terminologie bezeichnet der Fetischcharakter den Glau- ben daran, dass bestimmte (genuin gesellschaftlich produzierte) Verhältnisse natur- und dauerhaft seien, dass sie ewige und unveränderliche Mächte dar- stellen, die uns beherrschen: Nation, Staat, Familie, Ware, Geld, Kapital usw. Speziell die Ware wird in der Marxschen Ökonomie mit diesem Fetischcharak- ter in Verbindung gebracht: Die Ware wird mit den Attributen der Austausch- barkeit und dem Antrieb zum Tausch verbunden – und mit dem naturalisier- ten, vorgeblich objektiven und internalisierten Wissen, dass die Warenlogik unveränderlich und außerhalb der Kontrolle des Subjekts sei (vgl. Marx, Kapi- tal I, 86). Aus dieser Perspektive könnte auch der medial produzierte Raum des Computerspiels als ein solcher unveränderlich angenommener Fetisch gelten. Dies wäre eine Perspektive, innerhalb derer den Räumen des Spiels (als einem dieser Attribute) eine Funktionalität zugeschrieben wird, die der strukturellen Logik der Medien zuzuordnen ist. Die Räume des Spiels sind in einer solchen Be- trachtungsweise dann ›nur‹ codierte und errechnete, fiktionale, nicht-perfor- mative, entreferentialisierte und immaterielle Raumanmutungen ohne jede Verbindung zur Welt. Sie wären insofern als Fetisch zu betrachten, als ihnen eine grundsätzliche ›Nur-Medialität‹ zugeschrieben würde, die dann entweder Diskurse geopolitischer Ordnung 217 von einer Wirkungslosigkeit dieser Räume (da Medien der Interaktion mit der realen Handlungswelt per se ohnmächtig seien) oder aber von einer Wirkung als narrativem Text ausginge (da Medien wirkmächtige Angebote zur Über- nahme von Werten darstellen).¯23 Spielende konzeptualisieren den Spielraum nicht nur als Ort einer (Probe-) Handlung, sondern ebenso als einen Ort für im- materielle Kompensationen der Medialisierungen des Spiels als unveränder- liche, stabile Konstruktionen ohne Performativität. Dem Spieler erscheint der Spielraum des Mediums hermetisch gegen die Welt abgeschottet.¯24 In einer solchen Betrachtungsweise gerät die Oberfläche, also das sichtbare ›Bild‹ des Spielraums, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Es ist ein Bild, das als Konsequenz des Raumfetischismus von der Welt geschieden zu sein scheint, ein Bild oder ein Raum eines konsequenzfreien Probehandelns – kein Fenster zur Welt, sondern zum Spiel. Diese Oberfläche ist es aber, welche die Koppe- lung des Spiels an ein Medium (nämlich den Computer) analytisch zunächst in den Mittelpunkt rückt. Sowohl Spiel als auch das Medium Computer drücken sich gleichermaßen im GUI aus. Wenn das Spiel als ein Medienimplement gele- sen wird, ist hier das entscheidende Argument für eine medienbezogene Ana- lyse der Spielräume aufgerufen: Das Spiel und der Computer teilen sich die visuelle Repräsentation, und beide zielen auf ihrer GUI-Ebene auf eine ideali- sierte Darstellung ab. Vier farbig abgehobene Kreise markieren bei Mensch-är- gere-dich-nicht die Sicherheit des eigenen Heimes und ein kleines Eimerchen mit einem Grüne-Punkt-Logo markiert im Betriebssystem Windows das rever- sible Löschen von Dateien. Im Sinne der hier vorgestellten These soll im Folgenden verstärkt auf die Funk- tion von Karten als grafische Benutzerschnittstelle und Herstellungsort des Spielraums fokussiert werden. Die Spielkarte soll als Ort des Vollzugs von sym- bolischen Handlungen verstanden werden, die dabei gleichzeitig auch Reprä- sentation, also eine symbolische Form mit intersubjektiver Gültigkeit ist. Als Konsequenz daraus wären Spieltopografien daraufhin zu befragen, welches soziale und diskursive Wissen in strategischen Spielräumen eingeschrieben ist. Und umgekehrt muss auch gefragt werden, wie sich dieses Wissen in Raumkon- zeptionen alltagsweltlicher Handlung und Denkungsweise ›zurück schreibt‹. Kerngedanke dabei ist, dass die kartographischen Repräsentationen in Compu- terspielen der primäre Ort sind, an dem symbolische Handlungen und Funkti- onen im Sinne einer intersubjektiven Repräsentationsebene ihre Sinnstiftung entfalten. Im Folgenden soll nun anhand ausgewählten Beispiele raumpolitischen Reprä- sentationen und Aussagen nachspürt werden, die Strategiespiele als politisch- operative und ideologisch imprägnierte Aussagesysteme integrieren, natu- 218 Rolf F. Nohr ralisieren und in populäre Diskurse einspeisen. Es geht darum aufzuzeigen, wie Strategiespiele (neben einer Unzahl anderer Akteure) an der latenten Sta- bilisierung eines diffusen Wissenstypus mitarbeiten, der nur in einer ober- f lächlichen Betrachtung als historisch, wissenschaftlich und politisch ›über- wunden‹ angenommen werden kann.¯25 Dabei möchte ich in drei Schritten vorgehen: Erstens soll die enge Koppelung von Strategiespielen und Raumkon- zepten per se herausgestellt, zweitens Argumente der klassischen Geopolitik der 1920er bis 1960er Jahre in aktuellen Strategiespielen nachgewiesen und drittens kurz auf aktuelle Konjunkturen und Renaissancen eines solchen geo- politischen Diskurses verwiesen werden. Die methodische Idee ist dabei, Spiele – wie oben schon ausgeführt – als Inter- diskurse zu verstehen, eine Konzeptualisierung, die darauf abzielt, Prozesse der unsichtbaren Übersetzung verständlich zu machen, bei denen populäre Texte wie beispielsweise Computerspiele auf existierendes soziales Wissen zugreifen und dieses Wissen in sich integrieren und überlagern. Dieses Wis- sen erscheint dann als eine Art Angebot an den Spielenden, ein spezifisches Wissen subjektiv anzueignen, das er zunächst nur dem Spiel zurechnet. Bei genauerer Betrachtung ist dieses Wissen jedoch kein genuin ›spielinternes‹, narratives oder ludisches Wissen, sondern rekurriert auf Bestände spezialdis- kursiven Wissens, also Wissensformationen aus ausgegliederten, ›spezialisier- ten‹ und ›teilexkludierten‹ Wissensformationen, die durch die ›Maschine‹ des Spiels¯26 über das Subjekt in ein gesellschaftliches Breitenwissen (den com- mon sense) überführt werden.¯27 Welche Wissensformationen ›medialisieren‹ sich in Strategiespielen und was sind die verborgenen und latent unsichtbaren Agenden im Bezug auf Ordnungspolitiken, Ökonomie, Militär oder Urbanität sind, die hier ausgehandelt werden? Kurz (und polemisch) gesagt – es geht da- rum, wie in Strategiespielen Politik als Raumhandlung codiert wird und wie die ›Lebensraum‹-Politik des Nationalsozialismus über Age of Empires mit Samuel Huntingtons Clash of Civilizations verbunden wird. Geopolitik Einen ersten, aber gleichsam wichtigen Fingerzeig für die Sinnhaftigkeit einer solchen Perspektive liefert nicht nur der enge geschichtliche Zusammenhang von aktuellen Computer-Strategiespielen und den historischen Vorläufern der Kriegsbrettspiele oder auch den militärischen Simulationsprogrammen. Eben- so eindeutig ist eine solche Frage dadurch motiviert, dass das Strategiespiel den Konflikt zum zentralen Motiv erklärt. Egal ob es sich dabei um tactical Diskurse geopolitischer Ordnung 219 shooters, Zivilisationsspiele oder Aufbaukampfsimulationen handelt – das ma- ster narrative ist die (bewaffnete) Auseinandersetzung. In gleichem Maße ge- nerieren sich auch die Wirtschafts- und Stadtaufbausimulationen als konti- nuierte ökonomische Konfliktmodelle. In Age of Empires kämpft Armee gegen Armee um ein Territorium – in SimCity erobert der Spielende den unbebauten Raum gegen den ›Gegner‹ knapper Ressourcen oder zeitkritischer Beschrän- kungen. Beide Formen des Spiels sind in dem Sinne politisch, als es gilt, Raum zu erobern, Ressourcen zu verwalten und Gegner zu vertreiben. Politik ist hier als Handlung im Raum kodiert. Die zu diskutierende These ist, dass die in Stra- tegiespielen vertretene Koppelung von Raum an Politik aber nicht beliebig, oder im Sinne ästhetischer, pragmatischer oder gestalterischer Konfigurati- onen, sondern im Sinne einer politischen Kunstlehre – nämlich der Geopolitik – stattfindet. Diese Koppelung, wie bereits oben betont, ist dabei keine Koppe- lung von Spiel-›Narrationen‹ an einen abstrakten und f luiden Diskurs, sondern vielmehr eine Art erweiterter ›Remedialisierung‹¯28, eine ›Melange‹ von Spiel, Spiel- und Medienkonfigurationen, Praktiken und Architekturen. Im Gegensatz zur Anthropogeographie, der géographie humaine oder der po- litischen Geographie ist die Geopolitik keine deskriptive, sondern eine opera- tive Theorie.¯29 Geopolitik ist eine Idee einer materialistisch-physikalisch be- gründbaren Politik. Sie bezeichnet »… ein intellektuelles Vorgehen […], eine Sichtweise, in der räumliche geographische Konfigurationen der verschie- denen Typen von Phänomenen Vorrang genießen, welche in die Kategorie des Politischen fallen« (Lacoste 1990, 29). Geopolitik ist somit eher ein ›Konstrukt‹ zur Beschreibung und Deutung räumlicher Phänomene unter Betonung sozi- al- und politikwissenschaftlicher Implikationen. Konjunkturen, Definition und Verwendung der Geopolitik sind selbst einer politischen Debatte unterworfen. Der schwedische Geograph und Staatsrechtler Rudolf Kjellén (1864-1922) wird als Begründer der Geopolitik angesehen (vgl. Kost 1988, 42). Im Zentrum der frühen Geopolitik steht die Idee einer geodeterminierten Staatspolitik in en- ger Verbindung mit dem naturwissenschaftlich-positivistischen Weltbild des 19. Jahrhunderts. In Anlehnung an die Arbeiten Klaus Kosts (1988) kann die Ver- schiebung von geographischer Wissenschaft zu ideologischer Normativierung differenziert nachvollzogen werden. »Unter Geowissenschaftlern herrschte bis 1945 ein verkürztes wie fehlgeleitetes Verständnis von Politik, deren qualitativer Unterschied von wissenschaftlicher Politikforschung und prak- tischem Politikhandeln übersehen wird« (ebd., 11). Das materialistische Modell der Geopolitik wird begleitet von Perspektiven, Kultur als einen biologistischen Verbund homogener Subjekte zu verstehen. 220 Rolf F. Nohr Die (biologistische) Betrachtung des Staats als Organismus verweist dabei auf die Einflüsse des Zoologen Friedrich Ratzel¯30 (1844-1904), der aus der Anthro- pogeographie eine Denkweise ableitet, die den Staat analog zu einem Organis- mus setzt (Schöller 1989, 74). ¯31 Dieser Organismus ist gekennzeichnet durch Lage und Ausdehnung, Wachstum und Bewegung im Raum, so dass jedes staat- liche Handeln zu einem effektiven Raumhandeln wird (Kost 1988, 298f). In Ab- leitung des (Kantschen) Gedankens von der Endlichkeit des Erdraumes etabliert Ratzel eine Idee vom ewigen Kampf und dem Krieg der Völker um den endlichen Raum (Schulz 1987, 20f). Aus diesen Ansätzen formt sich das Werk Karl Hausho- fers¯32 (1896-1946), in dessen Zentrum die Idee des Staatskörpers und das Le- bensraum-Konzept steht – ein Konzept von Geopolitik, das maßgeblich in die nationalsozialistische Ideologie und Politik einfließt und das als operative und ideologische ›Kunstwissenschaft‹ betrachtet werden muss. Diese erste Welle der Geopolitik endet gemeinsam mit dem Nationalsozialismus. In der (frühen) Geopolitik entsteht Politik nicht aus dem Sozialen, der Demo- graphie, dem Vertrag oder dem Ökonomischen, sondern aus dem physischen Raum. Die Begründung von Politik ebenso wie die Ziele von Politik sind terri- torial definiert. Topologie, räumliche Ordnungen und Differenzfelder deklinie- ren das politische Handeln und Analysieren. Das Territorium, die Grenze und die Raumordnung sind die primären Bezugsgrößen der Geopolitik. Das materi- alistische Modell der Geopolitik wird auf der sekundären Ebene begleitet vom Gedanken, Kultur als einem biologistischen Verbund homogener Subjekte zu verstehen, die sich als ein Körperliches im Raum befinden. Hans Grimms populärer Roman Volk ohne Raum (1926)¯33 wird in Deutsch- land in diesem Zusammenhang als wesentliche populäre Variante eines sol- chen Denkens gelesen. Die Idee einer um ihren naturrechtlich zustehenden Raum gebrachten Kultur gilt als Legitimation für die ›natur-rechtliche‹ Expan- sion Deutschlands in den ihm angestammten ›Großraum‹, ›Kulturboden‹ und ›Lebensraum‹ (Fahlbusch 1994). ¯34 ›Volk ohne Raum‹ wird im Folgenden zu einem geopolitischen Schlagwort, das für die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus hohe Relevanz entfaltet (vgl. auch Nohr 2012c). Geopo- litiker wie Ratzel, Haushofer und Kjellén arbeiten an dem Postulat eines Staats- konzepts als geographischem Organismus oder Erscheinung im Raum.¯35 Und genau hier, am Übertritt der Grenze zwischen politischer Geographie und Geopolitik ist die Grenze zwischen wissenschaftlicher Forschung und operativ- propagandistischer Anwendung anzusetzen.¯36 Allerdings muss auch deutlich gemacht werden, dass diese geopolitischen Paradigmen während des Natio- nalsozialismus zwar eine wissenschaftliche Dominanz entfalteten, aber kei- neswegs zum Kern der faschistischen Ideologie, zum alleinigen Beweggrund Diskurse geopolitischer Ordnung 221 deutscher Politik oder zum common sense wurden (vgl. Dijkink 1996, 29). Ge- nauso wenig wie sich die nationalsozialistische Expansionspolitik allein aus der geopolitischen Motivation erklären lässt, kann die Geopolitik beispiels- weise des Haushoferschen Zuschnitts mit dem Ende des Nationalsozialismus als beendet verstanden werden. ¯37 Heutzutage scheint uns zunächst nicht nur das Denken in politischen Handlungskategorien, das sich nur aus topolo- gischen oder geographischen Parametern speist, grob reduktiv. Aktuell wür- den wir Politik – nicht nur im Zeichen des spatial turns – als Abstraktum an den Raum koppeln, aber nicht als operationale und normativ-pragmatische Hand- lungsbegründung. Das Strategiespiel tut dies aber. Geopolitische Interdiskurse Betrachten wir kurz einige der spezifischen Motive, mit denen uns aktuelle Computer-Strategiespiele konventionalisiert und wiederkehrend konfrontie- ren – und die sich konsequent aus der Perspektive und teilweise auch mit der Nomenklatur der klassischen Geopolitik der 1920er bis 1950er Jahre beschrei- ben ließen. Strategiespiele definieren die Befreiung besetzten Raumes als Bedingung für den (politischen) Sieg. Es ist nicht primär die strategische oder taktische Un- terwerfung des Gegners, die das Spiel entscheidet, sondern die Befreiung des gegnerischen Raums von der Präsenz des Gegners. Ist der Raum konsequent befreit, wird er dem eigenen Territorium eingegliedert. Dies mag zunächst die offensichtlichste Form von geopolitischen Positionen im Spiel sein. Dazu kommt die Konstellation, dass Strategiespiele den Krieg primär als Spiel der übermächtigen im Raum befindlichen Ressourcen inszenieren. Vor den Kon- f likt stellt das Strategiespiel den Aufbau eines Ressourcenmanagements, ei- ner Produktionsökonomie und die Sicherstellung genügenden Produktionska- pitals¯38 – wer über Ressourcenvorteile verfügt, gewinnt leichter. Aus diesen beiden Punkten folgt eine Konzeption des Raumes als ›Lebensraum‹ – die Vor- bedingung der spielkonstituierenden Konfliktpolitik ist die Erweiterung des eigenen Territoriums, Macht zielt auf die Aneignung von Raum. Zugewonnener Raum erhält seinen Wert auch aus den in ihm enthaltenen Ressourcen. Expan- sion zielt nicht nur auf den Raum als einzigem Moment der Politik ab, Expansi- on kann auch nur aus dem Raum heraus ›finanziert‹ werden. In einem klassischen Strategiespiel wie bspw. Age of Empires III wird sich zu einem bestimmten Moment in der frühen Phase des Spiels (in der zunächst der Aufbau von Streitkräften und die Technologieweiterentwicklung betrieben 222 Rolf F. Nohr wird) eine typische Konstellation einstellen. Alle Spielenden werden mit dem gleichen Problem konfrontiert sein: ihre Ressourcen an Gold, Holz und Nahrung werden knapp werden. Die Lösung dieses Engpasses bietet eine Expansion in den Raum hinein, um weitere – bis dato noch nicht entdeckte oder kontrollierte – Ressourcen zu erlangen. Um mehr Raum zu kontrollieren, müssen komplexe Produktionsketten in Gang gesetzt werden: Einheiten, Waffen und Verteidi- gungsanlagen müssen produziert werden, um die Expansion abzusichern. Die- se Einheiten werden in spezialisierten Gebäuden produziert – die zu errichten wiederum Platz benötigt. Raumordnung ist eine Funktion der Raumsicherung. Diese wird zumeist über das Funktionsglied des Außenpostens funktional: Eine Gebäudeeinheit, die oft nur in Abhängigkeit von einem funktionierenden Zentrum hergestellt werden kann, übernimmt als Abordnung die Kolonisation, Verwaltung und Verteidigung erschlossener neuer Regionen. Diese Regionen sind im folgenden Spielverlauf häufig in ihrer Effektivität zwar autonom, über Ressourcen- und Einheitenmanagement jedoch stets auf das Zentrum hin ori- entiert und immer Teil eines raumgreifenden Ordnungsprinzips der Raum-An- eignung und Konstitution eines homogenen Körpers. Diese komplexe Interrelation von Produktionsketten, Ressourcenmanagement, militärischen Operationen und weitsichtiger Planung lässt sich auch als Dyna- mik eines vernetzten, homogen veranschlagten, politischen Körpers beschrei- ben. Das Wachstum dieses Staatskörpers benötigt Raum; das Ziel des Staats- körpers ist es, Raum möglichst exklusiv auszufüllen. Strategiespiele scheinen das Konzept der ›Lebensgemeinschaft‹ (weniger im Sinne der Möbiusschen Bio- zönose, sondern eher im Sinne der sozialgeographischen Variante Ratzels oder Haushofers) einer engen biologisch-geographischen Einheit von Raum und Staat(-svolk) zu erfüllen: »Lebensraum gibt es nur für ein Volk« (Flohr 1942, 394). Dieses materialistische Prinzip der Politik als Raumform schlägt sich auch an anderer Stelle nieder. Strategiespiele deklinieren den Staat beispielsweise oft- mals als Organismus, als linear vernetztes Gebilde von ›Organen‹. Daraus resul- tiert ein im Strategiespiel ebenso häufig anzutreffendes Zentrum-Peripherie- Denken. Dies zielt auf die geopolitische ›Theorie zentraler Orte‹. Wir können die aus der oben beschriebenen Spieldynamik entstehenden Infrastrukturen und militärischen Agglomerationen oft als solche Zentrums-Peripherie-Kon- stellationen beschreiben. Einem Zentrum (Marktplatz, Zentralbasis, Heimat- hafen etc.) sind unterschiedlichste Aufbauzonen, Vororte, Vorposten, Han- delsstationen oder Siedlungen zugeordnet. Dieses Phänomen finden wir auch (deskriptiv wie operativ) in den Arbeiten beispielsweise Walter Christallers, ebenfalls ein Akteur der nationalen deutschen Geopolitik der 1930er Jahre .¯39 Diskurse geopolitischer Ordnung 223 Abb. 5: Hierarchische räumliche Ordnungen in Civilization IV Die dort vertretene These besagt, dass es eine natürliche Raumordnung gibt, die sich aus der Logik von Ökonomie, Transport oder Regierung in eine hie- rarchische Ordnung von Räumen, Städten und räumlichen Strukturen ergießt. Vergleicht man dieses Konzept mit den sich aus der Spiellogik und -mecha- nik ergebenden Städten und Gebäuden beispielsweise in einer typischen Par- tie von Civilization IV, so wird augenfällig, dass es eine innere Logik des Spiels gibt, die dazu anhält, sich im Ordnungsraster von Zentrum und Peripherie zu bewegen (vgl. Abb. 5 u. 6). Resultat solcher Raumpolitiken ist dann aber auch eine konsequente Konsti- tution von topografischen Differenzfeldern in Strategiespielen. Qua definitio- nem ist das Strategiespiel ein (Wettbewerbs-) Spiel,¯40 d.h. es konstituiert sich über die Bedingung, dass mindestens zwei Parteien gegeneinander antreten. Damit ist ein bestimmter binaristischer Blick auf die Welt im Spiel (und seiner Konflikt-Erzählung) inhärent. Es gibt hier immer eine Latenz von ›die anderen Spieler / der Computer gegen mich / uns‹, die einen spezifischen Blick auf ein (konstruiertes) Anderes etabliert. Eine solche Anordnung kulminiert in einer 224 Rolf F. Nohr Abb. 6: Hierarchische räumliche Ordnungen in Anno 1701 (tatsächlichen oder imaginierten) Grenzideologie, die das Nicht-Eigene zum Anderen überformt. Die Konstruktion einer Grenze ist immer auch die Kon- struktion einer Segregation oppositioneller Kräfte, die dann zumeist mit diffe- renten Weltsichten, Ideologien, Lebensweisen oder Rassen konnotiert wird.¯41 Diese Differenzpolitik materialisiert sich in unterschiedlichsten Repräsentati- onsformen innerhalb von Strategiespielen. Hier finden wir viele der auf dieser Differenzpolitik beruhenden, anhängigen geopolitischen Ordnungsraster, wie beispielsweise den Land-See-Antagonismus (z.B. in Anno 1701),¯42 das ›Natur- recht‹ der Kolonisation, die Überlegenheit bestimmter Rassen aufgrund ihrer spezifischen Lebensräume (bspw. Civilization IV) oder die Konstruktion eines Diskurses der ›Natürlichkeit‹ von Grenzen – manchmal aber auch ›nur‹ die Glo- rifikation des ländlich-agrarischen Lebens (z.B. Die Siedler). Strategiespiele narrativieren also eine spezifische Formation politischen Wis- sens. In Strategiespielen treffen wir auf zwei Ebenen eines solchen Wissens: Einmal eine ›konkrete‹ Umsetzung geopolitischer Paradigmen in den mani- festen Narrationen und Handlungsfeldern – zum anderen eine abstraktere Diskurse geopolitischer Ordnung 225 Abb.7 Der Geopolitk-Simulator. Aus der Webpage (http://www.geo-political-simulator.com): »Geo-Political Simulator, aka G.P.S., is an economic and geopolitical simulator game for PC. Far from being just a name, G.P.S is an ambitious and unique project in its own right, offering an extremely thorough and realistic simulation of the planet, at all levels: politics, the economy, environment, the military, science, culture, religion... « Formation der Produktion eines spezifischen, spezialdiskursiven Wissens über den Raum. Der Raum des Strategiespiels wird per se zu einem Raum des poli- tischen Handelns. Strategiespiele überformen eine spezielle Repräsentations- form von Raum (die Karte) konsequent zu einem Konfliktraum und zu einem Raum der Sichtbarkeit, der Aneigenbarkeit und der Beherrschbarkeit. Das Wis- sen des Strategiespiels über den Raum ist ein geopolitisches Wissen; ein Stra- tegiespiel eine wiederholte Erzählung eines ›Clash of Civilizations‹. 226 Rolf F. Nohr Clash of Civilisation Mit dem auf Samuel Huntington (1996) verweisenden Begriff des ›Clash of Ci- vilizations‹ ist nun aber auch eine weitere Deutungsebene für diesen analy- tischen Befund genannt. Denn es geht mir keinesfalls darum, die Behauptung aufzustellen, dass Strategiespiele ein ideologisches Paradigma stabilisieren, welches im engeren Sinne nur nationalsozialistische Legitimationsrhetorik ist. Die geopolitischen Artikulationen Ratzels, Haushofers und anderer stehen nicht singulär in der Geschichte der Geographie und der Weltpolitik.¯43 Folgt man der Argumentation des französischen Geographen Yves Lacoste (1990), so ›stirbt‹ die Geopolitik nicht mit dem Ende des Nationalsozialismus, sondern entfaltet sich unter dem Eindruck des globalen Konflikts des Zweiten Welt- kriegs erst zur vollen Wirkungsmacht. Zwar ist das Konzept des ›Kulturkampfs‹ ein basales Konzept der Geopolitik in toto – in jüngerer Zeit verweist das Schlagwort jedoch primär auf die Thesen Samuel P. Huntingtons (1927–2008). In seinem Buch Clash of Civilizations (1996) konzipiert er eine von kulturellen Konflikten geprägte Welt nach dem Kalten Krieg. Um einen Kernstaat, als Mittelpunkt einer Zivilisation (im Sinne eines Kulturkreises) herum gruppieren sich in konzentrischer Staffelung schwächere Staaten. An den Berührungslinien oder Bruchlinien kommt es zu Konflikten zwischen den so definierten Kultursystemen. Die erstarkenden Kernstaaten treten an die Stelle der alten Supermächte. Huntingtons Reflexionen verdich- ten sich letztlich in der Frage, wie der Westen seinen kernstaatlichen Führungs- anspruch gegen die asiatischen oder islamischen Kulturkreise durchzusetzen in der Lage sei. Dabei kreisen viele seiner Argumente um die eindeutige topo- graphische Festschreibung von Nation, Kultur und Macht: »Die Festlegung dieser Grenze in Europa ist eine der größten Herausforderungen geworden, vor denen der Westen nach dem Kalten Kriege steht. Während des Kalten Krieges hat Europa als ein Ganzes gar nicht existiert. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus erwies es sich jedoch als notwendig, die Frage zu stellen und nach deren Antworten zu suchen: Was ist Europa? Eu- ropas Grenzen im Norden, Westen und Süden werden durch große Gewässer gezogen, von de- nen das südliche klar unterscheidbare Kulturen trennt. Aber wo endet Europa im Osten?« (Hun- tington 1997, 251). Huntington formulierte seine Thesen vom Kulturkampf erstmals 1993 in einem Artikel für die Zeitschrift Foreign Affairs (Huntington 1993).¯44 Um das Buch entbrannte unmittelbar nach seiner Erstveröffentlichung nicht zuletzt wegen dieser steuerungspolitischen Komponente eine intensive Kontroverse (vgl. Tibi 1995; Pfaff 1997). Die fortwirkende Relevanz der These vom Kampf der Kulturen Diskurse geopolitischer Ordnung 227 liegt in der (reduktiven) Zuspitzung für eine glo- balpolitische Beschreibung nicht zwischen einer homogen veranschlagten Kultur und Ideologie zu differenzieren (Crang 1998). In einer Suche nach Beschreibungsformen der Gegenwart und Zukunft der Welt konzentriert sich Huntington auf die Reflexion der Dreieinigkeit von Kultur, Identität und Ideologie. Seine Argumentation ist ein Regress in die frühen Argumente der Ge- opolitik – betont aber gleichzeitig auch die Kon- tinuität der Arbeit an der »Weltraumordnung« (Werber 2007). Es soll an dieser Stelle aber weniger um eine Ein- ordnung Huntingtons in den geopolitischen Dis- kurs gehen. Vielmehr gilt es darauf hinzuweisen, dass ein Buch wie Clash of Civilizations über die Anrufung von Raumpolitik verbunden ist mit Computer-Strategiespielen wie beispielsweise der Civilization-Serie (oder den Age of Empires- Serien, der Anno-Serie oder der Siedler-Serie). Beide, Buch wie Strategiespiel, konstruieren eine interdiskursive Narration der Raumpoli- tik, die hochgradig normativ und reduktiv ist. Ebenso wie die geopolitischen Aspekte der un- terschiedlichen Spiele, die im Lauf der Argu- mentation herangezogen wurden, konstruiert auch Huntington eine Welt, die von Zentrums- Peripherie-Kon stellationen, Land-See-Antago- nismen, geodeterminierten Konflikten und Bruchlinien zwischen Kulturen durchzogen ist – und von einer kompletten Negation der Idee, dass Kultur und Nation Konzepte sein können, Abb. 8: Huntingtons ›Clash of die sich nur schwer als homogene Körper, Volks- Civilization‹: körper oder Organismen beschreiben lassen. »Die Ostgrenze der ›Kultur‹ und ›Nation‹ in eins zu setzen, ist nicht westlichen Zivilisation« nur ein unzulässiger Reduktionismus, sondern auch die aktive Ausblendung eines sozialgeo- graphischen Paradigmas, welches ›Kultur‹ als 228 Rolf F. Nohr definitorisches Problem darstellt und – im weitesten Sinne – als Konglomerat von Mikro- und Sub-Kulturen erfasst (Crang 1998, 21). Schluss Computer-Strategiespiele inszenieren Politik als eine Konfiguration von terri- torialen Strukturen. Damit kontinuieren sie Diskurse und Ideologien, die poli- tische Formation als räumlich determiniert begreifen. Strategiespiele definie- ren Politik gewöhnlich zudem konkret als Konflikt und räumlich-topografische (Re-) Konfiguration: Armeen und andere Einheiten müssen ausgebildet, pro- duziert und im Raum positioniert werden, Wissen (als Möglichkeit zur Weiter- entwicklung) muss raumbezogen erworben werden und Raum muss erst er- kundet und dann erobert oder angeeignet werden. Strategiespiele etablieren den Raum als zentrale Formation ihrer Funktionalität. Diese Spiele handeln nicht nur im Raum und finden ihre Visualisierung in kartographischen Topolo- gien und virtuellen Räumen, sie machen außerdem die Aneignung des Raumes zu ihrem primären Ziel. Damit sind Strategiespiele auf einer Diskursspur des Geopolitischen, inner- halb derer Raum (und die Raumordnung) ungebrochen seit den 1920er Jahren als wesentliches Modell globaler Politik verstanden wird. Strategiespiele be- harren auf einem globalpolitischen Konzept der permanenten Konfiguration des Politischen und der Regierung in den Raum, das sich dem (utopistischen und vielleicht historisch nur punktuellen) Moment der Auflösung von Körpern und Räumen, oder der Stärkung des Lokalen und Regionalen entgegenstellt. Dies mag nur insofern verwundern, als die Computer-Strategiespiele genau an dem ›Ort‹ emergieren, an dem die (medienphilosophische) Auflösung des Chronotopos so euphorisch vorangetrieben und propagiert wurde: ›Dem Di- gitalen‹. Dem gegenüber steht aber die machtvolle dynamische Strukturebe- ne, dass jede Globalisierung (auch die der vorgeblich so immateriellen und f lu- iden Mediennetze und Datenströme) auch eins ist – eine Bewegung im Raum. Huntingtons »Kampf der Kulturen« ist nur ein weiterer ›Aufguss‹ der »Großraumordnung« Carl Schmitts und beide kulminieren gemeinsam in die (legimitatorische) ›Er- findung‹ einer ›Geopolitik-Wissenschaft‹ als einer diskursiven Rationalitätspo- litik. Die Melange aus Zoologie, Geographie, Politikwissenschaft und Nationen- Theorie ist ein Interdiskursfeld, das sich – wiewohl historisch hoch-variabel – dennoch stabilisiert hat und nach wie vor wirkmächtig ist. Geopolitik ist da- rum nicht nur ein Muster, das das ›Zeitalter des Öls‹ verständlich zu machen Diskurse geopolitischer Ordnung 229 scheint; es ist auch ein Diskurs, der in die populäre Kultur abstrahlt. Geopoli- tik ist also nicht nur Civilizations – es ist auch Star Wars und Lord of the Rings (vgl. Werber 2007). Dieser Text hat versucht zu zeigen, dass Strategiespiele primär geopolitisches strategisches Wissen aufrufen und zirkulieren, und dass dabei mindestens in zwei relevante Ebenen unterschieden werden können, die für eine solche Ein- speisung und Verhandlung zuständig sind. Einerseits ist dies die ganz kon- krete Implementierung geopolitischer Paradigmen in das Feld von Strategie- und Action-Erzählungen. Auf der anderen Seite ist es die Produktion einer eher abstrakten Form von Wissen über per se politisierte Räume und Territorien. Strategiespiele reformulieren eine spezifische Form der räumlichen Repräsen- tation – die Karte – als Konfliktraum, zu einem Raum der Sichtbarkeit, Anei- genbarkeit und Kontrollierbarkeit. Das Territorium des Politischen zeigt sich im Strategiespiel typischerweise als abstrakter, kartographischer zweidimen- sionaler Raum. Einheiten agieren in der Masse, die Natur definiert die Mög- lichkeiten des politischen Konflikts. Ressourcen und Raumbeherrschung sind die Kern-Motivationen der Politik. So ließe sich verkürzt der common sense des Strategiespiels zusammenfassen. Der common sense ist aber eine Formation, die unserer erhöhten Aufmerksamkeit bedarf: »Der common sense präsentiert die Dinge so, als läge das, was sie sind, als unhinterfragbare Gegebenheit vor. Ein Hauch von ›wie denn sonst‹, eine Nuance von ›versteht sich‹ wird den Din- gen beigelegt – aber hier nur ausgewählten, besonders herausgestrichenen Dingen« (Geertz 1977, 277). Strategiespiele erklären hier etwas für ›natürlich‹, was artifiziell ist, behaup- ten einen Nachvollzug der Geschichte, wo ›nur‹ operationalisierte Politik ist. Wie sehr wir hier einem common sense aufsitzen, vermag der Blick über die Genregrenze anzudeuten. Schon der tactical shooter (bspw. Call of Duty) transportiert gänzlich andere Politikmodelle. Konfliktpolitik ist hier immer dezentral, subjektiv, schwarmorientiert, nicht-national. Hier gibt es kaum ob- jektivierten und kartographischen Global-Raum, sondern vielmehr subjektive Landschaftserfahrung. Der tactical shooter hat kein ›besseres‹ oder ein ›weni- ger ideologisch-konventionalisiertes‹ Raum-Politikverständnis. Er hat nur ein ganz anderes. In Computerspielen liegt der Kernpunkt zum Verständnis der Produktion einer Naturalisierung einer solchen Wissensebene in der subjektiven Erlebbarkeit beziehungsweise der Unmittelbarkeit der Erfahrung. Das Konzept der Versinn- lichung von abstraktem regulatorischen Wissen und Handlungsrationalität 230 Rolf F. Nohr (wie wir sie anhand des Braunschweiger Kriegsspiels diskutiert haben) ist pro- duktiv, um die Herstellung einer solchen Unmittelbarkeit zu verstehen. Ver- sinnlichung fungiert hierbei als die Veranschlagung der Naturalisierung von Arbitrarität, ideologischem oder produziertem und manufakturiertem, spe- zialdiskursivem Wissen. Das Ergebnis einer solchen Unmittelbarkeit ist eine Form des Wissens, das zumeist unsichtbar und unerkannt durch den Spie- lenden, durch die Versinnlichung und Applikationskraft der Diskurse ›hindurch gleitet‹ und zum Interdiskurs wird. Das Nachdenken darüber, wie und mit wel- chen Konsequenzen etwas Künstliches, Gemachtes in Computerspielen natura- lisiert wird, scheint ein produktiver Weg zu sein, um zu verstehen, wie Compu- terspiele funktionieren, wie sie ihre ›Wirkungen‹ entfalten. Wie hier diskutiert wurde, erklären Strategiespiele durch ein Bündel von medialen und diskursi- ven Verfahren etwas als ›natürlich‹, was in sich künstlich ist, eine statische Re- produktion von Geschichte, die als operationalisierte Politik identifizierbar ist. Dies berührt auch die Frage, wie Computerspiele ihre Gemachtheit in Bezug auf ihre apparative-technische Genese verschleiern. Es ist dies der Verweis auf eine der großen Fragen der Modernität und Industrialisierung: Wie wird die Manufakturierung unserer (Um-) Welt zu einem natürlichen, selbst-evidenten und unhinterfragbaren Prozess (vgl. dazu Nohr 2008)? Damit scheint nun die Frage nach den verborgenen Agenden und naturalisier- ten Formen des Wissens, die diesen Text eingeleitet haben, ein wenig klarer. Das geteilte Objekt ›Raum‹ – geteilt zwischen der Funktionalität des Spiels und einer spezifischen Formation des Wissens – ist der Angelpunkt, an dem sich ein diskursiv niedergelegtes spezialdiskursives Wissen aus einer abstrakten dis- kursiven Konstellation in kommonsensuales und interdiskursives Wissen um- formt. Klar muss aber sein, dass dieser Prozess der diskursiven Koppelung nicht eine unsichtbare Didaktik darstellt. Die Funktionalität des Prozesses ist garan- tiert durch die ›Natürlichkeit‹ zweier Komponenten: Menschen spielen Spiele in dem Sinne, dass sie sie als natürlichen Teil ihrer Umwelt annehmen. Ebenso kann Geopolitik (in einem sehr problematischen Sinne) ›natürlich‹ erscheinen. Abstrakte, ideologisch und diskursiv herausgebildete Formen des Wissens wer- den hier, in einem Umfeld der unreflektierten Internalisierung reproduziert. Diese Prozessierung (von Normen und Werten) stellt ihre Funktionalität da- durch sicher, indem sie die fundamentale Form intersubjektiver Validierung verschleiert. Weil Computerspiele spielerisch an die Geopolitik heranführen, halten wir also vielleicht auch den clash of civilizations für natürlich. Diskurse geopolitischer Ordnung 231 Anmerkungen 00˘ Dieser Beitrag ist eine stark erweiterte und wesentlich überarbeitete Fassung der Veröffentlichungen: Nohr, Rolf F. (2012): Strategiespiele und Diskurse geopolitischer Ordnung, in: Dorit Müller und Sebastian Scholz (Hg.): Raum Wissen Medien. Zur raumthe- oretischen Reformulierung des Medienbegriffs. Bielefeld: transcript, S. 127–153. Ich danke den HerausgeberInnen und dem Transcript-Verlag für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck. 01˘ S. dazu auch den Beitrag Neitzels in diesem Band. 02˘ S. dazu auch die Einleitung in diesem Band. 03˘ »...cultures are [...] not individual property and can only exist socially« (Crang 1998, 15). 04˘ Die Analyse des Nationen- und Epochenbegriffs geht zurück auf den Vortrag »Assyrian landsknechts and Mongolian musketeers. The primordial nation concept of the Civilization series as a challenge for early modern history« von Stefan Donecker auf der Tagung »Early Modernity and Video Games« an der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf am 15.3.2013. 05˘ Das Unterkapitel Raumkonfiguration ist im Wesentlichen aus dem Zwischenbericht: Topografie des Strategiespiels des Forschungsprojekts generiert (vgl. Böhme / Nohr / Wiemer 2010). 06˘ Im Rahmen des Projekts wurden dezidiert age oF empireS iii, STarcraFT, worlD oF warcraFT und civilizaTion untersucht. 07˘ Ob diese Raumbezogenheit ein Signifikant von Strategiespiel/Computerspiel ist oder ob sich hier einfach nur ein kulturelles a priori niederschlägt, wäre im Weiteren noch zu eva- luieren. 08˘ Consalvo/Dutton (2006) weiter folgend erscheint es notwendig, nicht nur eine Taxonomie und Vereinheitlichung der Objektklassen zur detaillierten Beschreibung von Spiel und Spielkonventionen heranzuziehen, sondern auch das Handeln am Interface in die Beschreibung mit einzubeziehen. Gerade in Bezug auf die Oberflächenrepräsentation von Strategiespielen erscheint also eine Beschreibung des interaction mapping not- wendig. Hierbei empfiehlt es sich, die Spielanalyse methodisch um eine ›ethnologische‹ Komponente zu erweitern. Konkret wurde dies durch mehrere game labs erreicht, bei denen jeweils Gruppen von Spielenden bei netzwerkbasierten Spielsessions einschlägiger multip- layerfähiger Strategiespiele beobachtet wurden (zur Methode des game labs vgl. McAllister 2004, 181–198). Die vollständige Auswertung dieser game labs steht noch aus – jedoch muss hier (methodisch) bereits eingeschränkt werden, dass eine valide ethnologische und be- obachtende Auswertung auf der Basis der durchgeführten Sessions nicht zu erwarten steht. In letzter Konsequenz wurde der Erkenntnisgewinn einer solchen Untersuchung für das Projektziel selbst als zu gering eingestuft, um die Arbeit einer ausführlichen Spiel- Handlungs-Ethnografie zu unternehmen. 9˘ Im Shooter bspw. kann der Avatar als ›Master-Objekt‹ angesehen werden – weitere Objekte 232 Rolf F. Nohr sind demgegenüber quantitativ und qualitativ in der Regel vergleichsweise ›dünn‹ und ka- schieren ihre Distinktion (im Sinne einer gestaltpsychologischen Figur-Grund-Trennung) und Klassenzugehörigkeit (bspw. das Medi-Kit in der Kiste; die Behauptung ultimativer Objektmanipulierbarkeit in halF liFe 2), usf.). 10˘ Vgl. dazu auch ausführlich Böhme / Nohr / Wiemer 2012. 11˘ In diesem Sinne lässt sich der Entwicklungs-Fortschritt im Genre Aufbau- und Strategiespiel im Vergleich bspw. zum first person shooter dementsprechend auch eher auf der Ebene der Höher- und Weiterentwicklung der Datenbank(-kapazitäten) und weitaus weniger auf der Ebene eines sich qualitativ verbessernden ›grafischen Abbild-Realismus‹ beschreiben. 12˘ Gerade das Schachspiel, mit seiner explizit räumlichen Logik scheint modellhaft für ein solches Verständnis zu sein. Am Schach wird aber auch deutlich, dass das Moment der Raumpolitik hier nicht eine Art a priori des Spiels selbst darstellt, sondern dass es sich hier- bei um eine diskursive Konstellation handelt, die historisch variabel ist: »Der Aufstieg einer auf ›räumliche Kontrolle‹ zielenden Schachstrategie lässt sich als Folge einer veränderten kulturellen Codierung des Schachspiels deuten« (Wiemer 2008, 136). 13˘ Vgl. den Beitrag Nohrs in diesem Band 14˘ Vgl. Nohr 2012a. Eine anschlussfähige Perspektivierung findet sich in den Werken von Deleuze / Guattari, die eine ähnlich Konturierung des Strategischen zwischen Spiel und Raum vornehmen. Das Schachspiel ist hier von signifikanten Figuren und Hierarchien ge- prägt, es ist ein Spiel des Staats oder der Staatsmaschine, das sich in einem »gekerbten Raum« der Codierung und Decodierung entfaltet. Dem gegenüber steht das Nomos des Go, das im »glatten Raum« mit changierenden Zustandsmöglichkeiten den Raum permanent »territorialisiert« und »deterritorialisiert« (dies. 1992; vgl. auch Wiemer 2008). Eine dezi- dierte Rückführung des Begriffs der Strategie als Raumhandlung ist beispielsweise auch bei Michel de Certeau (1988, 77-97) auffindbar, der in seiner Analyse der Alltagshandlungen als Aneignungen in eine Dichotomie von strategischen und taktischen Praktiken unterschei- det. Eine Strategie ist hier eine langfristige Handlungsweise des Mächtigen, die sich auf die vorhandene Macht stützt, von einem distinkten und statischen, benennbaren Ort ausgeht. Demgegenüber steht die Taktik als kurzfristiges Kalkül, die – selbst ortlos – in die Felder des Anderen ›wildernd‹ eindringt, ohne sie vollständig füllen zu können. Sie bedient sich des dy- namischen, relationalen Raums. 15˘ Für eine detaillierte Darlegung der kritischen Diskursanalyse in Bezug auf Computerspiele vgl. Nohr 2008; 2012. 16˘ Die Geschichte des Strategiespiels ist so alt wie die Geschichte des Spiels selbst. Es scheint relativ einleuchtend, dass Spiele wie bspw. Schach oder Go als abstrakte Formen des Strategiespiels gelten müssen. Eine ›Geschichte des Strategiespiels‹ ist daher (nicht nur wegen des problematischen Genrebegriffs) eher sinnlos – zu viele einzelne Varianten und Modelle sind in der Frühgeschichte des Spiels nicht mehr auffindbar, zu unstabil und un- klar ist die definitorische Eingrenzung dessen, was zu dieser Geschichte gehören müsste. Diskurse geopolitischer Ordnung 233 Ein willkürlicher aber ggf. inspirativer Einstieg in die jüngere Geschichte des Strategiespiels ist TacTicS von Charles S. Roberts. Dieses Brettspiel stellt erstmalig einige Spielmechaniken vor, die in einer Verbindung mit den späteren Computer-Strategiespielen stehen: »Tactics introduced a totally new method of play which had no parallel in games designed to that point [...]. It was revolutionary to say that you could move up to all of your pieces on a turn, that movement up to certain limits was at the player’s option and that the resolution of combat was at the throw of a dice compared to a table of varying results. As simple as this sounds now, the new player had to push aside his chess-and-checkers mindset and learn to walk again« (Roberts 1983). Der Weg von Tactics zu Chris Crawfords TanKTicS – compuTer game oF armoreD combaT on The eaSTern FronT ist möglicherweise einer der signifikanten medial-apparativen Kipppunkte (vgl. hierzu bspw. Deterding 2008). 17˘ Vgl. dazu die Einleitung in diesen Band. 18˘ Das Spiel wurde als reines Regelbuch publiziert. Eine Analyse des Regelwerks und eine Rekonstruktion des Spiels haben in den letzten Jahren in Braunschweig statt gefunden. Für weitere Darlegungen vgl. Nohr/Böhme 2009. 19˘ Es ist möglich, Parallelen zwischen den Argumenten Hellwigs und der jungen Schule der philanthropischen Didaktik aufzuzeigen. Dort sind analoge Argumentationen im Bezug auf Versinnlichung und Naturalisierung als ein immersives Modell des Lernens bspw. in den Arbeiten Joachim Heinrich Campes oder Johann Bernhard Basedows aufzufinden (vgl. Sandkühler 2009). 20˘ Vgl. zur Produktion von Positionierung in Medien auch Nohr 2002. 21˘ Vgl. bspw. den Beitrag Neitzels in diesem Band. 22˘ Vgl. dazu auch Nohr 2008, S. 46-70. 23˘ Hieran anschließbar wäre auch der Fetischbegriff Freuds. Ein Fetisch ist in der sich auf Freud beziehenden psychoanalytischen Schule ein Begriff für die Attraktion von unbe- lebten sexuellen Ersatzobjekten. Nach Freud ist der Fetisch charakterisiert als Streben nach einem unbelebten und ungeeigneten Ersatzobjekt des sexuellen Begehrens, der al- lerdings erst dann pathologisch wird, wenn dieses Streben über durchaus regelmäßige »Überschätzungen des Sexualobjekts« (bspw. im Falle der jungen Liebe) hinausgeht und sich fixierend an die Stelle des »normalen« Sexualtriebes setzt (Freud 1978, 252ff.). Sich in einem dreidimensionalen Environment wie GTA – liberTy ciTy STorieS aufzuhalten, mag noch kein solcher Fetischismus sein. Aber die permanente Aufrufung der (vorgeblichen) Möglichkeiten und Versprechen solcher offenen Welten und sandbox-games könnte teil- weise als eine solche pathologische Fetischisierung im Sinne Freunds verstanden werden. 24˘ Es wäre darüber zu spekulieren, inwieweit dieses Konzept der (vorgeblichen, fetischisti- schen) Abgeschlossenheit mit dem Konzept Huizingas zum (ebenso der Welt gegenüber ab- geschlossenen) Zauberkreis steht. 25˘ Im Vorgriff auf die im letzten Schritt erfolgende Reflexion der aktuellen Geltungsmacht geopolitischer Paradigmen mag es an dieser Stelle genügen darauf hinzuweisen, dass 234 Rolf F. Nohr der Rücktritt des Bundespräsidenten Horst Köhler am 31.5.2010 nicht zuletzt durch eine Auseinandersetzung und Kritik an dessen Artikulation ›geopolitischer‹ Positionen be- gründet war: »Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ, durch Handel Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern« (Horst Köhler in einem Interview mit Christopher Ricke. Eine gekürzte Fassungen des Interviews wurden am 22. Mai 2010 im Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur ausgestrahlt. Transkription unter: [http:// www.dradio.de/aktuell/1191138/]; letzter Abruf 22.8.2013). Dank an Tobias Conradi für den Hinweis. 26˘ Der Begriff ›Maschine‹ soll hierbei die Gesamtheit von symbolischem System, Technologie, dispositive Eingebundenheit und subjektive Handlungsformen umfassen und damit auf ei- nen Begriff von Medialität (im Sinne der funktionalen und diskursiven gesellschaftlichen Vernetzung) abzielen. 27˘ Spezialdiskurse entstehen in durch funktionale Ausdifferenzierung charakterisier- ten Gesellschaften, d. h. durch die Entwicklung abgrenzbarer und spezieller Handlungs- und Wissensbereiche, die ihre jeweilig eigenen Aussagestrukturen in Form spezifischer Wissensdiskurse ausgebildet haben. In diesen Orten dominieren spezialisierte Sprachformen, die subjektive und intersubjektive Wissenszirkulation, so genannte Spezialdiskurse. Den Abgrenzungsverfahren der Spezialdiskurse (untereinander wie auch den Diskursen der ›po- pulär-kulturellen‹ Orte) stehen dann Integrations- und Reintegrationsverfahren zur Seite, die quasi ›kompensatorisch‹ diese distinkten Bereiche aneinander ankoppeln. 28˘ Vgl. dazu das Argument zur Remedialisierung in der Einleitung in diesen Band. 29˘ Es ist wichtig hier zu unterscheiden zwischen den operativen Formen von Geopolitik als Politik und den kognitiven Interessen einer politischen Geographie oder der Schule der kri- tischen Geopolitik (für letztere vgl. bspw. Lacoste 1990; Gregory 1978; Ó Tuathail 1996; Schöller 1957). 30˘ Der deutsche Geograph Friedrich Ratzel zählt zu den frühesten Autoren der ›ersten Welle‹ der Geopolitik. Seine Publikation Politische Geographie (1897) zählt zu den einflussreichs- ten Schriften dieses Diskurses (vgl. Schöller 1989, 74). 31˘ Seinen Anfang findet ein solches Konzept mit den Überlegungen des Biogeographen Karl August Möbius, der in seiner Schrift Die Auster und die Austernwirtschaft erstma- lig für die Ökologie zentralen Begriff der »Lebensgemeinschaft« (Biozönose) eingeführt hat (vgl. Glaubrecht 2008). Möbius beschreibt eine Tierpopulation nicht als ›Summe‹ iso- lierter Arten und Spezies, sondern skizziert die Beziehungen zwischen der jeweiligen Art zu anderen Tieren, Pflanzen und Umweltfaktoren, vor allem aber die topografische Ordnung Diskurse geopolitischer Ordnung 235 dieser Ensembles (vgl. Bühler 2006). Mit seiner Schrift hatte Möbius einen zentralen Begriff der Ökologie geprägt, den der »Lebensgemeinschaft«, der von Eugen Rosenstock- Huessy (1922) dann als Prinzip des sozialen Milieus in die Soziologie eingebracht wur- de. In der Sozialgeographie taucht ›Lebensraum‹ dann erstmals bei Friedrich Ratzel (Der Lebensraum, 1901), folgend dann bei Karl Haushofer auf. Die deutsche Geopolitik übersetzt den Gedanken des vernetzten Denkens aus dem Biologischen in einen sozialen Kontext und reduziert ihn vor allem zur Legitimation einer räumlich bestimmten Politikform. Von den 1920er Jahren bis 1945 wird diese Koppelung von biologistischem Kulturbegriff und terri- torial motivierter Politik als ›Lehre von Blut und Boden‹ oder als vorgeblichem Wissen vom ›Großraum‹ nachhallen. Das Lebensraum-Konzept wird hier in seiner biogeographischen Wendung ein zentrales Motiv der geopolitischen Argumentation, die Kultur und Nation als im Raum verhaftet betrachtet. Vorrangig über die Schriften Ratzels findet das Konzept sei- nen Weg in die NS-Ideologie, so bspw. in Bezugnahme durch Adolf Hitler, Alfred Rosenberg oder Carl Schmitt. Hierbei entsteht die NS-Lebensraum-Politik, die die Rassenpolitik mit der Raumpolitik hybridisiert. Die Legitimation der NS-Expansionspolitik wird aus dem ge- opolitisch determinierten Recht des deutschen Volkes auf Raum und Ressourcen abge- leitet. Wenngleich der politische Lebensraum-Begriff mit dem Ende der NS-Politik weit- gehend diskreditiert scheint, so lebt er doch in vielen auch (post-)kolonialen Diskursen (Grandmaison 2005) oder aktuellen geopolitischen Theoriebildungen und Politikansätzen fort (vgl. auch Nohr 2012d). 32˘ Karl Ernst Haushofer zählt vielleicht zu den wichtigsten Figuren für das Verständnis einer faschistischen Geopolitik. Der deutsche General und Geograph entwickelte das Konzept (und die Terminologie) der Geopolitik aus einer weit gestreuten Vielzahl von Quellen und Einflussfaktoren, so bspw. den Schriften von Oswald Spengler, Alexander Humboldt, Karl Ritter, Friedrich Ratzel, Rudolf Kjellén und Halford J. Mackinder. 1923 gründete er die Zeitschrift für Geopolitik. Hauptkonzept Haushofers Theorie (die ihren Weg in die Nationalsozialistische Propaganda und Politik über dessen engen Freund Rudolf Hess fand) war die Idee des Staatskörpers und das ›Lebensraum‹-Konzept, die Land-See-Dichotomie, die Betonung des Autarkiestatus der Nation und die Idee der ›Pan-Regionalität‹ (»Panideen«). Dieses Konzept zielt darauf, die Welt als angetrieben von einem Kampf einiger weniger multinationaler Sphären zu begreifen (Lacoste 1975, 27). Das Werk Haushofers als simple Ideologie oder Propaganda abzutun, wäre allerdings zu einfach. Lacoste (1990, 27) charak- terisiert Haushofer als ambivalente Gestalt, einen talentierten Geographen und national- sozialistischen Propagandisten. So steht er selbstverständlich in einer wissenschaftlichen Tradition, beruft sich auf seinen Vorgänger und führt sie fort. 33˘ Hans Grimms (1875-1959) Roman verarbeitet die Erfahrungen des Autors in den dama- ligen deutschen Kolonien in Namibia. Der Roman, der zu den meistverkauften Büchern sei- ner Zeit zählt, propagiert in einem von imperialistisch-kolonialistischem Duktus geprägten trivialen Erzählstil den Erwerb von Lebensraum als Lösungsstrategie für die wirtschaft- 236 Rolf F. Nohr lichen und politischen Probleme der deutschen Republik und rekurriert auf kommonsen- suale Setzungen, die geopolitisch motiviert und perspektiviert waren. Die ursprüngliche Intention Grimms, die sich vorrangig auf die deutschen Überseekolonien bezog, verschiebt sich in seiner Rezeption und Aneignung maßgeblich hin zu einer Legitimation der deut- schen Eroberungsfeldzüge in Osteuropa (»Lebensraum im Osten«, Generalplan Ost). Nach 1945 trat Grimm, der während der NS-Ära öffentliche Ämter und Aufgaben wahrnahm, wie- derholt mit Äußerungen an die Öffentlichkeit, die die ›Volk ohne Raum‹-These noch ein- mal artikulierten, was zu seiner Isolation als Schriftsteller und Politiker führte (vgl. Wagner 1992; Zimmermann 1976). 34˘ Die NS-Ideologie (beispielhaft in Hitlers Mein Kampf oder dem Parteiprogramm der NSDAP dargelegt) fundierte auf der geopolitischen Annahme, dass Deutschland aus sich selbst für seine Bevölkerung weder Bodenschätze noch Nahrungsmittel hervorbringen kön- ne und man diese durch Gebietserweiterung gewinnen müsse. 35˘ Dieser Aspekt ist wohl am ehesten mit den Arbeiten Friedrich Ratzels verknüpft: Er verbin- det die Idee der ›Verschmelzung‹ von Nationalkultur, Volk und territorialem Raum zu einem Konzept des Staates (vgl. Schöller 1957; Kost 1988). 36˘ »Der falsche Ansatz der Geopolitik liegt darin, daß sie die Naturfaktoren, die immer noch mittelbar und indirekt über Zwischenglieder zur Auswirkung kommen, in direkte Beziehung zum Staat und politischen Leben setzt, überbewertet und dabei nach Gesetzmäßigkeiten und praktischen Richtlinien des politischen Handelns strebt« (Schöller 1975, 6). 37˘ Jenseits ihrer Diskreditierung durch ihre Nähe zu nationaler und nationalsozialis- tischer Ideologie ist die Geopolitik in ihren verschiedenen Facetten mehr als eine nur hi- storisch funktionale politische ›Kunstlehre‹. In Deutschland entsteht beispielsweise um Peter Schöller (1957) ein Kreis kritischer Geographen, der Geopolitik-Forschung als Geschichtsaufarbeitung betreibt. In den USA findet eine vornehmlich an globalpolitischen Paradigmen orientierte wehrgeographische und geostrategische Variante der Geopolitik statt, die sich maßgeblich mit der Erarbeitung von außenpolitischen Optionen beschäf- tigt. Eine prominente Variante einer solchen Geopolitik ist bspw. das Konzept vom »Kampf« (Huntington 1996). Parallel zur Renaissance der operativen Geopolitik entstand im anglo- amerikanischen Raum auch eine kritische Geopolitik. Dort analysieren Geografen wie Derek Gregory (1978) oder Gearoid Ó Tuathail (1996) Diskurse von Sprache, Zeichen und kartographischen Repräsentationen als Kategorien des Alltagslebens und der sozialen Bedeutungsproduktion. In Frankreich etabliert sich die Geopolitik im Umfeld der Zeitschrift Hérodote und orientiert sich an den Arbeiten Vidal de la Blaches (1845-1918) und der Annales-Schule. Hier werden unter der Perspektive eines marxistischen Materialismus auch eher operativ denn analytisch zu wertende Konzepte über globale Raumpolitiken diskutiert (Vgl. Lacoste 1990, 9; Dijkink 1996, 4). Die bekannten Arbeiten Vidal de la Blanches und der Annales-Schule kombinieren Geographie, Historiographie, Milieu- und Mentalitäts-Studien mit dieser Perspektive. Geopolitik ist also nicht nur eine exklusiv nationalsozialistische Diskurse geopolitischer Ordnung 237 Pseudodisziplin zur Legitimation von Expansion und Eroberung. Sie ist ebenso ein Gemenge diskursiver Formen und Kontexte, die sich am Beginn dieses ersten ›globalen‹ Jahrhunderts materialisiert. Vgl. zur Definition und Geschichte der Geopolitik bspw. Nohr 2012a, Kost 1988, Lacoste 1990. 38˘ Vgl. dazu den Beitrag Nohrs in diesem Band. 39˘ Vgl. Walter Christaller (1933): Die zentralen Orte in Süddeutschland. Eine ökonomisch-ge- ographische Untersuchung über die Gesetzmäßigkeiten der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischer Funktion. Jena: Fischer (zit. nach Rössler 1987, 183ff.). 40˘ Computer-Strategiespiele müssen in der Spiel-Taxonomie nach Callois (1966) vorrangig als Wettkampf-Spiel gewertet werden. Callois unterscheidet in agon (Wettkampf), alea (Zufall), illinx (Rausch) und mimikry (Maskierung). 41˘ Dies stellt den ideologischen wie operativen Kern einer normativen Geopolitik dar: Die Legitimation durch einen (vorgeblich) Anderen: »Die deutsch-russische Grenze ist nicht die Grenze zwischen zwei Staaten, sondern zwischen zwei Welten« – Friedrich Ratzel (1898): Deutschland. Eine Einführung in die Heimatkunde; zit n. Dijkink 1996, 17. 42˘ Der Land-See-Antagonismus ist einer der Hauptthesen der geopolitischen Theorie. Halford J. MacKinder etablierte seine »Heartland-Theory« 1904. Hier geht es um die Annahme der Möglichkeit einer starken landbasierten Sphäre, die im Kontrast zu einem meerbasierten Empire des Kolonialen steht. Karl Haushofer reformulierte diese These in seinen eigenen Arbeiten als normatives Argument gegen Großbritannien und seiner ›Weltherrschaft‹ (vgl. Kost 1988). 43˘ So hat beispielsweise der deutsche Geographietheoretiker Peter Schöller (1958) schon in den 1950er Jahren darauf hingewiesen, dass geopolitische Argumentationen keineswegs partial nur für die 1920er bis 1940er Jahre anzunehmen sind. Jenseits ihrer Diskreditierung durch den Missbrauch im Kontext nationaler und nationalsozialistischer Ideologien ist die Geopolitik in ihren verschiedenen Facetten und ihrer Geschichte weit mehr als eine nur hi- storisch-punktuell funktionale politische ›Kunstlehre‹. Schöller und andere können zeigen, dass bereits kurze Zeit nach Ende des Nationalsozialismus der Begriff ›Geopolitik‹ verbannt wurde, während die zentralen Paradigmen jedoch weiter diskutiert wurden (vgl. Schöller 1957, sowie Anm. 37). 44˘ Am selben Ort skizzierte bereits 1947 George Kennan, die zukünftige Ost-West-Kon- frontation und lieferte damit die theoretische Grundlage für die ›Containment-Politik‹ der US-Regierung. So wird deutlich, dass der »Clash of Civilizations« nicht eine populistische sozio-politische Studie, sondern durch diesen Kontext erkennbar ein operatives Statement der US-amerikanische Außenpolitik darstellte (vgl. Nohr 2012b). 238 Rolf F. Nohr Bibliografie Böhme, Stefan / Nohr, Rolf F. / Wiemer, Serjoscha (2012): Einleitung, in: dies. (Hg.): Sortieren, Sammeln, Suchen, Spielen. Die Datenbank als mediale Praxis. Münster: LIT, S. 9–30. Böhme, Stefan / Nohr, Rolf F. / Wiemer, Serjoscha (2010): Zwischenbericht: Topo- grafie des Strategischen. Online unter [http://www.strategiespielen.de/bericht-topografie]; letzter Abruf: 12.01.2014 Bühler, Benjamin (2006): Auster, in: ders. / Rieger, Stefan (Hg.), Vom Übertier. Ein Bestiari- um des Wissens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 27-34. Callois, Roger (1966): Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch, München: Langen- Müller. Certeau, Michel de (1988): Kunst des Handelns. Berlin: Merve-Verl. Clausewitz, Carl v. 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B. als Käufer oder Gast würde den Menschen, die sich an diesen Orten aufhalten, (häufig über Texte) von den Urhebern ( juristische Per- sonen oder Institutionen) dieser Orte erklärt, was sie wo zu tun (»rechts ein- ordnen«) und zu unterlassen (z. B. das Rauchen) hätten. An den Nicht-Orten entstünde so eine »solitäre Vertraglichkeit« (ebd., 96). Der Nicht-Ort ist also durchaus ein Ort, jedoch einer, den Augé dem anthro- pologischen Ort entgegen setzt, welcher Organisch-Soziales hervorbringe. Der Ort, den Augé den anthropologischen nennt, kann rückgebunden werden in eine längere, insbesondere phänomenologische, Theorietradition des Ortes. Zu nennen wären hier u. A. die Überlegungen Heideggers (2009) zum Bauen als dem Erschaffen von Orten, der »erlebte Raum« Bollnows (2004) oder auch Relphs (1976) Konzeption von place. Ich werde darauf zurückkommen. Diese Überlegungen möchte ich als Ausgangspunkt nehmen für die Frage nach der Bedeutung von Orten für Computerspiele und ihrer Funktion in Compu- terspielen. Wie alle digitalen Medien stellen auch Computerspiele den Ort in Frage. Ge- koppelt an den Cyberspace, der in seinen frühen Konzeptionen als Gegenwelt, die überall und nirgends angesiedelt ist, verstanden wurde (vgl. z. B. Gibson 1984, Barlow 1986, Rheingold 1995), wird virtuellen Räumen zum Teil auch heute noch Ortlosigkeit zugesprochen, bzw. Orthaftigkeit abgesprochen (vgl. Großklaus 2005). Einher geht mit dem Diskurs zur Orthaftigkeit oder Ortlo- (Nicht-) Orte des Strategischen 245 sigkeit von virtuellen Räumen die Diskussion um die Rolle des Körpers in ih- nen (vgl. z. B. Funken 2004). Der für unseren Zusammenhang entscheidende Schnittpunkt dieser Diskurse liegt dabei in der Vorstellung, dass der Körper im Virtuellen überflüssig werde, der Ort aber eng mit körperlicher Erfahrung und Präsenz verbunden ist. Der folgende Beitrag verortet sich innerhalb dieser Diskurse, indem von der These ausgegangen wird, dass Computerspiele durch- aus Orte konstruieren und funktionalisieren, indem sie die Spieler auf eine be- stimmte Art und Weise – über Körperbilder oder Handlungsräume – im Spiel verorten. Und dass diese Verortung, die in verschiedenen Computerspielgenres differiert, mit der Ideologie der Spiele korrespondiert. So werden im Folgenden sowohl Strategiespiele als auch avatarbasierte Spiele, die unterschiedliche Nar- rative aufweisen, auf ihren Umgang mit Orthaftigkeit hin betrachtet. Augés Beschreibung des Nicht-Ortes lässt sich fast ohne Friktionen auf (digi- tale) Spiele übertragen. Das Spielen ist eine provisorische Beschäftigung, die entweder in der Kindheit, als vorübergehendem Lebensabschnitt oder im Er- wachsenenalter als Zeitvertreib, Pause oder Erholungsphase ausgeübt wird. Ist ein Spiel zu Ende, so verlässt man es wieder. Das digitale Spiel sagt den Spie- lern, was sie zu tun haben – über Texte in Spielanleitungen (›press X to attack‹) oder dadurch, dass gewisse Dinge schlicht nicht durchführbar sind (Wer hat je- mals mit dem Lichkönig eine Partie Schach gespielt?). Die Spieler gehen einen Vertrag mit dem Spiel ein, indem sie sich für eine bestimmte Zeit seinen Re- geln unterwerfen.¯1 Doch können digitale Spiele überhaupt als Orte (oder eben Nicht-Orte) bezeich- net werden? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich auf die oben erwähnte Konturierung des Begriffs ›Ort‹ in der phänomenologischen Tradition zurück- greifen. Hier wird der Ort einerseits als lokalisierbarer Punkt im Raum ver- standen, vor allem aber als ein spezifischer, umgrenzter Raum, an dem jeweils bestimmte Aktivitäten ausgeübt werden und Ereignisse stattfinden und der Bedeutungen besitzt (vgl. Relph 1976, 44-46). So können Spiele durchaus als Orte betrachtet werden, denn Spiele haben Grenzen, sie finden innerhalb eines bestimmten Areals statt (vgl. Huizinga 1994, 15): Unabhängig davon, auf wel- cher Wiese ein sonntägliches Fußballspiel konkret stattfindet, es hat immer ein umgrenztes Spielfeld und formt ggf. den magic circle (ebd.). Digitale Spiele nun zeichnen sich ebenfalls durch ein Spielfeld, bzw. durch mehrere interagierende Spielfelder aus. Zunächst und offensichtlich ist die vom Programm dargestell- te fiktionale Spielumgebung ein Spielfeld. Auf der materiellen Ebene könnte das Rechteck des Monitors, die Bildoberfläche, ebenfalls als Spielfeld betrach- tet werden. Online-Spiele sind zudem noch durch die IP-Adresse des Spiel-Ser- vers im digitalen Raum lokalisier- bzw. ortbar (und dadurch ggf. auch im phy- 246 Britta Neitzel sikalischen Raum).¯2 Der Ort des Spiels wäre also an verschiedenen Orten zu finden, zum ersten als digitales Spielfeld, das nicht weitergehend (oder ggf. innerhalb einer fiktionalen Welt) lokalisiert ist, zum zweiten als bestimmter Platz in der Wohnung – steht der Monitor auf dem Schreibtisch, so wäre dies der Ort des Spiels¯3 und zum dritten – im Falle von Online-Spielen – als IP-Adresse im elektronischen Raum. Der Ort des Spiels findet und bildet sich in der Inter- aktion dieser drei Orte, denen vom Spieler jeweils – in Abhängigkeit vom Spiel, sowie den digital-materiellen Gegebenheiten – mehr oder weniger Aufmerk- samkeit geschenkt wird¯4 , die aber immer zum Spiel gehören, denn im Pro- zess des Spielens interagieren diese Orte und formen das Dispositiv des Com- puterspielens mit. Ist nun dieser Ort des Spielen ein Nicht-Ort, an dem durch Spiel- sowie Soft- und Hardwareregeln (solitär) vertraglich gehandelt wird? Wenn nun digitale Spiele generell als Nicht-Orte bezeichnet werden können, wodurch zeichnet sich dann die Nicht-Orthaftigkeit von Strategiespielen insbesondere aus? Was sind die Nicht-Orte des Strategischen? Um diese Fragen zu beantworten, soll zunächst ein kleiner Umweg über den Umgang mit Orten von avatarbasierten Spielen gemacht werden. Orte in avatarbasierten Spielen Verortung im Spiel Avatarbasierte Spiele verorten den Avatar der Spieler in einer digitalen Umge- bung, die um den Avatar herum organisiert und für die Behandlung durch ihn ausgelegt ist. Um diese Organisation und die Behandlungsmöglichkeiten zu beschreiben, wird im Folgenden als Beispiel das Rollenspiel The Elder Scolls IV: Oblivion (Bethesda 2007) herangezogen. Das Spiel beginnt mit einer Karte. Von heroischer Musik begleitet schwenkt das Bild des Vorspanns über eine Landkarte, die mit schwarzer Tinte auf Pergament gezeichnet zu sein scheint. In der Mitte der Karte findet sich die Hauptstadt Imperial City. Mehre Flüsse, Straßen, kleinere und größere Orte sowie Gebirge liegen im Umland. Die Ähnlichkeit dieser Karte mit den Karten von Mittelerde, die sich in auf den ersten Seiten von Der Herr der Ringe finden, bleibt nicht die einzige Ähnlichkeit zwischen Oblivion und dem Tolkinschen Mittelerde, insbe- sondere in seiner filmischen Form in Der Herr der Ringe (NZL/USA 2001-2003, Peter Jackson).¯5 Der Kartenansicht folgt im Vorspann ein Panoramaflug über eine Landschaft aus grünen Wiesen und blauen Seen, darüber ein weiter Himmel mit einigen (Nicht-) Orte des Strategischen 247 weißen Wolken und majestätische Bergketten. Schließlich nähert sich der Ka- meraflug einer Stadt, die Kamera zoomt auf eine aus groben Steinen bestehen- de Mauer zu und durch ein kleines vergittertes Fenster hinein. Das Bild wird dunkel, das Spiel beginnt in einer Gefängniszelle und damit, dass die erste Mis- sion darin besteht, aus dem Gefängnis zu entkommen – um sich dann in der Landschaft des Vorspanns wieder zu finden. Wie die semi-digitalen Medienlandschaften im Film, die vor allem Größe sym- bolisieren, erscheint auch die digitale Medienlandschaft im Spiel riesig. Auch wenn die visuelle Größe und der Detailreichtum eines für das Kino digital bear- beiten Neuseelands noch von keinem Computerspiel erreicht wird, so erschei- nen die Landschaften in Oblivion im Vergleich zu anderen Computerspielen als ausgefeilt und detailreich. Und dies einerseits, weil man zu Beginn dieses Spiels zunächst in dunklen Gängen gefangen ist, andererseits weil man in den Computerspielen, betrachtet man deren allgemeine historische Entwicklung, lange in dunklen Gängen gefangen war. Oblivion ist ein Beispiel dafür, dass auch Computerspiele für Erwachsene sich vom Spiel in dunklen Innenräumen befreien: Man darf sich nun im virtuellen Draußen vergnügen.¯6 Der Vorspann zeigt uns zunächst die Welt. Die Karte impliziert eine gewisse Größe des Territoriums – sie wird nicht in einer unbeweglichen Einstellung ge- zeigt, sondern abgeschwenkt – andererseits bietet die Karte einen Überblick an, denn sie zeigt uns das ganze Territorium, das für das Spiel wichtig ist: Die Spielwelt. Der Panoramaflug zeigt einen Ausschnitt dieser Welt. Wenn auch aus einer Vo- gelperspektive also in Form einer Übersicht, so kann diese Ansicht doch als ein Blick gewertet werden, der von einem Punkt innerhalb dieser Welt ausgeht. Schließlich verengt sich dieser Blick durch den Zoom bis er in der Gefängniszelle zum Blick des Avatars/des Spielers¯7 wird und an die Position und die Fortbe- wegungen des Avatars gekoppelt wird. Das Hereinzoomen in eine Landschaft oder auch der Flug durch einen Tunnel ist eine im Film konventionalisierte Dar- stellungsform des Eintretens in eine virtuelle Welt (vgl. Bergermann 2003). Stellt solch ein Zoom im Film den Eintritt einer Figur in eine andere Welt dar, so handelt es sich hier um eine visuelle Strategie der Verortung des Spielers im Spielraum. Vom distanzierten und unpersönlichen Blick auf die Karte wird der Blick über die Vogelperspektive in die Landschaft und dann in einen Innenraum geholt und mit einer Spielfigur verknüpft. Dieser Datenkörper (Krämer, 2000) bleibt im Verlauf des Spiels der Blick- und der Aktionspunkt des Spielers, von dem aus dieser die Blick- und die Bewegungsrichtung von nun an bestimmen kann.¯8 Der Spieler ist über diesen Datenkörper im Spiel verortet. Interessant ist in Oblivion die Wendung, dass man diesen Datenkörper durch verschiedene 248 Britta Neitzel Abb. 1: Auf dem Pferd unterwegs in Cyrodiil Tunnel wieder hinaus ins Freie lenkt – hier erlangt man nun wieder einen quasi panoramatischen Blick auf die Landschaft, doch diesmal nicht aus einer distan- zierten Vogelperspektive, sondern als Teil von ihr (vgl. Abb. 1). Durch diese Wen- dung wird der Prozess der Verortung abgeschlossen – sah der Spieler die Land- schaft zunächst von einer Außenperspektive aus, befindet er sich nun in ihr. Aneignung von Spielorten Über den Avatar wird der Spieler also zunächst in der Spielumgebung verortet. Im weiteren Verlauf dient er dem Spieler dazu, sich diese Umgebung bzw. ver- schiedene Plätze im Spiel anzueignen und sie so ggf. zu seinen Orten zu ma- chen. Der Begriff des Ortes hat, wie oben angedeutet, miteinander korrespondie- rende Bedeutungen. Er wird zum Ersten als ein Punkt bezeichnet, als ausdeh- nungslose Stelle im Raum. Wie Otto Bollnow, der wie Relph in der Tradition der phänomenologischen Raumbetrachtung steht, es formuliert: (Nicht-) Orte des Strategischen 249 »Man kann auf ihn hinzeigen. Er bezeichnet einen festen Punkt im Raum, insbesondere einen festen Punkt auf der Erdoberfläche. [...] Aber man spricht auch [...] im übertragenen Sinne vom Ort eines angeführten Zitats. Versucht man von hier aus die Bedeutung abzugrenzen, so spricht beim Ort nicht die Ausdehnung mit, [...] . Es ist dieser bestimmte Ort im Gegensatz zu einem andern. [...] Auch eine Ortschaft, eine Stadt oder ein Dorf ist Ort nicht infolge ihrer räumlichen Ausdehnung, sondern weil sie an dieser bestimmten Stelle gelegen ist.« (Bollnow, 2004: 38f.) In diesem Sinne wird ein Ort relational bestimmt, zumindest als ein Hier im Gegensatz zu einem Dort. In Hinblick auf den Raum, in dem sich der Ort be- findet, erfolgt diese Bestimmung zumeist mit Hilfe eines Koordinatensystems und so in Abhängigkeit von diesem. Besonders deutlich wird dies im Sprachge- brauch der Schiffsnavigation, in der eine bestimmte Koordinate den Schiffsort bezeichnet (ebenso wie z. B. auch Koppelort oder beobachteter Ort auf eine be- stimmte Weise berechnete Koordinaten darstellen). Der Ort ist in der Navigati- on ein bestimmter Punkt im Koordinatensystem, der für die Wegfindung in Be- ziehung zu anderen Koordinaten gesetzt wird, sonst nichts. Die zweite Bedeutung von Ort zielt nicht auf seine Lage, sondern auf seine At- tribute ab. Wieder gibt es eine Relationalität, diesmal aber als Bedeutungsun- terschied: Es ist dieser Ort im Gegensatz zu einem anderen. Zwei nebeneinan- der liegende Lokale können gänzlich unterschiedliche Orte sein – in diesem Fall jedoch nicht aufgrund ihrer Lage, sondern z.B. aufgrund ihrer Einrichtung, der Musik die gespielt wird, den Getränken, die ausgeschenkt werden und nicht zu- letzt aufgrund des Publikums, das dort verkehrt. Orte in diesem Sinne finden sich im »erlebten Raum« (vgl. ebd., 16-22), den Bollnow dem mathematischen Raum entgegenstellt. Diesen Raum beschreibt Bollnow als auf den Menschen bezogen, über ein Achsensystem, das mit dem Menschlichen Körper zusam- menhänge sowie über Werte und Erfahrungen. Die Gegenden und Orte im er- lebten Raum seien qualitativ in ihrer Bedeutung für den Menschen unterschie- den.¯9 Das avatarbasierte Computerspiel nun versucht, vermittelt über den Avatarkörper solche Orte zu etablieren. Durch die Verortung im Körper des Avatars, bildet dieser den Ausgangspunkt für das Spielen, er ist quasi die Nullkoordinate¯10 von der aus sich die Umge- bung des Spiels für den Spieler entfaltet – zumeist nach vorn und hinten, rechts und links, ggf. aber auch nach oben und nach unten. Über die Interfaces wer- den diese Richtungen auch zu Bewegungsrichtungen – die Tastenkombination W-A-S-D (oder die Pfeiltasten oben, links, unten, rechts) zu drücken, bedeutet nach vorn, nach links, nach hinten oder nach rechts zu laufen. Ist der Spieler im Spiel über den Avatar verortet, so wird auch der Spielraum über den Avatar auf ihn ausgerichtet. Er wird zu seinem erlebten Raum. 250 Britta Neitzel Wie die Fortbewegungshandlungen gehen auch die anderen Spielhandlungen vom Avatar aus, über ihn kann der Spieler die digitale Umgebung kennenler- nen und mit ihr umgehen. Der Umgang mit dieser Umgebung wird im Laufe des Spiels, vor allem über Wiederholungen, sicherer. Dies gilt in Oblivion für die Höhlen und Schreine, die immer wieder besucht werden, um in ihnen zu kämpfen, insbesondere aber für die verschiedenen Städte, in denen der Avatar Gegenstände kaufen und verkaufen kann. So ist die Lage der verschiedenen Lä- den dem Spieler nach einiger Zeit bekannt, so dass er sie ohne Überlegungen aufsuchen kann. David Seamon (1980) nennt Tätigkeiten, die quasi vorbewusst und routiniert ausgeführt werden, »Körper-Ballett« (body-ballet). Wenn sie in Kombination mit einem bestimmten Ort ausgeführt werden, spricht er von »Orts-Ballet« (place-ballet). Das wiederholte Ausführungen solcher routini- sierten ortsbezogenen Tätigkeiten, trenne Outsider von Insidern und kreiere ein Zugehörigkeitsgefühl zum jeweiligen Ort. In Bezug auf ein Spiel hieße das, dass sich die Spieler im Spiel zu Hause fühlen können. Ausgeprägter noch als in Single-Player-Games sind diese place-ballets in Multiplayer-Games zu beo- bachten. Die Dungeons in World of Warcraft (Blizzard seit 2004) z. B. wer- den im Laufe des Spiels immer wieder besucht, und sind letztendlich nur von einer Gruppe zu bewältigen, wenn nicht nur jedes Gruppenmitglied die Fä- higkeiten seines Avatars kennt, sondern auch den Dungeon, was sowohl die Fähigkeiten der Gegner als auch räumliche Gegebenheiten einschließt. Dun- geon-Guides (vgl. z. B. http://hordeguides.de¯11), beschreiben räumliche Ge- gebenheiten, Fähigkeiten der Gegner, Aufstellung der Gruppe und Taktiken. Die ›Ballettgruppe‹ muss ihre Bewegungsmuster am Ort routinisieren, um un- ter Zeitdruck erfolgreich zu sein.¯12 Orte in Spielen Gerade die The Elder Scrolls-Reihe (Bethesda 1994-2011)¯13 versucht auch über die Spielgrafik, die digitale Landschaft zu einem Erlebnis zu machen. In Oblivion findet man sorgsam ausgefeilte und regional spezifische Landschaf- ten – im vegetationsreichen Süden zirpen die Zykaden zwischen hohem Gras, während sich der karge Norden durch raue Bergketten und Schnee auszeichnet. Das Design des Spiels ist bemüht, jeder Region der Spielwelt Cyrodiil Individu- alität zu geben. Auch die Städte sind in unterschiedlichen Stilen gestaltet und so allein am Baustil wieder erkennbar. In den Städten Cyrodiils gibt es auch die Möglichkeit (und die Notwendigkeit) den virtuellen Raum zu bewohnen, indem ein Haus gekauft wird. Via Avatar kann der Spieler ein Haus erwerben, um seine Besitztümer (Waffen, Hand- werksgegenstände, Kleidung) aufzubewahren und zu schlafen¯14 . Das Haus (Nicht-) Orte des Strategischen 251 Abb. 2 Anvil in Cyrodiil ist ein Ort, an den der Avatar zurückkehren kann und an dem er sicher ist. Hier kann der Avatar nicht angegriffen und die im Haus aufbewahrten Dinge kön- nen nicht gestohlen werden. Das erste Haus, das erworben wird, bringt eine qualitative Veränderung im Spiel mit sich, insbesondere in Hinblick auf sei- ne Lagerfunktion, denn die eingelagerten Gegenstände werden zum Weiter- spielen benötigt. So kann sich durchaus eine besondere Beziehung zu diesem Haus entwickeln. Jedoch lässt sich diese Beziehung kaum mit der vergleichen, die in der phänomenologischen Tradition der Beziehung zum Haus als Wohn- raum zugesprochen wird (vgl. Heidegger 2009, Barchelard 2003, Merleau Pon- ty 1974). Das Haus im Spiel bietet dem Avatar zwar Sicherheit, er bewohnt es je- doch nicht in dem Sinne als er zu ihm gehört, oder mit ihm verwurzelt ist. Ein Haus in Oblivion ist auch nicht unbedingt ein »Ort des leichten Handelns« (Bo- esch, zit. nach Weichhart 1990, 38), den die Bewohner nach ihren individuellen Bedürfnissen ausgestalten können. Jedoch unternimmt das Spiel Versuche in diese Richtung: Ein neu erworbenes Haus in Oblivion enthält ein Bett, also den für die Spielfunktionalität relevanten Gegenstand, und ist ansonsten leer. Es 252 Britta Neitzel Abb. 3 Holzhäuser in Bravil in Cyrodiil kann aber vom Spieler eingerichtet werden. Dies kann er tun, indem er Einrich- tungsscheine für die verschiedenen Bereiche des Hauses erwirbt – die Küche, das Wohnzimmer, den Eingangsbereich. Nachdem die vorgefertigten Möbel ge- kauft wurden, erscheinen diese im Haus, ohne dass der Spieler noch etwas tun müsste. Auch Ausstellungsvitrinen können erworben werden – jedoch können in ihnen nur unter großen Mühen Gegenstände platziert werden. Im Gegen- satz zu dem Ort, den die Phänomenologie als Zuhause beschreiben würde, ei- nen Ort, an dem sich eine Person sicher fühlt und an dem sie die Macht hat, Veränderungen vorzunehmen, stellen sich die Häuser in Oblivion dünn dar. Sie sind eher vorgefertigte Speicher, die ggf. schön anzusehen sind. Zu diesem Ein- druck trägt auch das Angebot des Spiels bei, sieben Häuser kaufen zu können (in jeder Stadt des Spiels eines): ein Haus wird so eher zu einem Statussymbol als zu einem Heim. Das MMORPG World of Warcraft (WoW) ermöglicht es den Spielern nicht, Häuser zu bauen oder zu erwerben, das Spiel bietet kein »Housing«. Jedoch wird auch hier mit Orten der Rückkehr und der Erholung gearbeitet. Dies sind (Nicht-) Orte des Strategischen 253 die über alle Regionen der Spielwelt verteilten Gasthäuser. Mit Hilfe eines »Ru- hesteins« kann ein Spiel-Charakter ein Gasthaus zu seinem Heimatort ma- chen – und diesen je nach Belieben auch wieder wechseln. In den Gasthäu- sern (nicht nur im Heimatgasthaus) – wie auch in den Hauptstädten – ›erholt‹ sich der Spielcharakter, was in der Levelphase¯15 von Vorteil ist, da ein erhol- ter Charakter die doppelte Menge an Erfahrungspunkten bekommt, so dass der Levelprozess beschleunigt wird. Zudem wird der Spiel-Charakter durch ei- nen Klick auf den Ruhestein an seinen Heimatort transportiert, er ist also auch ein schnelles Transportmittel, was dazu führt, dass Spieler ihren Charakter an spielstrategisch vorteilhaften Orten beheimaten: In der Levelphase ist dies oft- mals ein Ort im Questgebiet, an dem Gegenstände verkauft und Quests abge- ben werden können; nach Erreichen des Höchstlevels eine Hauptstadt, die als Ausgangspunkt für wiederkehrende Quests genutzt wird. War vor der Erwei- terung Cataclysm (Dezember 2010) die Stadt Dalaran im Nordend die meistfre- quentierte Hauptstadt, so wirkt sie seit der Erweiterung wie ausgestorben und Orgrimmar für die Horde-Charaktere respektive Sturmwind für die Allianz- Charaktere machen den Eindruck von lebendigen und bewohnten Städten.¯16 Simmel (1903) spricht in vergleichbaren Fällen sozialer Wirklichkeit von »Dreh- punkten« um die herum sich bestimmte Beziehungsformen gruppieren. »Die Bedeutung von Drehpunkt kommt der fixierten Örtlichkeit überall da zu, wo die Berührung oder Vereinigung sonst voneinander unabhängiger Elemente nur an einem bestimmten Punkte geschehen kann.« (ebd., 41). Solche »›Sammlungspunkte«, die den sozialen Raum strukturieren, könnten auch ein Bewusstsein von Zugehörigkeit herstellen (ebd.). In WoW entsteht ein sozialer Raum zum Teil erst über solche Sammlungspunkte, denn die Cha- raktere einer Fraktion begegnen sich ansonsten nur in ständig wechselnden Kombinationen in Dungeons oder wechselnd bzw. in Stammgruppen in Raids. Sozialer Zusammenhalt kann über die verschiedenen Chatkanäle hergestellt werden, wobei auch die Haupstädte einen eigenen Chatkanal haben. Will also ein Spieler eine Nachricht an möglichst viele Mitspieler auf seinem Server schi- cken, so wird dies über den Hauptstadtchat geschehen. Ausgehend von der Verortung des Spielers (der sich leiblich am materiellen Spielort (s. o.) befindet) in der visuellen Spielwelt werden der virtuelle Raum und die virtuellen Orte erschlossen. In Böhmes (2004) Konzeption werden sie erst hierdurch virtualisiert, denn er geht davon aus das Darstellungsräume erst zu virtuellen Räumen werden, »wenn sie sich mit dem Raum leiblicher An- wesenheit verschränken« (ebd. 137). Diese Orte nun werden vom Spiel mehr oder weniger individualisiert, können den Spielern ggf. sogar ein Gefühl von zu 254 Britta Neitzel Hause vermitteln und – in Kombination mit dem dritten Spielort, der IP-Adres- se – auch zu sozialen Treffpunkten werden. Strategiespiele Orte als Koordinaten Strategiespiele nun verorten die Spieler in den meisten Fällen nicht über einen Avatar in der digitalen Umgebung. Für die und vor den Augen des Avatars tut sich kein Spielraum auf, in den er ›hineinstürmen‹ kann. Strategiespiele arbei- ten vielmehr mit einer, je nach Spiel, mehr oder weniger abstrakten Aufsicht auf eine digitale Räumlichkeit, die als Karte verstanden werden kann (vgl. Abb. 4 u. 5). In der Geographie wird eine geographische Karte verstanden als »ein verklei- nertes, vereinfachtes und verebnetes Abbild der Erdoberfläche, ggf. einschließ- lich mit ihr in Verbindung stehender Sachverhalte« (Kohlstock 2004: 15). Nach diesem Verständnis hat eine Karte also eine referenzielle Funktion, sie verweist auf etwas, das sie eben nicht ist und natürlich, darauf weist u. a. Krämer (2007) hin, muss eine Karte nicht unbedingt auf den Erdraum verweisen, Karten kön- nen auch Modelle von Lagebeziehungen (z. B. eine Karte eines U-Bahn Netzes) oder Beziehungen von Gedanken darstellen, wie die so genannte Mind Map. Den Darstellungen der Landschaft im Strategiespiel fehlt jedoch diese Refe- renzfunktion, sie sind kein Abbild einer anderen (realen oder fiktiven) Land- schaft.¯17 Wieso also werden sie dennoch als Karten wahrgenommen? Eine Karte bildet zunächst einmal die Ansicht einer Landschaft, die nicht um ei- nen bestimmten Blickpunkt herum organisiert ist und dies trifft auch auf die Landschaftsabbildungen im Strategiespiel zu. Es liegt, wie Wiemer (2008, 229) in seiner Analyse der Interfaces von Echtzeitstrategiespielen schreibt, »eine distanzierte Aufsicht vor [...] , deren Blickposition keine subjektive Verkörpe- rung zugeordnet werden kann«. Im Gegensatz zu den avatarbasierten Spie- len müsste sich der Spieler also innerhalb der Strategiespieldarstellungen zunächst einmal selbst verorten, um dann in dem abgebildeten Territorium handeln zu können. Dies entspräche dem Schritt, den auch ein Benutzer einer Papierkarte vornehmen muss, um sich mit ihrer Hilfe zu orientieren. »Eine Kar- te zur Orientierung benutzen kann nur, wer sich selbst in der Karte zu veror- ten weiß« (Krämer 2007, 77). In der Umkehrung dieses Verfahrens, so ließe sich folgern, tendieren wir dazu, eine Raumdarstellung, in der wir uns selbst ver- orten müssen, und die sich nicht als dreidimensionaler Raum vor unseren Au- gen ausbreitet, als Karte zu betrachten. Zur möglichen Wahrnehmung dieser Darstellung als Karte trägt außerdem bei, dass die Landschaftsdarstellungen (Nicht-) Orte des Strategischen 255 Abb. 4: Civilization III in Strategiespielen immer mit einem Raster unterlegt sind, das zur Operatio- nalisierbarkeit beiträgt und ggf. an ein Koordinatensystem gekoppelt ist. Sicht- bar wird dieses Raster z. B. an den Grenzen in Civilization III (vgl. Abb 4) und an der Verteilung der militärischen Basen in Command & Conquer: Tiberium Alliances (vgl. Abb. 5).¯18 Letzteren wird zudem noch eine spezifische Koordi- nate zugeordnet. Zwar referieren Karten in Strategiespielen nicht auf ein außerhalb liegendes Territorium, haben jedoch kartenartige Eigenschaften, sie können nach Krä- mers (2008, 299) Beschreibung als »Oberflächen, die graphische Markierungen von Relationen zwischen Orten in Gestalt einer räumlichen, zweidimensio- nalen Darstellung enthalten« betrachtet werden. Wie oben angesprochen, muss sich ein Benutzer der Karte auf ihr verorten, um sich dann im Territorium orientieren und handeln, zum Beispiele einen Weg finden, zu können. Da aber die Karte des Strategiespiels eben nicht auf ein ihr äußerliches Territorium ver- weist, ist eine derartige Verortung nicht notwendig. Ein Spieler muss nicht in 256 Britta Neitzel Abb. 5: Command & Conquer Tiberium Alliances einem Territorium handeln, auf das die Karte verweist, sondern an und auf der Karte selbst. Die Karte ist das Territorium. Damit kommt, wie Krämer es nennt, das »Narrativ der transparenten Karte« (ebd., 300 ff.), das darauf fußt, dass die Karte eine wissenschaftlich exakte Wiedergabe des Territoriums, auf das sie referiert, darstellt, in Strategiespie- len gar nicht zum Tragen. Hier zählt lediglich das zweite Narrativ, das »Narrativ der opaken Karte« (ebd.), das sich mit den Bedingungen kartographischer Dar- stellung befasst, mit Fragen der Macht, der Politik, des Sozialen, Technischen und Semiotischen, die zu einer bestimmten Darstellungsweise führen. Das In- teressante an der Karte im Strategiespiel nun ist, dass diese Bedingungen, die bei der referenziellen Karte im Gebrauch ausgeblendet werden müssen (ist der Navigator eines Schiffes damit beschäftigt, den Kurs zu einem bestimmten Ziel festzulegen, kann er sich schwerlich über die Verzerrungen der Mercartor- Projektion Gedanken machen), durch den Zusammenfall von Karte und Terri- torium direkt in den Gebrauch eingehen können. Es gibt keine Zurichtungen eines Territoriums durch sein kartographisches Modell, das dann bestimmte Aspekte, wie zum Beispiel Größenverhältnisse, vernachlässigt. (Nicht-) Orte des Strategischen 257 So muss auch ein Ort als bedeutungsvoller Raum in Strategiespielen nicht auf eine Koordinate reduziert werden, denn er liegt in gar keiner anderen Form vor. Das Strategiespiel muss nicht von Orten, an denen sich menschliche Dramen abspielen oder die sich durch besondere Schönheit auszeichnen, abstrahieren, da die Karte solche Orte nicht kennt. Der Ort ist und bleibt hier zunächst Ko- ordinate. Manipulieren und Sehen von Karten In Strategiespielen gibt es jedoch nicht nur die Hauptkarte, auf der die Bewe- gungen der Einheiten gesteuert werden¯19 und über die bisher gesprochen wurde, sondern auch eine so genannte Mini-Karte, die Übersicht über das ge- samte Terrain bietet (s. Abb.4 unten links und Abb. 5 oben rechts). Diese hat na- türlich eine referenzielle Funktion, sie stellt noch einmal ein Modell der Haupt- karte dar. Wiemer (2008) geht davon aus, dass die kartografische Aufsicht suggeriert, dass der Raum als Ganzes beherrschbar und kontrollierbar sei, wozu sowohl Haupt- als auch Mini-Karte dienen. »Die Verbindung von Handlungsposition und Blickposition (Beobachtungsperspektive)¯20 qua Interface wird in RTS insbesondere durch die Aufteilung bestimmter Funktionen innerhalb des Karteninterfaces realisiert. Verschiedene Handlungs- und Blickpositionen werden hier zwi- schen Mini-Karte und Hauptbildschirm verteilt.« (ebd., 229) Liegen auch in beiden Karten distanzierte Aufsichten vor, so abstrahiert die Mini-Karte in Strategiespielen noch weiter vom Terrain als die Hauptkarte, in ihr sind lediglich die Umrisse des Terrains zu erkennen, so dass sie dem Spieler Übersicht gewährt und über sie, wie Wiemer es formuliert, »der Blick bewegt« wird. D. h. durch einen Klick auf die Mini-Karte wird der Terrainausschnitt, auf den geklickt wurde, in der Hauptkarte sichtbar. Die Mini-Karte, so Wiemer, die- ne zur Navigation, zur Übersicht und zu gezieltem Informationsmanagement, während auf der Hauptkarte direkte Aktionen stattfinden, die an das Terrain gebunden sind. In der Hauptkarte könne der Spieler das Gefühl haben, in das Geschehen sehr direkt involviert zu sein. Um Differenzen dieser beiden Karten aufzuzeigen, bezieht er sich in seiner Analyse auf die Unterscheidung von dickem und dünnem Raum (thick and thin space), die Harpold (2001) im Zuge seiner Interfaceanalyse trifft. Den dünnen Raum beschreibt Harpold (ebd., 15) als: »a form of space which is very nearly emptied out beforehand, so that movement within it and mastery of the objects it contains¯21 is minimally challenging to the user. In an impor- 258 Britta Neitzel tant sense, the user is constituted as a user by her successful penetration into and traversal of this space.« Eine solche Raumform identifiziert er generell in Computerspielen¯22 sowie in GUIs, d. h. dem Bemühen, graphische Benutzeroberflächen möglichst intui- tiv – in den Worten von Bolter/Grusin (2000) transparent – erscheinen zu las- sen, so als würde der Benutzer nicht mit Repräsentationen, sondern mit den repräsentierten Gegenständen selbst umgehen. Den ›dicken‹ Raum beschreibt Harpold als »impermeable, imperfectly or incompletely manipulable, stuck in an historical, cultural, and psychic materiality that stops up efforts to empty it out« (ebd., 18f). Dieser ›dicke‹ Raum erinnert somit durchaus an Augés sozi- al-anthroplogischen Ort. Harpolds Beispiele für einen ›dicken‹ Interface-Raum bleiben aber leider auf die DOS Programmzeile, die er dem GUI entgegensetzt, begrenzt. Wiemer nun ordnet der Hauptkarte von Strategiespielen den dicken (undurch- lässigen Raum, der mit Bedeutung aufgeladen ist) und der Mini-Karte den dünnen (auf Manipulierbarkeit hin konstruierten) Raum zu. Für das Spielen sei das Oszillieren zwischen beiden Karten und damit Raumformen notwen- dig. Dies ist sicherlich einsichtig: Auf der Hauptkarte ist die Bewegungsfrei- heit begrenzt, den Einheiten und damit der Ausweitung des eigenen Machtbe- reichs stehen gegnerische Truppen oder geographische Hindernisse im Weg, die überwunden werden müssen. Auf der Mini-Karte kann der Blick ohne Hin- dernisse schweifen. Doch kann man das Verhältnis der Karten nicht auch gerade umgekehrt be- trachten? Die Mini-Karte stellt eben keinen zu durchdringenden Raum dar, sondern eine relativ abstrakte Oberfläche, auf der eine Übersicht aber nur we- nige Möglichkeiten zur Manipulation gegeben werden, sie verwehrt eben Ma- nipulation. Der Raum der Hauptkarte hingegen ist auf Manipulation hin an- gelegt, hier werden Rohstoffe abgebaut, Gebäude errichtet, Straßen angelegt und Kämpfe geführt. All dies ist auf der Mini-Karte nicht möglich. Doch die Mini-Karte deshalb als ›dicken Raum‹ zu bezeichnen, wäre ebenfalls nicht angemessen, denn da sie als Übersichtskarte gar nicht auf Manipulier- barkeit angelegt ist, sondern auf einen Überblick, fällt sie aus Harpolds Unter- scheidung heraus. Der Blick kann auch auf der Hauptkarte schweifen ( jedoch in größerem Maßstab), Widerstände gibt es erst, wenn das Territorium erschlos- sen und erobert werden soll. Die Mini-Karte als vollständige Karte (mit Refe- renzfunktion), dient der Übersicht und erleichtert Orientierung und damit die Manipulation des ›Karten/Territoriums‹ auf der Hauptkarte, so wie der Stadt- plan die Orientierung und den Umgang mit der Stadt erleichtert. (Nicht-) Orte des Strategischen 259 Deshalb möchte ich vielmehr vorschlagen, den Unterschied zwischen thin und thick space zwischen avatarbasierten Spielen und Strategiespielen aufzuma- chen. Denn wie oben gezeigt, kann der Raum in avatarbasierten Spielen nicht vollkommen durchdrungen und manipuliert werden, Orte erhalten Bedeutung auch unabhängig davon, wie mit ihnen gehandelt wird. Im Strategiespiel hin- gegen wird der Raum fast vollständig funktionalisiert. Er erhält seinen Wert lediglich in Hinblick auf seine taktische oder strategische Bedeutung. Durch den ungehemmten Blick auf der Mini-Karte sowie die isometrische Aufsicht, die das Gebiet auf der Hauptkarte, auf dem gehandelt wird, nicht als Terrain sondern als behandelbare Karte erscheinen lässt, bleibt der Spieler vom Ort des Geschehens distanziert, er ist dort nicht präsent. Orte finden sich in Stra- tegiespielen vor allem¯23 als strategische oder taktische Punkte auf der Karte. Verortung des Spielers Handelt es sich bei Räumen von Strategiespielen also gar nicht um virtuelle Räume, weil die Spieler nicht im, sondern mit dem dargestellten Raum arbeiten und keine Verschränkung mit dem Raum leiblicher Anwesenheit (s. o.) stattfin- det? Auf diese Frage soll im Folgenden eingegangen werden. Nicht nur die Karten distanzieren die Spieler eines Strategiespiels vom Ort des Geschehens. Auch die Funktionalitäten der Kampfeinheiten tragen dazu bei, denn die Einheiten stellen keine Verkörperung des Spielers dar, sondern sind a) Ressourcen im Kreislauf des Ressourcensystems: In Strategiespielen (und -spielserien) wie z. B. Star Craft (Blizzard 1998-2010) und Command and Con- quer (Virgin Interactive Entertainment/Electronic Arts 1995-2010) werden die Einheiten in Kasernen gebaut und dann für verschiedene Aufgaben, wie Res- sourcenabbau oder Kampf eingesetzt; in Civilization (Hasbro, Microprose, In- fogrames, 2K Games 1991-2012) werden die Einheiten nicht in besonderen Ge- bäuden, sondern in der jeweiligen Stadt als ganzer gebaut – die Spieler können also wählen, ob sie z. B. einen Samurai oder einen Kornspeicher bauen; in Die Siedler-Online (Ubisoft, seit 2010) entstehen automatisch neue Siedler wenn genug Wohnraum vorhanden ist, diese können dann in der Kaserne in Kampf- einheiten umgewandelt werden; und b) Befehlsempfänger in militärischen oder ökonomischen Zusammenhängen (vgl. Wiemer 2008, 233, Neitzel 2000, 217f.). Dadurch, dass sie Befehle entgegennehmen (und natürlich auch ausführen) wird den Einheiten eine hervorgehobene Rolle im Ressourcenmanagement zugesprochen. Als (human) resources stellen sie noch einmal ein Interface zwi- schen Spieler und der digitalen Umgebung dar. Weit mehr als ein Avatar haben 260 Britta Neitzel sie einen offensichtlichen Werkzeugcharakter, der dem Spieler auch während des Spielens als distanzierendes Moment erhalten bleibt.¯24 Auch in der Navigation auf dem Karten/Territorium schlägt sich diese Distan- zierung nieder. Navigation setzt sich zusammen aus Wegfindung (wayfinding) und (körperlicher) Fortbewegung (locomotion) (vgl. Montello 2005). In Strate- giespielen ist es vor allem die Wegfindung, d. h. der intelligible Teil der Naviga- tion, der gebraucht wird. Raumzeitliche Planung und die Auswahl von Routen stehen im Vordergrund. Die (körperliche) Fortbewegung, die um den Nahbe- reich des Körpers herum organisiert ist und sich von dort aus mit Umgebungs- spezifika, wie Hindernissen oder Orientierungspunkten, auseinandersetzt, steht erst an zweiter Stelle. Auch auf der Hauptkarte, auf der Hindernisse oder Rohstoffvorkommen zu sehen sind, werden die Einheiten aus der Distanz kon- trolliert, d. h. der Ausgangspunkt für die Fortbewegung ist der Blick von oben, der sieht, welche Wege möglich sind und wo sich Hindernisse befinden, de- nen ausgewichen werden muss. Es ist kein Avatarkörper vorhanden, aus dessen Perspektive mögliche Hindernisse erkannt und dann entsprechend umgangen werden. Der Akt der Fortbewegung selbst gehört nicht mehr zu den Spieltätig- keiten der Spieler. In Strategiespielen müssen sie keine Strecke zurücklegen, vielmehr sehen und klicken sie und springen so von einer Stelle zu einer ande- ren ohne Zeit oder Kraft für den Weg aufzuwenden. Die Einheiten legen den Weg an Stelle des Spielers zurück. Während in avatarbasierten Spielen oftmals der Weg das Ziel ist (vgl. Fuller/Jenkins 1995), gibt es im Strategiespiel nur Ziel- punkte.¯25 Um jedoch die Zielpunkte auch auf dem Spielterritorium zu erreichen und zu erobern, muss es auch in Strategiespielen einen Ausgangspunkt, eine Nullko- ordinate geben. Einen Avatar, der diese bildet und von dessen Position aus sich die Richtungen des Raumes sowie die Bewegungen und Handlungen entfal- ten, gibt es zumeist nicht. Jedoch bildet die Hauptstadt (oder die erste Basis) in vielen Strategiespielen so etwas wie den Ausgangspunkt für die Aktionen in der Spielwelt. Ausgehend von diesen Hauptstädten, die quasi das Zentrum der Spielwelt bilden, das oftmals auch qualitative Vorteile hat¯26, findet eine Ausdehnung des Machtbereichs statt, indem das Territorium nicht durchquert oder exploriert, sondern erobert bzw. verteidigt wird. Es findet also keine Ver- ortung eines Spielerkörpers statt, der sich dann als mobiles Element im Spiel- raum bewegt, es wird vom Spiel vielmehr ein Ort (als Punkt, als Koordinate) auf der Karte festgelegt, von dem aus sich das Karten/Territorium dann in Abhän- gigkeit von den Spielhandlungen verändert. Die Verortung findet also quasi im Kartenmodus statt, in dem Körper keinen Platz haben. (Nicht-) Orte des Strategischen 261 Orte und Punkte Computerspiele entwickeln bestimmte Strategien der Inkorporation ihrer Spieler, um sie im Spiel zu verorten. Gehandelt werden kann nur von einem be- stimmten Ort aus. Spiele in der First- oder Third-Person Perspektive (subjektiv oder semisubjek- tiv) versuchen über den Avatar und die Perspektive, die Distanz der Spielenden zum digitalen Spielraum möglichst zu minimieren und ihnen das Gefühl zu vermitteln, ›vor Ort‹ zu sein. Der Ort des Spiels als Ort am Schreibtisch ver- schmilzt mit dem Ort im Digitalen und verliert dabei an Bedeutung. In ihrer narrativen Struktur sind diese Spiele an die Heldenreise (vgl. Campbell 1978) angelehnt, die in ihrer Ideologie auf eine Stärkung des Subjekts abzielt. Diese Stärkung vollzieht sich im Spiel ›vor Ort‹, nämlich im digitalen Spielraum über Handlungen, die auf einen performativen Wissensvorrat zurückgreifen – wie bewege ich mich fort, wie bekämpfe ich einen Gegner, wo kaufe ich mir meine Rüstung – und auf kurzen Handlungsketten (vgl. Adelmann/Winkler in diesem Band) beruhen. Im Spiel werden Routinen erarbeitet, die bestimmen, was am jeweiligen digitalen Spielort zu tun ist. Strategiespiele hingegen arbeiten mit einer Distanzierung zum Geschehen. Wenn Strategie ein ref lexives Element zur Durchsetzung von Zielen ist, wie Engell (1990, 21f.) Strategie im Anschluss an Clausewitz bestimmt, so braucht die Strategie Distanz zum Geschehen. Reflexion kann selten vor Ort stattfin- den. Die Ausdehnung des Machtbereichs durch Landnahme im Spiel erfordert zwar ebenfalls performatives Wissen, das bestimmte Orte und deren Gege- benheiten betrifft – schließlich ist die Taktik die kleine Schwester der Strate- gie – doch deklaratives Wissen über Truppenstärken, den Aufenthaltsort der gegnerischen Truppen, Bedeutung von Ressourcen usw. hat einen weit größe- ren Anteil. Die Position, von der aus mit diesem Wissen umgegangen wird, d.h. Strategien entwickelt werden, kann nicht an den Ort gebunden sein, an dem taktische Manöver ausgeführt werden. Wenn im Gebrauch einer Karte zum Zwecke der Orientierung im abgebildeten Raum deren Ideologie zurücktreten muss, muss die Referenz der Karte zurücktreten, wenn mit und auf der Karte und deren Ideologie gehandelt wird. So sind es nicht einmal Nicht-Orte in Augés Sinn, die im Strategiespiel präsen- tiert werden. Die Orte des Karten/Territoriums werden auf ihre Bedeutung als lokalisierbarer Punkt im Raum reduziert und für die Aneignung weiterer Punkte, die sich schließlich zu einem Raum zusammentun, funktionalisiert. Der Ort des Spielers wird davon bewusst abgesetzt, als A-Topos, der sich ir- gendwo im Nirgendwo außerhalb des Spielraumes befindet. 262 Britta Neitzel Anmerkungen 01˘ Die »solitäre Vertraglichkeit«, die sich beim Singleplayer-Spiel findet, wird jedoch in Multiplayer-Spielen durch die soziale Komponente ergänzt, so dass zu vermuten wäre, dass in diesen anthropologische Orte, die Organisch-Soziales im Sinne Augés hervorbringen, zu finden sind. 02˘ Es ist natürlich nicht nur der Spiel-Server ortbar, sondern auch der Spiele-Client, der eine Verbindung zum Server herstellen muss. Der Client muss sich einloggen, anmelden, seine Fern-Anwesenheit kundtun. 03˘ Bei mobilen Computern wäre der Spielort an das Gerät gebunden: The game is where the laptop is. 04˘ Der materielle Ort, an dem sich der Spieler befindet, sowie der Ort im digitalen Raum wer- den wahrscheinlich nur Aufmerksamkeit erfahren, wenn der Zugang zu ihnen gestört ist, die Internetverbindung unzureichend ist, der Monitor flackert oder auch die Sitzposition zu Rückenschmerzen führt. 05˘Wie die Trilogie hat oblivion die Makrostruktur einer klassischen Heldenerzählung. Es ist eine Reise, auf der Spieler Gefahren ausweichen und neue Verbündete finden muss, um schließlich das Reich vor dem Untergang zu bewahren. Dieser Weg jedoch verläuft nicht gradlinig, sondern ist durchsetzt von zahlreichen Subhandlungen, die in verschiedenen Gegenden des Reiches ausgeführt werden können, für das Erreichen des Ziels jedoch optio- nal sind. Und wie die herr Der ringe Verfilmung setzt das Spiel die Landschaft nicht nur als Handlungsraum, sondern auch als spektakulären Hintergrund, vor dem sich die Handlungen abspielen, ein (zur Funktion von Landschaft als Spektakel im Film vgl. Higson 1984). 06˘ In Foren zur elDer-ScrollS Reihe wird noch immer die Landschaft von oblivion hervorge- hoben und auch die First Person-Shooter Reihe crySiS wurde in Bezug zur Umgebung gelobt: »Als wäre die Landschaft allein nicht schon fantastisch genug: Die im Mondschein schim- mernden Palmen könnten geradewegs einer Kitschpostkarte entsprungen sein, der dichte Urwald mit allen Arten tropischer Vegetation, die hier und da verstreuten Felsbrocken und der sich sanft schlängelnde Bach, an dessen Mündung wir an Land gegangen sind, erinnern uns an das Dschungel-Kriegsepos Apocalypse Now« (Siegismund, 2007). 07˘ Auf die Blickverschränkung von Avatar und Spieler in Spielen mit der subjektiven (first- person) Perspektive, kann hier nicht eigens eingegangen werden, siehe dazu Neitzel 2007. 08˘ Um präzise zu sein: In oblivion haben die Spieler die Möglichkeit zwischen der subjekti- ven und der semi-subjektiven (third-person) Perspektive zu wechseln, aber auch die semi- subjektive Perspektive ist an den Avatar gekoppelt (vgl. ebd. und Schwingeler 2008, 127- 139). 09˘ Er schließt damit an die Positions- und Situationsräumlichkeit Merleau-Pontys (1974) an. 10˘ Vergleichbar ist dies eben der Positions- und Situationsräumlichkeit, wie es bei Merleau- Ponty (1974, 125) heißt: »Auf meinen Leib angewandt, bezeichnet das Wort ›hier‹ nicht eine (Nicht-) Orte des Strategischen 263 im Verhältnis zu anderen Positionen oder zu äußeren Koordinaten bestimmte Ortslage, sondern vielmehr die Festlegung der ersten Koordinaten überhaupt, die Verankerung des aktiven Leibes in einem Gegenstand, die Situation des Körpers seinen Aufgaben gegen- über.« 11˘ Letzter Abruf: 24.03.2013 12˘ So lässt sich auch beobachten, dass Gruppen von erfahrenen Spielern die Dungeons mühe- los – und ohne dass Absprachen getroffen werden müssen – bewältigen, während unerfah- rene Spieler scheitern, bis sie gemeinsam eine Routine entwickelt haben. 13˘ The elDer ScrollS-online ist für den 4.4.2014 angekündigt. Die Entwicklung der Grafik und der Spielwelt lässt sich in einem Video zur Geschichte der Reihe, gut beobachten, s.: http://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=KpkWYWb8gHg#! (letz- ter Abruf: 12.01.2014). 14˘ Das Schlafen ist für einen Levelaufstieg des Avatars notwendig. Besitzt ein Avatar kein Haus, kann in einem Gasthaus ein Zimmer mit Bett gemietet werden oder aber ein verlasse- nes Bett – irgendwo in der Landschaft – kurzzeitig in Beschlag genommen werden. Im letz- ten Fall besteht jedoch die Gefahr, während des Schlafs angegriffen zu werden. 15˘ Die Spielhandlungen in Rollenspielen finden nicht auf verschiedenen Spiel-Leveln statt, vielmehr wird der Avatar oder Spielcharakter ›hochgelevelt‹. In wow derzeit von Level 1 auf Level 90. Nach Level 90 beginnt das so genannte End-Game. 16˘ Mit der Erweiterung miSTS oF panDaria (September 2012) hat sich dies wiederum geän- dert. Die dem Spiel eigene ›Stadtplanung‹ dirigiert die Spieler nun so, dass sie sich über die Questgebiete in Pandaria verteilen und nicht mehr auf die Hauptstädte konzentrieren. 17˘ Es ließe sich an dieser Stelle anmerken, dass die Karten auf den Programmcode verweisen, das träfe jedoch auf alle Visualisierungen eines Computerspiels zu, wäre also nicht spezi- fisch für die Karte. Wenn zudem überhaupt von einem zeichenhaften (und nicht von ei- nem kausalen) Verhältnis gesprochen werden könnte, so läge zwischen dem Code und den Visualisierungen eines Computerspiels auch weniger ein ikonisches als vielmehr ein inde- xikalisches Verhältnis vor. 18˘ Am deutlichsten tritt das Raster wohl aber immer noch in Sim ciTy zu tage, das zwar kein Strategiespiel sondern eine Aufbausimulation ist, jedoch ebenso wie Strategiespiele mit ei- ner Karte als Territorium arbeitet. 19˘ Das browserbasierte commanD & conquer Tiberium allianceS stellt in dieser Hinsicht al- lerdings eine Ausnahme dar. Hier werden die konkreten Angriffe noch einmal in einer ande- ren Ansicht durchgeführt. Die Hauptkarte dient nur zur Positionierung der Basen. 20˘ Zu Handlungsposition und Beobachtungsposition, s. Neitzel 2000 21˘ Deutlich wird, dass sich Harpold mit seiner Raumvorstellung an den Newton’schen Containerraum anlehnt – eine Formulierung, die von der Beherrschung von Objekten, die ein Raum beinhaltet, spricht, geht eben davon aus, dass diese Objekte nicht zum Raum ge- hören. Dieser Raum wäre also der Raum der Benutzeroberfläche, d. h. kein dreidimensio- 264 Britta Neitzel naler Raum sondern eine Fläche (metaphorisch ein zweidimensionaler Raum). 22˘ Seine Beispiele sind Tomb raiDer und die Mario-Serie. 23˘ An dieser Stelle sei angemerkt, dass es sowohl innerhalb von avatarbasierten Spielen als auch von Strategiespielen Unterschiede in der Darstellung von Orten gibt. Während commanD & conquer Tiberium allianceS im Bereich der Strategiespiele wohl mit der ab- straktesten Ortsdarstellung arbeitet, stellte die age oF empireS Serie die Orte auf der Hauptkarte schon immer relativ (d. h. in Abhängigkeit von den Grafikleistungen der Computer) detailreich dar. 24˘ Zum Werkzeugcharakter des Avatars vgl. Neitzel 2004. 25˘ Auch avatarbasierte Spiele arbeiten mit Übersichtskarten, die die Spieler konsultieren können, um sich zu orientieren. Diese können jedoch selten benutzt werden, um in den Spielraum einzugreifen. Eine Ausnahme bildet das oben beschriebene oblivion. Hier kann die Karte zum »Schnellreisen« benutzt werden: Nachdem der Avatar einen Ort besucht hat, wird dieser auf der Karte verzeichnet und kann dann über einen Klick auf die Karte wieder aufgesucht werden. Das Prinzip des Links ist hier ins Spiel übernommen worden. 26˘ In Die SieDler-online bildet das Rathaus diesen Ausgangspunkt. Es dient zugleich als Lager und die Produktionszeiten verkürzen sich, je näher eine Produktionsstätte am Rathaus liegt. In civilizaTion iv vergrößert sich die Korruptionsrate je weiter eine Stadt von der Hauptstadt entfernt ist. Bibliografie Augé, Marc (2011[1992]) Nicht-Orte, München: Beck. Barchelard, Gaston (2003 [1957]) Poetik des Raumes, Frankfurt/Main: Fischer. Bergermann, Ulrike (2003) Bin ich drin? Wie man in die Welt der Zeichen rutscht, in: Schnitt. Das Filmmagazin, Nr. 30, Frühjahr 2003, S. 14-17. Bollnow, Otto Friedrich (2004 [1963]): Mensch und Raum, Stuttgart. Barlow, John Perry (1986) An Declaration of Independence of Cyberspace, http://w2.eff. org/Censorship/Internet_censorship_bills/barlow_0296.declaration [letzter Abruf 12.01.2014] Campbell, Joseph (1978 [1949]) Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt/Main: Suhr- kamp. Cresswell, Tim (2004) Place, a short introduction, Malden, MA [u.a.]: Blackwell. Engell, Lorenz (1990) Der gedachte Krieg. 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Gameographie Age of Empires (Microsoft 1997-2013) Civilization (Hasbro, Microprose, Infogrames, 2K Games 1991-2012) Command and Conquer (Virgin Interactive Entertainment/Electronic Arts 1995-2010) Command & Conquer: Tiberium Alliances (Electronic Arts seit 2012) Crysis (Crytek, Electronic Arts 2007) The Elder Scolls IV: Oblivion (Bethesda 2007) Der Herr der Ringe (NZL/USA 2001-2003, Peter Jackson) Die Siedler-Online (Ubisoft, seit 2010) Sim City (Maxis, Infogrames 1989 – 2013) Star Craft (Blizzard 1998-2010) World of Warcraft (Blizzard seit 2004) (Nicht-) Orte des Strategischen 267 Autorenverzeichnis Stefan Böhme ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Braunschweig und Doktorand an der HBK Braunschweig. Seine Arbeitsschwerpunkte bilden die Normalismusforschung so- wie Computerspiele und Unternehmensplanspiele, letztere dabei sowohl aus medientheore- tischer Perspektive als auch anwendungsorieniert im Sinne eines game-based learning. Letz- te Veröffentlichungen: Playing with Numbers. Games as Training in Numerical Practices, in: The Game Culture Reader, Hrsg. v. Jason Thompson/Marc Ouellette, Cambridge Scholars Pu- blishing, S. 125-142, 2013; zusammen mit Nohr, Rolf F. und Serjoscha Wiemer (Hrsg.): Sortieren, Sammeln, Suchen, Spielen: die Datenbank als mediale Praxis (Lit), 2012; Computerspiele als »komplexe Selbstnormalisierungstrainings, in: Dokumentation des 23. Film und Fernsehwis- senschaftlichen Kolloquiums 2010 (Schüren) , 2012; zusammen mit Heinemann, Tim; Herrmann, Christoph; Mennenga, Mark; Nohr, Rolf; Othmer, Julius und Andreas Weich: Business Game for Total Life Cycle Management, in: 18th CIRP International Conference on Life Cycle Engineering, (Springer), 2011, S. 531-536. Weiter Informationen unter: www.strategiespielen.de sowie www. stefan-boehme.de Mark Butler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Europäischen Medienwissenschaft am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam und Koordinator des dort angesiedel- ten Digital Games Research Centers (DIGAREC). Seine Arbeitsschwerpunkte sind digitale Medi- en, Spielkulturen und populäre Selbsttechniken. Letzte Veröffentlichungen: Das Spiel mit sich (Kink, Drugs & Hip-Hop). Populäre Techniken des Selbst zu Beginn des 21. Jahrhunderts (Kad- mos) 2013/2014; Rahmung und Rausch. Zur Versuchung durch den (digitalen) Spielraum, in: Anne von der Heiden/Sarah Kolb: Logik des Imaginären. Diagonale Wissenschaft nach Roger Caillois, Diaphanes (im erscheinen). Ralf Adelmann ist Akademischer Rat am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn. Momentane Forschungsschwerpunkte: Wissens- und Ordnungsstrukturen digitaler Medien, Medienökonomien der Populärkultur, mobile Medien, dokumentarische Bildformen, visuelle Kulturen. Aktuelle Publikation: Adelmann, Ralf / Bergermann, Ulrike (Hg.) Das Medium meiner Träume. Hartmut Winkler zum 60. Geburtstag. (Verbrecher Verlag), 2013. 268 Autorenverzeichnis Harald Hillgärtner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Arbeitsschwerpunkte sind non-fiktionale Fernsehunterhaltung und die Ästhetik der Computerspiele. Letzte Ver- öffentlichungen: Synthetic Performance. Ein Missbrauch von Unterhaltungselektronik?, in: Doreen Hartmann, Inga Lemke, Jessi ca Nitsche: Interventionen. Grenzüberschreitungen in Ästhetik, Politik und Ökonomie, Paderborn, (Fink), S. 191-201, 2012; Materialien zur Quanten- kommunion, in: Ralf Adelmann, Ulrike Bergermann (2013): Das Medium meiner Träume. Hart- mut Winkler zum 60. Geburtstag, Berlin, Verbrecher Verlag, S. 51-76 (zus. m. S. Wiemer). Britta Neitzel ist Gastprofessorin für Medientheorien an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung in Linz. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind mediale Räume und Orte, Mediengeschichte, Involvierungsstrategien digitaler Umgebungen, Mediale Narrationen. Letz- te Veröffentlichungen (Auswahl): GamesCoop: Theorien des Computerspiels, (Junius) (zus. mit Benjamin Beil, Philipp Bojahr, Thomas Hensel, Timo Schemer Reinhard, Jochen Venus) 2012; Er- kunden – Errichten – Erkämpfen: Zugänge zur Stadt in Computerspielen, in: Marco Th. Bosshard et al. (Hrsg.) Sehnsuchtsstädte. Auf der Suche nach lebenswerten urbanen Räumen (Transcript), S.113-132, 2013; Mediale Selbstreferenz: Grundlagen und Fallstudien zu Werbung, Computer- spiel und Comics, (von Halem) (zus. mit Nina Bishara & Winfried Nöth) 2008. Weitere Informa- tionen unter: www.britta-neitzel.de Rolf F. Nohr ist Professor für Medienästhetik/Medienkultur an der HBK Braunschweig. Er ist mit Britta Neitzel Gründer der AG Games in der Gesellschaft für Medienwissenschaft und He- rausgeber der Reihe Medien´ Welten (Münster, Lit). Arbeitsschwerpunkte sind mediale Evi- denzverfahren, Game Studies und instantane Bilder. Er leitet aktuell das Forschungsprojekt Kulturtechnik Unternehmensplanspiel. Letzte Veröffentlichungen: Die Natürlichen des Spie- lens. Vom Verschwinden des Gemachten im Computerspiel (Lit) 2008, Nützliche Bilder. Bild, Diskurs, Evidenz (Lit) 2014. Weitere Informationen unter: www.nuetzliche-bilder.de; www. strategiespielen.de; www.kulturtechnik.biz. Ramón Reichert lehrt am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universi- tät Wien und ist Studiengangsleiter für Data Studies an der Universität Krems. Seine Arbeits- schwerpunkte sind Internetkultur, Digitale Ästhetik und Datenkritik. Publikationen (Auswahl): Im Kino der Humanwissenschaften: Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens (2007),Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0 (2008), Das Wis- sen der Börse. Medien und Praktiken des Finanzmarktes (2009), Die Macht der Vielen. Über den Autorenverzeichnis 269 neuen Kultur der digitalen Vernetzung (2013), Big Data. Die Gesellschaft als digitale Maschine (2014, in Vorbereitung). Serjoscha Wiemer ist Akademischer Rat a.Z. für Digitale Medien / Mobile Media am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Game Studies und Biomedia. Aktuelles Vorschungsvorhaben zur Wissensgeschichte und Medialität von ›Game of Life‹. Letzte Veröffentlichungen: Sortieren, suchen, sammeln, spielen. Die Da- tenbank als mediale Praxis. Hrsg. gemeinsam mit Stefan Böhme & Rolf F. Nohr. (Lit) 2012, Ma- terialien zur Quantenkommunion. In: Adelmann, Ralf / Bergermann, Ulrike (Hrsg.): Das Medi- um meiner Träume. Hartmut Winkler zum 60. Geburtstag (Verbrecher Verlag), S. 51-76 (zus. mit Harald Hillgärtner), 2013; Interface analysis: Notes on the ›scopic regime‹ of strategic action in real-time strategy games. In: Fromme, Johannes / Unger, Alexander (Hrsg.): Computer Games and New Media Cultures: A Handbook of Digital Games Studies. (Springer), S. 75-91, 2012. Wei- tere Infos unter www.serjoscha.net Hartmut Winkler ist Professor für Medienwissenschaft, Medientheorie und Medienkul- tur an der Universität Paderborn. Arbeitsgebiete: Medien, Kulturtheorie, Techniktheorie, All- tagskultur, Semiotik. Veröffentlichungen: Docuverse - Zur Medientheorie der Computer (Boer) 1997; Diskursökonomie -Versuch über die innere Ökonomie der Medien (Suhrkamp) 2004; Ba- siswissen Medien (Fischer) 2008. Prozessieren - Die dritte und vernachlässigte Medienfunktion (erscheint 2014). Webpage: http://homepages.uni-paderborn.de/winkler/ 270 Autorenverzeichnis Abbildungsverzeichnis Cover: Screenshot aus capiTaliSm lab (Expansion for capiTaliSm 2, 2001) © Trevor Chan for Enlight/Ubisoft [http://i.imgur.com/hp0FYRz.jpg]; letzter Abruf 4.4.2014 Einleitung: Abb. 1: eigene Dateien / © LIT-Verlag; Appelhans-Verlag Nohr / Strategisches Subjekt: Abb. 1: eigene Screenshots / Abb. 2: Covershot von Werner Schwanfelder (2004): Sun Tzu für Manager: Die 13 ewigen Gebote der Strategie. Frankfurt/M.: Campus / Abb 3 Eigener Screenshot, © Ensemble / Microsoft / Abb. 4: Eigener Screenshot, © Maxis / EA / Abb. 5: Cover von Williams, J.D. (1954): The Compleat Strategyst. Being a Primer on the Theory of Games. A RAND corporation research study. Unter Mitarbeit von Charles Sat- terfield (illustrations). New York / Toronto / London: McGraw-Hill) / Abb. 6: Eigener Screens- hot © Ensemble / Microsoft) / Abb. 7: entnommen aus: Spielbar.de. Faszination Computespiel. Hrsg. v. Bundeszentrale für poltische Bildung (Bonn), 2014, S.9 Wiemer: Abb.1: Quelle: [http://www.schachmuseum.ch/index3.asp?lang=1&inhalt= 318&m1 =11200&m2=31811200&stufe=11200&stufe2=1120001400] / Abb.2: [http://www.chessbase. com/newsroom/TabId/270/PostId/4001799/torres-y-quevedo-s-rook-endgame-automaton. aspx /] Abb3.: Courtesy of IBM Archives Accession: L02645391 / Abb. 4: [http://www.heise. de/newsticker/meldung/Vor-50-Jahren-fing-alles-andas-erste-Elektronenhirn-in-Deutsch- land-51722.html] (Bild: mit freundlicher Genehmigung des Heinz Nixdorf MuseumsForum) / Abb.5: [http://ftp.arl.army.mil/ftp/historic-computers/png/eniac4.png /] Abb. 6: [http:// www.computer-history.info/Page4.dir/pages/Univac.dir/] Hillgärtner: Abb. 1: [http://spring1944.net/wp-content/uploads/2011/07/14 _001.jpg] / Abb. 2: [http://azaremoth.supremedesign.org/data/gameplayguide.pdf] / Abb. 3: [http://www. lgdb.org/sites/default/files/gallery/kernelpanicdirectmemoryob8.jpg] Butler: Abb. 1: Screenshot aus Starcraft II © Blizzard Entertainment, entnommen aus: [http://starcrafthero.com/wp-content/uploads/2010/07/terran_protoss_zerg.png] / Abb. 2: Screenshot aus Starcraft II © Blizzard Entertainment, entnommen aus: [http://www.pcgames. de/Starcraft-2-Wings-of-Liberty-PC-18348/Bilder/Starcraft-2-Erste-Screenshots-aus-der-Be- Abbildungsverzeichnis 271 ta-des-Strategiespiels-705100/galerie/1249399/?fullsize] /Abb. 3: Screenshot aus Starcraft II © Blizzard Entertainment, entnommen aus: [http://0.tqn.com/d/internetgames/1/0/q/e/star- craft2-07.jpg] / Abb. 4: Screenshot aus Starcraft II © Blizzard Entertainment, entnommen aus: [http://0.tqn.com/d/internetgames/1/0/o/e/starcraft2-05.jpg] Böhme: Abb. 1: © Blizzard Inc. / Abb. 2: © Microsoft / © EA / Abb. 3 © EA / Abb. 4 © Blizzard Inc. / © Blue Byte / Abb.5: © jew. Beitz; Hearst; Spektrum; Wort und Bild Verlag / Abb 6.: © jca [http://bwchart.teamliquid.net/] / Abb. 7: © Blizzard Inc. / Abb.8: Eigene Darstellung / Abb. 9 - 10: © parship.co.uk / Abb. 11: © Zeo Inc. Nohr / Geopolitik: Abb. 1: eigene Grafik / Abb. 2: [http://home.comcast.net/~pmm1/ games/games.html], letzter Abruf 12.01.2014 / Abb. 3: [http://forum.dune2k.com/ topic/18657-a-handy-dune-2-scenario-editor-for-windows/], letzter Abruf 12.01.2014) / Abb. 4: Foto © Ralf Wegemann / Abb. 5: (Sid Meier’s) Civilization IV (2005) © Firaxis Games. Ent- nommen aus: [http://storeimages.impulsedriven.com/product_gfx/civilization410.jpg]; letz- ter Abruf 12.01.2014) / Abb. 6: (Quelle: Anno 1701 (2006) © Related / Sunflowers. Entnommen aus: [http://annowelt.eu/SSC_2008/Einzelseiten_2008/Februar_2008/Eine_reale_Stadt_ anno_1701.html]; letzter Abruf 12.01.2014 / Abb. 7: [http://www.geo-political-simulator.com/ contenu/screens/axe-du-mal_2OK.JPG], letzter Abruf 12.01.2014 / Abb. 8: Huntington 1997, 253; nach William Wallace. The Transformation of Western Europe (Foreign Affairs 1990) © Ib Ohlsen Neitzel: Abb. 1-3 © Bethesda / Abb. 4 © MicroProse, Avalon Hill, Activision / Abb. 5 © Electro- nic Arts 272 Abbildungsverzeichnis